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Die Bayrische Räterepublik
Seminar-Arbeit zu ausgewählten Themen zur österreichischen Geschichte
Lehrveranstaltung „Mitteleuropa und der Kommunismus"
von Ao.Univ.-Prof. Dr.phil. tit.Univ.-Prof. Dieter Anton Binder
Sommersemester 2010 an der Karl-Franzens-Universität, Graz
Verfasser: Hermann Soyka
Graz, 20. September 2010
Die Bayrische Räterepublik
Hermann Soyka [0512577] 20. September 2010 Seite 2 von 23
Inhalt
Einleitung .................................................................................................................................................3
Das Rätesystem .................................................................................................................................3 Biographien .........................................................................................................................................5
Kurt Eisner..................................................................................................................................................... 5 Brüder Gandorfer ......................................................................................................................................... 6 Bayrischer Bauernbund............................................................................................................................... 7 Erich Mühsam............................................................................................................................................... 8 Gustav Landauer.......................................................................................................................................... 9 Ernst Niekisch............................................................................................................................................... 9 Ernst Toller .................................................................................................................................................. 10 Johannes Hoffmann................................................................................................................................... 11 Eugen Leviné .............................................................................................................................................. 11 Max Levien .................................................................................................................................................. 11 Oskar Maria Graf........................................................................................................................................ 12
Chronologie der Ereignisse ..............................................................................................................12
1917-1918..........................................................................................................................................12 1919....................................................................................................................................................16
Eisner-Attentat, Folgeereignisse.............................................................................................................. 16 Die 1. Räterepublik vom 7. April 1919 .................................................................................................... 17 Die 2. Räterepublik vom 13. April 1919 .................................................................................................. 18 Nachwirkungen........................................................................................................................................... 19
Literarische Verarbeitung ..................................................................................................................19 Schlußfolgerungen ..............................................................................................................................22 Literatur, Quellen .................................................................................................................................23
Internet-Quellen.......................................................................................................................................... 23
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Ich verwende im folgenden Text die bewährte deutsche Rechtschreibung und Grammatik, in welcher das grammatische Geschlecht (Genus) beide biologischen Geschlechter (Sexus), also sowohl Frauen als auch Männer umfaßt.
Einleitung
Das Ende der ersten Weltkrieges und das zugleich einsetzende Ende der wilhelminischen
Monarchie im Deutschen Reich setzte einen politischen Wandel in Gang, bei dem verschiedene
Gruppen unterschiedliche Formen politischer Herrschaft versuchten. Einer dieser Versuche war
die bayrische Räterepublik vom November 1918 bis zum Mai 1919, die ich als eine „mißglück-
te Machtübernahme nach den Thesen einer unerreichten Utopie“ bezeichne. Ich betrachte diese
Phase als ein Beispiel dafür, wie idealistische gesellschaftspolitische Ziele an den Interessen
der handelnden Personen, ihrer Wesensart und an der Wirklichkeit politischer Machtausübung
scheitern.
Das Rätesystem
Das Brockhaus-Lexikon definiert das Rätesystem als „… das revolutionäre Regierungs-
system der Arbeiterklasse (auch Rätediktatur, Räteregierung, Räteverfassung ge-
nannt) zur Durchführung der marxistischen »Diktatur des Proletariats« […]. Danach sollen
die von den Arbeitern in ihren Betrieben gewählten jederzeit abberufbaren Vertreter in
ihren Vollversammlungen, durch Vollzugsausschüsse oder Volkskommissare (Volks-
beauftragte) die gesetzgebende und vollziehende Gewalt in der Übergangszeit von der
Demokratie zur vollen Verwirklichung des Sozialismus ausüben1.“
Max Adler 2 unterscheidet zwischen einer bürgerlichen und einer sozialen Demokratie.
In seiner Schrift „Demokratie und Rätesystem“ behauptet er, daß im revolutionären Proletariat
der Jahre 1918/1919 der Begriff „Demokratie“ auf Mißtrauen und Gegnerschaft stoße3. Weiters
stellt er die These auf, daß Demokratie und politische Gleichberechtigung in der politischen
Ideologie des Bürgertums verankert seien. Eine bloß politische Umwälzung, wie sie in der
Französischen Revolution geschehen sei, ändere nichts am Lebenszustand der Massen. Politi-
sche Gleichheit und Freiheit seien lediglich Worte ohne Inhalt, wenn sie nicht zugleich die
wirtschaftliche Gleichheit umfaßten. Er betrachtet die „Abhängigkeit der Arbeiter vom Brotge-
ber“, die „Ungleichheit im Vermögen zwischen Besitzenden und Besitzlosen“, die „Ausbeutung
der Arbeiter durch den ausbeutenden Unternehmer“ als Hindernisse auf dem Weg zur wahren,
1 Brockhaus-Lexikon, S. 393. 2 Adler, Max, * 15. Jänner 1873 in Wien; † 28. Juni 1937 in Wien, österreichischer Jurist, Politiker und Sozial-
philosoph; maßgeblicher Theoretiker des Austromarxismus. (wikipedia)
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zur sozialistischen Demokratie. Die Verwirklichung der Demokratie verlange den Schritt über
die Welt des Bürgertums, über die Welt des Kapitalismus hinaus zur sozialistischen Ordnung,
zu einer Ordnung ohne Privateigentum an Produktionsmitteln, ohne Profit als Motor des Kul-
turlebens4.
Ursprung und Idee der Arbeiterräte verlegt Adler in die russische Oktoberrevolution. Der
Aufschwung der Sozialdemokratie um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist für ihn kein
Zeichen eines revolutionären Aufschwunges, sondern vielmehr der „… Anpassung an den kapi-
talistischen Klassenstaat.“ Unter dem Einfluß der Gewerkschaften „…nahm der Sozialismus
die Form einer bürokratischen Volksversicherung an.“ Auch verhindere der Parlamentarismus
die „… Anteilnahme der Massen an der politischen Tätigkeit.“ Im Gegensatz zum bürokrati-
schen System der Sozialdemokratie stelle „… der Arbeiterrat eine direkte Wiederbelebung der
Demokratie…“ dar. Das Rätesystem sei kein Rollenwechsel im Herrschaftsverhältnis, sondern
Werkzeug im Übergang zur klassenlosen Gesellschaft, in der keine Unterdrückung möglich sei.
Politische Unreife und Egoismus der Massen ließen das Rätesystem in unsozialistische und
konterrevolutionäre Ausbeutungsform ausarten. Es diene nicht der ständischen Gliederung der
Bevölkerung5.
Bauernräte fielen aus dem Rätesystem heraus, sie stellten den zur Zeit noch nicht-soziali-
sierbaren Rest der Gesellschaft dar. Auch Soldatenräte seien abzulehnen, weil sie dazu dienen,
das Militär als besonderen Stand zu erhalten und damit den Militarismus zu konservieren6.
Würden alle Berufskreise Arbeiterräte entsenden, wandle sich das System der Arbeiterräte als
Instrument zum Sturz der kapitalistischen Gesellschaft in ein Institut der Interessenvertretung,
und konterrevolutionärer Geist überwuchere den proletarischen Revolutionsgedanken. Die Rä-
terepublik mit dem Prinzip „alle Macht den Arbeiter- und Bauernräten“ scheitere an der Bau-
ernschaft7.
