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Erdle · Literarische Epistemologie der Zeit · Birgit R. Erdle Literarische Epistemologie der Zeit...

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Erdle · Literarische Epistemologie der Zeit
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Birgit R. Erdle

Literarische Epistemologie der Zeit

Lektüren zu Kant, Kleist, Heine und Kafka

Wilhelm Fink

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Umschlagabbildung:Modell einer kosmopolitischen Zeit. Abbildung aus: Papers on Time-Reckoning and

The Selection of a Prime Meridian to be Common to all Nations. By Sandford Fleming (Copp, Clark & Co. Publishers of the Canadian Journal and the Proceedings of

the Canadian Institute, 1879. Fig.1, S. 27).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

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© 2015 Wilhelm Fink, PaderbornWilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn

Internet: www.fink.de

Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, MünchenPrinted in Germany

Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn

ISBN 978-3-7705-5300-6

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Inhalt

EINLEITUNG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

1 VOR DER LITERATUR ANKOMMEN. KANT UND DIE GEISTESGEGENWART . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

Kant, Der Streit der Fakultäten. Dritter Abschnitt (1798)

1.1 Das Thema des Denkens im Übergang von Philosophie und Medizin (23) – 1.2 Ein sehr peinigender Fehler (29) – 1.3 Geburt des Themas der Geistesgegenwart aus einem Entzug an Gegenwart (35) – 1.4 Das Motiv der Verknüpfung bei Kant und in der „Enzyklopädie“ (40) – 1.5 Der Philosoph als Meister und das laut werdende ‚Ich‘ (44)

2 UNTERBRECHUNG, UNEINHOLBARER ANFANG: DIE ENTDECKUNG DER NACHTRÄGLICHKEIT . . . . . . . . . . . . 49

Kleist, Die Marquise von O…. (1808), Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden (1805/1808), Brief eines Mahlers an seinen Sohn (1810)

2.1 Die Lücke im Text der „Enzyklopädie“ (49) – 2.2 Urszene einer Lücke im Wissen (54) – 2.3 Auseinandertreten von Sprache und Wissen, bewusstem Wissen und Wissen des Leibes (63) – 2.4 Erkenntnis als unabsehbarer Ver-lauf. Zum Zusammenhang von Wissen und Erregung (71) – 2.5 Zeugung und Überzeugung: die Sprache der Versicherung (84) – 2.6 Die genealogische (Un)Ordnung (89) – 2.7 Modalitäten des Anfangens. Nachträglichkeit, Un-terbrechung, Ungleichzeitigkeit, heilige Begeisterung (98)

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6 INHALT

3 VORZEIT UND LATENZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

Heine, Florentinische Nächte (1825-36), Die Götter im Exil (1853), Verschiedenartige Geschichtsauffassung (vermutlich 1833)

3.1 Das stille Buch und die Sprache der Leidenschaften (105) – 3.2 Signatur und Klangfigur. Irreführungen hermeneutischen und semiologischen Wissens (113) – 3.3 Überlagerung der ‚Zeugung‘ durch die ‚Zeugenschaft‘ als Erzählung ‚vom Anfang‘ (123) – 3.4 Die Illusion der ‚Stimme des Ereignisses‘ (126) – 3.5 Verschiebungen und Transformationen in der Konfiguration von Sprache, Leib und Wissen (129)  – 3.6 Heines Geschichtsdenken und die Um- schrift des Konzepts der Privatgeschichte (133) – 3.7 Eine Kulturtheorie der Latenz (137)

4 VORFALL UND AUGENBLICK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

Kleist, Charité-Vorfall (1810)

4.1 Zwei intertextuelle Dreiecksbeziehungen (151) – 4.2 Chronologie des Un-glücks: die Wunden des politischen Körpers (156) – 4.3 Deutung und Datie-rung: Kleists nicht-rhetorisches Konzept der Aktualität (162) – 4.4 Fehlleitun-gen des Wissens (166)  – 4.5 Der ‚Vorfall‘ als Austauschfigur zwischen medizinischem und literarischem Diskurs (170) – 4.6 Zum Zusammenhang von Vorfall und Unfall bei Kleist (173) – 4.7 Der Text als Schauplatz einer Kollision der Episteme (178) – 4.8 Hineinfahren (182) – 4.9 Den Augenblick ergreifen (183) – 4.10 Das Denken der Gegenwart (190)

5 FIGURATIONEN FORTSCHREITENDER ZEIT: LINIE, SPRUNG, STREUUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

Kafka, Meine kleine Automobilgeschichte (1911), Gutachten zur „Ein-beziehung der privaten Automobilbetriebe in die Versicherungspflicht“ (1909), Wer einmal scheintot gewesen ist (undatiert)

5.1 Eine Unfallgeschichte. „Montag, 11. Sept. [1911]“ (197)  – 5.2 Eine Kollision „auf dem Asphaltpflaster“ und ihre Proliferation in der Aufschrei-beszene: Unfälle ‚zweiter Ordnung‘ (204)  – 5.3 Die versicherungslogische Definition des Ereignisses und ihre Fortsetzung in Kafkas Text (209)  – 5.4 Die Biegsamkeit der Institution (213) – 5.5 Un/Möglichkeiten des Wis-sens (217) – 5.6 Die Streuung der Schreibanfänge (226) – 5.7 „Blutsver-wandter einer gesunden Geschichte“ (229)  – 5.8 Eine epistemische Lücke (Kafkas Moses) (232) – 5.9 Übersicht und Unübersichtlichkeit (242)

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7INHALT

6 DIE ZEIT DER KREATUR. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

Kafka, Forschungen eines Hundes (1922), Wir sind fünf Freunde (1920), Beim Bau der chinesischen Mauer (1917), Ein altes Blatt (1917)

6.1 Der „kleine Fehler in der großen Rechnung“ (249) – 6.2 Die „Kette der Geschlechter“. Reproduktion und Befragung genealogischer Denkfiguren (252) – 6.3 Varietäten, Arten, Mischungen: Auseinandersetzung mit dem Projekt der Homogenisierung (258) – 6.4 „Aufblick zum Himmel der Volks-einheit“: zur Gestalt des Wunsches im politischen Diskurs (265) – 6.5 Zu-spätgekommene: Topographien vertauschter Zeit (273)  – 6.6 Doppelzeit: „die Vorwelt – Kafkas geheime Gegenwart“ (285)

NACHBEMERKUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

BIBLIOGRAPHIE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301

DANK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

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Einleitung

Zeit als Gegenstand von Wissensgeschichte und Metapherngeschichte

Im Vorwort zu seiner Studie „Über die Zeit“, welches er auf deutsch im Juli und August 1984 schrieb, bemerkt Norbert Elias über das merkwürdig Unklare seines Gegenstands: „Man denkt über sie [die Zeit, B.E.] nach, aber weiß nicht recht, mit welcher Art von Gegenstand man es eigentlich zu tun hat. Ist Zeit ein Naturgegen-stand? Ein Aspekt von Naturvorgängen? Ist sie ein Kulturobjekt? Oder täuscht die substantivische Form des Wortes ‚Zeit‘ vielleicht nur einen Gegenstandscharakter vor?“1

Keinem Systematisierungsversuch gelingt es ganz, dieser Unklarkeit zu entkom-men. Die unvermeidlichen, teils unmerklichen Schwierigkeiten, in die man sich verstrickt, wenn man über Zeit nachdenkt, hat kaum jemand so präzise formuliert wie der Soziologe und Kulturphilosoph Norbert Elias; deshalb sollen seine Überle-gungen hier am Anfang stehen.2 Vor allem auf zwei Fallstricke macht Elias auf-merksam, denen man sich ausgesetzt sieht, wenn man über Zeit als Gegenstand des Nachdenkens reflektiert.3 Der eine besteht darin, dass dieses Nachdenken „oft un-versehens in eine traditionelle Gedankenwelt“ gerät, in der Zeit „einfach als Vor-stellung oder Idee verstanden wird und in der es als Kernfrage erscheint, die man an eine Idee richtet, ob sie ein getreues Abbild der Wirklichkeit ist oder nicht.“4 Der zweite Fallstrick liegt in dem Denkzwang, in den die Sprache treibt, wenn Rede wendungen wie „die Zeit bestimmen“ oder „die Zeit messen“ unterstellen, es gäbe tatsächlich „ein Ding“, ein physikalisches Objekt – „eben die Zeit, die es zu bestimmen oder zu messen gilt.“5

1 Norbert Elias, Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II. Hg. v. Michael Schröter. Frank-furt/M. 1988, S. XIX.

2 Der überwiegende Teil des Originalmanuskripts, dessen Entstehung bis in die frühen siebziger Jahre zurückreicht, ist, wie der editorischen Nachbemerkung des Herausgebers zu entnehmen ist, auf englisch geschrieben und trägt den Titel „An Essay on Time“. Von der Chronologie der Ent-stehungsgeschichte her gesehen, ist das auf deutsch geschriebene und dem Text vorangestellte Vorwort zuletzt entstanden. Ebd., S. 198. Zur Publikationsgeschichte vgl. ebd., S. 198. – Eine grundlegende philosophische Exponierung und Analyse dieser Problematik bietet Peter Bieri, Zeit und Zeiterfahrung. Exposition eines Problembereichs. Frankfurt/M. 1972. Er fasst sie als „hartnäckige und zugleich immer wieder entgleitende Unklarheit über den ‚realen‘, ‚objektiven‘ oder ‚subjektiven‘ Charakter der Zeit“. Ebd., S. 9. Seine Studie will sich dieser Problematik annä-hern, indem sie eine sprachanalytische, eine physikalische und eine phänomenologische Zu-gangsweise systematisch aufeinander bezieht. Ebd. S. 9-10.

3 Elias, Über die Zeit, S. XX. 4 Ebd., S. XX (Kursivierung im Original). 5 Ebd., S. 8.

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10 EINLEITUNG

Die Tätigkeit des Zeitbestimmens und der Begriff der Zeit können aber, wie Elias betont, nicht voneinander getrennt gesehen werden; in dem Begriff, den wir uns von der Zeit machen, ist diese Tätigkeit immer schon am Werk.6 In der Praxis des Zeitbestimmens überlagern sich technische, institutionelle und erfahrungsbe-zogene Aspekte. Zeitbestimmungs- und Datierungstechniken, das heisst die „all-mähliche Schaffung eines relativ gut integrierten Rasters von Zeitregulatoren wie kontinuierlichen Uhren, kontinuierlichen Jahreskalendern oder die Jahrhunderte umspannenden Ära-Zeitskalen“7, bilden die notwendige Voraussetzung, um „Zeit“ als einen kontinuierlichen Fluss erleben zu können. Diese Voraussetzung trifft je-doch nicht nur für das Erleben zu, sondern ebenso für die Wissenschaften, auch für die Naturwissenschaften: es sei kaum vorstellbar, so argumentiert Elias, „dass Phy-siker auf ihrem Gebiet den Begriff eines fortlaufenden, irreversiblen Zeitflusses hätten entwickeln können ohne die langsame und mühevolle Herausbildung sozi-aler Zeitskalen, mit deren Hilfe man die nicht-wiederkehrende, kontinuierliche Folge von Jahren, Jahrhunderten und Jahrtausenden exakt bestimmen konnte.“8 Aus all dem kann man schliessen – und dies ist für die Fragestellung meiner Studie grundlegend –, dass Zeit nicht als eine unabhängige Gegebenheit jenseits einer Geschichte des Wissens aufzufassen ist.

