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Heideg ger – Ende der Philosophie oder Anfang des Denkens

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Harald Seubert Heidegger – Ende der Philosophie oder Anfang des Denkens Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Harald Seubert

Heidegger –Ende derPhilosophie oderAnfang desDenkens

Verlag Karl Alber Freiburg/München

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Harald Seubert

Heidegger – The end of philosophy orthe beginning of thinking

Since the publication of the Schwarze Hefte 2014, Heidegger’s think-ing and person have once again been in the focus of attention. Inerratic contrast to apology and defence, the discussions focus on therightly incriminated anti-Semitic statements as they are documentedthere. Thus the debate reaches an objective and hermeneutic zeropoint at which Heidegger’s philosophy no longer develops criticallyin its own right. This book, on the other hand, makes a comprehen-sive attempt to bring Heidegger’s thinking and its essential contextsinto a new overall view: Heidegger’s oeuvre, which was intended todocument »Wege, nicht Werke« is understood as a testimony to anunfinished self-understanding. Elementary problems here are: Whichmodes of statement and argumentation did Heidegger follow? Howcompelling or how contingent are they? Is it true that Heidegger un-derstood nothing of freedom? What role do Kant or Nietzsche play inHeidegger’s way of thinking? Previously overlooked perspectives,such as Heidegger’s self-critical potential, are particularly accentu-ated. The book pays tribute to Heidegger as provisionally the lastthinker with a perspective of the century and at the same time pointsto the problems and aporetics of his approach.

The Author:

Harald Seubert, Prof. Dr. phil., born 1967, has held positions in Erlan-gen, Halle/Saale, Poznan and Munich, among others, and has beenFull Professor of Philosophy and Religious Studies at the TheologicalUniversity of Basel since 2012. He has been teaching part-time at theHochschule für Politik in Munich since 2010. Since 2016 he has beenChairman of the Board of the Martin Heidegger Society. Most re-cently Alber published: Ästhetik – Die Frage nach dem Schönen(2014); Platon – Anfang, Mitte und Ziel der Philosophie (2017).

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Harald Seubert

Heidegger – Ende der Philosophie oderAnfang des Denkens

Heideggers Denken und Person stehen seit der Publikation derSchwarzen Hefte 2014 erneut im Fokus der Aufmerksamkeit. DieDiskussionen fokussieren sich in erratischer Entgegensetzung vonApologie und Verteidigung auf die zu Recht inkriminierten anti-semitischen Äußerungen, wie sie dort dokumentiert sind. Damit er-reicht die Debatte einen sachlichen und hermeneutischen Nullpunkt,an dem Heideggers Philosophie nicht mehr in ihrem Eigenrecht zurkritischen Entfaltung kommt. Das vorliegende Buch unternimmtdemgegenüber den umfassend ansetzenden Versuch, HeideggersDenken und seine wesentlichen Kontexte in eine neue Gesamtsichtzu bringen: Heideggers Oeuvre, das »Wege, nicht Werke« dokumen-tieren sollte, wird als Zeugnis einer unabgeschlossenen Selbstver-ständigung verstanden. Elementare Probleme hierbei sind: WelchenAussage- und Argumentationsweisen folgte Heidegger? Wie zwin-gend oder wie kontingent sind sie? Ist es zutreffend, dass Heideggernichts von Freiheit verstand? Welche Rolle spielen Kant oder Nietz-sche auf Heideggers Denkweg? Bislang übersehene Perspektiven, wieHeideggers selbstkritisches Potenzial, werden besonders akzentuiert.Das Buch würdigt Heidegger als vorläufig letzten Denker mit einerJahrhundertperspektive und weist zugleich auf die Problematik undAporetik seines Ansatzes hin.

Der Autor:

Harald Seubert, Prof. Dr. phil., geboren 1967, ist nach Stationen u. a.in Erlangen, Halle/Saale, Poznan und München seit 2012 Ordent-licher Professor für Philosophie und Religionswissenschaft an derStaatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel. Nebenamtlichlehrt er seit 2010 an der Hochschule für Politik München. Seit 2016ist er Vorsitzender des Vorstandes der Martin Heidegger-Gesell-schaft. Zuletzt erschien bei Alber: Ästhetik – Die Frage nach demSchönen (2014); Platon – Anfang, Mitte und Ziel der Philosophie(2017).

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Meinen Lanthanontinnen und Lanthanontenaus vier Generationen

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Originalausgabe

© VERLAG KARL ALBERin der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019Alle Rechte vorbehaltenwww.verlag-alber.de

Umschlagmotiv: Martin Heidegger, Lithographie von Hans Kock,1964 © Hans Kock Stiftung

Satz: SatzWeise, Bad WünnenbergHerstellung: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-495-49052-5

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Inhalt

Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Vorwort und Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

Erster Teil:Intuitionen und Anfänge

I. Ambiente und Lebenslinien als Vorklang. Oder:Wie Heidegger geboren wurde, arbeitete und starb . . . . 27

II. Das Eigenrecht des Denkens: Logik und Phänomen . . . . 441. Logische Form und vortheoretisches Leben . . . . . . . 442. Aus dem Strudel des Ersten Weltkriegs:

Die Anfänge des Philosophen . . . . . . . . . . . . . . 58Gravitationsfelder seiner Zeit . . . . . . . . . . . . . . 58Der Denkansatz: Konturen der Einen Frage nach dem Sein

der Phänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63Phänomenologische Interpretation –

