+ All Categories
Home > Documents > Die Bakassi-Boys in Nigeria

Die Bakassi-Boys in Nigeria

Date post: 12-Sep-2021
Category:
Upload: others
View: 2 times
Download: 0 times
Share this document with a friend
34
13 Johannes Harnischfeger Die Bakassi- Boys in Nigeria Vom Aufstieg der Milizen und dem Niedergang des Staates Nigeria is the freest country in the world; You can get away with everything. Wer Macht und Einfluss hat, kann sich in Nigeria fast alles erlauben. Polizei und Justiz sind so korrupt, dass man von ihnen nichts zu befürchten hat, vorausge- setzt, man bewegt sich in den richtigen Kreisen. Aus dem Versagen staatlicher Institutionen erklärt sich, warum die Bürger überall zur Selbsthilfe greifen, in- dem sie vigilante groups und bewaffnete Milizen bil- den. Die Bakassi-Boys z.B. entstanden in einer großen Handelsstadt, die besonders von Kriminalität betrof- fen war: in Aba, einer der Metropolen im Südosten Nigerias. Die Bürger leben hier vor allem von dem riesigen Markt, einem der größten in Westafrika; doch eben diese Quelle ihres Wohlstands war be- droht, weil die Händler den jahrelangen Terror von Verbrecherbanden nicht abschütteln konnten. Gleich am Rand des Marktes, entlang der Ngwa Road, lebte eine ganze Kolonie von Kriminellen. Sie zogen regel- mäßig durch die Gassen des Marktes und trieben von jedem der Stände oder Geschäfte Schutzgelder ein. Händler, die sich weigerten zu zahlen, mussten mit ansehen, wie ihre Waren konfisziert wurden, während die Polizei einfach zur Seite schaute. Wer in Nigeria im großen Stil Handel treibt, geht überall ein hohes Risiko ein. Einer der Gründe für die Unsicherheit der Märkte liegt darin, dass Geschäfts- leute, selbst wo sie hohe Summen transferieren, keine Kreditkarten benutzen. Die Banken schrecken davor zurück, ihren Kunden Kreditkarten auszustellen, und die meisten Geschäftsleute würden solchen Gelder- Mit dem Versagen von Poli- zei und Justiz sind auch westliche Vorstellungen von Recht und Gewaltentei- lung diskreditiert. An die Stelle staatlicher Institutio- nen treten Bürgerwehren oder Milizen, die ihre Macht durch öffentliche Exekutio- nen zelebrieren. Da sie sich ähnlich organisieren wie traditionelle Geheimkulte, sind sie durch die Bürger kaum noch kontrollierbar. Damit wächst die Angst, dass Politiker diese bewaff- neten Gruppen nutzen, um ihre Gegner einzuschüchtern oder ethnische und religiöse Konflikte auszutragen. KAS-AI 12/01, S. 13–46
Transcript
Page 1: Die Bakassi-Boys in Nigeria

13

Johannes Harnischfeger Die Bakassi-Boys in NigeriaVom Aufstieg der Milizen und dem Niedergang des Staates

Nigeria is the freest country in the world;You can get away with everything.

Wer Macht und Einfluss hat, kann sich in Nigeria fastalles erlauben. Polizei und Justiz sind so korrupt, dassman von ihnen nichts zu befürchten hat, vorausge-setzt, man bewegt sich in den richtigen Kreisen. Ausdem Versagen staatlicher Institutionen erklärt sich,warum die Bürger überall zur Selbsthilfe greifen, in-dem sie vigilante groups und bewaffnete Milizen bil-den. Die Bakassi-Boys z.B. entstanden in einer großenHandelsstadt, die besonders von Kriminalität betrof-fen war: in Aba, einer der Metropolen im SüdostenNigerias. Die Bürger leben hier vor allem von demriesigen Markt, einem der größten in Westafrika;doch eben diese Quelle ihres Wohlstands war be-droht, weil die Händler den jahrelangen Terror vonVerbrecherbanden nicht abschütteln konnten. Gleicham Rand des Marktes, entlang der Ngwa Road, lebteeine ganze Kolonie von Kriminellen. Sie zogen regel-mäßig durch die Gassen des Marktes und trieben vonjedem der Stände oder Geschäfte Schutzgelder ein.Händler, die sich weigerten zu zahlen, mussten mitansehen, wie ihre Waren konfisziert wurden, währenddie Polizei einfach zur Seite schaute.

Wer in Nigeria im großen Stil Handel treibt, gehtüberall ein hohes Risiko ein. Einer der Gründe für dieUnsicherheit der Märkte liegt darin, dass Geschäfts-leute, selbst wo sie hohe Summen transferieren, keineKreditkarten benutzen. Die Banken schrecken davorzurück, ihren Kunden Kreditkarten auszustellen, unddie meisten Geschäftsleute würden solchen Gelder-

Mit dem Versagen von Poli-zei und Justiz sind auchwestliche Vorstellungenvon Recht und Gewaltentei-lung diskreditiert. An dieStelle staatlicher Institutio-nen treten Bürgerwehrenoder Milizen, die ihre Machtdurch öffentliche Exekutio-nen zelebrieren. Da sie sichähnlich organisieren wietraditionelle Geheimkulte,sind sie durch die Bürgerkaum noch kontrollierbar.Damit wächst die Angst,dass Politiker diese bewaff-neten Gruppen nutzen, umihre Gegner einzuschüchternoder ethnische und religiöseKonflikte auszutragen.

KAS-AI 12/01, S. 13–46

Page 2: Die Bakassi-Boys in Nigeria

satz auch nicht akzeptieren.1) Wer größere Einkäufezu erledigen hat, sieht sich daher gezwungen, mit Ta-schen voller Geldbündel anzureisen. In Aba mit sei-nem berühmten Textilmarkt trafen viele solcherGroßhändler ein; manche von ihnen hatten sogar diebeschwerliche Reise aus dem benachbarten Kamerunoder aus Gabun in Kauf genommen, doch gerade die-ser Fernhandel war gefährdet, weil immer mehr Rei-sende in der Stadt ausgeraubt wurden. Für die Opferwäre es zwecklos gewesen, sich an die Polizei zu wen-den. Die Beamten mochten sich nicht in gewalttätigeAuseinandersetzungen einmischen, und sie hattenguten Grund für diese Zurückhaltung: Ein einfacherVerkehrspolizist verdiente unter der Militärdiktaturnicht mehr als umgerechnet 15 DM pro Monat. Undfür den Fall, dass er im Dienst sein Leben verlor, standden Hinterbliebenen eine einmalige Abfindung von20 DM zu.2)

Da auf staatliche Hilfe nicht zu hoffen war, muss-ten die Händler eigene Wege finden, um die Welle derGewalt einzudämmen. Im Grunde genommen keineschwere Aufgabe, denn die meisten Verbrecher warennamentlich bekannt. Man wusste auch, wo sie zu fin-den sind; es fehlte nur der Entschluss, gemeinsam ge-gen sie vorzugehen. Der Anlass, sich zur Wehr zu set-zen, bot sich irgendwann 1998, als eine Händlerin, die200 000 Naira in bar mit sich führte, auf besondersbrutale Weise ausgeraubt und ermordet wurde. Hun-derte von Händlern griffen zu den erstbesten Waffen,drangen in die Wohnungen der Kriminellen ein, zerr-ten alle, die sie fassen konnten, ins Freie und hacktensie mit Macheten in Stücke.3) Der ‚Krieg‘ gegen die Ban-den dauerte wochenlang, doch die Miliz der Händlerließ in ihren Anstrengungen nicht nach, bis sich ihreGegner aus Aba zurückzogen und ihre Operationenin weit entfernte Gebiete verlegten.

Um ihre Kontrolle über Aba und die benachbartenStädte abzusichern, rekrutierten die Händler mehr als500 meist arbeitslose junge Männer und ließen sie zueiner professionellen Schutztruppe ausbilden. DieGehälter der ‚Bakassi-Boys‘ werden bis heute durchSpenden und monatliche Beiträge der Händler finan-ziert; ein wenig materielle Unterstützung kommtaußerdem von Gouverneur Orji Kalu, der seit den de-mokratischen Wahlen Anfang 1999 in Abia State re-giert. Doch formierte sich damals schon Widerstand

1) Economist, 15.1.2000, SurveyNigeria: 10.

2) Die demokratisch gewählteRegierung unter OlesegunObasanjo hat die Gehälter derBeamten drastisch angehoben,in der Hoffnung, dass besserbezahlte Lehrer, Polizisten undVerwaltungsbeamte wenigerkorrupt sind.

3) Tell [ein Wochenmagazin ausLagos], 28.8.2000: 24f.

14

Page 3: Die Bakassi-Boys in Nigeria

15

gegen die Bürgerwehr, und zwar bei den lokalen Po-lizeikräften, die nicht dem Gouverneur unterstelltsind, sondern dem Präsidenten in der HauptstadtAbuja, etwa 700 km von Aba entfernt. Dass die Poli-zei es schließlich doch hinnahm, durch eine konkur-rierende Organisation beiseite gedrängt zu werden,dürfte viele Gründe haben. Sicher gehört dazu, wasüber die Verhandlungen zwischen den Bakassi-Füh-rern und dem Polizeichef von Abia-State bekanntwurde: Die Miliz präsentierte ihm eine Liste mit denNamen von Polizisten, die direkt mit bewaffnetenRäubern zusammenarbeiten. Die Namen wurden nieveröffentlicht, doch die Miliz, die das Geheimnishütet, darf seitdem überall in Abia State ungehindertoperieren.4)

Die Bakassi-Methode

Nachdem es den Bakassi-Boys gelungen war, inner-halb weniger Wochen ganz Abia State von Kriminel-len zu ‚säubern‘, sprachen sich auch die Bürger ande-rer Bundesstaaten dafür aus, sich unter den Schutzder Miliz zu stellen. Im benachbarten Anambra State,der – so wie Abia – fast nur von Igbo besiedelt ist, er-klärte sich die Regierung schließlich auch bereit, dieBakassi-Truppen offiziell mit der Verbrechensbekämp-fung zu betrauen. Wiederum war die Initiative vonHändlern ausgegangen, besonders vom Händlerver-band in Onitsha, einer Stadt mit einer halben MillionEinwohnern, in der es den größten Markt Westafrikasgeben soll. Bis zur Ankunft der Bakassi-Boys fühltensich die Bürger hier wie im Belagerungszustand. Räu-ber zogen mit ihren Waffen ganz offen durch dieStraßen, so als seien sie die Herren der Stadt. Und siehatten in der Tat wenig zu befürchten: „In most cases[police] would run away, whenever and wherever theysighted them.“5)

Es gab niemanden, der sich zu Hilfe rufen ließ,wenn die Menschen mit vorgehaltener Waffe bedrohtwurden. Die Kriminellen bewegten sich mit einer sol-chen Selbstsicherheit durch ihre Stadtviertel, dass sieden Bewohnern zuweilen ankündigten, an welchemTag ihre Wohnungen ausgeraubt würden. Zum fest-gesetzten Termin drangen die Täter dann tatsächlichin die betreffenden Häuser ein, gleichgültig, ob dieBewohner geflüchtet waren oder nicht.6) Nur in denKirchen – so heißt es – konnte man dem Terror ent-

4) Ebd.: 25, 27.5) Dr. Chinwoke Mbadinuju,

Gouverneur von AnambraState, in einem Interview mitTell, 26.3.2001: 42.

6) Laut Pressesprecher der Re-gierung von Anambra State;zit. nach Guardian [einerTageszeitung aus Lagos],14.1.2001: 34.

Page 4: Die Bakassi-Boys in Nigeria

kommen: „Women were running into churches to getsaved and to sleep at night.“7)

Die Stadt ist heute kaum wiederzuerkennen.8) AlleBewohner, die ich fragte, versicherten mir vollerStolz, dass die Kriminalität weitgehend beseitigt sei.Onitsha habe sich in den sichersten Ort in ganz Ni-geria verwandelt; man könne selbst noch um Mitter-nacht mit einem Koffer voller Geld durch die Innen-stadt laufen. – Man hätte erwarten sollen, dass sichdieses hohe Maß an Sicherheit nur durch eine massivePräsenz bewaffneter Milizen aufrechterhalten ließ.Doch auf dem Markt und in den umliegenden Ge-schäftsvierteln war niemand zu sehen, der Wache hieltoder durch die Straßen patrouillierte. Jeder Bewohnerwusste freilich, dass die Bakassi-Boys weiterhin inseiner Nähe sind; ihr lokales Hauptquartier befindetsich gleich neben dem ‚White House‘, dem Ver-waltungsgebäude der Händlervereinigung OMATA(Onitsha Markets Amalgamated Traders Association).Von hier ausgehend hatte die Miliz Straße für Straßenach Verbrechern durchkämmt, wobei gleich in denersten Wochen ihres Einsatzes, im Juli 2000, mehr als200 mutmaßliche Räuber ums Leben kamen.9)

Die souveräne Macht, die man damals allen Bür-gern vor Augen führte, wird weiterhin durch öffent-liche Exekutionen zelebriert. Um immer neue Krimi-nelle auf den Richtplatz zu führen, werden die Opferauch aus anderen Ortschaften herbeigeschafft. Zu-nächst bleiben sie allerdings tagelang im Bakassi-Zen-trum interniert, wo eine Untersuchungskommissionsie ins Verhör nimmt. Erst wenn ihre Schuld feststeht,führt man Männer wie Frauen gefesselt und halb-nackt auf die Straße und von dort zu irgendeiner weit-läufigen Straßenkreuzung, die genügend Platz fürHunderte von Zuschauern bietet. Auf dem Weg da-hin treibt man die Verurteilten durch Schläge vor sichher, so dass den Opfern keine Zeit bleibt, sich an dieUmstehenden zu wenden, um ihr Schicksal zu bekla-gen oder an das Mitgefühl der Zuschauer zu appellie-ren. Auch die Bakassi-Boys geben keine Erklärungenab. Weder verkünden sie ein Urteil, noch unterneh-men sie den Versuch, ihr Tun zu rechtfertigen. AmRichtplatz angekommen, werfen sie die Gefesselteneinfach zu Boden und hacken mit ihren stumpfen Ma-cheten minutenlang auf sie ein. Ein stummes Gemet-zel, denn die Opfer schreien nicht, obwohl einige

7) Gouverneur Mbadinuju; zit.nach Newswatch, 18.9.2000:12.