Der Denkzwang, den die Sprache ausübt, macht sich aber auch darin geltend, dass es, wie Elias unterstreicht, schwer sei, „in einer Weise zu denken und zu spre-chen, die nicht stillschweigend die Annahme impliziert, dass physikalische Zeit, biologische Zeit, soziale und erfahrungsbezogene Zeit zusammenhanglos neben-einanderstehen.“9 Für Elias ist jedoch eine Theorie der Zeit nur dann möglich, wenn physikalische und soziale Zeit in Beziehung gesetzt werden, anders gesagt, wenn man das „Zeitbestimmen im Zusammenhang der ‚Natur‘ und in dem der ‚Gesellschaft‘“10 nicht getrennt voneinander untersucht. Die bestehende begriffli-che Zweiteilung zwischen physikalischer und sozialer Zeit erweise sich zum Bei-spiel darin, so Elias, wie Untersuchungen über die Zeit gemeinhin „dem Bereich der theoretischen Physik“ zugeschlagen würden.11 Ein solcher begrifflicher Dualis-mus, wie er teils noch heute prägend ist, blockiert nach Elias aber Untersuchungen über die Zeit. Schon der „blosse Ausdruck ‚natürliche Zeit‘“, dem der ‚sozialen Zeit‘ gegenübergestellt und mit ihm verglichen, vermittle den Eindruck, „dass die erstere ‚real‘, die letztere eine willkürliche Konvention sei. Die Schwierigkeit ist, dass die ‚Zeit‘ nicht in das begriffliche Schema dieses Dualismus passt“.12

Wie auch diese begriffliche Zweiteilung selbst mit Wissen(schaft)sgeschichte verschränkt ist, versucht Elias an Galileis Beschleunigungsexperimenten plausibel zu machen. Er verortet die Aufspaltung der Zeit in die beiden Aspekte der ‚physi-

6 Vgl. ebd., S. 165. 7 Ebd., S. 6. 8 Ebd., S. 24-25. 9 Ebd., S. 72. 10 Ebd., S. 9. 11 Ebd., S. 57. Dieser Teil seiner Ausführungen datiert aus den siebziger Jahren. 12 Ebd., S. 94.

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11EINLEITUNG

kalischen‘ und der ‚sozialen‘ Zeit im Kontext und in der Nachgeschichte dieser Ex perimente, und zeigt, wie der Begriff der „physikalischen Zeit“ aus der „Matrix der ‚sozialen Zeit‘“ heraustritt.13 Während Zeit im Sinne ‚sozialer‘ Zeit „den Cha-rakter einer sozialen Einrichtung, eines Regulators sozialer Ereignisse, eines Modus menschlichen Erlebens“ besitze, erscheine Zeit im Sinn ‚physikalischer‘ Zeit „als ein Aspekt der ‚physikalischen Natur‘, als eine der unveränderlichen Variablen, die Physiker messen und die als solche ihre Rolle in den mathematischen Gleichungen spielen, die als symbolische Repräsentationen der Natur‚gesetze‘ gedacht sind.“14 Die „Entdeckung unveränderlicher Regelmäßigkeiten, die auf systematischen Messungen beruhten und durch mathematische Ewigkeitssymbole wie die ‚Geset-ze‘ der Natur, dann auch der Logik, oder die Ergebnisse rein mathematischer Ope-rationen dargestellt wurden“, sei, so argumentiert Elias, nach Galilei „für eine Wei-le zum legitimierenden Höchstwert einer physikalischen und philosophischen Tradition und entsprechend zum höchsten und prestigereichsten Ziel wissenschaft-licher Arbeit“15 geworden.

Das Unvermögen, „die sozialen Orientierungs- und Regulierungsfunktionen der Zeit in Betracht zu ziehen“16, bildet sich für Elias jedoch auch in der philoso-phischen Theorie der Zeit ab. Hier unterscheidet Elias zwei einander entgegenge-setzte Vorstellungen oder Positionen, die er mit den Namen Newton und Kant verbindet. Der Name Newton repräsentiert für ihn die Vorstellung, es handle sich bei der Zeit „um eine objektive Gegebenheit der natürlichen Schöpfung“17, das heisst, die Zeit sei „wie jedes andere physikalische Objekt als Teil der ewigen Na-turordnung gegeben“.18 Demgegenüber steht der Name Kant für die Vorstellung, „die Zeit sei eine Art des Zusammensehens von Ereignissen, die auf der Eigentüm-lichkeit des menschlichen Bewusstseins oder […] der menschlichen Vernunft beruhe“.19 Bei Kant sei sie also gedacht als „eine Art von angeborener Erlebnisform“.20 In Kants Denken erscheint die Zeit demnach als etwas Anthropologisch-Universel-les. Wenn in Kants Anschauung Zeit (und Raum) als transzendentale Bedingung von Wahrnehmung gedacht werden, er seinen Zeitbegriff also „zu einer gleichblei-benden Bedingung aller menschlichen Erfahrung“21 erklärt, so deutet Elias dies als „klassische[n] Fall von Vergessen der Vergangenheit, von Vernachlässigung des gesamten Wissensprozesses, der zu der eigenen Stufe, zu der eigenen Synthesenhö-he hingeführt hat.“22

Das Newtonsche Konzept physikalischer Zeit charakterisiert Elias dadurch, dass es Zeit als ein einheitliches und einförmiges Kontinuum entwerfe, welches sich

13 Ebd., S. 92. vgl. S. 83-93. Ebd., S. 93. 14 Ebd., S. 93. 15 Ebd., S. 106-107. 16 Ebd., S. X. 17 Ebd., S. X. 18 Ebd., S. 101. 19 Ebd., S. X-XI. 20 Ebd., S. XI. 21 Ebd., S. 31. 22 Ebd., S. 162.

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12 EINLEITUNG

über das gesamte physikalische Universum erstreckt23, als einen objektiven Fluss – „Teil der Schöpfung wie sichtbare Flüsse und Berge, nur eben unsichtbar, aber je-denfalls wie diese unabhängig von zeitbestimmenden Menschen.“24 Erst Einstein habe die Entdeckung besiegelt, dass „die Zeit eine Beziehungsform ist“.25 Aber auch Einsteins Sprache habe sich der Vorstellung von der dinghaften Zeit nicht entziehen können, zum Beispiel dann, „wenn er sich so ausdrückte, als könne die Zeit unter bestimmten Umständen schrumpfen oder sich ausdehnen.“26

Methodologisch möchte Elias seine Arbeit, die danach fragt, „wozu eigent- lich Menschen Zeitbestimmungen brauchen“27, als „Übergangsschritt“ betrachtet sehen: als „Ersetzung einer statisch ‚systematischen‘ oder kurzfristig ‚historischen‘ durch eine entwicklungssoziologische Betrachtungsweise“28, die zugleich wissens-soziologisch argumentiert. Doch gerade Elias’ präzise Überlegungen zeigen frap-pant, wie das Nachdenken über die Zeit unweigerlich an eine Grenze kommt, an der es sich in Metaphern verwickelt. Zwar betont Elias wiederholt, es handle sich „bei dem, worauf sich der Zeitbegriff bezieht, weder um ein begriffliches ‚Abbild‘ von einem objektiv existierenden Fluss noch um eine vor aller Erfahrung existie-rende Erlebnisform aller Menschen“.29 Doch auch er kommt bei seiner Fragestel-lung nicht ohne die Metapher des Flusses aus: so spricht er beispielsweise, um „kontinuierlich bewegte Geschehensabläufe“ zu beschreiben, vom „unaufhörlichen Fluss der Geschehensabfolge“30, oder davon, dass es für die Menschen einer be-stimmten Gesellschaft aus irgendeinem Grund bedeutend wird, „Positionen und Strecken festzulegen, die im Nacheinander des Geschehensstromes aufeinander-folgen“.31 „Zeit“, so lässt sich daraus folgern, ist nicht nur Gegenstand einer Wis-sensgeschichte, sondern auch Gegenstand einer Metapherngeschichte, und das eine ist mit dem andern verschränkt.

Naturwissenschaftliche Zeitschemata im 18. und 19. Jahrhundert

Elias’ Charakterisierung der Newtonschen Konzeption physikalischer Zeit wirft die Frage auf, welche Konzepte von Kontinuität und Diskontinuität die Naturwis-senschaften im Lauf des 18. und 19. Jahrhunderts überhaupt entwickeln. In ihrem

23 Ebd., S. 4. 24 Ebd., S. 9. 25 Ebd., S. 9. 26 Ebd., S. 9. 27 Ebd., S. XVII. 28 Ebd., S. 174. 29 Ebd., S. XV. 30 Ebd., S. XVII. 31 Ebd., S. XVII. vgl. auch die Rede vom „Geschehensfluss“ (ebd., S. XXII) oder vom „Generatio-

nenstrom“ (ebd., S. XL). Zur Motivgeschichte der tropischen Rede vom ‚Strom der Zeit‘ und zur Gewässer-Metapher im Geschichtsdenken überhaupt: Alexander Demandt, Metaphern für Ge-schichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken. München 1978, S. 166-190. Auch die Rede vom „Riß der Zeit“, die im 20. Jahrhundert – auch in der Theorie-sprache – virulent wird, verweist auf eine Metaphorik, die das Bild des Fadens oder des Gewebes evoziert.

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13EINLEITUNG

Buch „Entdeckung der Zeit“, dessen englischsprachiges Original im Jahr 1965 er-schien, zeichnen die beiden Wissenschafts- und Ideenhistoriker Stephen Toulmin und June Goodfield die Geschichte der Idee des Historischen in den Naturwissen-schaften in Europa seit der Antike auf und zeigen, welche Zeitkonzepte dabei im Spiel sind und wie die Vorstellung eines zeitlichen Kontinuums in den Naturwis-senschaften prägend wird. Zugleich ist jedoch auch ihre eigene Darstellungsweise dem Modell der Entwicklungs-Geschichte verpflichtet. Toulmin und Goodfield geht es darum, eine „geistige Genealogie“32 aufzuzeichnen, also eine Entwicklungs-geschichte von Denkformen in den Wissenschaften zu schreiben. Dass diese Ge-nealogie zwangsläufig linear gerät, hängt mit einem Erkenntniswunsch zusammen, den man als Rücksicht auf Verstehbarkeit bezeichnen könnte: „Unter dem ent-wicklungsgeschichtlichen Blickwinkel verstehen wir die Welt nicht weniger, son-dern vollständiger“33, stellen die beiden Autoren fest, und fügen hinzu, die „Idee der Unterbrechung im historischen Ablauf“ sei „im menschlichen Bereich ebenso irreführend wie in der Naturwissenschaft“.34

Die „Entdeckung der Zeit“ rekonstruiert, wie in den Naturwissenschaften im 18. und 19. Jahrhundert ein allmählicher Umbau des Zeitschemas stattfindet: vom statischen Zeitschema, das sich auf eine unveränderliche Naturordnung bezieht, zu einem dynamischen, entwicklungsgeschichtlichen Zeitschema. Es geht dabei um zwei verschiedene Aspekte: zum einen um die Ausdehnung und Entgrenzung des Zeitschemas – vor allem durch die Erkenntnis des Ausmasses der Vergangenheit durch die Geologie35 –, und zum zweiten um die Durchsetzung entwicklungsge-schichtlicher Perspektiven, die im Lauf des 19. Jahrhunderts in der Geologie, der Biologie und der Wissenschaft vom Menschen stattfindet.36 Das Konzept der Na-turgeschichte orientiert sich dabei am Modell chronologischer Ordnung, so z.B. am Bild des „geologischen Kalender[s]“.37

Man kann vermuten, dass für die Stabilität der Idee der Kontinuität der Diskurs über das, was diese konterkariert, von nicht geringer Bedeutung ist. Wie also wird das Problem verhandelt, wenn in einer als Kontinuum verstandenen Naturgeschich-

32 Stephen Toulmin, June Goodfield, Entdeckung der Zeit. München 1970, S. 316. Das 1965 pu-blizierte englischsprachige Original trägt den Titel „The Discovery of Time“.

