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Hope Solo mit Ann Killion - Mein Leben als Hope Solo

Date post: 18-Mar-2016
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Description:
Hope Solo zählt zu den charismatischsten Sportlerinnen Amerikas und gilt als beste Torhüterin der Welt. Nach Olympischem Gold mit dem US-Nationalteam 2008 wurde sie bei der WM 2011 von der FIFA als beste Torhüterin des Turniers ausgezeichnet. Dass Solos Weg an die Spitze jedoch kein leichter war, zeigt nun ihre Autobiografie. In „Mein Leben als Hope Solo“ erzählt sie von der Diskriminierung, der ihre Familie aufgrund des kriminellen und zeitweise obdachlosen Vaters ausgesetzt war, von ihrer Flucht in den Sport, wo sie Anerkennung erfuhr und die schwierige Situation zu Hause vergessen konnte, und von den Idealen und Werten, die ihr der Vater trotz seines Lebenswandels glaubhaft vermitteln konnte. Solos Geschichte ermöglicht auch ein Blick hinter die Kulissen des Profi-Sports und eine Abrechnung mit der oftmals zerstörerischen Dynamik, die sich innerhalb von Mannschaften entwickeln kann. Die 31 Lebensjahre der Spitzenathletin lesen sich wie ein Krimi, der nicht nur Sportfans begeiste
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Transcript

Mein Leben als Hope

aus dem Amerikanischen von Michael Sailer

Hope Solo mit Ann Killion

Edel:Books

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

Copyright der deutschen Ausgabe © 2013 Edel Germany GmbH,

Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

1. Auflage 2013

Titel der Originalausgabe: A Memoir Of Hope Solo

Published by arrangement with Harper, an imprint of

HarperCollins Publishers, LCC

Copyright © 2012 Hope Solo

Übersetzung: Michael Sailer

Projektkoordination: Constanze Gölz

Lektorat: Clemens Hoffmann für bookwise GmbH, München

Fotos im Innenteil: mit freundlicher Genehmigung von Hope Solo;

nicht von Hope Solo zur Verfügung gestellte Bilder sind anderweitig

gekennzeichnet

Satz und Layout: BUCHFLINK Rüdiger Wagner, Nördlingen

Design Originalcover: Milan Bozie

Umschlagadaption: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und

Passionen mbH | www.groothuis.de

Druck und Bindung: optimal media GmbH, Glienholzweg 7

17207 Röbel / Müritz

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch

teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Printed in Germany

ISBN 978-3-8419-0226-9

6 |

Inhalt

Vorbemerkung ........................................................................ 9

Prolog ...................................................................................... 11

1 Ein Leben im Schatten des Smiley ..................................... 17

2 Gottes zweites Paradies ........................................................ 33

3 Ein Doppelleben .................................................................... 49

4 Irgendwohin – egal wohin –, nur weit weg ...................... 61

5 Kahle Äste, kurz vor der Blüte ............................................ 72

6 Die 99er .................................................................................. 87

7 „Ich hätte schon vor langer Zeit sterben sollen“ ............ 101

8 Ein Arm wie Frankensteins Monster ................................... 113

9 Made In The WUSA .............................................................. 128

10 Ene mene muh und raus bist du ......................................... 144

| 7

11 „So weint nur eine Tochter“ ................................................ 161

12 Schatten .................................................................................. 175

13 „Lass dich nie von einem Bauchgefühl leiten“ .................. 183

14 Kaltgestellt und angeprangert ............................................ 198

15 „Lass dir deine Freude nicht vom Teufel rauben“ ........... 212

16 Die neue Nummer eins ......................................................... 230

17 So verdammt schön .............................................................. 247

18 Professionell unprofessionell .............................................. 257

19 Seattle’s Beste ........................................................................ 270

20 Einer ist genug ....................................................................... 285

21 Ein Silberstreif am Horizont ................................................ 296

22 Nackte Tatsachen auf der Wiese ........................................ 307

Danksagung ............................................................................ 327

| 183

KAPITEL DREIZEHN

„Lass dich nie

von einem Bauchgefühl leiten“

E s ist alles in Ordnung! Alles okay!“ Ich hörte, wie Kate Mark-

graf mich anschrie. Der nasse Ball war mir soeben durch die

Fingerspitzen gerutscht, über meinen Kopf ins Netz.

Ein Tor. Im allerersten Spiel der WM. Ich riss die Arme hoch

und brüllte vor Enttäuschung. Es stand 1:1 in der zweiten Halb-

zeit gegen Nordkorea, auf einem feuchten, rutschigen Platz in

Chengdu.

„Okay, okay“, sagte ich zu mir selbst. „Reiß dich zusammen,

Hope.“ Ich war eher sauer als verunsichert. Unser Auftaktspiel

lief nicht gut. Deswegen war Greg so angespannt gewesen, seit

er damals Nordkorea beobachtet hatte. Sie spielten aggressiv,

technisch gut, waren uns überlegen. Schon nach zwölf Sekunden

musste ich einen wuchtigen Schuss meistern. Nordkorea hatte

mehr Ballbesitz. Wir rannten hinterher.

Am Morgen hatte ich in mein Tagebuch geschrieben:

Papa, der erste Spieltag; ich weiß nicht, wie ich mich fühle. Mir ist ein

bisschen mulmig, aber schon seit Tagen. Würde gerne ein Nickerchen

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machen, aber meine Augen zucken, und ich höre mein Herz gegen die

Matratze schlagen. Du fehlst mir, Papa. Ich brauche dich. Hilf mir,

den Augenblick zu erleben. Papa, ich liebe dich so sehr. Ich trage dein

Armband. Ich habe dich bei mir. Bild im Spind, Armband und Halskette

an, Asche im Tor, ich und mein Papa gemeinsam im Tor. Zeit, der Welt zu

zeigen, aus welchem Holz diese Solos geschnitzt sind.

Ich ging stark, voller Lebenskraft und Konzentration in mein

erstes großes Turnier. In der ersten Halbzeit hielten wir das 0:0;

ich musste einmal knapp retten und kam bei Steilpässen raus,

um ihre unermüdlichen Attacken zu unterbinden. Kurz nach

der Halbzeitpause brachte Abby uns ins Spiel: Auf Vorlage von

Kristine Lilly drosch sie den Ball Richtung Tor. Er sprang

der nordkoreanischen Keeperin von den Handschuhen und ins

Netz. Ein eklatanter Beweis für das, was ich bereits wusste: Die

Bedingungen waren hart für Torhüter, das Spielfeld klatschnass,

der Ball schwer, und das neue Design der Balloberfläche machte

ihn noch unberechenbarer.