Nach Ernst Däumig8 ist das Rätesystem Mittel und Zweck der Revolution. Es sei kein
fertiges Gebäude, sondern werde sich mit dem Fortschreiten der Revolution verändern. Da es
gleichbedeutend mit der Diktatur des Proletariats, mit dem Endzustand des Sozialismus, mit der
höchsten Stufe der Demokratie sei, lehnt Däumig „…den Parlamentarismus(,) […] die Tren-
nung der Legislative und Exekutive ab und will eine neue Staatsform schaffen, die proletarische
3 Adler, S. 3 4 ebd., S. 4f 5 ebd., S. 21ff 6 ebd., S. 24 7 ebd., S. 28 8 siehe Literaturverzeichnis
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Demokratie, »in der Gesetzgebung und Verwaltung in den Händen einer Klasse liegen soll, der
gesellschaftsnützliche Arbeit leistenden Bevölkerungsschicht«.“9
Kurt Eisner10 stellt in seinem Regierungsprogramm vom 15.11.1918 eine Mischform aus
parlamentarischer Demokratie und revolutionärem Rätesystem als Ziel vor: „Neben den bera-
tenden Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräten, die die Richtung des neuen Staates sowohl im
Volk, wie im Parlament, wie in der Regierung anzeigen müssen, wollen wir der Gesamtheit der
Bevölkerung die Möglichkeit […] geben, ihre Interessen […] durchzusetzen. […] Beamten-,
Lehrer- und Privatangestelltenorganisationen, die freien Berufe, das Handwerk, der Handel
und die Industrie, alle sollen sich zu Räten zusammenfinden und in diesen freien Parlamenten
ihre Angelegenheiten […] erörtern, ihre Wünsche und Anregungen sowohl im Zentralparla-
ment, wie in der Regierung zur Geltung bringen.“11 Ihm schwebt eine Art Herrschaftssystem
vor, das in ähnlicher Form in den späten 1970er Jahren unter dem Begriff „Basisdemokratie“
z.B. in der B R Deutschland und in Österreich im politischen Diskurs auftauchte. Franz Gut-
mann12 erwähnt allerdings ergänzend die Tatsache, daß die bäuerlichen Verhältnisse in
Deutschland und damit auch in Bayern keine geeignete Grundlage für Bauernräte boten. Da der
bäuerliche Betrieb meist ein (kleiner) Eigenbetrieb mit wenigen Saisonarbeitern sei, gebe es
dort kein gesellschaftsveränderndes Potential. Die Bauern strebten höchstens nach Vergröße-
rung der Betriebe und Zukauf statt Pacht und hätten keinerlei Verständnis für Sozialismus.13
Biographien
Kurt Eisner14
(* 14.5.1867, † 21. 2. 1919) entstammt einer jüdisch-assimilierten
Kaufmannsfamilie. Ein 1886 begonnenes Studium der Philosophie und
Germanistik bricht er 1890 aus finanziellen Gründen ab. Anschließend ist
er bei verschiedenen Zeitungen (Frankfurter Zeitung, Hessische Landes-
zeitung, Vorwärts) als Journalist tätig. 1898 tritt er der SPD bei, übt aber
bald Kritik am orthodoxen Sozialismus. Politisch ist er scharfer Kritiker Preußens, der Monar-
chie und des preußischen Adels, die er als Kriegsschuldige sieht. 15
9 Däumig, S. 61f. 10 siehe Abschnitt „Biographien“ 11 Gutmann, S 26f. 12 Siehe Literaturverzeichnis 13 Gutmann, S. 35 14 Abb. aus http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/e/ef/Eisner-kurt.jpg (April 2010) 15 Karl, S. 15f.
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Bei Flügelkämpfen innerhalb der SPD zwischen evolutionären Revisionisten und revolu-
tionären Radikalen will er neutral bleiben, engagiert sich aber in der „Deutschen Friedensge-
sellschaft“ und tritt bereits ab 1915 für einen bedingungslosen Frieden ein.16 Am 8. November
1918 bildet er eine Koalitionsregierung aus SPD und USPD17 und wird bayrischer Ministerprä-
sident. Er betreibt eine eigenständige bayrische Außenpolitik, führt Separatverhandlungen mit
den alliierten Mächten und will einen günstigen Friedensvertrag für Deutschland erreichen.18
Am 21. Februar 1919 fällt er einem Pistolenattentat des Grafen Arco zum Opfer. Beim Begräb-
nis am 26. Februar lobt ihn sein politischer Mitstreiter Gustav Landauer in der Trauerrede:
„Eisner ist als Politiker gescheitert, weil er versucht hatte, als Idealist seine Utopien ei-
ner sozialistischen Gesellschaft in die politische Realität umzusetzen. Er war weder ein nüch-
terner Pragmatiker […], noch ein Machtpolitiker […]. Eisner übernahm das russische Räte-
modell, wollte aber eine Diktatur der Räte verhindern. Durch die Verkoppelung von Rätekon-
greß und Parlament versuchte er eine neue Form der sozialen Demokratie zu schaffen; doch
die mit politischem Zündstoff geladene, revolutionäre Situation der Jahre 1918/19 läßt es nicht
zu, daß Eisners Politik verwirklicht wird.“19
Brüder Gandorfer
Ludwig Gandorfer,20 (* 22. 8. 1880, † 10. 11. 1918). Er gilt als streitlustiger Hitzkopf,
der Konflikte mit dem örtlichen Bezirksamtmann Pracher austrägt und dessen Wirken als
Beamtenwillkür empfindet. Als Erbe des väterlichen Hofes mit 92 ha
Landbesitz und eigenem Jagdrecht ist er wohlhabender Großbauer. Poli-
tisch bekämpft er den Einfluß der Kirche in Bayern und tritt 1905 der
SPD bei. Im Jänner 1907 kandidiert er zum Reichstag, im Mai desselben
Jahres zum Bayrischen Landtag, in beiden Fällen allerdings ohne ein
Mandat zu erreichen.
Nach Kriegsbeginn und Zustimmung der SPD zu den Kriegskredi-
ten geht er zu dieser auf Distanz und schließt sich der USPD an. Er nimmt Kontakt zu Eisner
auf, sein Hof, der Zollhof, wird Treffpunkt der Revolutionäre. Auch spricht er am 7. November
16 Karl, S. 17f. 17 siehe Abschnitt „Chronologie der Ereignisse“ 18 Ehrlich, S. 110. 19 Ehrlich, S. 162. 20 Abb: aus http://www.sgipt.org/galerie/rs/DCUSP/BayRR/BRR0.htm (20. Sept. 2010)
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1918 bei der Kundgebung auf der Theresienwiese21 und wird bei Ausrufung Eisners zum Mi-
nisterpräsidenten Vorsitzender des Zentralbauernrates.22
Am 10. November 1918 verunglückt er bei einem Autounfall tödlich. Der Unfall ge-
schieht unter mysteriösen Umständen: Das Unfallauto verschwindet, es gibt kein Protokoll,
keine Aussagen der Überlebenden, keine Schilderung des Unfallhergangs. Gerüchte sprechen
von einem Schußattentat auf ihn.23
Karl Gandorfer,24 (* 23. 2. 1875 in Pfaffenberg/Niederbayern,
† 21. 8. 1932 in München). Als Besitzer einer Ziegelei, einer Sägemühle
und eines Elektrizitätswerkes in Pfaffenberg ist er erfolgreicher und
wohlhabender Unternehmer. Nach dem Tod seines jüngeren Bruders
Ludwig tritt er dessen politisches Erbe an. Bei der Landtagswahl im Jän-
ner 1919 erreicht er ein Mandat, die starken Stimmenverluste der USPD
stärken jedoch seine Gegner im rechten Flügel des Bayrischen Bauern-
bundes. Im Juni 1919 wird er aus dem BBB ausgeschlossen. Karl Gandorfer stirbt am 21. Au-
gust 1932 während einer Reichstagsrede.25
Bayrischer Bauernbund
Der Bayrische Bauernbund (BBB) vertritt von 1893 bis 1933 die Interessen der ländli-
chen Bevölkerung im Bayrischen Landtag und im Deutschen Reichstag. Er hat seine Hochbur-
gen in den altbayrischen Gebieten, ist aber auch in Schwaben durchgehend stark vertreten. Im
Vergleich zu anderen landwirtschaftlichen Interessenorganisationen (Bund der Landwirte,
Landbund, Christlich-Nationale Bauern- und Landvolkpartei) ist seine Programmatik liberal
und in Abgrenzung zum Zentrum bzw. zur Bayrischen Volkspartei (BVP) betont nicht-klerikal.
Ab 1922 nennt er sich Bayerischer Bauern- und Mittelstandsbund.
Nach der Novemberrevolution 1918 setzt der linke Flügel um Karl Gandorfer u.a. eine
Zusammenarbeit mit SPD und zeitweise der USPD durch. Von 1920 bis 1930 koaliert er mit
BVP und DNVP (Deutschnationaler Volkspartei) auf Landesebene. Vom 31. März bis zum 22.