33 Ebd., S. 319. 34 Ebd., S. 315. 35 Ebd., S. 157. 36 Ebd., S. 289. Dazu im Detail Sigrid Weigel (Hg.), Genea-Logik. Generation, Tradition und

Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften. München 2006, und Ohad Parnes, Ulrike Vedder, Sigrid Weigel und Stefan Willer (Hg.), Generation. Zur Genealogie des Konzepts – Konzepte von Genealogie. München 2005.

37 Dieses Bild benutzt Charles Lyell 1830 in seinen „Prinzipien der Geologie“, zitiert nach Toul-min, Goodfield, Entdeckung der Zeit, S. 196. Vgl. George Louis LeClerc, Comte de Buffon, der in seinen „Epochen der Natur“ von 1778 von der „ewigen Strasse der Zeit“ spricht, an der es „ei-ne Anzahl Meilensteine aufzustellen“ gilt. Die Passage findet sich in der Abhandlung „Von den Zeitpunkten der Natur“. Weiter heisst es dort: „Die Vergangenheit ist wie die Entfernung; unser Blick nimmt darin ab und würde sich ebenso darin verlieren, hätte nicht die Geschichte (und Chronologie) Leuchttürme und Fackeln an den dunkelsten Orten aufgestellt.“ Zitiert nach Toul-min, Goodfield, Entdeckung der Zeit, S. 169.

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14 EINLEITUNG

te eine unverständliche Unregelmässigkeit, eine Unterbrechung auftaucht? Dies lässt sich am Beispiel der Geologie um 1800 beobachten. Stratigraphische Metho-den hatten, wie Toulmin und Goodfield erläutern, die Deutung nahelegt, „dass die Schichten der gesamten Erdkruste immer in derselben Folge übereinanderliegen“ , und dass diese Aufeinanderfolge eine exakte Widerspiegelung jener zeitlichen Ord-nung darstellt, „in der die Gesteine sich gelagert haben.“38 Die „Beobachtung der immer wieder gleichen Folge von Schichten“ deckte sich mit einer zweiten Beo- bachtung, der nämlich einer „immer gleiche[n] Folge von Versteinerungsarten, die man in den Schichten fand. Man konnte sogar aus den Fossilien noch genauere Rückschlüsse auf die relative Lage und das relative Alter von Schichten ziehen als aus den darin enthaltenen Mineralen.“39 Diese Beobachtungen, die die Annahme einer stetigen Stufenordnung bestätigten40, kollidierten jedoch mit anderen, die diese Annahme konterkarierten – Beobachtungen plötzlicher Übergänge von einer Art von Fossilien zu einer anderen. Geologischer Unregelmässigkeiten also. Man war, in anderen Worten, mit Lücken in der Aufeinanderfolge von Schichten kon-frontiert.

Ein Erklärungsmuster für solche Unterbrechungen aufeinanderfolgender For-mationen bot die Katastrophentheorie. Sie hatte zugleich den Vorteil, Überein-stimmung mit dem göttlichen Schöpfungsmodell herzustellen, insofern sie einen gewaltsamen Eingriff in den natürlichen Ablauf unterstellte.41 Dem wurde indes, z.B. in den 1830 veröffentlichten „Prinzipien der Geologie“ von Charles Lyell, entgegengehalten, „eine lückenlose Reihe von Zeugnissen“ sei aufgrund der Man-nigfaltigkeit der einwirkenden Ursachen – „durch Ablagerung im Wasser, durch Feuer oder organische“42 – gar nicht denkbar.

In der Debatte um die Evolutionstheorie um 1900, also etliche Jahrzehnte spä-ter, trat dieses Problem der Unterbrechung erneut auf, nun aber bezogen auf Lü-cken in der Reihe der Mutationen.43 Ähnlich wie zuvor schon Lyell griff Darwin, um die lückenhafte Überlieferung der „geologischen Urkunden“ zu erklären, zur gebräuchlichen Metapher des Buches und der Schrift. Er benannte die „geologi-schen Urkunden“ als unvollkommene Geschichtsschreibung, „in wechselnden Di-alekten geschrieben“, von der „wir nur den letzten Band [besitzen], der nur von zwei, drei Ländern berichtet. Von diesem Band ist nur hier und da ein kurzes Ka-pitel erhalten geblieben und auf jeder Seite nur hier und da etliche Zeilen.“44 Dar-aus wird deutlich, wie hier, angesichts der Lücke, Veranschaulichung und Erklä-rung fast in eins fallen. Es ist ein Beispiel dafür, wie eine Metapher an der Stel -

38 Ebd., S. 191. 39 Ebd., S. 191. 40 Ebd., S. 194. 41 Vgl. ebd., S. 194-196. 42 Ebd., S. 197. 43 Vgl. ebd., S. 258. 44 Charles Darwin, Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, oder Die Erhaltung der

bevorzugten Rassen im Kampfe ums Dasein. Leipzig 1893, S. 455 (Zehntes Kapitel: Über die Unvollständigkeit der geologischen Urkunden.).

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le einer theoretischen Inkonsistenz oder eines ungelösten theoretischen Problems einspringt, aber auch dafür, wie Buch, Schrift und Lektüre als Bewältigungsme-tapher fungieren. Anders gesagt: an der Schichten- und Schriftmetaphorik werden Metaphern als Symptome kenntlich, in denen Erfahrungen von Zeit bzw. Um-gangsweisen mit Zeit verdichtet und lesbar sind, die dem dominanten Entwick-lungsgang von Wissenschaftsgeschichte und Geschichtsphilosophie zuwiderlau- fen.

Auf der Suche nach der Figur einer nicht-homogenen Zeit – der Ort der Literatur

Wenn demnach in den Naturwissenschaften im 18. und 19. Jahrhundert Zeitkon-zepte dominant werden, die von Kontinuitätsvorstellungen bestimmt sind, so lässt sich daraus andererseits auch der Befund ableiten, dass eine Konzeption, die Ge-schichte als einen „immanenten kontinuierlichen Prozess in linearer oder chrono-logischer Zeit“ begreift, dabei „Entscheidendes dem Aufstieg und Übergewicht der Naturwissenschaft verdankt“.45 Diesen Befund formuliert Siegfried Kracauer in seiner unabgeschlossenen Studie „Geschichte – Vor den letzten Dingen“. Eine sol-che, von Denkweisen der Naturwissenschaft geprägte Konzeption begreift „Zeit“ als einen „Strom irreversibler Richtung“, als „ein homogenes Medium, das unter-schiedslos alle denkbaren Ereignisse umfaßt.“46 Wenn man menschliche Geschich-te „in Form von Naturgeschichte“ denkt, so erklärt Kracauer, setzt man zwangsläu-fig voraus, „dass Geschichte wie jeder physische Prozess in chronologisch messbarer Zeit sich entfaltet.“47 Man verlässt sich „auf die Magie der Chronologie“48, so Kra-cauer, haftet also der Vorstellung einer von Augenblick zu Augenblick ver-streichenden Uhrzeit oder Kalenderzeit an – einer in Kracauers Augen magischen Vorstellung. Was aber wäre, wenn Kalenderzeit nicht das unterstellte „allmächtige

45 Siegfried Kracauer, Geschichte  – Vor den letzten Dingen (1966). Schriften 4. Frankfurt/M. 1971, S. 133. Im englischsprachigen Original lautet die Formulierung: „history as an immanent continuous process in linear or chronological time […] which owes much to the ascent and as-cendancy of science“. Siegfried Kracauer, History. The Last Things Before the Last. Completed after the Author’s Death by Paul Oskar Kristeller. New York 1969, S. 139. – Vgl. dazu auch Siegfried Kracauer, Time and History, in: History and Theory, Vol. 6, 1966, Beiheft 6: History and the Concept of Time, S. 65-78 (zuerst publiziert in: Zeugnisse. Theodor W. Adorno zum 60. Geburtstag. Im Auftrag des Instituts für Sozialforschung hg. v. Max Horkheimer. Frankfurt/M. 1963, S. 50-64).

46 Kracauer, Geschichte – Vor den letzten Dingen, S. 133 („a flow in an irreversible direction, a homogeneous medium indiscriminately comprising all events imaginable.“ Kracauer, History – Last Things, S. 139).

47 Kracauer, Geschichte – Vor den letzten Dingen, S. 45. 48 Ebd., 45. Die Formulierung im englischsprachigen Original lautet: „that, like any physical pro-

cess, history unfolds in measurable chronological time. […] they unquestioningly confide in the magic of chronology.“ Siegfried Kracauer, History. The Last Things Before the Last. Completed after the Author’s Death by Paul Oskar Kristeller. New York 1969, S. 38.

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Medium“ wäre, „sondern ebenso ein leerer, gleichgültiger Strom, der ein Konglo-merat unverbundener Vorgänge mit sich führte?“49

Kracauers Überlegungen, die sich am Konzept der Chronologie (Zeit ist chro-nologische Zeit) abarbeiten50, zielen auf eine Kritik der Gleichsetzung „von homo-gener linearer Zeit mit der Zeit der Geschichte“.51 Ihn interessiert, wie er in einem Brief an Theodor W. Adorno vom November 1962 notiert, „die unergründliche Paradoxie (oder Dialektik) des Zeitbegriffs, d.h., der chronologischen Zeit.“52 In dieser Kritik, in der sich auch Verzögerungseffekte der Schock-Erfahrung des Na-tionalsozialismus zum Ausdruck bringen mögen53, weicht der Begriff der Kontinu-ität den Begriffen des Homogenen, des Linearen und des Leeren. Kalenderzeit ist für Kracauer „ein leeres Gefäss“, deren Begriff „auf menschliche Verhältnisse keine Anwendung“ finde, so sehr er „der Wissenschaft auch unentbehrlich ist“.54 Erfah-rung ist in Kracauers Augen in einer Ordnung chronologischer Zeit nicht darstell-bar, so wie umgekehrt chronologische Zeit für ihn nicht erfahrbar ist. Das Zitat Walter Benjamins, das er an dieser Stelle seiner Überlegungen anführt, verdeut-licht nochmals die Dringlichkeit, die ‚Zeit der Geschichte‘ anders zu denken: „Die Vorstellung eines Fortschritts des Menschengeschlechts in der Geschichte ist von der Vorstellung ihres eine homogene und leere Zeit durchlaufenden Fortgangs nicht abzulösen.“55

49 Kracauer, Geschichte – Vor den letzten Dingen, S. 46 („If calendric time is not the all-powerful medium they suppose it to be but also an empty, indifferent flow which takes along with it a conglomerate of unconnected events?“ (Kracauer, History – Last Things, S. 38). Die Auseinan-dersetzung mit Kant zeichnet sich in dieser Formulierung spürbar ab.