Minuten nachdem sie die Führung erzielt hatte, knallte Abby

mit einer Nordkoreanerin zusammen, fiel zu Boden und blutete

aus einer Platzwunde am Kopf. Das Spiel lief weiter, während sie

genäht wurde, und Greg wechselte sie nicht aus. Wir schauten

immer wieder zur Seitenlinie, ob eine Ersatzspielerin bereitstand,

mussten aber in Unterzahl weiterspielen. Gregs Entscheidung,

uns zu zehnt weitermachen zu lassen, bis Abby zurückkam, gab

den sowieso überlegenen Nordkoreanerinnen zusätzlichen

Schub und erhöhte den Druck. Sie ließen den Ball vor unserem

Tor mühelos durch die Reihen laufen, und schließlich landete

ein weiter Pass an der Strafraumkante bei Kil Son Hui. Sie schoss;

ich dachte, ich könnte den Ball halten, aber der scharfe Schuss

glitt durch meine nassen Handschuhe ins Tor. Es stand 1:1.

Abby war schon drei Minuten draußen, jetzt stand es unent-

schieden, und wir schwammen. Dennoch ließ uns Greg weiter in

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Unterzahl spielen. Seine Botschaft war klar: Ohne Abby sind wir

verloren. Unsere Ersatzspielerinnen taugen nichts.

Ich gewann meine Ruhe zurück, stand aber weiterhin enorm

unter Druck. Die Nordkoreanerinnen ließen den Ball in den

eigenen Reihen laufen, während unser Team nicht an den Ball

kam. Nach einem Foul von Carli schlug Nordkorea den Freistoß

weit vors Tor und ließ den Ball über sechs Stationen laufen.

Shannon Boxx fälschte direkt vor mir einen Schuss auf den

rechten Pfosten ab; ich bewegte mich erst nach rechts, dann

nach links Richtung Ball. Aber Kim Yong Ae schnappte ihn sich

und schoss über meine ausgestreckte rechte Hand ins Tor.

Jetzt lagen wir 1:2 zurück. Noch nie hatten wir bei einer

Weltmeisterschaft ein Gruppenspiel verloren. Ich sah die Angst

in den Augen meiner Teamkameradinnen. Greg wirkte an der

Seitenauslinie wie paralysiert und unternahm nichts, um den

Schwung der Nordkoreanerinnen zu brechen. Nach zehn langen

Minuten und zwei Gegentoren lief Abby endlich zurück auf

den Platz, mit elf Stichen am Kopf. Wieder vollzählig, gewannen

wir unsere Ruhe zurück. In der 69. Minute versenkte Heather

O’Reilly einen Schuss in der oberen rechten Torecke. Das Spiel

war wieder offen, aber Nordkorea setzte seinen Sturmlauf fort.

In der Nachspielzeit wähnten sie einen Gewaltschuss schon im

Tor, aber ich hechtete ins entfernte rechte Eck und konnte den

Ball gerade noch abwehren. Nur Sekunden später ballerte eine

andere nordkoreanische Stür merin eine Direktabnahme aufs

Tor, die ich ebenfalls abfing. Ich rettete uns das Leben. Endlich

ertönte der Abpfiff. Wir hatten das Unentschieden gerettet und

in der Gruppenphase einen vielleicht entscheidenden Punkt

errungen.

Ich war alles andere als glücklich über die Gegentore – vor

allem das erste, als mir der Ball durch die Handschuhe gerutscht

war – und dennoch stolz. Einige Male hatte ich spektakulär ge-

rettet und unser Team im Spiel gehalten. Ich hatte einen bitteren

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Schnellkurs im Umgang mit rutschigen Bällen erhalten – ein

Fehler, der mir nicht noch einmal unterlaufen würde. Obwohl

wir alle nicht unseren besten Tag hatten – weder ich noch die

Feldspielerinnen und unser Coach –, waren wir mit einem Punkt

davongekommen. Dass ich am Ende über mich hinausgewachsen

war, stärkte mein Selbstvertrauen.

Nach dem Abpfiff kam Greg aufs Spielfeld. „Danke für die

Paraden“, sagte er und umarmte mich. Dann deutete er zum

Himmel. „Jemand dort oben wacht über dich.“

Ich erstarrte. Es war das erste Mal seit meiner Rückkehr von

der Beerdigung – vor fast drei Monaten –, dass Greg meinen

Verlust offen würdigte. In den letzten Vorbereitungswochen in

den USA hatte er sich nie an mich gewandt oder mich gefragt,

wie es mir ging. Und da wollte er jetzt, da ich in einem WM-Spiel

zu Höchstform aufgelaufen war, meinen Vater als Motivations-

faktor benutzen? Das fand ich beleidigend. Aber ich sagte nichts.

Innerlich am Brodeln, ließ ich mich umarmen.

II

Die Asche war in einem kleinen Behälter, etwa so groß wie

mein Daumen, den ich vor jedem Spiel in meinen Spind stellte.

Obwohl ich beim Einlaufen ins Stadion normalerweise keine

Torwarthandschuhe trug, griff ich in China darauf zurück. In

der Umkleidekabine schüttete ich eine kleine Spur Asche in

meinen linken Handschuh. Auf dem Spielfeld legte ich, während

die Nationalhymne gespielt wurde, die rechte Hand aufs Herz,

in der linken hielt ich den linken Handschuh. Auf dem Weg in

mein Tor bekreuzigte ich mich, küsste meine geballte Faust,

öffnete den Handschuh und ließ die Asche herausrieseln, wäh-

rend ich im Stillen ein kleines Gebet sprach. Meine Worte bei

der Trauerfeier waren ernst gemeint: Mein Vater würde immer

mit mir im Tor stehen.

| 187

Nach dem Nordkoreaspiel blieben wir noch ein paar Tage

im grauen Chengdu – die Stadt ist berühmt für ihre wenigen

Sonnenstunden –, um gegen Schweden anzutreten, die Nummer

drei der Weltrangliste.

14. September 2007

Das zweite Spiel – bin so nervös, Papa. Bitte steh mir bei. Lass mich

begreifen, dass ich nach dem letzten Spiel nichts mehr beweisen muss.

Hilf mir, den Augenblick zu leben. Genau durch die Finger, Papa, dabei

spielte ich so gut. Ich will nur entspannt spielen, im Augenblick, jede

Minute genießen. Lass uns Spaß haben, Papa.

