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35 Jahre Erfahrung mit der Very-Point-Punktlokalisation · mittels Nadelung, Laser- oder...

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Fortbildung | Education Dt Ztschr f Akup. 56, 2/2013  21 DZA J. Gleditsch 35 Jahre Erfahrung mit der Very-Point-Punktlokalisation 35 years of experience with the Very-Point localisation Zusammenfassung Das Phänomen der Minispots, speziell in den Mikrosystemen, erfordert eine äußerst exakte Punktlokalisation, da diese für den Therapieerfolg entscheidend ist. Hierfür bewährt sich die Very- Point-Technik, die primär für die Schleimhautpunkte der Mund- akupunktur entwickelt wurde. Die Detektion erfolgt mit der Na- del selbst, die bei fest abgestützter Hand tangential – sanft wie ein Pinselstrich – über das vermutete Therapieareal geführt wird. Der Patient signalisiert das Treffen des Punktes mimisch und/ oder verbal, und dies momentgenau. Auf diese Weise wird er zum Partner und ist aktiv und bewusst in Diagnostik und Therapie einbezogen. Dank der Very-Point-Technik lassen sich segmentale Symmetriepunkte kontralateral zum Schmerzareal wie auch horizontale Punktausbreitungen (Segment-Belts) auf- spüren, ebenso wie Störfeld-Hinweispunkte im Narbenbereich. Schlüsselwörter Very-Point-Detektion, Akupukturpunkt-Lokalisation, Mikro- systeme, Patient als Partner Abstract The phenomenon of mini-spots requires a very precise point-localisation, as this is beneficial for the therapeutical success particularly in microsystem acupuncture. Very-Point- technique was originally developped in Oral Acupuncture, for spotting and defining the specific oral mucosa points. This technique is performed by gentle dabbing the needle along the suspected point area, the therapist’s fingers being firmly supported. Instantly the patient will confirm verbally or mim- ically both the precise moment and the ‘very’ spot. Thus the patient is involved in the procedure as an active partner. Ow- ing to very-point detection, also symmetrical segmental points contralateral to a pain area can be traced as well as horizon- tal point propagations (‘segmental belts’), the same as irritated points in scars. Keywords Very-point detection, acupuncture point localisation, micro- systems, patient co-operation Wenn hier auf eine 35-jährige Punktlokalisationserfahrung zurückgeblickt wird, so ist diese Zeit ein Bruchteil gegenüber der jahrtausendealten TCM-Erfahrung. Und doch dürfen wir unsere neuen und zeitgemäßen Akupunkturerfahrungen in voller Berechtigung neben die TCM stellen, zumal heute viele wissenschaftlich erhärtete Fakten zur Akupunkturwirkung – aus der Physiologie, der Schmerz- und Hirnforschung – ein viel breiteres Fundament bilden. Die Bedeutung der exakt lokalisierten Punktvorgabe ist durch die GERAC- und ART-Studien infrage gestellt worden: Seitdem bewegen sich die Diskussionen um das Thema, inwieweit der Therapieeffekt von der genauen Kenntnis der Punkte und von der Nadelung „auf den Punkt“ ankommt. Durch den Beitrag des Kollegen Riehl „Sofort-Effekte durch prä- zisierte Nadelung therapeutischer Punkte“ in der DZA 1/2012 ist das Thema der exakten Punktbestimmung aktualisiert wor- den [1]. Riehl betont in diesem Zusammenhang den Vorteil der RAC-Pulstastung (RAC = Reflexe Auriculo-Cardial bzw. VAS = Vascular-Autonomes-Signal): Die auftretende und fühlbare Puls- veränderung sei ein vom Organismus des Patienten ausgehendes Signal; der therapeutische Effekt werde durch präzise Punk- tortung optimiert. Die Very-Point-Technik hat sich ebenfalls nunmehr über Jahr- zehnte für die exakte Punktlokalisation bewährt und bringt denselben Vorteil ein: eine deutliche reaktive Antwort vom Organismus des Patienten und daher wesentlich effizientere therapeutische Wirkungen. Die Indikationen für die Very-Point-Anwendung – anfänglich begrenzt auf die Mund- und Ohrakupunktur – haben sich in den Jahren wesentlich erweitert, sodass ein Überblick über diese Methode und ihre richtige Handhabung gerechtfertigt ist. Hunderte von Auriculotherapeuten, die regelmäßig den RAC anwenden, ebenso wie die große Zahl der Very-Point-Anwender bestätigen die Praxiserfahrung, dass die Behandlungsergebnisse entscheidend von der punktgenauen Detektion und Nadelinser- tion abhängen. In der Ohr- und Mundakupunktur, wo viele Punkte verdeckt liegen und nicht mittels Sondendruck oder apparativem Detektor markiert werden können, ist eine exakte Punktlokalisa- tion überhaupt erst mittels Very-Point- oder VAS-Punktortung möglich. Auch an weiteren Mikrosystemen (MAPS) sowie bei manchen Fernpunkten der TCM ist eine präzisierte Punktlokali- sation wesentlich, um optimale Therapiewirkungen zu erzielen. Mundakupunktur als Weg zur Very-Point-Methode Die Very-Point-Technik ergab sich mir primär bei Ausübung der Mundakupunktur: Die palpierten druckempfindlichen Schleim- hautpunkte lassen sich nicht – wie auf der Haut – mittels Instru- mentendruck markieren. So benutzte ich zunehmend die Nadel selbst als Detektionsinstrument: am besten eine feine Injekti- onsnadel (z. B. Insulinspritze), da die Mundakupunktur mittels Injektionen erfolgt. Die Very-Point-Technik lässt sich ebenso und sogar besonders feinfühlig mit feinsten Akunadeln ausüben, so zur exakten Punktfindung und Therapie an bestimmten Arealen der Körperakupunktur (Gesicht, Handkante, Fuß etc.), speziell aber an den Mikrosystemen [2, 3]. Die Feinheiten der Technik Die Very-Point-Technik verlangt ein Feingefühl der Hand, was sich oft erst durch Übung einstellt. Die Hand des Therapeuten sollte fest abgestützt sein, d. h. die ulnare Handkante oder zumindest der kleine Finger sollten sicher aufliegen. Erst dies garantiert die freie und doch kontrollierte Beweglichkeit der Dr. med. Jochen Gleditsch [email protected] DOI: 10.1016/j.dza.2013.06.005  21 21 Dt. Ztschr. f. Akupunktur 56, 2/2013
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Fortbildung | Education