50 Wie stark der Eindruck der Lektüre von Georg Lukács’ „Theorie des Romans“ (1916) für Kra-cauer dabei immer noch ist, wird aus einem Brief an Theodor W. Adorno vom 15. Februar 1959 erkennbar, in dem er notiert, Lukács habe „Unvergeßliches über die chronologische Zeit und Flaubert“ gesagt. Theodor W. Adorno, Siegfried Kracauer, Briefwechsel 1923-1966. Hg. v. Wolfgang Schopf. Frankfurt/M. 2008, S. 503. Vgl. dazu Georg Lukács, Die Theorie des Ro-mans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Darmstadt, Neuwied 1979, S. 112: „alles was geschieht ist sinnlos, brüchig und trauervoll, es ist aber immer durchstrahlt von der Hoffnung oder der Erinnerung.“ In Flauberts „Éducation sentimentale“ ist es für Lukács das „ungehemmte[s] und ununterbrochene[s] Strömen“ der Zeit, das „das Zerfallen der äußeren Wirklichkeit in heterogene, morsche und fragmentarische Teile“ in ein homogenes Kontinuum einordnet (ebd., S. 110-111).

51 Kracauer, Geschichte – Vor den letzten Dingen, S. 141. 52 Adorno, Kracauer, Briefwechsel 1923-1966, S. 562. 53 In einem Brief an Leo Löwenthal vom 29. Oktober 1960 erwähnt Kracauer sein neues geschichts-

theoretisches Arbeitsprojekt, und zwar im Zusammenhang seiner Europa-Reise (es war seine drit-te, seine erste Rückkehr nach Europa hatte im Jahr 1956 stattgefunden). Über Deutschland be-merkt er: „Die fünf Tage München genügten uns, was Deutschland betrifft. Ich glaube, wir ge-hen nicht mehr nach Deutschland, es sei denn aus professionellen Gründen. Das Land ist kein Land, sondern ein Platz, irgendwo im Vakuum gelegen. […] Ich habe auf der Reise viel über Geschichte meditiert, aber noch ist nichts zu Papier gebracht.“ Leo Löwenthal, Siegfried Kracau-er, In steter Freundschaft. Briefwechsel. 1921-1966. Hg. v. Peter-Erwin Jansen und Christian Schmidt. Springe 2003, S. 230-231.

54 Kracauer, Geschichte – Vor den letzten Dingen, S. 142. 55 Ebd., S. 142. So notiert Kracauer schon in seinem 1963 publizierten Beitrag zu Adornos Ge-

burtstagsfestschrift: „As Walter Benjamin judiciously observes, the idea of a progress of humanity is untenable mainly for the reason that it is unsolubly bound up with the idea of chronological

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Kracauer sucht nach Konzepten der Zeit, die geeignet sind, das „Vertrauen in die Kontinuität des Geschichtsprozesses und dementsprechend die Macht chrono-logischer Zeit“ zu erschüttern.56 Er findet sie in der Kunstgeschichte57 und in der Literatur. Es ist die Literatur Prousts, die ihm einsteht für ein Denken, das ver-sucht, „das Verworrene der Zeit zu erfassen.“58 Denn Proust, so erklärt er, „löscht radikal jeglichen Akzent von Chronologie. Ihm zufolge, scheint es, ist Geschichte überhaupt kein Prozess, sondern ein Sammelsurium kaleidoskopischer Verände-rungen – etwas wie Wolken, die sich nach Belieben ballen und zerstreuen.“59

Prousts Literatur wird so in Kracauers Denken zu dem Ort, an dem die Antino-mie, die zwischen der diskontinuierlichen und inkohärenten Versammlung „ge-formter Zeiten“60 einerseits, und der chronologischen Zeit als homogenem Fluss61 andererseits besteht, ausgelegt wird. Doch der Ort der Literatur ist ein doppelter, ein doppeldeutiger. Denn sie wird in Kracauers Perspektive auch zu dem Ort, an dem diese Antinomie aufgelöst wird: im Nachhinein nämlich, indem Proust, am Ende des Romans, „zeitliche Kontinuität retrospektiv“ errichte.62 Damit umreisst Kracauer sehr scharf die Grenzen der Literatur. Über den Begriff des Endes wird in seiner Argumentation die Rede über den Roman (den Roman Prousts) zu einer Rede über Kunst (überhaupt). Das Kunstwerk zeichnet sich für Kracauer durch etwas aus, das er „Zeitlosigkeit“ nennt; es zeichnet sich dadurch aus, dass es ein Ende hat und dass es ihm von diesem Ende her gelingt, Vergangenes zu retten. Die Versöhnung der Antinomie ist demnach nur möglich, weil Proust sich „in die Dimension der Kunst“63 zurückzieht. Kunst und Geschichte trennen sich hier ra-

time as the matrix of a meaningful process.“ (Kracauer, Time and History, in: History and Theo-ry, Vol.6, 1966, S. 69). Das Zitat ist Benjamins Schrift „Über den Begriff der Geschichte“ ent-nommen (Abschnitt XIII). Vgl. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schwep-penhäuser. Bd. I.2. Frankfurt/M. 1991, S. 701.

56 Kracauer, Geschichte – Vor den letzten Dingen, S. 136. 57 Seine Auseinandersetzung mit Denkformen, wie sie die beiden Kunsthistoriker Henri Focillon

und George Kubler entwickeln, mündet schliesslich in das Bild eines „sozusagen vor unseren Augen“ zerfallenden Zeitraums (ebd., S. 142). Zu Kracauers Rekurs auf George Kubler siehe auch Kracauer, Time and History, in: History and Theory, Vol.6, 1966, S. 67.

58 Kracauer, Geschichte – Vor den letzten Dingen, S. 151. 59 Ebd., S. 151. Im englischsprachigen Original lautet die Passage: „And there is Proust’s unique

attempt to grapple with the perplexities of time. Strangely enough, its consequences for history have not yet been realized. […] Proust radically de-emphasizes chronology. With him, it appears, history is no process at all but a hodge-podge of kaleidoscopic changes – something like clouds that gather and disperse at random. […] There is no flow of time. What does exist is a disconti-nuous, non-causal succession of situations, or worlds, or periods“. (Kracauer, History  – Last Things, S. 160, und, im identischen Wortlaut, Kracauer, Time and History, in: History and Theory, Vol. 6, 1966, S. 75-76.)

60 Kracauer, Geschichte – Vor den letzten Dingen, S. 153 („the incoherent series of shaped times“. Kracauer, History – Last Things, S. 162).

61 Kracauer, Geschichte – Vor den letzten Dingen, S. 153 („chronological time as a homogeneous flow.“ Kracauer, History – Last Things, S. 162).

62 Kracauer, Geschichte – Vor den letzten Dingen, S. 153 (Proust „establishes temporal continuity in retrospect.“ Kracauer, History – Last Things, S. 162).

63 Kracauer, Geschichte – Vor den letzten Dingen, S. 153.

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dikal: „Nichts dieser Art trifft aber auf Geschichte zu. Weder hat Geschichte ein Ende, noch unterliegt sie ästhetischer Errettung.“64 Kracauers Argumentation mündet demnach wiederum in eine Antinomie, nämlich diejenige zwischen Ästhe-tik und Geschichte.65

Zur Fragestellung dieser Studie

Könnte man, anknüpfend an Kracauer und hinter die beschriebene Antinomie zurückgehend, behaupten, dass Literatur in spezifischer Weise Konzepten einer Zeitlichkeit einen Ort gibt, die durch Nicht-Homogenitäten und Diskontinuitä-ten bestimmt ist? Und dies in einer Gegenstellung zu Konzepten eines Zeitkonti-nuums, wie sie im späten 18., im 19. und frühen 20. Jahrhundert in den Naturwis-senschaften dominieren? Hat demnach die Literatur die von der Kulturwissenschaft geforderte theoretische Entscheidung einer „Abkehr von der Vorstellung einer kontinuierlich ablaufenden Zeit“66 schon längst getroffen? Diese Fragen bilden den Ausgangspunkt dieser Studie. Eine Paratheorie67 der Zeit – von der Literatur aus geschrieben: so könnte man auf den Begriff bringen, was hier mit einer Serie von Lektüren zu zeigen versucht wird.

Gegenstand dieser Studie ist also das Wissen literarischer Texte von der Ord-nung der Zeit. Es geht ihr nicht um eine Motivgeschichte der Zeit in der Litera - tur, und auch nicht um die Zeit der Literatur, wie sie unter ganz unterschiedlich- en Fragehorizonten etwa bei Walter Benjamin68, Erich Auerbach69, Michail M.

64 Ebd., S. 153 („the reconciliation he effects between the antithetic propositions at stake […] hin-ges on his retreat into the dimension of art. But nothing of the sort applies to history. Neither has history an end nor is it amenable to aesthetic redemption.“ Kracauer, History – Last Things, S. 163).

65 Die Literatur Prousts, sein Schriftraum, wird für Kracauer so zum Vorschein oder Vorzeichen solcher Rettung, wie er am Ende des Kapitels „Ahasuerus, or the riddle of time“ („Ahasverus, oder das Rätsel der Zeit“) schreibt: „The antinomy at the core of time is insoluble. Perhaps the truth is that it can be solved only at the end of Time. In a sense, Proust’s personal solution foreshadows, or indeed signifies, this unthinkable end – the imaginary moment at which Ahasuerus, before disintegrating, may for the first time be able to look back on his wanderings through the periods.“ (Kracauer, History – Last Things, S. 163. Die Textstelle stimmt wörtlich überein mit der von Kracauer in seinem Beitrag „Time and History“ veröffentlichten Passage (Kracauer, Time and History, in: History and Theory, Vol.6, 1966, S. 77) – mit Ausnahme der Schreibweise „Time“ (grossgeschrieben), die in der von Kracauer publizierten Fassung als „time“ (kleingeschrieben) erscheint.).

66 Beschreibung des Forschungskonzepts des Doktorandenkollegs „Zeitkulturen“ im Exzellenzclus-ter „Kulturelle Grundlagen von Integration“ an der Universität Konstanz http://www.uni-kons-tanz.de/exc16/doktorandenkolleg.html (download 26.5.2008).

67 Diesen Ausdruck entlehne ich Hans Blumenberg. 68 Walter Benjamin, Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows (1936/37), in: Ben-

jamin, Aufsätze, Essays, Vorträge. Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. I.2. Frankfurt/M. 1991, S. 438-465.

69 Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Tübingen, Basel 1946.

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Bachtin70 oder Paul Ricœur71 diskutiert wird. Norbert Elias’ Insistieren darauf, dass der begriffliche Dualismus, der ‚physikalische‘ und ‚soziale‘ Zeit unterscheiden will, eine Blockade bedeutet, leitete dazu an, das literarische Wissen von der Zeit gerade nicht in einen Gegensatz der sogenannten zwei Kulturen – der Natur- und der Geisteswissenschaften – einzuordnen. Die Beobachtung aber, dass auch Elias’ reflektierender Diskurs nicht ohne Metaphern auskommt, verweist auf die Bedeu-tung der Bildsprache, und zwar als ein Wissen jenseits definitorischer Begriffe.