November 1922 ist der BBB kurzfristig in der Reichsregierung vertreten, nach massiven Wahl-
verlusten 1932 löst er sich am 11. April 1933 auf.26
21 Siehe Abschnitt „Chronologie der Ereignisse“ 22 Karl, S. 63-67. 23 Karl, S. 68. 24 Abb. aus http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/document/artikel_44430_bilder_value_3_bb3.jpg (20. Sept. 2010) 25 Karl, S. 70ff. 26 wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Bayerischer_Bauernbund (20. Sept. 2010)
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Erich Mühsam27
(* 6. 4. 1878 in Berlin als Kind jüdischer Eltern, † 10. 7. 1934 im
KZ Oranienburg), politischer Aktivist, Anarchist, Publizist und Schrift-
steller. Im Zuge der Novemberrevolution wird er Ende 1918 in München
Mitglied des Revolutionären Arbeiterrats und befürwortet nach der Ab-
setzung des Königs und der Ausrufung des Freistaates Bayern als demo-
kratische Republik eine bayrische Räterepublik. Nach der Ermordung
Eisners gehört er gemeinsam mit Eugen Leviné zu den Initiatoren und
Anführern der Münchner Räterepublik ab dem 7. April 1919. Nachdem diese am 2. Mai 1919
niedergeschlagen worden war, verurteilt man ihn als „treibendes Element“ zu 15 Jahren Fe-
stungshaft, von denen er fünf Jahre absitzt. 1924 wird er amnestiert.28
Innerhalb der bayrischen Revolution vertritt er den radikal linken Flügel, im Auswärtigen
Referat der Räteregierung ist er Referatsleiter „Ungarn und Rußland“.
In seinen Schriften lehnt er als Pazifist Krieg und kriegerische Gewalt ab. Allerdings un-
terscheidet er zwischen (ungerechtfertigter) Gewalt im Krieg und (gerechtfertigter) Gewalt in
der Revolution. Der Krieg diene den Machthabern, der Oligarchie, den kapitalistischen Staats-
interessen, dort würden die Soldaten gegen ihren Willen geopfert, also sei diese Gewalt abzu-
lehnen. Anders in der Revolution. „Da führt eigener Zorn, eigene Überlegung, eigener Ent-
schluß zum Aufmarsch. Da ist jeder Freiwilliger und jeder eingeweiht in das Ziel des Ganzen,
da es eines jeden Ziel und bewußter Wille ist. Da ist selbstgewählte Führerschaft, […] Opfer-
bereitschaft für […] eigne […] Sache […] und […] wahrhafte Feindschaft gegen diejenigen,
auf die die Waffe gerichtet wird […].Noch deutlicher unterscheidet er zwischen Krieg und Re-
volution in den Zielen: Krieg diene den Interessen des Staates, den Machtinhabern Adel, Kir-
che, Kapital und Heer. Revolution gelte der Beseitigung ihres Anlasses, entstehe bei unhaltba-
ren Zuständen und ende, wenn sie ihr Ziel erreicht habe. Revolution schaffe „… Befreiung,
Vertrauen, Gemeinschaft, Liebe.“ So ist für ihn die Gewalt der Revolution sittlich und erlaubt,
die des Krieges aber unsittlich und abzulehnen.29
27 Abb. aus http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/4/4c/Bundesarchiv_Bild_146-1981-003-08%2C_Erich_M%C3%BChsam.jpg (20. Sept. 2010)
28 wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Erich_M%C3%BChsam (20. Sept. 2010) 29 Mühsam, S. 86-88.
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Gustav Landauer30
(* 7. 4. 1870 in Karlsruhe, † 2. 5. 1919 in München-Stadelheim),
zweites Kind des jüdischen Schuhwarenhändlers Hermann Landauer und
seiner Frau Rose. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts war er
einer der wichtigsten Theoretiker und Aktivisten des Anarchismus in
Deutschland. Er vertrat den kommunistischen Anarchismus und war Pazi-
fist.
Als Kriegsgegner steht er von Anfang an in Opposition zum Ersten
Weltkrieg. Während der revolutionären Ereignisse zum Ende des Krieges und unmittelbar da-
nach ist er an einflußreicher Stelle an der Münchner Räterepublik im April 1919 beteiligt. Dort
übernimmt er nach dem 7. April 1919 den Posten des Beauftragten für Volksaufklärung, um als
Propagandist und Redner beim Aufbau und der politischen Propaganda der Räterepublik mit-
zuwirken.31 Nach deren gewaltsamer Niederschlagung wird er von antirepublikanischen Frei-
korps-Soldaten in der Haft ermordet.
Ernst Niekisch32
(* 23. 5. 1889 in Trebnitz (Schlesien), † 23. Mai 1967 in West-
Berlin), Politiker und politischer Schriftsteller. Besuch der Volks- und
Realschule und Abschluß des Lehrerseminars, danach als Volksschulleh-
rer in Augsburg tätig. 1917 Eintritt in die SPD, 1918/19 Vorsitzender des
Zentralen Arbeiter- und Soldatenrates in München, von 1919 bis 1922 als
Mitglied der USPD Abgeordneter im Bayrischen Landtag. Im Juni 1919
wird er wegen seiner sozialistischen Aktivitäten des Hochverrats ange-
klagt und zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt, muß die Strafe wegen seines Abgeordneten-
mandats jedoch nicht antreten. Nach der Vereinigung der USPD mit der SPD 1922 ist er kurz-
fristig Vorsitzender der Landtagsfraktion in Bayern.
Im Frühjahr 1923 gründet Niekisch mit anderen national gesinnten Jungsozialisten den
Hofgeismarer Kreis, der sich gegen den Internationalismus nach Marx wendet und einen Sozia-
lismus im nationalen Rahmen auf der Grundlage eines starken Staates anstrebt. Im Juli 1926
tritt er aus der SPD aus und wird Mitglied in der Alten Sozialdemokratischen Partei Deutsch-
lands. Von 1926 bis 1934 betätigt er sich als „Nationalrevolutionär“. Als Herausgeber der Zeit-
30 Abb. aus http://www.constantinbrunner.info/pix/landauer.jpg (20. Sept. 2010) 31 wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Gustav_Landauer (20. Sept. 2010) 32 Abb. aus http://www.dhm.de/lemo/html/biografien/NiekischErnst/index.html (20. Sept. 2010)
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schrift "Der Widerstand" tritt er für eine nationalbolschewistische und antiwestliche Politik ein.
Die Synthese von extremem Nationalismus und revolutionär-sozialistischen Elementen bleibt
nicht ohne Wirkung auf den linken Flügel der NSDAP um Gregor Strasser und Ernst Röhm.
Im März 1937 wird er als Gegner des Nationalsozialismus wegen konspirativer Tätigkeit
von der Geheimen Staatspolizei verhaftet, im Jänner 1939 vom Volksgerichtshof wegen Hoch-
verrats und Fortführung einer politischen Partei zu lebenslanger Zuchthaushaft verurteilt. Nach
seiner Befreiung durch die Rote Armee übersiedelt Niekisch im April 1945 nach Berlin, tritt
in die KPD ein und wird später Mitglied der SED. 1949 wird er SED-Abgeordneter der ersten
Volkskammer der DDR. Nach der gewaltsamen Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni
1953 legt er alle politischen Ämter nieder und tritt im Februar 1955 aus der SED aus. 1963
übersiedelt er nach Westberlin, wo er am 23. Mai 1967 stirbt.33
Ernst Toller34
(* 1. 12. 1893 in Samotschin, Provinz Posen, † 22. 5. 1939 in New
York), Sohn des jüdischen Kaufmanns Max Toller und seiner Frau Charlot-
te. Er beginnt 1914 ein Jus-Studium, meldet sich aber kurz darauf als
Kriegsfreiwilliger. Aus gesundheitlichen Gründen vom Militärdienst freige-
stellt setzt er sein Studium in München fort. Innerhalb der USPD vertritt er
den unbedingten Rätegedanken und lehnt das parlamentarische System ab.
