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Abenteurer Gottes -...

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Abenteurer Gottes
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Abenteurer Gottes

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Dave und Neta Jackson

Martin LutherNächtlicher Überfall

ChristlicheLiteratur-Verbreitung e.V.

Postfach 110135·33661 Bielefeld

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1. Auflage 2004

Originaltitel: Spy for the Night Riders© 1992 by Dave und Neta Jackson

© der deutschen Ausgabe 1995 by Zapf & Hofmann2004 by CLV · Christliche Literatur-VerbreitungPostfach 11 01 35 · 33661 BielefeldInternet: www.clv.de

Umschlag: Dieter Otten, GummersbachSatz: CLVDruck und Bindung: Ebner & Spiegel, Ulm

ISBN: 3-89397-452-0

Dave und Neta Jackson sind als Ehepaar ein Team,das zahlreiche Bücher über Ehe und Familie, Kirche,Beziehungen und andere Themen geschrieben undmitgeschrieben hat. Zu ihren Büchern für Kinderzählen die »Abenteurer Gottes«-Serie und »Glau-benshelden«. Die Jacksons sind in Evanston, Illinois,zu Hause.

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Vorwort

Alle Erwachsenen in diesem Buch sind historischePersonen, und auch die Ereignisse – außer die Fluchtdurch das Werratal –, in denen sie eine Rolle spielen,sind wirklich geschehen.

Außerdem hatte Martin Luther zwei Begleiter bei seiner Rückkehr aus Worms. Einer war Bruder Jo-hannes Petzensteiner. In den historischen Werkenbleibt der zweite ungenannt. Wer weiß? Vielleichtwar es ein Junge wie unser Karl Schumacher. Jeden-falls war es dieser Ungenannte, der mit dem Herrnder Wartburg zusammenarbeitete, um die Entfüh-rung Luthers zu organisieren.

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Inhalt

Die Bulle 9

Ein gefährliches Unternehmen 17

Kein Platz für Feiglinge 28

Nächtliche Reiter 35

Der Triumphzug 46

Geknebelt und gefesselt 58

Der Auftrag 65

Fluchtpläne 74

Flucht durch das Werratal 84

Gefangen genommen 96

Die dunkle Burg 104

Gefangen im Turm 111

Mehr über Martin Luther 121

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Der Weg nach Worms

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Die Bulle

Als ich zehn Jahre alt war, sah ich eine Verbren-nung.

Verzeiht mir, aber ich muss das näher erklären, weilihr sonst nicht versteht, warum ich solche Angst be-kam, als ich den Namen meines Herrn auf einem Pla-kat sah, das am Portal der Wittenberger Kirche ange-bracht war.

Diese Verbrennung war das erste Mal überhaupt,dass ich einen Menschen habe sterben sehen. Sie sag-ten, er wäre ein Ketzer gewesen – dass er sich gegenGott und die Kirche stellte. Doch ich konnte das nichtglauben.

Es geschah frühmorgens an einem regnerischenDienstag. Mein Vater ist Schuster. (Deswegen heißeich auch Karl Schumacher.) Er hatte mich zum Bür-germeister geschickt, ihm die reparierten Stiefel zubringen. Papa hatte sie in Ordnung gebracht, undnun glänzten sie schwarz und schön. Sie sahen tollaus, wie Papas Arbeiten immer. Doch als ich an dieTür des Bürgermeisters klopfte, war er sehr ärgerlich.Er zog mich am Ohr undsagte: »Rein mit dir, Junge,und hilf mir, die Stiefel an-zuziehen. Ich habe nicht denganzen Tag Zeit. Ich darf nichtzu spät bei der Verbrennung sein.«

Ich hatte bereits gehört, dasseine Verbrennung stattfin-

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den sollte, und ich wusste auch, dass Mama be-stimmt nicht wollte, dass ich hinging. Aber ich warneugierig, und das war meine einzige Chance, so et-was zu sehen, ohne dass sie davon wusste. Ich halfalso dem Bürgermeister in seine Stiefel und folgteihm auf den Marktplatz in der Mitte unseres kleinenDorfes Düben. Dort hatte der Stadtpolizist alles vor-bereitet, und eine Menschenmenge hatte sich bereitsversammelt. Ich versuchte, mich unauffällig unterdie Leute zu mischen in der Hoffnung, dass niemandmich bemerkte und es Mama erzählte. Zum Glückwaren alle so gefangen von dem, was sie sahen, dasssie mich wahrscheinlich nicht einmal bemerkt hätten,wenn ich ihnen auf den Füßen herumgelaufen wäre.

Sobald der Bürgermeister kam, zündete der Stadtpo-lizist einen Holzspan an und steckte damit einen ge-waltigen Holzstoß in Brand. Dann verschwanden diebeiden im Rathaus. Sie blieben solange darin, dassich beinahe aufgegeben hätte und nach Hause gegan-gen wäre – Papa fragte sich sowieso sicher schon,warum ich so lange wegblieb. Auch das Feuer wäreheruntergebrannt, wenn nicht immer wieder dieLeute aus dem Dorf Äste und Zweige hineingewor-fen hätten. Irgendjemand in der stets wachsendenMenge rief: »Bringt ihn raus! Wir haben nicht denganzen Tag Zeit!« Die anderen schrien sofort mit:»Bringt ihn raus! Bringt ihn raus! Bringt ihn raus!«Ich schrie mit, aber das war, bevor ich wusste, wieeine Verbrennung ablief.

Einige ältere Jungen um die fünfzehn (so alt, wie ichjetzt bin) standen an der Seite und unterhielten sichüber Verbrennungen. »Es ist, wie wenn man das Fell

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eines Hundes versengt. Nur bei einem Ketzer ist esnicht das Haar, das wegbrennt, sondern die Ketze-rei.« Sie lachten alle und stießen einander, als ob siesich gegenseitig ins Feuer werfen wollten.

Schließlich kamen der Bürgermeister, der Stadtpoli-zist und zwei Helfer heraus und befahlen, dass einWeg vom Rathaus zum Scheiterhaufen geräumtwürde. Zuerst bewegte sich niemand; jeder wollteeinen Platz, von dem aus er alles sehen konnte. DerStadtpolizist musste sie mit dem stumpfen Ende sei-ner Lanze stoßen, bis sie aus dem Weg gingen. Dannkamen die Kirchenleute in ihren feinen roten Robenheraus. Ich kannte keinen von ihnen. Sie waren nichtvon hier; sie waren nur als Richter gekommen, umden Ketzer zu verurteilen. Schließlich ging der Stadt-polizist zurück und kam mit dem Ketzer wieder he-raus. Er führte ihn, denn seine Hände waren auf demRücken zusammengebunden. Ihnen folgte unserDorfpfarrer, der schlimmer aussah als dieser Ketzer –er ließ den Kopf hängen, das Haar war ganz durch-einander. Er sah aus wie ein Wilder.

Ich erkannte den Ketzer wieder. Er hatte ein- oderzweimal auf dem Marktplatz gepredigt. Auch er kamvon außerhalb. Die Leute sagten, er ist in unser Dorfgekommen, um die Menschen zu bekehren.

Er war groß und mager, trug einen langen, dünnenBart, der hauptsächlich aus seinem Kinn und kaumaus den Wangen wuchs. Er sah nicht so alt aus wiePapa, doch er hatte fast eine Glatze. Als er die Stufenherunterkam und durch die Menge ging, blickte erganz ruhig auf die Menschen, und dann fiel seinBlick auf mich, und er lächelte. Ich sehe immer noch

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seine Augen vor mir – dieses helle Blau, fast wieKreide. Ich glaube … ich hoffe, dass ich zurück-gelächelt habe.

Ich hatte von Menschen gehört, die auf dem Scheiter-haufen verbrannt worden waren. Aber hier gab eskeinen richtigen Scheiterhaufen. Den Ketzer hatteman rückwärts auf eine Leiter gelegt, wo man ihnfestband. Das Feuer wurde neu aufgeschichtet undentzündet, bis die Flammen hochschlugen.

Während der ganzen Zeit kniete der Pfarrer nebendem Ketzer. Ich stand nahe genug, um ihn flehen zuhören, dass der Ketzer widerrufen sollte, damit seinLeben gerettet wäre. Tränen liefen dem Pfarrer dasGesicht hinunter, als er an dem Kreuz um seinenHals nestelte. Es ist hart, einen Erwachsenen weinenzu sehen. Doch der Ketzer lächelte nur und sagte: »Estut mir Leid, Pater. Ich kann nicht, es sei denn, manzeigt mir in Gottes Wort, dass ich Unrecht habe.« Woer Unrecht haben sollte, weiß ich nicht. Nicht einerMeinung mit der Kirche zu sein, war Verbrechen ge-nug.

Dann richteten der Stadtpolizist und seine Leute dieLeiter auf. Der Ketzer war oben festgebunden undhing dort mit dem Rücken zum Feuer. Es war er-schreckend, wie ähnlich er den Darstellungen JesuChristi sah, wie er so hoch über der Menge hing.Dann fragte einer der Richter, ob er noch etwas zu sa-gen hatte und erklärte ihm, dass er noch immer seinLeben retten konnte, wenn er seine Einstellung än-derte.

Der Ketzer blickte sich um, dann rief er laut, so dassjeder es hören konnte: »Ich will nur das Eine sagen.«

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Und dann begann er zu singen, mit einer so wunder-schönen Stimme, wie ich es nie zuvor gehört hatte.

Sie ließen ihn das Lied zweimal singen, dann ließensie die Leiter umfallen, so dass der Ketzer auf dembrennenden Holzhaufen landete. Funken sprühten,und einige brennende Zweige flogen in die Gegend.Die Menschen sprangen zur Seite, um nicht getroffenzu werden. Doch in den Flammen lag der Ketzer undsang immer weiter, statt zu schreien, bis er keine Luftmehr bekam. Und dann, als das Feuer die Stricke ver-brannt hatte, die seine Arme und Beine hielten,streckte er eine Hand gegen den Himmel aus. Sieblieb so, und am Ende sah es aus wie ein verkohlterAst eines alten Baumes.

Ich kann den Geruch nach verbranntem Fleisch garnicht beschreiben, so eklig war er. Mir wird schonschlecht, wenn ich nur daran denke.

Ich lernte bei dieser Hinrichtung, dass nicht nurschlechte Menschen hier in Deutschland oder sonstwo im Heiligen Römischen Reich zum Tode verur-teilt wurden. Wer Gott loben konnte, während er aufeinem Scheiterhaufen verbrannte, und dem keinFluch gegen die, die ihn dorthin gebracht hatten,über die Lippen kam, musste den Heiligen Geist insich haben. Ich glaube, andere dachten ebenso. Vondem Augenblick, als er zu singen begann, bis wir unszerstreuten, wurde nicht ein Wort gesprochen, nichteinmal von den älteren Jungen, die glaubten, alles zuwissen.

Wenn jemand seit der Zeit die Verbrennung in Dü-ben erwähnt, spricht er davon mit der Hochachtung,die man einem Heiligen entgegenbringt. Und unser

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Dorfpfarrer? Am nächsten Tagging er fort, und man hat nie

wieder etwas von ihm ge-hört.

Vielleicht versteht ihrjetzt, warum ich einen sol-chen Schreck bekam, alsich den Namen meinesHerrn auf dem Plakat ander Kirche las. In dickenschwarzen Buchstabennannte man ihn dort einenKetzer! Doch auch wennmein Herr, Doktor MartinLuther, einer der berühm-testen Lehrer im ganzenReich war, würde ihn dasnicht vor dem Verbrennenbewahren, wenn er derKetzerei für schuldig be-funden würde.

Ich lebe nicht mehr in mei-nem Geburtsort Düben.Als jüngster Sohn gab es

keinen Platz mehr für michim Geschäft meines Vaters,

und außerdem wollte ich lie-ber etwas anderes lernen als

Kaufmann. Um etwas zu lernen,ging ich nach Wittenberg und be-

warb mich bei Doktor Luther als seinDiener. Ich mache Botengänge für ihn,

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halte seine Kleidung und seine Zimmer sauber unddiene ihm als Stallbursche, wenn er unterwegs ist.Dafür lässt er mich in seinen Vorlesungen an der Uni-versität sitzen und bringt mir auch abends noch eini-ges bei, wenn er nicht zu müde ist. Für mich ist dastoll. Und vielleicht werde ich irgendwann sogar einrichtiger Student.

Als ich jedoch an diesem Tag später die Straße hinun-terkam, nachdem ich ein Pferd und einen Wagenzurückgebracht hatte, die wir geliehen hatten, um ei-nige Besuche in den Nachbarorten zu machen, be-merkte ich ein neues Plakat am Kirchenportal. Es warnicht nur ein einzelnes Blatt. Es war fast schon einkleines Buch, die Leute nennen es Bulle. In Witten-berg ist das Kirchenportal die verlässlichste Quellefür Neuigkeiten. Alle offiziellen Mitteilungen wer-den hier ausgehängt, damit jeder sie lesen kann. Andiesem Portal hatte Doktor Luther auch vor drei Jah-ren seine 95 Thesen angebracht; sie enthielten seineArgumente gegen falsche Lehren und Handlungen.Mit diesen Thesen kritisierte er die Zustände in derKirche. Natürlich mochten die Obersten der Kirchedas überhaupt nicht.

Was mir auffiel, war der Name meines Herrn. Ich lases schnell. Das Datum war der 15. Juni 1520 – fünf Mo-nate zuvor – und es war vom Papst, dem Oberhauptder römisch-katholischen Kirche, unterschrieben. Eshieß, dass Doktor Luther aus der Kirche hinausgewor-fen würde, wenn er nicht nach Rom käme, um seineketzerischen Schriften und Gedanken zu widerrufen.

Nach Rom? Widerrufen? Das war ja eine nette Art zusagen, dass die Kirche ihn bereits verurteilt hatte. Ich

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las weiter. Das Blatt verbot jedem, Luthers Schriftenzu verteidigen oder ihm zu helfen. Mein Herz schlugschneller. Das war eine Exkommunikationsbulle! Ersollte aus der Kirche ausgestoßen werden, und jeder,der ihm half, würde genauso verurteilt werden.

Ich versuchte zu begreifen, was das bedeutete. Dok-tor Luther war zwar berühmt, und er war auch einguter Lehrer, aber wenn er nicht seine Meinung überdie Bedeutung des Wortes Gottes änderte – und ichwusste, dass er das niemals tun würde –, war er nichtmehr sicher.

Ich blickte die Straße hinunter, um zu sehen, ob michjemand beobachtete. Die Menschen gingen ihre eige-nen Wege und achteten nicht auf mich … außer einemMädchen in meinem Alter, das an einem Obststand inder Straße stand. Ich hatte sie nie zuvor gesehen. Siewar besser angezogen als die normalen Bauern-mädchen, aber sie trug einen Korb, also war sie wohlzum Markt gegangen. Sie hatte ungewöhnlich langesschwarzes Haar, das ihr lose den Rücken hinunter-hing. Die meisten Mädchen in ihrem Alter trugenKopftücher. ›Es reicht‹, sagte ich zu mir selbst. Jetztwar keine Zeit, hübschen Mädchen nachzuschauen.Als sie sich umdrehte, riss ich das Plakat von demPortal und rollte es schnell zusammen. Dann stopfteich es in meine Jacke und rannte zur Universität.

Mein Herr war in Gefahr. Und wenn ich ihm half,war ich es auch.

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Ein gefährliches Unternehmen

Ich fand Doktor Luther auf dem Universitätsplatz,wo er mit einigen Studenten über seine Nachmit-

tagsvorlesung sprach. So höflich wie ich konnte, un-terbrach ich sie. »Entschuldigen Sie bitte, mein Herr.Aber ich muss dringend mit Ihnen sprechen.«

Wahrscheinlich dachte er, es hätte Probleme mit demPferd und dem Wagen gegeben, denn er antwortete:»Mach dir keine Sorgen, Karl. Wir werden heuteAbend darüber sprechen, und alles wird wieder insLot kommen. Nun geh und bereite etwas Schönes fürmeinen Geburtstag vor.« Er lächelte wohlwollend.

Oh nein! Das hatte ich ja total vergessen. Es war der11. November, und – ich rechnete schnell nach – Dok-tor Luther wurde 37. Ich wollte gerade von meinenNeuigkeiten anfangen, doch er hatte sich schon wie-der seinen Studenten zugewandt. Daher verließ ichdie kleine Gruppe und eilte zum Markt, wo ich einigeneue Kerzen, frisches Brot, Wein, Käse und einenkleinen Honigkuchen kaufte.

Als ich schließlich in un-sere Zimmer zurückkehrte,war Doktor Luther bereitsda. Ich ließ die Einkäufeauf den Tisch fallen undzog schnell die Bulle aus der Tasche. »Ich habe dies amKirchenportal gefunden«,sagte ich.

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Luther strich die Seiten glatt und blätterte das kleineHeft durch. »Ist Johann Eck also an die Öffentlichkeitgegangen. Diese Bulle wurde mir auch schon persön-lich übergeben.«

»Dann kennen Sie sie bereits?«, fragte ich.

»Ja, ja. Sie wurde dem Direktor der Universität prä-sentiert, und er zeigte sie mir vor einiger Zeit. Aberich hätte es wissen müssen. Eck würde keine Gele-genheit vorbeigehen lassen, mich öffentlich anzu-prangern.«

Johann Eck ist der ärgste Feind meines Herrn. Ich hatteihn einmal an der Universität Leipzig gesehen, wo ersich in einer öffentlichen Diskussion gegen Luther aus-sprach. Eck war ein sehr entschlossener und listigerMann.

»Sie glauben also, dass er es war?«, fragte ich.

»Wer sonst?« Luther warf das Papier auf einen klei-nen Stapel neben seinem Schreibtisch.

»Was werden Sie jetzt unternehmen?«, fragte ich ihn.

»Was soll ich schon tun? Einen weiteren Zettelschreiben, dass alles unfair ist?«

»Vielleicht. Aber … müssen Sie nicht nach Rom, umsich zu verteidigen?«

»Das gibt es nicht, sich gegen eine solche Anklage inRom verteidigen. Der Papst hat diese Bulle erlassen,auch wenn Eck ihm wahrscheinlich Wort für Wortdiktiert hat. Aber wenn man nach Rom gerufen wird,geht man entweder und widerruft alles und machtsich selbst zum Narren, oder man …«

»Oder was?«

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»Ich weiß es nicht. Aber ich werde darüber nach-denken.«

Ich stand noch da und blickte auf das Papier auf demBoden, doch Doktor Luther wühlte in meinen Ein-käufen herum. Ich versuchte also, das Plakat undseine Bedeutung zu vergessen und richtete meineAufmerksamkeit auf die Geburtstagsfeier meinesHerrn. Doktor Luther war äußerst gut gelaunt undmachte einen großen Zirkus beim Anschneiden desHonigkuchens.

Nachdem wir gegessen hatten, fragte ich ihn: »Dok-tor Luther, als Sie ein Junge waren, was wollten Siewerden?«

»Was ich werden wollte, als ich in deinem Alter war?«

»Ja. In meiner Familie fragten uns die Eltern an Ge-burtstagen immer, was wir werden wollten, wennwir erwachsen wären. An ihren Geburtstagen fragtenwir deshalb immer sie, was sie werden wollten, alssie in unserem Alter wären.«

»Hm. Ich weiß es nicht.« Doktor Luther kratzte sicham Kinn. »Ich wollte auf keinen Fall ein Bergarbeiterwie mein Vater werden. Sein Leben war fürchterlich.Er atmete den ganzen Tag den Kohlenstaub ein undhustete deshalb die ganze Nacht. Ich wollte etwasganz anderes. Vielleicht kann ich dich deshalb so gutverstehen, Karl. Ich weiß, was es heißt, nicht in dieFußstapfen des Vaters zu treten. Ich bewundere dichdafür, dass du etwas anderes willst.«

»Wollten Sie immer Lehrer werden?«

»Nein, nein.« Er lachte ein bisschen, als er seinen Ku-chen in seinen Apfelwein tauchte. »Ich glaube, als

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Junge wollte ich ein Ritter werden, der für einenmächtigen Herrn kämpft und alles Böse aus demLand austreibt. Es gab einen alten Volkshelden, Rit-ter Georg, der sein Volk aus der Herrschaft einesgrausamen Königs befreite und das Land für denrechtmäßigen König zurückeroberte. Hast du schonvon dieser Sage gehört?«

Ich nickte.

»Nun, ich wollte wie dieser Ritter Georg sein«,lächelte Doktor Luther. »Was hältst du davon?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte ich und versuchte, mirden Professor als Reiter auf einem Pferd vorzustel-len, der ein mächtiges Schwert schwang. Doch als ichin meinem Bett lag, fiel mir ein, dass Doktor Luther jaeine Art Ritter geworden war, der für Wahrheitkämpfte. Die Kirche von Rom war korrupt gewor-den. Viele der Kirchenführer kümmerten sich nichtdarum, dass die Menschen Gott kennen lernten. Sieinteressierte nur, wie sie den Leuten das Geld aus derTasche ziehen konnten. Und sie taten es auf alle mög-lichen Arten. Zum Beispiel verkauften sie Ablass-briefe, ein Papier, auf dem stand, dass die Sünden derPerson, die den Brief besaß, vergeben waren. Dasmachte Doktor Luther sehr wütend. Er predigte, dassVergebung nicht gekauft und verkauft werden kann– sie ist ein Geschenk Gottes, das alle bekommen,wenn sie ihre Sünden wirklich bereuen und Gott umVergebung bitten.

Deswegen wurde Johann Eck Luthers Feind. Eck ver-teidigte all diese schlimmen Dinge; Luther stellte sichdagegen. Ich wusste, dass sich ein regelrechterKampf zusammenbraute – nicht nur zwischen diesen

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beiden Männern, sondern in der ganzen Kirche undim ganzen Reich. Doch da die römisch-katholischeKirche und das Heilige Römische Reich auf einerSeite standen, hielt man Menschen wie Luther, diedie Kirche aufforderten, ihr Verhalten zu ändern, fürVerräter.

Die Wochen vergingen, und Doktor Luther unter-nahm nichts, um nach Rom zu gehen, wie es derPapst verlangt hatte. Dann hörte ich eines Tages zu-fällig, wie er mit einigen anderen Universitätsprofes-soren sprach. »Ich habe an den Kaiser geschrieben«,sagte er. Er meinte Karl V., den Regenten des gesam-ten Heiligen Römischen Reiches.

»Was haben Sie getan?«, rief Bruder Nikolaus. »Hal-ten Sie das nicht für gefährlich, Luther? Wenn derKaiser Sie verdammt, könnte es Ihr Todesurteil be-deuten.« Nikolaus von Amsdorf war auch ein Mönchund ein Kollege, der viele der Ansichten Luthersteilte.

»Das könnte schon sein«, meinte Luther ruhig, «undich habe auch kein Vertrauen in den Kaiser. Wir allewissen, wie jung er ist und wie schwach sein Charak-ter. Er wird von anderen beeinflusst, in der Haupt-sache von den Leuten des Papstes. Aber zumindestan diesem Gericht wird es einen fairen Prozess ge-ben. Unser Johann Friedrich sitzt bei dem Reichstagals Kurfürst von Sachsen. Er und einige andere wer-den auf eine ordentliche Verhandlung achten.«

Ich fühlte mich trotzdem unbehaglich, denn ichwusste nicht, ob der Kurfürst von Sachsen DoktorLuther schätzte oder nicht. Einige sagten, er täte es,andere sagten nein. Aber … ich hatte auch gehört,

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dass er sich für den Schutz seiner Bürger einsetzte,und er war sehr mächtig. Er würde niemals zulassen,dass einer seiner berühmtesten Professoren als Ket-zer verurteilt würde, ohne dass eine ordentliche Ge-richtsverhandlung stattgefunden hätte. Vielleichtwar also das, was Luther getan hatte, ganz klug.