Im Spiel gegen Schweden zeigte sich unsere Mannschaft stark

verbessert. Die Verkrampftheit und Dramatik aus dem Nord-

koreaspiel waren vergessen. Abby traf zweimal, das erste Mal per

Strafstoß, und unsere Abwehr stand viel gefestigter. Ich traf auf

meine alte Freundin Lotta Schelin – den aufsteigenden Stern des

schwedischen Teams –, aber sie konnte mich nicht überwinden.

Es war mein erster WM-Sieg, und zwar ohne Gegentor. Flüsternd

dankte ich meinem Vater.

Dann verließen wir Chengdu Richtung Shanghai und kamen

wenige Tage vor dem Taifun Wipha in der Stadt an. Gegen Nigeria

spielten wir im strömenden Regen um den Gruppensieg. Lori

Chalupny traf nach nur 53 Sekunden ins Tor, die restliche Spiel-

zeit lief Nigeria dem Rückstand hinterher. Gegen Ende musste

ich mich dennoch einige Male strecken, um den Sieg zu retten.

Wieder blieb ich ohne Gegentor.

Trotz der schweren Vorrunde waren wir Gruppensieger

und standen im Viertelfinale gegen England. Das Spiel fand in

Tianjin in Nordchina statt, ein gutes Stück von Shanghai ent-

fernt. Unsere ganzen Verwandten reisten mit uns. Am Abend vor

dem Spiel ging ich hinüber ins Familienhotel. Meine große

Gruppe von Unterstützern war rechtzeitig eingetroffen: meine

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Mutter, Marcus und seine Verlobte Debbie, Tante Susie, Oma

Alice und Opa Pete, Adrian sowie Cheryls Eltern Mary und Dick.

Zu den Spielen trugen sie zu Ehren meines Vaters Trauerflor.

Bei meiner Familie zu sein war tröstlich für mich. Sie waren die

Einzigen, die wirklich wussten, wie sehr mir mein Vater fehlte

und wie sehr ich darunter litt. Mir war schmerzhaft bewusst, wie

viel gemeinsame Zeit mit ihm ich unwiderruflich verpasst hatte,

weil ich ständig auf Reisen war.

Mit dem Rest meiner Familie würde ich diesen Fehler nicht

noch mal begehen. Und wir hatten in China alle etwas zu feiern:

Marcus und Debbie hatten gerade erfahren, dass sie ein Baby

bekamen, gezeugt nur wenige Wochen nach dem Tod meines

Vaters.

Am Abend vor dem Viertelfinale spielte ich mit meinen Groß-

eltern und Adrian Cribbage und sprach mit Marcus über unseren

Papa. Meine Mama – wie immer die begeisterte Fotografin –

zeigte uns die Bilder, die sie geschossen hatte. Alles war sehr

zwanglos. Wieder auf meinem Zimmer, kruschte ich herum,

bevor ich ins Bett ging – wie üblich als eine der Letzten, weil ich

mal wieder mit meiner wiederkehrenden Schlaflosigkeit kämpfte.

22. September 2007

Hey Papa. Warum ist der heutige Tag so hart? Heute habe ich Angst.

Marcus hat Angst. Ich bin froh, dass wir wenigstens ein bisschen

zusammen sein konnten – er ist sehr bewegt. Will, dass wir für dich

das volle Programm durchziehen. Steh mir bei in dem einsamen Tor.

Wir spielen dieses Viertelfinale gegen England gemeinsam. Aber ich

spiele für dich, für alles, was du mir beigebracht hast. Die Familie kommt

immer zuerst, stimmt’s, Papa?

England hatte im Erwachsenenbereich noch nicht viel erreicht –

wir standen ihnen zum ersten Mal in einem WM-Spiel gegen-

über –, galt jedoch als aufstrebendes Team. Ich hielt Kelly Smith,

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mit der ich in Philadelphia gespielt hatte, für eine der besten

Spielerinnen der Welt. In der ersten Halbzeit spielten wir ver-

krampft und blieben ohne Torerfolg, aber unsere Abwehr war

stark. In der zweiten Hälfte erzielten wir innerhalb von zehn

Minuten drei schnelle Tore – eine uneinholbare Führung.

Unsere Ambitionen dämpften die Feierlaune nach dem Spiel.

Wir waren unserem Ziel schon sehr nah, standen im WM-Halb-

finale. So weit war die Mannschaft von 2003 auch gekommen,

aber wir wollten mehr. Unser schwieriger Start gegen Nord-

korea erschien uns jetzt wie ein Glücksfall. Wir hatten gegen

ein gutes Team Nerven und Unerfahrenheit gezeigt und Lehren

daraus gezogen. Ich war noch immer nicht der Meinung, dass

wir wie die Nummer eins der Weltrangliste spielten. Unser

Angriff war ungestüm, aber wenig kreativ. Aber wir hatten 50

reguläre Spiele nicht mehr verloren. Jetzt ging es gegen die

Brasiliane rinnen, die drei Monate zuvor in New York unorgani-

siert und schlecht vorbereitet aufgetreten waren. Und ich war

seit drei WM-Spielen ohne Gegentreffer. Ich war in Höchst-

form, und ich war bereit.

III

Am Dienstagabend, zwei Tage vor dem Halbfinale, aßen wir

im Mannschaftshotel in Hangzhou zu Abend. In Hangzhou hatte

ich im Januar 2001 einen meiner ersten Länderspieleinsätze

erlebt und erfahren, dass mein Vater unter Mordverdacht stand.

Das schien so lange her zu sein. Die Erinnerung an den fal-

schen Verdacht schmerzte mich, weil mein Vater grundlos leiden

hatte müssen. Ich wünschte so sehr, er könnte das Halbfinale

sehen – und Brasiliens unglaubliche Spielerin Marta für mich ins

Stolpern bringen.

Mein Torwarttrainer Phil kam während des Essens zu mir und

tippte mir auf die Schulter. „Hope“, flüsterte er mir gebückt ins

190 |

Ohr, „Greg möchte dich nach dem Essen auf seinem Zimmer

sprechen.“

Ich starrte ihn an. Der Ballon von Selbstvertrauen in mir

zerplatzte. „Wieso?“, fragte ich.

Phil schaute mich nur an und ging davon.

Ich schob meinen Teller weg, weil mir plötzlich schlecht

war. Ich wusste, was passieren würde. Vielleicht hatte ich das seit

zwei Jahren erwartet.

Als ich den Speisesaal verließ, sah ich Greg hereinkommen.

Er würde eine Weile dableiben, also ging ich auf mein Zimmer

und rief Adrian an. Ich versuchte zu sprechen, aber stattdessen

kamen mir die Tränen. „Ich weiß nicht, was hier vor sich geht“,

jammerte ich schließlich.