Dt Ztschr f Akup. 56, 2 / 20 13    2 1    DZA

J. Gleditsch

35 Jahre Erfahrung mit der Very-Point-Punktlokalisation

35 years of experience with the Very-Point localisation

ZusammenfassungDas Phänomen der Minispots, speziell in den Mikrosystemen, erfordert eine äußerst exakte Punktlokalisation, da diese für den Therapieerfolg entscheidend ist. Hierfür bewährt sich die Very-Point-Technik, die primär für die Schleimhautpunkte der Mund-akupunktur entwickelt wurde. Die Detektion erfolgt mit der Na-del selbst, die bei fest abgestützter Hand tangential – sanft wie ein Pinselstrich – über das vermutete Therapieareal geführt wird. Der Patient signalisiert das Treff en des Punktes mimisch und/oder verbal, und dies momentgenau. Auf diese Weise wird er zum Partner und ist aktiv und bewusst in Diagnostik und Therapie einbezogen. Dank der Very-Point-Technik lassen sich segmentale Symmetriepunkte kontralateral zum Schmerzareal wie auch horizontale Punktausbreitungen (Segment-Belts) auf-spüren, ebenso wie Störfeld-Hinweispunkte im Narbenbereich.

SchlüsselwörterVery-Point-Detektion, Akupukturpunkt-Lokalisation, Mikro-systeme, Patient als Partner

AbstractThe phenomenon of mini-spots requires a very precise point-localisation, as this is benefi cial for the therapeutical success particularly in microsystem acupuncture. Very-Point-technique was originally developped in Oral Acupuncture, for spotting and defi ning the specifi c oral mucosa points. This technique is performed by gentle dabbing the needle along the suspected point area, the therapist’s fi ngers being fi rmly supported. Instantly the patient will confi rm verbally or mim-ically both the precise moment and the ‘very’ spot. Thus the patient is involved in the procedure as an active partner. Ow-ing to very-point detection, also symmetrical segmental points contralateral to a pain area can be traced as well as horizon-tal point propagations (‘segmental belts’), the same as irritated points in scars.