Richtete sich das Interesse der Studie zunächst auf zwei voneinander zu unter-scheidende Aspekte: auf die Denkgeschichte der Diskontinuität in der Literatur zum einen, zum anderen auf die Frage, welche Rolle Zeit-Figuren in einer Ge-schichte des Wissens spielen, so machen die Wissensmodi der hier untersuchten literarischen Texte schnell deutlich, dass der Begriff der Diskontinuität unzuläng-lich ist, dass er nicht ausreicht. Denn die theoretischen und poetischen Figuren der Zeitlichkeit, mit denen die Literatur konfrontiert – Nachträglichkeit, Latenz, Vor-fall, Augenblick, Geistesgegenwart, Zeitverschränkung, Zeitsprung, Vorzeit und Vorwelt – sind viel komplexer, und sie stehen auf komplexere Weise der Vorstel-lung eines chronischen Zeitflusses entgegen. Diese Konzepte und Figuren sind ei-nerseits mit einer kulturellen Modellierung der Zeit verbunden und an ihr betei-ligt, andererseits aber sind ihnen Fragmente einer Deutungsgeschichte der „Zeit“ abzulesen, die mit der kulturellen Modellierung gerade in Widerstreit steht.72

Es sind Phänomene eines (zeitgenössischen) Gegenwartsbezugs, Phänomene der Dichte, Flüchtigkeit, Spaltung gegenwärtiger Zeit, die – auf jeweils unterschiedli-che Weise – in den Texten verhandelt werden, wie hier an exemplarischen Lektü-ren von Kleist, Heine und Kafka vorgeführt werden soll. Wird das Spezifische der subjektiven Zeiterfahrung73 der Moderne häufig mit den Begriffen des ständigen Entgleitens, der Kontingenz und der Beschleunigung74, des Risses, des Ungleich-

70 Michail M. Bachtin, Chronotopos (1973). Frankfurt/M. 2008. 71 Paul Ricœur, Zeit und Erzählung (1983-1985). Bd.  I: Zeit und historische Erzählung.

Bd. II: Zeit und literarische Erzählung. Bd. III: Die erzählte Zeit. München 2007 (2. Auflage). 72 Eine anschauliche Einführung in die Frage nach der kulturellen Modellierung der Zeit und den

Kulturtechniken, die damit zusammenhängen, bieten Robert Levines vergleichende Kulturge-schichte der Zeitformen: Robert Levine, Eine Landkarte der Zeit. Wie Kulturen mit Zeit umge-hen. München 1998, und die Studie von Achim Landwehr zu Organisationsformen kalendari-scher Zeit: Achim Landwehr, Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhun-dert. Frankfurt/M. 2014. – Zu „Zeit“ als Deutungsphänomen, als Tatsache der Auslegung und der kulturellen und sozialen Konstruktion siehe insbesondere Ulrich Raulff, Der unsichtbare Augenblick. Zeitkonzepte in der Geschichte. Göttingen 1999, S. 9.

73 Zum Begriff der Zeiterfahrung vgl. auch Bieri, Zeit und Zeiterfahrung, S. 11-12: Bieri fasst das durch diesen Begriff aufgeworfene Problem als die Frage, ob ‚Zeit‘ „mehr als die Erfahrung von ihr“ ist (sonst wäre sie „nur eine Struktur von Subjektivität“), ob es also, anders gesagt, möglich ist, „Zeit als eine Struktur der Wirklichkeit selber aufzufassen.“ Ebd. – Bieri weist auch auf die Besonderheit hin, die darin liegt, dass die „Erfahrung von Zeit […] zusammen mit der Erfahrung von der Zeit dieser Erfahrung auftreten“ könne. Ebd., S. 179.

74 Zu letzterem ausführlich Hartmut Rosa, fast forward. Essays zu Zeit und Beschleunigung. Hg. v. Hartmut Rosa in Kooperation mit Julia Clemens und Matthias Mayer. Hamburg 2004, und Hartmut Rosa, Beschleunigung: die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frank-furt/M. 2005.

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zeitigen oder der De-Synchronisierung75 belegt, so eröffnen die hier diskutierten literarischen Texte, die mit ihrer Erforschung von Nachträglichkeit, Latenz, Zeit-verschränkung etc. ein bestimmtes nicht-kohärentes Zeitwissen erstellen, andere reflexive Perspektiven dessen, was ‚Moderne‘ heisst. Auch wenn man das 20. Jahr-hundert das ‚Jahrhundert der Gegenwart‘76 nennen könnte, insofern in ihm das Problem der Präsenz an die Stelle des Ursprungs, welchem das theoretische und historische Interesse früherer Jahrhunderte gegolten habe, getreten sei77, so führt etwa Heinrich von Kleists Erzählung „Die Marquise von O… .“ der hier vorge-schlagenen Lektüre nach gerade vor Augen, wie schon um 1800 das Thema des Ursprungs, der Ur-Sache, mit dem Problem der Präsenz, der aktuellen Gegenwart unauflösbar verschränkt ist.

Die Untersuchung der Zeitkonzepte und -figuren, die in den hier diskutierten literarischen Texten von Heinrich von Kleist, Heinrich Heine und Franz Kafka entworfen werden, rückt Literatur als Wissens- und Erkenntnisform in den Blick. Dabei steht Literatur nicht als Ort der Vergegenständlichung eines (schon vorhan-denen) Begriffs von Zeit zur Debatte. Auch sollen die literarischen Texte nicht einfach als Symptomfeld oder Resonanzraum von Krisen der Erkenntnis gesehen werden (wie das beispielsweise im Kontext der Rede von Kleists „Kant-Krise“ häu-fig geschah). Vielmehr soll der genuine Erkenntniswert der Literatur ernst genom-men werden – ein Erkenntniswert, der an die Textualität, an die Buchstäblichkeit und an die Bildsprache der Texte gekoppelt ist. Besonders zwei Perspektiven gilt dabei mein Interesse: zum einen der Kritik, die die literarischen Texte formulieren, indem sie bestimmte geregelte Erkenntnisweisen als solche offen legen und in Fra-ge stellen, zum anderen der Frage, wie sich dabei – in jeweils verschiedener Weise – ein Zwischenraum von poetischem und ‚wissenschaftlichem‘ Wissen ausprägt. Bei beidem spielen die Intensitäten und die Inkonsistenzen, welche den Zeitkonzepten anhaften, eine Rolle.78

Bei Kafka bezieht sich diese Kritik beispielsweise auf geläufige, geregelte Blick-weisen, auf die formative und figürliche Macht bestimmter ‚Idiome‘ und Meta-

75 So bei Claudia Öhlschläger, Einleitung: Figurationen des Temporalen. Poetische, philosophi-sche, mediale Reflexionen über die Zeit, in: Claudia Öhlschläger, Lucia Perrone Capano (Hg.), Figurationen des Temporalen. Poetische, philosophische und mediale Reflexionen über Zeit. Göttingen 2013, S. 7-11, hier S. 8.

76 Raulff, Der unsichtbare Augenblick, S. 10. 77 Ebd., S. 10. 78 Grundlegend zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Literatur Sigrid Weigel, Literatur als

Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin. München 2004, und Gabriele Brandstetter, Gerhard Neumann (Hg.), Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800. Würzburg 2004. Entgegen der zu beobachtenden Tendenz in der Debatte zu diesem Thema vermeiden es die von Weigel und von Brandstetter/Neumann entwickelten Perspektiven, entweder an der strikten Trennung zwischen Literatur und Wissenschaft festzuhalten oder im Gegenteil deren Einheit im Raum der Diskursivität zu postu-lieren. Zu diesem Problem und für einen systematischen Überblick über die Geschichte und jüngere Entwicklung der Debatte siehe Nicolas Pethes, Literatur- und Wissenschaftsgeschichte. Ein Forschungsbericht, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Bd. 28/1. Tübingen 2003, S. 181-231.

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phern, die in wissenschaftlichen und politischen Denk- und Redeformen im Um-lauf sind und die als ‚natürliches Wissen‘ fungieren, bei denen man also vergessen hat, dass es sich um Bilder und Metaphern handelt. Beispiele dafür sind etwa die Vorstellung vom ‚Leben als Kreis‘ oder von den ‚Sprüngen der Zeit‘, aber auch Übersichts-Metaphern, genealogische Metaphern und Metaphern der Gemein-schaft, die mit der Gestalt einer Zeit des Politischen in Kafkas Texten in Zusam-menhang stehen. Hier umreisst Kafkas Kritik einen Ort ‚ausserhalb der Gesetze‘, welcher mit einer Zeitfigur korrespondiert, die sich der herrschenden Geschichts-metapher vom „Strom der Zeit“ entgegenstellt: die Zeit der ‚Zuspätgekommenen‘ und die ‚Zeit des Verlorenseins‘.

Heines Texte entwerfen einen Zusammenhang von Erkenntnis und Lesbarkeit, vor allem entwickeln sie die neue Kategorie einer verzögerten Lesbarkeit. Sowohl bei Heine wie bei Kafka steht die Kritik an geregelten Erkenntnisweisen im Zu-sammenhang einer Konzeption von Kulturgeschichte als Latenz bzw. Doppelzeit, wobei bei beiden Autoren ein Denken in grossen Zeiträumen – das im Kontext der Geisteswissenschaften sonst eher der Altertumswissenschaft oder der Archäologie zugeschrieben wird79 – mit dem Denken des akuten Augenblicks verknüpft ist.

Kleist wiederum unternimmt es, von einer Lücke (im Wissen) aus die epistemi-sche „Ordnung der Dinge“80 zu ergründen, und entdeckt dabei den Modus der Nachträglichkeit. Er greift zeitgenössisches Wissen aus der Experimentalphysik auf, um daraus eine Praxis abzuleiten, und um dieses Wissen auf das Feld des Poli-tischen zu übertragen; bei ihm geht es um eine Herstellung von Kontemporalität, um ein Programm des Augenblicks, das sich der Indifferenz widersetzt.

Die Verschachtelung der historiographischen Chronologie, der die Anordnung der Kapitel zu Kleist, Heine und Kafka folgt, will Korrespondenzen zwischen weit auseinanderliegenden literaturgeschichtlichen Konstellationen sichtbar machen. Die geläufige Periodisierung in Zeitschwellen ‚um 1800‘ und ‚um 1900‘ wird dabei bewusst umgangen, um die Aufmerksamkeit auf solche temporalen Lagen und Konstellationen zu richten, die die Texte selber vorgeben bzw. erschliessen lassen.

Vorangestellt ist den Lektüren zu Kleist, Heine und Kafka ein Kapitel zu Kant, das anhand einer Passage aus Kants „Streit der Fakultäten“ und des Projekts der „Enzyklopädie“ die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen eines literarischen Wissens zu klären sucht.81 Die vorgeschlagene Kant-Lektüre zeigt, dass Kants Vor-stellung von „Zeit“ als einer natürlichen Weise der Verknüpfung von Ereignissen, wie sie bei Elias präsentiert und kritisiert wird, eine Kehrseite hat: eine verdeckte und marginalisierte Unterseite, die das Problem der Geistesgegenwart verhandelt. Die Kant-Lektüre macht kenntlich, wie sich im Denken – bei Kant als ein span-nungsgeladener und störungsreicher geistig-physiologischer Vorgang beschrieben –

79 Vgl. Raulff, Der unsichtbare Augenblick, S. 15. 80 Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Hg. v. Ilse-Marie Barth, Klaus

Müller-Salget, Stefan Ormanns und Hinrich C. Seeba. Bd. 3: Heinrich von Kleist, Erzählungen, Anekdoten, Gedichte, Schriften. Hg. v. Klaus Müller-Salget. Frankfurt/M. 1990, S. 143-186; hier S. 148.

81 Für ihre Kommentierungen zu diesem methodologischen Vorgehen danke ich Sigrid Weigel.

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22 EINLEITUNG

ein riskantes Feld ungesicherter Verknüpfungen auftut. Geistesgegenwart ist bei Kant als prozedurale Figur gefasst, die dort auftaucht, wo Kant von der Erfahrung des Denkens spricht und das Gefährdete, das Brüchige und Flüchtige der Einheit-lichkeit des Denkvorgangs diskutiert.