„Das wird schon, Hope“, vertröstete er mich. „Reiß dich

zusammen. Du musst mit ihm reden.“

Während ich Adrian zuhörte, atmete ich tief durch, um

mich zu beruhigen. Adrian hatte recht; ich wollte nicht wie

ein Wrack dastehen, wenn ich mit Greg sprach. Ich hängte

auf, und sofort läutete mein Telefon. Es war Phil; er fragte, wo ich

sei.

„Ich bin gleich unten“, antwortete ich.

Ich nahm den Fahrstuhl in Gregs Etage. Als ich in sein Zimmer

kam, saß er im Sessel, spielte Gitarre und sang für sich selbst.

„Hey, Hope, kennst du den Song?“ Er lächelte und strich über

die Saiten.

Sollte das ein Witz sein? Er war drauf und dran, mir das

Schrecklichste mitzuteilen, was mir in meiner ganzen Fußball-

laufbahn passiert war, und wollte über Pink Floyd plaudern?

Ich starrte ihn nur an. Verarsch mich nicht, Greg, dachte ich, als ich

mich auf dem Sofa niederließ. Sicherlich verriet mein Gesicht

meine Gedanken. Als er meine Miene sah, wurde Greg zum

harten Mann, zu demselben Arschloch, das mich den ganzen

Sommer über angebrüllt hatte.

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„Wieso kommst du zu spät? Ich sagte, du sollst um sieben da

sein.“

Ich schaute zu Phil, der am anderen Ende des Sofas saß.

„Man hat mir gesagt, nach dem Essen“, erwiderte ich.

Ich legte die Hände auf die Knie, betrachtete sie und holte

tief Luft, um mich zu fassen. Greg, links neben mir sitzend, lehnte

sich vor und richtete seinen Finger auf mich. „Schau mich

verdammt noch mal an, wenn ich mit dir rede“, blaffte er. „Ich

habe es satt, von dir nicht respektiert zu werden. Erst kommst

du zu spät, und jetzt schaust du mich nicht mal an.“

Ich war schockiert. Dass es schlimm werden würde, hatte ich

mir gedacht, aber die Wut in seiner Stimme war verblüffend.

Okay, dachte ich, ich soll dich anschauen, du Arschloch? Ich blickte

wieder auf meine Knie, sammelte mich, hob dann langsam den

Kopf und starrte ihn an, ohne den Blick abzuwenden, während

er meine Karriere zum Scheitern verurteilte.

Ich sei nicht reif für ein großes Turnier, meinte Greg. Das habe

er sich von Anfang an gedacht, und bestätigt habe es sich im ers-

ten Spiel, als mir der Ball durch die Hände gerutscht war. Nach

diesem geschenkten Tor hätte er mich auf die Bank setzen sollen.

Bri könne gegen Brasilien auf eine siegreiche Bilanz zurück-

blicken, sagte Greg. Sie komme besser mit der brasilianischen

Spielweise zurecht. Die Goldmedaille bei den Olympischen Spie-

len 2004 gegen Brasilien habe sie praktisch alleine gewonnen.

Und sie habe gerade erst in New York gegen Brasilien gespielt.

Ich beobachtete, wie sich sein Mund bewegte, und hörte,

wie die Worte herauskamen. Ich konnte sie mir gedruckt in der

Zeitung vorstellen, von ESPN aufgezeichnet und im Fernsehen

ausgestrahlt, in Schlagzeilen und Kurzzitate gegossen. Briana

Scurry, eine der Heldinnen der WM 1999, erobert ihren Stammplatz

im Tor zurück.

Ich war wie betäubt. Greg erwartete eine Antwort. Die Genug-

tuung, mich weinen oder toben zu sehen, gönnte ich ihm nicht,

192 |

sondern riss mich zusammen, um meinem Zorn in klaren, prä-

zisen Worten Ausdruck zu geben. „Greg, ich muss deine Ent-

scheidung respektieren, weil du mein Coach bist“, sagte ich.

„Aber ich stimme dir nicht zu. Es spielt keine Rolle, was Bri vor

drei Jahren geschafft hat. Sie hat seit über drei Monaten kein

Spiel absolviert, war seit drei Jahren nicht mehr deine Nummer

eins, und ich spiele so gut wie noch nie. Ich werde mit deiner

Entscheidung niemals einverstanden sein. Und wenn mich

irgend wer fragt, werde ich sagen, dass diese Entscheidung

falsch ist.“

Greg lächelte. Jetzt war er wieder der coole Typ. „Deshalb

mag ich dich so, Hope“, sagte er. „Ich erwarte von meinen

Spiele rinnen, dass sie auf dem Platz stehen wollen. Dass sie

wütend sind, wenn sie nicht spielen. Ich habe dir vier WM-Spiele

gegeben. Ich habe dich so weit gebracht.“

„Ich habe mich selbst so weit gebracht“, blaffte ich zurück.

„Eine Menge Leute haben an mich geglaubt – lange vor deiner

Zeit.“

Greg war noch nicht fertig. Er erzählte, Lil und Abby hätten

sich dafür eingesetzt, Bri spielen zu lassen. „Ich bin derselben

Meinung wie die Spielführerinnen“, sagte er. „Das ist ein Bauch-

gefühl.“

Es hatte also hinter meinem Rücken ein Treffen stattgefunden?

Eine Entscheidung, die darauf beruhte, wen sie lieber mochten?

Ich blickte Greg an und schüttelte angewidert den Kopf. Er

war ein schwacher Anführer, der sich seiner Verantwortung

entledigte. Greg hatte nicht die Eier, zu seinen Entscheidungen

zu stehen. Stattdessen schob er den Spielerinnen den Schwarzen

Peter zu.

„Du kannst dich nicht von einem Bauchgefühl leiten lassen,

Greg“, sagte ich. „Ich bin seit drei Jahren deine Stammtorhüterin.

Und jetzt, im wichtigsten Spiel des Turniers, schmeißt du mich

raus, weil dein Bauch dir das sagt?“

| 193

Mein Ton gefiel Greg offenbar nicht. Ich weinte nicht und

knickte auch nicht ein. Statt es ihm leichtzumachen, hielt ich mit

Worten und Logik dagegen und hatte meine Gefühle im Zaum.

Deshalb versuchte er, mich zu provozieren, so wie den ganzen

Sommer über auf dem Platz. Er kritisierte mein Training und

sagte, Bri sei viel besser auf Zack gewesen.