8) Von 1993 bis 1996 bin ichhäufig durch Onitsha gereistund geriet bei einer Gelegen-heit auch in einen Überfall.Bewaffnete hatten gleich hinterder Stadt die Autobahn ge-sperrt und raubten jedes her-ankommende Fahrzeug aus.

9) Tell, 31.7.2000: 41.

16

Page 5: Die Bakassi-Boys in Nigeria

17

noch leben und sich auf dem Boden winden, wenn dieBakassi-Boys Autoreifen über sie werfen und etwasBenzin dazuschütten.

Unter den Menschen, die sich herbeidrängten, umdie Hinrichtungen zu betrachten, konnte ich nieman-den entdecken, der Unmut oder Abscheu geäußerthätte. Nur zuweilen wurde ein wenig Beklemmungspürbar. Einige Frauen zum Beispiel, die vorbei-huschten, um auf dem Markt ihre gewohnten Besor-gungen zu erledigen, schauten nur kurz auf die grau-sige Szene und machten mit hastiger Geste einKreuzzeichen. Andere hielten sich Tücher vor denMund, so als wäre der Rauch, der von den verkoh-lenden Leichen herüberzog, giftig. Im Übrigen zeigteman kein Bedauern mit den Opfern, ja man identifi-zierte sich ganz offen mit den Tätern, besonders ge-genüber dem Europäer, der in dieser Szenerie ein un-gewöhnlicher Anblick war: „Whiteman, you see whatwe are doing? Oyibo, are you shocked? What will youtell your people?“

Die Begeisterung für die gefürchtetste ihrer Mili-zen schien die meisten Igbo zu einen. Auch meinefrüheren Kollegen an der Universität in Nsukkaäußerten kaum Bedenken gegen die Bakassi-Justiz,eher Skepsis, ob sich die Bürgerwehr auf Dauer gegeneine kriminelle Umwelt behaupten kann. KritischeÄußerungen fanden sich bisweilen in der Presse, beiJournalisten, die sich um die Menschenrechte besorgtzeigen. Außerdem sprachen sich Vertreter der Polizeivehement gegen den Rückfall in Lynchjustiz aus: DieIgbo-Miliz handele „willkürlich“, „ohne Rücksichtauf das Gesetz“ und gehöre daher verboten.10)

Die Vertreter der alten Ordnung

Für jeden Nigerianer muss es zynisch klingen, dass aus-gerechnet die Polizei den Verlust an Rechtsstaatlich-keit beklagt, denn die Vertreter der Staatsmacht gehennicht weniger willkürlich und brutal gegen wirklicheoder vermeintliche Rechtsbrecher vor. In den langenJahren der Militärdiktatur wurde es üblich, zum TodeVerurteilte öffentlich zu erschießen, in der Regel inFußballstadien, vor großem Publikum. Neben sol-chen offiziellen Exekutionen, die auch im staatlichenFernsehen zu sehen sind, kommt es sehr viel häufigernoch zu sogenannten extra-judicial killings. Polizei-beamte warten nicht ab, bis den Verdächtigen der

10) So der damalige Polizeimini-ster David Jemibowon ineinem Interview mit Tell,28.8.2000: 26.

Page 6: Die Bakassi-Boys in Nigeria

Prozess gemacht wird, sondern erschießen sie einfachnach kurzem Verhör: „Robbers kill innocent people.What is wrong with police killing them? It saves outtime.“11) Nach Berichten einer Regierungskommission,die der neue, demokratisch gewählte Präsident einge-setzt hatte, um Menschenrechtsverletzungen unterder Militärdiktatur zu untersuchen, finden solcheExekutionen in allen Teilen des Landes statt.12) Schonvor Jahren wurden neben einem Krankenhaus in La-gos die Leichen von 400 Ermordeten entdeckt, die manoffenbar aus Polizeizellen dorthin geschafft hatte.13)

Für die Angehörigen der Toten wäre es zwecklos,gegen die Verantwortlichen Anzeige zu erstatten. DieTäter haben nichts zu befürchten, es sei denn, sie be-gehen den Fehler, sich an einer Person zu vergreifen,die einflussreiche Freunde oder Verwandte hat. Dadie Staatsgewalt keiner öffentlichen Kontrolle unter-liegt, machen sich die Verantwortlichen nicht einmaldie Mühe, die illegalen Exekutionen zu verheimli-chen. Man legt die Leichen mitten in den Ortschaftenirgendwo an den Straßenrand, säuberlich nebenein-ander aufgereiht, mit Einschüssen durchs Herz oderdie Stirn. Sobald sich die Nachricht verbreitet, eilenaus den umliegenden Hütten die Frauen herbei, umzu schauen, ob sich unter den Toten ihre Männer oderSöhne befinden.14)

Von offizieller Seite heißt es routinemäßig, dass essich bei den Opfern um bewaffnete Räuber handelt –und das dürfte in vielen Fällen auch stimmen. Doches ist kein Geheimnis, dass Polizei und Verbrecherunter normalen Umständen eng zusammenarbeiten.Nachdem bewaffnete Banden in den Städten undDörfern fest etabliert sind, wäre es auch selbstzerstö-rerisch, wenn beide Seiten versuchten, sich gegensei-tig zu verdrängen. Besser also, man bemüht sich, Ar-rangements zu treffen, die eine friedliche Koexistenzermöglichen. Von den engen Kontakten zwischenstaatlichen Behörden und dem kriminellen Milieukönnen im Übrigen auch die Bürger profitieren.Unter den Mitarbeitern der Universität in Nsukkawar es z.B. Üblich, sich im Fall von Einbrüchen an dasnächstgelegene Polizeirevier zu wenden, um mit Hilfeder Beamten die gestohlenen Fernseher oder Stereo-anlagen zurückzukaufen. Nur muss man sich hüten,gegen lokale Gangster, die von der Polizei geschütztwerden, offen vorzugehen. Es kann äußerst gefähr-

11) Ein Polizeioffizier; zit. nachNewswatch, 3.4.1995: 21.

12) Guardian, 17.3.2001.13) Civil Liberties Organisation

1994: 34. – Über Polizei-morde nach dem Ende derMilitärdiktatur vgl. Tell,1.10.2001: ‚No End to Blood-lust‘ (S. 24-32)

14) Über die Zahl dieser extra-judicial killings gibt esnatürlich keine Statistiken.Man erfährt immer nur voneinzelnen Fällen. In Nsukkaz.B., einem Städtchen mitvielleicht 50 000 Einwohnern,wurden 1995 mindestens 23Personen im Polizeigewahr-sam erschossen. Die Exeku-tionen geschahen mitDuldung der Polizeiführungin der Provinzhauptstadt,denn der verantwortlichePolizeioffizier in Nsukkawurde wegen seiner erfolg-reichen Arbeit bald daraufbefördert. Auch der Rektorder Universität Nsukka hatteseine Zustimmung gegeben,Räuber auf dem Campusnicht vor Gericht zu bringen,sondern gleich zu erschießen.

18

Page 7: Die Bakassi-Boys in Nigeria

19

lich sein, Anzeige zu erstatten, wenn man Räuber oderVergewaltiger beobachtet und vielleicht sogar identi-fiziert hat, denn Kläger und Zeugen müssen mit Ra-cheakten rechnen, falls die Polizei ihre Namen an dieBeschuldigten weitergibt.15) Gegen manche Bandengehen die Sicherheitskräfte allerdings recht rabiat vor,vor allem gegen jugendliche Täter, die sich nicht andie ungeschriebenen Regeln halten und ganz aufeigene Faust ihr riskantes Geschäft betreiben. InGroßstädten wie Lagos liefert sich die Polizei sogarstundenlange Feuergefechte mit lokalen Gangstern,16)

doch solche langanhaltenden, erbitterten Kämpfe ha-ben fast schon den Charakter von Bandenkriegen, beidenen der Wunsch, aneinander Rache zu nehmen, alleanderen Motive verdrängt.

Da lokale Polizeieinheiten kaum noch unter Kon-trolle sind, können sie einfache Bürger ungestraft ein-schüchtern, erpressen und berauben. Die gängigsteArt, ihre Machtposition auszunutzen, besteht darin,Straßensperren zu errichten und von passierendenAutofahrern Geld einzufordern. Die meisten dieserPolizeikontrollen sind nicht offiziell von der Poli-zeiführung angeordnet.17) Die Beamten errichten ein-fach illegale Absperrungen, müssen aber, um unge-stört operieren zu können, einen Teil der Beute anvorgesetzte Offiziere abtreten. Aus Sicht der Akteuregeht es einfach darum, sich ein zusätzliches Einkom-men zu verschaffen, da das offizielle Gehalt für nie-manden zum Überleben reicht. Solange die Regie-rung sich nicht um ihre Beamten kümmert, bleibt denBetroffenen also – nach den Worten eines Polizeioffi-ziers – keine andere Möglichkeit, als zur Selbsthilfezu greifen: „Since they have no other place to turn to,the police will use their guns and uniform to extortmoney from the public.“18) Fast immer geht es nur umkleine Beträge, die zudem ganz unspektakulär, wieeine Art Steuer oder Wegezoll eingezogen werden.Besonders betroffen sind die Fahrer von Kleinbussen,Sammeltaxis und LKWs; sie reichen einfach bei jedemStopp einen Geldschein aus dem Fenster und fahrenweiter. Die Situation an den Straßensperren ist jedochmeist angespannt, manchmal auch bedrohlich, denndie Kommunikation mit den Ordnungshütern (dienicht selten betrunken sind oder unter Drogenein-fluss stehen) kann leicht entgleisen. Wer sich nicht un-terwürfig zeigt, läuft Gefahr, auf die Wache verschleppt

15) Deutsche Firmen, die nochin Nigeria tätig sind, emp-fehlen ihren Mitarbeitern,sich auf keinen Fall an diePolizei zu wenden, falls sieüberfallen oder ausgeraubtwerden.

16) Newswatch, 17.7.1995: 12.17) Bei einer Inspektionstour, die

der Gouverneur von OgunState unangekündigt durch-führte, entdeckte er nahe derGrenze zum NachbarlandBenin auf einem 60 kmlangen Straßenabschnitt ins-gesamt 21 illegale Straßen-sperren: „In all, the policehad 11 illegal checkpoints,soldiers three, customs three,immigration two, while plantquarantine and the statesecurity service establishedone each.“ (Daily Champion,28.8.1995) Zu diesen ‚day-light robbers‘ gesellen sichnoch ordinäre Kriminelle, diesich als Polizisten ausgeben,Straßensperren errichten undebenfalls Geld erpressen(A.M. News, 5.1.1996).

18) Zit. nach Newswatch,30.11.1998: 13.

Page 8: Die Bakassi-Boys in Nigeria

zu werden, und Nigerias Polizeistationen sind be-kannt dafür, dass in ihnen „routinemäßig“ gefoltertwird.19)

Die Staatsmacht erweist sich nicht nur als ineffizi-ent oder nutzlos; aus der Perspektive der Bürger er-scheint sie oft als eine bösartige, unkontrollierbareGewalt. Man fragt sich daher, warum die Menschenweiterhin die Polizei in ihre Streitereien hineinziehen,Anzeigen erstatten und Prozesse anstrengen. Natür-lich können sie weder von der Polizei noch der JustizGerechtigkeit erwarten. Sie benutzen die Staatsmachteinfach nur als ein Mittel, um andere ins Unglück zustürzen. Wer einen seiner Widersacher verhaftet ha-ben will, kann mit irgendwelchen Polizisten in Kon-takt treten und, wenn man sich über den Preis einigwird, Name und Wohnort des Opfers hinterlegen.Der Betreffende wird dann unter irgendeiner Be-schuldigung in Haft genommen, bis seine Angehöri-gen benachrichtigt sind und ihn wieder auslösen, wasmanchmal noch am selben Tag geschieht. Um denGefangenen länger in Haft zu halten, kann man natür-lich auch einen höheren Geldbetrag bieten. Oder manwendet sich an Polizeibehörden in ganz entlegenenStädten, damit ihre Mitarbeiter über Hunderte vonKilometern anreisen, die angezeigten Personen fest-nehmen und sie bis nach Lagos oder Abuja ver-schleppen. Die beauftragten Beamten tun aber nichtimmer, wofür sie bezahlt wurden. Statt sich an dieVereinbarungen zu halten, treffen sie Arrangementsmit der Gegenpartei, lassen sich also von beiden Sei-ten bezahlen, ohne irgendeine Dienstleistung zu er-bringen. Einige meiner Bekannten, die mehrfach Geldinvestierten, um ihre Gegner verhaften zu lassen, be-klagten sich voller Verbitterung über diese Willkürder Polizei: „They took the money, but didn’t per-form.“

Das Spiel von Verhaftenlassen und Wieder-Frei-kaufen ist noch in anderer Hinsicht unberechenbar.Zehntausende von Menschen, die in Haft gerieten,kamen nicht mehr frei, sondern wurden ohne Ge-richtsverfahren jahrelang interniert. Nach Angabeneiner Regierungskommission, die die überfüllten Ge-fängnisse besuchte, waren mehr als die Hälfte der In-sassen nicht rechtskräftig verurteilt. Manche der Häft-linge saßen seit zehn Jahren in ihren Zellen, ohne jeeinen Richter gesehen zu haben.20) Würden sie vor ein

19) Civil Liberties Organisation1994: 22.

20) Guardian, 31.1.1995.