Das Motiv der Verknüpfung, wie es in Kants Text begegnet, wird mit dem Problem der „Verknüpfung der Wissenschaften“ in einer enzyklopädischen Wis-sensordnung, wie es in d’Alemberts und Diderots methodischen Reflexionen im Umfeld ihres Enzyklopädie-Projekts erörtert wird, ins Verhältnis gesetzt. Kants Rekurs auf die Problematik der Gefährdung im Denken und d’Alemberts und Diderots Rekurs auf das Problem der Lücke in der Wissensordnung bilden gleich-sam die abgewehrte Kehrseite jenes Anspruchs auf souveränen Überblick, in dem sich beide, Philosophie und Enzyklopädie, treffen. Erst jenseits dieses Anspruchs, in gleichsam umgekehrtem Sinn, können diejenigen Wissensmodi, die von Philo-sophie und Enzyklopädie als Versagen gewertet werden, als ein besonderes Vermö-gen hervortreten. Und genau an dieser Stelle – gleichsam im Rücken der beschrie-benen Konstellation, an der Schwelle von Philosophie und Enzyklopädie – öffnet sich, wie wir sehen werden, die Perspektive auf die Literatur. Die Literatur rückt damit als Möglichkeitsbedingung einer anderen Epistemologie in den Blick.

Die an den Anfang der Studie gestellte Kant-Lektüre macht aber auch deutlich, dass die Denkgeschichte der Präsenz verknüpft ist mit dem, was man als unredu-zierbare und nicht nur – in Kafkas Worten82 – auf die ‚Zeitumstände‘, sondern auch auf die ‚Körperumstände‘ bezogene Lage eines einzelnen Subjekts bezeichnen könnte. Es ist ein Entzug an Gegenwart, aus dem bei Kant das Thema der Geistes-gegenwart entsteht. Deren Thematisierung ereignet sich präzise in dem Moment und genau dort, wo Philosophie endet und Literatur beginnt – doch es ist Kants Neugier und das Unnachgiebige seines Denkens, die seinen Text dazu treiben, uns das denkende Subjekt plötzlich in ungewohntem Licht zu zeigen.

82 Vgl. Franz Kafka, Tagebücher. Bd. 1: 1909-1912 in der Fassung der Handschrift (Bd. 9 der Ge-sammelten Werke in zwölf Bänden. Nach der Kritischen Ausgabe hg. v. Hans-Gerd Koch). Frankfurt/M. 1994, S. 252 (Eintrag vom 27. Dezember 1911).

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1 Vor der Literatur ankommen. Kant und die Geistesgegenwart

Kant, Der Streit der Fakultäten. Dritter Abschnitt (1798)

1.1 Das Thema des Denkens im Übergang von Philosophie und Medizin (23) – 1.2 Ein sehr peinigender Fehler (29) – 1.3 Geburt des Themas der Geistesgegenwart aus einem Entzug an Gegenwart (35) – 1.4 Das Motiv der Verknüpfung bei Kant und in der „Enzy-klopädie“ (40) – 1.5 Der Philosoph als Meister und das laut werdende ‚Ich‘ (44)

1.1 Das Thema des Denkens im Übergang von Philosophie und Medizin

Im dritten Abschnitt des 1798 veröffentlichten Bandes „Der Streit der Fakultäten“, der dem „Streit der philosophischen Fakultät mit der medizinischen“ gewidmet ist, äussert sich Kant über den Vorgang des Denkens. Kopfarbeiten nennt er das begriff-liche Denken, um das es ihm an dieser Stelle zu tun ist – eine Begriffswahl, die unterstreicht, dass das Denken für Kant auch etwas Handwerkliches hat.1 Die daran angelagerten Überlegungen zeigen, wie Kant den Denkvorgang als span-nungsgeladenen, störungsreichen geistig-physiologischen Prozess reflektiert, und wie er das Thema des Denkens im Übergang von Philosophie und Medizin ansie-delt.

Zwar lässt sich das Denken nicht beobachten, wie Kant schon früher notiert. Was sich aber beobachten lässt, ist ein „Ich“2, das beim Denken eine bestimmte Erfahrung macht. Kant berichtet von einer Begleiterscheinung oder einem Begleit-„Gefühl“ des Denkens: nämlich vom Gefühl eines „Drucks“3 oder einer „Bedrück-ung“4, die „mich“ – so formuliert er die am eigenen Leibe wiederholte Erfahrung –

1 Vgl. den Eintrag zum Lemma „Kopfarbeit“ bei Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörter-buch. München 1999. Bd. 11, Sp. 1770. vgl. auch ebd., Bd. 1, Sp. 540.

2 Immanuel Kant, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, Werkausgabe Bd. XI, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1977, S. 372 (Kursivierung im Original gesperrt gedruckt).

3 Ebd., S. 390. Zur Entstehungs- und Druckgeschichte des Textes vgl. Piero Giordanetti, Einlei-tung, in: Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten. Hg. v. Horst D. Brandt und Piero Giorda-netti. Hamburg 2005, S. VII-XLV; hier S. VII-XXI.

4 Kant, Schriften zur Anthropologie, S. 389.

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24 VOR DER LITERATUR ANKOMMEN

„für eigene Kopfarbeiten gleichsam desorganisiert“.5 In dieser Verfassung erweist sich das Subjekt des Denkens als ein schwaches und unsicheres – ganz entgegengesetzt jenem souveränen Subjekt, das sich als Denker vorstellt. Gerade in solcher Desorga-nisiertheit tritt etwas Organisches, Körperliches am Denkprozess hervor, etwas, das in der Formel von der Leiblichkeit der Vernunft nicht aufgeht. Es meldet sich ein ‚Organ des Denkens‘ (zurück), dem das Subjekt im Denken ausgesetzt ist. Man könnte vielleicht sagen, dass Subjekt und Organ des Denkens auseinander streben und das Organ eigenmächtig wird. Diese Eigenmächtigkeit äussert sich darin, dass es sich, wie Kant beschreibt, in Spasmen zusammenzieht, aufgrund von Impulsen unklarer Herkunft.

Hatte Kant schon in seinen handschriftlichen Notizen zu seiner Hufeland-Lek-türe, die vermutlich fast zeitgleich entstanden, Ursache und Geschäft des Denkens voneinander unterschieden und bündig festgehalten, „die Ursache des Denkens“ sei „geistig“, „das Denkgeschäft selbst“ dagegen sei „organisch“6, so präzisiert er dies an der erwähnten Stelle im „Streit der philosophischen Fakultät mit der medi-zinischen“. Hier nämlich sucht er die Erscheinung, das Gefühl, von dem er in dem betreffenden Abschnitt seines Textes handelt, zu fassen, indem er es auf den folgen-den, merklich angestrengten Begriff bringt: „Gefühl eines spastischen Zustandes des Organs des Denkens (des Gehirns)“.7

5 Ebd., S. 389 (Kursivierung von mir, B.E.). Wie sehr der Begriff der Organisation bzw. der Selbst-Organisation von einer Sublimierung des blossen materiellen Organischen zehrt, deutet sich an dieser Stelle in der Negationsform an: Desorganisation, d.h. unvollkommene Planung, Unord-nung, Durcheinander – ein Durcheinander, das entsteht als Effekt einer Eigengesetzlichkeit des Organischen.

6 Kants Gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Königlich Preussischen Akademie der Wis-senschaften, Bd. XV, Dritte Abtheilung: Handschriftlicher Nachlass Bd. II, Anthropologie. Ber-lin und Leipzig 1923, S. 956 (Notiz 1529). Hier findet sich auch der Vermerk, dass es sich bei dem Buch, auf das sich Kants Excerpte beziehen, um Hufelands „Kunst das menschliche Leben zu verlängern“ handelte, welches Hufeland am 12.12.1796 an Kant abgesandt hatte. Das Thema der Zeit, im Sinne der Länge des Lebens, ist also von Anfang an untergründig verwickelt in Kants Diskussion im dritten Abschnitt des „Streits der Fakultäten“, der im Mittelpunkt meiner Lektüre in diesem Kapitel steht.

7 Kant, Schriften zur Anthropologie, S. 390. Zur Konzeption des Gehirns als Organ im 18. Jahr-hundert vgl. Rüdiger Campe, Bezeichnen, Lokalisieren, Berechnen, in: Hans-Jürgen Schings (Hg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart, Weimar 1994, S. 162-186; hier S. 173-179. – Der Begriff des ‚Spastischen‘ zeigt den Wandel der Körper-konzepte ab der Mitte des 18. Jahrhunderts vom humoralen Körper zum Faserkörper (zum musku-lären Körper) an. Vgl. die Anmerkung zur Notiz 1528 aus Kants Nachlass, welche die Vorstellung eines „vom Gehirn ausgehenden, aetherartigen Nervenfluidums“ mitteilt (Kants Gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, Bd. XV, Dritte Abtheilung: Handschriftlicher Nachlass Bd. II. Anthropologie, S. 955-956). – Eine Text-stelle, die die Begriffe des Spastischen und der Faser verknüpft, findet sich bei Kant im ersten Teil der „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“: hier ist davon die Rede, dass man vor dem Ein-schlafen, „schläfrig aber doch schlaflos“, „bei ruhiger Aufmerksamkeit auf seine körperliche Emp-findung etwas Spastisches so wohl in Muskeln der Füße als auch so gar im Gehirn wahrnehmen“ könne. Das Wachen, so schliesst Kant aus dieser Beobachtung, sei „ein Zustand der Anspannung und Zusammenziehung aller Fasern“. (Kant, Schriften zur Anthropologie, S. 463). Die Faser gilt als kleinstes organisches Teilchen dieses Körpers. Herder bezeichnet sie als „Grundgewebe“ (Jo-hann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-1791). Wer-

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25DAS THEMA DES DENKENS

Derselbe Druck, der etwas Krampfhaftes im Denken bemerkbar macht, soll aber andererseits, wie Kant weiter ausführt, sicherstellen, dass der Prozess des Den-kens voranschreitet und die Einheit des Bewusstseins im Begriff gewahrt bleibt. Im Vortrag – sei er nun mündlich oder schriftlich – soll solcher Druck „das feste Zu-sammenhalten der Vorstellungen in ihrer Zeitfolge wider Zerstreuung sicheren“8, so postuliert Kant. Der Zusammenhalt der Vorstellungen, ihre geordnete Aufein-anderfolge, von Kant hier in den Begriff der Zeitfolge gefasst, bedarf also der Siche-rung. Dies deshalb, weil die Ordnung der aufeinanderfolgenden Vorstellungen beständig einer entgegengesetzten Kraft ausgesetzt ist, die Kant als „Zerstreuung“ bezeichnet. Die unkontrollierte Aktivität dieser zerstreuenden Kräfte wird von ihm drastisch beschrieben. „Daher“, so notiert er in der betreffenden Passage im dritten Abschnitt des „Streits der Fakultäten“,

begegnet es mir: daß, wenn ich, wie es in jeder Rede jederzeit geschieht, zuerst zu dem, was ich sagen will, (den Hörer oder Leser) vorbereite, ihm den Gegenstand, wohin ich gehen will, in der Aussicht, dann ihn auch auf das, wovon ich ausgegangen bin, zurückgewiesen habe, (ohne welche zwei Hinweisungen kein Zusammenhang der Rede Statt findet) und ich nun das letztere mit dem ersteren verknüpfen soll, ich auf einmal meinen Zuhörer (oder stillschweigend mich selbst) fragen muß: wo war ich doch? Wovon ging ich aus? welcher Fehler nicht sowohl ein Fehler des Geistes, noch nicht des Gedächtnisses allein, sondern der Geistesgegenwart (im Verknüpfen), d.i. unwillkürliche Zerstreuung und ein sehr peinigender Fehler ist; dem man zwar in Schriften (zumal den philosophischen; weil man da nicht immer so leicht zurückse-hen kann, von wo man ausging) mühsam vorbeugen, ob zwar mit aller Mühe nie völlig verhüten kann.9