Was auch immer er an Begründungen daherbrachte, meine

Arbeitsmoral konnte er nicht infrage stellen. Nach dem Eng-

landspiel hatte er allen Stammspielerinnen gesagt, sie sollten es

im Training langsam angehen lassen. Wir hatten im schwülen

chinesischen Monsun in elf Tagen vier harte Spiele absolviert,

deshalb hatte er uns ausdrücklich eingeschärft, wir sollten uns

ausruhen. Ich war nicht die Einzige, die sich zurückhielt. Bri

andererseits war seit drei Monaten ohne Spiel – klar, dass sie

ihr Letztes gab.

Ich sah rüber zu Phil und wusste nicht, was ich sagen sollte. Alle

Logik war vollkommen für die Katz. Greg war total durcheinander;

seine Rechtfertigungen, mich auf die Bank zu setzen, wechselten

jedes Mal, wenn er den Mund aufmachte. Diskutieren war zweck-

los. Er war in Panik, und ich musste es ausbaden.

Wir schwiegen beide. Ich hatte nichts mehr zu sagen, also

stand ich auf und wollte gehen. Greg lehnte sich rüber und stieß

mich wieder aufs Sofa. „Du gehst verdammt noch mal erst, wenn

ich sage, dass du gehen darfst“, schärfte er mir ein.

Dass er mich angerührt hatte, machte mich fassungslos. Ich

wollte zurückhauen, ihn fester schlagen, als ich Marcus damals

geschlagen hatte, oder die Cheerleaderin oder irgendjemanden

in meinem Leben. Einen Sekundenbruchteil lang dachte ich, ich

würde es wirklich tun – ich fühlte, wie sich meine Hand bewegte.

Aber ich durfte mich nicht provozieren lassen. Also riss ich

mich zusammen und warf einen Blick rüber zu Phil, froh, einen

Zeugen zu haben. „Sind wir fertig?“, fragte ich eisig.

194 |

Auf dem Weg in mein Zimmer zitterte ich vor Wut.

Für den kurzen Aufenthalt in Hangzhou teilte ich mir das

Zimmer mit einer anderen Torhüterin, Nicole Barnhart, was

etwas eigenartig war. Normalerweise wohnen Torhüterinnen

nicht zusammen. Ich zog es vor, den Raum nicht mit jemandem

zu teilen, der um meinen Platz wetteiferte. Ich wollte mich Barnie

nicht anvertrauen, aber sie war nun mal da, als ich Marcus anrief.

All die Gefühle, die ich in der letzten halben Stunde mühsam

unterdrückt hatte, sprudelten jetzt aus mir heraus. Ich weinte

und schimpfte auf Greg und gab mir keine Mühe, irgendetwas

zurückzuhalten.

III

Ich ging aus dem Zimmer und den Gang entlang zu Kristine

Lilly. Lil spielte ihre fünfte Weltmeisterschaft, sie war die letzte

verbliebene Spielerin der ersten WM 1991. Wir standen uns nie

sehr nahe, aber ich respektierte ihr Können. Ihre Erfolgsstory

wirkte allerdings nicht einschüchternd auf mich. Sie musste mich

anhören und ausreden lassen.

„Lil, ich bin seit drei Jahren eure Stammtorhüterin“, sagte

ich. „Wie kannst du im Halbfinale der WM beschließen, dass du

jemand anderen im Tor haben willst?“

Lil wirkte über meine Frage erschrocken; offenbar hatte sie

nicht damit gerechnet, dass Greg etwas von ihrem Privatgespräch

ausplaudern würde. Auf diese Konfrontation war sie definitiv

nicht vorbereitet. Sie stotterte und meinte, sie denke nicht, dass

es etwas ausmache, wer im Tor steht.

„Lil, du bist unsere Spielführerin“, meinte ich weiterhin. „Es

sollte dir gefälligst etwas aus machen, wer im Tor steht. Du soll-

test eine Meinung dazu haben. Aber wenn nicht, wenn du denkst,

das sei egal, wie kannst du dann hingehen und dich so für Bri

einsetzen?“

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Bei diesen Worten glaubte ich, einen kurzen Zweifel über ihre

Augen huschen zu sehen. Hatte sie einen Fehler gemacht? „Es

hat einen Grund, dass ich eure Stammtorhüterin bin“, redete

ich weiter. „Weil ich die anderen ausgestochen habe. Du solltest

wollen, dass die besten Spielerinnen auf dem Platz stehen. Es

ist so arrogant, zu behaupten, es sei egal, wer im Tor steht.“ Ich

schrie nicht, sondern war ganz ruhig. „Ich habe jeden Respekt

verloren, den ich einmal vor dir hatte“, sagte ich.

Dann ging ich weg, weiter den Gang entlang zu Abby und

sagte ihr genau dasselbe. Von ihr fühlte ich mich noch mehr

verraten – sie und ich entstammten derselben Generation von

Spielerinnen.

„Wie konntest du mir so in den Rücken fallen?“, fragte ich.

Abby hatte zumindest eine Antwort parat. „Hope, ich halte Bri

für die bessere Torhüterin.“

Das brachte mich zum Schweigen. Ich hielt es nicht für richtig,

und ich glaubte nicht, dass Abby viel von Torhütern verstand.

Aber wenigstens hatte sie eine Meinung und stand zu ihrer

Rolle in der Angelegenheit. Das musste ich anerkennen.

Ich ging zurück auf mein Zimmer, legte mich aufs Bett und rief

meine Mutter an. „Ich spiele gegen Brasilien nicht mit, Mama“,

sagte ich weinend.

„Du schwindelst“, lachte meine Mutter.

Ich log nicht. Es war kein böser Traum. Ich rollte mich zur

Seite und vergoss bittere Tränen.

V

Tags darauf trainierten wir im Stadion. Ich fühlte mich innerlich

wie tot, aber ich hielt meinen Kopf aufrecht. Es waren nicht viele

US-Medienleute in China – die Reise war kostspielig, und die

meisten Sender und Zeitungen sparten ihr Budget für die Olym-

pischen Spiele in Peking im folgenden Jahr. Aber die Reporter, die

196 |

da waren, bekamen den Wechsel im Tor mit; in den Interviews

nach dem Training war er das beherrschende Thema. Greg

begründete seine Entscheidung vor der Presse damit, dass ihn

Bri mit ihrer Leistung im Training und ihrer Vorgeschichte gegen

Brasilien überzeugt habe. Auf die Frage, ob mein Selbstvertrauen

erschüttert sei, sagte er, das interessiere ihn nicht; die Mann-

schaft sei hier, um Weltmeister zu werden.