Zunächst ohne Aristoteles . . . . . . . . . . . . . 70Heideggers Denken in nuce: Das geniale Netz der Natorp-

Ausarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79Phänomenologie als Ontologie oder:

Die Hermeneutik der Faktizität . . . . . . . . . . . 89Das urchristliche Zeitverständnis: Ruinanz ins Eschaton . 93

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III. Logik als Frage nach der Wahrheit. Marburger Denkjahre –Auf Sein und Zeit zu und darüber hinaus . . . . . . . . . . 98

3. Entwicklung einer Logik des Denkens und der doppelteAnfang der griechischen Metaphysik . . . . . . . . . . 98

4. ›Logik‹ als Grundfrage der Geschichte der Metaphysik . . 1135. Der Sophistes: Heideggers Platon . . . . . . . . . . . . 122

Der phänomenologische lógos der Dialektik . . . . . . . 124Platonische Seinsforschung: Die Fundamentalanalyse

von ›Sein‹ und ›Nichts‹ . . . . . . . . . . . . . . . 130Platonische Linienzüge . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

Zweiter Teil:Kristallisationen

IV. Sein und Zeit: ›Alluvionsgebilde‹ und vorläufiger Gipfelpunkt 1457. Werk in Vorläufigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1458. Dasein in der Fundamentalanalyse . . . . . . . . . . . . 1539. Dasein als ›In-sein‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15910. Ganzseinkönnen des Daseins in der ›Sorge‹ . . . . . . . 16311. Zeitlichkeit: Destruktion und Umstrukturierung der

Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17212. Ein zweiter Teil: ›Zeit und Sein‹ ? . . . . . . . . . . . . 179

V. Selbstkommentar und ›Laufende Anmerkungen‹:Heideggers Metakritik zu Sein und Zeit . . . . . . . . . . 185

VI. Anderes Hauptwerk und arkanes Schriftstück:Heideggers Beiträge zur Philosophie und Verwandtes . . . . 200

13. Das Strukturprinzip der ›Fuge‹ . . . . . . . . . . . . . . 200Anklang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203Zuspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205Sprung: Performativität des ›Satzes‹ . . . . . . . . . . . 205Erster und anderer Anfang: Konfrontation . . . . . . . 207Einfachheit und ›Zerklüftung‹ . . . . . . . . . . . . . . 208Vorblick in den Grund . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210Denken und Schweigen . . . . . . . . . . . . . . . . . 216

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14. Paralipomena und insistente Fragewiederholung:Die Geschichte des ›Seyns‹ . . . . . . . . . . . . . . . . 218

15. Koinon als Grundbestimmung metaphysischer Sätze? . . 22416. Den undenkbaren Anfang denken . . . . . . . . . . . . 229

Dritter Teil:Verflüssigungen, Möglichkeiten, Abstürze

17. Nach Sein und Zeit: Heideggers Kant. Eine Wegmarke . 233Metaphysik der Metaphysik als Lehre von der Zeit . . . 233

18. Das Davoser Höhengespräch: Cassirer und Heidegger . . 24619. Freiburger ›geschichtliche‹Vorlesungen:

Fast ein mündliches Hauptwerk . . . . . . . . . . . . . 25320. Heideggers Hegel. Die ›gigantomacheia‹ um Sein und

Nichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26721. Heidegger und Nietzsche: Die irritierende

›Auseinandersetzung‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279›Nietzsches Metaphysik‹: Das Problem einer Trennung . 280Affinitäten im Bruch: Mit Nietzsche gegen Nietzsche

denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289Genealogie und Anamnesis einer Zwiesprache . . . . . 292Zarathustras Verwindung des ›Geists der Rache‹:

Ein Endpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300Zu Nietzsche: Summa summarum . . . . . . . . . . . . 303Ernst Jünger: Ein Exkurs zu Nietzsche in dürftiger Zeit . 311

22. Von Nietzsche weg: Auf Hölderlin zu . . . . . . . . . . 31323. Holzwege und Wegmarken: Kompositionen und

partielle Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316Holzwege: Inszenierte Aporetik der Seinsfrage . . . . . 316Wegmarken: Hinwege und Rückwege . . . . . . . . . . 322Im Hallraum der Gelassenheit: Heideggers ›Vorträge und

Aufsätze‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33824. Hörende Vorbereitung auf die Sprache des Seins:

Hölderlins Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34725. Grundworte, orphisch: Frühgriechischer Anfang –

Heraklit und Parmenides . . . . . . . . . . . . . . . . 356

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Inhalt

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Vierter Teil:Heideggers Komplizenschaft und die Schwarzen Hefte

26. NS – Heideggers pervertierte ›Große Politik‹ . . . . . . 363Dispositionen und Antidota . . . . . . . . . . . . . . . 365Ideologische Perversion . . . . . . . . . . . . . . . . . 378Einzelzüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379

27. Die ›Überlegungen. Schwarze Hefte:‹ Schattenlinie undnarrative Selbstverständigung . . . . . . . . . . . . . . 386Skandal-Stellen ohne Kontext . . . . . . . . . . . . . . 386Überlegungen: Denk-Irrwege . . . . . . . . . . . . . . 390Der banal-böse Antisemitismus: Eine Selbststerilisierung 410Anmerkungen: Der Beginn von Heideggers spätestem

Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415

Fünfter Teil:Die unerhörte Leichtigkeit des Seins:Heideggers späteste Philosophie