Doch früh am Morgen des 10. Dezember, als ich zurUniversität ging, bemerkte ich eine Menschenmengeum das Schwarze Brett. Ich bahnte mir einen Wegdurch die Menge, ein Student las laut vor.

Alle, die sich zu der evangelischen Wahrheit halten, sollensich heute früh um neun Uhr vor den Toren unserer Stadteinfinden. Dort werden die gottlosen Bücher des päpst-lichen Rechts verbrannt werden, wie auch Paulus dieBücher über Hexerei in Ephesus verbrannt hat. Denn dieFeinde des Evangeliums haben sich ihrerseits herausge-nommen, Luthers Schriften zu verbrennen. Auf, ihr gläu-bigen Studenten, kommt zu diesem gottgefälligen Schau-spiel! Denn vielleicht ist jetzt die Zeit, da der Antichristoffenbar werden soll.

Hatte Luther diesen Zettel angeheftet oder jemandanderes? «Vielleicht«, so meinte einer der Studenten,«hat einer seiner Gegner diese Botschaft angebracht,weil er Luther in Schwierigkeiten bringen will.«

»Er kann doch gar nicht mehr Schwierigkeiten be-kommen, als er ohnehin schon hat«, sagte ein ande-rer. »Habt ihr nicht gehört, dass Doktor Luther zurAnklage der Ketzerei Stellung nehmen muss?«

Wir zwängten uns alle in Luthers Vorlesungssaalund rutschten ungeduldig auf unseren Plätzen hinund her, als Doktor Luther einfach mit seiner Vorle-

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sung fortfuhr. Doch am Ende der Stunde klärteLuther das Geheimnis auf:

»Liebe Studenten. Sie wissen, dass meine Schriftenvon dem Papst abgelehnt wurden. Und in einigenStädten im Süden haben einige Geistliche das zumAnlass genommen, meine Schriften zu verbrennen.Nun, hier im Norden ist bald Winter. Wenn Sie alsonichts besseres zu tun haben nach dem Unterricht,lade ich Sie ein, mich vor die Stadtmauer zu beglei-ten, wo wir uns auch die Hände an einem eigenenkleinen Feuer wärmen wollen. Ich beabsichtige, allediese falschen Erlasse des Papstes dort zu verbren-nen.« Er hielt uns einen Stoß von Büchern und Heftenentgegen.

Jubel ertönte von den Studenten. Sie konnten eskaum erwarten, das, was sie in den letzten Wochengelernt hatten, in die Tat umzusetzen. Alle stürmtendurcheinander zur Tür. »Karl«, sagte Doktor Luther,«hilf mir, diese Schriften zu tragen.«

Vor dem Elstertor der Stadt Wittenberg hielt Lutherdie Studenten an, Holz für ein Feuer aufzuschichten.Doktor Luthers Vorlesungen wurden oft von überdreihundert Sudenten besucht, doch an diesem Vor-mittag waren es noch mehr. Die Menschen musstensich uns angeschlossen haben, als wir durch dieStraßen liefen. Auch einige Universitätsprofessorenbegleiteten uns.

Als das Feuer richtig brannte, nahm Luther dieSchriftstücke eins nach dem anderen in die Hand, lasden Titel jedes einzelnen vor und warf es dann in dieFlammen. Schließlich hielt er die Bulle hoch, in derihm befohlen wurde, nach Rom zu kommen und

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seine Überzeugungen zu widerrufen. Er sagte: »Eini-ge von euch haben gehört, dass ich aus der Kirchehinausgeworfen werden soll, wenn ich nicht meineÜberzeugungen und Schriften zurücknehme. Dochda der Papst die Wahrheit Gottes in den Schmutz ge-treten hat, werfe ich auch diese Bulle in das Feuer.Amen.« Die Menge jubelte.

Anschließend gingen Luther und die anderen Profes-soren feierlich zurück zur Universität. Doch die Stu-denten blieben, und kurz darauf sangen sie und tanz-ten um das Feuer herum. Sie waren alle lustig undausgelassen, … doch mich erinnerte es an diese Ver-brennung, die ich als Junge miterlebt hatte, deshalbsah ich nur zu.

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Ich war überrascht, als ich in der Menge dasselbeMädchen wiedersah, das ich an dem Tag getroffenhatte, an dem ich die Bulle am Kirchentor entdeckthatte. Diesmal war ihr langes, dunkles Haar zurück-gebunden, doch ihr Kopf war immer noch unbe-deckt. Und obwohl ihre Kleider nicht unbedingtschick waren, lächelte sie mit ihrem hübschen Ge-sicht. Sie stand so still und unauffällig da, als ob sie… als ob sie eine ›Beobachterin‹ war. Ich weiß keinbesseres Wort, um ihr Verhalten zu beschreiben. Esschien, als sei ihre einzige Aufgabe zu beobachten.Und ich konnte nicht anders, als sie beobachten. Alssich jedoch unsere Blicke trafen, sah sie schnell weg.Warum schaute sie weg? Und warum machte sie beidem Trubel nicht mit? Erinnerte sie das Feuer auchan etwas Unangenehmes, so wie mich, oder gab eseinen anderen Grund?

»Lasst uns all die falschen Schriften in der ganzenStadt zusammensammeln«, rief ein Student. Wie aufein Stichwort strömte die Menge durch die Stadttorezurück. Kurz darauf hatten sie einen alten Karrenaufgetrieben, einige setzten sich darauf, während an-dere ihn zogen. Ein Student hatte eine Trompete undbegann, irgendwelche schrägen Töne zu blasen,während der Zug durch die Straßen marschierte. Siewurden immer übermütiger und klopften an dieHaustüren, um die Leute zu fragen: »Haben Sie wel-che von den Giftblättern des Papstes hier? Wir wol-len die Stadt davon befreien.«

Ich war ihnen drei Straßen lang gefolgt und zu demFeuer zurückgekehrt, um mehr Schriften zu verbren-nen, als ich bemerkte, wie das Mädchen mit den lan-

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gen, dunklen Haaren die anderen verließ. Wahr-scheinlich wäre mir das gar nicht aufgefallen, wennsie sich nicht umgesehen hätte, ob jemand sie be-obachtete. Dann verschwand sie in einer engenGasse. Als ich ihr hinterherlief und die Straße hinun-terblickte, war sie schon fast bis zum anderen Endegerannt. Ich beschloss, ihr zu folgen. Schließlich warsie sehr hübsch und geheimnisvoll; warum also sollteich nicht herausfinden, wo sie wohnte?Es gelang mir kaum, sie nicht aus dem Blick zu ver-lieren. Doch nach einigen Kreuzungen und Einmün-dungen betrat sie endlich das Gasthaus zum Raben.Das Gasthaus zum Raben? Warum sollte sie dort hineingehen? Dort wohnten keine Familien. NurFremde nahmen dort ein Zimmer.Ich stand vor der Tür und versuchte, all meinen Mutzusammenzunehmen und hineinzugehen. Ich wollteherausfinden, was sie drinnen machte, als plötzlichdie Tür aufflog und zwei Männer herauskamen. Siesprachen aufgeregt miteinander. Ich erkannte deneinen: Johann Eck, Doktor Luthers Feind!Ich wollte mich gerade herumdrehen und weglaufen,als mir einfiel, dass Eck mich nicht kannte. Daherlehnte ich mich nur einfach gegen die Wand und ver-schränkte die Arme. Ich tat so, als ob ich auf jemandenwartete. Was ich jedoch hörte, war überraschend.»Wenn Luther die Bannbulle des Papstes verbrannthat, muss ich sofort nach Rom«, sagte Eck.»Bruder Johann, Sie wissen genau, dass es nicht dieBulle des Papstes war«, lachte der andere Mann.»Wir haben doch selbst jedes Wort geschrieben. DerPapst hat nur unterschrieben.«

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»Damit ist es eine päpstliche Bulle. Gehen Sie zumStall und holen Sie Pferde. Ich bin sofort wieder da.«Eck drehte sich um und ging die Straße hinunter.

Ich wollte meinen Ohren nicht trauen. DiesesMädchen, die Beobachterin, war bestimmt eine Spio-nin für Eck! Als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte,hing die Bulle an der Kirchenpforte. Jetzt war sie ge-radewegs zum Gasthaus gegangen, und wenige Mi-nuten später wusste Eck, was Doktor Luther getanhatte, und machte sich auf nach Rom!

Sofort rannte ich zurück zur Universität und berich-tete meinem Herrn. Er hörte mir schweigend zu,schließlich sagte er: »Es gibt keine Möglichkeit, Eckvon seinem teuflischen Vorhaben abzubringen. DasGanze liegt in Gottes Hand. Was mich jedoch ärgert,sind diese herumtobenden Studenten. Was, hast dugesagt, haben sie getan?«

Ich musste ihm noch einmal erzählen, wie sie durchdie Stadt gezogen waren, und sah, wie Luther sich är-gerte. Am nächsten Tag in der Vorlesung machte erihnen ernsthafte Vorhaltungen: »Wisst ihr über-haupt, was ihr tut? Warum musstet ihr die Menschenin der Stadt belästigen? Dieser Kampf gegen diefalschen Lehren ist kein Spaß und kein Spiel! DieStimmung im Land ist sehr geladen, das ist gefähr-lich; es könnte den Tod für uns alle bedeuten.«

Ein Schauer kroch mir den Rücken hinauf. Ich hoffte,dass Doktor Luther Unrecht hatte.

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Kein Platz für Feiglinge

Zweimal in den nächsten Wochen sah ich die ›Be-obachterin‹ wieder, wie ich sie im Stillen nannte.

Ich glaubte eigentlich, dass sie mit Eck nach Rom ge-gangen war. Hatte Eck sie als Spionin zurückgelas-sen? Auf der anderen Seite, wenn sie wirklich DoktorLuther ausspionieren sollte, warum sah ich sie dannnicht öfter?

Das erste Mal sah ich sie am Weihnachtstag. DoktorLuther predigte in der Schlosskirche, und da saß siemitten in der Gemeinde. Ich wollte meinen Augennicht trauen, aber sie war es – ohne Zweifel.

Seit diesem Zwischenfall machte ich es mir zur Auf-gabe, nach ihr Ausschau zu halten. Oft ging ich zu un-serem Fenster und beobachtete die Leute, die dieStraße hinunterliefen. Doch ich erblickte nur die Stu-denten und Professoren oder Besucher der Univer-

sität. Ich sah jeden Morgen undjeden Abend und jeden Mittagaus dem Fenster, doch es warimmer das gleiche Bild. Wenn

sie unser Zimmer beobachtete,entdeckte ich sie jedenfalls nie.

Immer wenn ich mitDoktor Luther weg-ging, blickte ich gele-gentlich zurück, umzu sehen, ob sie uns

verfolgte. Das wurde des

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Öfteren zum Problem, denn ich lief ständig gegen ir-gend etwas oder rannte meinen Herrn um, wenn erplötzlich stehen blieb oder sich umdrehte. Und beieiner solchen Gelegenheit sah ich sie wieder.

Wir gingen gerade zur Druckerei, um einige neue Exemplare von Luthers Büchlein ›Von der Freiheiteines Christenmenschen‹ zu holen. Zufällig drehteich mich um und ging einige Schritte zurück. Wir ka-men gerade am Gasthaus zum Raben vorbei, als dieTür aufflog und ich beinahe das Mädchen umgerannthätte. Ich stolperte und fiel fast hin. Ich kam mir sodumm vor, dass ich keine Worte fand, doch DoktorLuther sprach für mich: »Bitte entschuldige.« Das

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Mädchen drehte sich um und rannte so schnell eskonnte davon.

»Das ist das Mädchen«, sagte ich meinem Herrn, so-bald sie außer Hörweite war. »Das ist die Beobach-terin.«

»Wer?«

»Das Mädchen, das für Johann Eck spioniert – vondem ich Ihnen erzählt habe an dem Tag, als Sie dieBulle verbrannten. Sie hat es Eck berichtet, kurz be-vor er Rom verließ.«

»Bist du sicher, dass sie es ihm gesagt hat?«, fragteLuther.

»Na ja … ich sah sie direkt in das Gasthaus zum Ra-ben hineingehen, und da kam Eck heraus. Und habenSie bemerkt, dass sie nicht wollte, dass wir auf sieaufmerksam wurden?«

»Vielleicht. Vielleicht war sie auch nur peinlichberührt, dass sie einen jungen Mann in ihrem Alterumgerannt hat.« Mein Herr lächelte. »Übrigens, wiekommt es, dass du nicht dort hinsiehst, wo du hin-läufst – oder woanders gehst als du guckst? Du stol-perst in der letzten Zeit über alles.«

Ich sah das Mädchen eine ganze Zeit lang nicht mehr,aber ich gab nicht auf. Eines Tages, als ich auf demWeg zum Gasthaus zum Raben war, um zu sehen, obsie nicht vielleicht noch dort war, kam ein prächtiggekleideter Mann auf einem großen weißen Pferd dieStraße entlang geritten. Das konnte nur bedeuten,dass er im Auftrag des Kaisers kam.

Nachdem er an mir vorbeigeritten war, zog er die Zü-gel und wandte sich an die Menschen am Straßen-

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rand, die stehen geblieben waren, um ihn anzustar-ren. »Ich bin Caspar Sturm, kaiserlicher Herold Sei-ner Majestät Karl des Fünften, Regent des HeiligenRömischen Reichs«, verkündete er hochmütig, als ober das Volk überwachte. Er sah auf uns herab, nichtnur, weil er auf dem Pferd saß, sondern als ob es un-ter seiner Würde gewesen wäre, mit uns normalenMenschen zu reden. »Kann einer von euch mich zueinem gewissen Doktor Martin Luther führen?«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Der Kaiser hatteeine Botschaft für meinen Herrn, eine Botschaft, die sowichtig war, dass er seinen Herold schickte, um sie zuüberbringen. Während ich mich noch fragte, ob es einegroße Ehre war oder eher eine gefährliche Drohung,traten zwei oder drei Leute vor und versuchten, demHerold zu erklären, wo die Universität war. Schließ-lich nahm ich mich zusammen und sagte: »Ich führeSie hin, Ihre Majestät. Ich arbeite für Doktor Luther.«

Er drehte sich in seinem Sattel herum und sagte: »Ichbin nicht ›Seine Majestät‹, junger Mann. Aber wenndu mich zu Luther führen kannst, will ich deine Un-wissenheit entschuldigen. Los! Ich habe einen langenRitt hinter mir und will diese Sache endlich hintermich bringen.«

Mein Herr unterrichtete noch an diesem Nachmittag– eine Vorlesung über das Übel der Ablassbriefe, dieich schon dreimal gehört hatte (deshalb habe ichauch den Unterricht verlassen). Der Herold wartetenicht, bis die Stunde zu Ende war, sondern mar-schierte einfach in den Saal. »Sind Sie MartinLuther?«, unterbrach er den Unterricht. Die Studen-ten starrten ihn an.

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»Der bin ich.«»Ich bin Caspar Sturm, kaiserlicher Herold seinerMajestät Karl des Fünften, Regent des Heiligen Rö-mischen Reiches. Sie sollen vor dem Reichstag inner-halb von einundzwanzig Tagen erscheinen. DerReichstag tagt bereits in Worms.«»Und aus welchem Grund werde ich gebeten zu er-scheinen?«, fragte Luther ruhig.»Sie sind nicht gebeten zu erscheinen«, sagte der kai-serliche Herold und blickte Luther aus den Augen-winkeln an. »Es wird Ihnen befohlen zu erscheinen,weil Sie sich wegen der Anklage der Ketzerei verant-worten müssen. Johann Friedrich, Kurfürst von Sach-sen, hat für Sie Geleitschutz angeordnet, damit Sie si-cher reisen können. Das bedeutet, dass ich die trau-rige Aufgabe habe, Sie nach Worms zu begleiten. Wirbrechen morgen früh auf.«»Ich kann morgen nicht aufbrechen«, widersprachDoktor Luther. »Ich muss noch viele Vorbereitungentreffen, bis ich losfahren kann. Außerdem habe ichdoch einundzwanzig Tage Zeit, und man brauchtnicht so lange, um nach Worms zu reisen. Was ist mitnächsten …« Luther fuhr sich über das glattrasierteKinn. »Was ist mit nächsten Dienstag?« Dienstag warin vier Tagen.»Sie mögen einundzwanzig Tage Zeit haben, umnach Worms zu kommen«, sagte der Reichsherold,«aber ich nicht. Sie kommen mit mir. Und wir bre-chen morgen früh auf.«Mit diesen Worten drehte sich der Herold auf denFersen um und verließ den Saal. Ich musste auf denKorridor springen, damit er mich nicht umrannte.

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Die Studenten saßen schweigend da. Ich dachte,Doktor Luther würde sich jetzt beeilen, um fertig zu werden, statt dessen sagte er: »So, wo war ich?Ach ja …« Und er fuhr mit seiner Vorlesung fort. Ichschloss die Tür und lief in Gedanken versunken nachHause. Ich bemerkte kaum die tanzenden Schnee-flocken, die mir wie Nadeln ins Gesicht stachen.

Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr sah esaus wie das Ende meiner Ausbildung. Mein Herrverließ Wittenberg. Und selbst wenn er nicht zumTode verurteilt wurde (was jedoch sehr wahrschein-lich war), konnte die Verhandlung Monate dauern.Selbst im günstigsten Fall würde er möglicherweisefür Jahre ins Gefängnis geworfen. Vielleicht – wennich ihm im Gefängnis kleine Dienste erwies, konnteer mich weiter unterrichten …

Ich schüttelte den Kopf, um auf andere Gedanken zukommen. Was dachte ich da bloß? Es war DoktorLuthers Leben, das auf dem Spiel stand, und ichmachte mir Sorgen um meine Ausbildung. Wiekonnte ich nur so egoistisch sein? Nein, es würdewohl das Beste sein, wenn ich in mein Dorf zurück-kehrte und dort das Handwerk meines Vaters er-lernte. Ich würde Schuster werden, das war meinPlatz. Vielleicht, ja vielleicht konnte ich ja sogar einenoder zwei Tage mit Doktor Luther reisen. Höchst-wahrscheinlich würde er auf seinem Weg nachWorms durch mein Heimatdorf Düben kommen.

Gerade als ich die kleine Treppe, die zu unseren Zim-mern hinaufführte, emporstieg, blickte ich über dieSchulter zurück – schon aus Gewohnheit, nehme ichan. Und da stand sie. Die Beobachterin kam um die

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Ecke, um die ich einige Augenblicke zuvor gebogenwar. Als ich innehielt, sprang sie zur Seite, so dass ichsie nicht mehr sehen konnte. Obwohl der Schnee indichten Flocken fiel, war ich sicher, dass sie es war.

Als Luther nach Hause kam, waren seine erstenWorte: »Nun, Karl, hast du meine Sachen gepackt?«

»Nein. Aber ich fange gleich an.«

»Kein Grund zur Eile«, sagte Luther. »Ich habe nocheinmal mit Sturm gesprochen und ihn überredet,noch ein paar Tage zu warten.«

Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Es blie-ben noch einige Tage, bis wir uns verabschiedenmussten. »Wie haben Sie das geschafft?«

»Ich habe ihm gesagt, dass wir kein Transportmittelhaben. Wenn er nicht uns drei auf sein großes Pferdstapeln will, wird er warten müssen, bis wir etwasgefunden haben.«

»Wir drei?«, fragte ich.

»Ja. Bruder Nikolaus will mitkommen. Und seineUnterstützung ist mir ein wirklich großer Trost.Nicht dass deine Gesellschaft nicht auch angenehmwäre, Karl, aber Nikolaus, der ja schließlich auch einMönch wie ich ist, wird mir … ach, ich weiß nicht. Ichbin froh über euch beide.«

»Beide? Sie wollen, dass ich mitkomme?«

»Aber natürlich! Du willst mich doch wohl nicht ver-lassen, wenn ich dich am meisten brauche?«

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Nächtliche Reiter

Fast eine Woche verging, bis alles organisiert war.Und es waren die guten Menschen aus Witten-

berg, die schließlich unsere Reise möglich machten.Ein alter Wagen und drei Pferde wurden uns ge-schenkt; außerdem wurde Geld gesammelt, damitwir die Unterkunft unterwegs bezahlen konnten.

Früh am Dienstagmorgen, dem 2. April, rumpelteder Wagen aus dem Stadttor und fuhr zur Elbe, wowir mit der Fähre übersetzten. Was für einen Anblickmussten wir geboten haben! Caspar Sturm saß in sei-nem kaiserlichen Kostüm auf seinem kräftigen Pferd,das ungeduldig mit den Hufen scharrte, als wir aufder Fähre waren.

Unser Wagen wurde von zwei Pferden am Ufer ent-langgezogen, das dritte lief nebenher. Doktor Luthertrug seinen Professorenmantel. Nikolaus von Ams-dorf hatte seine braune Mönchskutte an. Ich fuhr denWagen. Ein Händler in der Stadt hatte mir einen war-men, grünen Wollumhang geschenkt, ein besseresKleidungsstück habe ichnie besessen.Wir dreisaßenobenaufdemWagendicht

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zusammengedrängt, damit wir nicht bei jedem Steinoder jeder Wurzel herunterfielen.

Eine regelrechte Menschenmenge hatte sich versam-melt, um uns zu verabschieden, und wer weiß, wieweit sie uns begleitet hätten, wenn der Fluss nicht ge-wesen wäre. Einige Studenten versuchten, eine kos-tenlose Überfahrt auszuhandeln: »Wir gehen dochgar nicht weit. Wir wollen nur Doktor Luther verab-schieden. Wir fahren sofort wieder zurück, wenn Siewieder übersetzen, warum sollen wir dann bezah-len?«

»Einmal überzusetzen und sofort wieder zurückzu-fahren macht es kein bisschen leichter, diese Fährehinüberzuziehen«, knurrte der Fährmann. »Über-haupt ist die Ladung schon jetzt viel zu schwer. Ichwürde euch nicht mitnehmen, selbst wenn ihr dendoppelten Preis bezahlen würdet.«

Die Fähre wurde mit einem Seil über den Fluss gezo-gen, das von einer Seite zur anderen gespannt war.Das Seil wurde durch Ösen im Boden und an einemEnde durch eine hölzerne Stange geführt, die unge-fähr einen Meter lang war. Wenn der Fährmann andieser Stange zog, wurde das Seil angezogen und gabdem Fährfloß Schwung. Er zog das Floß damit soweit, wie er darauf vorwärtslaufen konnte. Dann ließer die Stange los und schob sie weiter, um das Floßein Stück weiterzuziehen.