Beim Standgerichtsprozeß nach der Niederschlagung der Räterepublik wird
er, im Gegensatz zu anderen Aktivisten der Revolution, nicht zum Tod,
sondern lediglich zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. 1933 geht er in die Schweiz ins Exil
und verübt 1939 in New York Selbstmord.35
33 Quellen: wikipedia http://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Niekisch und Deutsches Historisches Museum http://www.dhm.de/lemo/html/biografien/NiekischErnst/index.html (20. Sept. 2010)
34 Abb. aus http://www.dhm.de/lemo/html/biografien/TollerErnst/index.html (20. Sept. 2010) 35 Quellen: wikipedia http://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Toller und
Deutsches Historisches Museum http://www.dhm.de/lemo/html/biografien/TollerErnst/index.html (20. Sept. 2010)
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Johannes Hoffmann36
(* 3. 7. 1867 in Ilbesheim bei Landau in der Pfalz, † 15. 12. 1930 in
Berlin). Zunächst Volksschullehrer, ab 1908 Abgeordneter der SPD im Bay-
rischen Landtag. In der Regierung Eisner ist er von November 1918 bis
März 1919 bayrischer Kultusminister. Am 17. März 1919 wird er vom
Landtag zum Ministerpräsidenten Bayerns gewählt. Im März 1920 tritt
Hoffmann von diesem Amt zurück und kehrt in den Schuldienst zurück. Bis
zu seinem Tod 1930 bleibt er Mitglied des Reichstags.37
Eugen Leviné38
(* 10. 5. 1883 in Sankt Petersburg, † 5. 6. 1919 hingerichtet in Mün-
chen), war ein Revolutionär und KPD-Politiker. Als solcher hat er prägen-
den Einfluß auf die zweite Phase der Münchner Räterepublik im April
1919. Als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie geboren, übersiedelt er
im Alter von drei Jahren mit seiner Mutter ins Deutsche Reich. Im Sep-
tember 1905 kehrt er nach Rußland zurück. Als Teilnehmer an der Revolu-
tion von 1905 wird er dort 1906 und erneut 1908 verhaftet. Anfang 1919
zählt er zum Führungspersonal der neu gegründeten KPD.39
Max Levien40
(* 21. Mai 1885 in Moskau; † 16. Juni 1937 in der Sowjetunion),
Sohn des deutsch-jüdischen Großkaufmanns Ludwig Levien. Teilnahme
an der russischen Revolution von 1905, ab 1906 Mitglied der russischen
Sozialrevolutionäre. In der Novemberrevolution von 1918 ist Levien in
den Soldatenräten aktiv und wird Vorsitzender des Münchner Soldatenra-
tes und der Spartakusgruppe. Als Delegierter Münchens nimmt er am
Gründungsparteitag der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) teil und ist zusammen
mit Eugen Leviné Führer der Münchner KPD während der zweiten Räterepublik. 1921 übersie-
delt er nach Moskau und wird 1937, im Zuge stalinistischer Säuberungen, hingerichtet.41
36 Abb. aus http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_44517 (20. Sept. 2010) 37 wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Hoffmann_(SPD) (20. Sept. 2010) 38 Abb. aus http://www.destination-munich.com/images/communist-munich-players.jpg (20. Sept. 2010) 39 wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Eugen_Levin%C3%A9 (20. Sept. 2010) 40 Abb. aus http://www.datenmatrix.de/projekte/hdbg/revolution/content/biografien/001-05-g.jpg (20. Sept. 2010) 41 wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Max_Levien (20. Sept. 2010)
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Oskar Maria Graf42
(* 22. 7. 1894 in Berg am Starnberger See, † 28. Juni 1967 in
New York), deutscher Schriftsteller. Neuntes Kind des Bäckermeisters
Max Graf und dessen Frau Therese.
Anfangs schreibt er ausschließlich unter seinem richtigen Namen
Oskar Graf. Ab 1918 reicht er Arbeiten für Zeitungen unter dem Pseu-
donym Oskar Graf-Berg ein; für seine von ihm selbst als „lesenswert“
erachteten Werke wählt er den Namen Oskar Maria Graf. Ab 1911 in München lebend, schließt
er sich dort Bohème-Kreisen an und schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. 1914 zum
Kriegsdienst eingezogen, 1916 nach Befehlsverweigerung, Einweisung in eine Irrenanstalt und
zehntätigem Hungerstreik aus der Armee entlassen. 1919 nimmt er an den revolutionären Be-
wegungen in München teil und ist ab 1920 als Dramaturg am Arbeitertheater „Die neue Bühne“
tätig.
Da seine Bücher nicht der Bücherverbrennung durch die Nationalsozialisten zum Opfer
fallen und ihre Lektüre sogar empfohlen wird, veröffentlicht er am 12. Mai 1933 in der Wiener
Arbeiter-Zeitung den Aufruf: „Verbrennt mich! Nach meinem ganzen Leben und nach meinem
ganzen Schreiben habe ich das Recht, zu verlangen, daß meine Bücher der reinen Flamme des
Scheiterhaufens überantwortet werden und nicht in die blutigen Hände und die verdorbenen
Hirne der braunen Mordbande gelangen. Verbrennt die Werke des deutschen Geistes! Er sel-
ber wird unauslöschlich sein wie eure Schmach!“43
Chronologie der Ereignisse
1917-1918
Im April 1917 wird auf einem Parteitag in Gotha die Unabhängige Sozialdemokratische
Partei Deutschlands (USPD) als Abspaltung der SPD gegründet. In ihr sammeln sich unzufrie-
dene Sozialdemokraten, denen ihre Partei zu kriegsfreundlich ist und die für einen sofortigen,
bedingungslosen Friedensschluß eintreten. Im Mai 1917 bildet sich unter der Führung Albert
Winters die USPD in München, Kurt Eisner wird ihr geistiger und intellektueller Führer.44 Im
Jänner 1918 verfaßt er einen Aufruf der USPD zu einem Streik, der großräumig befolgt wird:
„Die streikenden Arbeiter Münchens, voran die Kruppwerke, entbieten ihre brüderlichen Grü-
42 Abb. aus: http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/thumbnail/artikel/artikel_44761_bilder_value_1_literatur1.jpg (20. Sept. 2010)
43 wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Oskar_Maria_Graf (20. Sept. 2010) 44 Karl, S. 18f.
Die Bayrische Räterepublik
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ße den belgischen, französischen, englischen, russischen, italienischen, amerikanischen, serbi-
schen Arbeitern. Wir fühlen uns mit Euch eins in dem feierlichen Entschlusse, dem Krieg des
Wahnsinns und der Wahnsinnigen sofort ein Ende zu bereiten. […] Der Kampf um den Frieden
hat begonnen.“45.
Die sich abzeichnende militärische Niederlage des Deutschen Reiches sowie die kriegs-
bedingte soziale und wirtschaftliche Notlage schwächen die Monarchie und das bestehende
Regierungssystem. Aus einem Schriftwechsel zwischen den Westalliierten (vertreten durch den
US-Präsidenten Wilson) und der deutschen Reichsregierung unter dem Kanzler Prinz Max von
Baden ist herauszulesen, daß ein Waffenstillstand sowie ein nachfolgender Friede nur nach
Abdankung Kaiser Wilhelms denkbar sein werde. Max von Baden wirkt auf den Kaiser in die-
ser Richtung ein, und auch die Sozialdemokraten unter Friedrich Ebert, die grundsätzlich bereit
waren, die Monarchie bestehen zu lassen und politische Verantwortung zu übernehmen, argu-
mentieren in Richtung Abdankung.46 Die Meuterei von Besatzungen der Hochseeflotte in Wil-
helmshaven und der sich daran anschließende Kieler Matrosenaufstand zwischen dem 29. Ok-
tober und dem 3. November lösen die Novemberrevolution aus, die sich binnen wenigen Tagen
über ganz Deutschland ausbreitet.
Am 7. November erreicht die Revolution München. Die USPD ruft für diesen Tag zu ei-
ner Kundgebung auf der Theresienwiese auf. Die Sozialdemokraten unter Erhard Auer vertre-
ten eine gemäßigte Politik. Sie wollen die Monarchie beibehalten, ein Parlament schaffen, leh-
nen Gewalt ab. Radikale Teile der SPD wenden sich deshalb der USPD zu.47 Trotzdem
schließt sich die SPD dem Aufruf zur Kundgebung an, um nicht den Kontakt zu Arbeitern zu
verlieren. Nach dem Ende der Kundgebung marschiert ein großer Demonstrationszug, ange-
führt von Kurt Eisner, Ludwig Gandorfer, Felix Fechenbach, Hans Unterleitner in Richtung der
Münchner Kasernen; diese werden besetzt. Die Soldaten machten fast geschlossen mit.