Lil blieb bei ihrer Theorie, ein so grundlegender Wechsel sei

nicht weiter von Belang. „Aus Sicht des Teams spielt das keine

große Rolle“, sagte sie den Journalisten.

Die ESPN-Reporter spürten mich auf. „Ich bin nicht glücklich

darüber, kein bisschen“, antwortete ich. „Aber die Entscheidung

liegt beim Trainer, und ich muss sie hinnehmen. Ich muss für

mein Team da sein. Sie werden mich brauchen. Sie werden alle 21

Spielerinnen brauchen.“

27. September 2007

Die Beste der Welt, Papa? Ich weiß nicht recht, ob die Welt das so

sieht. Kannst du dir das vorstellen – Halbfinale, und ich sitze auf

der Bank. Aber ich brauche dich auch dort an meiner Seite, Papa. Er ist

der Feigling, für den wir ihn immer hielten. Was wird jetzt passieren,

Papa? Ist meine Karriere mit dem Spiel gegen England beendet? Papa,

es ist hart. Meine Mühen waren umsonst. Bitte hilf mir und Marcus, das

durchzustehen, Papa. Ich spiele noch immer für dich. Mit all meiner

Liebe – Baby Hope

Am Donnerstag, den 27. September sorgte die Nachricht, dass

ich meinen Stammplatz verloren hatte, zu Hause für Furore,

in Blogs und Sportsendungen. Die ESPN-Kommentatoren, Julie

Foudy und der frühere US-Coach Tony DiCicco, zeigten sich

über Gregs Entscheidung verwundert. Wieso nahm jemand eine

so tief greifende Veränderung vor, wo doch alles so gut lief? „Es

| 197

wirkt sich negativ aus, wenn man nur auf positive Dinge achtet“,

sagte Julie. „Ich halte die Entscheidung für falsch.“

DiCicco stimmte ihr zu. „Wenn es keinen Torwartstreit gibt,

wieso dann einen entfachen?“

„Das ist die Art Entscheidung, die einem den Job rettet oder

einen schnell arbeitslos macht“, meinte ESPN-Kommentator Rob

Stone.

Wegen des Zeitunterschieds liefen unsere Spiele in den USA

im Morgengrauen. In Seattle, wo es noch dunkel war, schaltete

Lesle Gallimore den Fernseher ein und las den Lauftext auf

dem Schirm. „Hope Solo im Tor durch Briana Scurry ersetzt.“ Sie

tastete nach ihrem Telefon und rief Amy an. „Ist Hope verletzt?

Was ist los?“

Ich trug in Hangzhou keine Asche bei mir. Auf der Bank würde

mein Papa nicht bei mir sein. Und dann begann das Spiel.

Das schlimmste WM-Spiel in der US-Geschichte. Beim 0:4

gegen Brasilien wurde mein Team vollkommen auf dem falschen

Fuß erwischt und überrumpelt.

198 |

KAPITEL VIERZEHN

Kaltgestellt und angeprangert

A ls die Schlacht geschlagen und die Brasilianerinnen da-

vongetanzt waren, bahnte ich mir meinen Weg über den

Platz. Abby hielt mich auf. „Hope, ich habe mich geirrt“, stam-

melte sie.

Ich nickte, aber ich war unterwegs zu meiner Familie, um

ihnen für die Unterstützung zu danken. Ich überquerte das

Spielfeld, und Marcus beugte sich mir über das Geländer ent-

gegen. Der Schmerz stand ihm ins Gesicht geschrieben. In den

Händen hielt er seinen Behälter mit der Asche meines Vaters.

„Das hätte für Papa sein sollen“, sagte er mit bebender Stimme,

den Tränen nahe.

Das versetzte mir den letzten Schlag. Ich hatte mir so sehr

gewünscht, für meine Familie Stärke zu zeigen, zu Ehren meines

Vaters. Ich sehnte mich danach, sie stolz zu machen. Jetzt war da

nur noch mehr Schmerz. Aber es gab mir Kraft, meiner Familie

nahe zu sein. Und Adrian, der am Ende des Spiels durchs Stadion

zu der Tribüne über dem Tunnel gelaufen war, durch den Greg

hinausging, um ihn anzuschreien und ihm zu sagen, was für ein

Idiot er war. Adrian war wie ich und kümmerte sich nicht darum,

wer ihn hörte.

| 199

Während sich das Stadion leerte, reichte ich meinen Verwand-

ten die Hand und bedankte mich. Schließlich kam mich ein

Sicherheitsmann holen. Als letzte Spielerin verließ ich das Feld

Richtung Tunnel zur Umkleidekabine. Adrian wartete dort auf

der Tribüne auf mich. „Sei stark, Hope“, sagte er. „Sei zuversicht-

lich. Sei aufrichtig. Hab keine Angst, diesem Arschloch zu sagen,

was du denkst.“

In den Katakomben des Stadions warteten Reporter auf

uns, gegen die Metallabsperrungen gedrängt, um zu hören, was

wir zu der historischen Niederlage zu sagen hatten. Unser Presse-

beauftragter Aaron Heifetz wich mir nicht von der Seite, als ich

an den Journalisten und ESPN-Kameras vorbeiging. Ich war fast

am Bus, als sich eine Frau, die ich nicht kannte, übers Geländer

reckte und mir eine Frage stellte.

Heifetz antwortete an meiner Stelle. „Sie hat nicht gespielt“,

blaffte er. „Sprechen Sie bitte nur mit denen, die mitgespielt

haben.“

Ich blieb stehen. Ich durfte nicht für mich sprechen? „Heif,

das entscheide ich selbst“, sagte ich und wandte mich zu der

Frau mit dem Mikrofon.

„Die Entscheidung war falsch“, sagte ich, „und ich denke,

jeder, der was von Fußball versteht, weiß das. Ich habe nicht

den geringsten Zweifel, dass ich diese Bälle gehalten hätte.

Und Tatsache ist: Wir schreiben nicht mehr 2004. Jetzt ist

2007, und man muss in der Gegenwart leben. Man lebt nicht

von großen Namen. Man kann nicht von der Vergangenheit

zehren. Es ist egal, was jemand in einem olympischen Endspiel

vor drei Jahren geleistet hat. Was zählt, ist jetzt, das ist meine

Meinung.“

Ich wandte mich ab und ging zum Bus. „Sag mir nie mehr,

welche Interviews ich geben darf“, erklärte ich Heifetz.

Er war außer sich. Wahrscheinlich sei er jetzt seinen Job los,

sagte er, dann ging er zurück, maßregelte die Journalistin, weil

200 |

sie mich belästigt hatte, und führte Bri, ohne anzuhalten, an der

Reportermeute vorbei.