Wir hatten gerade das Ufer verlassen, als der Fähr-mann sich zu mir umdrehte und sagte: »Du da, Jun-ge. Komm von dem Wagen herunter und blockieredie Räder. Und sorg dafür, dass die Gäule ruhig blei-ben. Ich will nicht, dass sie sich von einer Seite zur

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anderen bewegen. Sonst werden wir alle ins Wasserfallen.«

Er hatte Recht. Als wir halb drüben waren, beganndas dritte Pferd mit dem Schwanz zu schlagen undaufzustampfen, um die Fliegen zu verscheuchen. Je-des Mal, wenn es seinen Huf aufsetzte, bewegte essich ein Stück zur Seite. Plötzlich stand es neben demWagen, und die Seite des Floßes, die stromaufwärtszeigte, senkte sich ein wenig, so dass Wasser den Bo-den überspülte. In diesem Moment erfasste uns eineStrömung in dem Fluss und senkte diese Seite nochein Stück ab, das Wasser kam also noch höher.

»Schnell, bring das Pferd wieder zur Mitte«, schrieder Fährman und zog mit aller Kraft an der Stange,um das Floß aus der Strömung zu bringen.

Ich ging durch das knöcheltiefe Wasser auf die Seitedes Floßes und gab dem Pferd einen kräftigen Stoß.Das Tier muss begriffen haben, dass der Untergrundsehr wacklig war, denn es zögerte nicht, sofort zurMitte zurückzukehren.

Langsam hob sich die tiefer liegende Seite des Floßes,das Wasser floss herunter, und wir trieben wieder ru-hig über den Fluss, zumindest so ruhig wie möglich.

In dem Moment, als wir das Ufer auf der anderenSeite erreichten, gab Caspar Sturm seinem Pferd dieSporen. Doch dadurch, dass jetzt vorne plötzlich keinGewicht mehr war, kippte die Fähre nach hinten undentfernte sich von dem Ufer. Der Fährmann hatte dasSeil noch nicht festgebunden, die Strömung erfassteuns und wirbelte uns herum. Er stieß einen SchwallFlüche aus, wie ich es nie zuvor gehört hatte. »Los,

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geh dorthin, Junge, hilf mir mit dem Seil«, schrie er,als ob es mein Fehler gewesen wäre. Ich fühlte michäußerst unwohl, bis ich seine bösen Blicke auf CasparSturm bemerkte. Der Fährmann sagte nichts zu Sturm– der Herold vertrat schließlich den Kaiser –, aber ichfühlte mich besser, als ich merkte, dass er nicht wirk-lich mir die Schuld in die Schuhe schieben wollte.

Als wir endlich den Wagen an das andere Ufer ge-bracht hatten, hielten wir einen Moment inne, umeinen letzten Blick auf Wittenberg zu werfen. Esschien so weit weg … als ob wir schon eine Wochegereist wären.

Später am Tag übernahm Bruder Nikolaus die Zügel,und ich kroch nach hinten auf unser Gepäck. DoktorLuther hatte seine Laute mitgenommen und sangund spielte von Zeit zu Zeit. Ich saß hinten und be-trachtete die vorüberziehenden Wälder und die klei-nen Bauernhöfe.

Caspar Sturm ritt vorneweg, er hatte uns ja Geleit-schutz zugesagt. Es gab Räuber in den Wäldern,doch da sie ohnehin Gesetzlose waren, verstand ichnicht ganz, was der gute Mann tun konnte, wenneine solche Bande angriff. Der Reichsherold trug einkleines Schwert, kleiner als das eines Ritters. »Er be-schützt uns nicht vor Räubern«, erklärte Luther. »Wirhaben sowieso nichts von Wert, was man uns stehlenkönnte. Er beschützt uns vor Menschen der katholi-schen Kirche, die mich umbringen wollen.«

»Sie meinen Johann Eck?«, fragte ich und zog meinenUmhang aus. Es fing an, warm zu werden.

»Nun, ich glaube nicht, dass er selbst losziehen

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würde, um mich umzubringen. Aber es gibt noch an-dere, Leute, die er vielleicht angeheuert hat.«»Aber warum wollen Ihre Feinde Sie angreifen,wenn es ihnen bereits gelungen ist, Sie vor Gericht zustellen?« Völlig gedankenlos fügte ich hinzu: »Siewerden Sie wahrscheinlich sowieso kriegen.«Luther lehnte sich zurück und lachte. »Du hast nichtviel Vertrauen, nicht wahr, Karl? Das ist schon rich-tig. Es könnte wirklich das Ende des Ganzen sein. Ichselbst habe auch schon daran gedacht. Aber zurückzu deiner Frage. Es gibt viele, die nicht wollen, dassich in Worms aussage. Egal, was mit mir am Ende ge-schieht, diese Verhandlung könnte meine wichtigstePredigt sein, die ich je halten werde. Nie wieder wer-de ich ein solches Publikum haben wie dort.«»Was meinen Sie damit?«, fragte ich und versuchte,mich bequemer hinzusetzen zwischen den Kistenund den Lebensmitteln.»Es zeigt sich schon jetzt, dass dieser Reichstag diewichtigste Konferenz sein wird, die je in Europa ge-halten worden ist. Karl der Fünfte versammelt mehrHerrscher des Heiligen Römischen Reiches als je zu-vor. Die Kirche von Rom kämpft natürlich dafür, dieOberherrschaft zu behalten. Doch durch mein Büch-lein ›An den christlichen Adel‹ sind die meisten Fürs-ten ins Nachdenken gekommen, ob sie wirklich einesolche Kontrolle durch die katholische Kirche wol-len. Und die Menschen haben die Nase voll von derGeldgier der Priester und der grausamen Auslegungdes Kirchenrechts.«Der Wagen krachte laut, als Luther fortfuhr. »Denganzen Winter lang sind die Straßen schon voll von

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Reisenden, die nach Worms fahren. Du hast be-stimmt schon welche gesehen, die durch Wittenberggekommen sind. Ich hörte, dass Wilhelm, der Kur-fürst von Bayern, fünfhundert Reiter mitgenommenhat; Philipp, der Fürst von Baden, sogar sechshun-dert. Alle Bischöfe werden dort sein, die Ritter, derniedere Adel, Vertreter der Städte und viele Gelehrtevon den Universitäten. Außerdem sind bereits dieBotschafter von England, Frankreich, Venedig, Polenund Ungarn angekommen.«

»Wie passen die denn alle in den Reichstag?«, fragteich und bemerkte sofort, dass diese Frage äußerstdumm war.

»Nur ausgewählte Delegierte sind in den einzelnenSitzungen, und nur in denen, zu denen sie eingela-den wurden. Viel wichtiger ist«, Luther deutete aufmich, «wo sie alle unterkommen in der kleinen StadtWorms? Es kann passieren, dass wir unter einemBaum vor der Stadt schlafen müssen!«

»Aber warum kommen so viele Menschen, wenn siegar nicht an den Sitzungen teilnehmen können?«

»Sie wollen dort sein, wo etwas los ist. Die Druckerwerden an diesem Reichstag reich. Jeden Tag werdenFlugblätter herausgegeben, die berichten, was vorge-fallen ist. Die Menschen werden über alles infor-miert, was unsere Welt in Zukunft bestimmen wird –eben durch diese Flugblätter.«

Wir fuhren schweigend weiter. Dann sagte Luther:»Ob ich verurteilt oder freigesprochen werde, dieganze Welt soll die Wahrheit hören. Deswegen willich auch dort sein. Doch das ist auch der Grund,

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warum einige meiner Feinde nicht wollen, dass ichauf dem Reichstag aussage.«

Ich blickte auf Caspar Sturm, der voranritt, um unsvor Luthers Feinden zu schützen. Er schlief im Sattel,sein Kopf hing ihm auf der Brust und wackelte hinund her bei den schaukelnden Schritten des Pferdes.Luther muss geahnt haben, was ich dachte – Sturmsah nicht gerade Furcht erregend aus. »Nein, Karl.Sein Schutz kommt nicht von seiner Fähigkeit zukämpfen, sondern von seiner Position. Er ist einReichsherold, direkt dem Kaiser unterstellt. Wennihm oder irgendjemand anderem, der ihm anvertrautist, etwas geschieht, würde die kaiserliche Armeeeingeschaltet.«

Mittags hielten wir an einem kleinen Flüsschen an,um die Pferde zu tränken und um etwas Brot undKäse zu essen. Wir waren gar nicht weit von meinemDorf entfernt. Ich kannte dieses Tal. Düben lag überden nächsten Berg.

Als wir wieder unterwegs waren, fragte ich, ob ichnicht das dritte Pferd nehmen könnte, um voranzu-reiten. Doktor Luther sagte, dass es ihm Recht sei. Alsich auf das Pferd sprang und wegreiten wollte, riefCaspar Sturm mir nach: »He, Junge, reserviere mirdas beste Zimmer im besten Gasthaus in der Stadt.«

»Jawohl«, rief ich zurück. Mein Auftrag war leicht zuerfüllen. Es gibt nur ein Gasthaus in Düben, und dashat nur zwei Zimmer – die beide gleich eingerichtetsind, soweit ich weiß.

Mit der alten Stute wurde es der härteste Ritt, den ichje unternommen hatte. Den Berg hinunter nach Dü-

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ben zu reiten, war wie eine Rutschpartie über dieSteine eines Gebirgsbachs.

Seit dem letzten Sommer war ich nicht mehr zuHause gewesen, und Mutter war außer sich vorFreude, als ich sie und Vater überraschte, als sie ge-rade ins Haus gehen wollten. Sie umarmte und küss-te mich immer wieder, als ob ich noch ein kleinerJunge wäre. Ich weiß nicht, aber manchmal sind Müt-ter so, dass man sich nur sicher fühlt, wenn man sievon weitem sieht, mit einem tiefen Fluss in der Mitte.

Doch sobald Mutter erfahren hatte, dass DoktorLuther, Bruder Nikolaus und ein Reichsherold mirfolgten, legte sich ihr Gefühlsausbruch. Sie begannsofort, herumzuwuseln, um ein schönes Essen füruns zu bereiten. Ich versuchte ihr zu erklären, dassCaspar Sturm in das Gasthaus gehen würde, aber siesagte: »Dort kann er nicht essen. Das Essen schmecktfürchterlich. Außerdem ist es wahrscheinlich Jahreher, seit er das letzte selbst gekochte Essen bekom-men hat.« Dann wies Mutter jedem von uns seineAufgaben zu: Ich sollte das Zimmer für Sturm reser-vieren. Vater wurde losgeschickt, um ein paar Hüh-ner zu schlachten und sie zu rupfen. (Normalerweiseschickt meine Mutter meinen Vater nicht herum, aberdies war eine besondere Situation, und er ging ohneMurren.) Meine Schwester, sie ist ein Jahr älter als ichund lebt immer noch zu Hause, machte ein Zimmerfür Bruder Nikolaus und Doktor Luther zurecht. Ichgab zu bedenken, dass sie wahrscheinlich lieber mitunserem Pfarrer zusammen waren, aber Mutterwollte davon nichts hören.

An dem Abend nach dem Essen – das Caspar Sturm

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zu meiner Überraschung sehr genoss – begann meinVater, sich nach dem Zweck unserer Reise zu erkun-digen. Je mehr Luther sagte, desto stiller wurde er.Ich merkte, dass er eigentlich dagegen war, daherverteidigte ich das, was Doktor Luther tat. Ich redetewie ein Rechtsanwalt, als Vater mich unterbrach.»Karl, ich unterstütze voll und ganz die Ansichtenvon Doktor Luther. Und«, fuhr er fort, indem er sichan Luther wandte, «ich habe bereits jedes IhrerBücher gelesen, das ich auftreiben konnte. Ich sorgemich nur um Karl. Diese Reise kann sehr gefährlichwerden, nicht wahr?«»Ich glaube nicht, dass sie für Karl gefährlich wird«,sagte Bruder Nikolaus. »Schließlich ist er nicht fürMartin Luthers Gedanken und Schriften verantwort-lich. Auf dieser Reise ist er nicht mehr als ein Stall-knecht.«»Das stimmt nicht ganz«, sagte Luther und hob dieHand, als ob er Bruder Nikolaus zum Schweigenbringen wollte. »Es kann Gefahren geben. Das gebeich zu. In der päpstlichen Bulle ist von schweren Fol-gen für jeden die Rede, der mich unterstützt. Wennder Kaiser und der Reichstag sich gegen mich aus-sprechen, kann das Urteil alle treffen, die mir helfen.«»Auch Karl?«, wollte meine Mutter wissen. »Er istdoch nur ein Junge.«»Wenn das Wort Ketzer erst einmal ausgesprochenist, kann es jeden treffen«, sagte Luther.»Dann will ich nicht, dass Karl weiter mitgeht«, sagteMutter. »Zwei erwachsene Männer sollten fähig sein,für ihre Pferde selbst zu sorgen und einen Wagen zufahren. Sie brauchen keinen Jungen.«

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»Sie haben natürlich Recht«, meinte Luther. »Undwir werden ihn auch nicht gegen Ihren Willen mit-nehmen.«

»Aber Mutter! Ich will mitgehen!«, protestierte ich.»Niemand zwingt mich dazu. Ich will weiterlernen.Und gerade heute hat Doktor Luther mir erklärt, wiewichtig dieser Reichstag ist. Ich werde viele derwichtigsten Leute auf der ganzen Welt sehen.«

»Außerdem«, fuhr ich fort und enthüllte meinen klei-nen Plan, «auch wenn Doktor Luther ins Gefängnisgeworfen wird, kann ich ihm noch dienen – er wirdjemanden brauchen, der Botengänge für ihn erledigtund ihm etwas zu essen bringt – und dafür könnte ermich unterrichten. Ich würdesogar noch mehr lernen.«

Als ich schließlich denMund hielt, spürte ich,wie ich rot wurde.Soweit war ich alsoschon, dass ich esjeden merken ließ,dass es mir mehrum meinWohlergehenging als umdas DoktorLuthers. Doch in die-sem Augen-blick schiendas niemandzu bemerken.

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»Aber der gute Doktor könnte auch zum Tode ver-urteilt werden«, sagte mein Vater gedankenvoll.»Trotzdem … ich glaube, es ist Karls Entscheidung,ob er mit Doktor Luther mitgeht.«»Selbstverständlich«, versicherte Luther. »Ich würdeseine Begleitung sehr begrüßen. Ich glaube, wir kön-nen ihn gut gebrauchen. Und ich würde mein Bestestun, um für seine Sicherheit zu sorgen. Aber dieWahrheit ist, dass ich in dieser Situation für nichtsgarantieren kann.«»Nun«, schloss mein Vater, «schlaf darüber, Karl.Aber vergiss nicht die Einwände und Sorgen deinerMutter.«Meine Entscheidung war klar; ich brauchte nichtzweimal darüber nachzudenken. Am nächsten Mor-gen würde ich wieder mit den anderen auf dem knar-renden alten Wagen sitzen.Doktor Luther und Bruder Nikolaus sollten in derWohnstube neben dem Ofen schlafen, daher gab eskeinen Platz mehr für mich im Haus. Ich beschloss, inunserer Scheune im Heu zu schlafen. Der Heuscho-ber war mein Lieblingsplatz gewesen, als ich nochein kleiner Junge war. Doch als ich hinausging, ummeinen grünen Umhang vom Wagen zu holen – erwürde mich wärmen in dieser kalten Aprilnacht –,sah ich jemanden die Straße hinuntergaloppieren.Wer es auch gewesen war, er hatte bei unserem Wa-gen gestanden! Ich rannte hinaus, um nachzusehen,ob etwas fehlte. Ich starrte in die helle Mondnachthinein, um herauszufinden, wer der Reiter auf demPferd gewesen war. Ich glaube, ich sah, wie langes,schwarzes Haar vom Kopf des Reiters wehte.

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Der Triumphzug

War es das Mädchen gewesen? Ich rannte dieStraße hinunter, so schnell ich konnte. Ich

hatte gehört, dass man, wenn man schnell rennt, so-gar schneller als ein Pferd sein kann. Doch ich glaube,das geht nur, wenn Läufer und Pferd gleichzeitig los-laufen und die Entfernung nur sehr kurz ist.

Unser Dorf ist recht klein, und bald stand ich amEnde des Ortes. Ich konnte nur noch das dumpfe Geklapper der Hufe hören, das in der Ferne ver-schwand. Es war die Straße nach Leipzig, die wir amnächsten Morgen auch nehmen würden.

Ich kehrte um und ging langsam zurück nach Hause.War es die Beobachterin gewesen? Wie war das mög-lich? Warum würde ein Mädchen allein reiten, sogarallein durch die Nacht reiten? Es ergab keinen Sinn.Wenn es das Mädchen war, gab es doch keinen trifti-gen Grund, warum sie uns folgen sollte. Eck, derwahrscheinlich schon in Worms war, hatte sicherlichschon auf andere Weise erfahren, dass wir kamen.Viele Leute reisten schneller als wir mit unserem

langsamen Wagen. Sie konn-ten ihm doch sagen, dass wirunterwegs waren.

Und wenn, wie Luther ange-deutet hatte, Eck organisiert

hatte, dass eine Räuberbandeuns auf dem Weg angriff undverhinderte, dass Luther in

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Worms ankam, was hatte dann das Mädchen damitzu tun? Sie konnte doch kein Schwert in einemKampf schwingen.

Dann kam mir ein Gedanke. Eck brauchte einen be-sonderen Botschafter. Deswegen ritt sie voraus. Eckkonnte nicht auf Reisende warten, die ihm zufälligNeuigkeiten über uns brachten. Er musste es früherwissen, damit er eine Falle aufbauen konnte.

Ich lief wieder los, um schnell nach Hause zu kom-men. Ich wollte Luther warnen. Doch dann hielt ichinne. Wer würde mir glauben? Ich hatte den Reiternicht erkannt. Ich wusste nicht sicher, dass es dasMädchen war. Und selbst wenn sie meine Geschichteglaubten, würden meine Eltern sie als Beweis dafürnehmen, dass die Gefahr für mich zu groß war, undsie würden mir verbieten, mitzugehen. Nein. Ichwürde warten. Morgen, wenn wir erst einmal unter-wegs waren, würde ich sicher viel Zeit haben, Lutherdavon zu erzählen.

Am nächsten Morgen verabschiedete ich mich vonmeiner Familie und versuchte, Mutter zu beruhigen,dass alles glatt gehen würde. Sie umarmte mich solange, dass ich glaubte, sie würde mich nie wiedergehen lassen. Doch dann ließ sie mich los undwischte eine Träne aus dem Augenwinkel. »Mach esgut, Karl. Ich werde für dich beten.« Dann brachenwir auf.

Doch jetzt, bei Tag, schien mir meine Geschichte überden nächtlichen Reiter noch unglaubwürdiger als amAbend zuvor. »Als ich gestern Abend meinen Um-hang vom Wagen holte«, sagte ich, als der Wagen ausdem Dorf rollte, «habe ich einen Reiter gesehen.« Ich

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machte eine Pause, aber keiner sagte ein Wort. »DerReiter stand direkt neben unserem Wagen … undblickte hinein.« Noch immer interessierte sich keinerdafür.

»Ich glaube, es war ein Spion«, meinte ich.

Bruder Nikolaus, der wieder die Zügel führte, drehtesich um und sah mich spöttisch an. Doch dann schüt-telte er den Kopf und wandte sich wieder der Straßezu, oder vielmehr dem Hinterteil von Caspar SturmsPferd.

»Als ich herauskam, flüchtete der Reiter und verließden Ort.«

Schließlich antwortete Doktor Luther. »Ich weißzwar, dass euer Dorf recht klein ist, aber es ist nichtso klein, dass man von einem Ende zum anderen se-hen könnte. Woher willst du wissen, dass der Reiteraus dem Dorf galoppiert ist?« Luther fragte mich wieein Professor, der seinen Studenten beibringen will,logisch zu denken. »Vielleicht wohnt derjenige amanderen Ende und ist nur nach Hause geritten.« Erglaubte, mich drangekriegt zu haben.

»Ich weiß, dass sie den Ort verlassen hat, weil ich ihrgefolgt bin.«

»Sie?«, fragte Bruder Nikolaus herausfordernd.»Warum sollte eine Frau mitten in der Nacht durchdie Straßen reiten? Du hast geträumt!«

»Ich habe nicht geträumt«, verteidigte ich mich. »Eswar die Beobachterin. Und ich glaube, ich weiß auch,was sie getan hat …« Ich hielt inne. Doktor LuthersAugen wurden schmal, als ob er meine Geschichtenur lächerlich fand. Auch ich fand jetzt, dass mein

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Verdacht an den Haaren herbeigezogen schien. Un-heimliche Dinge sehen bei Tageslicht viel harmloseraus. Statt ihnen also von meiner Annahme zu er-zählen, die ich mir in der Nacht zuvor ausgedachthatte, sagte ich nur: »Ich glaube zumindest, dass siees war. Es sah so aus.«

Niemand stellte noch Fragen, also sagte ich auchnichts mehr. Doch ich beschloss, während der weite-ren Reise wachsam zu sein, und wenn ich sie wieder-sah oder irgendetwas Verdächtiges bemerkte, würdeich ihnen von meiner Vermutung erzählen.

An diesem Nachmittag kamen wir in Leipzig an. Ander Universität Leipzig hatten Doktor Martin Lutherund Johann Eck ihre erste öffentliche Debatte. DieUniversität und die Stadt standen hinter Eck, wir wa-ren also sehr vorsichtig und hofften, die Stadt unbe-merkt betreten zu können – soweit das überhauptmit einem Reichsherold an der Spitze möglich ist.

Aber wir hatten kein Glück. Es schien, als wüsste je-der in der Stadt, dass wir kamen, und war auf dieStraße gelaufen, um uns zu treffen. Die meisten wa-ren sehr freundlich. Und der Stadtrat hieß DoktorLuther feierlich willkommen, indem man ihm dentraditionellen Weinbecher reichte, als wir in die Stadthineinkamen. Ich glaube, Caspar Sturm war ein biss-chen neidisch. Normalerweise ist er es, der geehrtwird, wenn er in eine Stadt kommt.

Wir verbrachten die Nacht in Zimmern, die die Uni-versität zur Verfügung gestellt hatte. Doch als ichversuchte einzuschlafen, kam mir ein Gedanke: Wo-her wussten alle, dass wir kamen … und vor allem,wann wir ankommen würden?

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Es waren andere Reisende unterwegs gewesen, undein oder zwei hatten uns auch überholt. Aber ichkonnte mich nicht erinnern, dass sie uns erkannt hat-ten. Woher wusste man also in Leipzig – Ecks ehema-ligem Revier –, wann wir ankommen würden? Daswar mir verdächtig. Vielleicht hatte das Mädchenuns angekündigt. Und warum hieß man uns inLuthers ›Feindesstadt‹ so herzlich willkommen? Dastimmte doch etwas nicht.

Am nächsten Tag jedoch fand ich immer noch keineGelegenheit, von meinen Vermutungen zu erzählen.

Leipzig lag weiter im Süden, als ich jemals gekom-men war. Die Landschaft war völlig neu für mich. Siegefiel mir – Hügel, dichte Wälder und gemütlich aus-sehende Bauernhöfe und Dörfer am Ende der Täler.Von Leipzig führte unser Weg in den Südwesten nachNaumburg, einem malerischen Städtchen mit einemgroßen Dom im Saaletal. Dann mussten wir über dieHügel nach Weimar, weiter Richtung Westen nachErfurt, wo wir am Abend des 6. April ankamen.