KeywordsVery-point detection, acupuncture point localisation, micro-systems, patient co-operation

Wenn hier auf eine 35-jährige Punktlokalisationserfahrung zurückgeblickt wird, so ist diese Zeit ein Bruchteil gegenüber der jahrtausendealten TCM-Erfahrung. Und doch dürfen wir unsere neuen und zeitgemäßen Akupunkturerfahrungen in voller Berechtigung neben die TCM stellen, zumal heute viele wissenschaftlich erhärtete Fakten zur Akupunkturwirkung – aus der Physiologie, der Schmerz- und Hirnforschung – ein viel breiteres Fundament bilden. Die Bedeutung der exakt lokalisierten Punktvorgabe ist durch die GERAC- und ART-Studien infrage gestellt worden: Seitdem bewegen sich die Diskussionen um das Thema, inwieweit der Therapieeff ekt von der genauen Kenntnis der Punkte und von der Nadelung „auf den Punkt“ ankommt.Durch den Beitrag des Kollegen Riehl „Sofort-Eff ekte durch prä-zisierte Nadelung therapeutischer Punkte“ in der DZA 1/2012 ist das Thema der exakten Punktbestimmung aktualisiert wor-den [1]. Riehl betont in diesem Zusammenhang den Vorteil der RAC-Pulstastung (RAC = Refl exe Auriculo-Cardial bzw. VAS = Vascular-Autonomes-Signal): Die auftretende und fühlbare Puls-veränderung sei ein vom Organismus des Patienten ausgehendes Signal; der therapeutische Eff ekt werde durch präzise Punk-tortung optimiert. Die Very-Point-Technik hat sich ebenfalls nunmehr über Jahr-zehnte für die exakte Punktlokalisation bewährt und bringt denselben Vorteil ein: eine deutliche reaktive Antwort vom Organismus des Patienten und daher wesentlich effi zientere therapeutische Wirkungen. Die Indikationen für die Very-Point-Anwendung – anfänglich begrenzt auf die Mund- und Ohrakupunktur – haben sich in den Jahren wesentlich erweitert, sodass ein Überblick über diese Methode und ihre richtige Handhabung gerechtfertigt ist.

Hunderte von Auriculotherapeuten, die regelmäßig den RAC anwenden, ebenso wie die große Zahl der Very-Point-Anwender bestätigen die Praxiserfahrung, dass die Behandlungsergebnisse entscheidend von der punktgenauen Detektion und Nadelinser-tion abhängen. In der Ohr- und Mundakupunktur, wo viele Punkte verdeckt liegen und nicht mittels Sondendruck oder apparativem Detektor markiert werden können, ist eine exakte Punktlokalisa-tion überhaupt erst mittels Very-Point- oder VAS-Punktortung möglich. Auch an weiteren Mikrosystemen (MAPS) sowie bei manchen Fernpunkten der TCM ist eine präzisierte Punktlokali-sation wesentlich, um optimale Therapiewirkungen zu erzielen.

Mundakupunktur als Weg zur Very-Point-Methode Die Very-Point-Technik ergab sich mir primär bei Ausübung der Mundakupunktur: Die palpierten druckempfi ndlichen Schleim-hautpunkte lassen sich nicht – wie auf der Haut – mittels Instru-mentendruck markieren. So benutzte ich zunehmend die Nadel selbst als Detektionsinstrument: am besten eine feine Injekti-onsnadel (z. B. Insulinspritze), da die Mundakupunktur mittels Injektionen erfolgt. Die Very-Point-Technik lässt sich ebenso und sogar besonders feinfühlig mit feinsten Akunadeln ausüben, so zur exakten Punktfi ndung und Therapie an bestimmten Arealen der Körperakupunktur (Gesicht, Handkante, Fuß etc.), speziell aber an den Mikrosystemen [2, 3].

Die Feinheiten der TechnikDie Very-Point-Technik verlangt ein Feingefühl der Hand, was sich oft erst durch Übung einstellt. Die Hand des Therapeuten sollte fest abgestützt sein, d. h. die ulnare Handkante oder zumindest der kleine Finger sollten sicher aufl iegen. Erst dies garantiert die freie und doch kontrollierte Beweglichkeit der

Dr. med. Jochen Gleditsch [email protected]

DOI : 10. 10 16/ j .dza .20 13 .06.005   2 12 1    Dt. Z tschr. f. Akupunktur 56, 2 / 20 13