20

Page 9: Die Bakassi-Boys in Nigeria

21

Gericht gestellt, könnten sie freilich auch nicht aufGerechtigkeit hoffen. Bei allen Verfahren ist Geld imSpiel, und wenn es um hohe Summen geht, scheuenRichter nicht davor zurück, Angeklagte, von denenjeder weiß, dass sie unschuldig sind, zu langjährigenHaftstrafen zu verurteilen. Wer genügend Geld undEinfluss besitzt, kann also bei Landstreitigkeiten oderpersönlichen Fehden seine Gegenspieler auf ganz le-gale Weise ins Gefängnis bringen.

In den Augen der Bevölkerung ist die Justiz so kor-rupt, dass niemand sich an den Schiedsspruch einesGerichts gebunden fühlt. Wer in einem Rechtsstreitunterliegt, nimmt wie selbstverständlich an, dass dieGegenpartei dem Richter mehr Geld zugesteckt hat.21)

Konflikte schwelen daher weiter, nur werden sie mitanderen Mitteln fortgesetzt: durch nächtliche Über-fälle, Hexereianschuldigungen oder Mord. Statt sichan Polizei oder Justiz zu wenden, um seine Gegner zuschädigen, kann man auch sogenannte native doctorskontaktieren und sich Zaubermittel verschaffen. Oderman engagiert Schlägerbanden, vielleicht auch profes-sionelle Mörder. Der Bedarf nach solchen Expertenscheint recht groß zu sein, denn auf den Straßen vonLagos werden Passanten von Unbekannten angespro-chen und gefragt, ob sie contract killers brauchen.22)

Das Versagen von Polizei und Justiz lässt sich nichtallein den Beamten anlasten. Viele Kriminelle könnenungehindert operieren, weil sie den Ruf haben, ‚un-berührbar‘ zu sein. Entweder sind sie vor Strafverfol-gung geschützt, weil sie aus prominenten Familienstammen, vielleicht auch Kontakte zu einflussreichenPolitikern haben; oder sie schützen sich selbst, indemsie sich zu Geheimkulten zusammenschließen. DieMitglieder solcher Kulte schwören bei der InitiationBluteide, durch die sie sich verpflichten, sich notfallsmit Gewalt gegenseitig zu schützen. Für die schlechtausgerüsteten Polizisten ist es äußerst riskant, sich andiesen untouchables zu vergreifen. Mit ihren herun-tergekommenen Dienstfahrzeugen und der dürftigenBewaffnung, ohne Funkgeräte und manchmal auchohne Munition, sind sie ihren Gegnern schlicht un-terlegen. Für die miserable Ausrüstung und Bezah-lung ist nicht zuletzt die Politik der herrschenden Mi-litärs verantwortlich, die dazu neigten, alle Truppen,die nicht ihrem direkten Kommando unterstanden,als lästige Rivalen zu betrachten.23) Um die Polizei zu

21) Civil Liberties Organisation1996: 120, 136-139.

22) Third Eye, 28.10.1995. – Ineiner angesehenen Wochen-zeitschrift werden sogarPlätze genannt, wo man Ver-mittler kontaktieren kann;vgl. The News, 2.12.1996:„How to Hire a Killer“.

23) Zur Zeit der Militärdiktaturweigerten sich Armeean-gehörige einfach, sich demöffentlichen Rechtssystemzu unterwerfen. Offizierenahmen ganz offen das Rechtfür sich in Anspruch, selbstzu entscheiden, ob sie mög-liche Straftäter an die Polizeiausliefern oder nicht: „We[…] court-martial such offen-ders. When found guilty, wedischarge them from thearmy and hand them over tothe police.“ (The Week,24.10.1994: 13) Im Konflikt-fall kam es auch zu Schuss-wechseln zwischen Polizei-und Armeeeinheiten;Soldaten überfielen Polizei-stationen, um gefangeneKameraden zu befreien, odersie drangen in Gerichtsver-handlungen ein und entführ-ten die Angeklagten. Gegensolche Übergriffe konntensich Polizei und Justiz kaumwehren, mussten sie doch mitansehen, dass selbst höchsteRegierungskreise die Anord-nungen der Gerichte miss-achteten. Der Gouverneurvon Niger State z.B. kom-mentierte ein Urteil gegenihn mit den Worten: DieLandesregierung glaubezwar an die Herrschaft desGesetzes, doch habe dasUrteil des Appellationsge-richts in K. keinen Einflussauf seine Regierung; Guar-dian, 14.12.1995.

Page 10: Die Bakassi-Boys in Nigeria

schwächen, hatte man sie auch zahlenmäßig klein ge-halten, mit dem Ergebnis, dass in einer Metropole wieLagos mit ihren zehn Millionen Einwohnern wenigerals 12 000 Polizisten zur Verfügung stehen.24) Die Be-amten, die sich hoffnungslos überlastet fühlen, könnensich natürlich nicht umfassend um die Sicherheits-belange der Bürger kümmern. Dass sie darauf beste-hen, für alle nur möglichen Dienstleistungen bezahltzu werden, hat unter diesen Umständen auch eineSchutzfunktion. Es dient dazu, die Bürger davon ab-zuhalten, die Beamten mit einer Flut von Klagen zuüberschwemmen.25)

Dass Polizisten wenig Interesse daran haben, dasstaatliche Recht durchzusetzen, hat noch weitereGründe. Als Fremde, die oft aus anderen Bundesstaa-ten stammen, empfinden sie wenig Verantwortunggegenüber der indigenen Bevölkerung. Ihnen kann esegal sein, wie die Familienfehden auf dem Dorf oderdie Vendettas zwischen städtischen Jugendbanden aus-gehen. Recht und Unrecht lassen sich bei solchenKonflikten kaum auseinanderhalten; sobald man ver-sucht, den gegenseitigen Anschuldigungen nachzuge-hen, führen die Ermittlungen nur in einen Abgrundtrüber Machenschaften. Man hört Geschichten vonuralten Fehden und ungesühnten Verbrechen, seltsamverwoben mit Hexereianschuldigungen und dem Hin-weis auf verborgenen Schadenszauber. Eine Justiz,die sich an westliches Recht halten soll, passt schlechtin diese Welt okkulter Kräfte hinein. Richter und Po-lizisten stehen außerdem vor dem Problem, dass Zeu-gen oft ihre Aussagen widerrufen, weil sie die Fron-ten gewechselt haben oder weil die Familien, die sichbefehden, unter der Hand zu einer Verständigung ge-kommen sind.

Rivalisierende Sicherheitskräfte

Im Igboland mit seinen vielen Händlern und Klein-unternehmern soll es für Polizeibeamte besonderseinträglich sein, ihren Dienst zu versehen. Es heißt,dass Polizisten aus anderen Regionen ihren Vorge-setzten Bestechungsgelder zahlen, um in einen der fünfIgbo-Bundesstaaten versetzt zu werden.26) Ob dieseBehauptung nun stimmt oder nicht: Viele Menschenhaben jedenfalls den Eindruck, dass sich Polizei undArmee wie eine fremde Besatzungsmacht aufführen:„People are permanently under siege and the fear of

24) Financial Times,23../24.6.2001. – WelcheProbleme es aus Sicht derPolizei bei ihrer Arbeit gibt,beschreibt Alemika 1997:81ff. Zum Verfall der öffent-lichen Verwaltung und demMangel an sozialer Kontrollein Nigerias Großstädten:Adisa/Albert/Hérault 1995:25ff., 43ff.; Agbola 1997: 57ff.; Francis 1996: 19ff.; Isokun 1994: 92ff.; Olowu 1999: 50ff.

25) Ähnlich sieht es bei denRichtern aus. Dass sie Pro-zesse verschleppen oder beientsprechender Bezahlungdie Akten vernichten, hängtauch damit zusammen, dasssie die Flut von Verfahrengar nicht bewältigen könn-ten. (Civil Liberties Organi-sation 1996: 101f.; Uwazie2000: 21)

26) The News, 10.8.1998: 17.

22

Page 11: Die Bakassi-Boys in Nigeria

23

illegal detention.“27) Zu dem Gefühl der Ohnmachtträgt sicher bei, dass die Polizeikräfte im Igbolandnicht von den Einwohnern der Region kontrolliertwerden, sondern von fremden Politikern, die Hundertevon Kilometern entfernt residieren. Der Präsident,dem sämtliche Polizei- und Militäreinheiten unter-stellt sind, ist ein Yoruba aus dem Südwesten Nige-rias, ein Mann, dem viele vorwerfen, dass er die Igbohasst.28) Er hat die Menschen in Anambra State nichtdanach gefragt, ob sie unter dem Schutz ihrer Bür-gerwehr leben wollen oder nicht. Statt dessen gab erim Juli 2000 einfach Anweisung, Einheiten der Armeeund Militärpolizei in der Provinzhauptstadt Awka zukonzentrieren und von dort aus auf Onitsha zu mar-schieren, um die Stadt von Milizen zu säubern.

Eine vergebliche Mission. Schon an der Stadtgrenzewurden die Truppen gestoppt. Die Bakassi-Boys hat-ten sich deutlich sichtbar auf der Autobahn postiert,so dass ihre Gegner, ein wenig irritiert, schon in wei-ter Ferne anhielten. Doch die Bakassi-Kämpfer wink-ten sie mit ruhiger Geste heran, näher und näher, bisdie Vertreter der Staatsgewalt aus wenigen MeternDistanz beobachten konnten, was die Igbo-Kriegervor ihren Augen inszenierten: Einige der jungenMänner traten sich im Abstand von wenigen Meterngegenüber, legten ihre Waffen aufeinander an undfeuerten Schüsse ab. Doch die Kugeln fielen, für jedendeutlich sichtbar, an ihren Kleidern herab. Entsetzensoll die Angreifer erfasst haben, so dass sie sich über-stürzt in ihre Kasernen zurückzogen.29)

Neben der magischen Kraft, die man den Bakassi-Boys zuspricht, gab es andere Gründe, die ihnen fürserste den Sieg schenkten. Entscheidend war vielleicht,dass die Händlervereinigung OMATA, die wie die ‚in-offizielle Regierung‘ in Anambra State auftritt,30) sichgeschlossen hinter die Bakassi-Miliz gestellt hatte.Selbst ‚Ohaneze‘, eine Art Forum oder Zusammen-schluss der mächtigsten Igbo-Politiker, ließ die Re-gierung in Abuja wissen, man werde nicht hinnehmen,dass die mühsam errungene Sicherheit in den Städtenwieder gefährdet würde.31) Am 1. August, als Gouver-neur Mbadinuju von seinen Verhandlungen in derHauptstadt zurückkehrte, hatten sich auf dem Marktvon Onitsha mehr als 200 000 Menschen versammelt,um ihren Widerstand gegen die Zentralregierung deut-lich zu machen. Laut Presseberichten sangen sie: „All

27) Ebd.28) Newswatch, 5.2.2001: 19.29) Mir wurde diese Geschichte

von verschiedenen Personenerzählt, darunter von einemkatholischen Priester, derhinzufügte, dass unter denGeistlichen der Diözese eineDebatte aufkam, ob es sichum ein göttliches Wunderhandele. – Händler, mit denenich in Onitsha sprach, wollenmit eigenen Augen gesehenhaben, wie die Bakassi-Kämpfer dieses Kunststückauf dem Markt vorführten:Es habe sich nicht um Platz-patronen gehandelt; dieKugeln seien tatsächlich amKörper der Bakassi abge-prallt. Von der OPC-Miliz inLagos besitzen wir genauereInformationen, mit welchenMitteln sie sich kugelfestmacht. Wenn die Kämpfer indie Schlacht ziehen, führensie einen Tonkrug mit Wasserbei sich. Unmittelbar vor demEinsatz wäscht sich eineJungfrau oder eine ältere,nicht mehr gebärfähige Fraumit diesem Wasser die Vagina,woraufhin jeder Krieger einwenig von dem Wasserschöpft und sich damit dasGesicht wäscht. (The Source,31.7.2000: 15)

30) The Week, 26.12.1994: 19.31) Newswatch, 18.9.2000: 17;

Tell, 28.8.2000: 28.

Page 12: Die Bakassi-Boys in Nigeria

we are saying, give us vigilante.“32) Doch der Gouver-neur brachte ihnen gute Nachrichten. Unter dem Ju-bel der Menge verkündete er, dass Präsident Obasanjosein Verbot zurückgenommen habe.

Bei seiner Entscheidung dürfte der Präsident be-rücksichtigt haben, dass viele Polizeibeamte sich nurwiderwillig in eine offene Konfrontation mit denBakassi-Boys hineintreiben lassen. Selbst wenn es ge-lingen sollte, die Miliz ohne allzu große Opfer zu ent-waffnen: Wie will sich die Polizei auf Dauer in einerGroßstadt behaupten, in der sie auf eine Mauer vonAblehnung und wütender Feindschaft trifft? Auchder Polizeiführung war wohl klar, dass sie in ihremKampf gegen lokale Bürgerwehren keine überzeu-gende Figur macht. In einem Interview fragten Jour-nalisten den Polizeiminister, aus welchem Grund sichdie Bevölkerung in dem bevorstehenden Konflikt aufdie Seite des Staates stellen sollte: „In the event thatBakassi and OPC boys are swept off the streets, whatassurance can you give the public that the police, asconstituted now, will guarantee their safety? – [Mini-ster Jemibowon:] The police can’t guarantee their sa-fety.“33) Der Polizeichef von Anambra State hatte so-gar einräumen müssen, dass seine Mitarbeiter für denkriminellen Terror mitverantwortlich sind: „Fatai Fag-bemi, the then state commissioner of police, accusedhis men of complicity in the rising crime wave.“34)

Während die Polizei oft Angst und Hass provo-ziert, flößt die Bakassi-Miliz den Menschen eher Ver-trauen ein. Dabei sind die Methoden, die beide be-nutzen, nicht sehr verschieden. So wie Polizeibeamtenehmen auch die Bakassi-Boys von jedem BürgerAnzeigen entgegen, wobei sie zusichern, alle Infor-mationen vertraulich zu behandeln. Was an Berichtenüber Verdächtige eingeht, wird einer eigenen Ermitt-lungskommission vorgelegt, die der Sache weiter nach-geht und schließlich entscheidet, ob die Beschuldigtenins Hauptquartier gebracht und vernommen werden.Bei den Verhören geht es dann sicher nicht mit rechts-staatlichen Mitteln zu. Keiner der Angeklagten kannes wagen, die Aussage zu verweigern, weil er damitnur Schläge oder Schlimmeres provozieren würde.Aber auch darin unterscheiden sich die Bakassi-Me-thoden nicht von denen der Polizei. Umso erstaunli-cher ist es, dass die Miliz in ihrem Kampf gegen dasVerbrechen so viel effektiver ist, noch dazu mit mini-

32) Tell, 28.8.2000: 28.33) Zit. nach Tell, 28.8.2000: 26.34) Newswatch, 18.9.2000: 17.