»In Erfurt könnte es gefährlich werden«, warnte unsLuther, als wir mittags Pause machten. »Ich bin dortan der Universität gewesen. Nach dem, was ichgehört habe, sind sich die Universitätsprofessorenvöllig einig mit der katholischen Kirche und demPapst, so dass sie mich wahrscheinlich nicht leidenkönnen. Sie meinen vielleicht, dass ich sie in Verrufgebracht und dem Ruf der Universität geschadethabe. Wenn es Probleme geben sollte«, sagte er undwandte sich Caspar Sturm zu, «reiten wir durch. Wirkönnen die Nacht auch in den Wäldern verbringen,wenn es sein muss.«

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»Niemand wird es wagen, Sie zu bedrohen, Sie ste-hen schließlich unter dem Schutz des Reichshe-rolds«, sagte Sturm hochmütig.

»Niemand, den Sie verhaften könnten, das ist rich-tig«, stimmte Luther zu. »Aber Menschenmengen ha-ben einen eigenen Charakter. Sie können leicht zueiner wütenden Masse werden. Ich habe meinemFreund Lang in Eisenach geschrieben. Wenn esSchwierigkeiten geben sollte, ist er bereit, sich um unszu kümmern und sicher auf den Weg zu bringen.«

Sturm brachte seinen Unmut über solche Abmachun-gen zum Ausdruck, indem er den Hühnerknochen,den er gerade abgenagt hatte, hinter sich in denBusch warf und aufstand. »Wenn wir möglicher-weise heute noch bis hinter Erfurt reisen müssen,sollten wir aufbrechen, sonst müssen wir im Dunkelnweiterfahren.«

Doch lange bevor unsere kleine Gruppe die Tore vonErfurt erreichte, wurden wir von einer Menge Stu-denten begrüßt, die Luther ihre Unterstützung zusi-cherten. Sie begleiteten uns in die Stadt und durchdie kleinen Gassen zur Universität. Luther wurdenicht wie einer begrüßt, der die Universität in Verrufgebracht hat, sondern wie ein Held.

Am nächsten Morgen, einem Sonntag, predigteLuther in der Universitätskapelle. Es wollten ihn soviele Menschen hören, dass die Eingangstreppenkrachten, weil sie das Gewicht der wartenden Men-schen kaum aushielten.

Am Nachmittag reisten wir weiter nach Gotha, dasnur wenige Meilen entfernt war. Dort predigte

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Luther wieder. Es war Palmsonntag, und die Men-schen konnten sich kaum halten vor Begeisterung fürLuther. Es war zu erkennen, dass die Art der Men-

schen und das, was Doktor Luther gesagthatte, einen Eindruck bei Caspar Sturm

hinterließ. Der Reichsherold stand immerhinten mit verschränkten Armen. Zuerstwirkte er teilnahmslos, wenn Luthervom Evangelium und von den Proble-

men der Kirche anfing, doch immerwieder sah ich nun, wie Sturmzustimmend nickte und lächelte.

Auch mich beeindruckten all dieseMenschen, die Luther willkom-

men hießen, und meine Ver-mutungen, dass alles eine

Falle wäre, dassEck uns auflau-

erte und dass dasMädchen Schlim-

mes im Schilde führte,lösten sich in nichts auf,

wie ein böser Traum, denman am nächsten

Tag vergisst.»Ist das nicht

toll, wie dieMenschenSie unter-stützen?«,

sagte ichaufgeregt zu

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Doktor Luther an diesem Abend, als wir in unseremQuartier waren.»Ich bin mir nicht sicher«, meinte er. »Die Begeiste-rung eines Palmsonntags kann innerhalb kürzesterZeit zu einer Kreuzigung führen, wenn du darandenkst, was mit Jesus passiert ist.«Luther stand am Fenster und verschränkte die Hän-de auf dem Rücken.Er blickte hinaus auf die Straßen von Gotha. »Das istvielleicht noch gefährlicher als die Aussicht, unter-wegs Räuberbanden zu treffen oder auf Ecks rechtli-che Tricks, die er wahrscheinlich vor dem Reichstagausprobiert.«Doch die Tage vergingen, und Luther scheute sichnicht vor den Menschenmassen, die in jeder Stadtgrößer zu werden schienen. Und wenn an den Aben-den die Leute ihn baten, zu predigen, ging er in dieKirche und hielt Predigten von einer Stunde oderlänger. Doch das Ganze erschöpfte ihn sehr, und be-vor wir Eisenach erreichten, bekam er Fieber. Immernoch kamen die Menschen in den Städten und Dör-fern zu uns, doch Luther konnte nicht mehr in ihrenKirchen predigen.Im Laufe der Tage erholte sich mein Herr einiger-maßen, bis wir nach Frankfurt kamen. Am nächstenTag überquerten wir den Rhein und reisten durchdas breite Rheintal bis nach Oppenheim. Von dortkonnten wir in der Ferne schon die hohen Türme desWormser Doms sehen. Die Reise war fast vorüber.»Lasst uns morgen früh aufbrechen«, sagte Luther andem Abend, als wir in einem Gasthaus um den Tischsaßen.

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»Das passt mir gut«, sagte Sturm. »Es ist bereits ei-nige Wochen her, seit ich meine Familie das letzteMal gesehen habe.«

»Ich wusste gar nicht, dass Sie eine Familie haben«,meinte Bruder Nikolaus.

»Sie haben mich nie danach gefragt«, antworteteSturm. Das stimmte. Wir wussten sehr wenig überden Reichsherold, wahrscheinlich weil wir uns nichtdarum gekümmert hatten. Während der ganzenReise stand Luther im Mittelpunkt, seine Gedanken,die Gefahren, die auf ihn lauerten, und die Reaktionder Menschen auf ihn.

»Es tut mir Leid«, sagte Luther. »Ich hätte mich mehrangestrengt, Wittenberg eher zu verlassen, wenn ichdas gewusst hätte. Wie viele Kinder haben Sie?«

»Drei Mädchen und zwei Jungen, und ich freue michauf sie, wie ich mich auch auf meine Frau freue.«

Das Bild des Reichsherolds, der durch Wittenberg rittund auf die Menge herabsah, kam mir wieder in denSinn. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass kleineKinder ihm entgegenrannten – auch wenn es seine eigenen waren.

Als wir gerade mit dem Essen fertig waren, setztesich ein ehemaliger Mönch zu uns, der sich als Mar-tin Bucer vorstellte. »Ich überbringe eine Botschaftvon dem großen Ritter Franz von Sickingen«, sagteer. »Er bewundert, wie Sie gegen Rom vorgehen.Und er ist bereit, Sie zu unterstützen, wenn Sie beiihm Zuflucht suchen sollten.«

Ich verstand sofort: Wenn Luther sich darauf einließ,nachdem er vor Gericht geladen war, konnte man

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ihm das als Verrat auslegen. Es waren Gerüchte vonBauernkriegen im Umlauf, an denen auch mächtigeKriegsherren wie Sickingen beteiligt waren. Dochdas Reich wurde auch durch kirchliche Verbindun-gen zusammengehalten. Wenn Luther sich aufSickingens Seite stellte, würde sich ihre Macht ver-doppeln.

Luther blickte hinüber zu Caspar Sturm. Sturm sagte:»Entschuldigen Sie mich, meine Herren, doch ichwerde mich zur Ruhe begeben. Wir brechen morgenfrühzeitig auf.« Damit verließ er den Tisch. Er bliebnicht, um Luthers Antwort nicht mitzubekommen.

»Das ist der Reichsherold«, sagte Luther zu MartinBucer. »Wir hätten alle wegen Verrats verhaftet wer-den können.«

Bucers Gesicht wurde fahl. »Ich hatte keine Ahnung.Ich hätte nie vermutet, dass ein Reichsherold miteuch isst. Normalerweise …«

»Ja, ich weiß«, sagte Luther. »Normalerweise gibtsich ein solcher Mann nicht mit einem Angeklagtenab. Aber wir sind fast … fast Freunde geworden.«

Plötzlich sah ich Caspar Sturm in einem völlig ande-ren Licht. Er mochte zwar Reichsherold sein, aber erwar als Mensch tief beeindruckt von der Person undden Gedanken Doktor Martin Luthers. Er hatte denTisch verlassen, um Luther zu schützen und um ihmdie Gelegenheit zu geben, das Angebot Sickingensanzunehmen.

»Danke Sickingen von mir«, sagte Luther. »Vielleichtwerde ich seine Gastfreundschaft eines Tages brau-chen. Doch nun muss ich nach Worms.«

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Am nächsten Morgen beluden wir den Wagen, bevordie Sonne über den Hügeln am östlichen Rheinuferaufgegangen war. Trotzdem waren ein DutzendMenschen aus der Stadt da, um uns hinauszugelei-ten. Sie versprachen Doktor Luther, dass sie für ihnbeten würden.Einige Meilen vor Worms hielt ich den Wagen obenauf einem Hügel an. Wir konnten von dort das ganzeTal überblicken; in der Ferne sahen wir eine Staub-wolke durch die Bäume aufwirbeln. Caspar Sturmrichtete sich im Sattel auf und rief zurück: »Wenn esProbleme geben sollte, lassen Sie mich vor.«Als wir den Hügel hinabgefahren waren und unse-ren Weg durch den Wald fortsetzten, entdeckten wirdie Ursache der Staubwolke. Es war eine Gruppe vonReitern. Luther erkannte einige aus dem HofstaatKurfürst Friedrichs. Als die Menschen bemerkten,wer wir waren, liefen sie jubelnd und klatschend aufuns zu.Ich schnalzte mit der Zunge, um die nervösen Pferdezu beruhigen, da entdeckte ich, dass die Gruppe auseinigen Adligen, Universitätsprofessoren und min-destens hundert Reitern – einige schwer bewaffnet –bestand. Sie waren ausgeritten, um uns willkommenzu heißen.»Ich mag das nicht«, sagte Luther, als wir uns denStadttoren näherten.»Warum nicht?«, fragte ich. Ich fand das Ganze toll.»Es erinnert zu sehr an den Einzug Christi in Jerusa-lem. Das kann nicht gut enden.«Immer mehr Menschen kamen dazu, als wir durchdie Straßen der Stadt ritten. Gegen zehn Uhr kamen

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wir zu dem Haus der Johanniter; dort erklärte manuns, dass Kurfürst Friedrich auf seine Kosten für unsZimmer reserviert hatte.

Wir waren sicher an unserem Ziel angekommen. Ichglaube nicht, dass wir noch viel weiter gekommenwären, so voll waren die Straßen.

Doktor Luther stand auf dem Wagen und winkte denMenschen zu. Dann stieg er herunter und ging mitBruder Nikolaus ins Haus. Ich trug unsere Sachenhinein.

Schließlich, als ich das letzte Mal das Gepäck holte,gingen auch die Menschen wieder ihrer Wege. Dochauf der anderen Straßenseite sah ich zusammen mitanderen Männern Johann Eck stehen. Ich starrte einige Minuten lang hinüber, dann nahm ich denletzten Sack und ging hinein.

Es war ernüchternd, daran erinnert zu werden, dassnicht nur Freunde uns in Worms erwarteten.

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Geknebelt und gefesselt

Am nächsten Nachmittag klopfte ein Marschallan unsere Tür und verlangte Doktor Luther, der

zu dem Bischofspalast gehen sollte, wo Kaiser Karlwährend dieser Tage residierte. Wir gingen sofortmit dem Marschall mit. Es überraschte mich, dassCaspar Sturm uns begleitete, genauso wie einige an-dere von Luthers Anhängern.

Eine Menschenmenge hatte sich auf der Straße vorunserer Unterkunft versammelt. Weitere Menschensaßen auf den Dächern der angrenzenden Gebäudeund blickten auf uns herunter. Wir versuchten, unsunseren Weg durch die Leute zu bahnen, aber es warunmöglich. Daher gingen wir wieder zurück, ver-ließen das Haus durch den Hintereingang und be-nutzten die Seitenstraßen und Gassen.

Im Bischofspalast wurden wir in eine kleine Halle ge-bracht, die voller Neugieriger war. Der Kaiser saß aneinem Ende; er war umgeben von den kaiserlichenRatgebern. Ich starrte mit offenem Mund auf all die

Adligen und vergaß beinahe, warumwir eigentlich dort waren. Ich, ja ichstand in demselben Raum wie derKaiser! Wenn meine Mutter michhätte sehen können.

Plötzlich verstummten die Men-schen. Johann Eck stand aufund sagte: »HochverehrterDoktor Luther, wir sind so

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dankbar, dass Sie hier bei uns sein können. Wir hof-fen, Sie hatten eine angenehme Reise.« Ich war vonvorneherein misstrauisch. Seine Worte waren nichtehrlich. Dann fuhr er fort, und wir hörten seine wah-ren Ansichten. »Sie sind hier, um sich wegen der An-klage der Ketzerei zu verantworten. Wir wollennicht, dass diese Anhörung zu einer Debatte aus-ufert. Aus diesem Grund sind Sie gehalten, nur dieFragen zu beantworten, die Ihnen gestellt werden,und keine anderen Aussagen zu machen. Haben Siemich verstanden?«

Bruder Nikolaus und ich und einige andere, die sichöffentlich auf Luthers Seite stellten, bildeten einenKreis um Doktor Luther. Er schien völlig entspannt,lächelte und blickte auf die Men-schenmenge, die sich sowohl ausseinen Freunden als auch aus sei-nen Feinden zusammensetzte. Ertrug die Kleidung eines Augus-tinermönches, eine dunkle, grobgewebte Kutte mit einem Leder-gürtel. Und wie ein Mönch hatteer sich gerade zuvor den Kopffrisch rasiert, wobei er einenHaarkranz über den Ohren und imNacken stehen ließ. Doktor Luther warnoch keine vierzig Jahre alt, doch er war ziemlich un-tersetzt für jemanden, der die meiste Zeit in Klassen-zimmern verbrachte.

Der große, schlanke Johann Eck war das krasse Ge-genteil zu dem kleinen Martin Luther, wie er so hin-ter einem Tisch stand und auf Luthers Antwort war-

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tete. Schließlich sagte mein Herr: »Ich werde antwor-ten, wie Gott es mir sagt.«Das gefiel Eck gar nicht. Er blickte zum Kaiser hi-nüber, doch dieser reagierte in keiner Weise. Schließ-lich fuhr Eck fort und deutete auf einen StapelBücher, die auf dem Tisch vor ihm lagen. »MartinLuther, Seine Kaiserliche Hoheit hat Sie aus zweiGründen zu sich rufen lassen. Erstens, geben Sie zu,diese Bücher geschrieben zu haben, und zweitens,wenn Sie sie geschrieben haben, sind Sie bereit, ihrenInhalt zu widerrufen? Was haben Sie zu sagen?«Dann las ein Sekretär die Titel der Bücher vor.Luther sagte: »Ja, ich habe diese Bücher geschrieben,wenn es wirklich die erwähnten Titel sind. Ob ichihren Inhalt widerrufe – die Antwort auf diese Fragewürde zu Diskussionen führen, die Sie hier nicht haben wollten.«»Warum muss es eine Diskussion geben?«, meinteEck herausfordernd.»Erstens, niemand in diesem Raum kann etwas ge-gen den größten Teil in diesen Schriften sagen, denner stammt aus der Bibel. Das zu verleugnen, wäre ansich schon Ketzerei. Was die anderen Inhalte anbe-trifft, gegen die Sie und die Kirche von Rom wohlsind, kann ich nichts widerrufen, es sei denn, jemandzeigt mir, dass sie nicht mit der Bibel in Einklang ste-hen. Schließlich war es Jesus selbst, der gesagt hat:›Wer mich verleugnet vor den Menschen, den willich verleugnen vor meinem himmlischen Vater.‹ Ichhätte zumindest gern Zeit, all das zu bedenken.«Das war eine schöne Eröffnungsrede, dachte ich.Doch obwohl Luther fest gesprochen hatte, schien er

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sehr nervös zu sein. Natürlich hatten wir allen Grundzur Nervosität; wir standen da vor dem Kaiser undanderen Adligen. Zum ersten Mal wünschte ich, ichhätte auf meine Mutter gehört und wäre in Düben ge-blieben, denn Eck ging genauso scharf wieder zumAngriff über.

»Und Sie meinen, Sie brauchen Zeit? Hatten Sie nichtgenug Zeit, seit Sie den Befehl erhalten haben, nachWorms zu kommen? Vielleicht hätten Sie, statt dieBulle zu verbrennen und in jedem Dorf zu predigen,besser Ihre Antworten vorbereitet, die Sie Seiner Ma-jestät dem Kaiser zu geben gedachten. Haben Sieüberhaupt keine Achtung vor diesem Gericht undder kostbaren Zeit des Kaisers?«

»Selbstverständlich achte ich den Kaiser und diesesGericht. Es ist nur so, dass es sich um schwerwie-gende Fragen handelt, und ich möchte nicht demWort Gottes oder meiner Seele schaden, indem ich et-was verleugne, das die Wahrheit ist.«

Nach diesen Worten wurde alles nur noch schlim-mer. Andere standen auf und verlangten, dass manLuther keine Zeit mehr lassen sollte, um irgendetwasvorzubereiten. Es wurde immer später, und manzündete die Lichter an. Kurz darauf brachte man Es-sen und Trinken für den Kaiser und die Adligen hin-ter dem Richtertisch, doch es gab nichts für DoktorLuther und uns andere. Ich begann, mir Sorgen zumachen. Doktor Luther war nach der Krankheit nochgeschwächt, und er brauchte etwas zu essen. Ich fürmeinen Teil jedenfalls war hungrig.

Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und schlüpfteaus dem Raum. Ich wollte etwas zu essen und trinken

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holen. In dem offenen Portal war es dunkel, und ichdachte darüber nach, wo ich hingehen könnte, um ei-nige Lebensmittel zu kaufen. Plötzlich trat jemand ne-ben mich. Da meine Augen sich bereits an die Dunkel-heit gewöhnt hatten, erkannte ich die Beobachterin.

Ich sprang zur Seite, als ob sie ein Gespenst gewesenwäre. Sie streckte den Arm aus und hielt mich am Är-mel fest. »Komm mit«, sagte sie. Das Tuch, das sievor Mund und Nase gehalten hatte, fiel herunter.Ihre blauen Augen blitzten mich an. »Wir müssenmiteinander sprechen!«

Das Mädchen war so geheimnisvoll, dass ich ihr bei-nahe gefolgt wäre, aber mein Verstand gebot mirrechtzeitig Einhalt. »Wer bist du überhaupt? Undwarum verfolgst du uns?«, fragte ich sie. Sie sah sichum, als ob sie hoffte, dass niemand sie hörte, doch ichsprach genauso laut weiter: »Ich weiß, warum du unsverfolgst. Es ist wegen Doktor Luther, nicht wahr?«

»Ja«, flüsterte sie. »Jetzt komm mit.«

»Niemals in meinem Leben. Ich werde ihn nicht ver-raten.«

In diesem Augenblick kam eine Gruppe von Men-schen aus dem Saal auf uns zu. Das Mädchen zogschnell wieder das Tuch vors Gesicht, drehte sich umund rannte davon.

Das wäre beinahe schief gegangen. Aber jetzt hatte ichden Beweis. Sie war uns wirklich auf dem ganzen Wegnach Worms gefolgt, und es war wegen Doktor Luther.Sie hatte es selbst gesagt. Wenn ich es diesmal den an-deren sagte, würden sie mir glauben müssen. Ich woll-te zurück in den Gerichtssaal gehen, doch mir fiel ein,

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dass ich während der Anhörung doch niemandem et-was erzählen konnte. Ich würde mit meinem Berichtwarten müssen, bis wir später allein waren. Daher gingich durch die Straßen, um etwas zu essen zu finden; ichhielt ständig Ausschau nach dem Mädchen.

Ich war noch nicht weitgegangen, als zweiLeute aus einemschmalen Durch-gang zwischenzwei Häusernsprangen undmich ergriffen.Bevor ich richtigverstand, waspassierte, zogensie mich in diesenDurchgang undknebeltenmich miteinemSeil. Ichwehrtemich, so gut ichkonnte. Ich trat einem aufden Fuß, einem anderen ans Knie. Mitaller Kraft drehte und wand ich mich, ummeine Arme frei zu bekommen, doch sie waren zuzweit. Sie hatten mich bald in ihrer Gewalt und ban-den meine Hände auf dem Rücken zusammen.

»Keine Aufregung«, sagte ein Mann. »Wir tun dirnichts. Wir müssen nur mit dir sprechen.«

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Nun gut. Das hatte ich an diesem Abend schon ein-mal gehört. Doch diesmal konnte ich nicht viel dage-gen machen, ohne mir damit zu schaden. Deshalbging ich mit und suchte jeden Augenblick nach einerGelegenheit zu flüchten. Ich hoffte, dass sie mich aufeine Straße bringen würden, wo mehr Menschen wa-ren. Dann würde ich loslaufen und darauf vertrauen,dass sie mir nichts über den Kopf schlugen oder an-dere schlimme Dinge mit mir taten, wenn andere zu-sahen.

Doch meine Hoffnung war vergebens. Sie blieben indunklen Durchgängen und Gassen der alten Stadt.Dann schoben sie mich durch eine Tür und führtenmich eine Treppe hinunter in einen engen, finsterenRaum. Nur eine kleine, flackernde Kerze gab ein we-nig Licht. Ein dritter Mann saß an einem kleinenTisch. Die große Tür fiel hinter mir ins Schloss.

Ich sah mich um. Wenn das kein Gefängnis war, woich gelandet war, dann war es zumindest so etwasÄhnliches.

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Der Auftrag

Der Raum war dunkel und kalt, und die Kerzewarf unruhige Schatten an die Wände. Es gab

kein Fenster.

»Wie heißt du?«, fragte der große Mann hinter demkleinen Tisch. Er nickte meinen Entführern zu, undsie entfernten das Seil aus meinem Mund.

»Karl.«

»Nun, Karl, hast du auch einen Nachnamen?«

»Schumacher. Ich heiße Karl Schumacher. Aberwarum hat man mich hergebracht? Warum sindmeine Hände gefesselt? Lassen Sie mich gehen.«

»Entschuldige bitte«, sagte der Mann hinter demTisch. Er war groß und sah rau, aber nicht unfreund-lich aus. »Ich hoffe, dir hat niemand weh getan, doch

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es sah so aus, als ob du auf unsere einfache Ein-ladung hin nicht kommen würdest. Wir müssen so-fort miteinander sprechen. Wir konnten es nicht ris-kieren, diese Gelegenheit verstreichen zu lassen.«

»Deswegen haben Sie mich überfallen, mich gefesseltund in diesen dunklen Kerker geschleppt. Warum?Ich habe nichts Böses getan.« Ich hoffte, dass sie meinHerz nicht klopfen hörten.

»Natürlich nicht.« Er blickte zu den beiden Männernhinüber, die rechts und links von mir standen.»Meine Herren, binden Sie Karl los. Ich bin sicher, esist nicht mehr nötig, dass er gefesselt ist.«

Der Mann, der rechts von mir gestanden hatte, löstedas Seil um meine Handgelenke. Ich rieb sie, bis ichwieder Gefühl in den Händen hatte. »Danke«,brachte ich heraus. »Warum haben Sie mich herge-bracht? Ich will gehen.«

»Wir brauchen deine Hilfe wegen Doktor Luther.«

Mein Verstand arbeitete blitzschnell. Ich hatte einmalgehört, dass man, wenn man gefangen wird, am bes-ten sofort flieht. Doch dafür war es bereits zu spät. Siehatten mich in einer Zelle gefangen, die Tür war ver-schlossen. Aber vielleicht konnte ich mich durch Re-den befreien. Ich musste nur vorsichtig sein – ichdurfte nichts preisgeben, was Doktor Luther schadenkonnte.

