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IPS-P Annual 1993 No. 2 - phil-fak.uni-duesseldorf.de · Inkommensurabilitätsthese, rational...

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1 1 Title: Koexistenzweisen rivalisierender Paradigmen. Ein begriffsklärende und problemtypologisierende Studie Author: Gerhard Schurz IPS-PREPRINTS Annual 1993 No. 2 Edited by Gerhard Schurz und Alexander Hieke Vorveröffentlichungsreihe am Institut für Philosophie der Universität Salzburg Prepublication Series at the Department of Philosophy, University of Salzburg
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Title:

Koexistenzweisen rivalisierender Paradigmen. Ein begriffsklärende und

problemtypologisierende Studie

Author:

Gerhard Schurz

IPS-PREPRINTS

Annual 1993 No. 2

Edited by Gerhard Schurz und Alexander Hieke

Vorveröffentlichungsreihe am Institut für Philosophie der Universität Salzburg

Prepublication Series at the Department of Philosophy, University of Salzburg

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KOEXISTENZWEISEN RIVALISIERENDER PARADIGMEN

Ein begriffsklärende und problemtypologisierende Studie

Gerhard Schurz, Salzburg

Inhalt

1. Einleitung und Problemstellung. Abgrenzung von der Kuhn-Kontroverse

2. Paradigmen als mehrkomponnentige kognitive Systeme: Negative Abgrenzung und positive

Charakterisierung des Paradigmenbegriffs.

3. Paradigmenevolution, Paradigmennetze, Paradigmen höherer Ordnung und Superparadigmen.

4. Wissenschaftstheoretische Beziehungen zwischen Paradigmen

5. Faktische Koexistenzweisen von Paradigmen bzw. wissenschaftlichen Gemeinschaften

6. Beispiele für Reduktion und Äquivalenz

7. Beispiele für empirische und schwache theoretische Komplementarität

8. Beispiele für starke theoretische Komplementarität

9. Superparadigmen in den Human-, Sozial- und Geisteswissenschaften

10. Wechselseitige Befruchtung und Come-Backs von Paradigmen

11. Ursachen und methodologische Auswirkungen des Phänomens der Koexistenz

rivalisierender Paradigmen.

Literatur

1. Einleitung und Problemstellung. Abgrenzung von der Kuhn-Kontroverse

Obwohl die Verwendung des Begriffes "Paradigma" es nahelegen könnten, handelt es sich

bei der Problemstellung des Gesamtprojektes, nämlich der Thematik der Koexistenz rivalisie-

render Paradigmen, keinesfalls um eine Wiederaufnahme oder Fortsetzung der hinlänglich be-

kannten Kontroverse um Kuhn's bekannter Theorie wissenschaftlicher Revolutionen (Kuhn

1967). Es geht darin vielmehr um die interdisziplinäre Erforschung eines Sachverhaltes, der in

dieser Kontroverse ganz unbeachtet blieb, sozusagen um einen "blinden Fleck" dieser

Konotroverse. Worum geht es?

Rufen wir uns die wesentlichen Inhalte der Kuhn Kontroverse in Erinnerung. Gemäß Kuhns

Theorie (1967) entwickeln sich wissenschaftliche Disziplinen in einer Abwechslung von zwei

Phasen, einer normalwissenschaftlichen und einer revolutionären Phase. In der normal-

wissenschaftlichen Phase arbeiten die Mitglieder einer wissenschaftlichen Gemeinschaft, also

die Vertreter einer bestimmten Forschungs- oder Fachrichtung, auf der Grundlage eines allseits

akzeptierten, und im wesentlichen unhinterfragten, Paradigmas. Ein solches Paradigma enthält

nicht nur die Kernaussagen der jeweils vertretenen Theorien, sondern auch methodologische

Normen und Werteinstellungen, ja es bestimmt sogar, jedenfalls in der "radikalen" Lesart

Kuhns, die Beobachtungsdaten. Nur die gemeinsame Akzeptanz eines Paradigmas ermöglicht in

der normalwissenschaftlichen Phase kontinuierlichen Wissensfortschritt. Falls sich gewisse

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Daten, sogenannte Anomalien, einer kohärenten Erklärung durch das Paradigma widersetzen,

werden solche Konflikte durch mehr oder minder ad hoc vorgenommene Modifikation des Para-

digmas bereinigt. Häufen sich jedoch solche Anomalien, so beginnen jüngere Gelehrte nach

einem neuen Paradigma zu suchen. Sobald ein solches gefunden ist, tritt die Wissenschaftsent-

wicklung für eine gewisse Zeit in eine revolutionäre Phase ein, in der zwei Paradigmen um die

Vorherrschaft kämpfen. Mit einem Wechsel des Paradigmas sind jedoch, gemäß der "radikalen"

Lesart Kuhns, alle gemeinsamen Rationalitätsstandards weggefallen, alle bisherigen Erfah-

rungsdaten werden neu interpretiert - die beiden Paradigmen sind, gemäß Kuhns bekannter

Inkommensurabilitätsthese, rational unvergleichbar, inkommensurabel. Der Kampf um die Vor-

herrschaft findet im wesentlichen in der Form eines wissenschaftspolitischen Machtkampfes

statt, in dem die Anhänger des alten Paradigmas schließlich aussterben, wodurch sich das neue

Paradigma durchsetzt und eine neue normalwissenschaftliche Phase einläutet. Typische Bei-

spiele dafür sind etwa der Übergang von der ptolemäischen zum kopernikanischen Astrologie,

oder von der Newtonischen zur Einsteinschen Physik.

In der darauffolgenden Kuhn-Kontroverse ging im wesentlichen darum, die konstruktiven

wissenschaftsgeschichtlichen Einsichten Kuhns von den Übertreibungen seiner "radikalen"

Lesart zu separieren und insbesondere, die Inkommensurabilitätsthese zu widerlegen oder

abzumildern, um damit die Rationalität wissenschaftlichen Wandels - in freilich gemäßigterer

Form als in den Anfängen des Wiener Kreises - wieder zu etablieren. Nachdem von vielen

Autoren Kuhn Irrationalismus vorgeworfen worden war (Lakatos 1974b, S. 301; Scheffler 1974,

S. 150f; Stegmüller 1973, S. 171 - 183), haben andere Autoren wesentlich rationalitätsfreund-

lichere Lesarten Kuhns vorgeschlagen (Stegmüller 1973, S. 153f; Hoyningen-Huene 1989,

Stranzinger 1981). Beispielsweise wurde argumentiert, daß Kuhns Inkommensurabilitätsthese

nur eine lokale Inkommensurabilität meint (Hoyningen-Huene 1989, S. 146), derzufolge die

Begriffe unterschiedlicher Paradigmen zwar verschiedenes bedeuten (z.B. "Masse" in Newtons

und Einsteins Physik) und keine eins-zu-eins-Übersetzung möglich ist (Stegmüller 1986, S.

303), wohl aber indirekt-umschreibende Übersetzungen möglich sind (Pearce 1982). Ins-

besondere hat man an vielen Beispielen, entgegen der radikalen Kuhn-Lesart, gezeigt, daß auch

sehr unterschiedliche Paradigmen in der Regel über eine, wenn auch beschränkte, gemeinsame

Beobachtungs- und Alltagssprache verfügen, welche einen rationalen Vergleich beider Paradig-

men bzgl. ihrer empirischen Voraussage- und Erklärungskraft in gewissem Umfang ermöglicht

(v. Fraassen 1980, S. 16ff; Kanitscheider 1981, S. 15; Gholson/Barker 1985, S. 759: Schurz 1983,

S. 31f). Auch diese Weise konnten, nachdem sich die "postpositivistische" Wissenschafts-

theorie von der "Kuhnschen Herausforderung" etwas erholt hatte, eine Reihe bescheidenerer,

aber dafür realistischerer Kriterien rationalen Wissenschaftsfortschritts entwickelt werden (z.B.

Lakatos 1974a, Stegmüller 1986, Kap. 3).

Eine in der gesamten Kuhn-Kontroverse, von wenigen Ausnahmen abgesehen,

stillschweigend von Kuhn übernommene Annahme war, daß in der normalwissenschaftlichen

Phase einer Disziplin immer nur ein Paradigma vorhanden ist. In der Tat folgt dies zwingend

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aus der radikalen Lesart Kuhns, denn sobald mehrere Paradigmen koexistieren, entsteht ihr zu-

folge "Chaos", irrationale Konfrontation, und die Normalwissenschaft gerät "aus den Fugen".

Natürlich ist die Annahme der Vorherrschaft eines Paradigmas nicht mehr zwingend, sobald die

radikal-Kuhnschen Prämissen nicht mehr akzeptiert werden; aber dennoch wurde diese An-

nahme von den Kontrahenten mehr oder minder vorausgesetzt. Fast immer ging man von fol-

gendem Bild aus: hier ein Paradigma, eine gewisse historische Zeitspanne danach ein anderes

Paradigma, dazwischen ein Paradigmenwechsel, und die Frage, die sich stellt, war, inwiefern ein

solcher Wechsel irrational oder rational zustandegekommen ist (vgl. Bayertz 1981, oder die

Kuhn-Kontroverse in Lakatos/Musgrave 1974).

Kuhns Annahme in (1967) stützt sich jedoch nur auf einige wenige Beispiele: die koperni-

kanische Wende, oder die Einsteinsche Revolution. In der Tat scheint hier, im großen und

ganzen, ein solchen Paradigmenwechsel stattgefunden zu haben, obgleich, wie Gholson und

Barker (1985 S. 758) zeigen, selbst hier Kuhns Annahme eine Vereinfachung darstellt: beim

Übergang von Newton zu Einstein konkurrierten nicht zwei sondern fünf Paradigmen mit-

einander. Blickt man jedoch auf andere Beispiele, insbesondere in anderen Disziplinen als der

Physik, so erscheint Kuhns Annahme nicht die Regel, sondern die Ausnahme zu sein. Was man

immer wieder feststellt, ist eine lang anhaltende Koexistenz von Paradigmen über ein- und den-

selben Gegenstandsbereich, in ein und demselben Fachgebiet. Insofern diese Paradigmen sozu-

sagen gemeinsame "Ziele" mit verschiedenen "Mitteln" verfolgen, sprechen wie hier von rivali-

sierenden Paradigmen. Dieser Begriff schließt keineswegs die Möglichkeit der Kooperation

zwischen solcherart rivalisiernden Paradigmen aus - im Gegenteil soll die Exforschung der

Kooperationsmöglichkeiten rivalisierender Paradigmen in verschiedensten Disziplinen ein Kern-

anliegen des Gesamtprojektes bilden. Der Begriff der "rivalisierenden" Paradigmen stellt nur

klar, daß die koexistierenden Paradigmen sozusagen Anbieter an einem gemeinsamen "Markt"

sind, um dasselbe "Revier" streiten, und nicht beziehungs- und reibungslos nebeneinander-

stehen wie z.B. die Feynmansche Quantenelektrodynamik und die Rogersche klientenzentrierte

Gesprächstherapie.

Anhänger der Kuhnschen Auffassung könnten an dieser Stelle einwenden, daß Kuhns These

der Vorherrschaft eines Paradigmas sich nur auf 'reife' Wissenschaften bezieht, also solche,

welche ihr historisches Frühstadium überwunden haben (vgl. Kuhn 1967, S. 28 - 31; 34 - 37).

Das Phänomen der Koexistenz rivalisierender Paradigmen findet sich jedoch in allen Wissen-

schaften außer gewissen Teilgebieten der Physik, Chemie und Biologie; und es wäre höchst un-

plausibel, alle diese Wissenschaften als noch im historischen Frühstadium befindlich zu erklä-

ren. Freilich könnte man es zur Immunisierung der Kuhnschen These tun; aber die Konsequenz

wäre lediglich, daß es 'normale Wissenschaft' im Kuhnschen Sinne, bis auf wenige Ausnahmen,

nicht gibt. Kuhn (1967) spricht fast nie über die Sozialwissenschaften; an einer Stelle bemerkt

er: "es bleibt die Frage offen, welche Teilgebiete der Sozialwissenschaft überhaupt schon solche

[allgemein anerkannten - d.A.] Paradigmata erworben haben (S- 34). Das "schon" in dieser

Formulierung zeigt, daß Kuhn auch hier die Etablierung eines allgemein anerkannten Paradig-

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mas erwartet. Das hier zu untersuchende Phänomen macht eine solche Erwartung dagegen sehr

unplausibel, und legt vielmehr nahe, den Zustand der Koexistenz rivalisierender Paradigmen als

den Normalitätszustand dieser Disziplinen aufzufassen.

Das Phänomen der langanhaltenden Koexistenz rivalisierender Paradigmen ist daher sehr

erklärungsbedürftig. Nicht nur, daß es dieses Phänomen nach Kuhn nicht geben dürfte; es ist,

wie gleich gezeigt wird, auch in der Standardwissenschaftstheorie nicht als Regelfall vorge-

sehen. Dieses Phänomen zu analysieren, zu verstehen, und zu evaluieren, in der verschieden-

sten Disziplinen, auf wissenschaftsgeschichtlicher wie gegenwartsbezogener Ebene, ist die zen-

trale Themenstellung des hier vorgestellten interdisziplinären und interfakultären Projektes. Die

vorliegende Studie erläutert, in vorläufiger und nicht entgültiger Weise, die wichtigsten methodi-

schen Konzepte einer solchen Aufgabenstellung, entwirft überblickshafte Skizzen über die wich-

tigsten dabei vermutlich anzutreffenden Frage- und Problemstellungen, und erläutert sie anhand

diverser Beispiele. Das Hauptaugenmerk gilt dabei einerseits dem Aufweis von interdisziplinä-

rer Strukturgleichheiten und Vernetzungen, und andererseits der Exploration von Kooperations-

formen rivalisierender Paradigmen verschiedener Art. Abschließend werden einige heuristische

Hypothesen über die möglichen Ursachen solcher Paradigmenkoexistenzen sowie deren metho-

dologische Auswirkungen entworfen. Die Erfolgsperspektiven des Projektes und seine Bedeu-

tung für die Wissenschaften bestehen, grob zusammenfaßt, in folgendem: Erstens in einem

möglichen intradisziplinären Erkenntnisfortschritt, durch die Klärung des Paradigmenstandes

einer Disziplin und durch die Erforschung von bisher vernachlässigter Kooperationsmöglichkei-

ten zwischen rivalisierenden Paradigmen. Zweitens in einem möglichen interdisziplinären Er-

kenntnisfortschritt, durch die Entdeckung interdisziplinärer Problemanalogien und Lösungs-

analogien, und damit, durch interdisziplinären Wissenstransfer. Drittens schließlich in einem

möglichen wissenschaftsorganisatorischem Fortschritt, durch Anleitung zu verschiedensten

interparadigmatischer und interdisziplinärer Kommunikations- und Interaktionsformen.

Das Phänomen der Koexistenz rivalisierender Paradigmen weist eine gewisse Analogie auf

zur Diskussion um das kulturphilosophsiche Konzept der Postmoderne, worin die gegenwärtige

geistige Ära ebenfalls als eine plurale Koexistenz von Weltsichten oder Paradigmen dargestellt

wird, doch ist dieses Diskussionsforum auf Phänomene in der Kunst, Kultur oder im weltan-

schaulichen Bereich bezogen (vgl. Scheer 1992, Schurz 1989b). In der wissenschaftstheoreti-

schen Kontroverse seit Kuhn wurde das Phänomen der Koexistenz rivalisierender Paradigmen

dagegen bislang kaum diskutiert (ausgenommen von einigen einzelwissenschaftliche Studien zu

Paradigmenvergleichen, wie z.B. Müller-Godeffroy 1981, Hoffmann 1991, Gholson/Barker 1985).