24

Page 13: Die Bakassi-Boys in Nigeria

25

malem Aufwand. In der Innenstadt von Onitsha sindnicht mehr als 25 bis 30 Bakassi-Kämpfer stationiert.Natürlich gibt es neben ihnen private Wachmann-schaften, manchmal auch lokal begrenzte Bürgerweh-ren, die in den einzelnen Stadtteilen mit den Bakassi-Boys zusammenarbeiten. Aber diesen vigilante groups,die schon vorher existierten, war es nie gelungen, sichgegen die Herrschaft des organisierten Verbrechensdurchzusetzen.

Für den Erfolg der Bakassi-Boys gibt es einen ent-scheidenden Grund. Sie sind (oder waren bislang)nicht korrupt, und deshalb traut man ihnen zu, Rechtzu sprechen, ohne sich von den Reichen und Mächti-gen beeinflussen zu lassen. Dass sie in ihrem Urteilzwischen Arm und Reich keinen Unterschied ma-chen, wird immer wieder hervorgehoben, auch vonGouverneur Mbadinuju, der sich für die Unbestech-lichkeit seiner Miliz verbürgt: „Nobody has anythingto fear except he is a criminal – and no matter howhighly placed.“35) In Gesprächen über Bakassi zeigensich die Menschen immer wieder überzeugt, dass dieMiliz kein unschuldiges Blut vergießt, auch wennman im Einzelfall nicht weiß, was gegen die Verur-teilten vorlag. Bei den sechs Exekutionen, die ich beimEinkauf auf dem Markt eher zufällig zu sehen bekam,konnte mir keiner der Umstehenden sagen, wegenwelcher Vergehen die Beschuldigten sterben mussten.Man wusste, dass einige der Hingerichteten fünf Tagezuvor ins Hauptquartier geführt worden waren, undman versicherte mir, dass es sich um Banditen, wennnicht um Mörder handle.

Zu dem Ruf, unbestechlich zu sein, hat eine Epi-sode beigetragen, die es wert ist, genauer geschildertzu werden: das Verfahren gegen einen Geistlichen na-mens Edward Okeke. Prophet Eddy, den man auchden ‚Jesus aus Nawga‘ nannte, war bis zu seiner Hin-richtung Besitzer einer Kirche, in der Wunderheilun-gen veranstaltet wurden. Vor dem Kirchengebäudebegrüßte den Besucher eine gewaltige Jesus-Skulptur,daneben Statuen von Moses, dem Propheten Eliasund Eddy selbst, wie er sich über einen gefallenen Lu-zifer erhebt.36) Hinter der Fassade christlicher Fröm-migkeit spielten sich aber, wie man im Nachhineinerfuhr, die monströsesten Verbrechen ab, daruntereine Serie von Ritualmorden. Der Mann Gottes soll93 Menschen getötet haben, um mit Hilfe von Lei-

35) In einem Interview mit Tell,26.3.2001: 43.

36) News Guide [eine Zeitschriftmit recht kleiner Auflage, diein Lagos erscheint, sich aberan ein Igbo Publikumrichtet], Vol.1, No. 1, 2000: 5.

Page 14: Die Bakassi-Boys in Nigeria

chenteilen besonders wirksame Zaubermittel herzu-stellen. In der Gegend von Onitsha vermutete manz.B., dass Eddy seine Hände im Spiel hatte, als aus derEntbindungsstation eines Krankenhauses in einerNacht 16 Babys gestohlen wurden. Für Europäerklingen solche Anschuldigungen abwegig; in Nigeriadagegen sind die Menschen beunruhigt, weil tatsäch-lich Tausende von Ritualmorden stattfinden.37) ImFall von Edward Okeke hatte auch schon die Polizeigegen ihn ermittelt, allerdings wegen ganz ordinärerMorde, z.B. im Februar 2000, als ein Lokalpolitiker,der sich mit ihm überworfen hatte, von vier Auf-tragsmördern erschossen wurde. Die Familie des Er-mordeten beschuldigte damals den Propheten, denMord veranlasst zu haben, und einer der Täter stelltesich als ein Mitarbeiter von Eddy heraus. Außerdemfand sich das Tatfahrzeug auf dem Privatgelände derKirche geparkt, doch den Besitzer der Kirche konnteoder wollte man nicht belangen.38)

Wegen seiner übernatürlichen Kräfte stand derProphet im Verdacht, ein gespenstisches Zwitterwesenzu sein, halb Mensch, halb Geist – was er nach seinerVerhaftung auch bestätigte. Seine Bekenntnisse sindauf einer Audio-Cassette aufgezeichnet, die überallim Igboland verkauft wurde: The Original True Con-fession of Prophet Eddy Nawgu. Was man hier gebo-ten bekommt, ist allerdings eine Art Collage, die Aus-züge aus den Verhören aneinander reiht und sie mitdem Geräusch von Polizeisirenen und Maschinenge-wehrsalven dramatisch untermalt. Es kommt hinzu,dass die angeblichen Bekenntnisse nicht aus dem Mundvon Eddy selbst zu hören sind, sondern wie bei einemHörspiel von fremder Stimme vorgelesen werden. Ausdem inszenierten Charakter lässt sich jedoch nichtfolgern, dass es sich um erfundene Texte handelnmuss. Offenbar gibt es wirklich Originalaufzeich-nungen, denn im Streit mit der Regierung hatten dieBakassi-Führer dem Präsidenten eine Video-Cassettezugeschickt, auf der Szenen aus dem Verhör zu sehensind. Nur wurden diese Aufnahmen nie öffentlich.

Unter Kollegen meiner Universität, von deneneinige selbst zu Eddys Kunden gehört hatten, wurdespekuliert, welche Teile des Verhörs der Öffentlich-keit vorenthalten wurden. Auffällig ist, dass in demoffiziellen ‚Geständnis‘ nirgends erwähnt wird, an wender Prophet seine Zaubermittel verkaufte. Die Brisanz

37) Nach offiziellen Schätzungensollen allein zwischen 1992und 1996 etwa 6000 Men-schen rituellen Morden zumOpfer gefallen sein. (Frank-furter Allgemeine Zeitung,2.11.1996)

38) Tell, 11.12.2000: 42 und18.12.2000: 34f.; Ndigbo’sVoice [Lagos], Vol 2, No. 32,2001: 4.

26

Page 15: Die Bakassi-Boys in Nigeria

27

der Affäre aber liegt gerade darin, dass Edward Okekeviele Politiker zu seinen Kunden zählte, darunter an-geblich auch den früheren Militärherrscher IbrahimBabangida. Der ehemalige General, der als der reich-ste und mächtigste Mann des Landes gilt, soll ver-sucht haben, über den Gouverneur von Anambra StateDruck auf die Bakassi-Boys auszuüben, damit sie denPropheten freiließen. Andere Politiker und Ge-schäftsleute schickten Gesandte nach Onitsha, die di-rekt mit der Miliz verhandelten. Einige Markthänd-ler, deren Stände gleich vor dem Bakassi-Gebäudegelegen sind, erinnerten sich, dass in jenen Novem-bertagen, als Edward Okeke hier gefangen gehaltenwurde, immer wieder Regierungslimousinen aus an-deren Bundesstaaten vorfuhren. Selbst das Präsiden-tenamt in der Hauptstadt Abuja mischte sich ein undverlangte ultimativ, den Gefangenen der Polizei zuüberstellen. Jeder in Onitsha war damals gespannt, obdie Bakassi-Führer dem Druck des politischen Esta-blishments nachgeben würden. Wenn Ex-GeneralBabangida jemanden freikaufen will, so wurde mirversichert, kann er ohne zu zögern eine Summe von50 Millionen Naira anbieten. Aber die Bakassi-Boyswaren nicht zu bestechen. Am 9. November führtensie Edward Okeke aus seiner Zelle und brachten ihnvor 20 000 Zuschauern ums Leben.39)

Im Konflikt mit der Staatsgewalt stand wieder derHändlerverband auf ihrer Seite. Scharen von Händ-lern waren in Bussen und auf LKWs in die Provinz-hauptstadt Awka gefahren, hatten den Regierungssitzdes Gouverneurs gestürmt und verlangt, EdwardOkeke unverzüglich hinzurichten, andernfalls wür-den sie das Regierungsgebäude samt der staatlichenRadiostation niederbrennen. Nach der Exekution es-kalierte der Konflikt dann weiter. Als sich die Nach-richt verbreitete, dass die Polizei einige Bakassi-Mitglieder wegen Mordes verhaftet habe, kam es zuMassenprotesten, die das wirtschaftliche Leben inOnitsha zum Stillstand brachten. Gouverneur Mba-dinuju bedrängte den Präsidenten, die Polizei zurück-zurufen, und die Verhafteten kamen in der Tat wiederfrei.40)

Die Kräfte des Bösen

Das Versagen der Polizei, die den ‚falschen Propheten‘jahrelang gewähren ließ, wird unter Angabe verschie-

39) News Guide, Vol. 1, No. 1,2000: 2f.

40) News Round [eine Igbo-Zeitschrift], Vol. 2, No. 3,2000: 6; Tell, 11.12.2000: 42;News Guide, Vol. 1, No. 1,2000: 7f.

Page 16: Die Bakassi-Boys in Nigeria

dener Gründe erklärt. Dass Edward Okeke in höchs-ten Kreisen Protektion besaß, war angeblich nichtentscheidend. Die Menschen betonen vielmehr, dasser über okkulte Kräfte verfügte, mit denen sich Polizeiund Justiz nicht messen konnten.41) Ihre Rivalen, dieBakassi-Boys, verstehen es dagegen, sich durch ‚Ju-jus‘ (oder Zaubermittel) so effektiv zu schützen, dasssie selbst die gefährlichsten Gegner nicht zu fürchtenhaben. Darüber hinaus besitzen sie unfehlbare Mittel,um auch in den düstersten Fällen die Wahrheit ansLicht zu bringen. Den Verdächtigten wird beim Ver-hör eine besondere Kette um den Hals gehängt,manchmal auch eine Schildkröte, die es ihnen un-möglich macht zu lügen.42) Die Bakassi-Kämpfer be-sitzen außerdem ein Schwert, das nur tötet, wenn esmit einem Mörder oder Räuber in Kontakt kommt.43)

Mit solchen geheimnisvollen Mitteln knüpft dieIgbo-Miliz an Traditionen an, die in vorstaatliche Zei-ten zurückreichen. Da die Igbo keine Zentralgewal-ten kannten, die Recht hätten durchsetzen können,wandten sich die Konfliktparteien oft an Orakel, indenen Schreinpriester die Götter befragten. Oder siegingen zu Wahrsagern, die mit Hilfe magischer Mit-tel Übeltäter identifizieren oder ‚ausriechen‘ konnten.

Auf solche spirituellen Mittel, die bei der Wahr-heitsfindung oft entscheidend waren, verzichtet dasmoderne westliche Rechtssystem. In den Augen vielerIgbo ist es daher kein Wunder, dass staatliche Richterimmer wieder durch Zauberei in die Irre geführt wer-den. Ihre Willkür erklärt sich nicht nur daraus, dasssie bestechlich sind; man nimmt auch an, dass sie,ohne es zu bemerken, in ihren Entscheidungen durchunsichtbare Kräfte manipuliert werden.44) Im Fall vonEdward Okeke z.B. wäre es gar nicht möglich gewesen,ihn zum Geständnis seiner Verbrechen zu bewegen,wenn der Juju-Mann der Bakassi, der an den Verhörenangeblich immer beteiligt ist, nicht zu besonderenMaßnahmen gegriffen hätte. Um den Zauber des Pro-pheten zu brechen, schnitt man ihm die langen, bu-schigen Haare ab, die ihm ein etwas wildes Aussehengegeben hatten.45) Außerdem hatte man schon bei sei-ner Festnahme zu beachten, dass Eddy die Fähigkeitbesaß, sich unsichtbar zu machen. In einem Video-film, in dem die Abenteuer der Bakassi-Boys nachge-stellt sind, ist zu sehen, wie sich das zwitterhafte Geist-wesen vor den Augen seiner Verfolger in Luft auflöst.

41) In den Zeitungen wurdeoffen ausgesprochen, dassEddy die Polizei verzauberthatte, z.B. im Guardian,14.1.2001: 34.

42) Tell, 18.12.2000: 34. – ImVolksmund wird diese Ver-hörmethode der ‚Labortest‘genannt, ein Ausdruck, der –mit einem Hauch von Ironie– die Objektivität des Ver-fahrens verdeutlichen soll.

43) Newswatch, 18.9.2000: 16.44) Zuweilen sehen sich die

Richter auch offen durchmagische Praktiken bedroht.Aus einem Verfahren gegenmutmaßliche Ritualmörderwurde z.B. bekannt, dass dieAngeklagten mehrereZauberer zur Verhandlungbrachten und über einenVentilator magische Substan-zen im Gerichtssaal verbrei-ten ließen. (Champion,14.12.1996)

45) Diese Szene ist auf einigender Bakassi-Poster festgehal-ten, die es auf den Märktenzu kaufen gibt.