28. ›Um Klarheit‹: Das Wegfeld des Denkens . . . . . . . . 43129. Die Technik und die Kehre . . . . . . . . . . . . . . . . 43430. Von der Dichtung her: Unterwegs zur Sprache . . . . . 44231. Souveränität im Hintergrund – Zollikoner Seminare:

Heideggers einer Denkweg im Gespräch mit derWissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457

32. Später Rückblick: Der Lehrer –Heideggers Kunst des Seminars . . . . . . . . . . . . . 476Wegscheiden der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . 476Augustinus’ ›Confessiones‹: noch einmal . . . . . . . . 479Aristoteles und Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . . 481

33. Zur Sache des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . 48534. Grundsätze des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . 500

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Sechster Teil:Von Heidegger her

35. Rezeptionslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50736. Deutungsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517

Heideggers unthematische Methodologie . . . . . . . . 517Der Mythos der ›gestifteten‹ Gesamtausgabe? . . . . . . 524Heidegger im Zusammenhang der phänomenologischen

Ontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526Heidegger: Kritik und tiefere Bedeutung . . . . . . . . . 529

Epilog: Die Erneuerung der Philosophie und die Sache desDenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561

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Prolog

In seinem großen Roman um eine vergebliche Liebe ›Notre Dame‹lässt Ulrich Schacht in der Reminiszenz an frühe Jahre unter der blei-ernen Glocke des DDR-Regimes als Lektüreerfahrung Heidegger-Worte aufklingen, die eine Andersartigkeit anzeigen, frei von Ideo-logie und in eine verdrängte Dimension von Sein und Geschichte ver-weisend. Der Erzähler mit klaren Zügen des Verfassers UlrichSchacht schlägt Heidegger wie einen Kassiber auf, die Umwelt desDDR-Studentenwohnheims versinkt vor dieser Lektüreerfahrung inNichtigkeit. Heideggers Worte erweisen sich gegenüber der marxis-tischen Lehre vom angeblich wissenschaftlich zu begreifenden Zielder Geschichte und gegenüber der grau totalitären Diktatur als wider-ständig und gerade darin liegt ihre befreiende Kraft. Entnommen sinddie Worte, die Schacht in besonderem Maß zu einer philosophischenInitiation wurden, Heideggers Anaximander-Abhandlung.1

Heute ist die Beschäftigung mit Heidegger zumindest in derbreiteren Öffentlichkeit nicht mit jenem Horizont einer befreiendenDenkbewegung besetzt. Sie ist vielmehr an einem interpretatori-schen Nullpunkt angekommen: Die dominierende und zugleichwohlfeile ›Hermeneutik des Verdachts‹ hat durchaus partiell Berech-tigung. Die Schwarzen Hefte enthalten skandalöse Einträge. Dochdarin geht selbst die Bedeutung der Schwarzen Hefte nicht auf, undschon gar nicht der Zusammenhang von Heideggers Denkweg.Wenn eine Interpretation es sich heute philosophisch allzu leichtmacht, das Etikett an die Stelle ernsthafter Befassung setzt und dieDenunziation zur Methode erhebt, so findet sie Gehör in einer Öf-fentlichkeit, die nach rechts und links das Maß verliert. Eben dadurchverliert aber jede Deutung den Grund der Solidität. Sie wird dann zueiner leeren Repetition der von Emmanuel Faye wirkmächtig in dieWelt gesetzten These, dass Heidegger ein nur vordergründig als Phi-

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1 U. Schacht, Notre Dame. Berlin 2017, S. 16 f.

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losoph getarnter Nazi sei.2 Auf der entgegengesetzten Seite steht derandere erratische Block derer, die apriori zu zeigen beanspruchen,dass es keine NS-Infiltrationen dieses Denkens geben könne.3 Dannwird Heideggers Sprache eine Sprache jenseits der konkreten Zeit-genossenschaft in einem spirituellen Nirgendwo, was dem Gewichtund der Strittigkeit seines Denkens, aber auch der konstitutiven Aus-einandersetzung zwischen Philosophie und Zeitgenossenschaft inkeiner Weise gerecht wird. Dieses Buch beansprucht, einen drittenWeg jenseits der Skylla der Verwerfung und diesseits der Charybdisder billigen Entschuldigungen zu finden. Vor allem aber ist es anHeideggers Denken selbst interessiert und geht von der Prämisseaus, dass jene Denkwege zu den Höhepunkten der abendländischenWeltphilosophie in zweieinhalb Jahrtausenden gehören und nochWesentliches zu denken geben.

Der Fokus der Heidegger-Beschäftigung legte sich seit 2014/15auf die Edition des Nachlasses, die Schwarzen Hefte, die ohne ZweifelGedankenketten und Andeutungen enthalten, die schwer erträglichsind, weil sie an ein Ressentiment rühren, das mit deutscher Schuldaufs engste verbunden ist. Wenn man jenes Nachlasskorpus, wieFriedrich-Wilhelm von Herrmann und Francesco Alfieri wollen, nurals kontingenten, philosophisch zweitrangigen Text missversteht,verkennt man die außerordentlich tief lotenden Aussagen, die nebendem Krebsschaden etabliert sind.4 Wenn man es aber, wie u. a. PeterTrawny, als heimlichen Schlüssel zu Heideggers Gesamtwerk be-