Exemplarisch seien hier einige relevante Diskussionsbeiträge erwähnt. Einige der wenigen

expliziten Forschungen zum Theorienpluralismus ist die im Sammelband Diemer (1971) eine

zentrale Stellung einnehmende Arbeit von Radnitzky (1971). Dieser sieht, obgleich nicht ex-

plizit auf Kuhn Bezug nehmend, die Sache ganz "kuhnianisch": Theorienpluralismus entstünde,

so seine These, angesichts von Anomalien (Radnitzky spricht von "Residualien") (S. 147), und

führe zu "anarchischen", die "normale" Wissensschaftsentwicklung unterbrechenden, Phasen

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der Wissensentwicklung, welche zu einem Wechsel von Fundamentaltheorien und dadurch zu

"sprunghaften" Niveausteigerungen führen können (S. 148). Paradigmenkoexistenz ist dieser

Auffassung zufolge ein instabiles Stadium der Wissensschaftsentwicklung. Bei der hier zu

untersuchenden Thematik handelt es sich dagegen um ein der normalen Wissenschaft zuzu-

rechnendes Phänomen, nämlich ein lang andauerendes, stabiles oder zumindest metastabiles,

Gleichgewicht zwischen zwei oder mehreren Paradigmen. Ein solches Gleichgewicht wird zwar

in der Regel historischen Fluktuationen unterworfen sein, worin einmal das eine, dann das an-

ere Paradigma vorübergehend Oberwasser erhält - derartige Fluktuationen vermögen übrigens

auch das von Gholson und Barker (1985, S. 757, S. 760) aufgewiesene Phänomen des Come-

backs von vorübergehend "vergessenen" Paradigmen zu erklären - jedoch pendeln sich diese

Fluktuationen innerhalb gewisser relativ stabiler Schwellen ein. Ganz offensichtlich handelt es

sich hier um ein Phänomen von ganz anderer Natur als das des Kuhnschen "Paradigmenum-

sturzes".

Als eine der Ausnahmen hat Popper in (1974, S. 54f) am Beispiel von Theorien der Materie

darauf hingewiesen, daß Kuhns Annahme der Vorherrschaft eines Paradigmas in normalen Pha-

sen durch die Wissenschaftsgeschichte widerlegt wird. Allerdings bleibt es bei diesem Hinweis;

das wissenschaftsgeschichtliche Phänomen wird nicht weiter verfolgt oder zu erklären versucht,

denn Popper ist in erster Linie an rein logisch-methodologischen Fragen interessiert. Popper

gesteht Kuhn zu, daß es in der Wissenschaftsgeschichte den Typ des Kuhnschen Normal-

wissenschaftlers gibt, der sein eigenes Paradigma niemals kritisiert, jedoch handelt es sich

dabei eher um eine bedauernswerte "Abirrung" der Wissenschaft (1974, S. 51-53), während der

echte Wissenschaftler jederzeit Kritik nicht nur zuläßt, sondern seine eigenen Theorien dieser

Kritik aktiv aussetzt, gemäß Poppers bekannter Devise des Fallibilismus (Theorien sind prin-

zipiell fehlbar) und Falsifikationismus (nur durch erfolgreich überstandene Widerlegungsver-

suche kann Fortschritt im Bewährungsgrad einer Theorie erreicht werden). Da kritische Wider-

legungsversuche immer im Lichte möglicher Alternativtheorien vorgenommen werden, muß also,

gerade zum Zwecke einer möglichst effektiven Annäherung an die Wahrheit und der Findung

einer möglichst realitätsadäquaten Theorie, die Erprobung von Alternativtheorien zu jedem

Zeitpunkt der Wissenschaftsentwicklung zulässig ein. In diesem Sinne haben Popper (1974)

und Spinner (1968) für die methodische Einstellung des Theorienpluralismus optiert.

Das hier zu untersuchende Phänomen ist von dieser methodischen Einstellung des Theo-

rienpluralismus - der sich im übrigen wohl die Mehrheit gegenwärtiger Wissenschaftler,

einschließlich des Autors, verpflichtet fühlt - scharf zu unterscheiden. Theorienpluralismus als

Methode impliziert ja keinesfalls Theorienpluralismus als Ziel. So wie der Descartesche metho-

dische Zweifel letztlich nicht der Findung von möglichst zweifelhaften, sondern im Gegenteil

von möglichst sicheren Prämissen diente, so dient der Poppersche methodische Pluralismus

letztlich der möglichst effektiven Annäherung an die eine Wahrheit, durch möglichst rasche Eli-

mination der falsifizierten und Selektion der "besten" Theorien (vgl. ebenso Klima 1971, S.

202f). Eine langandauerende Konkurrenz von sich widerstreitenden Theorien, auch nach einer

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Serie von beidseitigen Widerlegungsversuchen, die nicht zur Elimination der einen oder anderen

und dadurch nicht zu einer konvergenten Annäherung an die eine Wahrheit führt, ist in diesem

Programm nicht vorgesehen. Andererseits gibt es im Popperschen Programm, das muß betont

werden, auch nichts, was dieser faktischen Möglichkeit explizit widerspricht. Es handelt sich

eben um eine Art "blinder Fleck".

Die Suche nach einer möglichst umfassenden Theorie, die mit möglichst wenigen theoreti-

schen Grundannahmen möglichst viele empirische Phänomene adäquat zu erklären vermag, ist

von vielen Wissenschafstheoretikern und Wissenschaftlern als die oberste Zielsetzung der

Wissenschaft bezeichnet worden.1 Wir wollen hier vom Vereinheitlichungsideal sprechen. Wie

wir eben ausführten, ist Theorienpluralismus als Methode durchaus kompatibel mit dem Verein-

heitlichungsideal, ja ist diesem sogar dienlich. Was wir abschließend zeigen wollen, ist, daß

auch eine grundsätzlich positive Einstellung zum Phänomen der Koexistenz rivalisierenden

Paradigmen - also beispielsweise das Suchen nach Kooperationsformen anstelle des Strebens

nach Elimination - noch keinesfalls die Akzeptanz des Theorienpluralismus als Ziel impliziert,

wie dies z.B. Radnitzky (1971, S. 138, 144) meint, sondern durchaus mit dem Festhalten am

Vereinheitlichungsideal kompatibel ist, solange dieses nur richtig verstanden wird.

Radnitzky zufolge impliziert das Vereinheitlichungsideal - er spricht von "Theorienmo-

nismus" - die weltanschauliche Hypothese, daß die Realität einheitlich sei (1871, S. 138). Ein

solcher Theorienmonismus widerspricht freilich dem hier zu untersuchenden Phänomen, da eine

dogmatische Präferierung eines Paradigmas in einer Situation einer langandauerenden

Paradigmenkoexistenz im wesentlichen auf eine Reduktion der Vielfalt theoretisch erfaßter

Phänomene hinauslaufen würde, mithin auf Kosten des Gehaltreichtums der entsprechenden

Disziplin ginge. So darf ein der kritischen Wissenschaft adäquates Vereinheitlichungsideal

gerade nicht aufgefaßt werden. Das Ziel der Vereinheitlichung des Wissenssystems ist viel-

mehr immer unter der erfahrungswissenschaftlichen Randbedingung zu verstehen, daß Verein-

heitlichung niemals auf Kosten des empirischen Gehalts, des Beschreibungs- und Erklärungs-

reichtums der Theorie gehen darf (vgl. Schurz/Lambert 1994). Anders ausgedrückt, Vereinheit-

lichung ist lediglich ein ceteris paribus Ziel.

Um es auf den Punkt zu bringen: Gegeben eine umfassende Theorie T, und eine Konjunktion

mehrerer voneinander unabhängiger Einzeltheorien T1,…,Tn, wobei T und die Konjunktion

T1&…&Tn denselben empirischen Gehalt, dieselbe empirische Erklärungskraft und denselben

Prognosereichtum besitzen. Dann ist, gemäß dem Vereinheitlichungsideal, T der Konjunktion

T1&…&Tn vorzuziehen. Entschließt man sich dagegen zum Theorienpluralismus als Ziel, so

wäre sogar in dieser Situation die Konjunktion T1&…&Tn der einheitlichen Theorie T vorzu-

1 Bekanntlich wurde diese Zielsetzung bereits bei Mach (1883, S. 465) als das

"Ökonomieprinzip" bezeichnet; in neuerer Zeit Feigl 1970, S. 12; Friedman 1974; Kitcher

1981; Schurz 1983a, S. 475ff; Schurz/Lambert 1994; für das "unification program" in der

Elemetarteilchenphysik vgl. Kanitscheider 1991.

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ziehen. Es läßt sich aber unschwer zeigen, daß in dieser Situation die einheitliche Theorie T

einen wesentlich höheren induktiv-probabilistischen Bewährungsgrad besitzt als die Einzel-

theorien T1,…,Tn (gemäß dem "common cause" Prinzip; vgl. Salmon 1984; Krüger 1981). Die

Fähigkeit einer Theorie, unser Wissenssystem zu vereinheitlichen, ist aber nicht nur ein Grad-

messer ihrer Bewährung (s. Thagard 1989), sondern auch ein Gradmesser ihrer Erklärungskraft,

und des durch sie vermittelnen Realitätsverständnisses (Schurz/Lambert 1994). Ein so verstan-

denes Vereinheitlichungsideal ist also eine für Erfahrungswissenschaften sehr plausible For-

derung (s. ebenso Kantischeider 1991, S. 262), die dogmatisch unbelastet ist: wie im Rahmen

der in Schurz/Lambert (1994) entwickelten Vereinheitlichungstheorie gezeigt wird, kann das

Vereinheitlichungsprogramm, grob gesprochen, niemals mehr Einheitlichkeit produzieren als in

der Realität tatsächlich vorhanden ist.

In der Perspektive dieses Vereinheitlichungsideales ist die hier zu untersuchende Ko-

existenz rivalisierender Paradigmen ein sehr interessantes Phänomen. Es beschreibt eine für

viele Wissenschaften typische Situation, worin der eine "ideal-einheitliche" Theorie, bzw. ein

solches Paradigma, auf längeren Zeit hin eben nicht gefunden wird. Die Ursachen dafür können,

wie am Schluß der Studie ausgeführt wird, in gewissen Grenzen unseres Erkenntnisvermögens

liegen, z.B. der Überkomplexität des Gegenstandsbereiches, oder in der prinzipiellen Aspekt-

gebundenheit wissenschaftlicher Modelle. Aus der Perspektive eines undogmatischen Verein-

heitlichungsideales wird in einer solchen Situation einem kognitiven System von mehreren mit-

einander fruchtbar kooperierenden Paradigmen der kognitive Vorzug zu geben sein gegenüber

einer willkürlichen Fixierung auf nur ein Paradigma auf Kosten der Erfassungskraft des ge-

samten kognitiven Systems. Ein System von mehreren kooperierenden Paradigmen kann dann

sozusagen auf indirektem Wege dem Vereinheitlichungsideal und der Suche nach "der

Wahrheit" näher kommen als ein Paradigmenmonismus.

Wir haben gezeigt, daß eine positive Bewertung des Phänomens koexistierender Paradig-

men mit dem Vereinheitlichungsideal kompatibel ist; daraus folgt natürlich noch nicht, daß sie

das Vereinheitlichungsideal impliziert - sie ist auch mit dem Gegenteil kompatibel, dem

Theorienpluralismus als Ziel. Diese Einstellung wäre etwa dann plausibel, wenn man annimmt,

daß es sich bei den Theorien T versus T1,…,Tn um prinzipiell subjektiv-wertbeladene Systeme

handelt, weshalb aufgrund der normativen Prämisse der kulturellen Wertevielfalt dem pluralisti-

schen System T1,…,Tn der Vorzug zu geben sein. Eine solche Einstellung wird, wie wir argu-

mentierten, recht unplausibel sein, falls es sich dabei um erfahrungswisenschaftliche Theorien

handelt; sie kann jedoch durchaus an Plausibilität gewinnen, wenn es sich dabei um methodolo-

gisch-normative Metatheorien handelt. In letzterem Fall kann es gewichtige Argumente auch

für Paradigmenpluralismus als Ziel geben.

Aus den Überlegungen dieses Abschznitts ergeben sich für zukünftige Arbeiten im Rahmen

des Gesamtprojektes u.a. folgende wichtige Fragen: (1.) Inwieweit ist das untersuchte wissen-

schaftliche Fachgebiet von seinen Vertretern als 'reif', d.h. nicht mehr im Frühstadium befind-

lich, eingeschätzt? (2.) Inwieweit ist die Einstellung des Pluralismus als Methode gängige Auf-

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fassung oder Praxis der jeweiligen Disziplin? (3.) Inwieweit ist das Vereinheitlichungsideal

anerkannt?, bzw. (4.) wie stark wird Theorien- und Paradigmenpluralismus auch als Ziel ak-

zeptiert?

2. Paradigmen als mehrkomponenige kognitive Systeme: Negative Abgrenzung und positi-

ve Charakterisierung des Paradigmenbegriffs.

Kuhns berühmtes Buch (1967) litt, wie bekannt, an vielen Unklarheiten, voralledem in

seinem Paradigmenbegriff. In seinen späteren Überlegungen (1977, S. 389) klagt Kuhn, der

Erfolg seines Buches rühre z. T. wohl daraus, daß "fast jeder alles herauslesen kann, was er

will". Kuhn bemüht sich daraufhin um eine Neubestimmung des Paradigmenbegriffs, an die wir

uns anlehnen werden. Zunächst zwei negative Abgrenzungen.

Insbesondere in seiner populären Lesart ist der Paradigmenbegriff häufig mit Weltsicht oder

Weltanschauung identifiziert worden. Ein typisches Beispiel ist die Verwendung von "Paradig-

ma" in Capras "Wendezeit" (1982): hier wird von zwei "fundamentalen" Weltsichten, dem "al-

ten" und dem "neuen" Paradigma gesprochen: während das alte "analytisch", "mechanistisch",

"partikularistisch" (usw.) ist und zugleich mit der "kartesisch-newtonischen" Weltsicht und

dem fernöstlichen "Yang"-Prinzip verknüpft wird, ist das neue" "synthetisch", "intuitiv", "ganz-

heitlich" (usw.) und wird mit der "neuen" Physik und dem fernöstlichen "Yin"-Prinzip verknüpft.

Derartige weltanschauliche Gegenüberstellungen sind äußerst inhaltsleer; und in diesem welt-

anschaulichen Sinn ist der Paradigmenbegriff, um wissenschaftlich fruchtbar zu sein, sicherlich

nicht zu verstehen; auch Kuhn hat ihn nicht so verstanden (vgl. ebenso Gholsen/Barker 1985, S.

756). Paradigmen bestehen nicht primär in solchen Weltanschauungen, was nicht heißt, daß sie

nicht auch implizit gewisse weltanschauliche Komponenten haben können (aber nicht müssen).