Eine Mikrolektüre der zitierten Textstelle mag leicht überdeterminiert erscheinen. Doch ist sie signifikant, insofern sie sich, wie ich im Folgenden vorschlage, als eine Szene lesen lässt, aus der das Thema der ‚Geistesgegenwart‘ geboren wird. Es geht

ke in zehn Bänden, hg. v. Martin Bollacher, Jürgen Brummack, Ulrich Gaier, Gunter E. Grimm, Hans Dietrich Irmscher, Rudolf Smend und Rainer Wisbert, Bd. 6, Frankfurt/M. 1989, S. 334). Das Wörterbuch von J.C. Adelung aus dem Jahr 1811 notiert: „Irrig aber werden bey den Thie-ren und Pflanzen die kleinsten organischen Theile derselben, welche die Gestalt eines Fadens ha-ben, und aus welchen die festen Theile bestehen, fibrae, die Fibern, von einigen Fasern genannt.“ (Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Wien 1811, Zweyter Theil, Sp. 51). Zum Zusammenhang dieses Wandels der Körperkonzeptu-alisierungen genauer: Ethel Matala de Mazza, Der verfasste Körper. Zum Projekt einer organi-schen Gemeinschaft in der Politischen Romantik, Freiburg/Brsg. 1999, S. 103-114.

8 Kant, Schriften zur Anthropologie, S. 390. 9 Ebd., S. 390 (Kursivierungen im Original gesperrt gedruckt). Folgende Textvarianten werden

in der zitierten Ausgabe aufgeführt: „zurückgewiesen“: Journal [der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunst, von C.W.Hufeland, 1798]: „zurück gewiesen“; „Geistes, noch nicht“: Akademie-Ausgabe: „Geistes, auch nicht“; „verhüten“: Journal: „vergüten“. Ebd., S. 390. – Zum Begriff der „Zerstreuung“ vgl. auch den Systematisierungsversuch im Kapitel „Von den Schwä-chen und Krankheiten der Seele in Ansehung ihres Erkenntnisvermögens“ im „Ersten Buch“ der „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ (1798), in: Kant, Schriften zur Anthropologie, S. 518-521.

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in dieser Szene um einen banalen Moment, um etwas Vorsystematisches  – das heisst auch, um etwas, das Ereignis bleibt.

Zunächst ist festzuhalten, dass Kant hier nicht nur von der mündlichen Rede, dem Vortrag, spricht, sondern auch von den „Schriften (zumal den philosophi-schen […]).“ Dadurch wird auch klar, dass das – bestimmten logischen Regeln fol gende – Denken, von dem hier gehandelt wird, nicht nur die Reproduktion ei-nes schon gedachten Gedankens meint, sondern auch den noch ungedachten Ge-danken. Der Weg der Verwirrung ist genauer nachzuzeichnen: „zuerst“ wird (für den Hörer oder Leser) die „Aussicht“ der Richtung des Gedankens angezeigt („wo-hin ich gehen will“), „dann“ wird ihm der Ausgangspunkt in Erinnerung gerufen („wovon ich ausgegangen bin“). Ohne diese beiden orientierenden Hinweise, so fügt Kant an, hat die Rede keinen Zusammenhang. Doch wie die verbalen Zeitfor-men in der zitierten Textpassage andeuten, setzt die Verwirrung über der Frage „wo war ich doch?“ erst ein, nachdem beide Hinweise gegeben worden sind und „nun“ das „letztere mit dem ersteren“ verknüpft werden soll. Die Frage „wo war ich doch?“ bezieht sich auf jene Stelle im Fortgang der Rede (oder der Schrift), von der aus der zweifache Sprung des Blicks (auf die Herkunft und auf die Zukunft) ge-wagt worden war. Dieser zweifache, gleichsam hakenschlagende Sprung im Dienst des Zusammenhangs der Rede wird als ein Geschehnis bezeichnet, das „in jeder Rede jederzeit“ vorkommt. Die Verwirrung – oder der „Fehler“, wie Kant schreibt – setzt genau dort ein, wo das Denken zurückkommen will auf jenen Punkt, an dem es sich selbst unterbrach, um zu dem beschriebenen zweifachen Sprung anzusetzen, wo ihm dies aber nicht gelingt.

Wie aber kommt es zu diesem ‚sehr peinigenden Fehler‘? Aus der zitierten Pas-sage wird deutlich, was er nicht ist: weder handelt es sich bei ihm um ein plötz-liches Formulierungshindernis, noch um eine Abschweifung, die die Denkbe - wegung in eine unvorhergesehene Richtung entführt, und auch nicht um ein Ab-driften im Sinne von Roland Barthes, das „aus dem Sinn“ hinausträgt.10 Kant un-terstreicht, der Grund für diesen Fehler sei weder im ‚Geist‘ noch allein im Ge-dächtnis zu suchen. Wäre der Fehler bloss einer des Gedächtnisses, so wäre es die „Präsenthaltung des je schon […] Erarbeiteten“11, die hier in Frage stünde. Was aber in der zitierten Passage zur Debatte gestellt wird, ist etwas anderes, nämlich das unvermittelte Versagen eines Vermögens, das Kant als „Geistesgegenwart“ be-

10 Roland Barthes, An das Seminar (1974), in: Barthes, Das Rauschen der Sprache. Frankfurt/M. 2006, S. 363-373; hier S. 367. Barthes, Au séminaire, in: Barthes, Le bruissement de la langue. Essais critiques IV. Paris 1984. S. 393-404; hier S. 397.

11 Hans Blumenberg, Zu den Sachen und zurück. Aus dem Nachlass hg. v. Manfred Sommer. Frankfurt/M. 2007, S. 111. Diese Formulierung Blumenbergs steht im Kontext seiner Lektüre einer Aufzeichnung Husserls vom Frühjahr 1912, einer jener umfangreichen Notate Husserls, die als Begleitschriften zu seinem Werk gewertet werden können. Blumenberg sieht in solchem Gedächtnismangel eine „Hinterhältigkeit des Vergessens“ am Werke, die durch „eine Selbst-wahrnehmung“ am Ende der besagten Aufzeichnung „erschreckend“ belegt werde. „Deren letzter Satz lautet: All diese Dinge habe ich doch im Wesentlichen schon längst festgestellt, und es ist sehr merkwürdig, fast unglaublich, dass ich jetzt einen ganzen Monat lang mich quälen konnte und sie vollständig vergessen hatte.“ Ebd., S. 111 (Kursivierung im Original).

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27DAS THEMA DES DENKENS

zeichnet. Es geht also um eine Erfahrung, in der sich ein plötzlicher Entzug von Gegenwart ereignet. Ausgelöst wird dieser plötzliche Entzug durch das Versagen des Vermögens, zu verknüpfen.

Wenn Kant betont, es handle sich dabei um etwas anderes als einen blossen Gedächtnis-Fehler, so mag sich darin andeuten, welcher Paradigmenwechsel hier gegenüber jener Auffassung des Wissens, die die antike Rhetorik bestimmt, stattge-funden hat.12 Aber gleichzeitig enthüllt sich an dieser Stelle für einen Augenblick, wie die ganze Last der Vergegenwärtigung und der Verknüpfung nun auf dem (als autonom gedachten) Subjekt ruht. Hat ein derartiger Verlust an Verknüpfungen, wie hier geschildert, einmal eingesetzt, unterminiert er rasant die gesamte Schrift – und nicht nur die Schrift, sondern auch den Geltungsanspruch des Denkens.

Hinter dem Rücken des denkenden Subjekts, gegen seinen Willen und trotz aller von ihm getroffenen Vorsichtsmassnahmen, machen sich demnach Kant zu-folge Kräfte bemerkbar, die sich in Abbrüchen oder Unterbrechungen im Denken manifestieren. Diese Kräfte einer unwillkürlichen Zerstreuung – so Kants Termi-nus – unterlaufen die zwischen Wissen und Nicht-Wissen gezogene Unterschei-dung.

Es ist eine hybride Erscheinung, mit der wir es hier, Kants „Beschluss“ des dritten Abschnitts lesend, zu tun haben. Denn einerseits handelt es sich um eine „Em-pfindung“13, deren Grund Kant in einer Krankheit vermutet – „Ich halte sie für eine Gicht, die sich zum Teil aufs Gehirn geworfen hat“.14 Diese Krankheit wiede-rum bringt er, ganz in Einklang mit dem wissenschaftlichen Wissen seiner Zeit, mit einer vermuteten Besonderheit der Atmosphäre in Zusammenhang – mit der „ausserordentlich langen Dauer einer weit ausgebreiteten Luftelektrizität, sogar

12 Gemäss der antiken Rhetorik wäre der bei Kant berührte Aspekt der Praxis der Rede in der Kate-gorie der dispositio zu verorten, die als „Auswahl und Anordnung der dem Redner in der copia re-rum […] verfügbaren Gedanken (res) und der ihm in der copia verborum […] verfügbaren sprach-lichen Formulierungen (verba) sowie der ihm in der copia figurarum […] verfügbaren Kunstfor-men (figurae) in der konkreten Rede“ (Heinrich Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik. Ismaning 1990, S. 27 [Kursivierung im Original]) beschrieben wird. Der Begriff der copia ent-spricht der platonischen Auffassung vom Wissen, derzufolge Wissen Wiedererinnerung ist. Zur Konzeption der inventio als „Finden durch Erinnerung“ vgl. Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik, S. 24. Im Regelwerk der Rhetorik wird also auch Verfügbarkeit ganz anders konzipiert, nämlich medientheoretisch von einer Vorstellung der Prägung her gedacht und auf die mnemo-technisch unterstützte Herstellung von ‚Auswendigkeit‘ bezogen. Grundlegend für die Regeln der dispositio ist, dass sie den Text in den Begriffen des Ganzen und seiner Teile denken.

13 Kant, Schriften zur Anthropologie, S. 389. 14 Ebd., S. 389. Kant bezeichnet seine Verfassung präziser als „trübe Gesundheitsanlage, welche

doch mehr Unbehaglichkeit als Krankheit ist“. Diese Unbehaglichkeit bestehe „in einer spasti-schen Kopfbedrückung, gleichsam einem Gehirnkrampf“. Immanuel Kant, Briefwechsel. Aus-wahl und Anmerkungen von Otto Schöndörffer. 3., erw. Aufl., bearb.v. Rudolf Malter. Ham-burg 1986, S. 792. – Werkgeschichtlich ist der „Beschluss“ im doppelten Schreibkontext des Endes der „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ und der Anfänge des sogenannten „Opus postumum“ zu situieren, dessen wuchernde, „zellenartige“ (Vittorio Matthieu, Kants Opus pos-tumum. Frankfurt/M. 1989, S. 61) Struktur lange Zeit verhindert hat, dass der Text in die Werk- edition Kants aufgenommen wurde.