28

Page 17: Die Bakassi-Boys in Nigeria

29

Doch durch die magischen Manipulationen einesBakassi-Anführers wird der Unsichtbare wieder indie Welt der Erscheinungen zurückgezwungen.46)

Mit der Hinrichtung von Edward Okeke wollten dieBakassi-Boys nicht nur ihre Unbestechlichkeit doku-mentieren. Ihr Sieg über den berüchtigten Zaubererdiente auch dazu, die eigenen okkulten Kräfte unterBeweis zu stellen. Er führte jedem vor Augen, dassniemand es wagen kann, sich ihnen entgegenzustel-len. Der Eindruck, unbezwingbar zu sein, wird nochdurch andere Mittel sorgsam kultiviert. Dazu gehörtdie kalte, ritualisierte Grausamkeit, mit der sie ihreHinrichtungen inszenieren, etwa wenn sie mit denKöpfen, die sie gerade abgehackt haben, vor den Zu-schauern Fußball spielen. Der Schock, den solcheSzenen auslösen, dient als ein Mittel der Mnemotech-nik, denn die traumatisierenden Bilder drängen sichimmer wieder der Erinnerung auf und mahnen an dieüberwältigende Macht der Bakassi. Doch das grau-same Spektakel, mit dem sich die Krieger über alle Ta-bus hinwegsetzen, hat noch eine andere Funktion.Durch die Verachtung, mit der sie ihre Gegner bisüber den Tod hinaus behandeln, zeigen sie, dass sieselbst die Geister der Toten nicht zu fürchten haben.47)

Die Ruchlosigkeit der Bakassi-Boys steht zur Ge-rechtigkeit, die sie durchsetzen wollen, keineswegsim Widerspruch. Schon jene Orakel, die in früherenZeiten mit der Rechtsprechung betraut waren, prä-sentierten sich als eine unerbittliche Macht, die demSchuldigen nicht nur das Urteil sprach, sondern ihnauch auf der Stelle zermalmen konnte.48) Neben denOrakelgottheiten nahmen sich oft auch Geheimge-sellschaften das Recht, Gesetzesbrecher zu verfol-gen.49) Die Mitglieder dieser Geheimkulte waren be-kannt, aber sie trafen sich abgesondert von den Frauenund nicht-initiierten Männern, in eigenen Kulthäu-sern oder in den Schreinen von Lokalgottheiten. Wassie dort entschieden, wurde von Gruppen junger Män-ner vollstreckt, die ungestraft töten durften: zuweilenganz offen, vor der Augen der Dorfbewohner, meistaber unter der Maske von Ahnen oder Geistern. IhreMacht wurzelte im Kontakt mit der Geisterwelt, aberauch in Fetischen, Amuletten und anderen magischenRequisiten, die man in den Kultzentren zusammen-trug. Solche ‚Kriegsmedizin‘, die die Mitglieder unterenormen Kosten erworben hatten, wurde keineswegs

46) Das Video trägt den Titel‚Issakaba‘ (marketed byMosco Int., Aba/Onitsha).Ähnliche Szenen zeigt einFilm, der von den Verbrechendes Edward Okeke handelt:‚Last Prophet‘ (Coruma Int.,Onitsha/Aba/Lagos). Vonder Fähigkeit des Propheten,sich unsichtbar zu machen,wissen auch die Tageszeitun-gen zu berichten, z.B. derGuardian vom 14.1.2001: 34.

47) Im Igboland war es ein weitverbreiteter Brauch, erschla-genen Feinden die Köpfe ab-zuschneiden. Doch gingendie Kopfjäger vorkolonialerZeiten ganz anders mit ihrenTrophäen um. Die Schädelder Ermordeten wurdenpfleglich behandelt, manch-mal mit Farben dekoriertund im Ahnenschrein auf-bewahrt, während dieKrieger, die sich mit Blutbefleckt hatten, aufwendigeReinigungsriten durchliefen.(Uka 1972: 80f.)

48) Das berühmteste Orakel, derSchrein von Arochukwu, deraus dem ganzen IgbolandKlienten anzog, war zugleichdas gefürchtetste. Wenn sichdie Quelle, die aus demheiligen Hain herausfloss,rot färbte, wussten dieMenschen, dass Arochukwuden Schuldigen gerichtethatte. (Hives 1933: 116ff.;Azuonye 1990: 16) AndereOrakelgottheiten ließen sichmit der Ausführung derStrafe mehr Zeit. Es konntenWochen oder Monatevergehen, bis der Schuldigeoder einer seiner Angehöri-gen von einer plötzlichenKrankheit ergriffen wurdeund starb.

49) Meek 1930: 21, 52; Shelton1971: 143f.

Page 18: Die Bakassi-Boys in Nigeria

verborgen gehalten, sondern offen zur Schau gestellt,um die Feinde abzuschrecken.50)

Für ihren Feldzug gegen das Verbrechen rüstensich die Bakassi, so wie ihre traditionellen Vorbilder,mit allen nur erdenklichen Waffen: „Sie kämpfen mitder Kraft des Guten und der Kraft des Bösen“, wie eseiner der Markthändler ausdrückt. Die Kraft des Gutenist mit dem Christentum assoziiert, zu dem sich dieBakassi-Boys so wie fast alle Igbo bekennen. JedenMontagmorgen, wenn die neue Marktwoche beginnt,versammeln sich die Mitglieder der Miliz zusammenmit einem Priester zum Gebet. Und so wie andereGläubige haben sich einige von ihnen Halsketten miteinem Kreuz umgehängt. Doch nur die wenigstenChristen Nigerias verlassen sich allein auf das WortGottes. Die alten ‚heidnischen‘ Praktiken mögen böseund satanisch sein, aber es wäre unklug, sie einfach zuverwerfen, noch dazu in einer Welt, in der das Böse sooffensichtlich triumphiert. Um dem Kampf gegen ihreRivalen gewachsen zu sein, müssen sich auch christli-che Milizionäre mit okkulter Macht wappnen. Jedervon ihnen trägt irgendwelche Fetische deutlich sicht-bar um den Oberarm gebunden, manchmal auch umdie Hüfte oder ums Fußgelenk. Außerdem haben ei-nige die Klingen ihrer Messer mit einer unbekanntenSubstanz hellrot gefärbt, und wenn sie mit diesen Waf-fen zum Richtplatz schreiten, vollführen sie damit,unmittelbar vor der Exekution, ein stummes Ritual.Viele dieser Vorkehrungen sind dazu bestimmt, sichvor dem Gegenzauber ihrer Feinde schützen, wasauch darin sichtbar wird, dass die Miliz den Eingangzu ihren Büroräumen mit einer Fülle von Jujus undgeheimnisvollen Zeichen gesichert hat. Besucher, diehier Einlass fanden, wollen gesehen haben, dass dieBakassi-Boys nicht auf gewöhnliche Weise durchdiese Tür treten, sondern rückwärts laufend, das Ge-sicht von all den Zaubermitteln abgewandt.

Was die sonderbaren Riten zu bedeuten haben, istnicht bekannt, und es lässt sich auch nicht in Erfah-rung bringen, da die Bakassi-Krieger die Geheimnisseihrer Macht vor allen Außenstehenden hüten. Nebender militärischen Ausbildung, die sie in einem Trai-ningscamp am Stadtrand von Aba absolvieren, durch-laufen sie einen Prozess der Initiation mit verborgenenEideszeremonien, durch die sie sich Verschwiegen-heit geloben.51) Wer in den Kreis der Krieger aufge-

50) Cole/Aniakor 1984: 133f.51) Tell, 28.8.2000: 27.

30

Page 19: Die Bakassi-Boys in Nigeria

31

nommen ist, hat gelernt, sich mit anderen Mitgliederndurch geheime Zeichen und Worte zu verständigen.Außerdem grenzen sich die Bakassi-Boys, ähnlichwie traditionelle Geheimbünde, durch die Beachtunggemeinsamer Tabus von ihren Mitmenschen ab. Be-stimmte Speisen etwa dürfen sie nicht berühren, undvor allem ist es ihnen verboten, sexuelle Kontakte zuhaben. Durch diese kultische Isolation soll wohl ver-hindert werden, dass soziale Beziehungen entstehen,die mit der Loyalität zur Gruppe in Konflikt tretenkönnen. Es dürfte aber auch die Vorstellung mit hin-einspielen, dass von Frauen eine verunreinigende Wir-kung ausgeht, die die Kraft magisch-religiöser Ritualeaufhebt.52)

Da sich der Kampf der Bakassi-Boys zu einemGroßteil im Reich des Okkulten bewegt, töten sienicht nur ordinäre Verbrecher, sondern auch Hexen.Sie greifen damit eine Tradition auf, die eng mit derGeschichte des Marktes in Onitsha verknüpft ist. He-xen wurden oft gezwungen, ihr Geständnis auf demöffentlichsten aller Plätze abzulegen, auf dem Markt.Während sie vor allen Anwesenden ihre Verbrechenenthüllten, rissen sie sich langsam, Stück für Stück,die Kleider vom Leib, bis sie nackt dastanden. DieUmstehenden griffen dann zu den Steinen, die sie fürdiese Gelegenheit zurecht gelegt hatten, und brachtendie Hexe zu Tode.53)

Vielleicht ist es unvermeidlich, dass mit dem Ver-fall des Staates die Angst vor dem Okkulten wächst.Wenn Macht kaum noch institutionell reguliert undgebändigt ist, wird es zunehmend umstritten, wem siezufällt. Wer Macht erwirbt, muss sie unermüdlich ge-gen Rivalen verteidigen, wie einen Besitz, der von nie-mandem geschützt wird. Macht heftet sich an einePerson und verlässt sie wieder, ohne dass es klare Kri-terien gäbe, die über die Vergabe von Macht entschei-den. Es sieht eher so aus, als seien es dunkle Kräfte,die einen Menschen befähigen, sich vor allen anderenEinfluss, Prestige und Reichtum zu verschaffen. Unddieser Verdacht verleitet zu phantastischen Spekula-tionen: Nach Ansicht vieler, wenn nicht der meistenIgbo kann man nur reich und mächtig werden, indemman einen seiner engsten Angehörigen durch geheimeRiten zum Opfer bringt oder indem man Jujus erwirbt,die mit Hilfe von Leichenteilen angefertigt wurden.54)

52) Henderson 1972: 145, 206,251. – Welche Folgen eshaben kann, sich auf sexuelleBeziehungen einzulassen,illustriert der Videofilm‚Issakaba‘. Einer der Mili-zionäre, der sich von einerFrau verführen lässt, fälltnoch am selben Tag Räubernin die Hände und erleideteinen schrecklichen Tod.

53) Bastian 1993: 146f.54) Harnischfeger 1997: 136.

Page 20: Die Bakassi-Boys in Nigeria

Der Niedergang des Staates und die Rückkehr ok-kulter Gewalt bedeuten freilich nicht, dass sich wie-der die alten Formen der Konfliktregulierung durch-setzen werden. Die Menschen müssen zwar, wie invorkolonialer Zeit, wieder aus eigener Kraft für ihreSicherheit sorgen; doch im Vergleich zur tribalen Ver-gangenheit, als jeder auf die Unterstützung seinerVerwandtschaftsgruppe bauen konnten, befinden sichdie Bürger des postkolonialen Nigeria in einerprekären, unübersichtlichen Lage. Die Familien, indie sie hineingeboren wurden, bieten wenig Schutz,weil auf die Loyalität zwischen den Angehörigenkaum noch Verlass ist. Besonders die jungen Männer,die nicht länger in die heimische Subsistenzwirtschafteingebunden sind, sondern migrieren und sich aufeigene Rechnung durchschlagen, können sich allenfamiliären Verpflichtungen entziehen. Sie schließensich neuen, selbstgewählten Gruppen an: Kirchen,Sekten oder irgendwelchen Gangs; doch diese Orga-nisationen erweisen sich als instabil, weil es an Ver-trauen fehlt, um verlässliche Gruppenbeziehungenaufzubauen.

In einer Welt, in der alle Formen von Loyalität zer-fallen, ist Geld noch das sicherste Mittel, sich Protek-tion zu verschaffen. Wer sich Einfluss erkaufen kann,ist vor der Willkür der Polizei, vielleicht sogar vor demTerror von Räuberbanden geschützt. Aus dem Be-mühen, Schutz zu finden, erklärt sich, warum die Men-schen so verzweifelt mit allen Mitteln nach Reichtumstreben. Und es wird auch verständlich, warum sieihren Reichtum so triumphierend zur Schau stellen:Die Luxuslimousine, in der ein Drogenhändler oderLokalpolitiker vorfährt, mahnt jeden daran, dass esbesser ist, sich nicht mit dem Besitzer anzulegen. Werdurch sein Vermögen andere übertrifft, erwirbt dieFreiheit, auf niemanden Rücksicht zu nehmen, ja erkann sich über alle sozialen Zwänge hinwegsetzen.Die Attraktivität der Macht liegt gerade darin, dassdie Mächtigen sich für nichts zu verantworten haben:„The normal rules of social behaviour need not applyto those in power.“55) Die Reichen und Mächtigen kom-men nicht als Bittsteller, die geduldig warten müssen,bis sie vorgelassen werden. Sie drängeln sich an denSchwachen vorbei und nehmen sich, was niemand ih-nen vorenthalten kann.

55) Achebe 1985: 31.