Im Mannschaftsbus ging ich nach hinten und setzte mich zu

meinen engeren Freundinnen. Die Stimmung war zappenduster,

kaum jemand sprach ein Wort. Die Spielerinnen waren erschöpft,

wütend, schockiert. „Ich habe gerade ein Interview gegeben“,

sagte ich zu Carli, Tina, zu allen, die in der Nähe waren.

„Was hast du gesagt?“

„Dass ich überzeugt bin, dass ich diese Bälle gehalten hätte.“

„Au weia, Hope“, kicherte jemand.

„Das geht schon in Ordnung“, meinte Carli.

„Ich weiß nicht recht“, erwiderte ich und stöpselte mir meine

Kopfhörer ins Ohr.

Ich hatte nicht das Gefühl, dass irgendwas in Ordnung ging.

Unser Team hatte soeben die schlimmste WM-Pleite aller Zeiten

erlitten, die erste Niederlage seit fast drei Jahren. In 90 Minuten

war alles, wofür wir gearbeitet hatten, zusammen gebrochen.

Der Bus verließ das Stadion und brachte uns in unser Hotel in

Hangzhou. Dort wollten wir essen, kurz unsere Familien treffen

und dann die lange Busreise zurück nach Shanghai antreten.

Als wir in der Lobby standen und uns leise unterhielten, kamen

die Brasilianerinnen und ihre Fans rein. Sie waren im selben

Hotel untergebracht – eine saudumme Entscheidung der chi-

nesischen Organisatoren. Die Brasilianerinnen tanzten in der

Lobby Samba, schlugen ihre Trommeln und schlängelten sich

durch die kleinen Gruppen amerikanischer Fans. Man spürte,

wie die Spannung zunahm – es hätte mich nicht gewundert,

wenn eine Schlägerei ausgebrochen wäre. Brasilien feierte auf

typisch brasilianische Weise, aber damit rieben sie uns unsere

Pleite förmlich unter die Nase.

Kurz darauf saßen wir wieder im Bus und fuhren durch die

Nacht nach Shanghai, wo ein paar Tage darauf das Spiel um den

dritten Platz anstand. Einige schliefen, andere checkten ihre

| 201

Telefone, sprachen mit Verwandten in den Staaten, wo es immer

noch früh am Morgen war.

Carli smste mit ihrem Trainer James in New Jersey und wandte

sich zu mir. „Hope, James meint, das entwickelt sich zu Hause zur

Bombe. Es kommt überall in den Nachrichten.“

„Was?“

„Dein Interview.“

Den Rest der Fahrt über starrte ich aus dem Fenster, sah die

Lichter in der dunklen Nacht vorbeirauschen und ließ meine

Worte in meinem Kopf noch mal ablaufen. Ich hatte gesagt, was

ich von Gregs Entscheidung hielt – wahrscheinlich hatte er der

Presse seine Gründe mitgeteilt, wieso er auf Bri setzte. Das, fand

ich, gab mir das Recht, meinen Standpunkt zu verdeutlichen.

Als wir am Westin-Hotel in Shanghai ankamen, klemmte ich

mich mit Carli und Marci Miller, mit der ich mir das Zimmer

teilte, vor den Computer. Wir fanden das Interview auf ESPN

und sahen es uns an. „Das ist nicht so schlimm, oder?“, fragte

ich. „Es war an Greg gerichtet, nicht an Bri.“

Zögernd stimmten mir Carli und Marci bei. Nein, es war nicht

so furchtbar.

„Na ja“, sagte ich und versuchte dabei zu lächeln, „es ist

wohl nur eine Frage der Zeit, dass mir die älteren Spielerinnen

die Hölle heißmachen.“

Und schon läutete mein Telefon. Ich blickte zu Carli und

Marci. „Das sind sie, garantiert“, sagte ich beim Abnehmen.

Es war Lil. Sie sagte, die älteren Spielerinnen wollten mit mir

sprechen, und bat mich, in ihr Zimmer zu kommen.

II

Ich ging den Flur entlang. Inzwischen war es nach Mitternacht.

Ich öffnete die Tür zu Lils Zimmer und sah die Altstars, die mich

grimmig erwarteten. Kate Markgraf stand bei der Tür. Lil, Shannon

202 |

Boxx, Christie Rampone, Abby und Bri saßen auf den Betten.

Ich ging zur anderen Seite des Zimmers und lehnte mich an die

Wand.

Sie hatten das Interview gesehen und teilten mir mit, in ihren

Augen hätte ich eine Teamregel gebrochen.

„Nun, ich bin Profisportlerin – natürlich bin ich überzeugt,

dass ich auf dem Platz etwas bewirkt hätte“, sagte ich. „Genau

wie ihr“, fügte ich hinzu. „Wir sollten alle glauben, dass wir was

bewirken können, oder wozu sind wir sonst Profis?“

„Ich kann dich verdammt noch mal nicht mal ansehen“,

sagte Kate Markgraf. „Was zum Teufel glaubst du, wer du bist?

Ich halte es nicht mal in einem Raum mit dir aus.“

Sie ging raus und schlug die Tür hinter sich zu. Wow, dachte

ich, das scheint mir übertrieben dramatisch.

Jetzt waren wir zu fünft. Ich stand da und ließ sie alle zu Wort

kommen. Sie sagten, man werfe keine Mannschaftskameradin

den Wölfen zum Fraß vor, ich hätte gegen die Regeln verstoßen

und das Team verraten. Ich bekam zu hören, ich hätte all das

ruiniert, worauf dieses Team beruhe, und niedergerissen, was

Julie Foudy und Mia und Lil und all die Spielerinnen aufgebaut

hätten, die uns den Weg geebnet hatten.

„Es geht hier nicht um Julie Foudy oder irgendwen sonst aus

der Vergangenheit“, sagte ich. „Es geht um unser Team. Ich

käme nie auf die Idee, Bri wehzutun. Ich respektiere Bri absolut.

Aber als professionelle Athletin bin ich überzeugt, dass ich in

dem Spiel etwas bewirkt hätte. Ich glaube fest genug an mich,

um zu wissen, dass ich es besser gemacht hätte. Ich denke, wir

alle sind genug von uns überzeugt, um zu glauben, dass wir das

Ergebnis beeinflussen können.“

„Wirst du dich wenigstens bei Bri entschuldigen?“, fragte

jemand.

Ich wandte mich zu Bri, um sie wissen zu lassen, dass ich ihr

nicht wehtun wollte, nicht nach allem, was sie für mich getan

| 203

hatte, als mein Vater starb. Ich fühlte mich an die Wand ge-

drängt.