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28 VOR DER LITERATUR ANKOMMEN

vom Jahr 1796 an bis jetzt“15 nämlich. Wichtig ist, dass Kant diese Krankheit, oder genauer „Unbehaglichkeit“, nicht identisch setzt mit dem, was er als „natürliche Schwäche des Alters“16 bezeichnet; vielmehr überlagert sie diese – sie habe sich, so Kant, auf diese „geworfen“.17

Andererseits legt die Selbstbeschreibung, in der Kant, wie er ausdrücklich no-tiert, sein „Ich laut werden […] lassen“18 will, etwas nicht bloss Akzidentielles, sondern Grundsätzliches am Denken offen, insofern dieses organischer Prozess ist. In dieser Hinsicht deuten die dargestellten Kräfte einer unwillkürlichen Zerstreu-ung auf eine Art Geburtsfehler des denkenden Souveräns, der jedem kritischen Zugriff vorausliegt. Diese Kräfte durchkreuzen das Paradigma des Sensualismus, da sie sich in der Theorie einer Erkenntnis aus den Sinnen nicht klar verorten las-sen. Und auch in der Unterscheidung zwischen Irritabilität und Sensibilität, zwi-schen (bewusstem) Empfindungsvermögen und Reizbarkeit, sind sie nicht eindeu-tig zurechenbar.19 In Kants Reflexion zeigen sie exakt jene Übergangsstelle an, an der die Grenze zwischen dem Geistigen und dem Organischen des Denkens ver-schwimmt, und damit, in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive, auch die Grenzziehung zwischen philosophischer und medizinischer ‚Wissenschaft‘.

Man könnte behaupten, dass das philosophische Wissen auf diese Weise dem medizinischen eine Wahrheit nachträgt  – eine Wahrheit, die einem Einwurf gleichkommt, welcher das Denken überhaupt betrifft, zumindest insofern es be-griffliches Denken ist. Es geht dabei um die begriffliche und sprachliche Verfasst-heit wissenschaftlicher Erkenntnis und wissenschaftlichen Wissens, also auch des medizinischen Wissens, es geht um die Anfälligkeit der Struktur dieses Wissens, um die Frage, inwieweit Geistesgegenwart eine Rolle in der Realisation oder Wei-terentwicklung des Wissens spielt, und wie sich Organisches, wie sich der Körper in den Erkenntnisprozess einmischt. Der Einwurf, der solche Fragen stellt, die Fragen eines freien, denkenden Subjekts sind, muss Kant zufolge in der statutari-schen Verfassung des Wissens der Medizin ausgegrenzt bleiben.20 Zwar fällt das

15 Kant, Briefwechsel, S. 792. Es handelt sich um einen Brief vom 20. Dezember 1799. 16 Kant, Schriften zur Anthropologie, S. 389. 17 Ebd., S. 389. 18 Ebd., S. 372 (Kursivierung im Original gesperrt gedruckt). 19 Zu dieser Unterscheidung genauer: Matala de Mazza, Der verfasste Körper, S. 106-110. 20 In der Begründung einer Ordnung des Wissens, die Kant im „Streit der Fakultäten“ unternimmt,

steht bekanntlich das Wissen der „oberen“ Fakultäten – der theologischen, der juristischen und der medizinischen Fakultät – in einem Zusammenhang mit Regierungswissen: „[a]lle drei obere Fakultäten gründen die ihnen von der Regierung anvertraute Lehren auf Schrift […] daß eine solche Schrift (oder Buch) Statute, d.i. von der Willkür eines Obern ausgehende (für sich selbst nicht aus der Vernunft entspringende) Lehren enthalten müsse, versteht sich von selbst“ (Kant, Schriften zur Anthropologie, S. 284. Kursivierungen im Original gesperrt gedruckt). Die „unte-re“, die philosophische Fakultät dagegen beschäftigt sich „nur mit Lehren […], welche nicht auf den Befehl eines Oberen zur Richtschnur angenommen werden“; sie wird, so formuliert Kant hoffnungsvoll, „weil sie für die Wahrheit der Lehren, die sie aufnehmen, oder auch nur einräu-men soll, stehen muß, in so fern als frei und nur unter der Gesetzgebung der Vernunft, nicht der der Regierung stehend gedacht werden müssen.“ (ebd., S. 290. Kursivierung im Original gesperrt gedruckt.). Die drei oberen Fakultäten sind demnach mit der Herstellung und Verwaltung eines Wissens beschäftigt, das dem Regierungsinteresse verpflichtet ist („[d]ie Regierung aber interes-

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29EIN SEHR PEINIGENDER FEHLER

Gehirn und sein korrektes oder nicht korrektes Funktionieren in den Gegenstands-bereich der Medizin; in seinem Nachdenken über das Denken ist das medizinische Wissen aber auf Anatomie und Physiologie beschränkt. Es reflektiert nicht, dass es begrifflich und sprachlich verfasst und insofern selbst jenen Kräften ausgesetzt ist, deren Effekte Kant beschreibt.

1.2 Ein sehr peinigender Fehler

Bemerkenswert ist nun, wie die Effekte einer unwillkürlichen Zerstreuung auch in der Textpassage selbst zu Tage treten, die von dem eingangs erwähnten Druck berichtet, der das Denken – insofern es begriffliches Denken ist – begleitet. Das wird lesbar, wenn man versucht, dem Text an der betreffenden Stelle zu folgen. Worum geht es in der Textpassage? Kant diskutiert das denkende Subjekt (oder das Denken des Subjekts) im „spastischen“ oder „krampfhaften“ Zustand. Und er weist auf ein Moment der Selbstverstärkung dieses Spasmus hin. Es macht sich gerade dann geltend, wenn das betroffene Subjekt versucht, der Verkrampfung Herr zu werden – durch die Anstrengung der Vernunft, durch den „bloßen festen Vorsatz“.21 Eben diese Verstärkereffekte sind es nun, die dazu führen, dass die mit-geteilte Beobachtung aus dem Argumentationszusammenhang des dritten Ab-schnitts ausbricht, und dass sie sich nicht mehr im Rahmen diätetischer Selbstsorge diskutieren lässt (welcher der „Streit der philosophischen Fakultät mit der medizi-nischen“ ja ein langes Kapitel widmet). Kant schreibt nämlich:

Die krankhafte Beschaffenheit des Patienten, die das Denken, in sofern es ein Fest-halten eines Begriffs (der Einheit des Bewußtseins verbundener Vorstellungen) ist, begleitet und erschwert, bringt das Gefühl eines spastischen Zustandes des Organs des Denkens (des Gehirns) als eines Drucks hervor, der zwar das Denken und Nach-denken selbst, ingleichen das Gedächtnis in Ansehung des ehedem Gedachten, ei-gentlich nicht schwächt, aber im Vortrage (dem mündlichen oder schriftlichen) das feste Zusammenhalten der Vorstellungen in ihrer Zeitfolge wider Zerstreuung siche-ren soll, bewirkt selbst einen unwillkürlichen spastischen Zustand des Gehirns, als ein Unvermögen, bei dem Wechsel der auf einander folgenden Vorstellungen die Einheit des Bewußtseins derselben zu erhalten.22

Wenn wir diese Textsequenz lesen, irritiert uns vielleicht als erstes, dass es sich bei ihr um einen einzigen Satz handelt – und zwar um einen Satz, in dem das Subjekt, der Philosoph, sich unversehens zum Patienten gewandelt hat. Deutlich wird in

siert das am allermeisten, wodurch sie sich den stärksten und daurendsten Einfluss aufs Volk verschafft“ [ebd., S. 281]), während die untere Fakultät, die philosophische, nur dem Interesse der Wissenschaft verpflichtet ist. Damit durch die Kritik „das Ansehen“ der Statute der oberen Fakultäten nicht „Abbruch leide“, sollten diese, so empfiehlt Kant, „darauf bedacht sein, sich mit der untern ja nicht in Mißheirat einzulassen, sondern sie fein weit in ehrerbietiger Entfernung von sich abzuhalten“ (ebd., S. 285).

21 Ebd., S. 389. 22 Ebd., S. 389-390.

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30 VOR DER LITERATUR ANKOMMEN

der Lektüre, dass die sich verwirrende Syntax dieses Satzes keine sichere Lesart zu-lässt. Ist gerade das, was vor der Zerstreuung sichern soll, auch dasjenige, welches Zerstreuung bewirkt? Sind Spasmus und Zerstreuung unvermeidbare Begleiter-scheinungen des Denkens, die auf dessen organisches, körperliches Substrat ver-weisen? Was lässt sich über das Denken sagen, wenn es als ein von diesen beiden Polaritäten – Verkrampfung und Zerstreuung – konstituiertes Kraftfeld gedacht ist? Wie affiziert dies die Begriffe? Woher kommen die Impulse, auf welche die unwillkürlichen, dem Willen und der Kontrolle entzogenen Spasmen und Zer-streuungen antworten?

Es gibt eine überlieferte Textvariante zu dieser Stelle, die in den Satzverlauf ein wenig Ordnung zu bringen versucht. Sie lautet wie folgt:

[…] bringt das Gefühl eines spastischen Zustandes des Organs des Denkens (des Gehirns) als eines Drucks hervor, der zwar das Denken und Nachdenken selbst, in-gleichen das Gedächtnis in Ansehung des ehedem Gedachten, eigentlich nicht schwächt; aber im Vortrage (dem mündlichen oder schriftlichen) bewirkt dann das feste Zusammenhalten der Vorstellungen in ihrer Zeitfolge, um wider Zerstreuung zu sichern, selbst einen unwillkürlichen spastischen Zustand des Gehirns, als ein Un-vermögen, bei dem Wechsel der auf einander folgenden Vorstellungen die Einheit des Bewußtseins derselben zu erhalten.23

In dieser Fassung des Satzes ist zwischen Denken, Nachdenken und Gedächtnis einerseits, und dem Vortrag (dem mündlichen oder schriftlichen) andererseits, ein klarer Trennstrich gezogen. Der Strichpunkt nach dem Wort „schwächt“ sorgt syntaktisch für eine klare Nachordnung der ‚Vortrags- oder Schreibszene‘; und entsprechend klärt sich in der zitierten Variante die diffuse Stelle, die sich um die Wörter „sicheren soll, bewirkt“ ausbreitet, zugunsten der grammatischen Abfolge „bewirkt […], um […] zu sichern, selbst“.

Eine ähnliche Szene einer unwillkürlichen Zerstreuung beschreibt Kant in der „Nachschrift“ zum „Streit der philosophischen Fakultät mit der medizinischen“. Bei der betreffenden Textpassage handelt es sich um eine längere Anmerkung, die sich anschliesst an den letzten Satz der Nachschrift, in welchem Kant drucktechni-sche Empfehlungen gibt. Hier geht es jedoch nicht, wie zuvor, um eine Vortrags- oder Schreibszene, sondern um eine Leseszene. Und zwar um eine Leseszene, die plötzlich in ihr Gegenteil kippt: nämlich derart, dass

auf dem Blatt, welches ich lese, auf einmal alle Buchstaben verwirrt und durch eine gewisse über dasselbe verbreitete Helligkeit vermischt und ganz unleserlich werden: ein Zustand, der nicht über 6 Minuten dauert […].24

Die plötzliche De-strukturierung, die Kant zuvor in den Begriff der unwillkürli-chen Zerstreuung gefasst hatte, ist in dieser Szene sozusagen ins Buchstäbliche ge-kehrt. Sie löst die Abfolge der Buchstaben auf und erzeugt dadurch eine buchstäb-

23 Vgl. ebd., S. 390 (Variante nach Gross). 24 Ebd., S. 393.

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