32

Page 21: Die Bakassi-Boys in Nigeria

33

Während am Rand der großen Städte immerneue imposante Villen entstehen, leben zwei Drittelder Nigerianer unter der Armutsgrenze.56) Jeder vonihnen muss sich um die Gunst irgendwelcher big menbemühen, die ihnen mit etwas Geld oder kleinerenAufträgen weiterhelfen können. Besonders prekär istdie Situation für die vielen arbeitslosen Jugendlichen,die von irgendeinem business träumen, aber nie dienötige Patronage finden. Solange sie vereinzelt sind,müssen sie sich jede Demütigung gefallen lassen. Dochsobald sie sich zu Banden zusammenschließen, kannniemand es wagen, sie zu schikanieren. Der Ruf, un-verletzlich zu sein, gibt ihnen einen Teil ihrer Würdeund ihres Selbstvertrauens zurück. So wie die Reichen,die sie bei allem Hass auch bewundern, werden sie zu Unberührbaren, die sich verhalten können, wie sie wollen. Freiheit bedeutet für sie, nicht mehr derWillkür anderer ausgeliefert zu sein, sich nicht zuBittstellern erniedrigen zu lassen. Und diese Freiheiterwirbt am direktesten der zwanzigjährige Kokain-händler, der jeden Polizisten bestechen kann.57)

Selbst wer nicht die Mittel hat, sich zu schützen,wird oft bemüht sein, sich die Aura von Stärke undÜberlegenheit zu geben. Um der Aggression seinerMitmenschen zu entgehen, muss er den Eindruck ver-mitteln, dass er sich zu wehren weiß, ja dass er keineScheu hat, im Notfall hemmungslos zurückzuschla-gen. Unter diesen Umständen kann es ein durchausrationales Verhalten sein, die eigene Brutalität zurSchau zu stellen. Für Jugendliche, die sich in Bandenorganisieren, hat es daher nur beschränkten Reiz, sichheimlich, des nachts, als Verbrecher zu betätigen,denn das gibt ihnen nicht das Gefühl von Macht undFreiheit. Gewalt wird, wenn möglich, öffentlich zele-briert, weil sie ein Mittel ist, sich Respekt zu verschaf-fen. Für Europäer, die unter staatlich gesicherten Ver-hältnissen leben, mag es abstoßend sein, eine Formvon Respekt zu suchen, die auf Einschüchterung be-ruht, Doch für Igbo-Jugendliche ist es die solidesteForm von Respekt. Das sehen die Herrschenden imÜbrigen nicht anders. Sie lieben es, sich mit der Aurades Dämonischen zu umgeben, wie etwa der frühereStaatschef Babangida, der sich selbst als evil geniusbezeichnete. Ähnlich sein Nachfolger, General Ab-acha. Er machte sich gar nicht erst die Mühe, durchsLand zu reisen und bei der Bevölkerung um Unter-

56) Newswatch, 12.3.2001: 42.57) Reno 1998: 204f.

Page 22: Die Bakassi-Boys in Nigeria

stützung zu werben. Statt dessen schloss er sich in sei-nen Präsidentenbunker ein, umgab sich mit Prophe-ten, Zauberern und islamischen Marabouts, währenddie Minister seiner Regierung oft wochenlang auf eine‚Audienz‘ warten mussten. Eine ähnlich aggressiveForm der Selbstdarstellung wählen auch zivile Politi-ker, etwa jener Lokalpolitiker in Awkuzu, der sich mitden geraubten Millionen zwischen die Lehmhäuserseines Heimatdorfes eine düstere Betonvilla gebauthatte, umgeben von hohen Mauern, mit einem mäch-tigen Metalltor, über dem, aus Eisen geschmiedet, einriesiger Skorpion prangt.

Auch die Bakassi-Boys sind bestrebt, ihre Umweltdurch das Spektakel der eigenen Grausamkeit einzu-schüchtern. Die regelmäßigen Exekutionen sind Teileines Kults der Macht, der mit Hilfe von Menschen-opfern zelebriert wird. Was die Miliz von ihren Geg-nern unterscheidet, ist ihr Anspruch, unbestechlichzu sein und mit der eigenen Gewalt den „Willen desVolkes“58) zu vollstrecken. Doch es ist kaum vorstell-bar, dass es den Bürgern von Anambra oder AbiaState auf Dauer gelingt, bewaffnete Kommandos, diemit so überwältigender Macht auftreten, unter Kon-trolle zu halten. In vorkolonialer Zeit waren die Mit-glieder von Geheimkulten meist in Dorfgemeinschaf-ten eingebunden, so dass sie sich leichter kontrollierenließen. Die Bakassi-Kämpfer dagegen bilden eher einebunt zusammengewürfelte Söldnertruppe, die sichfür ihr blutiges Handwerk bezahlen lässt. Ihre Auf-traggeber haben bislang verhindern können, dass diejungen Männer willkürlich morden. Doch die Händ-lervereinigung OMATA, deren Führer das Bakassi-Zentrum in Onitsha beaufsichtigen, sind alles andereals ein demokratisch geführter Verband. In der Ver-gangenheit kam es oft zu internen Auseinanderset-zungen, bei denen die verfeindeten Fraktionen mitSchlägerbanden und contract killers gegeneinandervorgingen. Bei einem dieser Konflikte wurden imAugust 1994 große Teile des Markts niedergebrannt.59)

Im Übrigen sind die reichen Händler und Geschäfts-leute nicht die einzigen, die Interesse daran zeigen, dieBakassi-Boys für sich arbeiten zu lassen. Igbo-Politi-ker wie Gouverneur Mbadinuju suchen ebenfallsEinfluss auf die Miliz zu gewinnen, weil es mit ihrerHilfe möglich ist, Oppositionspolitiker und Gegnerin den eigenen Reihen einzuschüchtern. Denkbar wäre

58) Guardian, 14.1.2001: 34.59) The Week, 26.12.1994: 18.

34

Page 23: Die Bakassi-Boys in Nigeria

35

auch, dass sich die „Bakassi-Armee“60) mehr und mehrin eine ethnische Schutztruppe verwandelt, die sichim Namen der ‚Igbo-Nation‘ gegen andere Ethnienmobilisieren lässt.

Rückzug der Staatsgewalt

Gouverneur Mbadinuju hat sein Interesse an derBakassi-Miliz nie verleugnet. Ohne ihn hätten sich diebewaffneten jungen Männer nicht in Anambra eta-blieren können, und seit dem Beginn ihrer Mission imJuli 2000, hat er nie gezögert, sie gegen alle Anfein-dungen von Regierung, Polizei und Militär in Schutzzu nehmen. Da er sich als Patron der Bakassi sieht,geht es in gewisser Weise um seine ‚Boys‘. Er fühltsich der Gruppe verbunden, redet gerne von „wir“und erklärt sich selbst zum „Oberbefehlshaber“ derMiliz.61) Im Konflikt mit der Zentralregierung, als esdarum ging, ein Verbot der Miliz abzuwenden, hatte ereinem Kompromiss zustimmen müssen. Danach istdie Miliz verpflichtet, keine Schusswaffen zu tragen,und sie darf fremde Personen nur festnehmen, wennsie die Betroffenen gleich anschließend der Polizeiübergibt. Mit dieser Regelung hat die Obasanjo-Re-gierung versucht, ihr Gesicht zu wahren: Nach offizi-eller Auskunft ist das staatliche Gewaltmonopol nichtangetastet, und die Miliz operiert ganz im Einklangmit der Verfassung.

Auch Gouverneur Mbadinuju versichert immerwieder, dass seine Miliz sich strikt an die Gesetze hält.Die jungen Männer seien nur der Polizei dabei be-hilflich, Verbrecher zu fangen. Doch jeder weiß, dasssolche Erklärungen nicht ernst gemeint sind. DerGouverneur gibt sich nicht einmal Mühe, die Fiktionaufrecht zu erhalten, dass es in seinem Bundesstaat nachden Regeln der Verfassung zugeht. Wenn er im Ge-spräch mit Journalisten behauptet, dass die Bakassi-Boys keine Schusswaffen tragen und auch keine Hin-richtungen vornehmen, lässt er durchblicken, dassseine Ausführungen nichts weiter sind als eine Farce:„[Journalists:] But we hear that they also use guns. –[Mbadinuju:] Have you seen any? (General laughter)When David Jemibowon (the former minister of po-lice affairs) came, he didn’t see any gun. He said[Bakassi] was self-defence (general laughter).“62)

Neben solchen absurden Erklärungen, die er mitRücksicht auf die Bundesregierung abgeben muss,

60) Tell, 28.8.2000: 27.61) Interview mit Tell,

26.3.2001: 43.62) Ebd.–Ähnlich in einem

Newswatch-Interview(18.9.2000: 15): „News-watch: Are they empoweredto kill? – Mbadinuju: No.They don’t kill. […] But if[…] some of these [robbers]run away by themselves andif in running they don’tobserve very well and runinto the River Niger or some-how they hurt themselves orinflict a personal injury onthemselves who do youblame? […] We shouldn’tworry ourselves how anarmed robber dies. That isnot our business.“

Page 24: Die Bakassi-Boys in Nigeria

nennt der Gouverneur aber auch einige ganz plausibleGründe, die dafür sprechen, die Igbo-Miliz ungestörtarbeiten zu lassen. Gegen den Vorwurf, die Schutz-truppe setze sich eigenmächtig über Recht und Ord-nung hinweg, erinnert er daran, dass das Landespar-lament in Anambra ein Gesetz verabschiedet hat, dasdie Aktivitäten der Bürgerwehr legalisiert.63) Als pro-movierter Jurist weiß er natürlich, dass die Legislativein seinem Bundesstaat die Verfassung Nigerias mitihrem Katalog von Menschenrechten nicht außerKraft setzen darf. Aber in anderen Teilen der Födera-tion ist das längst geschehen, ohne dass die Zentralre-gierung dagegen Einspruch erhoben hätte. Zehn Bun-desstaaten im islamischen Norden des Landes habenim offenen Bruch mit der säkularen Verfassung in-nerhalb ihrer Grenzen die Scharia in Kraft gesetzt.Unter der muslimischen Mehrheit in Zamfara oderKano State ist diese Gesetzesänderung enorm po-pulär. Doch für die christlichen Migranten aus demSüden, die zum Großteil aus dem Igboland stammen,stellt sich die forcierte Islamisierung als Bedrohungdar. Und deshalb hatten die Gouverneure der domi-nant christlichen Bundesstaaten zunächst energischgegen den Bruch der gemeinsamen Verfassung pro-testiert. Doch mittlerweile nimmt man sich den Se-paratismus islamischer Politiker zum Vorbild. Nachden Worten von Mbadinuju haben auch die christli-chen Igbo das Recht, sich selbst zu regieren, ohne sichum das Urteil anderer zu kümmern, so wie die mus-limischen Hausa oder Kanuri für sich beanspruchen,nach eigenen, selbstgewählten Gesetzen zu leben: „IfZamfara is a Muslim state, allow them to organisetheir state on that basis. If I’m a Christian state, I or-ganise my state on that basis.“64) Zwischen denGrundsätzen seines Glaubens und dem Kreuzzug derBakassi sieht er im Übrigen keinen Widerspruch:„The Bible says that he who lives by the sword shallperish by the sword. And that is exactly what is goingon. Bakassi became an instrument of judgment in thehands of God against the armed robbers.“65)

Was die Bakassi praktizieren, unterscheidet sich auchnicht sehr von dem, was im muslimischen Nordenganz offiziell durch die Scharia vorgeschrieben ist.Nach dem Gesetz von Zamfara State steht auf Hexe-rei seit neuestem die Todesstrafe; für Ehebruch und‚Sodomie‘ ist das Steinigen vorgesehen und für Raub-

63) Tell, 28. 8. 2000: 29; News-watch, 18. 9. 2000: 15; Tell,26. 3. 2001: 43.

64) Interview mit Tell,26. 3. 2001: 43.

65) Ebd.

36

Page 25: Die Bakassi-Boys in Nigeria

37

mord die Kreuzigung.66) Minder schwere Delikte sol-len dagegen durch öffentliches Auspeitschen oder Ab-schneiden von Händen und Füßen geahndet werden.Ähnliche Strafen verhängen aber auch die BakassiBoys, die neben ihren Exekutionen angeblich auchAmputationen und Stigmatisierungen durchführen.67)

Neben dem Recht auf Selbstbestimmung, das Gou-verneur Mbadinuju im Namen der Igbo reklamiert,rechtfertigt er sich der Öffentlichkeit gegenüber nochmit weiteren Argumenten: Kritiker haben kein Recht,sich über die Bakassi-Justiz zu empören, solange siekeine überzeugenden Alternativen anzubieten haben:„You don’t need to bother about what the humanrights people, civil rights people and the lawyers say.[W]hen we were crying that armed robbers were kil-ling us, innocent people, nobody did anything. […] Ifyou catch a confirmed armed robber and you kill himand the human rights [!] are shouting, is it fair?”68)

Westliche Rechtsvorstellungen sind so gründlich dis-kreditiert, dass die Mehrheit der Bürger sie als einHemmnis empfindet, das bei der Suche nach Gerech-tigkeit eher im Weg steht. Es macht auch wenig Sinn,Menschenrechte einzuklagen, wenn es keine Institu-tionen gibt, die sie durchsetzen könnten. Polizei undJustiz, die alle ‚unrechtmäßigen‘ Formen von Gewaltzurückdrängen sollten, sind gescheitert, und damitstellt sich in Nigeria gar nicht mehr die Alternativezwischen jungle justice und einer Justiz, die nachrechtsstaatlichen Prinzipien vorgeht. Für die Bürger,die sich dem Terror eines verfallenden Staates zu ent-ziehen suchen, geht es nur noch um die Frage, ob sichandere Rechtssysteme finden lassen, die vielleicht mehrSicherheit gewähren.

Staatliche Formen der Rechtsprechung, die denIgbo erst Anfang des 20. Jahrhunderts aufgezwungenwurden, sind ihnen immer fremd geblieben. Gerichts-verfahren nach westlichem Vorbild spielen sich zwaröffentlich ab, doch erscheint den Beobachtern der Pro-zess der Wahrheitsfindung wenig transparent, weil seinAusgang von einer Fülle bürokratischer Regelungenbestimmt ist. Dass man bei Verfahrensfehlern denProzess einstellt oder im Zweifel für den Angeklagtenentscheidet, hat schon die Autorität der kolonialenGerichtsbarkeit untergraben. Die Igbo waren oft fas-sungslos, wenn Beschuldigte freigelassen wurden, nurweil die Richter Regeln beachten mussten, die man in

66) Zamfara State of NigeriaGazette, 15th June, 2000,Vol. 3: § 406, § 127, § 131;§ 153.