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Die spezifi sche Response am Very PointBeim exakten Treff en des Punktes fühlt sich der Widerstand des Gewebes meist etwas weicher an, sodass zuweilen die Nadel wie in einen off enen Kanal gleitet. Vor allem aber tritt als Response eine typische Spontanreaktion des Patienten ein. Beim Berühren des Very Point erschrickt er geradezu und reagiert mimisch und meist auch verbal. Selbst wenn er schon bei der vorausgehen-den Punktsuche das Gesicht verzog, so ist er bei Berührung des wahren (verus!) Punktes wahrhaft „be-troff en“: Ausnahmslos kommt es zu einer deutlich stärkeren Reaktion der Augen und/oder der Gesichtsmimik sowie zu einer extrem knappen, stac-catoartigen Meldung, die den Punkt bestätigt: „Hier, jetzt, da!“

Der Patient als PartnerDiese verbale Reaktion des Patienten bedeutet sein Einbezogen-sein in das Geschehen: Er bleibt nicht der passiv erduldende „Patient“, ist nicht mehr Objekt, sondern mitwirkender und sogar einwilligender Partner. Arzt und Patient kreisen in gemeinsamer Aktion den Punkt ein, und der Organismus selbst gibt die Ant-wort. Die spontane, kognitiv nicht kontrollierte Rückmeldung ist eine unbewusste Zustimmung für jedes weitere therapeuti-sche Procedere.Nicht selten korrigieren die Patienten sogar die Lokalisation: „Weiter rechts, etwas tiefer …“Viele erleben das Treff en des Punktes als geradezu befreiend – als ob sich im Moment der Berührung des Very Point eine Span-nung löst, die sich während der eher unangenehm empfundenen Punktsuche aufbaute. Der Punkt erweist sich darüber hinaus oft als „Signalgeber“ bzw. „Objektivierer“ der Beschwerden: d. h. der Patient fühlt sich dank des „Volltreff ers am Punkt“ in sei-nem Kranksein verstanden.Die am Very Point ausgelöste Reaktion kommt off ensichtlich auf subkortikaler Ebene zustande, d. h. ohne kognitive Kontrolle, denn der Patient vermag die Spontanantwort seines Organismus nicht zu unterdrücken: „Der Körper lügt nicht!“ Die Reaktion wird off ensichtlich auf einer Ebene ausgelöst, die noch weitge-hend unbewusst ist und mit der „bodily intelligence“ korrespon-diert, wobei englisch „intelligence“ – anders als im Deutschen – Wahrnehmungsfähigkeit, Perzeption meint. Das menschliche Bewusstsein spielt in der Schmerzwahrneh-mung, wie die Forschung der letzten Jahrzehnte belegt, eine wichtige Rolle. In die Schmerzleitung und -verarbeitung sind auch emotionale und kognitive Hirnzentren eingebunden und damit subjektive Komponenten.Die heute in der Hirnforschung diskutierten Begriff e „emotio-nal“ und „cognitive intelligence“ entsprechen weitgehend den analogen Ebenen des Bewusstseins. Jean Gebser [6] und Ken Wilber [7], bekannte zeitgenössische Philosophen, postulieren eine emergierende, dimensionale Bewusstseinsentfaltung: Emergenz bedeutet, dass völlig neue Impulse aufkommen, die aus vorausgehenden Stufen nicht ableitbar sind; Dimension meint die stufenweise Entfaltung ana-log den bekannten Raum-Dimensionen. Bei unseren Patienten mangelt es oftmals an der „untersten“ leibnahen Dimension der Bewusstheit, die der bodily intelligence analog sein dürfte. Für eine nachhaltige Heilung ist die bewusste Zusage zur eigenen Leiblichkeit wesentlich. Bereits das wahrgenommene „hands-on“ am Punkt oder das bewusste Erleben eines De Qi mag Anstoß zu einer bewussteren Leiberfahrung sein.

Abb 2: Very-Point-Detektion zwischen Punkten Dü 3 – Dü 4; dort fi ndet sich ein Punkt fü r Schulterbeschwerden1