Am anderen Extrem steht die Kuhnsche Urbedeutung von "Paradigma" als ein gewisses

examplarisches Muster (1977, S. 393), z.B. das Muster der Erklärung von Planetenbewegungen

durch Newtons Mechanik, oder das Muster der psychoanalytischen Erklärung der Hysterie der

Anna O. Sicherlich enthalten wissenschaftliche Paradigmen mehr als solche Muster, z.B. Kern-

annahmen von Theorien, oder methdologische Annahmen.

Mastermind (1974) hat bekanntlich 21 Lesarten von "Paradigma" in Kuhn (1967) herausde-

stilliert und in Hauptgruppen zusammengefaßt (1974, S. 65; s. auch Bayertz 1981, S. 23). Im

Anschluß an Masterminds Analyse hat Kuhn in (1977, S. 392f) den Paradigmenbegriff präzi-

siert. Statt von Paradigma spricht er nun von disziplinärer Matrix, und eine solche enthält ihm

zufolge folgende Komponenten: (1.) symbolische Verallgemeinerungen, d.h. Kerngesetze von

Theorien; (2.) Modelle, welche der Theorie Analogien für Anwendungserweiterungen lieferen

und insofern heuristische und programmatische Funktion haben; andererseits können sie der

Theorie auch eine Ontologie liefern und sind insofern theoretisch-metaphysischer Natur; (3.)

Musterbeispiele, d.h. typische und allgemein anerkannte Erfolge der Theorie, sowie schließlich

(4.) gemeinsame Werte (letztere Komponente findet sich nicht in 1977, aber in seinem Post-

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skript 1979, S. 194).

Ich werde im folgenden den Paradigmenbegriff auf der Grundlage zweier Forderungen expli-

zieren: erstens soll er eine Synthese von Kuhns Begriff der disziplinären Matrix und einigen pro-

minenter Explikationssvorschlägen im Anschluß an Kuhn sein, und zweitens soll er in der Lage

sein, alle im weiteren diskutierten Subtilitäten der Koexistenzweisen von Paradigmen adäquat

zu beschreiben. Ich schlage vor, ein Paradigma als ein kognitives System aufzufassen, das fol-

gende vier Komponenten (und folgende Subkomponenten) enthält:

(1.) Die theoretische Komponente. Sie besteht nicht aus einer ausgeformten Theorie, sondern

lediglich aus einem sogenannten Theoriekern, welcher verschiedene Anreicherungen durch

Spezialgesetze oder Hilfshypothesen zuläßt. Derartige Anreicherungen nennen wir Theorieaus-

prägungen; man spricht auch vom Kern versus der Peripherie einer gegebenen Theorieaus-

prägung. Der Theoriekern enthält voralledem zwei Bestandteile: (1.1) Charakteristische

Gesetzeshypothesen von allgemeiner und zumeist theoretischer Natur, sowie (1.2) Modell-

vorstellungen (d.h. Modelle über grundlegenden Entitäten und Mechanismen), welche qualita-

tiver (oft bildhafter) Natur sind, einen ontologischen Rahmen zur Verfügung stellen, sowie Ana-

logien für mögliche Expansionen der Theorie in neue Anwendungsfelder liefern.

In den so umschriebenen Theoriekern fließen eine Reihe weiterer Subkomponenten still-

schweigend ein. Zunächst ist zu unterscheiden zwischen der Charakterisierung des Begriffs-

systems, also der Angabe von der Theorie verwendeten sprachlichen Symbole und ihres Typs

(z.B. qualitative vs. quantitative, Merkmals- vs. Funktionsbegriffe), und der Angabe der be-

haupteten Sätze, d.h. Axiome bzw. Gesetzesbehauptungen der Theorie; weitere Spezifizie-

rungen werden in Kap. 3 erläutert. Es wird nicht angenommen, daß zwischen Gesetzeshypothe-

sen und Modellvorstellungen immer scharf unterschieden werden: wenn sich eine Theorie erst in

einem qualitativen oder gar noch metaphorischem Stadium befindet (vgl. Gigerenzer 1988), wird

das in der Regel nicht der Fall sein (z.B. "Triebmodell" der Aggression"). Wir müssen auch die

Möglichkeit miteinbeziehen, daß in gewissen Wissenschaftsdisziplinen mit normativem Anteil

einige Axiome des Theoriekernes normativer Natur sind, z.B. in der Pädagogik "Bildung soll in

selbstbestimmter Weise erfolgen" (vgl. den Beitrag von Herber), oder in der Rechtsdogmatik

(s. den Beitrag von Hagen).

(2.) Die empirische Komponente: Sie besteht Musterbeispielen von erfolgreichen und allgemein

anerkannten Erklärungsleistungen durch gewisse Ausprägungen des Theoriekerns. Wir nennen

die Menge dieser Musterbeispiele auch den exemplarischen Anwendungsbereich des Paradig-

mas.

(3.) Die methodologische Komponente enthält drei Subkomponenten: (3.1) Die methodische

Komponente besteht aus Regeln und Devisen darüber, wie der Forschungsgegenstand zu unter-

suchen ist; (3.2) die epistemologische Komponente besteht aus dabei einfließenden erkennntis-

theoretischen Annahmen, etwa welches Verhältnis dabei Forschungssubjekt und Forschungs-

objekt zueinander einnehmen; die normative Komponente schließlich enthält Annahmen darü-

ber, welches Forschungsinteresse dabei verfolgt wird.

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1 1

Mit dieser methodologischen Komponente, wie wir sie nennen, enthält ein Paradigma neben

einem fachspezifischen auch einen "metawissenschaftlichen", philosophischen und normativen,

und insofern implizit "weltanschaulichen" Anteil. Die methodologische Komponente kann im

Verhältnis zur fachspezifischen ganz unterschiedlich starkes Gewicht haben; sie wird im Regel-

fall auch nicht von Paradigma zu Paradigma verschieden sein, sondern wird, wie wir sehen

werden, häufig von ganzen Familien von Paradigmen geteilt.

(4.) Die programmatische Komponente eines Paradigmas besteht in einem Forschungspro-

gramm, d.h. in einem weitgehend noch uneingelösten Versprechen sowie einer damit einherge-

henden Hoffnung, bei fortgesetzter Arbeit alle Phänomene einer sehr umfassenen Phänomen-

klasse erfolgreich erklären zu können. Wir nennen diese Phänomenklasse auch den programma-

tischen Anwendungsbereich des Paradigmas. Er wird dabei durch analogisierende Genera-

lisierung aus der zweiten Komponente, dem exemplarischen Anwendungsbereich, gewonnen.

Ersichtlicherweise sind in dieser Explikation des Paradigmenbegriffs alle Komponenten von

Kuhns "disziplinärer Matrix" enthalten: die Kuhnschen symbolischen Verallgemeinerungen ent-

sprechen Komponente (1.1), die Modelle (1.2), die Musterbeispiele Komponente (2.), die

gemeinsamen Werte sind in Komponente (3.) als Teil enthalten, lediglich unsere programma-

tische Komponente (4.) hat kar kein Gegenstück bei Kuhn, sondern ist lediglich indirekt, in sei-

nen Modellen enthalten. Die Bedeutung der programmatischen Komponente eines Paradigmas

wurde von Lakatos (1974) und später voralledem von Kitcher (1981) aufgewiesen - Kitcher

spricht von explanatory promise, d.h. einem Versprechen das Paradigmas, bei hinreichender

Entfaltung das und das erklären zu können.

Erläutern wir unseren Paradigmenbegriff anhand von vier Beispielen.

Das vielzitierte (und am besten untersuchte) Newtonische Paradigma enthält als Kern-

gesetze die berühmten Newtonschen Axiome (Gesamtkraft = Masse mal Beschleunigung, und

Actio = Reactio), eventuell unter Hinzunahme des Gesetzes für die Gravitationskraft. Der

Theoriekern ist offen gegenüber Erweiterung durch beliebige neue Kraftgesetze, aber auch durch

Hilfshypothesen über Anfangs- und Randbedingungen. Die zugrundeliegende Modellvorstellung

ist die eines Systems von Partikeln im euklidischen Raum und in linearer Zeit, dessen Bewe-

gungen bei gegebenen Anfangs- und Randbedingungen durch die wirkenden Kräfte bestimmt

wird. Die empirischen Musterbeispiele sind die erfolgreichen Erklärungen der Planetenbahnen

(Kepler-Gesetze), und die Erklärung von diversen Bewegungsphänomenen auf der Erdober-

fläche (freier Fall, schiefe Ebene, Wurfbahn). Das Newtonische Programm dagegen war viel

umfassender: es umfaßte die Hoffnung, wenn nur die jeweiligen speziellen Kraftgesetze bekannt

seien, all Phänomene der Natur präzise erklären zu können, also auch die optischen Phänomene,

die chemischenn, bis hin zu den Phänomenen des Lebens (vgl. Kitcher, S. 510ff). Über die

methodologische Komponente des Newtonsischen Paradigmas wurde vieles, und auch viel

falsches, gesagt; sicher ist das zugrundeliegende Weltbild nicht "mechanistisch" (wie bei Capra

1982 suggeriert wird); vielmehr ist bekannt, daß Newton seinen Gravitations-Fernkräften eine

"spirituelle" Interpretation gab. Zweifellos liegen die Betonung des Experiments, die quan-

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titativ-mathematischen Darstellung und die Annahme einer erkenntnistheoretischen Subjekt-

Objekt-Trennung, d.h. der Möglichkeit einer Objektbeobachtung ohne Einflußnahme auf das

Objekt, im Zentrum der methodologischen Komponente des Newtonischen Paradigmas.

Das Paradigma der behavioristischen Lerntheorie, im Gegenteil etwa zur kognitiven (s.

Gholson/Barker 1985, S. 758) enthält als Kernhypothese die Annahme, Verhalten werde durch

Konditionierung spezifischer Stimulus-Response-Paare gelernt. Gemäß der Kerntheorie der

"operanten" Konditionierung (daneben gibt es noch die hier nicht besprochene "klassische")

werden aus einem Repertoire von zunächst zufällig auf bestimmte Stimuli hin geäußerte

Verhaltensweisen hin jene bevorzugt geäußert bzw. beibehalten, welche durch die Reaktionen

der Umwelt positiv verstärkt (belohnt) werden (und umgekehrt mit negativen Verstärkungen,

d.h. Bestrafungen); auf diese Weise festigen sich konditionierte Stimulus-Response-Paare.

Diese Gesetzeshypothese kann rein qualitativ formuliert sein, oder aber, wie in der mathema-

tischen Lerntheorie, durch quantitive Gleichungen ausgedrückt werden, welche die Wahrschein-

lichkeitsänderungen von Reaktionen aufgrund Verstärkungseffekten beschreiben (Gholson/

Barker 1985, S. 760f). Die zugehörige Modellvorstellung ist die eines Agenten, der sein

zunächst zufällig geäußertes Verhalten aufgrund positiver oder negativer Umweltreaktionen

anpaßt. Musterbeispiele sind etwa Skinners Ratten, die den richtigen Weg zum Futternapf ler-

nen. Das Programm bestand in der anspruchsvollen These, letztlich alle Lernprozesse, ein-

schließlich der des Menschen, auf diese Weise erklären zu können. Die methodologische

Komponente des Behaviourismus ist wohlbekannt; sie bestand in der These, man solle

verzichten auf schwer zu überprüfenden Hypothesen über das Innere der Psyche - etwa über

innere kognitive Modelle (wie in der kognitiven Lerntheorie) oder über innere Einstellungen,

etc. - und nur mehr Hypothesen über empirisch beobachtbare konkrete Reize und konkrete

Reaktionen des untersuchten Tieres oder Menschen aufstellen.

Das Darwinsche Paradigma enthält als Theoriekern die Auffassung, daß die Entwicklung

des Lebens durch Mutation von (genetischen) Anlagen und Selektion (aufgrund einigermaßen

stabiler Umweltbedingungen) erfolgt. In dieser qualitativen Formulierung fallen Gesetzes-

hypothese und Modellvorstellung des Theoriekerns weitgehend zusammen. Der Theoriekern ist

wieder offen gegenüber Erweiterung durch unterschiedliche Gesetze über die Ursachen und

Wahrscheinlichkeiten von Mutationen, solange solche Gesetze nicht eine Beeinflussung von

genetischen Veränderungen durch individuell erworbene Eigenschaften implizieren. Es gibt eine

Reihe von Musterbeispielen in der Evolutionsgeschichte. Das Darwinsche Programm ist der

Versuch, die gesamte Evolution des Lebens innerhalb dieses Modells erklären zu können (vg.

Kitcher 1981, S. 512 - 515). Die methodologische Komponente entspricht der Standardmethodo-

logie empirischer Naturwissenschaften.

Das Paradigma der Freudschen Psychoanalyse enthält als Theoriekern die These der Exi-

stenz eines Unbewußtseins neben dem Bewußtsein, (eventuell auch die Dreiteilung von Es, Ich,

Über-Ich) sowie insbesondere die These, das Neurosen bzw. allgemein psychopathologische

Verhaltensweisen ihre Wurzel haben in traumatischen Erlebnissen in der Kindheit, die in das

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Unbewußte verdrängt wurden und sich später in Form diverse pathologischer Symptome äußern.

Wieder sind diese Gesetzeshypothesen qualitativer Natur und fallen mit der Modellvorstellung

weitgehend zusammen. Der Theoriekern ist offen gegenüber Erweiterungen durch unter-

schiedliche Triebmodelle (z.B. Lebenstrieb beim frühen Freud, Lebens- und Todestrieb beim

späten Freud, oder individueller Machttrieb bei Adler), durch unterschiedlichen Modelle des

Unbewußtseins (etwa kollektives Ubw bei Adler), durch verschiedenen Varianten der Theorie

der Entwicklung kindlicher Sexualität, sowie durch unterschiedlichen Theraphiemodelle. Das

Freudsche Programm besteht darin, alle neurotischen Phänomene letztlich aufgrund in die Kind-

heit zurückdatierender traumatischer Erlebnisse erklären zu können. In methodologischer Hin-

sicht impliziert die Psychoanalyse eher ein hermeneutisches Verfahren, worin der Analysand

und Therapeut sich in interpretierender Weise in den Patienten hineinversetzt, welche sich, zu-

mindest nach der Auffassung vieler Psychologen, einem empirischen Beschreibungsverfahren

zumindest partiell widersetzt. Freund selbst war jedoch durchaus ein Anhänger naturwissen-

schaftlich-medizinischer Erklärungsmethoden, und hätte der heute vorherrschende Zweiteilung

der Psychologie in ein quantitativ-empirisches und ein qualitativ-hermeneutisches Methoden-

paradigma (s. Kap. 9) nicht beigepflichtet.