67) Tell, 28.8.2000: 17.68) Interview mit Newswatch,

18.9.2000: 14.

Page 26: Die Bakassi-Boys in Nigeria

Nigeria gerne als ‚technicalities‘ oder ‚legal niceties‘bezeichnet. Schriftlose Kulturen wie die der Igbopflegten ein pragmatisches Verhältnis zum Recht,ohne den Rekurs auf ideologische Grundsätze odereine universalistische Moral. Wer Recht suchte, konntesich die rechtsprechende Instanz oft selber wählen. Ermochte ein Giftorakel veranstalten lassen oder sich anden Priester einer mächtigen Gottheit wenden, viel-leicht auch seinen Fall einem der Ältestenräte vorle-gen. Die Hauptsache war, wie in allen vorstaatlichenGesellschaften, dass überhaupt eine Entscheidung ge-troffen wurde, die dem Streit ein Ende setzte, bevorer weiter eskalierte und eine Kette von Blutrache aus-löste.69)

An diesem Pragmatismus, der unterschiedlicheRechtsquellen anerkennt, hat auch die Kolonialmachtmit ihrer ‚zivilisatorischen‘ Mission wenig geändert.Westliches Recht konnte sich schon deshalb nichtdurchsetzen, weil der Staat kaum präsent war.70) Diewenigen britischen Beamten mussten sich auf indi-gene Eliten stützen und damit auf traditionelle For-men der Rechtsprechung, mit der Folge, dass ver-schiedene Gesetzgebungen offiziell nebeneinanderbestanden. Vor diesem Hintergrund erscheint es denmeisten Nigerianern völlig legitim, dass sich auf ganzunterschiedliche Weise Recht sprechen lässt. Im Nor-den des Landes werden bis heute 80 bis 95 Prozent al-ler Streitfälle ‚traditionellen‘ Gerichten oder islami-schen Kadis vorgelegt.71) Aus europäischer Sichtarbeiten solche Gerichte mit wenig elaborierten Me-thoden der Beweisführung; doch dafür spielen reli-giöse oder magische Elemente eine größere Rolle beider Wahrheitsfindung. Gouverneur Mbadinuju, dersich gegenüber der Zentralregierung auf das über-lieferte, vorstaatliche Recht der Igbo beruft, nenntnoch einen weiteren Vorzug dieses ‚uralten Systems‘.Statt die Lösung von Konflikten einer fremden Büro-kratie zu überlassen, nehmen die Menschen ihre Si-cherheitsbelange selbst in die Hand: „What we aredoing […] is an age-long system of our people takingcare of their defences – from village level to town le-vel“.72) An diese Traditionen knüpfen die Bakassi-Boys an, wenn sie eng mit lokalen vigilante groupszusammenarbeiten. Bei ihren Ermittlungen gegenGesetzesbrecher fragen sie immer wieder die Bewoh-ner der betreffenden Dörfer oder Stadtviertel, ob es

69) Girard 1987: 28ff.70) Herbst 2000: 67ff.71) Ostien 1999: 15.72) Tell, 28.8.2000: 28.

38

Page 27: Die Bakassi-Boys in Nigeria

39

sich bei den Beschuldigten um Verbrecher handeltoder nicht.

Ethnische Milizen

Kritiker werfen dem Gouverneur von Anambra Statevor, dass es ihm bei seinem Engagement für dieBakassi-Boys nicht nur um Recht und Gerechtigkeitgeht, sondern auch um seine politische Karriere. Esheißt, dass er die Miliz vor allem dazu nutzen will,seine Gegner einzuschüchtern. Solche Befürchtungensind aber – wie Mbadinuju versichert – völlig unbe-gründet: Er habe es nicht nötig, mit Gewalt gegen po-litische Konkurrenten vorzugehen, weil es nieman-den gibt, den er zu fürchten hat: „I have no politicalopposition in Anambra State.“73) Ganz so gefestigt istseine Position freilich nicht. Im November 2000 ent-ließ er sein gesamtes Kabinett mit der Begründung,dass einige der Minister „Spitzel“ seien, die seine Feindemit Insider-Informationen versorgten.74)

Mbadinuju hat guten Grund, die Intrigen seinerGegner zu fürchten. Um als Kandidat für die Gou-verneurswahlen antreten zu können, hatte er sich miteinflussreichen Geschäftsleuten und Politikern ver-bünden müssen, die seinen Wahlkampf finanzierten.Zum Ausgleich für diese Hilfe musste er sich ver-pflichten, all jene, die in seinen Sieg investiert hatten,bei der Vergabe von Ämtern und öffentlichen Aufträ-gen zu berücksichtigen. Einem Geschäftsmann, derihm 14 Millionen Naira zukommen ließ, sicherte erz. B. in einem schriftlichen Vertrag das Recht zu, beider Zusammenstellung des künftigen Kabinetts diePositionen des Arbeits- und Finanzministers mitLeuten seiner Wahl zu besetzen.75) Doch nachdemMbadinuju mit 95 Prozent der Wählerstimmen in denGouverneurspalast eingezogen war, erklärte er ganzunverblümt, dass er sich an die alten Absprachennicht gebunden fühle: „There are some gentlemen’s ag-reements which politicians make in the heat of elec-tions. […] But I don’t think they should be the basisto run an administration.“76) Es ist möglich, dass erfrühere Zusagen nicht einhalten kann, weil er zu vie-len seiner Förderer dasselbe versprochen hat. Oder erwill die Macht nicht teilen, weil er sich nach demüberwältigenden Wahlsieg stark genug glaubt, sichüber die Interessen des politischen Establishmentshinwegzusetzen. Für diese Erklärung spricht zum

73) Interview mit Newswatch,18.9.2000: 15.

74) Tell, 13.11.2000: 56.75) Mbadinuju in einem Inter-

view: Emeka Offor „contri-buted N 14 million to myelection. […] He insisted hemust have works and financecommissioners. At that stage,we said well, he was abrother, after all somebodyshould be able to nominatesomebody, and we said ,goahead‘.“ (Tell, 10.7.2001: 36)

76) Interview mit Tell,13.11.2000: 58.

Page 28: Die Bakassi-Boys in Nigeria

Beispiel, dass er die Vereinbarungen innerhalb derRegierungspartei ignorierte, um einen Mitarbeiterseiner Anwaltskanzlei als Parlamentspräsidentendurchzusetzen.77) Solche eigenmächtigen Entschei-dungen zwingen dazu, sich unabhängig von den eta-blierten big men eine eigene Machtbasis aufzubauen,und da bietet es sich an, als ‚Oberbefehlshaber‘ derBakassi-Boys aufzutreten, und sei es nur, um durchden Kreuzzug gegen das Verbrechen an Popularitätzu gewinnen.

Mit bewaffneten Milizen auf seiner Seite könnteMbadinuju auch gegenüber der Zentralregierung mehrUnabhängigkeit durchsetzen. So wie andere Gouver-neure fordert er mehr Autonomie für die einzelnenBundesstaaten, und dazu gehört für ihn vor allem dasRecht, seine eigene Landespolizei zu kommandieren.Doch Präsident Obasanjo, dem die Kontrolle überdie auseinanderstrebenden Regionen und Ethnienimmer weiter entgleitet, will die Befehlsgewalt überPolizei und Militär nicht aufgeben. Er kann damit al-lerdings nicht verhindern, dass Politiker im Igboland,aber auch bei den Yoruba oder Hausa, ethnische Mi-lizen aufrüsten. In Lagos z.B. hat Gouverneur Tinubuangedroht, die mächtige OPC-Miliz, die als Befrei-ungsbewegung des Yoruba-Volkes auftritt, ganz offi-ziell als bewaffnete Polizei einzusetzen.78) Politikeranderer Ethnien, besonders der Hausa in Nordnige-ria, reagieren empört auf diesen Vorschlag, hatten siedoch stets die Entwaffnung der OPC-Kämpfer ge-fordert, nachdem die Yoruba-Krieger in ihrer Hoch-burg Lagos bei diversen Kämpfen in ethnisch gemisch-ten Stadtteilen Hunderte von Hausa, Igbo und Ijawgetötet hatten. Gouverneur Tinubu wurde damals be-schuldigt, diese Massaker angeordnet oder zumindestgeduldet zu haben.79) Aber das hat seiner Popularitätunter den Yoruba, die ihn Anfang 1999 nach demEnde der Militärdiktatur ins Amt wählten, keines-wegs geschadet.

Unter den Gouverneuren der fünf Igbo-Staaten istOrji Kalu unbestreitbar der populärste, nicht zuletzt,weil er rabiater als andere Präsident Obasanjo an-greift und ihm vorwirft, die Rechte der ‚Igbo-Nation‘mit Füßen zu treten. So wie bei anderen Politikern,die als Anwälte ihrer Ethnien auftreten, verbindetsich bei ihm der Patriotismus aufs schönste mit deneigenen politischen Ambitionen. Denn was er im Na-

77) Ebd., S.56.78) Financial Times,

23/24.6.2001. – De facto trittder Oodua People’s Congresslängst wie eine Polizeitruppeauf. Nach eigenen Angabennimmt sich die Organisationdas Recht, mehr als 2000 Ver-dächtige in Untersuchungs-haft zu halten. (The News,13.11.2000: 23) Im Unter-schied zu den verschiedenenIgbo-Milizen ist der OPCallerdings aus der Pro-Demo-kratie-Bewegung hervorge-gangen, als der bewaffneteFlügel der National Demo-cratic Coalition. Seit demEnde der Militärdiktaturversteht sich die Gruppe je-doch mehr als eine ethnischeMiliz, die für sich bean-sprucht, weltweit zu operie-ren, auch in den schwarzenDiasporas von Nordamerikaund Westeuropa. Nach An-gaben ihrer Führer verfolgtder OPC also einen doppel-ten Zweck: „flushing outcriminals from Yorubaland“(Tell, 31.1.2000: 19) und„protection of Yorubainterests anywhere in theworld“ (Tell, 13. 12. 1999: 19)Mit den Migrantenströmenerreicht der Staatsverfall auchdie Großstädte der westlichenWelt. Ethnische Gruppen,die sich nicht assimilieren,sondern sich in eigenenStadtvierteln oder Ghettoskonzentrieren, suchen ihresoziale Umwelt selbst zu be-stimmen, und dazu gehört,ihr eigenes Territorium zukontrollieren. (vgl. Bayart/Ellis/Hibou 1999: 23ff. und41ff.)

79) Hotline [ein Journal ausNordnigeria, das Hausa-Interessen vertritt],18.2.2001: 15.

40

Page 29: Die Bakassi-Boys in Nigeria

41

men seines Volkes einfordert, dient im Wesentlichendazu, die Kompetenzen seiner Regierung zu erwei-tern und sich der Aufsicht der Bundesbehörden zuentziehen. Seine Unabhängigleit gegenüber dem Yo-ruba-Präsidenten gründet sich nicht zuletzt auf dieBakassi-Boys, die in Abia State zu einem bedeuten-den Machtfaktor aufgestiegen sind. Sie verleihen sei-nen Worten mehr Gewicht, wenn er sich als Verteidigerethnischer Interessen aufspielt: „I belong to a genera-tion of Igbos that is ready to do everything to defendthe interest of the Igbo anywhere, anytime.“80) Nochdeutlicher äußerte er sich, als bei religiösen Konflik-ten in Nordnigeria muslimische Hausa Hunderte vonIgbo getötet hatten: „If they kill an Igboman, we willretaliate immediately.“81) Unmittelbar danach tötetenbewaffnete Banden, unter ihnen die Bakassi-Boys, in-nerhalb eines Tages mindestens 400 Hausa, die als Mi-granten aus dem Norden in diversen Igbo-Städtengelebt hatten. Es ist schwer vorstellbar, dass der Gou-verneur den Angriff persönlich angeordnet hat. Viel-leicht ging die Initiative, sich an die Bakassi-Boys zuwenden, von Händlern aus, die bei den Scharia-Un-ruhen im Norden ihren Besitz oder ihre Angehörigenverloren hatten.

Im benachbarten Imo State, der ebenfalls von denIgbo dominiert wird, lehnte Gouverneur Udenwa esab, mit den Bakassi-Boys zu kooperieren, aber nichtaus prinzipiellen Erwägungen, sondern weil er sichder Loyalität der Bakassi-Miliz nicht sicher ist: „Youmust set up an organisation that you can control“.82)

In seinen Augen verdient eine andere Gruppe mehrVertrauen, und zwar eine Befreiungsbewegung na-mens MASSOB, deren Führer sich von Nigeria los-gesagt und einen unabhängigen Igbo-Staat ausgeru-fen haben. So wie Ende der sechziger Jahre, als sich dieIgbo auf einen ruinösen Sezessionskrieg einließen,heißt die neu proklamierte Republik wieder ‚Biafra‘.Anhänger der Unabhängigkeitsbewegung hissen of-fen die alte Separatistenflagge; manche MASSOB-Mit-glieder paradieren auch in Uniformen der ehemaligenBiafra-Polizei durch die Straßen und liefern sichSchießereien mit der Bundespolizei.83) Doch Gouver-neur Udenwa erklärt, es handele sich um eine gewalt-freie Organisation, die sich an das geltende Recht halte,und deshalb dürfe sie in seinem Bundesstaat ungehin-dert operieren.84)

80) Interview mit Tell,19.2.2001: 24.

81) Zit. nach The News,27.3.2000: 11.

82) Zit. nach Champion,18.3.2001.