Abb 1: Very-Point-Detektion in der NPSO-(Siener-)Zone an den Malleoli bei Hü ft- und Kniebeschwerden

beiden die Nadel tangential haltenden Finger. Auf diese Weise kann die feine elastische Nadel – und nur mit dieser gelingt Very-Point – wie mit einem sanften Pinselstrich über das vermutete Punktareal gezogen werden. Dabei sollte die Spitze der federnden Nadel mittels Minivibration sanfte Berührungs-reize auslösen. Das feine Vibrieren sollte geübt werden, und dies nicht am Patienten, sondern am eigenen Körper, z. B. am Punkt Di 4. Die tangential entlang streichende Nadel darf nicht traumatisieren, d. h. nicht die geringste Hautritzung auslösen. Während der Punktsuche soll der Therapeut nicht auf eine be-stimmte Lokalisation fi xiert sein, also ohne Erwartungshaltung detektieren, sondern auf die Antwort des Gewebes achten [4, 5].Der häufi gste Fehler besteht darin, dass die Nadel senkrecht – wie das „Picken des Vogels“ – geführt und das Areal gera-dezu hektisch stichelnd abgeklopft wird. Dadurch kommt es zu einer eher fl ächigen Reizung aller dort befi ndlichen Rezep-toren, was die exakte Eingrenzung des Very Point (very = verus!) eher verhindert. Der Patient sollte während der Punkt-suche entspannt sein; durch unruhiges und ungeduldiges Punktesuchen wird er übersensibilisiert oder gar verängstigt. Sobald der Very Point getroff en ist, sollte die Nadel so schnell wie möglich senkrecht gestellt und inseriert werden. Darum muss der Therapeut rasch umschalten zwischen einer völlig entspannten und geradezu „gleichgültigen“ Punktsuchphase und der Phase der ‚invasiven’ Nadelinsertion. Es ist bemer-kenswert, dass Ärzte und Zahnärzte, die operativ tätig sind und durch millimetergenaue Instrumentenführung ihre Feinmotorik ständig trainieren, die Very-Point-Technik ohne langes Üben beherrschen; gleiches gilt für Kollegen, die ein Musikinstrument spielen.

1 Alle Abbildungen dieses Artikels aus: Gleditsch JM. Atlas der MikroAkuPunktSysteme (MAPS). 2. Aufl . Marburg: KVM-Verlag, 2007. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

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J . Gled i tsch 35 Jahre Erfahrung mit der Very-Point-Punktlokal isat ion

Bewusste LeiberfahrungDie Bedeutung einer bewussten Leiberfahrung hat eine von Thure von Uexküll gegründete Arbeitsgruppe „Subjektive Anatomie“ herausgestellt [8]; die Wahrnehmung des Körpers geschieht pri-mär durch die Propriozeption: „Der Körper spricht mit sich selbst.“ Laut Sherrington, der 1931 für die Entdeckung der Propriozeption den Nobelpreis erhielt, ist die bewusste Leibwahrnehmung ein „Sich-selbst-in-Besitz-Nehmen“; und so wird die Bewegungs-wahrnehmung „Teil des erlebten Körpers“ [9, 10] .Der Schluss liegt nahe, dass an bestimmten Körperstellen Rezep-toren nicht nur Schaden signalisieren (Noci-zeption), sondern auch das „Befi nden vor Ort“ melden (Loci-zeption!) – nicht bloß im Sinne der Propriozeption, sondern als einer subliminalen Leib-bewusstheit. Off ensichtlich aktiviert das Tangieren spezifi scher Punkte – verstärkt noch bei Eintreten einer Schreckreaktion – diese Ebene der Wahrnehmung. Das würde manchen noch uner-klärlichen Phänomenen der punktbezogenen Therapie – sei es mittels Nadelung, Laser- oder Lichteinstrahlung oder gar mittels Klopfen – einen beachtenswerten Sinn geben.Zuweilen treten eine Schmerzlinderung und/oder eine freiere Gelenkbeweglichkeit beim bloßen spitzen Berühren des Very Point – also noch vor Nadelinsertion – ein. Das gilt speziell für die Therapie am Areal des Metacarpale V, an den Punkten Dü  2/3. Zuweilen wird bei Nadelung in diesem Areal eine starke psychische Reaktion ausgelöst; dies verlangt ein behutsames Eingehen auf die Befi ndlichkeit des Patienten, zumal Erinnerun-gen an alte Traumen hochkommen können.Neuerdings ist eine Klopfakupunktur populär geworden und wird in Seminaren gelehrt: Zusätzlich zum Beklopfen werden Affi r-mationen gesprochen [11]. Das bewährteste Areal dieser Methode – speziell bei Phobien – fi ndet sich ebenfalls am Metacarpale V.