Wir wollen nun die Beziehung zwischen dem Begriff des Paradigmas und dem der wissen-

schaftlichen Gemeinschaft (scientific community) näher bestimmen. Kuhn (1967) hat bekannt-

lich Paradigmen oft einfach als die Summe jener Glaubenseinstellungen charakterisiert, die allen

Mitgliedern einer wissenschaftlichen Gemeinschaft gemeinsam sind. In (1977, S. 390) wendet

er sich jedoch von dieser Definition ab. Denn nimmt man, so Kuhn, die von ihm ebenfalls häufig

verwendete Definition von wissenschaftlicher Gemeinschaft hinzu, als eine Menge von Wissen-

schaftlern, welche ein Paradigma miteinander teilen, so werden diese Definitionen vollends

zirkulär. Daher schlägt Kuhn in (1977, S. 390f) vor, diese beiden Begriffe in voneinander

unabhängiger Weise zu charakterisieren. Für den Paradigmenbegriff haben wir dies schon

getan. Eine wissensschaftliche Gemeinschaft charakterisieren wir, in Anlehnung an Kuhn, als

eine Gruppe von Wissenschaftlern eines Faches, welche an gleichen oder ähnlichen Problemen

arbeiten, der von ihnen vertretenen Richtung einen allseits akzeptierten Namen gegeben haben,

zwischen denen intensiver informationeller Austausch besteht, in Form von regelmäßigen

Treffen auf Kongressen und Fachtagungen, in Form von gemeinsamen Publikationsorganen,

Fachzeitschriften, etc., wobei die Mitglieder der wissenschaftlichen Gemeinschaft sich unter-

einander häufig zitieren ("Zitiergemeinschaften"), und ähnliches mehr. Beispiele für wissen-

schaftliche Gemeinschaften wären etwa die kognitiven Psychogen, die Neurolinguisten, die

Festkörperphysiker, die Verhaltenstherapeutiker, die analytischen Wissenschaftstheoretiker,

die Modallogiker, und vieles mehr.

Nicht alle denkbaren kognitiven Systeme, die die obige Charakterisierung eines Paradigmas

erfüllen, müssen jemals historisch existent gewesen sein. Wenn es eine wissenschaftliche Ge-

meinschaft (in einem gewissen historischen Zeitintervall) gibt, welche ein gegebenes Para-

digma besitzt, so nennen wir dieses Paradigma (in dem jeweiligen Zeitintervall) historisch

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realisiert, andernfalls existiert es bloß als "ideelle" Entität. Was uns interessiert, sind natürlich

historisch realisierte Paradigmen, welche man, ähnlich wie bei Stegmüller (1986, S. 110), als 3-

Tupel wiedergeben kann, bestehend aus einem Paradigma, einer wissenschaftlichen Gemein-

schaft und einem historischen Zeitintervall.

Wir wollen nun noch zeigen, wie unserer Paradigmenbegriff mit einigen weiteren promi-

nenten Begriffen zusammenstimmt, die den Kuhnschen Paradigmenbegriff zu präzisieren

trachten. Am bekanntesten ist der Begriff des Forschungsprogrammes von Lakatos (1974). Ein

solches besteht zunächst aus einem harten Kern (1974, S. 129f), welcher im wesentlichen mit

unserem Begriff des Theoriekernes übereinstimmt. Unter der positiven Heuristik eines Fors-

chungsprogrammes versteht Lakatos eine Reihe von Anweisungen, wie man den Theoriekern in

Zukunft durch diverse Spezialgesetze, Spezialmodelle, und Hilfshypothesen ausbauen kann,

insbesondere in Bezug aufg neue mögliche Anwendungsgebiete (1974, S. 131-133). Lakatos'

positive Heuristik enthält damit viel von unserer programmatischen Komponente (Lakatos

spricht auch von "heuristischem Potential", S. 133). Eine konkrete Anreicherung eines Theorie-

kerns durch eine Menge von Spezial- und Hilfsgesetzen haben wir oben eine Theorieausprägung

genannt; wir gehen in Kap. 3. darauf weiter ein. Unter der negativen Heuristik (1974, S. 129f).

versteht Lakatos nun die methodologische Regel, daß im Falle eines Konfliktes einer gegebenen

Theorieausprägung mit der Erfahrung immer die Korrektur an den Spezial- und Hilfsgesetzen,

nicht aber im Theoriekern selbst vorzunehmen ist.

Um dies besser zu verstehen, sei kurz auf die moderne, "postpositivistische" wissen-

schaftstheoretische Sicht der empirischen Überprüfung von Theorien eingegangen. Seit Carnap

(1956) ist es wissenschaftstheoretisches Allgemeingut, daß wissenschaftliche Theorien über

die Ebene der Beobachtungsbegriffe hinausgehende theoretische Begrtiffe enthalten, sodaß ihre

zentralen Axiome niemals direkt empirisch überprüfbar sind, sondern nur indirekt, nämlich da-

durch, daß durch das Zusammenwirken eines ganzes Systems von Hypothesen, darunter

theoretische Gesetze, Zuordnungsgesetze (welche theoretischen Begriffen empirische Korre-

late zuordnen), sowie Spezial- und Hilfsgesetzen, gewisse empirische Konsequenzen erzeugt

werden, die dann mit der Erfahrung verglichen werden können. Falls nun ein Konflikt mit der

Erfahrung auftritt, weiß man, daß irgendwo im theoretischen Gesamtsystem - also in dem, was

wir Theorieausprägung nennen - eine Korrektur vorgenommen werden muß, aber nicht wo. Man

nennt dies, seit Duhem (1908) und Quine (1951), den Holismus der Theorienüberprüfung.

Lakatos' negative Heuristik ist nun nichts anderes als die Devise, bei widersprechenden

Erfahrungsdaten den Theoriekern, und damit das Paradigma selbst, solange wie möglich zu

retten, und die Korrektur an den - historisch variablen - Kernerweiterungsbestandteilen,

Spezial- und Hilfsgesetzen, vorzunehmen. Diese lagern sich, in Lakatosscher Sprechweise, wie

ein "Schutzgürtel" um den "harten" Kern. Es kann jedoch (im Gegensatz zur Gholson/

Barkerschen Interpretation, 1985, S. 762), auch nach Lakatos zur Änderungen am Theoriekern

selbst vorkomen, nämlich dann, wenn die Modifikationen am "Schutzgürtel" immer ad hoc

artiger werden und/oder auf Kosten des empirischen Gehaltes gehen (Lakatos 1974, S. 131).

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Laudan (1977) hat den Begriff der Forschungstradition (research tradition) geprägt, welcher

umfassender ist als Lakatos' Begriff des Forschungsprogrammes, und eine ganze Familie von

Forschungsprogrammen umfaßt, welche eine gemeinsame Methodologie und Ontologie be-

sitzen, sich jedoch bezüglich einiger Annahmen des Theoriekernes unterscheiden können. Es

handelt sich dabei um das, was wir in Kap. 3 als Paradigmen höherer Ordnung bezeichnen wer-

den. Wesentlich bei Laudan ist, daß er, im Gegensatz zu Lakatos, die Methodologie als wich-

tige Komponente eines Paradigmas herausstreicht. Die Bedeutung dieser methodologischen

Komponente wird sich insbesondere für die Humanwissenschaften zeigen.

Zu erwähnen wäre auch Radnitzkys Konzept der Wissen-Probleme-Instrumenten-Komplexe

("WPI-Komplexe", 1971, S. 136), welche in etwa dem Kuhnschen Paradigmenbegriff entspricht.

Wichtig dabei ist die Betonung der Problemkomponente: charakteristisch für ein Paradigma ist

nämlich, daß es unter anderem spezifiziert, welches die wichtigen zu lösenden Probleme sind,

und welche Probleme zweitrangig sind (vgl. Bayertz 1981, S. 77f). In unserem Paradigmenbegriff

werden diese Probleme implizit durch die programmatische Komponente festgelegt, explizit

können sie aber auch in der normative-methodologischen Subkomponente (3.3) spezifiziert sein.

Falls zwei konkurrierende Paradigmen primär in der Frage divergieren, welche Probleme als

wichtig anzusehen sind, kann, wie Kima (1971, S. 202) betont, sehr oft eine "destruktive"

Konkurrenz auf der Ebene ideologischer Schulenstreite statt auf der Ebene sachliche Vergleiche

eintreten. Dennoch ist die Spezifizierung der Relevanz gewisser Probleme ein unerläßlicher heu-

ristischer Bestandteil eines Paradigmas.

Schließlich sei unser Paradigmenbegriff auch mit der Stegmüllerschen strukturalistischen

Rekonstruktion des Paradigmenbegriffs verglichen. Um es vorwegzunehmen, umfaßt Stegmül-

lers Paradigmenbegriff nur Korrelate unserer theoretischen Komponente und unserer exempla-

rischen Anwendungsmenge; eine methodologische oder programmatische Komponente ist darin

nicht enthalten. Grundsätzlich ist für Kenner der "statement view" - "non statement view" -

Debatte zunächst vorwegzunehmen, daß sich unser Konzept des Theoriekerns auch in rein

strukturalistischer Weise rekonstruieren läßt, indem statt der theoretischen Sätze in Kom-

ponente (1.1) formale Modelle im Sinn des Strukturalismus genommen werden, welche durch

die theoretischen Sätze entsprechend charakterisiert werden. Unsere Modelle in Komponente

(1.2) entsprechen eher qualitativen Modellvorstellungen, ohne quantitative Gesetze; sie

würden am ehesten dem entsprechen, was die Strukturalisten unter potentiellen Modellen ver-

stehen. Die Übersetzbarkeit zwischen "statement view" und "non statement view" wurde in

Schurz (1987) zu zeigen versucht (vgl. auch Schurz 1990a, Anhang, zur "statement view"

Charakterisierung einiger strukturalistischer Konzepte).

Ein Theorieelement ist nach Stegmüller (1986, S. 99f) ein Paar, bestehend aus einem

Theoriekern (entspricht in etwa unserem Begriff des Theoriekernes) und einer intendierten

Anwendungsmenge (S. 99f), worunter jene Phänomenmenge zu verstehen ist, auf die die

Vertreter des Paradigmas eine gegebene Theorieausprägung jeweils beziehen. In unserer

Rekonstruktion ist die intendierte Anwendungsmenge mit jeder Theorieausprägung mitgegeben,

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da wir Gesetze (im Kern oder in der Peripherie) nicht, wie im Strukturalismus, als semantisch

uninterpretiert, sondern als semantisch interpretiert auffassen. Wichtig aber ist, daß die inten-

dierte Anwenungsmenge von Ausprägung zu Ausprägung innerhalb eines Paradigmas variieren

kann. In jedem Fall aber liegt die intendierte Anwendungsmenge zwischen der exemplarischen

Anwendungsmenge einerseits (welche lediglich die ganz "sicheren" Musterbeispiele umfaßt,

vgl. Stegmüller 1986, S. 116), und der programmatischen Anwendungsmenge andererseits,

welche auch noch alle "erhofften" Anwendungsfälle umfaßt.

Ein pragmatisch erweitertes Theorieelement enthält zusätzlich die Spezifikation eines histo-

rischen Zeitintervalls und einer wissenschaftlichen Gemeinschaft (S. 110); ein Theorienetz ist

eine Menge von Theorielementen, die durch die Relation der Theoriespezialisierung geordnet

sind (S. 103); eine Theorieevloution ist eine historische Folge von Theorienetzen, wobei alle

Netze dasselbe Theorieelement als Basis besitzen (S. 114); und schließlich versteht Stegmüller

unter einem Paradigma für eine Theorienevolution ein Theorieelement <Ko,Io>, sodaß jeder

Kern des Theoriennetzes aus Ko durch Spezialisierung hervorgeht, und Io in jeder intendierten

Anwendungsmenge der Theorienevolution enthalten ist. Ko entspricht unserem Theoriekern,

und Io der Menge von Musterbeispielen.

Abschließend sei, im Hinblick auf die Realisierung des Gesamtprojektes, bemerkt, daß Para-

digmen in den Sozial- und Geisteswissenschaften in der Regel wesentlich unschärfer formuliert

sind als in den Naturwissenschaften; oft wird überhaupt schwer auszumachen sein, was als

Theoriekern eines jeweiligen Paradigmas zu bezeichnen ist, da die Auffassungen verschiedener

Autoren oft vage oder metaphorisch formuliert sind und die Grenzen zwischen verschiedenen

Aufassungen fließend sind. Beispielsweise schrieb Klima 1971 (S. 202) von der Soziologie als

einem "Chaos der Meinungen", und wenn diese negative Sicht sicherlich auch nicht geteilt wer-

den soll, so ist doch damit zu rechnen, daß in vielen Disziplinen die klare Rekonstruktion von

Paradigmen die allererste Schwierigkeit sein wird (vgl. den Beitrag der Arbeitsgruppe Rechts-

wissenschaften, allgemeiner Teil). Umgekehrt kann, wenn dies erfolgreich geleistet ist, daraus

allein ein bedeutender Gewinn für die jeweilige Disziplin resultieren. Jedenfalls stellen sich, im

Hinblick auf spätere Projektarbeiten, in diesem Zusammenhang z.B. folgende wichtige

Fragen: (1.) Welche aktuelle Paradigmen existieren in einer bestimmten Disziplin, bzw. welche

haben in bestimmten Perioden der Disziplin existiert?, (2.) wie sieht die Spezifikation all ihrer

Komponenten aus?, (3.) welches Gewicht hat die theoretische im Vergleich zur programma-

tischen und/oder methodologischen Komponente der Paradigmen, sowie (4.) ist der oben ent-

wickelte Paradigmenbegriff überall adäquat, oder muß er aus diesen oder jenen Gründen für ein

bestimmtes Fach erweitert werden?

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3. Paradigmenevolution, Paradigmennetze, Paradigmen höherer Ordnung und Super-

paradigmen.

Unter der zu einem gegebenem historischen Zeitpunkt (oder Zeitintervall) aktuellen Aus-

prägung eines Paradigmas verstehen wir die zu diesem Zeitpunkt von der wissenschaftlichen

Gemeinschaft akzeptierte Version des Paradigmas. Sie besteht aus der jeweils aktuellen

Theorieausprägung, d.h. Anreicherung des Theoriekerns mit "peripheren" Hypothesen, sowie

der jeweils aktuellen Version der empirischen, methodogischen und programmatischen Kom-

ponente des Paradigmas. Wir nehmen also an, daß auch die drei letztgenannten Komponenten

eines Paradigmas historischen Abänderungen unterliegen können. Z.B. kann die Menge von

Musterbeispielen erweitert werden, in der Regel jedoch nicht eingeschränkt werden; die pro-

grammatische Anwendungsmenge kann dagegen auch eingeschränkt werden, nämlich wenn

Mißerfolge bzw. Anomalien auftreten; schließlich kann die methodologische Komponente

diverse Anreicherungen oder Modifikationen erfahren. Unter der Evolution eines Paradigmas

verstehen wir eine historische Folge von jeweils aktuellen Ausprägungen des Paradigmas.

Bezüglich der Charakterisierungen von Theorieausprägungen sind folgende weitere Para-

meter von Nutzen. Erinnern wir uns, daß wir im Begriffssystem einer Theorie zwischen theore-

tischen Begriffen (welche erst durch die Gesetze der Theorie bestimmt werden) und empiri-

schen (oder zumindest vortheoretischen) Begriffen unterscheiden. Die Menge aller aus den

Axiomen der Theorie logisch folgenden Sätze nennen wir den Gesamtgehalt der Theorie (er

enthält z.B. abgeleitete theoretische Sätze, aber auch abgeleitete empirische Sätze), während

die Menge aller aus den Axiomen der Theorie folgenden rein empirischen Sätze als der empi-

rische Gehalt der Theorie bezeichnet wird. Dieser empirische Gehalt umfaßt (i) jene empi-

rischen Prognosen, die tatsächlich beobachtet (empirisch bestätigt) werden konnten - die erfolg-

reichen Erklärungen oder kurz die Erfolgsmenge; (ii) jene empirischen Prognosen, welchen sich

die empirischen Daten widersetzen, entweder durch direkten Widerspruch oder durch "Ver-

tuschung" via willkürlicher ad-hoc-Restriktionen des Anwendungsbereiches - die Anomalien

oder auch Mißerfolgsmenge der Theorie; schließlich (iii) die bisher durch Daten weder bestä-

tigten noch widerlegten empirischen Prognosen - der prognostische Überschußgehalt der Theorie.