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Prolog

2 Vgl. zu dieser Tendenz E. Faye,Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismusin die Philosophie im Umkreis der unveröffentlichten Seminare zwischen 1933 und1935. Berlin 2009, S. 23 ff. Die Tendenz dieser Enthüllungsexegese, bezogen aufGA 36/37, vermeint sich durch die Publikation der Schwarzen Hefte weiter bestätigt.In ihrer Zielrichtung bemüht sie sich indes um weit mehr als die ›Entsorgung‹ Hei-deggers, nämlich um die Erledigung eines nicht willfährigen Denkens selbst.3 Nicht wirklich befriedigend ist vor diesem Hintergrund auch die Publikation F.-W.von Herrmanns und F. Alfieris, Martin Heidegger. Die Wahrheit über die SchwarzenHefte. Berlin 2017.4 Vgl. ibid. Ich habe mich zur Ambivalenz dieser Debatte geäußert H. Seubert, »Wasfehlt, wenn Heidegger endgültig verschwindet?«, In: Scheidewege (2016/17), S. 208–216. Und: »Heidegger heute. Antwort auf vier Fragen von Manuel Herder«, in:W. Homolka und A. Heidegger (Hg.), Heidegger und der Antisemitismus. Positionenim Widerstreit. Freiburg, Br. 2016, S. 342–353. Allerdings kann erst im größeren Be-zugsrahmen dieser Monographie das Urteil im Ganzen annähernd geklärt und be-gründet werden.

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nutzt, stellt man eine plötzliche Eindeutigkeit her, die HeideggersDenkwege auf vergiftete Botschaften reduziert.

Die Restriktion Heideggers auf einen »Nazi«-Philosophen hättezumindest ansatzweise die Kontrastfolie der faktischen NS-Philo-sophie in jener Zeit mit zu berücksichtigen. Diese aber hat mit demSeinsdenken wenig bzw. gar nichts zu tun. Die Infiltration und die bisheute höchst inspirierende Qualität Heidegger’schen Denkens, ein-schließlich der Faszinationsgeschichten, die von ihm nicht zuletztauf jüdische Denkerinnen und Denker ausgingen, gilt es vielmehr ineinen Zusammenhang zu bringen.

Ohne sie für eine Verharmlosung in Anspruch nehmen zu wol-len oder zu können, sind gerade die Einsprüche von Denkern jü-discher Herkunft gegen eine rasche Entsorgung des Heidegger’schenDenkens beimWort zu nehmen. Alain Finkielkraut äußerte in diesemSinn, dass die Desavouierung von Heidegger zum Nazi den mörderi-schen Nazismus verharmlose und auch die FaszinationsgeschichtenLügen strafe.5 Eine Verbindung, die es zu verstehen gelte, werde da-durch leichtfertig preisgegeben. Viele von denen, deren Namen manzu Recht noch kennt und unter den besten Namen des 20. Jahrhun-derts nennt, waren seine Schüler und sahen sich ihm in besondererWeise verbunden: von Leo Strauss über Hans Jonas bis Herbert Mar-cuse und, in besonders prekärer Weise mit Heidegger verbunden,Hannah Arendt. Hier bestehen Ligaturen, die noch weit über Heideg-gers Lebenszeit hinaus relevant bleiben: Ist doch durch Lévinas oderDerrida ein Heidegger-Aspekt tief in eine philosophische Linien-führung von Denkwegen eingeschrieben, die sich gegen Heideggerwendeten, aber nicht ohne ihn auskamen.

Sollte man diese große, benennbare Heidegger-Affinität alsNaivität und Missverständnis abtun? Würde man dann nicht auchdie Denker durch den abstrakten Moralismus der nachgeborenenLügen strafen, deren Ansatz aufs engste mit Heideggers Fragen ver-woben ist?

Die um den Bestand von Philosophie und Denken insgesamtkaum mehr besorgten Verdachtshermeneutiker sind jede Erklärungschuldig geblieben, worin systematisch oder ideengeschichtlich derNS-Charakter von Heideggers Philosophie liegen soll und wie die

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5 A. Finkielkraut, »Philosophie und reines Gewissen«, in: J. Altwegg (Hg.), Die Hei-degger-Kontroverse. Frankfurt/Main 1988, siehe aktualisierend und auf die jüngsteDebatte bezogen ders. in www.franceculture.fr, 7. 10.2017.

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Affinität sich über Behauptungen hinausgehend verifizieren lässt.Wenn die Verdächtigung schon in der Frage nach dem Sinn von Seinund dem tiefenphilosophischen Pathos oder dem Zug zu einem origi-nären Denken liegen soll, ist entschieden zu widersprechen. Dannkommt mit diesen Entsorgungsversuchen ein Denken des »Gestells«und der Extraktion der Philosophie zu sich, das selbst keine Wider-ständigkeiten gegen die eigenen Ideologien duldet. Diese werdenzwar mit dem Anspruch vertreten, mit ›dem Guten‹ selbst identischzu sein, sie identifizieren sich in Jakobinischer Manier mit Fortschrittund den Idealen einer selbst reklamierten Aufklärung. Doch sie sindzu einer gleichermaßen anspruchsvollen und elementar kritischenOperation nicht in der Lage. Mit Heidegger soll dann auch die Spurspekulativer, über Meinung und Verfügbarkeit hinausgehender Phi-losophie ausgelöscht werden. Der Eindruck legt sich nahe, Heideggersei gleichsam der nicht unschuldige Sündenbock, mit dem eine deut-sche Öffentlichkeit ihre nachhaltige Entschuldung inszenieren undihre ›Schuldarbeit‹ kompensieren möchte.