Innovative IndikationenDie Very-Point-Technik erweist sich nicht nur bei der Punktde-tektion als sinnvoll und hilfreich. Dank dieser Methode konnten – zuweilen eher zufällig – bisher unbekannte Punktindikationen und Punkt-Ketten-Bildungen aufgedeckt und über Jahre bestä-tigt werden. So hat sich seit 30 Jahren das Areal der Punkte Di 8/9 in der Therapie von akuter Tonsillitis und Pharyngitis bewährt. Tradi-tionell wird der Punkt Lu 11 empfohlen, nämlich Reizung am Nagelfalz mit Dreikant-Nadel und dort bluten lassen – ein für westliche Patienten unangenehmer Eingriff ! Weit angenehmer und vor allem ebenso eff ektiv ist die Therapie am Areal Di 8/9. Hier bedarf es oft nur der oberfl ächlichen Hautritzung mit fei-ner Kanüle, um eine sofortige Schmerzlinderung zu erreichen. Die Wirksamkeit dieser Alternative ist in einer Dissertation an der HNO-Klinik der LMU München belegt worden [12].Eine weitere bedeutsame Spezialindikation erwies sich für Punkt Dü 2. Die Very-Point-Therapie dieses Punktes bzw. Areals wirkt auf das Zahn-Kiefer-System: Schmerzlinderung, Relaxation der Kaumuskelspannung, Funktionsregulation im stomatognathen System. Zu den meist sofort eintretenden Eff ekten gehört auch eine verbesserte Mundöff nung.In klinischen Studien – durchgeführt an CMD-Patienten der Kieferkliniken Wien, München und Dresden – erwies sich die Very-Point-Detektion im Areal Dü 2 als wesentlich für die erzielten Resultate [13, 14]. In der Zeitschrift Forschende Kom-plementärmedizin publizierte Thomas Schockert einen Not-

dienstfall von hartnäckigem Trismus, bei dem sich die Kiefer-sperre erst dank dieses Punktes aufl ösen ließ [15].

Very Point im SegmentAuch die Entdeckung segmentaler Belts ist ein Ergebnis der Very-Point-Technik. Belts sind horizontal sich fortsetzende Ketten aktivierter Punkte im Dermatom bei akuten wie bei chronischen Prozessen der Viszera. Ausgangspunkt der Detektion ist jeweils der zugehörige Shu-Punkt. Das Aufspüren des aktivierten Shu-Punktes gelingt am besten mittels vertikaler Very-Point-Strich-Detektion entlang des Blasenmeridians: Hierbei erweist sich dieser Punkt als deutlich reagibler gegenüber den anderen Shu-Punkten, selbst wenn die Palpation des Areals bzw. der Kibler-Falte noch keinen klaren Hinweis ergibt. Ausgehend vom ermittelten Shu-Punkt sollte horizontal detektiert werden hin zum äußeren Ast des Blasenmeridians und darüber hinaus; oftmals lassen sich in Fortsetzung dieser Linie – und zwar in jeweils glei-chen Abständen – weitere aktivierte und indizierte Punkte fi nden: ein segmentaler Belt. Auch die zugehörigen Paramedian-HuaTuo-Punkte lassen sich über diesen horizontalen Belt aufspüren. Je nach Beschwerdebild und Segment-Zuordnung vermag die Detektion ipsilaterale oder bilaterale Belts aufzudecken. Auf spezifi sche und therapeutisch bedeutsame Punkte im Segment – Maximalpunkte – hat schon Head hingewiesen [9]. Bei der akuten Hepatitis B oder C ließen sich regelmäßig rechtsseitige Punkt-Belts aufspüren – oft bis zum ventralen Rippenbogen. Un-ter dieser Segment-Belt-Therapie kam es zu rascher Reduktion der Transaminasen-Werte. Allerdings bedarf diese Erfahrung noch klinischer Studien. Zum Wohle unserer Patienten sollte solch eine schnell und unkompliziert durchführbare Segmenttherapie mehr genutzt werden – eine Kombination von Akupunkturerfahrung (TCM-Shu-Punkt) und Segmenterkenntnis [16].