Damit können wir nun verschiedene Arten des Fortschritts definieren (unsere Typologie ist

eine Verfeinerung der Vorschläge von Lakatos 1974, S. 130f, und Stegmüller 1986, S. 114).2

Eine Evolution eines Paradigmas heiße empirisch progressiv, wenn die Erfolgsmenge wächst,

sie heiße theoretisch progressiv, wenn entweder der prognostische Überschußgehalt der Theorie

2 Unserer Begriff der empirischen Progressivität entspricht dem bei Lakatos und Stegmüller.

Lakatos' Begriff der theoretischen Progressivität meint nur Zuwachs an empirischem

Gehalt, während Stegmüllers diesbezüglicher Begriff Zuwachs an gesamtgehalt meint.

Lakatos' Begriff der Degenerierung umfaßt Degenerierung in unserem Sinne wie auch

Stagnation (vgl. Gholson/Barker 1985, S. 757).

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wächst, oder wenn der Gesamtgehatlt der Theorie bei gleichbleibender Einfachheit bzw. Ein-

heitlichkeit wächst. Sie heiße degenerierend, wenn entweder die Mißerfolgsmenge wächst, oder

der empirische Gehalt oder der prognostische Überschußgehalt schrumpft; und sie heiße schließ-

lich stagnierend, wenn sie weder progressiv (in irgendeinem Sinn) noch degenerativ ist.

Erläutern wir dies wieder anhand unserer vier Beispiele von Paradigmen. Die Erfolgsmenge

des Newtonischen Paradigmas ist weitgehend bekannt; es war lange Zeit enorm progressiv.

Schwierigkeiten ergaben sich dann bei der Erfassung optischer und elektromagnetischer Phäno-

mene. Newtons Partikeltheorie des Lichts scheiterte an der Beschreibung von Lichtbrechung

und Interferenz, welche Huygens Wellentheorie des Lichts erfolgreich erklären konnte und

dadurch einen großen Aufschwung nahm. Huygens Wellentheorie konnte sich in das Newto-

nische Paradigma nur unter der Annahme eines "Schwingungsmediums", eines Lichtäthers, ein-

passen; die Lichtäthertheorie produzierte jedoch in der Folge eine Reihe schwerwiegender Miß-

erfolge und Anomalien (Michelson-Morely Experiment, u.a.m.), die erst durch die Relativitäts-

theorie befriedigend gelöst werden konnten. Andere Anamolien, wie etwa die Ultraviolett-

katastrophe bei der Strahlungsabsorption schwarzer Körper, führten zur Quantenmechanik.

Auch das Paradigma der behavioristische Lernpsychologie war von ca. 1930 bis 1950 pro-

gressiv, sowohl in empirischer wie in theoretischer Hinsicht (Gholson/Barker 1985, S. 759f);

z.B. wurde die Theorie durch eine Generalisierungshypothese erweitert, derzufolge dem kondi-

tionierten Stimulus ähnliche Stimuli dasselbe konditionierte Verhalten auslösen können (ebd.,

S. 760). In der 50er Jahren ergaben sich jedoch beim Versuch der Anwendung der Theorie auf

den Menschen kaum lösbare Anomalien: z.B. wurde beobachtet, daß Lernen von Problem-

lösungen oft in Form eines stufenförmigen alles-oder-nichts Prozesses verläuft, was mit dem im

wesentlichen inkrementellen Ansatz der behavioristischen Theorie nicht erklärt werden kann,

sondern nur durch das rivalisierenden kognitive Paradigma des Lernens aufgrund innerer Hypo-

thesenbildung (Gholson/Barker 1985, S. 760).

Das Darwinistische Paradigma ist, wie Strack in seinem Beitrag (Punkt 2.2c) ausführt, in

seinem Grundrahmen fest etabliert; offen ist aber die Beurteilung der Zeiträume, wleche der

Evolution zur Verfügung stehen, sowie die Beurteilung der Rolle von Evolutionsmechanismen

höherer Stufe. Was die erste Frage betrifft, so ergaben frühere Berechnungen durch Wigner, daß

die Wahrscheinlichkeit der Evolution nahezu Null sein müßte; jüngere Arbeiten auf der Basis

von molekularen Evolutionsmechanismen, insbesondere von Eigen, konnten Wigners Einwände

jedoch zumindest partiell entkräften (Stöckler 1991, S. 241f). Hier liegt also ein vorüberge-

hender "Mißerfolg" vor, der aber nicht in eine Anomalie ausartete, sondern - jedenfalls zum

gegenwärtigen Zeitpunkt - wieder in die programmatischen Anwendungsmenge integriert wer-

den konnte. Das psychoanalytische Pardigma schließlich war, nach einer gewissen Erfolgs-

phase, mit der Schwierigkeit konfrontiert, daß zumindest gewisse neurotische bzw. psycho-

pathologische Phänomene durch psychoanalytische Theraphie nur schwer behebbar sind, wo-

gegen Methoden der Verhaltenstheraphie hier wesentlich effektiver zum Erfolg führen.

Paradigmen existieren nicht nebeneinander, sondern sind in Familien, Netzen und Büschel

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organisiert. Durch Abstraktion von gewissen Komponenten eines Paradigmas gelangt man zu

Paradigmen höherer Ordnung oder zu Superparadigmen. Durch Variation gewisser Komponenten

eines Paradigmas, bei Konstanthaltung der anderen, gelangt man zu Familien von Paradigmen.

Wenn ein Paradigma aus einem Paradigma höherer Ordnung durch Anreicherung mit fehlenden

Komponenten entsteht, heißt es auch Spezialisierung desselben. Ein Paradigmennetz ist ein

System von Paradigmen niedrigster und höherer Ordnung, welche durch die Relatioin der

Spezialisierung miteinander verbuden sind. Ein Paradigmenbüschel ist schließlich eine Menge

von lose assoziierten Paradigmen niedrigster und höherer Ordnung.

Als erstes können wir z.B. den Theoriekern eines Paradigmas variieren, also gewisse theo-

retische Axiome modifizieren oder die Modellvorstellung variieren. Ein Beispiel ist etwa New-

tons Korpuskeltheorie des Licht versus Huygens Wellentheorie. Man beachte, daß mit einer

Variation des Theoriekerns auch eine gewisse Variation der Musterbeispiele einhergeht, in

unserem Fall sind die Musterbeispiele für Newtons Partikeltheorie Reflexions- und Stoß-

phänomene, die für Huygens Wellentheorie Brechungs- und Interferenzphänomene des Lichts.

Beide teilen sich jedoch die programmatische und methodologische Komponente; auch sind die

wesentliche theoretische Annahmen sowie dazugehörende Musterbeispiele gemeinsam, nur

bzgl. der Grundvorstellung über das Licht bestehen widersprüchliche Annahmen. Variationen

von Paradigmen dieser Art führen zu einer typischen Paradigmenfamilie, und das, was allen

Mitgliedern der Familie gemeinsam ist, ist das entsprechende Paradigma höherer Ordnung.

Dieser Begriff entspricht ziemlich genau Laudans Begriff der Forschungstradition. Newtons und

Huygens Lichttheorien stehen also in derselben Forschungstradition; sie konkurrieren zwar,

aber sie völlig kommensurable und rational vergleichbar, weil sie wesentliche Grundannahmen,

insbesondere die methodologische Komponente, miteinander teilen. In diesem Fall wird die

Konkurrenz also eine rational-konstruktive, d.h. mit wissenschaftlich-rationalen Argumenten

austragbare sein. Ähnliche Beispeile geben Gholson und Barker (1985, S. 763) für Lichtäthert-

heorien. Es mag sein, daß die beiden rivalisierenden Theorieansätze gar nicht als verschiedene

Paradigmen unterster Stufe, die derselben Paradigmenfamilie angehören, sondern lediglich als

verschiedene Ausprägungen eines Paradigmas unterster Stufe aufzufassen sind - die Unter-

schiede sind hier fließend. Ein gutes Beispiel für Paradigmenfamilien bzw. Paradigmen höherer

Stufe sind die im Beitrag von Gabriel angeführten, auf zwei Dimensionen klassifizierten, Haupt-

strömungen der Soziologie: vertikal: individualistische versus kollektivistische Ansätze, und

horizontial: empirisch-explanative versus interpretativ-hermeneutische Ansätze. Analoges gilt

für die gegenübergestellten Paradigmen der Rechtssoziologie und der Rechtsdogmatik im Bei-

trag von Hagen (Abschn. 3., 4), im Bereich der Geographie (Beitrag von Arnreiter und Weich-

hart), u.a.m.

Kern und Musterbeisspiele sind sozusagen der speziellste Anteil eines Paradigmas; der

Fall, daß diese konstant bleiben, aber Programm oder Methodologie variieren, wird selten

vorkommen. Variiert man nebem dem Theoriekern und den Musterbeispielen auch noch das Pro-

gramm, so gelangt man zu Superfamilien. Solchen ist nur mehr die methodologische Kom-

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2 0

ponente eines Paradigmens (evtl. inklusive einer vagen und offenen Skizze eines Programms)

gemeinsam - wir sprechen hier von einem Superparadigma. Typische Beispiele von Super-

paradigmen finden sich in der Paradigmendebatte der Human- und Geisteswissenschaften.

Hoffmann (1991) etwa führt als Hauptparadigmen der Erziehungswissenschaften das em-

pirische, das hermeneutische und das kritische Paradigma an - es handelt sich dabei um Super-

paradigmen, der Einteilungsgesichtspunkt liegt allein auf der methodologischen Komponente.

Analog handelt es sich bei dem qualitativen versus qualitativen Methodenparadigma (vgl.

Lamnek 1988, 1989), oder bei dem Paradigma der physiologischen Geographie vs. der

Humangeographie (vgl. Weichart 1993) um Superparadigmen. Sehr oft verbinden sich auch

fachspezifische Paradigmen mit Superparadigmen zu typischen Paradigma-Superparadigma-

Paaren (die "kleinste" Art eines Paradigmennetzes). Wie stark die Paradigmenvielfalt in der

Geographie in dieser Weise von Superparadigmen bestimmt ist, zeigt die Tabelle 7 im Beitrag

von Arnreiter und Weichhart.

Das kognitive Netz der Wissenschaften ist ein System von Superparadigmen, worin sich

Paradimen niedrigerer Ordnung sozusagen "einlagern" und sich zu Familien gruppieren. Ebenso,

wie es Hierarchien von Paradigmen verschiedenster Ordnung gibt, gibt es, wie Kuhn (1977, S.

391) ausführt, auch Hierarchien von wissenschaftliche Gemeinschaften; ein Wissenschaftler

gehört somit mehreren wissenschaftlichen Gemeinschaften mehr oder minder eng an. Man

könnte hier analog von Gemeisnchaften niedrigster Ordnung, höherer Ordnung, und von Super-

gemeinschaften sprechen.

Ein Unterschied zwischen Natur- und Geistes-(Human, Sozial-)wissenschaften, sofern man

unter "Naturwissenschaft" nur die "physischen" Disziplinen versteht (Physik, Chemie, Biologie,

u.a.m.), könnte der sein, daß die Naturwissenschaften jedenfalls weitgehend ein einziges Super-

paradigma miteinander teilen, und Paradigmenkonkurrenz nur vorwiegend auf der konkreten

Theorieebene stattfindet, während die Geisteswissenschaften in hohem Maße auch durch Kon-

kurrenz von Superparadigmen gekennzeichnet sind. Kuhns Frage (1977, S. 391), ob nicht

vielleicht alle Naturwissenschaftler eine einzige Gemeinschaft bilden, kann man damit so

wiedergeben: bilden sie eine einzige Supergemeinschaft? Daß diese Frage sicherlich nicht

einfach zu beantworten ist, zeigt jedoch der Hinweis darauf, daß auch im Bereich der Natur-

wissenschaften verschiedene Arbeitsmethoden gibt, z.B. rein empirisch-statistische Methoden

versus experimentelle oder gar anatomisch-sezierende Methoden.

Die Konkurrenz von Superparadigmen in den Geistes-, oder besser Nicht-Naturwissen-

schaften, impliziert natürlich eine Reihe spezifischer, für Naturwissenschaften weniger typische

Probleme. Wenn zwei Superparadigmen miteinander konkurrieren, die unterschiedliche norma-

tive Annahmen über die jeweils wichtigen Probleme und/oder Erkenntnisziele besitzen, so liegt

eine Art von "Inkommensurabilität" vor, die viel schwerer mit rational-argumentativen Verglei-

chen zu überbrücken ist, und die Gefahr einer destruktiven, primär in ideologischen Konfron-

tationen bestehenden Konkurrenz ist ungleich größer. Umgekehrt ist hier das Streben nach sinn-

voller Kooperation auch eine größere und gesellschaftlich-kulturell vergleichsweise bedeu-

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2 1

tendere Herausforderung.

Im Abschluß an die Überlegungen dieses Abschnitts formulieren wir für die Arbeiten im

Gesamtprojekt wieder einige wesentliche Fragen. Zunächst ergeben sich, im Anschluß an die

Rekonstruktion der in einem Fachgebiet vorhandenen Paradigmen, Fragen nach der Beurteilung

der Evolution dieser Paradigmen: waren sie progressiv, oder degenerierend, stagnierend, und in

welcher Hinsicht, in welchem Zeitraum, eventuell in welchen wechselseitig gekoppelten

Perioden? Für Displinen mit Paradigmen, die auch normativen Gehalt besitzen (z.B. Rechts-

wissenschaft, Erziehungswissenschaft), besteht die zusätzliche Aufgabe, ähnliche Kriterien der

Progressivität oder Rückschrittlichkeit von Paradigmenevolutionen hinsichtlich des normativen

Gehalts zu entwicklen, soweit dies als möglich erscheint. Schwierigkeit dabei ist, daß normative

Aussagen keine empirischen Konsequenzen haben, sofern nicht gewisse Sein-Sollens-Brücken-

prinzipien angenommen werden.

Dann ergeben sich Fragen hinsichtlich der hierarchischen Strukturiertheit der Paradigmen

einer Disziplin: wie stark ist der Problemstand einer Disziplin von Superparadigmen dominiert,

im Vergleich zu Paradigmen niedrigerer Ordnung, also theoriespezifischer Art? Ist die oben for-

mulierte Hypothese bzgl. des Unterschiedes zwischen Natur- und Nicht-Naturwissenschaften

zu bestätigen?, gibt es ähnliche Unterschiede zwischen anderen Disziplingruppen? In welchem

Maß werden in einer Disziplin Paradigmen von Superparadigmen gesteuert?