Schließlich besetzen die Revolutionäre auch alle Ministerien, das Polizeipräsidium, den Bahn-
hof, die Post und wichtige Zeitungsredaktionen. Am Abend wird ein Arbeiter- und Soldatenrat
unter Führung Eisners gewählt, Ludwig Gandorfer zum Vorsitzenden eines Bauernrates erho-
ben und Eisner vom Arbeiter- und Soldatenrat zum Ministerpräsidenten gewählt. Er prokla-
miert am 8.11. die Bayrische Republik als „Freistaat Bayern“; am 12.11.1918 dankt König
Ludwig III. ab.48
45 Karl, S. 21, zit. nach Eisner, „Sozialismus als Aktion, Ausgewählte Aufsätze und Reden“, Frankfurt/M., 1975, S. 64/65.
46 vgl. Ehrlich, S. 79. 47 vgl. Ehrlich, s. 87. 48 vgl. Karl, S. 24ff.
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Eisner ist klar, daß die Revolution in Bayern nur mit, niemals ohne Bauern möglich ist
(65% der Bevölkerung sind in der Landwirtschaft tätig). Bei der Gründung des Arbeiter-, Sol-
daten- und Bauernrates rufen er und Ludwig Gandorfer in einem gemeinsamen Appell die
Landbevölkerung zur Mitwirkung an der Revolution auf: „ Der Arbeiter-, Soldaten- und Bau-
ernrat betrachtet es als die erste und größte Aufgabe, dem Volke den langersehnten Frieden zu
bringen und ist zum Zwecke der Einleitung von Friedensverhandlungen mit den Ententemäch-
ten in Verbindung getreten. (…) Bauern! Die Lebensmittel in den Städten sind durch verkehrte
Maßnahmen der bisherigen Militär- und Zivilverwaltung knapp. Wir fordern Euch auf, die
neue Regierung sofort durch rege Lebensmittellieferungen in die Städte zu unterstützen. (…)
Nicht zerstören wollen wir, sondern wieder aufbauen und wir wollen allen Volksgenossen
[sic!] ohne Unterschied des Standes eine sichere Existenz schaffen, eine Existenz, die es jedem
möglich macht, ein menschenwürdiges Dasein zu führen.“49
In der am 8. November mit der SPD gebildeten Koalitionsregierung übernimmt Eisner
die Ämter des Ministerpräsidenten und des Außenministers. Die Mehrheit der Ministerien, u.a.
das Innenministerium, geht allerdings an die SPD. Seine Politik des Ausgleichs und des Kom-
promisses mit der SPD stößt auf interne Kritik. Das radikale linke Spektrum der Revolutionäre
kritisiert ihn heftig wegen seiner Versuche, eine Balancepolitik zwischen Revolution und legi-
timer sozialistischer Machtausübung unter Einbeziehung der SPD zu betreiben. Treibende
Kraft der Kritik ist der Revolutionäre Arbeiterrat in München, in dem die Anarchisten Erich
Mühsam, Gustav Landauer und Ernst Toller tonangebend sind. Mühsam gründet Ende Novem-
ber 1918 die Gruppe der Vereinigten Revolutionären Internationalisten und ruft zu einer inter-
nationalen Zusammenarbeit auf, um gemeinsam mit den russischen Bolschewisten die Weltre-
volution voranzutreiben.50 In der Streitfrage „Rätesystem oder parlamentarische Demokratie“
nimmt Eisner eine Zwischenstellung ein. Er setzt auf ein Wechselspiel zwischen Parlament und
Räten. Räte sollen das Parlament beraten und kontrollieren, haben aber keine Exekutivgewalt.
Die SPD lehnt das Rätesystem ab, weil sie darin eine schleichende Bolschewisierung fürchtet.51
In seinem Regierungsprogramm stellt Eisner als sein Ziel eine föderalistische Struktur
vor: Für das Deutsche Reich will er die Vorherrschaft Preußens eindämmen und Österreich in
die von ihm geplanten „Vereinigten Staaten von Deutschland“ einbeziehen: „Wir glauben und
wollen, daß eine Vereinigung des Deutschen Reiches mit der Deutschösterreichischen Republik
unaufschiebbar ist. (…) Wenn wir das Ziel erreichen wollen, daß die ‚Vereinigten Staaten von
49 Karl, S. 67; zit. nach einem Appell von Eisner und L. Gandorfer an die Landbevölkerung Bayerns im „Landauer Volksblatt“, 10./11. November 1918.
50 Ehrlich, S. 125f. 51 Karl, S. 28.
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Deutschland’, die Österreich einschließen, die einzige mögliche Lösung des nationalen Pro-
blems sind, so werden wir in nächster Zukunft eine zweckmäßige Gliederung der deutschen
Staaten durchzuführen haben, die ohne jede Vorherrschaft eines jeden einzelnen Staates (…)
auch die notwendigen Maßnahmen vernünftiger Einheit trifft.“ 52 Eine eigenständige Politik
Bayerns sieht er als Vorbild für ganz Deutschland, er betreibt eine selbständige bayrische Au-
ßenpolitik, hält separate Kontakte zu den Entente-Mächten, entwickelt eine eigene Friedensin-
itiative und will hohe Reparationsforderungen verringern lassen. Gemäß den alliierten Forde-
rungen übernimmt Eisner das Eingeständnis für die alleinige Kriegsschuld Deutschlands. Al-
lerdings verweigern die Alliierten Separatverhandlungen mit Bayern, sie verhandeln nur mit
der deutschen Gesamtregierung.53
In einer Rede vom 17. November 1918 (gehalten im Nationaltheater München) skizziert
Eisner seine politischen Visionen: „Was wollen wir? Was wollten wir? Wir wollen in dem Au-
genblicke, da Deutschland, da Bayern vom Zusammensturz bedroht war, aus den Massen des
Volkes die schaffende Armee der Rettung bilden, das war der Sinn dieser Umwälzung. […] Wir
wollen der Welt das Beispiel geben, daß endlich einmal eine Revolution, vielleicht die erste
Revolution der Weltgeschichte, die Idee, das Ideal und die Wirklichkeit vereint.“ Deutlich be-
tont er wenig später nochmals, daß ihm dieses System als die wahre Demokratie erscheint:
„Das ist Demokratie! Und diese Demokratie ist heute schon Wahrheit. Die Vergangenheit ist
tot und […] wehe denen, die versuchen sollten, diese fluchbeladene Vergangenheit neu zu be-
leben.“54
Ausdrücklich fordert er das Rätesystem als Ausdruck demokratischer Herrschaft: „Des-
halb, Parteigenossen, hängt mein Herz an den Gebilden, die wir geschaffen haben, den Arbei-
ter-, Bauern- und Soldatenräten, die ihre offenen und versteckten Gegner haben. Die Räte sol-
len die Schulen der Demokratie werden; daraus dann sollen die Persönlichkeiten emporsteigen
zu politischer und wirtschaftlicher Arbeit.“ […] „ Die Räte sind die Grundmauer der Demokra-
tie, die Nationalversammlung, der Landtag ist die Krönung des Gebäudes. Aber diese Krone
würde genauso zusammenstürzen wie die monarchischen Kronen, wenn sie sich nicht stützen
auf die Kraft und den Willen jener Arbeiterräte oder Arbeiterkammern oder wie man sie sonst
nennen mag.“55.