83) Bei einem Angriff auf dasMASSOB-Hauptquartier, andem auch Einheiten der inder Nähe kasernierten 34.Artillerie-Brigade beteiligtwaren, soll es zehn Tote und50 Verletzte gegeben haben.(Tempo, 22.2.2001: 7; NewsRound, Vol. 2, No. 30, 2000:5) Die Miliz revanchierte sichmit dem Überfall auf einePolizeistation, bei dem sieeinige ihrer gefangenen Mit-glieder befreien konnte.(Guardian, 11.3.2001)

84) Champion, 18.3.2001.

Page 30: Die Bakassi-Boys in Nigeria

Zurück nach Anambra State. Mbadinuju hatte sichder Forderung anderer Gouverneure angeschlossen,die Aufsicht über die Polizei den jeweiligen Landes-regierungen zu übertragen. Doch nachdem die Ba-kassi-Boys sich bewährt haben, erklärte er, ihm sei esegal, ob er Polizeieinheiten befehlige oder irgendwel-che anderen Truppen: „I’ll prefer something I’ll con-trol, whether you call it police or you call it anything.This is because when I make my own law, I will havesomebody to enforce it.“85) Um seine Miliz zu kon-trollieren, muss der Gouverneur bemüht sein, denEinfluss der Händlerorganisation OMATA zurück-zudrängen. Beide Seiten sind zwar miteinander ver-bündet, weil sich der Gouverneur und die Händler-vereinigung nur gemeinsam gegen Eingriffe derZentralregierung zur Wehr setzen können; doch hin-ter den Kulissen spielen sich Machtkämpfe ab, vondenen nur wenig an die Öffentlichkeit dringt. NachAngaben einer lokalen Igbo-Zeitschrift verständigtensich die Händler darauf, die Zahlungen an ihre Schutz-truppe einzustellen, weil sie nicht hinnehmen wollen,dass Mbadinuju ganz allein über das Konto derBakassi-Boys verfügt.86)

Der Gouverneur ist über alle internen Vorgänge derMiliz genauestens informiert, weil sein Sicherheitsbe-rater, Chuma Nzeribe, dem Führungsstab der lokalenBakassi-Gruppe angehört. Mitglieder des Landespar-laments forderten nun allerdings, Nzeribe zu entlas-sen, da er in den Mord an einem Oppositionspolitikerverwickelt sein soll.87) Nach Angaben der Polizei gehtder Mord auf das Konto der Bakassi-Boys und des-halb wurden zwei prominente Führer der Miliz ver-haftet. Es heißt, die beiden hätten bereits ein Ge-ständnis abgelegt, was freilich nur dafür spricht, dassdie Polizei ihre Gefangenen auf die übliche Art zumSprechen gebracht hat. Wahrscheinlich ging es denstaatlichen Ermittlern vor allem darum, sich interneInformationen über die Bakassi-Boys zu verschaffen,wobei sie den Mord an einem Lokalpolitiker in Nnewi,einer Provinzstadt südlich von Onitsha, nur als Vor-wand benutzten. Igbo-Journalisten gehen jedenfallsdavon aus, dass die Verhafteten nichts mit dem Mordzu tun haben.88) Beide sind Händler in Onitsha, die imAuftrag von OMATA dem Führungskomitee derBakassi-Boys angehören, um die Aktivitäten der Mi-liz zu überwachen. Ihrer Mitarbeit ist es wesentlich zu

85) Interview mit Tell,26.3.2001: 43.

86) Newscap, Vol. 2, No. 3,2001: 7.

87) Vanguard, 12.3. 2001.88) Champion, 18. 3. 2001.

42

Page 31: Die Bakassi-Boys in Nigeria

43

verdanken, dass die jungen Männer mit ihren Mache-ten und pump guns bislang nicht so willkürlich mor-deten wie die Polizei oder die Verbrecherbanden.

Es kann nicht im Interesse des Händlerverbandssein, dass ihre Schutztruppe sich in die Streitereienvon Lokalpolitikern hineinziehen lässt. Möglich wäreallerdings, dass den Händlern bereits die Kontrolleentglitten ist. Auf lange Sicht wird sich wohl nicht verhindern lassen, dass im Namen der Bakassi-Boys alle möglichen Gewalttaten verübt werden, die vomFührungskomitee nie angeordnet wurden.89) Aus Aba,dem Geburtsort der Bakassi, ist bereits zu hören, dasseinzelne Mitglieder der Miliz Aufträge entgegenneh-men, bei denen der ‚Kunde‘ nichts weiter beabsichtigtals irgendwelche persönlichen Rechnungen zu beglei-chen. Wegen dieser Privatisierung der Miliz soll esauch schon zu bewaffneten Auseinandersetzungenzwischen rivalisierenden Bakassi-Fraktionen gekom-men sein.90)

Den Prozess der Desintegration, dem auch eine ver-schworene Gemeinschaft wie die Bakassi-Miliz aus-gesetzt ist, sucht die Polizei offenbar zu beschleuni-gen. Nur kann sie es nicht wagen, ihre Rivalen offenanzugreifen. Der Polizeichef der Region zeigt sich so-gar, wenn er nach den Selbsthilfegruppen im Igbolandbefragt wird, ausgesprochen kooperationsbereit.91)

Und auch jene Parlamentarier, die darauf drängen, denFührungsstab der Miliz ins Gefängnis zu bringen,versichern geflissentlich, dass sie die Arbeit der Bakassi-Boys uneingeschränkt unterstützen. Ihnen gehe esnur darum, die Organisation von korrupten Elemen-ten zu befreien: „We believe in the principle of Bakassi[…] but we do not believe in the leadership of Ba-kassi“.92) Mit der Verhaftung der Führungsspitze istoffenbar beabsichtigt, den Zusammenhalt der Gruppezu zerstören, damit sie in Banden zerfällt, die außerKontrolle geraten. Am Ende dieses Verfallsprozesseshätte sich die Miliz dann ihren Gegnern, den Verbre-cherbanden, wie ein Spiegelbild angeglichen.

Sicher ist es nicht die Sorge um Rechtsstaatlichkeit,von der sich die Polizei in ihrem Kleinkrieg mit derIgbo-Miliz leiten lässt. Seit die Bakassi-Boys denSchutz des Marktes in Onitsha übernommen haben,sehen sich die Beamten daran gehindert, von denHändlern Geld zu erpressen.93) Ihr Einkommen hatsich drastisch verschlechtert, und dieses Schicksal tei-

89) Der Regierung in Abia Statewird vorgeworfen, Opposi-tionspolitiker durch Schlä-gerbanden einzuschüchtern,die wie Bakassi-Boys ge-kleidet auftreten. (Tell,8.10.2001: 19)

90) Tell, 28.8.2000: 29. – DieOPC-Miliz hat sich bereits1998 in zwei verfeindeteFraktionen gespalten, die sichin verschiedenen Stadtviertelnvon Lagos gegenseitig über-fallen und um Einflusszonenkämpfen. (The Week,27.12.1999: 8)

91) This Day, 15.1.2001.92) Vanguard, 12.3.2001.93) Aus Sicht der Händler ist es

klar, warum die Polizei –oder Teile von ihr – sichnicht mit der Existenz derBürgerwehr abfinden kann.Chief Gilbert Okoye, der alsMitglied der Händlervereini-gung OMATA das lokaleFührungskomitee derBakassi-Boys leitet, hat esvor seiner Verhaftung offenausgesprochen: „Policemen[…] are annoyed that theyare not making money fromthe traders“. (in einem Inter-view mit News Round,Vol. 2, No. 30, 2000: 5)

Page 32: Die Bakassi-Boys in Nigeria

len sie mit einer Menge korrupter Politiker und Ge-schäftsleute. Was die verschiedenen Interessengrup-pen in Onitsha unternehmen, um ihren verlorenenEinfluss zurückzugewinnen, dürfte sich vom Präsi-dentenpalast in Abuja aus nur noch bedingt beein-flussen lassen. Der demokratisch gewählte Präsidentist durch den Aufstieg ethnischer Milizen ohnehin ineine ausweglose Lage geraten: Nimmt er hin, dass dasGewaltmonopol der Regierung weiter verfällt, danngeht dem Staat alle Autorität verloren, und die Föde-ration, mit ihren 400 verschiedenen Ethnien, dürftelangsam auseinanderbrechen. Sollte er dagegen versu-chen, die Stammesmilizen zu entwaffnen, würdensich die Bürger nur noch mehr ihrem Staat entfrem-den. Die Sicherheit, die die Miliz den Menschen inAnambra State gebracht hat, wäre ihnen durch die Po-lizei genommen: durch eine fremde, feindselige Ge-walt, die von Politikern anderer Ethnien kontrolliertwird. Ein Sieg über die Bakassi wäre außerdem vonkurzer Dauer, denn selbst wenn es gelänge, die Orga-nisation zu zerschlagen, würden sich die zornigenjungen Männer zu neuen Gangs zusammenschließen.Die Nachfrage nach Sicherheit ist so groß, dass sichimmer neue Banden bilden werden. Die Frage ist nur:Wird es größere Gruppen geben, wie die Bakassi-Boys,die ein ausgedehntes Territorium unter ihre Kontrollebringen und befrieden können? Oder werden vielezersplitterte Banden gegeneinander Krieg führen, sodass die Bürger in ständiger Unsicherheit leben?

Literaturverzeichnis

Achebe, Chinua. The Trouble with Nigeria. Enugu,Nigeria: Fourth Dimension Publishers. 1985.

Adisa, J./ Albert, I.O./ Hérault, G. (eds.). Report ofthe International Symposium on Urban Managementand Urban Violence in Africa. Ibadan: Institut Fran-çais de Recherche en Afrique. 1995.

Agbola, Tunde. The Architecture of Fear. UrbanDesign and Construction. Response to Urban Vio-lence in Lagos, Nigeria. Ibadan: Institute of AfricanStudies. 1997.

Alemika, Etannibi E.O. ‚Police, Policing andCrime Control in Nigeria‘, Nigerian Journal of Policyand Strategy 12 (1 & 2), 71–98. 1997.

44

Page 33: Die Bakassi-Boys in Nigeria

45

Azuonye, Chukwuma. ,The Heroic Age of theOhafia Igbo: its Evolution and Socio-Cultural Con-sequences‘, Genève-Afrique 28 (1), 7–35. 1990.

Bastian, Misty L. ,„Bloodhounds Who Have noFriends“: Witchcraft and Locality in the Nigerian Po-pular Press‘, in Jean Comaroff/John Comaroff (eds.),Modernity and its Malcontents. Ritual and Power inPostcolonial Africa. Chicago: University of Chicago,129–166. 1993.

Bayart, Jean-Francois/ Ellis, Stephen/ Hibou, Béa-trice. The Criminalization of the State in Africa. Ox-ford/Bloomington & Indianapolis: International Af-rican Institute, in association with James Currey andIndiana University Press. 1999.

Civil Liberties Organisation. Above the Law. AReport on Torture and Extra-judicial Killings by thePolice in Lagos State, Nigeria. Researched and Writ-ten by Chukwuma Innocent. Surulere, Lagos: CivilLiberties Organisation. 1994.

Civil Liberties Organisation. Justice for Sale. A Re-port on the Administration of Justice in the Magistra-tes and Customary Courts of Southern Nigeria. ByEze Onyekpere. Surulere, Lagos: Civil Liberties Or-ganisation. 1996.

Cole, Herbert/Aniakor, Chike. Igbo Arts. Exhibi-tion Catalogue. Los Angeles: Museum of CulturalHistory. 1984.

Francis, Paul. State, Community and Local Deve-lopment in Nigeria. Washington: World Bank.1996.

Girard, René. Das Heilige und die Gewalt. Zürich:Benziger. 1987.

Harnischfeger, Johannes. ,Unverdienter Reichtum.Über Hexerei und Ritualmorde in Nigeria‘, Sociolo-gus 47 (2), 129–156. 1997.

Henderson, Richard N. The King in Every Man.Evolutionary Trends in Onitsha Ibo Society and Cul-ture. New Haven/London: Yale University Press. 1972.

Herbst, Jeffrey. States and Power in Africa. Com-parative Lessons in Authority and Control. Princeton,New Jersey: Princeton University Press. 2000.

Hives, Frank. Ju-Ju and Justice in Nigeria. Lon-don: John Lane the Bodley Head Limited. 1933.

Isokun, Mike Imadon. ,The Politics of Crime- Con-trol in Nigeria‘, in Henry A. Ekiyor (ed.), Readings inContemporary Nigerian Politics. Ikeja, Lagos: FreeEnterprise Publishers. 1994.

Page 34: Die Bakassi-Boys in Nigeria

Meek, C.K. Ethnographical Report on the Peoplesof the Nsukka Division, Onitsha Province. London:Colonial Office 1930.

Olowu, Dele. ,The Challenge of Governing Afri-ca’s Large Cities‘, in Dele Olowu/Adebayo Williams/Kayode Soremekun (eds.), Governance and Demo-cratisation in West Africa. Dakar, Senegal: Council forthe Development of Social Science Research in Afri-ca. 1999.

Ostien, Philip. A Study of the Court Systems ofNorthern Nigeria. With a Proposal for the Creation ofLower Sharia Courts in Some Northern States. Jos,Nigeria: Centre for Development Studies. 1999.

Reno, William. Warlord Politics and African Sta-tes. Boulder/ London: Lynne Rienner. 1998.

Shelton, Austin J. The Igbo-Igala Borderland. Re-ligion & Social Control in Indigenous African Colo-nialism. Albany: State University of New York Press.1971.

Uka, N. ,A Note on the „Abam“ Warriors of IgboLand‘, Ikenga 1 (2), 76–82. 1972.

Uwazie, Ernest E. ‚Social Relations and Peace-keeping among the Igbo‘, in I. William Zartman (ed.),Traditional Cures for Modern Conflicts. African Con-flict „Medicin“. Boulder/London: Lynne Rienner.2000.

Zamfara State of Nigeria. Gazette. No.1. 15th June2000, Vol. 3. Law No. 10. Shariah Penal Code Law.Gusau, Zamfara State: Ministry of Justice. 2000.

46


Recommended