4. Wissenschaftstheoretische Beziehungen zwischen Paradigmen

Paradigmen werden zumindest teilweise unterschiedliche Begriffssysteme, "Fachsprachen",

verwenden. Ein interparadigmatischer Vergleich muß daher zunächst Übersetzungen zwischen

den Begriffssystemen so weit als möglich herzustellen versuchen. Hierbei muß man sich in

gewissem Ausmaß einer allen Fachsprachen gemeinsamen "Basissprache" bedienen, welche

zum Teil durch die Alltagssprache geliefert wird, zum Teil aber, wie u.a. Lorenzen (1974)

gezeigt hat, auch ein darüber hinausgehendes wissenschaftliches Grundvokabular erfordert, eine

"infradisziplinäre Sprache" (S. 138), welches primär von der Wissenschaftstheorie zur Verfü-

gung gestellt wird. Bei der Erstellung von Übersetzungsrelationen zwischern Paradigmen gilt es

zunächst zwei in interparadigmatischen Kontroversen häufig Verwirrung stiftende Fälle zu

beachten, der der Polysemie, wo gleiche Worte in den verschiedenen Paradigmen verschiedenes

bedeuten, und der der Synonymie, wo verschiedene Worte in den beiden Paradigmen dasselbe

bedeuten (vgl. Bünting 1971, S. 174f). In ideologischen Kontroversen werden solche Fälle oft

mehr oder weniger bewußt unaufgeklärt gelassen, wobei der Fall der Synonymie dann zur un-

berechtigten Kritik des "Gegners" verwendet wird (Aufstellen von "Strohmännern"), während

der Fall der Polysemie zur Herausstreichung von im Grunde nicht vorhandenen inhaltlichen

Unterschieden benutzt wird. Ein Beispiel für beide Fälle gibt die Behauptung in Lamnek (1988,

S. 65) bei der Gegenüberstellung des quantitativ-empirischen versus des qualitativ hermeneu-

tischen Methodenparadigmas (s. Abschn. 9), das letztere begnüge sich mit einer Beschreibung

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der Phänomene, und lehne darüber hinausgehende Erklärungen, so wie sie das quantitativ-

empirische Paradigma intendiert, ab. Zugleich heißt es aber, daß qualitativ-hermeneutische

Paradigma strebe nach der Erfassung der "Invarianten" in den Phänomenen (Lamnek 1988, S.

56f). Eben das ist aber ein typischer Fall dessen, was gemäß empirisch-analytischer Wissen-

schaftstheorie als Erklärung anzusehen ist, während ein über die Ebene der Nomothetischen

(i.e. des Invariantenerkennens) hinausgehender Erklärungsbegriff ohnedies abgelehnt wird (vgl.

Schurz 1983, Kap. II.12; Schurz 1988c). D.h., bei der Kritik des quantitativ-empirischen Paradig-

mas wird der Erklärungsbegriff in anderem Sinn verwendet, als es diesen selbst versteht: ein

Fall von Synonymie. Zugleich ist dies auch ein Fall von Polysemie zur Betonung nicht vor-

handener Unterschiede: es sieht so aus, als ob das Erfassen von Invarianten etwas ganz

anderes als das im quantitativen Paradigma Intendiertes wäre, doch um Grunde handelt es sich

in beiden Fällen um die Suche nach Gesetzen und nomothetischen Erklärungen. Ein anderer Fall

von Polysemie stellen die Begriffe "Verstehen" und "Interpretation" im hermeneutischen bzw.

im interpretativen Paradigma dar (s. Abschn. 9), welche im Grunde dasselbe bedeuten, obwohl

man lange Zeit darin verschiedene Paradigmen sah (König 1991).

Bei interparadigmatischen Vergleichen sind also zunächst Fälle von Synonymie und Poly-

semie unbedingt zu erkennen und aufzuklären. Ist dies getan, so kann man nach Über-

setzungsmöglichkeiten suchen. Dabei können wieder verschiedene Möglichkeiten auftreten:

1.) Alle Begriffe des einen Paradigmas besitzen direkte Gegenstücke im anderen Paradigma --

einseitige lokale Übersetzunbarkeit.

2.) Alle Begriffe des einen Paradigmas lassen sich durch komplexe Umschreibungen in der

Sprache des anderen Paradigmas wiedergeben -- einseitige Übersetzbarkeit.

3.) Die in 1.) und 2.) angeführten Übersetzungen bestehen auch in umgekehrter Richtung. Dann

liegt wechselseitige (lokale oder nicht-lokale) Übersetzbarkeit vor.

Wechselseitige übersetzbare Sprachsysteme sind, wie in Schurz (1990b) bewiesen wird,

vollkommen ausdrucksäquivalent sind, d.h. jeder ausdrückbare Sachverhalt der einen Sprache

ist in der anderen Sprache ausdrückbar ist, und umgekehrt.

4.) Es sind nur einige Begriffe in der unter 1.), 2.) oder 3.) angeführten Art übersetzbar; dann

sprechen wir von partieller Übersetzbarkeit (jeweils von der Art 1.), 2.) oder 3.)). Dies wird der

vermutlich verbreiteste Fall sein. Z.B: enthalten sowohl behavioristische Lerntheorie wie

kognitive Lerntheorie die Begriffe "Stimulus" und "Response", jedoch kommt der Begriff der

"Inneren Hypothese" in der behavioristischen Lerntheorie nicht vor.

Eine, wie in Kap. 1 ausgeführt, in den meisten Fällen plausible Annahme ist, daß die beiden

zu vergleichenden Paradigmen zumindest über eine gemeinsame empirische Teilsprache ver-

fügen, welche unproblematische Beobachtungsbegriffe und Begriffe der Alltagssprache enthält

(vgl. Gholson/Barker 1985, S. 759).

5.) Es gibt überhaupt keine relevanten Übersetzungsmöglichkeiten zwischen den Paradigmen.

Dann allerdings können die beiden Paradigmen auch nicht in gegenseitige theoretische Kon-

kurrenz treten; dieser "triviale" Fall von Inkommensurabilität ("Festkörperphysiker" vs.

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2 3

"Psychoanalytiker") ist also für den wissenschaftstheoretischen Vergleich der Paradigmen

relativ uninteressant. Wohl aber ist es möglich, daß die beiden Paradigmen dennoch in ideolo-

gische Konkurrenz treten, wie man es oft erlebt, wenn Verfechter verschiedener Paradigmen in

hitzigen Kontroversen im Grunde permanent aneinander vorbeireden.

Sind zumindest partielle Übersetzungsmöglichkeiten zwischen den Sprachsystemen der zu

vergleichenden Paradigmen gegeben - und wir davon gehen im folgenden aus - so gibt es also

zumindest partiell eine gemeinsame Sprache, und man kann man daran gehen, die Paradigmen

selbst, also ihre theoretischen Annahmen, sowie die Beschreibungen der Musterbeispiele, des

Programms sowie der methodologischen Komponente, nach erfolgter Übersetzung in diese ge-

meinsame Sprache, miteinander zu vergleichen. Wir führen im folgenden die wichtigsten Mög-

lichkeiten an, die hierbei auftreten können. Im Fokus unseres Interesses liegen rivalisierende

Paradigmen. Damit in sinnvoller Weise von einer kognitiven Rivalität zweier Paradigmen

gesprochen werden kann, ist zweierlei erforderlich: erstens müssen sich der intendierte sowie

der programmatische Anwendungsbereich der beiden Paradigmen zumindest partiell überlappen,

und zweitens müssen zentrale Annahmen des Theoriekerns (nach erfolgter Übersetzung)

entweder direkt widersprüchlich oder in anderen kogntiven Hinsichten (s.u.) signifikant ver-

schieden sein. -- Es gibt folgende mögliche Fälle (Beispiele führen wir später an):

(1.) Die Übersetzung ergibt, daß sich weder der intendierte noch der programmatische (und

schon gar nicht der exemplarische) Anwendungsbereich wesentlich überlappen. Dann ist keine

kognitive Rivalität zwischen den Paradigmen gegeben; sie sprechen schlicht über eine andere

Sache. Dies ist jene Situation, welche Klima (1971, S. 201) als Pseudopluralismus bezeichnet

hat, im Unterschied von echten Theorienpluralismus (S. 198f), wo kognitive Rivalität vorliegt.

Dennoch kann auch in diesem Fall Rivalität in zwei Formen bestehen:

(1.1) Rivalität normativer Art, zwischen gewissen Werthaltungen der Paradigmen. So setzt

z.B. das "empirisch-analytische" Superparadigma, etwa in den Erziehungswissenschaften, ob-

jektive Erkenntnis als oberstes Ziel, während für das "kritische" Paradigma gesellschaftliches

Engagement Priorität besitzt (vgl. Hoffmann 1991). Die Rivalität wird in diesem Fall oft un-

fruchtbar oder ideologisch sein.

(1.2) Rivalität rein machtpolitischer Art, welche zwischen den wissenschaftlichen Gemein-

schaften besteht, etwa wenn es um die Verteilung von Forschungsgeldern besteht.

(2.) Sowohl intendierter als auch programmatischer Anwendungsbereich überlappen sich

stark (oder gänzlich), und auch die methodologische Komponente beider Paradigmen ist (weit-

gehend) identisch. Die entscheidende Frage betrifft dann die Relation zwischen den beiden

theoretischen Komponenten der Paradigmen. Nehmen wir an, sie liegen jeweils in bestimmten

Ausprägungen, T1 und T2, vor. Dann gibt es folgende Möglichkeiten:

(2.A): Die Übersetzung ergibt die Möglichkeit, T1 auf T2 - und damit auch das erste auf das

zweite Paradigma (die anderen Komponenten sind ja gleich) - zu reduzieren, indem nämlich alle

theoretischen wie empirischen Folgerungen von T1 (nach erfolgter Übersetzung) auch Folge-

rungen von T2 sind. Eine solche Reduktion kann total sein, oder auch nur partiell.. Im letzteren

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2 4

Fall ist die Folgerungsmenge von T1 nur unter einer einschränkenden Bedingung aus der von T2

gewinnbar (vgl. Scheibe 1989, S. 309, 310); beispielsweise ist die Newtonsche Mechanik aus

der speziellen Relativitätstheorie nur unter der einschränkenden Bedingung gewinnbar, daß die

Geschwindigkeiten der betrachteten Objekte im Verhältnis zur Lichtgeschwindigkeit fast null

sind (vgl. Schurz 1983, S. 155f).

Bei quantitativen Theorien kann die Reduktion ferner exakt sein oder bloß approximativ

(Hooker 1981; Stegmüller 1986, Kap. 4, 8). Wichtig ist voralledem folgendes: wenn die Reduk-

tion bloß partiell ist, so können die beiden Theorien sich unter der Annahme, daß die einschrän-

kende Bedingung B nicht vorliegt, entweder widersprechen (z.B. im Fall Newton vs. Einstein)

oder auch nicht. D.h., bei partieller Reduzierbarkeit kann zugleich partielle Inkonsistenz (im

erläuterten Sinn)oder Konsistenz vorliegen.

Schließlich gibt des den Fall der wechselseitigen Reduzierbarkeit, wieder mit allen

entsprechenden Unterarten. Der extremste Fall ist der der totalen wechselseitigen Reduzier-

barkeit: hier sind die beiden Theorien (und damit auch die beiden Paradigmen) gehaltsgleich

bzw. äquivalent. Beispiele geben wir später.

Der Fall der totalen Reduktion wird oft dazu führen, daß das reduzierbare Paradigma von

reduzierenden "verschluckt" wird; somit wird dieser Fall meistens nicht zu einer langfristigen

Paradigmenkoexistenz führen, sondern zu einer Ablöse. Allerdings kann eine langfristige

Koexistenz unter bestimmten Bedingungen auch in diesem Fall resultieren: nämlich wenn das

reduzierte Paradigma wesentlich einfacher ist als das reduzierende. So wendet man heute

immer noch die Newtonische Physik dort, wo sie zutrifft, bevorzugt an, weil sie so wunderbar

einfach ist. Hier liegt also Rivalität der beiden Paradigmen trotz Reduzierbarkeit vor, nämlich im

Hinblick auf kognitive Komplexität. Ein ähnlicher und interessanter Fall ist der Theoriestand in

der chemischen Molekül- und Bindungstheorie: obwohl es im Prinzip möglich ist, die traditionel-

len, qualitativen Bindungstheorien auf die moderne Quantenchemie zu reduzieren, ist die Lö-

sung der Schrödinger Gleichung für die meisten Moleküle so kompliziert, daß Näherungsver-

fahren diversester Art verwendet werden müssen. Die Spannweite erstreckt sich hierbei von

weitgehend traditionellen, qualitativen oder semi-empirischen Verfahren, die den Vorzug großer

Einfachheit besitzen, bis hin zu theoretischen ab-initio- Methoden, die in manchen Fällen zwar

bessere Resultate liefern, dafür aber selbst Supercomputern tagelange Rechnungen abnötigen

(vgl. hierzu den Bericht von Janoschek 1978, der wohl auch heute noch Gültigkeit hat).

(2.B) Wir gehen von nun an davon aus, daß keine totale sondern lediglich partielle Reduz-

ierbarkeit (einseitig oder wechselseitig) gegeben ist. In diesem Fall ist immer auch zumindest

partiell kognitive Rivalität gegeben. Die erste Aufgabe ist es dann, das Gemeinsame in beiden

Theorien, die gemeinsame Basistheorie, herauszudestillieren. Die zweite Aufgabe ist es, die

Unterschiede herauszudestillieren. Es ist zweckmäßig, zunächst nur den jeweiligen empirischen

Gehalt, Erfolgsmenge, Mißerfolgsmenge und prognostioscher Überschußgehalt der beiden Theo-

rien miteinander zu vergleichen (denn zumeist werden diese Gehaltsmengen in einer gemeinsa-

men oder übersetzbaren Sprache formuliert sein). Schwieriger ist es, die theoretischen Anteile

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der Theorien miteinander zu vergleichen. Es können wieder folgende Möglichkeiten auftreten:

(2.B.1): Ein interessanter Fall sind empirisch äquivalente Theorien (respektive Paradig-

men), welche in ihrem empirische Gehalt (nach erfolgter Übersetzung) deckungsgleich sind. Die

beiden Theorien unterscheiden sich dann nur in ihren theoretischen Annahmen (welche wider-

sprüchlich oder bloß verschieden sein können), kommen jedoch zu den gleichen empirischen

Prognosen. Dann ist keine Präferenz zwischen den beiden Theorien aufgrund ihrer empirischen

Bewährung möglich, wohl aber kann der eine Theoriekern sind später als fruchtbarer erweisen

als der andere.

(2.B.2): Es gibt Widersprüche zwischen den empirischen Konsequenzen der beiden Theo-

rien, d.h. sie implizieren unterschiedliche Prognosen. Dann sind Experimente denkbar, die zu

entscheiden vermögen, welche der beiden Theorien die richtigen Prognosen liefert. Solche

Experimente werden dann jeweils der einen Theorie gegenüber der anderen einen empirischen

Bewährungsvorteil geben.

(2.B.3): Es gibt keine sich widersprechenden empirischen Prognosen, und eine partielle

Überlappung der prognostiziertten empirischen Phänomene. Dies ist der wichtige Fall von

empirischer Komplementarität: Gewisse empirische Phänomene sind von der einen, nicht aber

von der anderen Theorie erklärbar, und umgekehrt. Empirische Komplementarität kann mit

widersprüchlichen oder mit nicht-widersprüchlichen theoretischen Annahmen einhergehen.