Ich folge dabei dem Maßstab, den Heidegger an seine Nietzsche-Deutungen anlegte, und der eine Epoché gegenüber Odium, Legen-den und Wirkungsgeschichten bedeutet. Heidegger – der Name stehtfür die Sache seines Denkens. Der Versuch, diese Sache in ihrer inne-ren Genese und Geltung zu denken und sie zugleich zu überprüfen,unterscheidet sich offensichtlich diametral von existenzialistischenÜbungen, die Heidegger’sche Denkversuche zugleich als Lebens-übungen begreifen wollen.6

Einen Denker seines Ranges auf den ›Nazi‹ zu reduzieren, bleibtunstatthaft und selbst ein Akt von Phrase, Schlagwort und Denk-verweigerung, von ideologischem Kitsch jenseits der Philosophieund der Sache des Denkens. Gerade die causa Heidegger nötigt dazu,zwischen Philosophie und Ideologie zu unterscheiden. Mit Verlaubbleibt, auch in der öffentlichen Diskussion, anzuraten, Heideggernicht als solitären ›Sündenbock‹ mißzuverstehen, sondern die »gothicnovels«, die sich um die deutschen geistigen Traditionen und ihreversuchte Bewältigung ranken, mit in den Blick zu nehmen. Wie tiefirritierend sind bei einem feingeistigen Romantiker wie Achim vonArnim die scheußlichen Antisemitismen, deren Vergiftung nicht zu

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6 Dazu jüngst P. Trawny, Heidegger-Fragmente. Eine philosophische Biographie.Frankfurt/Main 2018, S. 23 ff.

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beschönigen ist. Und selbst wenn sich Heidegger zeitweise einer Re-barbarisierung seiner Sache des Denkens schuldig gemacht hätte,wäre es eine wenig sinnvolle Barbarei, ihn seinerseits nach barbari-schen Maßstäben zu beurteilen. Ich sehe, durchaus in Abweichungenvom Mainstream der Deutungen, Heideggers fragendes Denken alsein Movens der Unabschließbarkeit seiner Denkbewegung und damitin seinem Gestus als Gegenmittel gegen die Unkultur von techno-kratischen Ein-eindeutigkeiten, die auf beiden Seiten der Barrikadeerwünscht sind.

Von diesen Einwänden unterscheide ich eine andere Option: Esist moralisch und lebensgeschichtlich allzu verständlich, wenn Men-schen, die selbst oder in ihrer Familiensituation Grunderfahrungenmit dem Grauen des NS-Faschismus machten, Heidegger einzelneSätze aus Überlegungen. Schwarze Hefte nicht verzeihen können.Zu ergründen, was es mit ihm auf sich hatte, mag für sie nicht diePriorität haben. Ihn zu vergessen, mag für sie angezeigt sein. Auchdies ist als persönliches Urteil legitim. Auch einige von ihnen standenmir bei der Arbeit an diesem Buch vor Augen, kritische Gesprächs-partner aus Vergangenheit und Gegenwart, die mich nötigten, mirüber Heidegger neu Rechenschaft zu geben. Man mag sich für immervon Heidegger trennen. Wissen sollte man, wenn einem philoso-phisch-geistige Gesprächsräume etwas bedeuten, welchen Verlustdies einschließen würde. Ob und wie der Mangel zu kompensierenist, ist eine offene Frage. Es unbesehen zu tun, ist ein Akt der ›Mis-logia‹, der gegenüber jeder Philosophie und Wahrheitssuche ein Ver-stoß ist, auch gegenüber Heidegger.

Diese vielfältigen Konditionen führen mich bei der Arbeit andiesem Buch konsequent auf den philosophischen Weg zurück: DieFrage nach dem Denken Heideggers, dem ich meine erste, aus meinerDissertation hervorgegangene Monographie widmete (2000). Mehrdenn je wurde mir deutlich, dass Heideggers Denken eine scharfeinnere Systematik enthält, dass es aber keine monilithischen Blöckebildet, sondern in vielfältigen Ansätzen und Anläufen auf seine Sachezugreift. Dabei gibt es Wege und Abwege, Klärungen, Durchsichtenund – philosophische – Irrtümer: Diesem komplexen Gefüge nach-zudenken und es zur Klarheit zu bringen, stellte ich mir zur Aufgabe.Einer solchen Deutung kann man widersprechen, doch sie schreibtsich in das philosophische Problemfeld ein, das selbst Kritik ist, nichtunbeeinflusst von den Zeiten, in denen es sich abspielt, doch auchnicht auf sie zu reduzieren. Die Spannung zwischen dem ›Ende der

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Philosophie‹ und der ›Sache des Denkens‹, die diesem Buch den Titelgibt, könnte sich als das Proprium erweisen, an dem Grundzüge vonHeideggers Philosophie erkennbar werden.

In den Jahren 2014/15 schien es gängig zu sein, das Denken garnicht zur Kenntnis nehmen zu müssen, gegen eine Aufmerksamkeit,die in dekonstruierender und auch in argumentationsanalytischerWeise mit einer neuen subtilitas legendi sich vollziehen. Vielmehrwurde lediglich in immer neuen sterilen Wendungen gefragt, wasdie beispiellose Selbstdesavouierung bedeutet und welcher Art dernun – endgültig und endlich – festgestellte Antisemitismus Heideg-gers sei, seinsgeschichtlich oder metaphysisch?7 Oder schlicht ba-nal?8 Tiefenhermeneutiker kamen auf den Gedanken, die Publika-tion jenes Nachlasskonvolutes könne die Falle sein, die sich der alteFallensteller selbst am Ende gestellt hat, um ein für alle Mal un-kenntlich zu werden. Wie dem auch sei: Unkenntlich würde damit,das ist die Überzeugung, die mich in allen Einwänden leitet, derbedeutendste Philosoph des 20. Jahrhunderts, ohne dessen Denkenim Positiven oder Negativen die Philosophie der Gegenwart nichtfassbar wäre.