Schmerztherapie im SymmetriearealBei akuten wie chronischen Schmerzen empfi ehlt sich die kontralaterale Very-Point-Detektion. Bei einem eher als fl ächig empfundenen Schmerz sollte der Patient mittels eingrenzender

Abb. 3 : Horizontale Punktausbreitung im Segment, z. B. bei Hepatitis

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Palpation auf den Maximalpunkt gelenkt werden. Präzis symmetrisch zum Hauptschmerzort fi nden sich meist ein oder mehrere auff ällig sensible Kontralateralpunke. Deren Nadelung führt oft zu einer sofortigen Linderung, wenn auch nicht völligen Behebung des Schmerzes. Der Patient reagiert hier-bei meist überrascht; dieses Erleben motiviert und lehrt ihn, sich bei Bedarf mittels Akupressur des Symmetrieareals selber zu helfen. Die therapeutische Bedeutung von Fernpunkten ist erst über die Akupunktur in die offi zielle Schmerztherapie eingefl ossen. Das Symmetrieareal im Segment birgt Punkte, die dank der inter-neuronalen segmentalen Verschaltung wirksam und als ‚erste Fernpunkt-Idee’ gelten sollten. Die Symmetrie-Punktur ist auch bei der Trigeminus-Neuralgie, bei liegenden Verbänden und beim Phantomschmerz bewährt. Je präziser auch hier das Symmet-rieareal lokalisiert wird, desto wirksamer der Eff ekt [17, 18].

Die X-NadelungUm die Wirkung zu optimieren, hat es sich bewährt, den Ort der gesetzten Nadel mit einer zweiten Nadel nochmals mittels Very-Point-Detektion zu umspielen. Sollte der Patient auf den erneu-ten Nadelreiz immer noch schreckhaft-mimisch und/oder verbal reagieren, so war der optimale Eff ekt noch nicht erzielt. Die Zweitnadel am Punkt weist jeweils einen Winkel zur Erstnadel auf, daher die Bezeichnung ‚X-Nadelung’. Durch die Zweit- oder Drittnadel werden meist weitere relativ oberfl ächliche Rezepto-ren erreicht, während die TCM den Eff ekt über tiefe Rezeptoren optimiert. Erst wenn am Very-Point-Ort keine Reaktion mehr auslösbar ist, ist das Therapieoptimum ausgeschöpft.

Narben-Detektion mittels Very PointDie Very-Point-Methode ist nicht nur in der Akupunktur, son-dern auch in der Neuraltherapie einsetzbar. Hier eignet sich die Feindetektion speziell zur Testung von Narben: Die auf der Narbe und ebenso entlang der Randgebiete sanft vibrierend entlang-gezogene Nadel führt zu Reaktionen an spezifi schen Stellen, die durch mehrmaliges Testen bestätigt werden sollten. Erst wenn der Patient wiederholt an jeweils exakt gleichen Stellen reagiert, ist der Störfeldverdacht gegeben; dann sollte die Narbenunter-spritzung an diesen Stellen beginnen.Wenn Horst Walach in seinem Editorial in der DZA 1/2012 [19] unter dem Titel ‚Agenten statt Patienten’ konstatiert, dass selbst eine Regulationsmedizin – nicht anders als die Schulmedizin – letztlich den passiv bleibenden Patienten bedient, so kann die

Abb. 4: Very-Point-Detektion bei Trigeminusbeschwerden; mittels dieses Punktes auch Wirkung auf Hüft- und Kniebeschwerden

Abb. 5: X-Nadelung am Areal Dü 2 – Dü 3: die Zweitnadel (anderer Winkel) verstärkt die Wirkung der Erstnadel

Very-Point-Methode für sich in Anspruch nehmen, dass es hier-bei zu einer aktiven Einbindung des Patienten kommt.Er wird in der Punktlokalisation zum Partner. Als solcher ist er auch ‚innerlich’ – über sein wahrnehmendes Bewusstsein – weit off ener und ansprechbarer für eine Wandlung seines Lebensstils, seiner Lebenseinstellung.Die traditionelle Pulstastung in der TCM, ebenso aber auch die Punktsuche mittels VAS oder Very-Point-Technik, zwingen den Therapeuten zum Innehalten, zur inneren Ruhe und Konzentra-tion, am besten begleitet von bewusster Atmung. Diese entspannte Präsenz bringt einen Gewinn für den Therapeuten, zumal im oftmals stressigen und hektischen Praxisalltag.Zum Erlernen der Very-Point-Technik aber gilt: immer wieder üben – „learning by doing!“

Literatur

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3. Gleditsch JM. Punktsuche mit Hilfe der Very-Point-Technik. Akup. – Theorie u. Prax. 1980,8:58–61

4. Gleditsch JM. Treatment of Sinusitis by Topic Skin Stimulation. Rhinology Supp. 1981;1:231–3

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