52 Ehrlich, S. 111; zit. nach Eisner Kurt, Die Neue Zeit I, S. 20ff; Regierungsprogramm vom 15. 11. 1918. 53 Karl, S. 33. 54 Eisner, S. 278f. 55 Eisner, S. 282, bei einer Wahlrede am 12. Dezember 1918
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1919
Eisner-Attentat, Folgeereignisse
Bei der Landtagswahl am 12. Jänner 1919 erleidet die USPD schwerste Verluste, sie er-
hält lediglich 2,5% der gültigen Stimmen. Das Wahlergebnis im Einzelnen56:
Partei Stimmen % Mandate
Bayrische Volkspartei 1 193 101 35 66
Deutsche Volkspartei 477 992 14 25
Bayrischer Bauernbund 310 165 9,1 16
Bayrische Mittelpartei 196 818 5,8 9
Sonstige Parteien 20 627 0,6 ---
SPD (Auer) 1 124 584 33 61
USPD (Eisner) 86 254 2,5 3
Damit hat Eisner für seine Regierung keinen parlamentarischen Rückhalt. Als er am 21.
Februar 1919 seinen Rücktritt einreichen will, wird er auf dem Weg zum Landtag von Anton
Graf von Arco auf Valley ermordet. Arco wird im Jänner 1920 zunächst zum Tode verurteilt,
einen Tag nach dem Urteil zu Festungshaft begnadigt und bereits im Mai 1924 auf Bewährung
entlassen.57 Neuer Vorsitzender der USPD wird Ernst Toller, der im Verlauf der weiteren Er-
eignisse einen strikten Rätegedanken vertritt.
Im Landtag kommt es nach dem Attentat auf Eisner zu gewalttätigen Tumulten, die in ei-
ner Schießerei mit zwei Todesopfern enden. Daraufhin wird die Sitzung vertagt. Durch den
Tod Eisners hat Bayern keine funktionsfähige Regierung. Die Regierungsgewalt wird vorüber-
gehend vom Zentralrat ausgeübt, der aus den Vollzugsräten der Arbeiter-, Bauern- und Solda-
tenräte sowie dem revolutionären Arbeiterrat gebildet wird. Den Vorsitz im Zentralrat hat Ernst
Niekisch inne, der sich aber nur als Instrument des Überganges bis zu einer dauerhaften Lösung
der Regierungsfrage sieht.58
Vom 25. Februar bis zum 8. März 1919 tagt in München der Rätekongreß, der vor allem
durch heftigste Auseinandersetzungen in der Frage Rätesystem – parlamentarische Demokratie
– Mischform aus beiden Systemen gekennzeichnet ist. Der Zentralrat will mit der SPD verhan-
deln, neigt zu Kompromissen und zum parlamentarischen System, Erich Mühsam als Vertreter
56 Ehrlich, S. 147; aus: Stat. Jahrbuch für den Freistaat Bayern, 14. Jg., 1919, S. 584ff. 57 wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Anton_Graf_von_Arco_auf_Valley (20. Sept. 2010) 58 vgl. Ehrlich, S. 165.
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der Linksradikalen verlangt die sofortige Ausrufung der Räterepublik, die Kommunisten unter
der Führung Eugen Levinés verlangen die Einsetzung von Räten, aber keine Räterepublik, Tol-
ler lehnt den Parlamentarismus als Ganzes ab: „Dieser ganze westliche Parlamentarismus mit
seinen Schlagworten: Bürgerliche Demokratie, Pressefreiheit und sogenannte Feindlichkeit
allem Terror gegenüber gehört doch zu den Ideologien und Terminologien der kleinbürgerli-
chen Liberalen. Befreien wir uns endlich davon! (…) Beschließen Sie nach Ihrem revolutionä-
ren Gewissen; wenn Sie anders beschließen, wird die Revolution über Sie hinwegschreiten.“59
Radikale Splittergruppen halten aus Protest gegen Verhandlungen mit der SPD Nebenver-
sammlungen ab. Ebenso laufen Parallelverhandlungen zwischen Gemäßigten, Teilen der
USPD, der SPD und dem Bayrischen Bauernbund in Nürnberg, bei denen am 4. März als
Kompromißlösung eine Koalitionsregierung aus SPD, USPD und Vertretern des BBB unter der
Führung von Johannes Hoffmann als Ministerpräsident vorgeschlagen wird. Toller als Anfüh-
rer des linken Flügels lehnt den Kompromiß vehement ab und spaltet sich mit der Münchner
Fraktion der USPD von der Gesamtpartei ab. Er verlangt enge Kontakte zum bolschewistischen
Rußland und weiterhin die Räterepublik.60 Am 17. März tritt der Landtag zusammen und wählt
Hoffmann zum Ministerpräsidenten. Die Münchner USPD verweigert ihm die Gefolgschaft.
Die 1. Räterepublik vom 7. April 1919
Am 3. April 1919 hält Niekisch als Vorsitzender des Zentralrates vor dem Augsburger
Arbeiterrat eine Rede zur politischen Lage. Gestärkt durch den Erfolg der ungarischen Rätere-
publik unter Bela Kun, verlangen die Teilnehmer die sofortige Ausrufung der Räterepublik,
Zusammenarbeit mit Ungarn und Rußland und die Absetzung der sozialistischen Reichsregie-
rung. Sie protestieren auch gegen die Einberufung des Landtages durch Hoffmann.61
Eine Konferenz aus Vertretern der USPD, der SPD, den Gewerkschaften, dem BBB und
freien Oppositionellen berät am 5. und 6.April über das weitere Vorgehen, vor allem über die
Frage, ob die Räterepublik zu gründen sei. Die SPD ist prinzipiell dafür, will aber nicht aktiv
mitwirken. Die Kommunisten unter der Führung Levinés prangern den Sozial-Chauvinismus
der SPD an und verweigern jegliche Mitarbeit an politischen Unternehmen, die von der SPD
geleitet werden. Mühsam und Landauer sprechen sich deutlich für eine sofortige Ausrufung der
Räterepublik aus.
59 Karl, S. 115; zit. nach Ernst Toller, in: Stenographischer Bericht über die Verhandlungen des Kongresses der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte; S. 199.
60 vgl. Ehrlich, S. 186-172 61 Karl, S. 116f.
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Landauer hat eine Proklamation vorbereitet und beantragt, die Versammlung solle sich
als konstituierende Versammlung der Räterepublik erklären. Sein Antrag wird ohne Gegen-
stimmen angenommen, auch Karl Gandorfer als Vertreter des BBB stimmt zu. Niekisch enthält
sich der Stimme. Während der Verhandlungen erscheint Leviné. Er wendet sich gegen den Plan
und die vorbereitenden Schritte und erklärt, daß sich Kommunisten nur dort beteiligen, wo sie
die Führung haben. Die Mitwirkung von Sozialdemokraten „besudele die Räteidee“. Niekisch
schlägt vor, den Beschluß zur Räterepublik nochmals zurückzustellen, aber alle bleiben dabei.
Nach einer Abstimmung über die endgültige Proklamation tritt er als Vorsitzender des Zentral-
rates zurück; Ernst Toller wird als Nachfolger bestätigt.62 Als Ziele der neuen Republik nennt
die Proklamation u.a. die „Diktatur des Proletariats“, die Schaffung eines „sozialistischen Ge-
meinwesens“, eine „sozialistisch-kommunistische Wirtschaft“, Bildung einer „Roten Armee“,
Einrichtung eines „Revolutionsgerichtes“ und die „Überwindung des bürgerlich-kapitalisti-
schen Zeitalters“.63
Hoffmann verläßt mit seiner Regierung München und geht nach Bamberg ins Exil. Damit
ist Bayern zweigeteilt. Der Nordteil, etwa bis zur Donau, wird von der Regierung Hoffmann in
Bamberg kontrolliert, der Süden, vor allem der Großraum um München, von der Räterepublik.
Die 2. Räterepublik vom 13. April 1919
Die Regierung Hoffmann versucht am 13. April, das Räteregime durch einen Angriff der
Republikanischen Soldatenwehr zu stürzen. Der Angriff scheitert am Widerstand der Roten
Armee, und die Münchner Kommunistische Partei Deutschlands tritt an die Spitze der Rätere-
publik. Die Kommunisten setzen den Zentralrat unter der Führung Tollers ab und installieren
einen sog. „Vollzugsrat“ unter Eugen Leviné und Max Levien. Nun beginnt eine heftige militä-
rische Auseinandersetzung zwischen der Regierung Hoffmann in Bamberg und der Räteregie-
rung in München. Hoffmann setzt in erster Linie Freiwilligenverbände, sog. Freikorps ein, die
zusätzlich von Einheiten der Reichswehr unterstützt werden. Auf Seiten der Räte kämpft die
neugeschaffene „Rote Armee“.