»Ich werde keine Fragen beantworten, solange Siemich hier in diesem Gefängnis eingeschlossen hal-ten.«

»Gefängnis?«, fragte der große Mann, die anderenbeiden schmunzelten. »Karl, du bist nicht in einem

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Gefängnis. Wir brauchten nur einen Ort, wo wir al-lein mit dir sprechen können.«

»Wie kommt es dann, dass die Tür hinter mir ver-schlossen ist?«

»Sie ist nicht verschlossen. Franz, zeig Karl, dass erhier nicht eingeschlossen ist. Lass die Tür ein Stückoffen, wenn er sich dadurch besser fühlt.«

Franz, der Mann auf meiner rechten Seite, öffnete dieTür einen Spalt.

»Heißt das, ich kann hier heraus?« Ich drehte michum und ging in Richtung Tür. Ich wollte die erste Ge-legenheit nutzen; es konnte schließlich die letzte sein.

»Warte einen Augenblick«, sagte Franz und legteseine Hand auf meine Schulter, während er sich zwi-schen mich und die Tür stellte.

Es war doch nicht so einfach, wie ich es mir vorge-stellt hatte.

»Nur eine Minute«, sagte der große Mann.

»Ich habe wohl keine andere Wahl«, meinte ich.

»Wir müssen nur mit dir über Doktor Luther spre-chen. Wir brauchen deine Hilfe, Karl«, fuhr der großeMann fort. »Wir sind im Auftrag eines wichtigenMannes hier. Du ahnst wahrscheinlich, wer es ist,aber wir können seinen Namen nicht nennen.«(Natürlich ahnte ich, wer dahinter stand, wahr-scheinlich war es Eck.) «Unser Herr will sicherstellen,dass Luther gerecht behandelt wird, und deswegenbrauchen wir deine Hilfe.«

»Ich werde Doktor Luther niemals verraten, egal wielange Sie mich hier festhalten.«

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»Gut«, sagte der große Mann. »Wir brauchen Men-schen, die treu sind. Aber wir haben nicht die Absicht, dich hier unten festzuhalten. Wenn die Gerichtsverhandlung für Luther schlecht ausgeht,werden wir eine Flucht organisieren müssen. Aberdamit uns das gelingt, brauchen wir jemanden, dersich auskennt. Und das bist du. Wir möchten, dassdu uns über alles, was er tut und wo er hingeht, Bescheid gibst. Wir müssen seine Pläne im Vorauswissen, damit wir ihn gegebenenfalls retten können.«

Ich war verwirrt. Diese Männer hier hatten mich ent-führt und ins Gefängnis geworfen, zumindest schienes so, und jetzt beteuerten sie, dass es kein Gefängniswar, dass ich gehen konnte, wohin ich wollte. Aufder anderen Seite wollten sie aber zuerst mit mirsprechen. Und das Schlimmste war, dass sie mich alsSpion von Doktor Luther gewinnen wollten. Aller-dings sprachen sie davon, ihn retten zu wollen, undvon einer Flucht. Was ging da vor? Was hatte das alles zu bedeuten?

»Karl, wenn Johann Eck den Prozess gewinnt, wirddein Herr als Ketzer verurteilt. Wenn das geschieht,ist schwer vorauszusagen, was der Kaiser tun wird.Wenn es ihm einfällt, wird er das Ganze einfach fal-len lassen. Er könnte aber genauso gut Luther zumTod auf dem Scheiterhaufen verurteilen. Wir wissenes nicht.«

»Aus diesem Grund«, ergriff Franz jetzt das Wort,«wenn wir Luther retten wollen, müssen wir seinePläne kennen, damit wir zu jeder Zeit bereit sein kön-nen. Dafür brauchen wir deine Hilfe.«

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Wer waren diese Leute? Zuerst war ich sicher ge-wesen, dass Eck ihr Hintermann war. Vielleicht wa-ren es aber auch Leute von Kurfürst Friedrich. Wiekonnte ich es wissen?»Wer seid ihr?«, fragte ich.»Wer wir sind, spielt keine Rolle, Karl. Wirst du unshelfen? Wirst du Luther helfen?«»Aber wenn ihr mir nicht sagt, wer ihr seid, sagt mirwenigstens, für wen ihr arbeitet.«»Wie ich vorhin schon gesagt habe, wir können dirden Namen unseres Herrn nicht verraten. Du ahnstes wahrscheinlich, aber wenn du je gefragt werdensolltest, ist es in jedermanns Interesse, dass du ehr-lich sagen kannst, dass der Name nie erwähnt wurde.Verstehst du das?«Nun, in gewisser Weise verstand ich schon. Unddann wieder verstand ich gar nichts. Ich brauchteZeit, um darüber nachzudenken, Zeit, um herauszu-finden, ob diese Männer mir eine Falle stellten oderwirklich Luther helfen wollten. »Was wollt ihr vonmir?«, fragte ich in der Hoffnung, auf diese Art etwasmehr Information zu bekommen.»Du bist unser Kontaktmann. Deine Aufgabe bestehtdarin, herauszufinden, wo Luther hingeht und wann– zu jeder Tages- und Nachtzeit. Es kann zu jederStunde gefährlich für ihn werden. Wir können ihmnicht hinterherlaufen, wenn er es sich in den Kopf ge-setzt hat, in irgendeiner Kirche zu predigen. Wenn erverurteilt ist, bleiben uns wahrscheinlich nur wenigeStunden, um ihn aus der Stadt hinauszubringen. Wirbleiben in ständigem Kontakt mit dir, damit du unssagen kannst, wo er hingehen wird.«

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»Ist das alles?«, fragte ich und dachte, dass es doch eigentlich sehr viel war, wenn die Leute Feinde wa-ren. Aber der Plan klang sehr gut durchdacht undvernünftig – es war die Art von Plan, den Freundemachen.

»Ja, das ist alles – sei unser Kontaktmann und halteuns auf dem Laufenden. Hilf mit, wenn die Zeit ge-kommen ist.«

»Welche Zeit?«

»Wenn wir ihn retten müssen.«

»Kann ich darüber nachdenken?«, fragte ich.

Der große Mann blickte die beiden Männer nebenmir an. »Morgen. Wir brauchen deine Antwort spä-testens morgen. Wenn du uns nicht helfen willst,werden wir uns jemand anderes suchen müssen.Doch du bist der ideale Kontaktmann. Du bist seitWittenberg bei ihm. Als sein Junge, sein Knecht,kannst du kommen und gehen, ohne dass jemandNotiz davon nehmen würde. Wir brauchen dich.Dein Herr, Doktor Luther, braucht dich. Sag ihmnichts davon!«

»Kann ich jetzt gehen?«

»Ja. Unsere Kontaktperson wird morgen zu dir kom-men, während du im Gerichtssaal bist. Es gibt einKennwort. Unsere Person wird sagen: ›Ich ritt durchDüben.‹ Sprich nur mit dieser Person. Kein Wort zuirgendjemandem sonst. Jetzt geh!«

Ich drehte mich um und verließ den Keller. Ich stol-perte die Steinstufen hinauf und trat in die Dunkel-heit. ›Ich ritt durch Düben.‹ Was für ein merkwürdi-ges Kennwort. Viele Menschen reiten durch Düben,

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meinen Heimatort; ich selbst war erst wenige Tagezuvor durchgeritten. Wusste er, woher ich kam? Eswar unheimlich, dass er mehr über mich wusste alsich über ihn.

***Am nächsten Tag wurde Doktor Luthers Anhörungwegen anderer dringender Fälle verschoben bis aufden späten Nachmittag. Es fiel mir sehr schwer zuwarten, doch Luther nutzte die Zeit zur Vorbereitungauf das, was er sagen würde.

Ein alter Freund von Luther, ein Mönch namens Bru-der Johann Petzensteiner, aß mit uns zu Mittag. »Ichbin zu euch gekommen«, sagte er zu Luther. »Wieauch immer euer Los aussehen wird, es ist auch meinLos.«

»Das ist aber ein Wort«, lachte Luther. »Vielleichtsollte man Sie Bruder Petrus nennen – Ihre Wortehören sich an wie die von Petrus, als er Christus ver-sprach, ihn nie zu verraten.«

Bruder Johann war offensichtlich verletzt, obwohlich nicht glaube, dass Doktor Luther die Absichthatte, ihm wehzutun. Bald jedoch entspannte sich dieStimmung wieder, und sie sprachen miteinanderüber die alten Zeiten. Luther bestand darauf, dassBruder Johann mit in unseren Zimmern wohnte, soklein sie auch waren.

Als er schließlich zu der Anhörung gerufen wurde,musste er in einen noch größeren Saal im Bischofs-palast gehen; es war jedoch genauso voll. Sogar derKaiser hatte seine Mühe, sich durch die Massen einenWeg zu seinem Platz zu bahnen.

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Dann begann Eck sofort damit, Luther die zweiteFrage des Vortags zu stellen: War Luther bereit, denInhalt seiner Schriften zu widerrufen?

Doktor Luther sprach bestimmt und sachlich. DieVorbereitungen und die Hilfe Jesu hatten ihm Kraftgegeben. Luther zitierte viele Verse aus der Bibel, umdie Richtigkeit seiner Aussagen zu beweisen.

Als er geendet hatte, sagte Eck knapp: »Ketzerei, allesKetzerei!«

Martin Luther drehte sich zum Kaiser um und sagte:»Eure Majestät, wenn mir nicht jemand in der Bibelzeigt, dass ich Unrecht habe, bin ich weder fähignoch willens, auch nur ein Wort zu widerrufen, dasich geschrieben habe. Hier stehe ich; Gott helfe mir,ich kann nicht anders.«

Ich dachte, was für ein wundervoller Schlusssatz dasdoch war. Die meisten seiner Freunde, die bei unsstanden, dachten wohl dasselbe. Die Anhörungwurde vertagt, und wir gratulierten einander, als wir

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durch die Menge nach draußen drängten. Als wirdraußen waren, jubelten einige aus der Menge …doch dann wurde ein anderer Ruf immer lauter:»Verbrennt ihn! Verbrennt ihn!«

Furcht schnürte mir den Hals zusammen. In meinenGedanken sah ich die Leiter mit dem ›Ketzer‹ in dieFlammen fallen.

Es überlief mich kalt. Der Kaiser hatte noch kein Ur-teil gefällt, und es konnte das Todesurteil sein.

Dann, als ich durch die Menschen lief, hörte ichplötzlich eine weibliche Stimme neben mir: »Ich rittdurch Düben. Ich ritt durch Düben.«

Ich fuhr herum, da stand das Mädchen und zupfte anmeinem Ärmel.

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Fluchtpläne

Los, komm, ich muss mit dir sprechen!«, sagte sieund zog mich ein Stück weiter.

»Du? Du bist meine Kontaktperson?«, platzte ich heraus.

»Ruhe«, sagte sie, doch die Menge war so laut, dassselbst die Menschen, die neben uns standen, unsnicht gehört hätten. Sie zog mich weiter durch einTor zu einem abgelegenen Platz vor einem großenHaus.

»Du warst es also doch, die durch Düben geritten ist.Was hast du an unserem Wagen zu schaffen gehabt?«

»Nichts. Ich wollte nur sichergehen, dass es eurerwar – dass ihr in dem Haus wart.«

»Warum wolltest du das wissen? Warum bist du unsgefolgt?«

»Wir haben jetzt keine Zeit,um alles zu erklären. Hast

du dich entschieden?Wirst du uns helfen …

oder nicht?«

»Woher soll ich das wis-sen? Ich weiß nicht ein-

mal, wer ihr seid.«

»Das spielt auch keine Rolle.Wir sind Freunde von Luther,

und er könnte unsere Hilfebrauchen. Hast du gehört, was

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die Menschen gerade gerufen haben? Es sind sehrviele, die ihn gern auf einem Scheiterhaufen sehenwürden.«

Ich schluckte hart. Ich hörte immer noch das Geschreider Menschen auf den Straßen. »Ich weiß. Aber duund diese Männer, die mich gestern Abend entführthaben, könnten auch dazugehören.« Ich starrte siean; zum ersten Mal sah ich ihr Gesicht aus der Nähe.»Sag mir wenigstens, wie du heißt.«

»Ich heiße Marlene …«

In dem Augenblick kam eine Gruppe von Menschendurch das Tor. Sie wohnten anscheinend in demHaus, denn sie schrien uns sofort an: »Ihr da! Das istkein Spielplatz! Weg hier!«

Das Mädchen zog den Kopf ein, und augenblicklichgingen wir zurück auf die Straße, auf der sich immernoch die Leute drängten. »Entscheide dich – schnell!Denk an deinen Auftrag«, flüsterte sie. Damit misch-te sie sich unter die Menschen und war verschwun-den.

Ich ging zurück zu unserem Quartier. Ich dachte denganzen Weg darüber nach, was ich tun sollte. Schließ-lich beschloss ich, Doktor Luther davon zu erzählen.Ich wollte ihm sagen, dass ich das Mädchen getroffenhatte und dass sie Marlene hieß, und dann?

Als ich in unserer Unterkunft ankam, war eine regel-rechte Feier im Gange. Zusammen mit Bruder Niko-laus und Bruder Johann gratulierten viele FremdeLuther zu seiner brillanten Verteidigungsrede. An-dere rieten ihm, was er als Nächstes tun sollte. Lutherbegrüßte jeden, indem er beide Fäuste hob und er-

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klärte: »Ich bin hindurch! Ich werde es schaffen!« Erwar sich sicher, dass das Urteil am nächsten Tag zuseinen Gunsten ausfallen würde.

***Doch früh am nächsten Morgen kamen zwei Wach-leute. Waren sie gekommen, um Doktor Luther insGefängnis zu werfen? Nein. Ich erfuhr, dass sie ge-schickt worden waren, um Luther zu begleiten, da-mit er sicher durch die Menschenmengen kam.

Wir waren sehr zuversichtlich.

Als der Reichstag sich erneut eingefunden hatte, er-hob sich Kaiser Karl, um zu sprechen. Das an sichwar schon sehr merkwürdig. Niemand erwartete,dass er Luther direkt ansprechen würde. Er war jungund schwach, seine Berater machten eigentlich diePolitik – zumindest hatte man das immer behauptet.Doch da stand er nun und verlas sein Urteil.

»… im Hinblick auf die lange Tradition, dass derStaat die Kirche unterstützt, werde auch ich die Kir-che unterstützen. Ich kann nicht die Meinung einesMannes akzeptieren, wenn alle Kirchenmänner undTheologen anderer Ansicht sind.

Ich hätte gegen die ketzerischen Gedanken MartinLuthers sehr viel früher vorgehen müssen. Ich will ihnsicher nach Wittenberg zurückschicken, aber nur, weilich das Versprechen, ihm Geleitschutz zu geben, hal-ten will. Er darf jedoch nicht mehr predigen. Er darfnicht mehr lehren. Wenn er sicher reisen will, muss erschweigen. Alle seine Bücher und Schriften sind zuverbrennen. Jeder, der dabei erwischt wird, wie er sieliest, druckt oder vertreibt, soll verurteilt werden.

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Wenn Luther in Wittenberg angekommen ist, wirdder Geleitschutz zu Ende sein, und ich werde gegenihn als Ketzer vorgehen.«

Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Ich konnte nichtglauben, was ich da gehört hatte. Doch der Kaiserwar noch nicht fertig.

Er wandte sich um zum Rest des Reichstages undsagte: »Ich ermahne jeden zur Loyalität gegenüberdem Reich, indem er seine Pflicht tut und seine Ver-sprechen hält. Ich habe mich damit einverstanden er-klärt, diesen Mann anzuhören. Und Sie«, er blickteKurfürst Friedrich direkt an, «Sie haben zugestimmt,die kaiserliche Regierung zu unterstützen.«

Laute Rufe ertönten – einige für den Kaiser, einigedagegen. Und mitten in diesem Durcheinander sahich, wie Kurfürst Friedrich aufstand und aus demSaal schlüpfte.

Ich vermute, dass niemand ein so hartes Urteil er-wartet hatte. Doch niemand, der wirklich Autoritätgehabt hätte, stand auf, um Luther zu verteidigen.Luther und der Rest unserer Gruppe wurden aufge-fordert, den Saal zu verlassen; und der Reichstag be-schäftigte sich mit weiteren Staatsangelegenheiten.

An diesem Abend kamen viele Freunde, um DoktorLuthers Situation mit ihm, Bruder Nikolaus und Bru-der Johann zu besprechen. Es war noch nicht sicher,dass er zum Tode verurteilt war, aber die Möglich-keit bestand. Einige der Reichstagsmitglieder, dieLuther unterstützten, versuchten, weitere Anhörun-gen zu organisieren. Sie glaubten vielleicht, dass dasUrteil des Kaisers gemildert würde.

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Die Tage vergingen, und die Verhandlungen wurdenfortgesetzt. Manchmal berief man Luther vor denReichstag, damit er vor verschiedenen Ausschüssenseine Aussage machte, aber die Lage verbesserte sichnicht. Mindestens einmal am Tag sah ich Marlene.Ich ging mit Doktor Luther zu einer Verhandlung,oder ich kam vom Einkaufen zurück, oder ich hatteeine Nachricht überbracht, irgendwo stand sie, ineinem Eingang oder neben einem Brunnen. JedesMal schüttelte ich den Kopf. Ich hatte zwar eigentlichbeschlossen, Marlene und den Männern hinter ihr zuvertrauen, aber ich hatte immer noch meine Zweifel,deshalb wollte ich nichts preisgeben. Außerdem gabes nichts Neues zu berichten.

Dann kam eines Tages Caspar Sturm, der Reichshe-rold, zu unserem Quartier. »Es bleiben nur nochzweiundzwanzig Tage, für die der Geleitschutz gilt«,sagte er sehr ernst zu Luther. »Ich halte es für klug,wenn Sie nicht mehr so lange warten.«

»Aber wir brauchen sicher nicht allzu lange, um nachWittenberg zurückzukehren«, meinte Bruder Niko-laus, während er seine Sandalen anzog.

»Nein. Es ist natürlich leicht, diese Strecke in ein paarWochen oder weniger zurückzulegen«, stimmteSturm zu, «aber es ist genauso gut möglich, dass manlänger braucht, sei es wegen Wetter oder Krankheit,daher ist es wohl besser, nicht zu lange zu warten.Denn wenn der Geleitschutz ausgelaufen ist, könntees sehr gefährlich für Sie werden.«

»Ich war krank, als wir hierher fuhren«, sagte Luther,«und das hat die Reise nicht sehr verzögert. Und was

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könnte schlechtes Wetter Schlimmeres ausmachen,als dass es unangenehm für uns wird?«

»Ich habe auf dieser Strecke im Frühjahr schon hef-tige Gewitter und solchen Regen erlebt, dass dieFlüsse zwei oder drei Tage lang unpassierbar wa-ren«, sagte der Herold. »Aber offen gesagt, DoktorLuther, die größte Gefahr stellen Ihre Feinde dar, dieVerzögerungen organisieren könnten – ein gebro-chenes Rad, lahme Pferde, Banditen – es kann so vielschief gehen. Sehen Sie, Doktor Luther, jetzt, wo Sievom Kaiser verurteilt sind, können andere MenschenSie töten. Während der verbleibenden Zeit Ihres Ge-leitschutzes kann man Sie vor Übergriffen durch dieÖffentlichkeit schützen, aber danach … andere könn-ten Sie angreifen, ohne dafür verfolgt zu werden. Siesind ein verurteilter Mann.«

»Hmm. Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Luther.

Bruder Johann ergriff das Wort. »Wissen Sie, DoktorLuther, ich glaube nicht, dass es noch viel bringt,wenn Sie länger in Worms bleiben. Ich habe Sie ja einige Male zu den Verhandlungen begleitet, und ichdenke, es ist alles gelaufen.«

»Ich fürchte, dass Sie Recht haben«, meinte Luther.»Ich kann ebenso gut zu meinen Studenten an dieUniversität zurückkehren.«

»Es wird für Sie diesmal keine kaiserliche Eskorte aufdieser Reise geben«, sagte der Herold. »Aber ichwünsche Ihnen alles Gute. Ich achte die Ziele, für dieSie eintreten, Doktor Luther.«

»Danke«, sagte Luther. Die beiden Männer tauschteneinen schnellen Händedruck.

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»Lasst uns morgen aufbrechen«, sagte Luther, sobaldder Herold den Raum verlassen hatte. »Wenn wirkeine kaiserliche Eskorte haben, können wir vielleichtdie Stadt unbemerkt verlassen. Eine unbemerkte, ru-hige Reise ist wahrscheinlich am sichersten.«

»Gut«, sagte Bruder Nikolaus. »Aber Ihre Abreisewird sich innerhalb eines Tages herumgesprochenhaben. Es kommen immer wieder Menschen hiervorbei und fragen nach Ihnen.«

»Das ist richtig.« Luther sah aus dem Fenster undkratzte sich am Kinn. »Wie wäre es, wenn einer voneuch einige Tage zurückbleiben würde. Er müsstenur den Leuten sagen, dass ich momentan nicht ver-fügbar wäre, dann würde es nicht so sehr auffallen,dass wir abgereist sind.«

»Ich würde es gern tun«, bot Bruder Nikolaus an.»Nachdem wir zusammen angekommen sind, wer-den die meisten Leute denken, dass wir auch ge-meinsam abreisen.«

»Gut. Bruder Johann, reisen Sie mit uns?«

»Ich habe Ihnen gesagt, dass ich bei Ihnen bleibenwerde.«

»Warum fangt ihr dann nicht einfach an zu packen?Ich gehe hinaus und spreche mit den Menschen aufder Straße, damit viele die Möglichkeit haben, mich zusehen. Dann haben sie vielleicht eine Weile genug.«

»Aber halten Sie keine Predigt«, sagte Bruder Niko-laus. »Man muss den Kaiser nicht herausfordern.«

»Ich werde vorsichtig sein. Karl, du gehst und kaufstLebensmittel für die Reise, bereitest den Wagen vorund siehst nach den Pferden. Niemand wird sich

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groß um dich kümmern. Wir wollen so still wie mög-lich morgen früh abfahren.«

Den ganzen übrigen Nachmittag verbrachte ich da-mit, immer wieder zum Markt zu gehen. Ich kaufteBrot, Käse, Äpfel und Wein, aber nicht zu viel, umkein Aufsehen zu erregen. Am Abend dann verhieltich mich genauso, als ich zum Stall ging, um den Wa-gen zu packen. Ich wartete immer eine halbe Stundeoder länger, dann ging ich mit dem nächsten Gepäck-stück wieder los.

Es war schon spät, als ich das letzte Mal ging – ohneLaterne, doch ich beschloss, den Pferden eine Extra-ration zu geben, damit sie für die Fahrt gerüstet wa-ren. Ich schüttete Hafer in die Futtertröge der erstenbeiden Pferde, dann tastete ich mich in der Dunkel-heit zur letzten Pferdebox. Plötzlich stolperte ichüber etwas, das im Stroh auf dem Bodenlag. Als ich hinfiel, merkte ich, dass esein menschlicher Körper war.Dann schrie jemand.

»Was ist da los?«, riefder Stallmeisteraus seinemRaum imvorderen Teildes Stalles.

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Bevor ich antworten konnte, wurde mir mit einerkräftigen Hand der Mund zugehalten. »Ich bin es,Marlene«, sagte das Mädchen flüsternd. »Ich wolltenicht schreien, aber du hast mich getreten.« Dannnahm sie ihre Hand von meinem Mund.