All dies bezeichnet einen Nullpunkt, der es keineswegs als einemüßige Übung erscheinen lassen wird, wenn neu und mit größtmög-licher Prägnanz, die Schnittstellen und Umkehrpunkte von Heideg-gers, selbst so apostrophiertem Denkweg, auf ihre Struktur und ihrenSachgehalt hin seziert und befragt werden. Sie sollen aber zugleich ineinen »Kontext« gerückt werden. Nicht zuletzt ist dieser Kontextdurch Konstellationen mitbestimmt, die immer wieder auf die Hus-serl’sche Phänomenologie verweisen. Sinnvoll erscheint es auch, Hei-deggers Denken mit sachlichen Einreden von Schülern und Freundenzu konfrontieren.

Differenzierung tut in jeder Hinsicht Not. Die fanatische Hei-degger-Abwehr ist nicht zu verwechseln mit einer Heidegger-Skepsis,deren bleibende Argumentationsmuster in jeder VergegenwärtigungHeidegger’schen Denkens mitzudenken sind. In der Philosophie nach

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7 Dazu wieder H. Seubert, »Was fehlt, wenn Heidegger endgültig verschwindet«, In:Scheidewege (2016/17), S. 208ff.8 Vgl. die Übersicht H. Zaborowski, »›Das Geniale ist zwielichtig‹. HermeneutischeÜberlegungen zur Diskussion über das Verhältnis Heideggers zum Nationalsozialis-mus«, in: Heidegger-Jahrbuch 5, Heidegger und der Nationalsozialismus Band II.Freiburg/München 2009, S. 13 ff.

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1945 gibt es, ungeachtet des »urbanisierenden« Statthalters Heideg-ger seitens der philosophischen Hermeneutik Hans-Georg Gadamersund seines Einflusses,9 eine Reihe von bedeutenden, originären Den-kern, die von Heidegger gerade nicht wissen wollten, aber durchaus,indirekt, seine Fragen aus eigenen Stücken aufnahmen: Dieter Hen-rich oder – besonders betroffen – Hans Blumenberg mieden dezidiertden ›Zauberer aus Meßkirch‹, ohne in eine Rhetorik einzustimmen,die ihn in die Nähe des »Todes, des Meisters aus Deutschland« rück-ten.

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Vor diesem Hintergrund ist es Aufgabe und Verpflichtung dieses Bu-ches, Heideggers Denkwegen in einer Konstellation aus Nähe undAbstand nachzugehen. Dabei spielt die Rekonstruktion der Kritik,die Heidegger gegenüber seinen eigenen frühen Denkwegen äußerte,eine nicht unwesentliche Rolle, um Wegkreuzungen zu überblickenund Entwicklungen, die Heideegger selbst wählte, von anderen zuunterscheiden.

Jede Überidentifikation und existenzialistische Pose, die sich alsbetrogenen Liebhaber Heideggers missvesteht, der ihm aus Gründenobjektiver Bedeutung die Treue hält, liegt dem Autor fern. Ebensosehr jede, wie auch immer motivierte oder scheinbar begründete At-titüde, die suggeriert, die Sache von Heideggers Denken sei für dieeigene philosophische und intellektuelle Lage heute nicht mehr vonmaßgeblicher Bedeutung. Die Sache dieses Denkens, das so nichtersetzbar oder simulierbar ist, ist in bestimmter Hinsicht mit denSkandalmomenten von Heideggers Lebensweg verbunden. An dieser›hermeneutischen Situation‹ kommt keine künftige Heidegger-Inter-pretation vorbei.

Aus jenem Horizont ergibt sich eine Achitektur des Gedanken-gangs in fünf Teilen: Ich gehe im Ersten Teil nach einigen biographi-schen Hintergrund-Ansichten von Heideggers Anfängen aus, die ihnvon der Logik und dem Reich der Geltung zu den Grundphänomenenund der Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit führten. Die Berührungen

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9 So die berühmte Äußerung von J. Habermas, Hans-Georg Gadamer. »Urbanisie-rung der Heidegger’schen Provinz (1973)«, in: ders., Philosophisch-politische Profile.Frankfurt/Main 1987, S. 392 ff.

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mit dem Neukantianismus und mit Husserls Neubegründung derPhilosophie als ›Strenger Wissenschaft‹ sind alles andere als zufällig.Was Heidegger nach dem Ersten Weltkrieg, vorbereitet durch seineQualifikationsschriften, in genialen Abbreviaturen in seinen Vor-lesungen und dem Natorp-Bericht anreißt, entfaltet er dann in einemweiten geschichtlichen Rahmen in den Vorlesungen seiner Marbur-ger Zeit, die seinen legendären Ruf als Lehrer und König im Reich desGeistes festigten. Platon und Kant sind die Kristallisationspunkte imDenken der Marburger Jahre, die auf Sein und Zeit führen, aber, wieschon der Natorp-Bericht, auch darüber hinausweisen. HeideggersDenkbewegung besteht weder aus existentziellen Lebensakten undmembra disiecta, noch ist es ein durchgebildetes Systemgefüge. Esverfolgt mit größter Konsequenz eine einzige Frage, die Frage nachdem Sein selbst, und gibt ihm vielfache Ausprägungen, nicht zuletztin einer andauernden destruierenden oder erneuernden Zwiesprachemit der abendländischen Metaphysik – ein Thema mit Variationen.