Am 16. April gelingt es Einheiten der Roten Armee unter dem Kommando Ernst Tollers,
die in Dachau stehenden Freikorpsverbände zu schlagen und sie zunächst zum Rückzug zu
zwingen. Auf Seiten der Freikorps fallen vier Offiziere, 50 Mann werden gefangengenommen,
vier Geschütze gehen verloren. Die Rote Armee verliert acht Mann.64
62 vgl. Niekisch, S. 65-70. 63 Ehrlich, S. 193. Proklamation der Bayrischen Räterepublik vom 7. April 1919. 64 wikipedia
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Ein weiterer Machtwechsel erfolgte am 27. April zugunsten des gemäßigten Führers der
USPD Ernst Toller, der angesichts der katastrophalen Ernährungslage in München auf Ver-
handlungen mit der Regierung Hoffmann drängt. Hoffmann lehnt jedoch jeden Kompromiß ab.
Statt dessen rücken am 1. Mai 1919 unter erbitterter Gegenwehr der Roten Armee Freikorps in
München ein, wo tags zuvor zehn rechtsstehende "Geiseln" - Mitglieder der deutsch-völkischen
Thulegesellschaft - brutal ermordet worden waren. Die Rache der Freikorps ist grausam, ihrem
Einmarsch fallen 335 Zivilisten zum Opfer, die man zum Teil irrtümlich für Kommunisten
gehalten hatte. Insgesamt fordern die Kampfhandlungen bis zur Niederschlagung der Räterepu-
blik am 3. Mai 1919 über 600 Tote.65
Nachwirkungen
Die meisten führenden Mitglieder der Münchner Räterepublik werden im Mai und Juni
von Standgerichten nach Hochverratsprozessen zu langen Haftstrafen oder zum Tode verurteilt
(Ernst Toller: 5 Jahre; Erich Mühsam: 15 Jahre; Hinrichtung Eugen Levinés am 5. Juni). Über
2.000 vermutete oder tatsächliche Anhänger der Räterepublik verlieren ihr Leben oder werden
zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.66
Die Tatsache, daß führende Köpfe der Räterepublik jüdischer Herkunft waren (Eisner,
Toller, Landauer, Mühsam, Leviné, Levien), führt in München zu einem viel stärker ausgepräg-
ten Antisemitismus als in anderen deutschen Städten. Dies kann mit eine Ursache dafür sein,
daß die NSDAP in München groß wurde: „Neben Eisner, Toller und Erich Mühsam waren im
Frühjahr 1919 auch andere Protagonisten der Linken jüdischer Herkunft gewesen. Das führte
nach der Niederschlagung der Räterepublik in München weit mehr als in einer anderen deut-
schen Großstadt zu einer Welle von wüstem Antisemitismus, der das Schreckbild des ‚jüdischen
Bolschewisten’ ausmalte.“67
Literarische Verarbeitung
Oskar Maria Graf behandelt im Gegensatz zu zahlreichen ausführlichen Berichten und
Dokumentationen über Geschehnisse, Personen und Auseinandersetzungen die Ereignisse zwi-
schen November 1918 und Mai 1919 in künstlerisch-literarischer Form. Im Roman „Unruhe
um einen Friedfertigen“, erschienen 1947, verortet er das Geschehen in ein fiktives niederbay-
risches Dorf namens Auffing und in die nahegelegene Bezirksstadt Amdorf. Die zentrale Leit-
65 Deutsches Historisches Museum: http://www.dhm.de/lemo/html/weimar/revolution/raeterepublik/index.html (20. Sept. 2010)
66 wikipedia 67 Deutsches Historisches Museum: http://www.dhm.de/lemo/html/weimar/revolution/raeterepublik/index.html
(20. Sept. 2010)
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figur seiner Erzählung ist der jüdische Flickschuster Julius Kraus, der nach dem Tod seiner
Frau Kathi und dem plötzlichen Weggang seines Sohnes Hans ein zurückgezogenes Leben
führt.
Kraus erlebt das Geschehen als unbeteiligter Zuschauer. Schilderungen über das Verhal-
ten der Dorfbewohner, unterschiedliche politische Positionen, daraus entstehende Rivalitäten
vermitteln einen plastischen Eindruck, wie sich die Vorgänge im „fernen München“ unmittel-
bar auf das Leben der Landbevölkerung auswirken.
Die politischen Ereignisse in Bayern und vor allem in München werden niemals direkt
beschrieben. Lediglich die Folgen, die sich im Dorf bemerkbar machen, dienen als kleiner Wi-
derhall größerer Ereignisse. Der Beginn der Revolution in Bayern wird z.B. daran erkennbar,
daß Lastkraftwagen mit unbekannten Menschen durch das Dorf fahren und Flugblätter abge-
worfen werden. Als von einem haltenden Lastwagen ein Redner zu den Bauern spricht und sie
mit anfeuernden Worten aufruft („Eine Bande von kriegshetzerischen Monarchen und Genera-
len, von Korrupten, gewissenlosen Beamten und profitgierigen Schlotbaronen hat uns in den
Krieg und in das ganze Elend gehetzt, aber jetzt hat die Stunde für das Gesindel geschlagen“),
werden sie auf das Geschehen aufmerksam.68 Die beginnende Spaltung in der Bevölkerung,
hier pro – hier contra Revolution, macht Graf an handelnden Personen fest, die wegen früherer
Streitereien einander feind sind und verknüpft so die politischen Einstellungen mit persönlichen
Erlebnissen der Menschen.
Das Attentat auf Eisner wird vor allem als ungewohnte Aufregung (Glockenläuten) und
störender Einbruch in das Alltagsleben erlebt. Über einen Aufstand nach dem Attentat und
Straßenkämpfe in München wird indirekt, „vom Hörensagen“ erzählt. Auch hier spiegeln sich
die späteren Kämpfe zwischen der Räteregierung und der sozialdemokratischen Regierung
Hoffmann in Bamberg in Konflikten einzelner Dorfbewohner wider.69 Die anschließenden
Bürgerkriegskämpfe, die als Kämpfe zwischen „Roten“ und „Weißen“ geschildert werden, ku-
mulieren in zwei Personen, im Gemeindediener Kugler und dem Bauernsohn Silvan Lochner.
Das Dorf wird zum Kampfschauplatz zwischen „Roten“ und „Weißen“.70
Graf versteht es, mit literarischen Kunstgriffen das Geschehen einerseits fernab von der
kleinen Welt des Bauerndorfes ablaufen zu lassen, es aber andererseits mit detailreichen Ein-
zelereignissen, mit Dialogen und treffender Charakterisierung der handelnden Personen nah in
das Dorfgeschehen hereinzuholen.
68 Graf, „Unruhe“, S. 70. 69 Ebd., S. 98f. 70 Ebd., S. 122ff.
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Allerdings ist bei der Bewertung des Buches zu bedenken, daß es als Roman keinen An-
spruch auf Authentizität erhebt. Er schrieb es 28 Jahre nach den Ereignissen, er vermittelt Stim-
mungen, Gefühlslagen, Eindrücke, aber keine Fakten. Er fokussiert Geschehnisse, die sich zu
verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten und mit verschiedenen Personen ereignet haben
können, in das fiktive Dorf Auffing. Seine handelnden Personen stehen als Charaktertypen,
nicht als tatsächlich gelebt habende Menschen.
In der autobiographischen Erzählung „Wir sind Gefangene“, verfaßt 1926, beschreibt er
episodenhaft sein Leben in den Jahren 1905 bis 1919. Sehr anschaulich berichtet er von einer
Kundgebung auf der Münchner Theresienwiese (offensichtlich ist jene vom 7. November 1918
gemeint), auf der dichtgedrängte Menschenmassen versammelt sind und mehrere Redner
gleichzeitig ihre Aufrufe an die Menge richten. Ausdrücklich nennt er Eisner, der sich aber
zunächst gegen die lautstarken Mitredner nur schwer durchsetzen kann. Dann beschreibt er, wie
Fechenbach71 die Menge aufruft, „unserem Führer“ Kurt Eisner zu folgen. Nahezu satirisch
schildert er die heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Linksparteien (von den Sozial-
demokraten über USPD bis zum Spartakusbund72), die anläßlich der Wahlpropaganda zur Wahl
einer provisorischen deutschen Nationalversammlung im Jänner 1919 aufbrechen.73
* * * * * Nachdem er zunächst mit Eisners politischem Weg sympathisiert, scheint er im Jänner
1919 innerlich zu ihm auf Distanz zu gehen, als dieser versucht, das zunehmende revolutionäre
Chaos durch republikanische Polizeikräfte notfalls auch mit Waffengewalt zu verhindern.