Jedenfalls ist empirische Kokplementarität der erste typische Fall, der zu einer langfristigen

Koexistenz rivalisierender Paradigmen führen kann. Die Koexistenz kann balanciert sein, oder

auch durch ein Paradigma dominiert, falls nämlich das andere nur zur Erfassung einiger weniger

"Ausnahmefälle" benötigt wird. Ferner wird die wechselseitige Balance im Regelfall histori-

schen Wandlungen unterworfen sein, worin es zu gegenseitigen Befruchtungen der beiden Para-

digmen kommen kann, indem nämlich die beiden voneinander lernen, sozusagen "voneinander

abschauen" (Beispiele später).

(2.C) Der Vergleich des theoretischen Gehalts, der theoretischen Kernannahmen der beiden

Theorien (sofern überhaupt klare Übersetzungsmöglichkeiten bestehen), kann zu folgenden

Möglichkeiten führen:

(2.C.1): Es gibt keine Widersprüche zwischen den Kernannahmen; der eine Theoriekern

(resp. die damit einhergehende Modellvorstellung) arbeitet lediglich mit anderen Basis-

konzepten als der andere, wobei beide aus der Perspektive des Fachgebietes als gleichermaßen

fundamental anzusehen sind. Ein Beispiel dafür, das später erläutert wird, ist das Triebmodell

versus das Frustrationsmodell der Aggression; die beiden Theorien arbeiten einfach mit

verschiedenen, im Gesamtgebiet der Psychologie beide gleichermaßen fundamental anzu-

sehenden Modellvorstellungen. Wir sprechen in diesem Fall von schwacher theoretischer Kom-

plementarität.

(2.C.2): Es gibt Widersprüche in den theoretischen Kernannahmen bzw. Modellvorstellun-

gen: es ist nicht möglich, daß das eine wie das andere Modell zugleich auf ein- und dasselbe

Phänomen zutreffen. Dies nennen wir starke theoretische Komplementarität - es liegt hier

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genau das vor, was Bohr mit seinem Komplementaritätsprinzip in der Quantenmechanik ge-

meint hat (vgl. den Beitrag von Efinger).

Sowohl im Falle empirischer wie im Falle theoretischer Komplementarität kann es inter-

paradigmatische Kooperationsprinzipien geben, welche besagen, wie die beiden Theorien zu-

sammenzuarbeiten haben. Dabei kann es sich um empirische Kooperation handeln - dann

sagen die Kooperationsprinzipien im wesentlichen, bei welchen Phänomenklassen das eine

Modell und bei welchen das andere zu verwenden ist - oder es kann sich auch um theoretische

Kooperation handeln, in welchem Fall kooperative Brücken zwischen rivalisierenden Modellen

selbst bestehen, ja eventuell sogar Teil der Gesamttheorie sind, wie im Fall der Quantenme-

chanik.

(3.) Es bleibt der Fall, wo die beiden Paradigmen einen überlappenden Anwendungsbereich,

aber signifikant unterschiedliche methodologische Komponenten besitzen, wie in den in Kap. 3

erwähnten Fällen von rivalisierenden Superparadigmen oder Paradigma-Superparadigma-

Netzen in den Nicht-Naturwissenschaften. Hier kann man grob zwei Fälle unterscheiden:

(3.A): Methodische Komplementarität liegt vor, wenn die intendierten Phänomenklassen,

von denen die beiden Superparadigmen jeweils den Vorzug ihrer Methode behaupten, sich par-

tiell überlappen und partiell ergänzen. Z.B. liegt beim "quantitativen" und "qualitativen" Metho-

denparadigma sicherlich eine solche Komplementarität vor. In diesem Fall kann es metho-

dologische Kooperationsprinzipien geben, welche besagen, wie die beiden methodologischen

Ansätze am wirksamsten zusammenarbeiten können. Voraussetzung für solche Kooperations-

prinzipien wird sein, daß die beiden Methodologien zumindest einen gemeinsamen Kern haben,

also nicht völlig inkommensurabel sind.

(3.B) Komplementarität in den Erkenntniszielen liegt vor, wenn die beiden Paradigmen

unterschiedliche und sich ergänzende Erkenntnisziele vertreten. Ein Beispiel wäre dafür die

Komplementarität zwischen der Rechtssoziologie und der Rechtsdogmatik (vgl. den Beitrag von

Hagen). Ein anderes Beispiel dafür wäre die raumwissenschaftliche Geographie, welche quan-

titativ-empirische Analyse anstrebt, im Vergleich zur humanistischen Geographie, der es um

Beantwortung lebensweltlicher Probleme und Sinnfragen geht (vgl. den Beitrag von Arnreiter

und Weichhart, Abb. 7). Auch in solchen Fällen werden Kooperationsprinzipien sinnvoll sein.

(3.C) Voraussetzung für die beiden angeführten Kooperationsarten ist allerdings, daß die

beiden Superparadigmen nicht extrem widersprüchliche normative Annahmen machen und sich

in der Folge ideologisch bekämpfen bzw. verurteilen (was im Fall der Konfrontation zwischen

"Positivisten" und "Humanisten" immer wieder vorgekommen ist). Diesen letzteren Fall be-

zeichnen wir als kognitiv destruktive Rivalität.

Wann immer man interparadigmatische Kooperationsprinzipien aufstellt, muß man den

Vorwurf des Eklektizismus entkräften (z.B. bei Lamnek 1988, S. 238, 239), d.h. den Vorwurf der

willkürlichen Zusammenmischung unterschiedlicher Ansätze. Die Strategie der Entkräftung

dieses Vorwurfes kann immer nur die sein: man muß zeigen, daß durch die Kooperation der

beiden Paradigmen gegenüber der bloßen Summe der beiden Paradigmen ein echter Erkenntnis-

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vorteil erzielt wird.

5. Faktische Koexistenzweisen von Paradigmen bzw. wissenschaftlichen Gemeinschaften

Da Konkurrenz und Kooperation von Paradigmen sowohl auf der Ebene kognitiver Rela-

tionen wie auf der Ebene faktischer Interaktionen bestehen können, sind zur Analyse des

Phänomens nicht nur wissenschaftstheoretische Untersuchungen, sondern auch wissenschafts-

soziologische, -psychologische, -historische (usw.), bzw. allgemein gesprochen empirisch-fak-

tische Untersuchungen von Relevanz. Es gibt insbesondere zwei aus anderen Disziplinen

entlehnte Modelle zur Beschreibung von Konkurrenz und Kooperation:

a) Die aus der Biologie entlehnten Modelle der Evolutionstheorie. Hier gibt es eine Reihe von

Analogien, die im Beitrag von Strack (Abschn. 1) ausgeführt werden; seine zentrale These ist,

daß Koexistenz rivalisierender Paradigmen eine Art des "balancierten Polymorphismus"

darstellt.

b) Die aus der Wirtschaftswissenschaft entlehnten Modell der Marktwirtschaft. Auf deren

Grundlage hat Scherhorn (1969) den Wettbewerb zwischen wissenschaftlichen Theorien unter-

sucht. Konkurrenz ist ihm zufolge ein positives Phänomen, ohne das Wissenschaftsfortschritt

nicht zustandekäme; es schließt auch keineswegs - ganz in unserem Sinne - die Entwicklung

kooperativer Strukturen aus.

Generell gesehen lassen sich folgende Möglichkeiten von Koexistenzweisen wissenschaft-

licher Gemeinschaften unterscheiden:

(1.) Die wissenschaftlichen Gemeinschaften wissen gar nichts vom jeweils anderen Paradigma.

(2.) Sie wissen davon. Dann gibt es folgende Möglichkeiten:

(2.1) Inhaltliche Anteilnahmslosigkeit. D.h. es gibt keine wirklichen inhaltlichen Auseinander-

setzungen, die Kluft zwischen den Fachsprachen bzw. Fachgebieten wird nie wirklich über-

brückt. Dann gibt es zwei mögliche Extreme:

(2.1.1) Gegenseitige Toleranz; "Pseudokooperation" in Form eines allseitigen Bekenntnisses

zur Pluralität, welche sprachliche und kognitive Barrieren lediglich retuschiert.

(2.1.2) Gegenseite Intoleranz und Bekämpfung auf ideologisch-werthafter Ebene, welche im

vorigen Abschnitt unter (1.1), (1.2) und (3.C.3) skizziert wurde.

(2.2) Inhaltliche Anteilnahme. Wieder gibt es folgende Möglichkeiten:

(2.2.1) Kognitiv fruchtbare und stimulierende Konkurrenz. D.h., die Wissenschaftler versuchen in

ihren Arbeiten es jeweils besser zu machen als der andere; es gibt aber kaum Arbeiten, worin

beide Theorieansätze zur Erfassung eines Problems verwendet werden.

(2.2.2) Kooperation auf empirischer Ebene, (2.2.3) Kooperation auf theoretischer Ebene, und

(2.2.3) Kooperation auf methodologischer Ebene.

Diese drei Kooperationsarten sind wie im vorigen Abschnitt erläutert zu verstehen, bloß daß

es sich jetzt um faktische Kooperationen handelt, d.h. es gibt tatsächlich viele wissenschaftliche

Arbeiten, worin von diesen kognitiven Kooperationsmöglichkeiten Gebrauch gemacht wird.

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Die Beziehungen zwischen kognitiven Beziehungen und faktischen Koexistenzweisen von

Paradigmen zu studieren ist besonders interessant. Es muß nämlich keineswegs sein, daß diese

beiden harmonieren bzw. gleichläufig sind, vielmehr können sie auch auseinanderfallen bzw.

gegenläufig sein.

Wenn z.B. ein Paradigma auf das andere reduzierbar ist oder sogar beide Paradigmen äqui-

valent sind, so können die wissenschaftlichen Gemeinschaften dennoch einen erbitterten ideolo-

gischen Kampf führen. Auch kann es sein, daß im Falle zweier rivalisierender und

nichtäquivalenter Paradigmen ein drittes in Sicht ist, das beide umfaßt, und die Anhänger

dennoch weiterhin an ihren altvertrauten Paradigmen festhalten, sodaß der Kampf weitergeht,

obwohl er gar nicht mehr weitergehen müßte. Solche Fälle werden wir später, bei der Diskus-

sion gewisser Superparadigmen, besprechen. Es handelt sich bei solchen Fällen um Beispiele

"Kuhnscher Irrationalität".

Umgekehrt kann es sein, daß zwei Paradigmen eigentlich unverträglich sind, aber dies ver-

tuscht wird, und die beiden Ansätze offiziell, z.B. in Lehrbüchern, als ein kohärentes Paradigma

dargestellt werden. Ein Beispiel dafür gibt Gigerenzer (1988, S. 96f): seit 300 Jahren liegen die

objektive (statistische) Deutung und die subjektive (epistemische) Deutung des Wahrschein-

lichkeitsbegriffes miteinander in Konkurrenz, und es ist unumstritten, daß man beide benötigt,

d.h. daß kein Paradigma auf das andere reduzierbar sind. Dennoch wird in "offiziellen"

Statistiklehrbüchern zumeist so getan, als ob es nur ein Paradigma der Wahrscheinlichkeit

gäbe. Auch in offiziellen Lehrbüchern der Physik werden die Probleme der widersprüchlich-

komplementären Modellvorstellungen der Quantenmechanik sehr häufig unterdrückt, wie Kuhn

und Stöckler (1985) an mehreren Beispielen demonstrieren.

Der rational erwünschte Fall ist natürlich der, wo kognitive Beziehungen und faktische

Koexistenzweise gleichläufig sind; d.h. daß, wenn kognitive Kooperationsmöglichkeiten be-

stehen, diese auch tatsächlich in Form von faktischer Zusammenarbeit genutzt werden. Wenn

die miteinader rivalisierenen Theorien noch relativ jung sind, und beide sich gute Aussichten

versprechen, den jeweiligen Erfolgsbereich der Konkurrenztheorie in naher Zukunft auch erfas-

sen zu können, so wird konstruktive Konkurrenz, bei wechselseitiger Befruchtung, vermutlich

zunächst adäquater sein als vorschnelle Kooperation. Wannimmer aber koexistierende Theorien

ein gewisses Altersstadium erreicht haben und dennoch komplementär koexistieren, so wird die

Suche nach kognitiven wie praktischen Kooperationsmöglichkeiten sicher das vernünftigste

sein.

Aufgrund der Überlegungen von Abschn. 4 und 5 ergeben sich voralledem folgende Frage-

stellungen für die Arbeiten im Rahmen des Gesamtprojekts:

(1.) Welche kognitiven, logisch-wissenschaftstheoretischen, Beziehungen bestehen zwi-

schen den koexistierenden Paradigmen der jeweiligen Disziplin, gegenwärtig oder in einem

Abschnitt der Wissenschaftsgeschichte? Liegt (partielle oder totale) Äquivalenz, Re-

duzierbarkeit, oder Komplementarität in empirischer, theoretischer oder methodologischer Art

vor? Auch: Ist die angeführte Klassifikation hinreichend, oder ist sie zu erweitern bzw. zu

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2 9

verfeinern?

(2.) Welche faktischen Beziehungen bzw. Koexistenzweisen bestehen, und wie verhalten

sie sich zu den wissenschaftstheoretischen Beziehungen? Zunächst einmal, in welcher Inten-

sität besteht überhaupt wissenschaftlicher Austausch zwischen den Vertretern der rivali-

sierenden Paradigmen, und in welcher Form? Wenn es Kooperationsmöglichkeiten gibt, werden

sie auch genutzt? Oder dominieren vielmehr ideologische Kontroversen? Oder werden, umge-

kehrt, bestehende Widersprüche retuschiert?

In den folgenden Abschnitten führen wir nun Beispiele an, welche die wichtigsten Typen un-

serer Klassifikation von interparadigmatischen Beziehungen illustrieren sollen.

6. Beispiele für Reduktion und Äquivalenz

Entsprechend unseren Ausführungen in Abschn. 1 wurden Reduktionsrelationen (und

Approximationsrelationen), im Gegensatz zu Komplementaritätsrelationen, im Bereich natur-

wissenschaftlicher Theorien wissenschaftstheoretisch recht eingehend untersucht. Beispiele für

totale Reduktionen (in unserem Sinne) sind etwa die Reduktion der Keplerschen Planeten-

gesetze auf Newtons Mechanik (Scheibe 1981), oder die Reduktion der Mendelschen Verer-

bungsgesetze auf die Molekulargenetik (hier handelt es sich zugleich um ein Beispiel einer

Makro-Mikro-Reduktion, s. Absch. 8). Beispiele für partielle Reduktionen sind die erwähnte

Reduktion der klassischen Mechanik auf die spezielle Relativitätstheorie bei Geschwindig-

keiten wesentlich kleiner als die Lichtgeschwindigkeit, oder die Reduzierbarkeit der klassischen

Mechanik auf die Quantenmechanik für sich bewegende Köper, deren zugeordnete deBroglie

Wellenlänge wesentlich kleiner ist als die Dimension ihrer Bewegung (Kutzelnigg 1975, S. 47).

Typische Beispiele für vollkommen äquivalente Theorien gewinnt man durch einige bekannte

Koordinatentransformationen von Theorien, beispielsweise die Newtonsche versus die

Hamiltonsche Formulierung der klassichen Mechanik (Kutzelnigg 1975, S. 2-6), wo trotz unter-

schiedlicher Basisgrößen vollkommene Äquivalenz vorliegt. Ein anderes Beispiel sind For-

mulierungen mithilfe von cartesischen versus polaren Kkordinaten, oder unitäre Trans-

formationen von Orbitalen in der chemischen Bindungstheorie, oder Drehungen der Faktor-

koordinaten in der Faktorenanalyse (vgl. Schurz 1990c).