In einem zweiten Teil wird der genealogische Ansatz zunächstaufgegeben und es werden die beiden Gebilde einander kontrastiert,in denen Heidegger sein Denken zu einer durchgehenden Kristallisa-tion brachte: Sein und Zeit (1927) als Fragment bleibende Ausarbei-tung der fundamentalontologischen Frage nach Sein und Dasein unddie Beiträge zur Philosophie (aus dem Nachlass 1989), in denen Hei-degger die Frage nach dem »anderen Anfang« und dem Sein selbst als»Vorbereitung für eine künftige Ausgestaltung« skizziert. Zwei Ziel-punkte und Kondensationen werden so miteinander ins Gespräch ge-bracht, Indiz für den einen Denkweg Heideggers in seinen beiden, aufden ersten Blick erkennbaren Filiationen.

Ein dritter Teil nimmt dann den Denkweg nach Sein und Zeitwieder auf und wendet sich zunächst, und vergleichsweise detailliert,Heideggers Kant-Buch von 1929 zu, weil es am ehesten den Versucheinlöst, Sein konsequent von der Temporalität her zu denken undweil es, meines Erachtens, einen Ansatz exponiert, den Heideggermit großem Gewinn hätte weiterverfolgen können: Eine transzen-dentalphilosophisch begründete Ontologie. Im Kraftfeld des Kant-Buches steht dann nicht ohne Grund auch die epochale Disputationmit Ernst Cassirer in ihren ›Vertauschten Fronten‹, auf die immerhinBezug genommen werden muss.

Den Weg des Kant-Buches ist Heidegger bekanntlich, trotz be-deutender weiterer Ansätze, nicht gegangen. Die Verflüssigungen,Möglichkeiten aber auch Verstellungen seines Denkens in den frühen

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Dreißiger Jahren sind deshalb aus seinen Vorlesungen, vor allem derGegenübersetzung zu Hegel und Schelling und der »Auseinander-setzung« mit Nietzsche zu rekonstruieren. Nietzsches ›Grundlehren‹nahmen Heideggers Denken massiv in Beschlag, nicht ohne Grundfühlte er sich von ihnen zeitweise überwältigt und bedroht.

Anzudeuten ist schon hier, was Heidegger in den wohlkom-ponierten Bänden seiner Abhandlungen, die nach 1945 erschienen,von diesen ›Wegen‹ mitteilte, ohne dass sich die Intensität und immerwieder auch die Obsession seines Denkansatzes hätte erkennen las-sen. Die Unterscheidung des esoterischen vom exoterischen Gedan-kenzug erweist sich gerade bei Heidegger als unhintergehbar. DieÜberlegungen münden in eine Zwiesprache mit der Dichtung unddem vorsokratischen Anfang der Philosophie und weisen so in einOffenes. Die Kehre und der Rückgang in den anderen Anfang vonHeideggers Denken war bis zu den großen Nachlasseditionen, vorallem der Beiträge zur Philosophie anlässlich von Heideggers100. Geburtstag 1989, nur aufgrund einzelner Abhandlungen sicht-bar. Diese Texte sind für Heideggers Wirkungsgeschichte allerdingsnach wie vor wichtig; sie erschienen in einem Zeitraum von den drei-ßiger bis in die fünfziger Jahre in den großen AbhandlungsbändenWegmarken und Holzwege. Dass der Weg von Sein und Zeit aufge-geben wurde, erschloss sich aufmerksamen Lesern durch dieseindirekten Mitteilungen. Dass sich zumindest in der hermetischenBinnenlogik eine strenge philosophische Gliederung in dieser Mittei-lungsform verbarg, war allerdings nicht ohne weiteres zu erkennen.

Erst in einem Vierten Teil – und nicht zufällig – in der genauenMitte des Buches wird die Ideologisierung Heidegger’scher Philo-sophie als eine Pervertierung und Selbstverfehlung gedeutet. Heideg-gers Aussage: Wer große denke, irre auch groß,10 ist immer wieder alsIndiz für eine verfehlte Apologetik verstanden worden. Dass Heideg-gers Denken aufgrund seines Ranges und seiner Optionen eine im-mense Fallhöhe hatte, ist aber unverkennbar. Sie macht seinen Fallexemplarisch. Vor diesem Hintergrund gilt es, den Gedankenweg der– keineswegs zweitrangigen – Schwarzen Hefte paradigmatisch zuüberblicken.

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10 Siehe zu dieser und ähnlichen Äußerungen Heideggers in ihrem Kontext die vor-zügliche Dokumentation GA. Band 16: Reden und andere Zeugnisse eines Lebens-weges. 1919–1976, hg. von H. Heidegger, S. 454ff. Ebenso bleibt hier das SPIEGEL-Gespräch vom 23. September 1966, ibid., S. 652ff.