»Was …?«, begann ich.

»Pst. Antworte dem Mann.«

»Nichts«, rief ich. »Ich bin nur über etwas gestol-pert.«

Eine Tür schlug zu.

»Was tust du hier?«, fragte ich sie.

»Ihr macht euch bereit zur Abreise, nicht wahr?«,sagte Marlene.

»Wieso glaubst du das?«

»Ich habe dich schon den ganzen Tag beobachtet, wiedu zum Markt gegangen bist und den Wagen gepackthast. Ich nahm an, dass du auch noch nach den Pfer-den sehen würdest, und dann bin ich eingeschlafen,während ich wartete. Wann werdet ihr abreisen?«

Bevor ich überhaupt merkte, was ich eigentlich tat,hatte ich Marlene unseren ganzen Plan erzählt. Ichwollte es nicht, aber nun war es zu spät.

»Das halte ich für klug«, sagte sie. »Ich hoffe nur, ihrkönnt unbemerkt aus der Stadt verschwinden.«Dann legte sie die Hand auf meinen Arm. »Danke,Karl, dass du mir dein Vertrauen geschenkt hast. Daswar richtig.«

»Woher weißt du, wie ich heiße?«

»Das ist nur gerecht. Ich habe dir auch meinen Namen genannt.«

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»Ja, aber ich dir meinen nicht.«

»Jemand anderes hat ihn mir verraten. Gute Nacht,Karl.« Und da war sie auch schon in der Dunkelheitverschwunden.

Als ich wieder in unseren Zimmern war, war ichmüde und ging gleich zu Bett, doch Marlene ver-folgte mich bis in meine Träume. Ich sah sie aufeinem Pferd durch die Dunkelheit reiten, und ihr lan-ges, schwarzes Haar wehte im Wind.

Wir hatten gehofft, früh am nächsten Morgen auf-brechen zu können, doch Doktor Luther wurde zueiner Verhandlung gerufen, die erst um zehn Uhr zu Ende war. Daher war es fast Mittag, als ich den Wagen aus dem Verschlag holte und Doktor Lutherund Bruder Johann aufstiegen.

Wir rumpelten gemütlich durch die Straßen, als obwir es nicht besonders eilig hätten, und fuhren inRichtung Stadttor. Alles schien gut zu gehen. An-scheinend hatte niemand unsere Abreise bemerkt.

Doch als wir durch das Stadttor gefahren waren,wurden wir von einer kleinen Reitergruppe begrüßt.Es waren ungefähr zwanzig Männer, viele von ihnentrugen Waffen.

»Wir sind eure Eskorte«, verkündete ein Mann miteinem grauen Bart und einem Helm.

Woher hatten sie es gewusst?

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Flucht durch das Werratal

Die Reiter ritten vor, neben und hinter uns. Ichmusste kaum die Pferde lenken, sie trotteten

einfach mit als Teil der Herde. War es Marlene gewe-sen, die diese Eskorte organisiert hatte? Es gab damitkeine Möglichkeit mehr, unbemerkt aus der Stadt zuverschwinden. Bald würde es jeder wissen. Warumhatte ich ihr nur alles anvertraut? Ich musste verrücktgewesen sein.

Doch Doktor Luther und Bruder Johann machtensich anscheinend keine Sorgen wegen unserer Beglei-tung und unterhielten sich gut gelaunt, bis wir amspäten Nachmittag Oppenheim erreichten. Oft zogLuther seine Laute hervor, und die ganze Truppesang ein Volkslied. Manchmal sang er einen christ-lichen Text zu den volkstümlichen Melodien. Wirmachten auf dem Marktplatz Rast, wo die MenschenLuther freundlich begrüßten.

Plötzlich erstarrten alle, denn ein Reiter kam in vol-lem Galopp an und zog mitten auf dem Marktplatz

die Zügel, bis das Pferd stand.

Als die Staubwolke sich senkte,erkannten wir Caspar Sturm,

den Reichsherold.

»Ich dachte, Siekönnen unsnicht beglei-ten«, meinteLuther.

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»Ich bin auch gar nicht da«, lachte Sturm, als er sichaus dem Sattel schwang. »Zumindest bin ich nicht offiziell als Reichsherold hier. Aber das weiß nie-mand. Der Kaiser hat mir Urlaub gegeben, und ichhabe beschlossen, euch ein paar Tage zu begleiten.«

Ich freute mich, ihn zu sehen. Er war ein Freund ge-worden, auf den man sich in Situationen verlassenkonnte, in denen ich nur wenigen Menschen traue.

Bevor wir uns ein Quartier für die Nacht suchten,überquerten wir den Rhein. Die meisten aus der Rei-tereskorte ritten zurück, statt die Überfahrt zu be-zahlen. Vielleicht nahmen sie an, dass die Anwesen-heit eines Reichsherolds Sicherheit genug bot; viel-leicht mussten sie auch zu ihren Familien zurück;oder vielleicht waren einige dabei, denen es garnicht darum ging, uns zu beschützen. Vielleichtwollten sie uns etwas antun und wurden nun durchSturm daran gehindert. Wie auch immer, vom Rheinan wurden wir nur noch von vier Männern und Caspar Sturm begleitet.

Unsere Reise verlief während der nächsten drei Tageohne Zwischenfälle, außer dass Luther immer wie-der darauf bestand, in jeder Stadt zu predigen, wenner dazu aufgefordert wurde. Wir warnten ihn und er-innerten ihn daran, dass er sich damit dem Befehl desKaisers widersetzte, aber Luther kümmerte sich nichtdarum.

Dann eines Tages, als der Reichsherold große Beden-ken äußerte, sagte Luther: »Ich habe das Urteil desKaisers genauso wenig akzeptiert wie die Bulle desPapstes. Gott ist mein Richter! Warum sollte ich Men-schen eher gehorchen als Gott?«

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»Aber lieber Doktor«, protestierte Caspar Sturm,«wenn Sie nicht an Ihre eigene Sicherheit denken,denken Sie wenigstens an uns. Sehen Sie nicht, wieIhr Predigen mich in Verruf bringt? Ich begehe keinUnrecht, wenn ich Sie einfach nur begleite. Ich habeUrlaub, und Sie genießen immer noch das freie Geleitdes Kaisers. Aber von mir zu erwarten, dass ich ruhigzusehe, wenn Sie die Befehle des Kaisers missachten… damit bin ich genauso schuldig.«

»Es tut mir wirklich Leid«, sagte Luther in ganz ru-higem Tonfall. »In der Bibel steht jedoch: ›Predigt zurZeit und zur Unzeit.‹ Der Kaiser mag erklärt haben,dass mein Predigen unzeitgemäß ist, aber das ent-hebt mich nicht der Verantwortung, dass ich GottesWort verkündigen soll.«

Wir standen in ehrfürchtigem Schweigen, als Lutherund Sturm ihre Meinungsverschiedenheit austrugen.

Schließlich senkte Sturm den Kopf und blickte dannzu Luther hoch. »Vielleicht sollte ich umkehren. Ichhabe sowieso nur noch zwei Tage, bevor ich zum kai-serlichen Hof zurückkehren muss. Sie sind momen-tan wohl nicht in Gefahr. Sie haben Freunde in jederStadt, die sich um Ihre Sicherheit kümmern werden.«

»Das ist wahrscheinlich das Beste«, sagte Luther. »Ichverstehe Ihre Lage. Wir sind sehr dankbar für Ihre Be-gleitung und …« Luther streckte langsam die Handaus, «… für Ihre Freundschaft.« Der Reichsheroldnahm die angebotene Hand und schüttelte sie herzlich.

»Vielleicht ist es am besten, wenn wir Sie jetzt auchverlassen, Doktor Luther«, sagte einer der bewaffne-ten Reiter, die uns seit Worms begleitet hatten.

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Ich war darüber erschrocken. Wir hatten keine Eskor-te erwartet, doch da hatten wir auch noch vor, unbe-merkt zu reisen. Jetzt waren wir vier Tage lang miteiner großen Gruppe gereist. Die Menschen an un-serem Weg wussten, dass wir kamen, es war fast wieauf unserem Hinweg. Ohne Caspar Sturm und dieanderen waren wir leichte Beute für jeden, der es aufuns abgesehen hatte. Ich blickte hinüber zu den Ber-gen, die immer näher kamen, wo die Wälder dichtwaren und die Städte weiter auseinander lagen.Doch was konnten wir tun?

An diesem Abend predigte Luther auf dem Markt-platz von Hersfeld. Die Menschen baten ihn zu sprechen, aber der Pfarrer wollte kein Risiko einge-hen und stellte seine Kirche nicht zur Verfügung. Erbeteuerte jedoch immer wieder, dass er DoktorLuther sehr bewunderte. Deshalb versammelten sichalle auf dem Marktplatz, wo Fackeln angezündetwurden, um den Platz zu erhellen.

Ich stand am Rand im Schatten, als eine Stimme zumir sagte: »Ihr habt ja gar keine Eskorte mehr.« In-zwischen war mir diese Stimme vertraut. Ich drehtemich um und konnte in der Dunkelheit ihr Gesichterkennen.

»Marlene! Was tust du hier?«

»Pst. Ich bin deine Kontaktperson; weißt du nichtmehr?«

»Aber ich hatte keine Ahnung, dass du uns vonWorms aus gefolgt bist.«

Sie war wirklich hübsch im flackernden Schein derFackeln, das konnte aber mein Misstrauen nicht aus-

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löschen. »Du weißt, dass du unsere geheime Abreiseaus Worms zunichte gemacht hast? Das war wirklichzu dumm, eine Eskorte von zwanzig Reitern zu orga-nisieren.«

»Ich? Ich habe keine Eskorte organisiert.«

»Wer sonst wusste denn von unserem Plan? Ich habedir vertraut und erzählt, dass wir abreisen würden.Niemand sonst wusste davon.«

»Da du den ganzen Tag damit zugebracht hast, ein-kaufen zu gehen und den Wagen zu packen, konntees eine ganze Reihe Leute wissen – zum Beispiel derStallmeister.«

An ihn hatte ich nie gedacht. Nachdem wir Wormsverlassen hatten, hatte ich angenommen, dass esMarlene und die Männer hinter ihr waren, die dieseEskorte organisiert hatten. Obwohl es mein Ver-trauen zu ihr erschüttert hatte, hatte ich schließlichdiese Eskorte als Sicherheitsmaßnahme akzeptiert.

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»Wir machten uns selbst Sorgen über diese Reiter«,meinte Marlene, «besonders als auch noch derReichsherold dazukam. Es sah aus wie eine Falle.«

»Woher weißt du, dass Caspar Sturm kam? Hast duuns die ganze Zeit nachspioniert?«

»Es ist meine Aufgabe, immer in Kontakt mit dir zubleiben. Daher muss ich so eng bei euch bleiben, wiees nötig ist.«

»Über Caspar Sturm brauchst du dir keine Sorgen zumachen. Er ist ein echter Freund geworden. Ichwürde ihm eher vertrauen als …« Beinahe hätte ich›dir‹ gesagt, aber als ich ihre blauen Augen imFackelschein sah, hielt ich es nicht mehr für klug.

»Ich sehe dich in Eisenach wieder«, sagte sie undwollte gehen.

»Warte!«, rief ich. »Wir reisen nicht durch Eisenach.Doktor Luther will vorher nach Osten in die Thürin-ger Berge fahren. Er hat dort Verwandte, die er gernbesuchen möchte.«

»Wohin genau?«, fragte Marlene.

»Ich weiß es nicht. Er nannte ein Dorf namens Mohraoder so ähnlich.«

»Danke. Wir sehen uns wieder.« Damit war sie ver-schwunden.

***Am nächsten Morgen brachen wir früh auf, und ichhielt an jeder Kreuzung und in jedem Dorf Ausschaunach Marlene. Ich schob meine Tagträume auf dieLangeweile, die es mit sich brachte, einen WagenMeile um Meile zu lenken. Ich würde bestimmt nicht

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an Mädchen denken, wenn ich etwas Interessantereszu tun hätte.

Wir bogen schließlich auf eine kleinere Straße Rich-tung Osten ab, und bald begann der Weg zu steigen.»Eigentlich ist es eine Abkürzung«, sagte Luther.»Statt erst in den Norden nach Eisenach und dannnach Osten zu fahren, nehmen wir diesen Weg undstoßen bei Gotha wieder auf die Hauptstraße. Wirwerden damit Eisenach umfahren.«

»Wenn es eine Abkürzung ist, warum fährt dannnicht jeder hier entlang?«, fragte ich.

»Du wirst es sehen«, antwortete Luther.

Schon nach kurzer Zeit merkte ich es. Die Straße warso steil, dass wir nur sehr langsam vorwärts kamen.Immer wieder musste ich auf dem Weg an Marlenedenken: wie ich sie vor dem Gasthaus in Wittenbergbeinahe umgerannt hätte, wie sie mitten in der Nachtdurch Düben ritt, wie sie beim letzten Mal in demFackelschein neben mir gestanden hatte.

Wenn ich ihr wirklich vertrauen konnte, dachte ich,während ich die Pferde um einen Platz herumführte,der vom Frühjahrsregen völlig ausgewaschen war,war sie die Art Mädchen, für die ich mich interessie-ren könnte. Sie war wirklich hübsch, keine Frage.Aber es war noch mehr. Wie mutig musste sie sein,wenn sie ganz allein herumritt. Sie hatte Selbstver-trauen. So war kein anderes Mädchen, das ichkannte. Und wenn sie Luthers Ideen unterstützte …das sprach dafür, dass sie an Gott glaubte.

Auf der anderen Seite musste sie aus einer komi-schen Familie stammen, wenn ihre Eltern sie so he-

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rumziehen ließen. So etwas tat ein Mädchen einfachnicht!

Trotz der holperigen Straße saß Doktor Luther hintenauf dem Wagen und arbeitete an einer Predigt.Manchmal spielte er auch auf seiner Laute und sang.Bruder Johann hatte sich auf unserem Gepäck zu-sammengerollt und schlief … wie meistens.

Wir erreichten die Kuppe des Berges, und ich lenkteden Wagen einen steilen Weg hinunter bis zur Fähre,mit der wir über die Werra fahren wollten. Der Flussist an dieser Stelle sehr ruhig, doch als wir den Berghinunterkamen, sahen wir, dass nur ein Stück strom-abwärts der Fluss zu einem reißenden Strom wurde,der sich seinen Weg durch das Tal schnitt.

Diese Fähre war sehr viel besser als die, mit der wirauf dem Hinweg die Elbe überquert hatten; es be-reitete keine Schwierigkeiten, den Wagen und diedrei Pferde zu verladen. Ich blockierte die Räder,bezahlte den Fährmann und setzte mich hinten hin,um den Blick auf die schönen Wälder und die stei-nige Schlucht zu genießen. Ich bemerkte, dass derWald reich an Nadelbäumen war. Dadurch fiel dasneue sprießende Grün der Laubbäume umso mehrauf.

Wir befanden uns in der Mitte des Flusses, als icheine Gruppe von Männern sah, die am anderen Uferwarteten. Sie saßen alle auf großen Pferden, die un-ruhig an der Landestelle der Fähre hin und her tra-ten. Die Männer waren schwer bewaffnet, einige hatten eine Ritterrüstung an, aber sie hatten wederFlagge noch Banner, die verraten hätten, in wessenAuftrag sie unterwegs waren.

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Ein Schauer durchzuckte mich, und ich sprang vomWagen. »Wissen Sie, wer diese Männer sind?«, fragteich den Fährmann, während er gleichmäßig an demStock zog, um uns über den Fluss zu bringen.Er blickte auf, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen.»Keine Ahnung. Erwartet ihr jemanden? Es sind zuviele, als dass sie diesen Fluss auf einmal überquerenkönnten.«Wir jemanden erwarten? Nein, wir erwarteten nie-manden – zumindest niemanden, den wir treffenwollten. Aber sie mochten vielleicht auf uns warten.Ich spielte die Möglichkeiten durch. Es wäre eineideale Falle. Wir konnten ihnen nicht ausweichen. Ichwäre nicht einmal fähig, den Wagen durch die Mengehindurch zu lenken. Und wir konnten uns nicht vorihnen verstecken. Wir konnten nicht loslaufen und imWald verschwinden. Es gab kein Entkommen.Doch dann fiel mir etwas ein.Ich kletterte zur Rückseite unseres Wagens und holteeine alte Axt, die wir benutzten, um Feuerholz zuschlagen, wenn wir lagerten. Mit einem mächtigenSchlag teilte ich das Seil, das zwischen zwei Füh-rungsösen hindurchlief. Es war das Seil, das über denganzen Fluss gespannt war und das verhinderte,dass wir flussabwärts drifteten. Es war dasselbe Seil,an dem der Fährmann zog, um uns auf die andereSeite zu bringen.»W … Was hast du getan?«, schrie er, als das Seil sofort durch die Ösen schnellte und ins Wasserklatschte. Wir bewegten uns bereits flussabwärts.Sein Schrei weckte Bruder Johann und erregte die Auf-merksamkeit Luthers. »Was ist los?«, fragte Luther.

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»Diese Männer«, antwortete ich und deutete auf dasUfer. Im selben Augenblick wendeten sie ihre Pferde,ritten in unsere Richtung und zeigten auf uns. »EineFalle!«, sagte ich. »Sie warten auf uns, und es gabkeine andere Möglichkeit, ihnen auszuweichen.«

Die Strömung riss dem Fährmann das Seil aus derHand, und wir trieben auf die immer enger wer-dende Schlucht zu. Der Fährmann schrie mich an:»Du dummes Kind. Du hast meine Fähre auf demGewissen, vielleicht sogar unser Leben. Selbst wennwir die Stromschnellen überstehen, wird es Wochendauern, bis ich eine neue Fähre gebaut habe. Hast duden Verstand verloren? Welcher Teufel hat dich ge-ritten?«

Doch dann war keine Zeit mehr, mich anzuschreien.Die Gischt spritzte hoch, als wir uns den Strom-schnellen näherten. Der Fährmann befahl Bruder Jo-hann, ihm mit einem Ruder zu helfen, und DoktorLuther und ich hatten uns um das zweite Ruder zukümmern. »Sieh nach vorne! Nach vorne!«, schrie er.»Versuch nur, den Steinen auszuweichen. Wenn wirauflaufen, bricht das Floß!«

Das Floß tanzte schon auf und nieder, als wir die klei-nen Schnellen überquerten. Doch weiter vorne sahich sehr viel größere. Der Fährmann schrie und wiesuns an, die Fähre auf die Seite zu steuern, von der wirlosgefahren waren. Dann sah ich, warum. Wir steuer-ten direkt auf einen Wasserfall zu. Er war zwar klein,doch immerhin groß genug, uns umzuwerfen, wennnicht das Floß sowieso zerbrach. Doktor Luther undich zogen mit vereinten Kräften an dem Ruder, aberwir bewirkten offenbar gar nichts. Doch dann wur-

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den wir von einer anderen Strömung erfasst, die unsauf die sichere Seite des Flusses trieb.Als wir den Wasserfall erreichten, lag der größte Teilder Fähre im ruhigen Gewässer, doch die Seite, aufder der Fährmann und Bruder Johann standen, hingüber dem Abhang des Wasserfalls. Dadurch wurdedie Fähre so belastet, dass das Holz krachte undächzte, dass es über den ganzen Flusslauf zu hörenwar. Wir verloren beinahe das Gleichgewicht, undwir wären wahrscheinlich von Deck gefallen, wennwir nicht an den Rudern gehangen hätten.Die beiden Pferde, die vor den Wagen gespannt wa-ren, blieben ruhig, aber das Pferd hinten geriet in Pa-nik und bäumte sich auf. Beim zweiten Mal rutschtees aus und fiel über den Seitenrand ins Wasser. Eswar jedoch noch am Wagen festgebunden. Das Half-ter und das Seil waren sehr stabil, denn der Wagenwurde auf die Seite gezogen, und gleichzeitig zogensie den Kopf des Pferdes unter Wasser.»Schlag das Seil durch!«, schrie Luther, als ich hin-rannte. »Schlag es durch, oder wir verlieren alles.«Ich griff nach der Axt, die immer noch an Deck lag,und schlug das Seil entzwei. Das Pferd schwammschnell weg, während wir weiter stromabwärts trie-ben, und als ich wieder hinsah, hatte es festen Bodenunter den Hufen gewonnen und kletterte ans Ufer.Wir waren jedoch nach wie vor in Gefahr. Immermehr schäumte das Wasser vor uns. Ich blickte aufdas gegenüber liegende Ufer und sah die Reiter, dieweiter flussabwärts ritten, um mit uns mitzuhalten.An der nächsten Stromschnelle waren höhere Wel-len, die über den Fährrand schlugen. Der Fährmann

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schrie uns zu, wir sollten die Fähre auf die Seite dre-hen. »Wir müssen uns mit diesen Wellen bewegen,oder das Floß bricht auseinander«, rief er. Wieder zo-gen und zogen wir an unserem Ruder, und es gelanguns, die Fähre seitlich zu drehen, gerade als die Wel-len das Floß erfassten.

Auf und ab ging es. Auf und ab und auf und ab. Diebeiden Pferde auf dem Floß gingen in die Knie undfielen schließlich durch die Bewegung zur Seite. Sierollten angsterfüllt die Augen und quiekten wieSchweine, als sie versuchten, wieder aufzustehen.

Doch dann hatten wir es geschafft. Wir waren immernoch auf der Fähre.

Die nächste halbe Meile war das Wasser stiller, undich blickte zurück zu unseren Verfolgern. Sie hattenan den steilen Abhängen des Ufers angehalten. Esgab von dort aus keinen Weg mehr, auf dem sie unsstromabwärts hätten folgen können.

Wir drehten das Floß wieder nach vorne und triebendurch den engsten Teil der Schlucht. Wir hatten nochzwei Stromschnellen zu passieren, die lange nicht sogefährlich waren wie die, die die Pferde in die Kniegezwungen hatte. Dann kamen wir in ein kleines Tal,wo der Fluss ruhig dahinfloss, und wir konnten dieFähre ans Ufer lenken, wo wir sie auf einen schmalenSandstreifen laufen ließen.

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Gefangen genommen

Ich glaube, der Fährmann war genauso froh wiewir, dass er noch am Leben war, denn er schrie

mich nicht sofort an. Stattdessen half er uns, den Wa-gen von der Fähre auf den Weg zu bringen. Und daswar gar nicht so leicht.

Zuerst mussten wir Holz zusammentragen, um eineArt Rampe von der Fähre zu dem Sandstreifen zubauen. Doch der Sand war so weich, dass der Wagenbeinahe bis zur Achse einsank und die Pferde Mühehatten, die Hufe zu heben.

Mit Stöcken, die wir als Hebel benutzten, und Busch-werk, um einen festeren Untergrund zu schaffen, ge-lang es uns schließlich, ans Ufer auf eine wunder-schöne Wiese zu kommen.

»Wohin jetzt?«, fragte Bruder Johann.

»Das ist genau die richtige Frage zur richtigen Zeit«,knurrte der Fährmann. »Daran hätten Sie denken

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sollen, bevor dieses verrückte Kind das Seil zerschla-gen hat. Das werden Sie bezahlen. Sie werden mireine neue Fähre bezahlen«, sagte er. Dann drehte ersich zu mir um. »Was zum Teufel hast du dir dabeigedacht?«

»Es waren diese Männer am Ufer«, sagte ich. »Sie wa-ren hinter uns her, und es gab keine andere Möglich-keit, ihnen zu entkommen.«

»Hinter euch her? Du hast zu viel Phantasie! Wassollten sie von ein paar Mönchen und einem verrück-ten Kind in einem alten Wagen schon wollen?«

Ich blickte Doktor Luther an, aber er sah nur in denAbendhimmel. Ich glaube, es machte ihm Spaß, michso verlegen und nach Worten ringend zu sehen.