Bri sprach zuerst. Sie gestand, ich hätte sie sehr verletzt. Sie

habe versucht, für mich da zu sein, als mein Vater starb, und sei

schockiert, dass ich ihr das antue.

„Es tut mir leid, Bri“, sagte ich, „wirklich. Ich wollte dich

nicht verletzen. Mein Kommentar war an Greg gerichtet, nicht

an dich.“

Mir war klar, wie plump und peinlich sich das anhörte. Gerne

wäre ich in diesem Moment mit Bri allein gewesen, aber ich war

in einem Zimmer voller wütender Frauen, die einen öffentlichen

Akt der Buße von mir forderten. Alles wirkte irgendwie gezwun-

gen, inszeniert.

„Hope, wir haben deine Sicht der Dinge gehört“, sagte Christie

Rampone. „Du hast gehört, wie wir uns fühlen. Was machen wir

nun, um voranzukommen und die Sache wiedergutzumachen?“

Dankbar blickte ich zu Pearcie. Sie versuchte als Einzige, uns

aus diesem Schlamassel rauszubringen, all den scharfen Worten

und dem Zorn. Die Gruppe beschloss, ich solle die gesamte

Mannschaft um Verzeihung bitten. Für den Morgen wurde ein

Treffen anberaumt.

Ich verbrachte ein paar qualvolle Stunden in meinem Zimmer

und fand keinen Schlaf. Den Großteil der Nacht weinte ich und

überlegte, was ich tun sollte. Ich habe mein Leben lang immer

gesagt, was ich denke, und konnte stets dafür geradestehen.

Jetzt musste ich deswegen durchs Feuer. Es war schrecklich, Bri

wehgetan zu haben. Sie war so gut zu mir gewesen, als mein Vater

starb. Ich schwor mir, am Morgen mit ihr zu reden und die Sache

zwischen uns ins Lot zu bringen.

Als ich am nächsten Morgen zu dem Treffen ging, sah ich Bri

an der Tür stehen. „Hast du eine Sekunde für mich?“, fragte ich

sie. „Bitte lass dir versichern, dass ich dir nie wehtun wollen

würde. Ich habe solche Achtung vor dir.“

204 |

Sie wandte sich ab. „Hope, ich kann dich jetzt nicht ansehen“,

sagte sie.

Okay, dachte ich, das wird seine Zeit brauchen. Die Bedingungen

stellt Bri. Ich muss geduldig sein.

Ich betrat den Raum und spürte, wie mich 20 Augenpaare

durchbohrten, als stünde ich auf einer Bühne. Ich sagte das-

selbe, was ich Abends zuvor im kleinen Kreis in Lils Zimmer

gesagt hatte: „Ich wollte Bri nicht wehtun. Mein Kommentar

galt Greg und seiner Argumentation. Ich sagte, ich hätte diese

Bälle gehalten, weil ich absolut überzeugt sein muss, dass ich

etwas ausrichten hätte können.“

Kein Anzeichen von Unterstützung, stattdessen Feindseligkeit

und Wut. Sogar Hass. Harte Worte flogen mir entgegen.

„Du hörst dich nicht aufrichtig an.“

„Kümmert es dich überhaupt, was du angerichtet hast?“

„Wie kannst du der Mannschaft so in den Rücken fallen?“

„Weißt du, wie furchtbar du im Fernsehen ausgesehen hast,

schmollend auf der Bank?“

„Seit Greg dir mitgeteilt hat, dass du nicht auflaufen wirst,

versinkst du in Selbstmitleid. Manche von uns sitzen bei jedem

Spiel auf der Bank.“

In der Hoffnung auf ein mitfühlendes Gesicht blickte ich

meine wenigen guten Freundinnen an, sah aber nur leeres, kaltes

Starren. Ich schaute zu den jüngeren Spielerinnen, zu Aly

und Cat, Leslie Osborne, Lori Chalupny und Tina Frimpong,

meiner ehemaligen UW-Teamkameradin, und fühlte mich wie

eine Geächtete. Alle waren auf der Seite von Lil und Abby.

Niemand trat für mich ein. Nur in Carlis Gesichtsausdruck fand

ich eine Spur von Mitgefühl.

„Du hast dich nicht mal bei Bri entschuldigt“, sagte jemand.

Ich hatte Bri schon am Abend zuvor in Lils Zimmer gesagt,

dass es mir leidtat, und gerade eben vor der Tür mit ihr ge-

sprochen. Dennoch entschuldigte ich mich noch einmal bei Bri,

| 205

vor allen anderen. Bis jetzt hatte ich bei dem Treffen die Fassung

bewahrt, aber als ich den Mund auftat, brach meine Stimme. „Es

tut mir leid, Bri“, sagte ich. „Ich wollte dir nie wehtun. Es tut mir

leid, dass ich es getan habe.“

Dann schickte man mich raus, um über mein weiteres Schick-

sal zu befinden.

III

Später am Morgen hatten wir ein Training im Pool des Hotels,

um unsere Beine zu regenerieren. Mir war unwohl, ich wusste

nicht, wie ich mich verhalten sollte. Niemand sprach mit mir, und

ich hatte keine Ahnung, was in meiner Abwesenheit beschlossen

worden war.

Im Pool hielten sich meine Mitspielerinnen von mir fern, als

hätte ich eine ansteckende Krankheit. Nach den Übungen ver-

ließ ich den Pool als Erste. Sobald ich draußen war, versammelten

sich die anderen zum gemeinsamen Hurraruf.

O Gott, dachte ich, ich sehe nicht gerade wie ein Teamplayer

aus.

Sofort sprang ich wieder ins Wasser. Erst da dämmerte mir,

dass der Hurraruf meinem Weggehen gegolten hatte.

Nach dem Training stellte sich Greg in der Hotellobby einer

kleinen Abordnung der Presse. So gut wie alle Fragen drehten

sich um mich. „Es gibt immer eine Möglichkeit zur Versöhnung“,

betonte er. „Wir werden uns bemühen, diese Hürde zu über-

winden.“

Aber meine Teamkameradinnen hatten sich bereits entschie-

den, dass eine Versöhnung nicht infrage kam. Nachdem ich

das Treffen verlassen hatte, befanden sie meine Entschuldigung

für Heuchelei. Ich musste bestraft werden. Sie würden nicht

zulassen, dass ich um den dritten Platz mitspielte. Ich durfte

nicht mal zu dem Spiel gehen, nicht mehr mit der Mannschaft


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