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Im fünften Teil gehe ich davon aus, dass Heidegger eine Spätphi-losophie entwickelt, die gegenüber dem fundamentalontologischenund dem seinsgeschichtlichen Denken nochmals eine beachtenswerteEigenständigkeit und einen Neuanfang erkennen lässt, der in man-chem an die ersten Ansätze nach dem ErstenWeltkrieg anklingt. Mit-unter verfängt sich der Gestus in nahezu dadaistischen Sprachspielen,dann aber ist auch immer wieder die bewundernswerte Klarheit derAnfänge präsent.

Im abschließenden Sechsten Teil wird der Versuch unternom-men, den philosophischen Blick Heideggers späten Denkens in eineFermate zu führen, soweit sie mir jetzt möglich zu sein scheint. Dabeiwird das, was Heidegger dachte und was von ihm her zu denken ist,nochmals in den Blick genommen. Unter anderem ist zu prüfen, woHeidegger Methodologie oder Argumentation ansetzt. Mir liegt da-ran, die Sache des Denkens und die Philosophie nicht auseinander-zureißen, sie aber gegenüber jedweder Ideologisierung umso schärferabzugrenzen.

Dank

Dank gehört zum in-der-Welt-sein: Ohne die akademischen Lehrer,die ich erfahren durfte, hätte ich keine erkennbare Position zu Hei-degger gewonnen. Vor mehr als einem Vierteljahrhundert entstandmeine Promotionsschrift über Heidegger und Nietzsche unter derÄgide meines mir unvergessenen Lehrers Manfred Riedel (1936–2009). Was ich bei ihm und dann, um nur die auf Dauer wichtigstenzu nennen: bei Dieter Henrich, Werner Beierwaltes, Stephan Ottound Rudolph Berlinger und einigen anderen lernen durfte, ist oftmalserst später wach geworden und tief in die eigene Signatur einge-gangen.

Ich danke auch den wenigen Lebenden, auf die ich höre und die teil-weise sehr viel kritischer von Heidegger denken als ich selbst, dass siemich dennoch durch Zuspruch oder Warnung darin bestärkt haben,dieses Buch zu schreiben. Damit meine ich auch, dass die, an derenFreundschaft mir existentiell liegt, sie mir nicht kündigten, da ichmich noch einmal eingehender mit Heidegger befasst habe.

Der Familie Martin Heideggers danke ich für ihr Vertrauen, dassie mir auch in meiner Eigenschaft als Vorsitzender des Vorstands

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der Martin Heidegger-Gesellschaft entgegengebracht und im Laufder Zeit erhalten hat. Lukas Trabert bin ich für die Betreuung desBuches im Verlag Alber und seine kritische Lektüre sehr dankbar.Mein Freund Dr. Reinhard Knodt, Denker der Korrespondenz, abereben nicht Philosoph par profession, hat es auf sich genommen, denText im Ganzen zu lesen. Dr. Silja Luft-Steidl hat dem Text Sym-pathie, Vertrauen und Zuwendung entgegengebracht. ReinhardKnodt nahm ihn mit korrespondenztheoretischer Weisheit und sti-listischer Feinsinnigkeit auf. Dr. Silja Luft nahm das Manuskript inihrer tiefen sachlich-anteilnehmenden Perspektive wahr, einer Reso-nanz, die für mein Denken sehr wichtig ist. Meinen wunderbarenMitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Basel danke ich für ihre Ge-duld und Zuwendung, auch wenn mein sujet nicht das ihre undmeine Zeitvorstellungen nicht die ihren sind. Heidegger belehrtuns über die synousía in gespaltener Temporalität: Ich darf sie auchvon den nun viel Jüngeren erfahren. Pars pro toto nenne ich dieHerren Dominik Portmann, Jens Binfet und die Damen Hanna We-ber, geb. Rebiai, und Anna Tabea Rohlfing. Auch allen jüngerenKollegen und Freunden, die mit mir arbeiten wollen und mich, auchextra facultatem, durch ihre Klugheit und ihre Fragen inspirieren,bin ich tief dankbar. Pars pro toto nenne ich Dr. Manuela Massaund Jasmin Siebert.

Eine der unhintergehbaren Heidegger’schen Einsichten sei an dieserStelle als Leitfaden für das Folgende genannt: Die Suche nach demSinn von Sein legt einen Bereich frei, der allem theoretischen Er-kennen zugrunde liegt, selbst aber nicht in eine esoterische Dunkel-heit abgleitet. Das Seindenken wäre der Rechenschaft nicht mehrfähig noch bedürftig. Heidegger nennt diese Dimension ›Denken‹,und man muss zugeben, dass er nicht sonderlich bemüht war, sie insLicht der Vernunftrationalität einer Selbstaufklärung zu rücken.Doch sie schöpft, näher betrachtet, die Sinndimension von Philoso-phie in zweifacher Richtung vollständig aus, in Richtung auf ›Trans-zendenz‹ und ›Reszendenz‹, den Ausgriff auf das Fernste und Nächs-te. Dieser Gestus ist meines Erachtens unabgegolten.

Zur Zitationsweise: Die starke Bezugnahme auf Heideggers Denkenbringt es mit sich, dass ich immer wieder exemplarisch in seine Texteund deren Binnenstruktur eintauche. Daraus ergibt sich die Zita-tionsweise unmittelbar nach der einschlägigen Stelle im Text mit

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Dank

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Bandzahl der GA und Seitenzahl. Lediglich Sein und Zeit wird nachder weitverbreiteten, im Halleschen Niemeyerverlag erschienenenAusgabe zitiert.

Nürnberg, Basel, München im Frühjahr 2019.

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