»Nun«, sagte ich kleinlaut, «Sie haben doch gesehen,dass sie versucht haben, mit uns mitzuhalten, als wirden Fluss hinuntergetrieben sind.«

»Ich habe nicht darauf geachtet.« Seine Stimme warsarkastisch. »Hast du daran gedacht, dass sie viel-leicht versucht haben, uns zu Hilfe zu kommen? Wirwaren in großer Gefahr, wenn du das nicht bemerkthaben solltest.«

»Wir haben durchaus Grund, vorsichtig zu sein«,sagte Doktor Luther schließlich. »Es gibt Menschen,die sähen mich lieber tot als lebendig. Wir müssenalso auf alle verdächtigen Umstände achten.«

Der Fährmann musterte meinen Herrn von oben bisunten. »Sie sehen aber sehr harmlos aus. Warum soll-ten Sie Feinde haben?«

Luther sah Bruder Johann und dann mich an. »SagtIhnen der Name Martin Luther etwas?«, fragte er.

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»Martin Luther? Sie sind Martin Luther? Natürlichweiß ich etwas von Martin Luther.« Der Mann nahmseine Kappe ab. »Du liebe Güte. Das werde ich mei-ner Frau erzählen. Welch ein Vorrecht, Sie auf meinerFähre haben zu dürfen.«

Luther brach in lautes Gelächter aus. »Auch wenn siedurch uns unbrauchbar geworden ist?«

»Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Ich hättealles getan, um Ihnen zur Flucht zu verhelfen«, sagteder Fährmann und drehte seine Kappe in den Hän-den. »Wir werden trotzdem dafür sorgen, dass Sieeinen Ersatz für Ihre Fähre bekommen«, versicherteihm Luther.

»Eigentlich war das sehr clever von dir, Junge. Wiebist du darauf gekommen, den Fluss hinunter zu flie-hen?«

Ich zuckte die Schultern. »Es gab keine andere Mög-lichkeit.«

»Aber ich möchte wissen, wie wir aus diesem Talwieder herauskommen«, sagte Bruder Johann.

»Oh, das ist kein Problem«, meinte der Mann. »Wirsind nur ungefähr drei Meilen den Fluss hinunterge-trieben, und am Ende dieses Tales ist ein Bauernhof.Von dort aus geht eine Straße über die Berge zu demkleinen Dorf Mohra, wenn sie nicht völlig vom Regenüberschwemmt wurde.«

»Mohra?«, fragte Luther. »Genau dort wollen wirhin. Alle meine Verwandten leben dort. Ach ja! Jetztweiß ich, wo wir sind.«

Wir brauchten den ganzen übrigen Nachmittag, umdurch den dichten Wald nach Mohra zu fahren. Das

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Dorf war sehr einsam gelegen. Wir sahen nur einenHolzfäller und zwei Bauern. In der Abenddämme-rung erreichten wir das kleine Dorf und hielten aneinem schönen Haus an.»Hier wohnt meine Großmutter«, sagte Luther undlächelte breit. Minuten später waren wir umgebenvon mehr Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins, alsich zählen konnte, geschweige denn, dass ich mir dieNamen hätte merken können.Obwohl niemand uns erwartet hatte, hatten LuthersVerwandte bald eine Art Dorffest im Garten organi-siert, und alle baten Doktor Luther, eine Predigt zuhalten. Natürlich hatte er eine parat – die, an der erden ganzen Morgen lang gearbeitet hatte.In dieser Nacht schlief ich gut, besser als währendder ganzen Reise. Doktor Luthers Großmutter gabmir ein Zimmer für mich allein mit einem Federbett.Welch ein Luxus!Am nächsten Morgen hatten wir ein wirklich üppi-ges Frühstück: frische Milch, frisches Brot – ganz luf-tig und weich – mit Käse und Marmelade und Tee.Doktor Luther schien überhaupt nicht in Eile. Außer-dem kam jeden Augenblick irgendein anderer Ver-wandter herein. Viele waren Bergarbeiter wie seinVater, einige waren Bauern, andere Holzfäller.Es war Nachmittag, als wir endlich auf den Wagenkletterten, der inzwischen mit einem großen Essens-korb beladen war, und in Richtung Gotha abfuhren.Ich hatte Marlene immer noch nicht gesehen, aber alsich über das Ereignis an der Werra nachdachte, ka-men mir Zweifel. Hatte sie dafür gesorgt, dass dieseMänner uns erwarteten? Wenn nicht sie, wer hatte

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ihnen gesagt, dass wir kommen würden? Jeder nor-male Mensch hätte angenommen, dass wir durch Eisenach fahren würden.Meine Gedanken und Gefühle waren völlig durch-einander. Konnte ich dem Mädchen vertrauen odernicht? Ich hätte ihr gerne vertraut …Schließlich schüttelte ich den Kopf, als ob ich sie da-mit aus meinem Kopf verscheuchen konnte, undkam zu dem Schluss, dass ich sie wahrscheinlich inein paar Tagen in Wittenberg sehen würde. Wenn siedort auftauchte, konnte ich vielleicht herausfinden,was geschehen war und welchen Platz sie in demGanzen einnahm.Durch den dichten Wald zu fahren, dauerte länger,als wir erwartet hatten. Die Straße war holperig unduneben. Die Sonne begann bereits unterzugehen,und noch immer war Gotha nicht in Sicht.Die Straße führte aus dem Wald hinaus und ging amWaldrand weiter, der Wald lag zu unserer Linkenund eine große Weide zu unserer Rechten. Auf deranderen Seite der Weide sah man ein kleines Bauern-dorf. Es gab nur vier oder fünf kleine Höfe, in denendie Bauern lebten, doch da die Dunkelheit herein-brach, fragte ich: »Meinen Sie, wir sollten die Nachtdort verbringen? Oder sollen wir nach einem Platzsuchen, wo wir lagern können?«Luther und Bruder Johann blickten hinüber zu denHäusern und überlegten, ob die Leute zu arm wären,um noch drei hungrige Mäuler mehr zu versorgen.Auf den Wiesen sahen wir Kinder spielen. Ein Hundmusste unseren Geruch erfasst haben, denn er be-gann zu bellen.

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Plötzlich kam eine Gruppe von Reitern donnernd ausdem Wald. Obwohl es fast dunkel war, glaubte ichdieselben Leute zu erkennen, die am Tag zuvor amFluss auf uns gewartet hatten.

Bruder Johann war der flinkste von uns allen. Ersprang von dem Wagen und rannte über die Weide zudem Dorf. Er schrie aus Leibeskräften: »Hilfe! Hilfe!«

Als zwei der Reiter sich bereitmachten, loszureiten,deutete einer der Männer mit Pfeil und Bogen im An-schlag auf Doktor Luther: »Sind Sie Martin Luther?«

»Ja, der bin ich«, antwortete er schnell.

»Vergesst den, der wegläuft«, rief der Mann den bei-den Reitern nach. »Luther ist hier.«

Bruder Johann und die Reiter hinter ihm hatten fastdas Dorf erreicht, bevor die beiden Verfolger um-kehrten.

»Absteigen. Steigt von eurem Wagen herunter«, be-fahl der Anführer der Gruppe. Und zu den anderensagte er: »Fesselt sie beide.«

Es geschah alles so schnell, und es war so dunkel,dass ich nicht sagen kann, ob es sechs oder acht Rei-ter gewesen sind. Aber sie hatten sofort Seile um un-sere Arme geschlungen und ritten mit uns an derLeine in den Wald. Erst jetzt hörte ich einige schwa-che Schreie, die von dem Dorf hinter der Weide ka-men. Ich blickte zurück und sah Bruder Johann mitdrei oder vier Bauern, die hinter uns herrannten mitMistgabeln und Sensen in der Hand. Ich stöhnte.Diese Hilfe kam zu spät.

Als wir erst im Wald waren, musste ich sehr aufpas-sen, dass ich nicht über die Wurzeln stolperte oder

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dass mir nicht ein herunterhängender Zweig ins Ge-sicht schlug. Ich konnte meine Arme nicht bewegen,da die Seile darum geschnürt waren. Bald war ichvon der Rennerei völlig außer Atem. Es wundertemich, dass Doktor Luther nicht hinfiel.

Einmal stolperte er, und ich versuchte, ihm zu Hilfezu kommen, aber das Seil zog mich zurück, so dassich gegen einen Baum rannte.

Schließlich hielten unsere Entführer auf einer kleinenWaldwiese an. Dort warteten zwei Pferde. »Aufstei-gen«, sagte der Anführer. Die Fesseln wurden gelöst,und man half uns in den Sattel.

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»Hier, trinkt.« Man gab jedem von uns eine Flascheaus Leder mit frischem, kaltem Wasser. Ich hatte garnicht bemerkt, wie durstig ich war, und ich trankeinen großen Schluck.

»Jetzt ist es genug. Wir haben keine Zeit mehr«, sagteder Anführer, nachdem wir beide getrunken hatten.Er nahm die Flasche wieder und ritt in den Wald.

Zwischen den Bäumen war es inzwischen stockfins-ter, und nur, wenn wir an eine Lichtung oder einenbreiten Weg kamen, wo die Bäume über uns einenSpalt offen ließen, konnte ich etwas sehen.

Wir ritten so schnell, wie die Pferde vorwärts kamen,oft im Galopp, manchmal im Trab, selten im Schritt.Ich habe keine Ahnung, wie weit wir ritten, aber diePferde wussten offenbar, wohin.

Schließlich kamen wir auf eine breite Straße. Ein Rei-ter mit einer Kapuze, die er tief ins Gesicht gezogenhatte, ritt an meine Seite, und eine leise, jungeStimme sagte: »Wir hätten euch gestern schon ge-habt, wenn ihr nicht diese verrückte Flussfahrt unter-nommen hättet. Das hat viel Zeit gekostet.«

Was? Die Stimme hörte sich an wie die von Marlene,aber bevor ich antworten konnte, holte ein weitererReiter auf und ritt zwischen uns.

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Die dunkle Burg

Wir ritten aus dem Wald heraus durch die Fel-der. Der Mond ging auf, und endlich konnte

ich unsere Entführer erkennen. Sie achteten immerdarauf, dass zwei oder drei Reiter hinter uns waren,während die anderen vorausritten. Ich zählte sechsReiter außer Doktor Luther und mir selbst.

Ich bemerkte, dass wir immer in Schritt fielen, wennwir an einem Bauernhof vorbeikamen. ›Vielleichtkönnen wir so fliehen‹, dachte ich. Wenn wir aneinem Hof vorbeiritten, konnte ich laut um Hilfeschreien. Aber nach einer Weile gab ich diesen Ge-danken auf. Was konnte ein verschlafener Bauer ge-gen sechs bewaffnete Männer ausrichten?

Aber … waren es wirklich alles Männer? Jetzt, wo ichetwas sah, wollte ich den Reiter mit der Kapuze ge-

nauerbetrach-

ten. Erritt ein

Stück vormir, und ich

versuchte, näherzu kommen.

Als wir wieder in denWald hineinritten, er-

kannte ich nur noch die Um-risse der Männer um michherum, wenn das Mondlicht

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durch die Bäume fiel. Ich trieb mein Pferd ein Stückvorwärts. »Bist du es?«, fragte ich einen Reiter.

»Wer sollte ich denn sonst sein?«, grunzte eineStimme.

Erschreckt ließ ich mich zurückfallen, doch späterversuchte ich es mit einem anderen Reiter, der mirzur Antwort gab: »Es kommt darauf an, wen du er-wartest.« Es war die Stimme eines Mannes.

Schließlich sah ich den Reiter mit der Kapuze und rittan seine Seite. Diesmal war die Kapuze jedoch abge-zogen und hing der Person über den Rücken; ich sahlanges, dunkles Haar im Mondlicht schimmern.

»Marlene! Was soll das Ganze?«, fragte ich zornig. Ichmusste mich beherrschen, dass ich nicht laut schrie.Ein schneller Blick nach hinten verriet mir, dass Doktor Luther einige Pferdelängen hinter mir ritt.»Warum habt ihr uns in einen Hinterhalt gelockt?«

»Das ist kein Hinterhalt«, sagte sie ruhig. »Es ist eureRettung.«

»Rettung?«, fragte ich. »Wie sollte das unsere Ret-tung sein? Und was hatte das mit unserer Flucht denFluss hinunter zu tun? Woher wusstest du überhauptdavon, es sei denn, du hast dafür gesorgt, dass dieseVerbrecher auf uns warteten?« Ich wollte unbedingtAntworten auf meine Fragen, aber Marlene gabihrem Pferd die Sporen und ritt voraus.

Ich war völlig verwirrt. Was war da los? Sie behaup-tete, es war eine Rettung. Ich kam mir jedoch wie einGefangener vor, und es sah mehr und mehr so aus,als wäre Marlene eine Spionin für diese nächtlichenReiter!

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Nach einer Weile machten wir Halt, offenbar um diePferde zu tränken. Wir stiegen ab. Sofort war DoktorLuther an meiner Seite. »Karl«, flüsterte er, «wennich dir ein Zeichen gebe, fliehen wir los. Du reitest di-rekt vor mir. Wenn wir wieder in dichten Wald kom-men, lass dich weit zurückfallen, so dass viel Platzzwischen dir und dem Reiter vor dir entsteht. Wenndann eine Abzweigung kommt … vielleicht schaffenwir es dann.« Damit ging er wieder zu den anderenund bat unsere Entführer um etwas Wasser.

Als wir wieder aufstiegen, lenkte ich mein Pferd so,dass Luther direkt hinter mir ritt. Als wir weiterrit-ten, ließ ich mich zurückfallen. Doch sofort rief einerder Männer hinter uns: »Aufschließen, da vorne!«Das hatte nicht geklappt. Ich musste warten, bis derWeg schmaler wurde und es dunkler war.

Doch dann begann ich mich zu fragen: ›Was ist,wenn Marlene die Wahrheit gesagt hat? Was ist,wenn es wirklich unsere Rettung war?‹ Das hattensie und die Männer hinter ihr, die mich in Wormseingeweiht hatten, geplant. Sie sorgten für die Ret-tung, und meine Aufgabe war es, dafür zu sorgen,dass der Plan Erfolg hatte, indem ich sie über alles in-formierte, was Doktor Luther tat und wo er hingehenwollte.

Außerdem hatte Marlene geschimpft wegen unsererFlucht über den Fluss. Woher hatte sie davon ge-wusst, wenn nicht die Männer, die uns auf der ande-ren Seite der Werra erwartet hatten, und diese Reiterein und dieselben waren? Wenn dies eine Rettungs-aktion war, war vielleicht auch der Empfang amFluss Teil des Plans gewesen.

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Ich überlegte hin und her: Sollte ich ihr vertrauen?Oder sollten wir versuchen zu fliehen? Dann kamenwir wieder in einen dichteren Wald, und der Wegwurde schmaler und kurvenreicher.

»Jetzt könnte es klappen«, flüsterte Doktor Lutherhinter mir.

Ich versuchte, mich zurückfallen zu lassen, bis dernächste Reiter drei Pferdelängen vor mir war. »Passauf«, meinte Luther.

Ich passte auf, aber ich war immer noch unsicher, wasich tun sollte. Konnte ich Marlene vertrauen? Es waralles so verwirrend. Wenn es eine Rettungsaktion war,warum sagten uns diese Leute das nicht einfach? Na-türlich wollte Doktor Luther fliehen, denn er wusstenichts von ihren Rettungsplänen. Aber … wenn ichihm half, vor den Menschen zu fliehen, die ihm eigent-lich helfen wollten? Ich versuchte, das Für und Widerabzuwägen. Ein wilder Ritt durch den dunklen Wald.Wenn wir es schafften, konnten wir nach Wittenberggelangen … aber es bestand immer noch die Möglich-keit der Verhaftung – keine besonders rosige Aussicht.Oder wir konnten bei diesen Reitern bleiben, weil einMädchen mich gebeten hatte, ihr zu vertrauen. Plötz-lich wusste ich, was ich zu tun hatte.

Der Reiter hinter Luther war in einer Biegung außerSicht geraten, die Gelegenheit war günstig. UnserePferde gingen in einem schnellen Schritt, und als wirdiese unübersichtliche Rechtskurve hinter uns gelas-sen hatten, bemerkte ich, dass man, wenn man nochweiter nach rechts ritt, in einen Hohlweg kam, dersteil nach unten führte. Doktor Luther war dicht hin-ter mir und erkannte die Chance.

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»Jetzt«, sagte er.

Ich ließ mein Pferd in die Abzweigung springen, aberdann zog ich die Zügel so hart, dass es sich auf-bäumte, wieherte und mich beinahe rückwärts ab-warf. Ich hatte meine Entscheidung getroffen: Ichwollte Marlene vertrauen.

Damit blockierte ich den Fluchtweg vollständig.Doktor Luther kam nicht an mir vorbei, selbst wenner hätte allein fliehen wollen.

Als der Reiter hinter uns die Unruhe hörte, schloss erzu uns auf und sagte: »Nicht dort entlang. Zurückhier auf den Weg, und haltet euch an den Reiter voreuch. Wir wollen euch nicht mitten in diesem Waldverlieren.«

»Was war denn mit dir los?«, fragte Luther durch diezusammengebissenen Zähne. »Wir hatten die Mög-lichkeit zu fliehen, und was hast du daraus gemacht?«

Ich antwortete nicht. Ich hatte meine Entscheidunggefällt. Nun musste ich damit leben.

Nach kurzer Zeit ritten wir wieder auf einer offenenStraße, und da gab es keine Möglichkeit mehr, seit-wärts zu verschwinden, ohne dass die Entführer esgemerkt hätten. Die Straße stieg steil an; und als wirdie Spitze des Berges erreicht hatten, sahen wir diemächtigen Mauern einer großen Burg.

Wir hielten an, und der Reiter, der der Anführer zusein schien, ritt an der langen Reihe vorbei und wiesalle an: »Ruhe! Ruhe. Niemand erwartet uns in derBurg.«

Dann ritt er zurück an die Spitze und pfiff zweimal.In einem Turm leuchtete ein kleines Licht auf, und

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dann hörte ich das Rasseln einer Kette. Die Zug-brücke wurde für uns heruntergelassen.

Wir ritten alle gleichzeitig über die Zugbrücke, um sowenig Lärm wie möglich zu machen. Im Burghofstiegen wir ab, und ein großer Ritter kam auf uns zu.Sein Helm glitzerte im Mondlicht. »Willkommen«,sagte er flüsternd. »Ich bin der Burgherr. Würden Siemir bitte folgen?«

Diese Stimme … ich war sicher, dass ich sie schoneinmal gehört hatte, aber ich wusste nicht mehr, wo.

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Der Burgherr führte uns durch verschiedene dunkleGänge und zwei Treppen hinauf. Dieses Labyrinthwurde nur gelegentlich von Fackeln erhellt, die inden Steinwänden steckten. Der Burgherr ging vo-raus, Luther folgte ihm. Von Zeit zu Zeit versuchteich, sie zu überholen, um in das Gesicht des Manneszu sehen, aber die Gänge waren zu schmal. Dannhielt der Burgherr an einer Fackel an. Darunter standeine Kiste, aus der er eine weitere Fackel nahm undsie anzündete. Weiter ging es durch einen dunklenTunnel, bis der Mann vor einer Leiter anhielt, diedurch eine Falltür in der Decke nach oben führte.

»Jetzt müssen Sie die Leiter hinauf, Doktor Luther«,sagte er und übergab Luther die Fackel. Bevor Luthermit dem Licht in dem dunklen Loch in der Decke ver-schwand, konnte ich das Gesicht des Burgherrn se-hen. Seine Stimme war mir bekannt, aber ich konnteimmer noch nicht genug sehen, um ihn zu erkennen.»Jetzt du«, sagte er zu mir.

Doktor Luther gab mir die Hand, um mir durch dieFalltür zu helfen. »Das sind eure Räume«, kam dieStimme des Burgherrn von unten. »Es tut uns Leid,dass nicht mehr Platz ist. Morgen können wir mit-einander sprechen.« Dann zog er die Leiter nach un-ten. Die Falltür wurde nach oben geklappt undschnappte leise zu.

Ich sah Doktor Luther an. Ich weiß nicht, was er ge-dacht hat. Aber ich weiß, was ich gedacht habe. Wa-ren wir wirklich gerettet worden, oder saßen wir imGefängnis? Es war unmöglich, das zu sagen. Von un-serer Seite jedenfalls gab es keine Möglichkeit, dieFalltür zu öffnen.

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Gefangen im Turm

Am nächsten Morgen erwachte ich von dem fröh-lichen Gesang der Vögel. Als ich an das Fenster

trat, entdeckte ich unterhalb der Mauern ein Meervon Bäumen, das sich bis weit ins Tal hineinzog biszur nächsten Stadt, die man in der Ferne sah.

Doktor Luther war auch schon auf und trat nebenmich. »Ein schöner Ausblick, nicht wahr?«, meinteer.

»Es wäre schöner, wenn wir diesen Ausblick vondraußen her hätten«, antwortete ich.

»Ja, sicher. Die Frage ist nur, warum hat man unshierher gebracht.«

»Ich würde auch gern wissen, wohin man uns eigent-lich gebracht hat.«

»Oh, ich weiß, wo wir sind. Die Stadt, die du dort hin-ten siehst, ist Eisenach. In dieser Richtung waren wirunterwegs, bevor wir den Fluss hinuntertrieben. Dashier muss also die Wartburg sein. Ich habe sie schonaus der Entfernung gesehen,aber ich bin nie dort gewe-sen. Ich habe jedoch gehört,dass diese Burg eine starkeFestung ist. Es ist nichtleicht, sie zu erstürmen.«

Unser Quartierlag sehr hochin der Burg,

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und die Burg war auf einem so hohen Berg, dassselbst das Herankommen an den Fuß der Burg eineanstrengende Kletterei war. Wir hatten zwei Zim-mer, die durch eine Bogentür getrennt waren. DieseTür war so niedrig, dass ich mich bücken musste, umhindurchgehen zu können. Die Einrichtung warsparsam: zwei schmale Liegen, ein kleiner Tisch, einSchreibpult, zwei Stühle und ein Nachttopf.

»Merkwürdig ist«, überlegte Luther, «dass wir inSachsen sind, und diese Burg gehört Kurfürst Fried-rich. Ich habe ihn immer als einen Freund betrachtet– zumindest solange es für ihn politisch nichts zu be-fürchten gab. Warum sollte er also gegen die Zusagedes Kaisers, dass ich sicher reisen dürfte, vorgehenund uns auf offener Straße angreifen?«

Die Burg des Kurfürsten? Ich schluckte hart an demKloß, der in meinem Hals aufzusteigen drohte.»Glauben Sie … ich meine, könnte es sein, dass derKaiser diese Zusage aufgehoben und Ihre Verhaf-tung befohlen hat?«, fragte ich langsam.