In allen Schilderungen Grafs entsteht beim Leser der Eindruck, daß er zwar ein eifriger
Mitläufer, aber kein wirksamer Mitgestalter des politischen Geschehens gewesen sei. Außer-
dem unterbricht er seine Schilderungen immer wieder durch ausführliche Erzählungen seiner
persönlichen, sehr prekären Lebensumstände und der Teilnahme an diversen nächtlichen Sauf-
gelagen der Münchner Bohemien-Szene. So klingt in seinen Texten oft eine ironische Distanz
zum Geschehen und Freude am fabulierenden Wortspiel durch. Er vermittelt Eindrücke und
Stimmungen, wenig Fakten.
71 Felix Fechenbach, 1894-1933; zunächst Jungfunktionär in der SPD, nach Kriegsende Kontakt zu Eisner. In der Regierung Eisner als dessen Sekretär tätig, außerdem Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrats sowie des provi-sorischen Nationalrates in Bayern. Quelle: wikipedia http://de.wikipedia.org/wiki/Felix_Fechenbach (20. Sept. 2010)
72 Spartakusbund, eine Vereinigung von marxistischen Sozialisten in Deutschland, die während des Ersten Welt-kriegs am Ziel einer internationalen Revolution des Proletariats festhielten. Ab August 1914 innerhalb der So-zialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) als oppositionelle Gruppe, ab 1917 linker Flügel der von der SPD abgespaltenen USPD. Während der Novemberrevolution 1918 war der Bund parteiunabhängig und strebte eine deutsche Räterepublik an. Am 1. Januar 1919 ging er in der neu gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) auf. Quelle: wikipedia http://de.wikipedia.org/wiki/Spartakusbund (20. Sept. 2010)
73 Graf, „Gefangene“, S. 366.
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Schlußfolgerungen
Meiner Ansicht nach geht die Rätetheorie von einem Menschenbild aus, das mit der
Wirklichkeit nicht übereinstimmt. Das Rätesystem fußt auf einem eingeschränkten Gesell-
schaftsmodell, weil es sich per Definition auf die „ausgebeutete Arbeiterschaft“ in der Indu-
strie, also das Industrieproletariat des ausgehenden 19. Jahrhunderts stützt. Kleingewerbetrei-
bende, Bauern, geistige und künstlerische Berufe sind hier nicht vertreten, ihnen wird keine
Möglichkeit geboten, an der politischen Willensbildung mitzuwirken. Auch gibt es keinen Aus-
gleich zwischen Gesetzgebung, Vollzug und Rechtsprechung. Die Konzentration der gesamten
Macht in den Händen EINER Gruppe, die ohne Kontrolle handelt, ebnet den Weg zu Totalita-
rismus und Diktatur.
Die Demokratiedefinition Adlers reduziert das System auf den Klassenkampf, stellt die-
sen höher als die (mögliche) Mitwirkung aller Bürger an der politischen Willensbildung und
beschreibt die Utopie einer „wahren Demokratie“ ohne Besitz- und Vorteilsdenken, die mir
wirklichkeitsfremd erscheint. Das Demokratiemodell Eisners (siehe S. 15) als Ideal einer all-
umfassenden Revolution, getragen von allen sozialen Schichten, empfinde ich als Widerspruch
zum System einer parlamentarischen Demokratie.
Das Experiment „Bayrische Räterepublik“ war gekennzeichnet durch eine große Vielfalt
an Wünschen, Absichten und Zielen der beteiligten Personen. In der großen Bandbreite von
Bayrischem Bauernbund, Sozialdemokraten, linker USPD, Gewerkschaften, organisierten Ka-
derkommunisten, heimatlosen Linken und Anarchisten entwickelte sich kein einheitliches poli-
tisches Wollen. Der Grundkonflikt entzündete sich immer wieder an der niemals beantworteten
Frage: revolutionäres Rätesystem oder parlamentarische Demokratie?
Im agrarischen Bayern kam den Bauern eine wichtige politische Rolle zu. Durch das
Bündnis Gandorfer-Eisner spielte der Bayrische Bauernbund eine relativ gewichtige Rolle in
der ersten Phase der Räterepublik. Allerdings strebten die Bauern mehrheitlich keinen Sozia-
lismus an, da sie darin eine Beschränkung ihrer Eigentumsrechte fürchteten. Die im Nationalrat
vertretenen Bauernräte stammten allesamt aus den führenden Schichten der Bauernschaft und
hatten kein Interesse an einer Änderung der sozialen Verhältnisse.
Ich betrachte das Experiment „Räterepublik“ als eine unerreichte Utopie, die in einer
mißglückten Machtübernahme endete.
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Literatur, Quellen
(verwendete Literatur ist kursiv gedruckt).
Adler, Max: Demokratie und Rätesystem. Wien, 1919.
Brockhaus-Lexikon. Der große Brockhaus, Bd. 15, Pos-Rob. Leipzig, 1933. Däumig, Ernst: Das Rätesystem; Reden auf dem Parteitage der U.S.P.D. am 4. und 5. März
1919. Berlin 1919.
Die Niederwerfung der Räteherrschaft in Bayern 1919. Darstellungen aus den Nachkriegs-kämpfen deutscher Truppen und Freikorps. Im Auftrag des Oberkommandos der Wehr-macht bearbeitet und herausgegeben von der Kriegsgeschichtlichen Forschungsanstalt des Heeres. Vierter Band, Berlin 1939.
Ehrlich , Johannes: München 1918/1919 – das Scheitern einer Utopie. Anarchistische Strö-mungen in der bayrischen Revolution (Landauer – Mühsam – Toller). Dipl. Arb., Kla-genfurt, 1997,
Eisner, Kurt: Die halbe Macht den Räten. Köln, 1969.
Graf, Oskar Maria: Unruhe um einen Friedfertigen. München, 1994.
Graf, Oskar Maria: Wir sind Gefangene. München, 1994.
Gutmann, Franz: Das Rätesystem, seine Verfechter u. seine Probleme. München 1922.
Karl, Michaela: Die Münchener Räterepublik : Porträts einer Revolution. Düsseldorf 2008.
Mitchell , Allan: Revolution in Bayern: 1918/1919 ; die Eisner-Regierung und die Räterepu-blik. München, 1967.
Mühsam, Erich: Streitschriften. Literarischer Nachlaß. Berlin (Ost), 1984. Neubauer, Helmut: München und Moskau 1918 – 1919. Zur Geschichte der Rätebewegung in
Bayern. München, 1958.
Niekisch, Ernst: Erinnerungen eines deutschen Revolutionärs (1. Bd.). Köln, 1974
Schmolze, Gerhard (Hg.): Revolution und Räterepublik in München 1918-19 in Augenzeu-genberichten. Mit einem Vorwort von Eberhard Kolb. München, 1978.
Internet-Quellen
Deutsches Historisches Museum (DHM) http://www.dhm.de/ Räterepublik: http://www.dhm.de/lemo/html/weimar/revolution/raeterepublik/index.html
Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie. IP-GIPT DAS=24.02.2008 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung 15.9.2008. Impressum: Diplom-Psychologe Dr. phil. Rudolf Sponsel Stubenlohstr. 20 D-91052 Erlangen
http://www.sgipt.org/galerie/rs/DCUSP/BayRR/BRR0.htm
wikipedia http://de.wikipedia.org/wiki/M%C3%BCnchner_R%C3%A4terepublik
Bayrisches Internet-Lexikon
http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_44430 (Bayrische Bauernbund) http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_44332 (Revolution 1918/19)