»Der Kaiser kann alles tun«, sagte Luther mit einemSchulterzucken. »Aber wenn Kaiser Karl meine Ver-haftung befohlen hat, und wenn Kurfürst Friedrichso schnell darauf reagiert und mich gefangen hat,könnte es wirklich sein, dass ich an höherer Stellekeine Fürsprecher mehr habe.«

»Außer im Himmel«, sagte ich.

»Recht hast du, Karl. Du hast Recht.« Luther lächelte.»Wo ist mein Glaube geblieben? Ein kleines Unglückgeschieht, und schon vergesse ich, wer das Univer-sum beherrscht.« Er blickte wieder aus dem Fenster.

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»Karl, dies scheint eine Burg zu sein, die niemandeinnehmen kann, aber denk daran, welch eine Fes-tung unser Gott ist. Es gibt nicht Seinesgleichen aufdieser Erde.«

In diesem Moment hörte man ein Knacken im Fußbo-den, und die Falltür öffnete sich langsam. Die Leiterwurde angelegt, und in der Öffnung erschien diemächtige Gestalt des Burgherrn, der uns am Abendzuvor empfangen hatte. Hinter ihm kam Marlene. Siebrachten uns Frühstück, Wasserflaschen und eineKanne mit dampfendem, heißem Tee.

»Esst etwas«, sagte der Burgherr. Und jetzt, da ichihn im Licht sah, erkannte ich ihn auch. »Sie sind derMann, der mich in Worms in diesen Keller bringenließ.«

»Ja, mein junger Freund – Karl Schumacher, unsereKontaktperson. Du hast deine Sache gut gemacht …außer dieser unerwartet langen Überfahrt über dieWerra.«

Ich holte tief Luft. Vielleicht … vielleicht hatte ich dierichtige Entscheidung getroffen, dass ich am Abendzuvor nicht geflohen war. Es gab keinen Zweifel, die-ser Mann hatte mich in Worms in dem Keller zurKontaktperson erklärt. Er sagte, es ginge um eine›Rettung‹. Auch Marlene hatte immer wieder gesagt,dass sie Doktor Luther helfen wollten. Vielleichthatte ich richtig gehandelt. Aber wenn es so war,warum hielt man uns dann hier fest? Hatten sie michgetäuscht? Ich war immer noch unsicher.

Luther nahm ein Stück Brot und eine Tasse Tee. Ersaß an einer Ecke des Schreibpultes. »Nehmen Sie

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Platz«, sagte er und deutete auf die beiden Stühle. Ichsaß auf meiner Bettkante. Dann meinte Luther miteinem sehr verwirrten Gesichtsausdruck: »Was hatdas alles zu bedeuten, Karl? Du scheinst diesen Mannzu kennen. Und er nennt dich seine ›Kontaktper-son‹.«

»Vielleicht sollte ich es erklären«, begann der Burg-herr. »Kurfürst Friedrich macht sich seit einiger ZeitSorgen, dass Sie nicht lebend aus Worms herauskom-men. Deshalb hat er sich so dafür eingesetzt, dass Siediese Zusage einer sicheren Reise bekommen. Aberman kann nie vorhersagen, was diesem jungen Kai-ser einfällt. Er hätte diese Zusage an jedem Tag auf-heben können.

Deshalb hat der Kurfürst michgebeten, für Ihre Sicherheitzu sorgen. Er hat nichtsangeordnet. Ja, er willauch gar nichtwissen,

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was wir machen, denn er erwartet, dass man ihn des-wegen verhört, und er möchte ehrlich sagen können,dass er von nichts weiß.

Ich überlegte, dass das Sicherste wohl wäre, wennwir Sie entführen würden. Normale Diebe und –noch wahrscheinlicher – Männer, die für Ihre Feindearbeiten, konnten Ihnen zu jeder Zeit auf der Streckebegegnen. Daher beschlossen wir, einen Angriff vonStraßendieben vorzutäuschen, in der Hoffnung, dassder Kaiser überzeugt werden kann, dass einige über-eifrige Kirchenleute sich die Situation zunutze ge-macht haben und Sie schon tot sind.«

Ich blickte Marlene an. Ein Lächeln umspielte ihrenMund.

»Aber«, fuhr der Burgherr fort, «wir brauchten eineKontaktperson, jemanden, der nahe genug bei Ihnenwar, um uns über jede Ihrer Bewegungen zu infor-mieren. Damit hat Karl uns geholfen.«

»Hast du das alles gewusst, Karl?«, fragte DoktorLuther.

»Nein, nicht ganz … aber ich wusste einen Teil da-von. Ich habe eingewilligt, bei Ihrer Rettung zu hel-fen. Aber ich hatte keine Ahnung von dem Hinter-halt, bis Marlene mir gesagt hat, was am Fluss hättepassieren sollen …«

»Du wolltest mich verraten, Karl?«, unterbrach Dok-tor Luther. »Du hast diesen Leuten gesagt, wo wirhingehen wollten und was wir taten? Wie konntestdu nur?«

»Einen Augenblick, einen Augenblick«, beruhigteihn der Burgherr. »Versuchen Sie, uns zu verstehen,

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Doktor Luther. Sie sind zu Ihrer eigenen Sicherheithierher gebracht worden. Auch wenn Sie unbescha-det nach Wittenberg gelangt wären, hätte es nur we-nige Tage gedauert, bis man Sie verhaftet hätte. Dasist sicher! Und dann hätte nur noch ein Wunder Sievor dem Scheiterhaufen gerettet.«

»Nun, wahrscheinlich ist es so«, gab Luther zu.»Aber, Karl, wie bist du mit ihnen in Kontakt getre-ten?«

Ich war erleichtert, dass sich alles zum Guten wende-te. »Wissen Sie noch, als wir durch Düben kamen undich Ihnen gesagt habe, dass jemand unseren Wagenuntersuchte und dann aus dem Ort galoppiert war?«

»Hm, ja. Du dachtest, dass es dieses Mädchen war,das du in Wittenberg gesehen hast.«

»Ja. Sie war es auch. Und das ist dieses Mädchen«,sagte ich und deutete auf Marlene. »Ich traf sie inWorms, und sie sorgte immer wieder dafür, dass ichmit ihr sprechen konnte, während wir unterwegs wa-ren. Aber eines verstehe ich nicht«, meinte ich undwandte mich an Marlene, «warum du? Warum einjunges Mädchen, das allein durch die Gegend reitet?«

Marlene lachte. »Das ist mein Vater«, sagte sie undzeigte auf den Burgherrn. »Und er war nie weit weg.«

»Dein Vater?«, fragte ich. »Aber warum warst dunicht hier in der Burg, hattest schöne Kleider an undhast gelernt, wie man sich bei Hof benimmt?«

»Das habe ich schon. Ich meine, ich will all dieseDinge lernen. Nur …«

»Vielleicht kann ich das erklären«, bot der Burgherran. »Meine Frau – Marlenes Mutter – starb vor acht

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Jahren. Ich habe keine anderen Kinder, und ichschätze Marlenes Gesellschaft sehr. Daher habe ichihr all die Dinge beigebracht, die ich kann: Reiten, Bo-genschießen und wie man sich in allen Lebenslagenzurechtfindet. Und sie ist sehr begabt und mutig.«

»Nun gut, aber Mädchen …«

»Karl«, sagte Doktor Luther, «sicher erinnerst dudich an Johanna von Orleans, das französische Mäd-chen, das sein ganzes Land im Kampf zum Sieg führ-te. Jeder, der Mut hat, kann es zu etwas bringen.«

Was sollte ich dazu noch sagen?

Doktor Luther wandte sich an den Burgherrn. »Ichschätze Ihren Einsatz. Wie lange muss ich hier bleiben?«

Der Burgherr räusperte sich. »Ich schlage vor, Siebleiben in diesen Räumen, ungesehen von allen Leu-ten hier in der Burg, bis Ihr Haar und Ihr Bart ge-wachsen sind. Dann können Sie sich im Burggeländebewegen, aber Sie müssen sich verkleiden und dür-fen nicht wie ein Mönch aussehen. Ohne Verklei-dung ist nicht sicher, ob nicht ein Spion Sie vielleichterkennt.«

Luther runzelte die Stirn. Ich wusste, es fiel ihmschwer, seine Freiheit aufzugeben, zu kommen undzu gehen, zu lehren und zu predigen, wie er wollte.»Und wie soll ich mich verkleiden?«, fragte erschließlich.

Plötzlich kam mir eine Idee. »Dies ist eine Burg, inder kämpfende Ritter zusammenkommen. Warumwollen Sie kein Ritter sein … wie Sie es immer seinwollten? Sie könnten Ritter Georg sein!«

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Doktor Luther lächelte. »Aber das wäre ich nichtwirklich. Ich würde nur so tun, als ob.«

»Was dann? Sie brauchen eine Verkleidung. Undwas ist normaler in einer Burg als ein Ritter?«

»Eines noch«, sagte ich und drehte mich zu Marleneum. »Was hast du im Gasthaus zum Raben im letztenWinter in Wittenberg gemacht? Woher wusste Jo-hann Eck, dass Luther die Bulle verbrannt hat, nurwenige Augenblicke, nachdem du es selbst gesehenhattest? Hast du es ihm erzählt?«

Marlenes Gesicht wurde weiß. Schließlich sagte sie:»Das war mein großer Fehler. Ich wohnte dort, dasGasthaus gehört meinem Cousin. Und mein Vaterund ich waren immer sehr interessiert an Luther. Ichhabe dich an dem Tag gesehen, als du die Bulle vonder Kirchentür abgenommen hattest.«

»Ich weiß. Das war auch das erste Mal, dass ich dichgesehen habe.«

»Nun«, fuhr sie fort, «an dem Tag, als Doktor Lutherdie Bulle verbrannte, rannte ich zurück zum Gast-haus und erzählte alles meinem Cousin. Ich wusstenicht, wer Johann Eck war und dass er direkt dane-ben saß und alles hörte.« Sie drehte sich zu DoktorLuther. »Als ich merkte, was ich getan hatte, be-schloss ich, Ihnen zu helfen. Deswegen folgte ich Ih-nen nach Düben und traf mich später mit meinemVater. Es tut mir so Leid …«

»Mach dir keine Sorgen, mein Kind«, unterbrachLuther. »Es war eine öffentliche Sache. Eck hätte essowieso innerhalb einer Stunde erfahren.«

Marlene blickte mich an, und wir lächelten beide.

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***Die Tage vergingen; es war nicht unangenehm, indieser Burg zu sein. Ich diente Doktor Luther, so gutich konnte. Das Erste, was er von mir wollte, war,dass ich herausfand, was mit unserem Wagen pas-siert war, um seine griechische Bibel und die Lautezu holen. Er beschloss, die Zeit in der Burg damit zuverbringen, das Neue Testament ins Deutsche zuübersetzen, damit die einfachen Leute Gottes Wortlesen konnten.

»Es gibt noch einen Weg, wie die Menschen vomEvangelium erfahren können«, sagte er eines Tageszu mir. »Wir brauchen Lieder, Lieder, die die Leutesingen können. Lieder, die sich ihnen einprägen,auch wenn sie die Sonntagspredigt schon lange ver-gessen haben. Was hältst du davon, Karl?«, fragte erund nahm seine Laute.

»Ein feste Burg ist unser Gott,ein gute Wehr und Waffen.Er hilft uns frei aus aller Not,die uns jetzt hat betroffen.«

»Ich weiß noch nicht, wie es weitergehen soll«,meinte er, als er die Saiten stimmte und die Melodieerneut summte. »Diese Burg in all ihrer Stärke istwirklich nichts ohne Gottes Macht. Hier, was ist mitdiesem Vers:

Mit unsrer Macht ist nichts getan,wir sind gar bald verloren;es streit’ für uns der rechte Mann,den Gott selbst hat erkoren.«

»Und wer ist das?«, fragte ich. »Der Burgherr?«

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»Nein, nein. Aber das passt gut.«

»Fragst du, wer der ist?Er heißt Jesus Christ,la, la, la, …«

Er hörte auf zu singen. »Nun ja, ich weiß noch nicht,wie es weitergeht. Aber ich werde daran arbeiten.Eines Tages, Karl, werde ich ein Liederbuch für dasVolk herausgeben. Der Teufel bleibt nicht lange, woes schöne Musik gibt.«

Als es Sommer wurde, war Luthers Haar gewachsen,und er trug einen dichten, schwarzen Bart.

Der Burgherr führte ihn offiziell in der Burg als Jun-ker Jörg ein, ein Ritter aus einem fernen Land, der dieBurg besuchte.

Doch obwohl er das Neue Testament übersetzte,nahm er sich immer Zeit, mir bei meinen Studien zuhelfen. »Du wirst bald so weit sein, die normale Uni-versität besuchen zu können, wenn wir zurück inWittenberg sind«, sagte er eines Tages zu mir.

Ich lächelte. Mein Traum wurde wahr. Aber es gabnoch einen anderen in mir. Er hatte mit Marlene zutun. Wir sahen uns jeden Tag in der Burg, und manch-mal gingen wir zusammen im Wald spazieren.

Aber wie das bei Träumen nun einmal so ist, immergibt es irgendwelche Hindernisse. Am Ende des Som-mers schickte der Burgherr sie zu seiner Schwester, derGräfin von der Ebernburg, damit sie lernte, was einvornehmes Fräulein brauchte. Ich hätte meinen Mundhalten sollen, als ich etwas über ihr Benehmen sagte.

Nun gut. Wenn sie wiederkommt und ich mit derUniversität fertig bin, dann vielleicht …

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Mehr über Martin Luther

Martin Luther wurde am 10. November 1483 inEisleben in Sachsen geboren. Bald nach der

Geburt ihres Sohnes zogen die Eltern Hans und Margarethe Luther nach Mansfeld, wo sein Vater Arbeit in den Minen fand. Der Vater von MartinLuther mietete eine Hütte, wo er Kupfer aus Kupfer-erz gewann. Er machte sich bald selbstständig.

In Mansfeld ging Martin Luther auch zur Schule,später in Magdeburg und Eisenach, und schließlichging er nach Erfurt an die Universität. Es wird erzählt, dass der zweiundzwanzigjährige MartinLuther eines Tages, als er zur Universität ging, in einschweres Unwetter kam und von einem hellen Blitzbeinahe erschlagen wurde. In seiner Angst schrie erund schwor, ein Mönch zu werden, wenn er nur amLeben blieb.

Zwei Wochen später machte er Ernst und trat in einKloster ein. In diesem Kloster legte er einen weiterenEid ab: »Von jetzt an werde ich nur dir, Gott, nur dir,Jesus, nur dir allein dienen.« Und das tat er. Am 3. April 1507 wurde Luther zum Priester geweiht.Seine Oberen fanden ihn sehr klug und wie geschaf-fen für dieses Amt. 1512 bekam er den Doktortitel derTheologie verliehen und wurde Professor an derUniversität Wittenberg.

Doch trotz seines beruflichen Erfolgs quälte Lutherseine Sünde, und er fühlte sich schuldig und vonGott nicht angenommen. Je härter er arbeitete, um

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›gut‹ zu sein, desto schlechter fühlte er sich, bis ereines Tages in seiner Bibel auf Römer 1,17 stieß:»Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, dievor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben;wie geschrieben steht: ›Der Gerechte wird aus Glau-ben leben.‹«

Obwohl er Theologie unterrichtete, hatte er nicht be-griffen, dass er sich Gottes Gunst nicht verdienenkonnte. Sie ist ein Geschenk, das man nur durchGlauben empfangen kann. Und Martin Luther hatdieses Geschenk angenommen.

Diese Erkenntnis veränderte Luthers Leben.

Seine erste Frage war: Warum habe ich diese Bot-schaft nie in meiner Gemeinde gehört? Er sah sich inden Gemeinden um. Den Menschen, die Gott gefal-len wollten, sagten die Priester, sie müssten Ablass-briefe kaufen und den Gesetzen der Kirche gehor-chen. Diese Ablassbriefe (Schriftstücke, die besagten,dass die Sünden vergeben sind) brachten den Kir-chen sehr viel Geld.

Luther war außer sich. Diese Dinge waren Betrug,und er beschloss, dagegen vorzugehen. Er versuchte,die Geistlichen davon zu überzeugen, dass sie dieWahrheit zu lehren hätten. Er diskutierte mit ihnenund schrieb Bücher darüber, warum diese Hand-lungsweisen der Kirche falsch waren. Er erklärte,dass die Bibel wichtiger war als die Schriften desPapstes und der Bischöfe, die die Gesetze aufstellten.Sie waren nicht die höchste Instanz. Sie hatten Fehlergemacht, das war nach Luthers Ansicht erwiesendurch die Tatsache, dass sie auch in der Vergangen-heit manche Regeln geändert hatten.

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Wenige Geistliche und einige der Landesherren un-terstützten Luther. Kurfürst Friedrich von Sachsenwar einer derjenigen, die für Luther waren. Doch an-dere sahen, dass Luthers Gedanken ihre Macht undihren Einfluss auf die Menschen erheblich schwä-chen konnten. Deshalb stellten sie sich gegen ihn.

Wie in diesem Buch erzählt, erreichte die Auseinan-dersetzung einen Höhepunkt mit dem Reichstag vonWorms, wo Luther sich weigerte, etwas von demzurückzunehmen, was er gesagt hatte, es sei denn, je-mand bewies ihm mit der Bibel, dass er Unrechthatte. Nach seiner Rettung hielt sich Luther fast einJahr in der Wartburg auf. Er war verkleidet als einRitter, der die Burg besuchte. Er hatte einen jungenPagen bei sich, der die Aufgabe hatte, Luther immerwieder daran zu erinnern, standhaft zu bleiben.

Dort vollendete er viele einflussreiche Schriften, seinbedeutendstes Werk war die Übersetzung des NeuenTestaments ins Deutsche.

Die Reformation gewann immer mehr Unterstüt-zung, doch in einigen Bereichen – unter anderemauch an der Universität in Wittenberg – wurde sie ge-waltsam und fanatisch. Luther konnte aus der Fernekeine Weisungen erteilen, deshalb verließ er schließ-lich die Wartburg, um von der Kanzel der Stadtkir-che in Wittenberg zu sprechen. Seine ruhige Führungtat ihre Wirkung in Wittenberg, aber der Geist derReformation begann sich im ganzen Land auszubrei-ten. Und um 1525 zogen die Bauern gegen die wohl-habenden Herren in ganz Europa in den Krieg. »Wirsind frei – so heißt es in der Bibel. Und wir werdenfrei sein!«, so lautete ihre Forderung. Dies war keine

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Aktion Luthers, zumindest nicht direkt, aber seineGedanken beflügelten den Aufstand.

Zuerst konnten die Bauern die Adligen überwäl-tigen; mächtige Klöster und viele Burgen und Schlös-ser wurden eingenommen. Die Bauern forderten undbrauchten Luthers Unterstützung, aber er gab sie ihnen nicht. Er schrieb sogar ein Flugblatt, in dem erden Adel aufforderte, die Revolte niederzuschlagen.Und das taten sie, indem sie die Bauern zu Tausen-den regelrecht abschlachteten.

Luther starb 1546. Die neue Kirche hatte sich bis da-hin fest in Europa etabliert.

Obwohl es viele Reformatoren gab, war Luther ausverschiedenen Gründen der einflussreichste. Er warein guter Redner, und es gelang ihm, viele seiner Ge-danken zu veröffentlichen, bevor man sich so heftiggegen ihn stellte. Daher hatte er viele auf seiner Seite,die zum Teil in sehr wichtigen Positionen saßen. Dashat ihm wahrscheinlich das Leben gerettet. LuthersReformation in Mitteleuropa war ein willkommenerAnlass für die Politiker des Heiligen Römischen Rei-ches, die Römisch-Katholische Kirche zu schwächenund Macht an sich zu reißen. Luther wurde dahernicht als Bedrohung für den Staat gesehen wie einigeWiedertäufer.

Zu Beginn hatte Luther keinesfalls die Absicht, einenBruch mit der Katholischen Kirche zu erreichen. Erwollte nur auf die offensichtlichen Fehler aufmerk-sam machen und sie korrigieren. Aus diesem Grundwar es eine Überraschung und auch Enttäuschungfür ihn, dass seine Gedanken einer ›reformierten‹ Re-ligion in Deutschland zur Gründung einer neuen Kir-

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che führten. Er wollte genauso wenig, dass dieseneue Kirche seinen Namen übernahm, doch die Lutheraner sind mit ihren Praktiken und ihrem Glauben auch heute noch ein Begriff.

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Dave und Neta Jackson

Glaubenshelden

240 SeitenBest.-Nr. 255.355

»Vorbilder gesucht!« Diesen stummenSchrei scheint man bei genauem Hinhören von vielen Kindern undJugendlichen zu vernehmen.Sie suchen nach Orientierung undMaßstäben, nach Werten, für die essich zu leben und zu sterben lohnt,nach Menschen, die glaubwürdigsind.In diesem Buch werden charakteris-tische Eigenschaften wie Geduld,Treue, Mut, Disziplin, Vertrauen,Dankbarkeit u.a. anhand bekannterund weniger bekannter Männer und Frauen wie z.B. William Tyndale,David Livingstone, Eric Lidell, GladysAylward und Amy Carmichael vorgestellt. Lebensbilder von »Glau-benshelden« für Kinder erzählt, dieMut machen, ein Leben mit Gott zuwagen, ein Buch zum Lesen undVorlesen. – JM 6 -12

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Dave und Neta Jackson

Verrat im Gefängnis –John Bunyan

160 SeitenBest.-Nr. 255.446

Man schreibt das Jahr 1660 und London ist ein gefährliches Pflaster – das mussauch der zwölfjährige Richard Winslowerfahren, als sein Vater des Verrats beschuldigt wird und in den Tower muss.Aus Sorge um die Sicherheit der restlichenFamilie flüchten Richards Mutter undseine Schwestern nach Schottland. Richardentschließt sich jedoch zum Bleiben, fallssein Vater ihn braucht.

Aber in London zu bleiben, wäre zu riskant. Also macht sich Richard auf denWeg ins nahe Bedford, wo sein OnkelGefängniswärter ist.

Während er für seinen Onkel arbeitet,schließt Richard unerwartet Freundschaft –mit einem Gefangenen namens JohnBunyan, der unter Lebensgefahr eineaufrüttelnde Botschaft verbreitet. Richardmöchte diesem mutigen Mann gernehelfen, fürchtet sich aber vor den Folgen,die es für ihn – und für seinen Vater –haben könnte.

Er will seinen Vater befreien – aber ist erauch bereit, den schrecklichen Preis dafürzu zahlen?

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Dave und Neta Jackson

Der Räuber von Ashley Downs –Georg Müller

160 SeitenBest.-Nr. 255.529

Man schreibt das Jahr 1870.Als Curly Roddy zwölf Jahre alt wird, hater bereits sechs Jahre als heimatlosesWaisenkind auf den berüchtigten StraßenLondons verbracht. Er schläft im Müll und ernährt sich von Abfällen – wenn erüberhaupt etwas findet.

Manchmal kann er mit Singen etwas Geldverdienen, oder er führt akrobatischeKunststückchen vor. Meistens aber hält ersich mit kleinen Diebstählen über Wasser.

Als er Wind davon bekommt, dass für einWaisenhaus in Bristol eine größere MengeGeld mit einer Postkutsche transportiertwerden soll, erkennt er die Chance auf denCoup seines Lebens. Geld im Überflusswartet auf ihn! Mit einigen Kumpanenmacht er sich ans Werk.

Doch dann kommt es zu einer entschei-denden Begegnung mit dem »Vater derWaisenhäuser« – Georg Müller.

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