Die für das Gesamtprojekt hierbei interessante, weil noch kaum untersuchte, Frage, ist fol-

gende: welche ähnlichen Fälle von Reduzierbarkeit oder Äquivalenzen zwischen Ausprägungen

von Theorien bzw. Paradigmen gibt es in den Nicht-Naturwissenschaften, z.B. Human- oder

Sozialwissenschaften? Inwieweit werden solche Fälle, wenn es sie gibt, durch ideologische

Rivalitäten verhindert?

Einen interessanten Fall von Paradigmen (höherer Ordnung), die weitgehend äquivalent

sind, obwohl längere Zeit kaum Verbindungen bestanden, beschreibt König (1991): das aus den

Geisteswissenschaften stammende hermeneutische Paradigma, und das aus den Sozial-

wissenschaften stammende interpretative Paradigma. Das auf einen klassischen Aufsatz des

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3 0

Soziologen Wilson (1970) zurückgehende und vergleichsweise junge interpretative Paradigma

vereint Ansätze des symbolischen Interaktionismus (Mead, Blumer), der Ethnomethodologie

(Garfinkel, Cicourel), und der Lebensweltphänomenologie (Alfred Schütz) (vgl. König 1991, S.

49f). Die Hermeneutik ist das Zentralstück der Philosophie der Geisteswissenschaften des 19.

Jahrhunderts, mit Wilhelm Schleiermacher und Wilhelm Dilthey als ihren Hauptvertretern und

Hans Gadamer als jüngerem Exponenten. Zwischen den beiden Paradigmen bestand bis in die

80er Jahre kaum Verbindung (König 1991, S. 51); dennoch teilen sie sich fast alle Kernannah-

men. In beiden Fällen geht es um eine methodische Abgrenzung der Humanwissenschaften von

den Naturwissenschaften; das deduktiv-nomologische Erklärungsmodell, bzw. die "mechani-

sche" Erklärungsweise, wird abgelehnt, weil menschliches Handeln nicht unter strenge Natur-

gesetze fällt. Stattdessen wird die Erfassung der Individualität als zentrales Erkenntnis-

anliegen betont. Ein weiteres Kernstück des Paradigmas ist ist die These, daß die Gegenstände

bzw. Tatsachen der Humanwissenschaften niemals physikalischer Natur, sondern immer schon

semantischer Natur sind, nämlich sinnhafte Gebilde (z.B. Texte, Handlungen, Interaktionen),

welche richtig gedeutet bzw. interpretiert werden müssen (vgl. König 1991, S. 54 - 56). Der

einzig signifikante Unterschied liegt im Grunde darin, daß die beiden Paradigmen von ver-

schiedenen Musterbeispielen herrühren: die Hermeneutik von der Interpretation von Texten,

das interpretative Paradigma von der Interpretation sozialer Handlungen. Beide Paradigmen

schließen jedoch in ihrem programmatischen Anwendungsbereich sowohl Texte wie soziale

Handlungen (u.a.m.) ein. König führt am Schluß seiner Arbeit zwei Unterschiede an: erstens

läge ein Unterschied der Methodik vor, zweitens sei die Hermeneutik werthaft, das inter-

pretative Paradigma aber wertfrei (1991, S. 56 - 58). Beides scheint mir nicht haltbar zu sein:

die Methoden überlappen sich großteils (z.B. "hermeneutischer Zirkel" und "Vorverständnis"

des Wissenschaftlers), und die Wertdimension wird auch im interpretativen Paradigma hervor-

gehoben. Bei Lamnek (1988) werden die beiden Paradigmen vereint und als lediglich verschie-

dene Nuancen setzende Ausprägungen eines Paradigmas gesehen.

7. Beispiele für empirische und schwache theoretische Komplementarität

Ein gut geeignetes Beispiel sind Aggressionstheorien im Bereich der Psychologie. Hier gibt

es seit geraumer Zeit drei Hauptparadigmen (vgl. Nolting 1978): die Triebtheorie, derzufolge

aggressives Verhalten im wesentlichen die Folge eines angeborenen Aggressionstriebes ist;

die Frustrationstheorie, derzufolge aggreessives Verhalten die Folge von Frustrations-

erlebnissen ist (Wünsche, deren Zielhandlungen bereits eingeleitet sind, werden versagt), und

die Lerntheorie, derzufolge aggressives Verhalten gelernt wird, durch Imitation sowie durch

positive Konditionierung (Aggression bringt Erfolgserlebnisse). Zunächst einmal sind alle drei

Theorien theoretisch miteinander kompatibel, d.h. es könnten alle drei Mechnismen zugleich am

Werk sein. So leugnet die Triebtheorie nicht, daß Frustrationen der Auslöser von Aggressionen

sind; es gibt der Triebtheorie (etwa der von Konrad Lorenz) zufolge sowohl Schlüsselreize wie

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Hemmschwellen der Aggression, jedoch die Wahrscheinlichkeit der Auslösung einer Aggres-

sionshandlung ist bedingt durch das angestaute Aggressionspotential, welches letztlich auch

unabhängig von der sozialen Umwelt durch den inneren Aggressionstrieb zustandekommt (vgl.

Nolting 1978, S. 33). Weder Triebtheorie noch Frustrationstheorie leugnen, daß Lernmechanis-

men für das Wie der Aggressionshandlung verantwortlich sein können, ihnen geht es mehr um

die Erklärung des Daß derselben.

Die drei Paradigmen sind empirisch komplementär. Gewisse Musterbeispiele von Aggres-

sion durch Frustration sind so evident (z.B. man verwehrt dem Kind ein "Zuckerl"), daß hier

weder Trieb- noch Lernansätze zur Erfassung nötig ist. Andererseits gibt es im kindlichen

Verhalten häufig imitierte oder auf sonstigem Weg erlernte Aggression ohne vorausgehende

Frustration, wofür der Lernansatz die plausiblere Erklärung liefert (Nolting 1978, S. 50f). Der

Fall, daß jemand schlicht "den Kampf sucht", ohne Frustration und ohne nachzuahmendes Vor-

bild, kommt zwar seltener aber doch auch vor; speziell bei männlichen Exemplaren der Gattung

Mensch, und tritt gemäß Konrad Lorenz mit gewisser stammesgeschichtlicher Konstanz auf.

Gegeben diese Evidenzen (die hier zwar etwas fragwürdiger sind als in den vorigen Beispiele),

so können sie nur durch einen angeborener Aggressionstrieb im Sinne von Lorenz erklärt

werden.

Zusammengefaßt liegt also empirische Komplementarität und theoretische Kompatibilität

vor. Inwiefern diese durch methodische Kooperation genutzt wird, hängt unter anderem auch von

der methodologischen und normativen Komponente der zugrundeliegenden Paradigmen ab. Bei-

spielsweise tendiert Nolting (1978, Kap. 10) zu einer Integration von Frustrationstheorie und

Lerntheorie der Aggression, lehnt jedoch als Anhänger des "Umweltparadigmas" die Trieb-

theorie, d.h. die Existenz von triebhaften Aggressionsanlagen, ab (S. 38f). Vielleicht sperrt hier

die Rivalität zwischen einem "naturwissenschaftlich-empirischen" und einem "kritischen"

Superparadigma die Möglichkeit der Kooperation von "Triebtheorien" und "Umwelttheorien",

wie es etwa Klima (1971, S. 201) für den Bereich der Intelligenztheorien ("Vererbungstheorie"

vs. "Milieutheorie") konstatiert. Bedenkt man, daß Lorenz seine Triebtheorie im Grunde auch

als Aufklärungsprogramm intendierte - nämlich als Anweisung, wie angeborene Aggressionspo-

tentiale statt nihiliert in konstruktive Bahnen gelenkt werden können, so erkennt man auch

Kooperationsmöglichkeiten auf normativ-praktischer Ebene.

Empirischer Komplementät in vielerlei noch näher zu erforschender Hinsicht liegt auch beim

Vergleich einer Reihe von Einzelparadigmen im Bereich der Geographie vor, z.B. der Raum-

strukturforschung, der Verhaltensgeographie, der humanökologischen Geographie, u.a.m. (vgl.

den Beitrag von Arnreiter und Weichhart). Auch die gegenwärtigen Hauptparadigmen im

Bereich der Psychotheraphie liefern ein Beispiel für empirisch-praktische Komplementarität, im

Hinblick auf die Erfolgschancen bei gewissen Typen psychopathologischer Störungen. Schließ-

lich gibt es auch in den Naturwissenschaften einige interessante Beispiele von rivalisierenden

und, jedenfalls beim gegenwärtigen Faktenstand, komplementären Theorieansätzen, von denen

im Beitrag von Strack (Abschn. 2) einige erläutert werden. Bei der Krebsforschung etwa handelt

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es sich um die Frage, ob Krebs eine durch Umwelteinflüsse zustandekommende oder eine

alternskorrelierende degenerative Erkrankung sei. Oder bei den biologischen Theorien des

Alterns um die Frage, ob und in welchem Ausmaß Altern biologisch programmiert oder eher

eine Folge von Fehlleistungen des Organismus sei.

Die analysierten Fälle von empirischer Komplementarität gehen mit schwacher theore-

tischer Komplementarität einher. Ein weiteres Beispiel von schwach theoretischer Komplemen-

tarität stammt aus der Ethik, beim Vergleich deontologischer und teleologischer Ansätze (vgl.

Frankena 1972): ein sinnvolles ethisches System muß, wie hier nicht näher gezeigt werden soll,

beide Komponenten in sich vereinen.

Eine spzifische Art von schwacerh theoretischer (und meistens empirischer) Komplemen-

tarität liegt bei der Koexistenz von Mikro- und Makroparadigmen vor. Radnitzky (1971, S. 155)

spricht hier von vertikalem Theorienpluralismus (in Gegensatz zum horizontalem Theorien-

pluralismus, etwa der Aggressionstheorien). Der Gegenstandsbereich ist hier ein komplexes

Phänomen, und während Mikroparadigmen es von der Ebene kleinster Bestandteile heraus zu

er erklären suchen, setzen Makroparadigmen die Erklärung direkt auf der Ebene komplexer

Phänomeigenschaften an. Ein bekanntes Beispiel für solch "vertikale" Paradigmenkonkurrenz

ist der methodische Individualismus versus der Kollektivismus in der Soziologie (vgl. Gabriel in

seinem Beitrag): ersteres Paradigma behauptet die Erklärbarkeit aller sozialen Vorgänge aus

dem Handeln von Individuen heraus, was letzteres Paradigma vehement bestreitet und soziale

Kollektive als eigenständige, "emergente" Entitäten ansieht. Eine analoge Frage in der Biologie

ist, inwieweit komplexe Lebensvorgänge auf die biochemische Vorgänge der molekularen Ebene

reduzierbar sind oder nicht. In einigen Bereichen war der Versuch, Makroparadigmen auf Mikro-

paradigmen zu reduzieren, erfolgreich (z.B. im Bereich der Thermodynamik; wie Stöckler 1991

ausführt, geben die neueren Selbstorganisationstheorien Anlaß zur Hoffnung, eine solche

Reduktion auch bei einfachen biologischen Phänomenen durchzuführen). Doch generell wird eine

vollständige Reduktion bei komplexen Systemen das menschliche Erkenntnisvermögen zumeist

übersteigen, weshalb aus epistemologischen Gründen (unabhängig von der ontologischen

Reduktionsfrage) eine komplementäre Koexistenz von Mikro- und Makroparadigmen zweifellos

nötig ist. Eine systematische Untersuchung des Verhältnisses von Mikro- und Makroparadimen

in diversen Disziplinen wäre eine wichtige Aufgabe.

8. Beispiele für starke theoretische Komplementarität

Das "Paradigma" für starke theoretische Komplementarität ist die Quantenmechanik; aus

diesem Bereich stammt auch der Komplementaritätsbegriff. Wie Efinger in seinem Beitrag

betont, ist die Quantenmechanik aus einer Verschmelzung zweier Paradigmen entstanden, des

Teilchen- und des Wellenmodells -- daraus entstand kein "neues" drittes Paradigma, sondern

eine äußerst interessante Kooperation der beiden Modelle. Dies sei in kurzen Worten erläutert.

Gemäß dem Teilchenbild besteht Materie wie auch Licht, aus Teilchen, welche einen scharfen

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Ort besitzen und sich im Raumzeitkontinuum auf Bahnen bewegung. Dem Wellenbild zufolge

handelt es sich dagegen Wellen, weche sich im Raumzeitkontinuum ausbreiten; sie besitzen

eine charakteristische Frequenz, Amplitude und Phase, aber keinen scharfen Ort; vielmehr sind

sie über den ganzen Raum verteilt. Man beachte, daß es sich hierbei um Wellen ohne Medium

handelt, d.h. eine Reduktion auf das Teilchenbild (wie etwa bei Luft- oder Wasserwellen) ist

unmöglich.

Offenbar ist es unmöglich, daß etwas zugleich ein Teilchen und eine Welle (der beschrie-

benen Art) ist, denn im ersten Fall wäre es lokalisiert, im zweiten delokalisiert. Das Bohrsche

Komplementaritätsprinzip der Quantenmechanik besagt jedoch, daß jede physikalische Entität

grundsätzlich sowohl Teilchen- wie Wellencharakter hat, wobei sich diese beiden Modelle

zueinander so verhalten, daß sie sich 1.) in der Erklärung der empirischen Phänomene ergänzen,

und 2.) logisch nicht miteinander in Konflikt treten. Wie Hooker (1972, S. 142) ausführt, stehen

das Teilchen- und Wellenbild bei Bohr für komplementäre Typen von Experimenten: das Teil-

chenbild dient zur Erklärung von experimentellen Teilchendetektionen mithilfe photographischer

Platten oder Nebenkammern, wo stark irreversible Effekte im Spiel sind, während das Wellen-

bild für die Erklärrung von experimentellen Interferenzphänomenen und ähnlichen

Wellenphänomenen dient. Bohr gibt eine philosophische Begründung seines Komplemen-

taritätsprinzips: er geht davon aus, daß keines unserer kognitiven Basiskonzepte zur Beschrei-

bung der mikrophysikalischen Wirklichkeit ausreicht, sodaß man einander widersprechende

Konzepte in komplementärer Weise zu verwenden muß, um zu einer möglichst vollständigen

Realitätserfassung zu gelangen (vgl. Hooker 1972, S. 141, sowie Efinger in seinem Beitrag).

Eine anschauliche Analogie ist folgende (s. Schurz 1992, S. 10): angenommen wir könnten nur

zweidimensionale Strukturen erkennen, doch die Wirklichkeit wäre dreidimensional, und wir be-

trachten einen Zylinder. Er wird uns einmal als Rechteck, und einmal als Kreis erscheinen, doch

zwischen diesen Figuren bestehen inkommensurable Zahlenproportionen. Die Situation ist ana-

log zur Quantenmechanik.

Das signifikante an der Quantenmechanik ist, daß die Prinzipien der Kooperation von Teil-

chen- und Wellenmodell selbst in Form dreier theoretischer Gesetze auftreten. Das erste

Koppelungsprinzip, welches die beiden Modelle verbindet, besagt, daß das Quadrat der Ampli-

tude einer Wellenfunktion mit der Aufenthaltswahrscheinlichkeit des entsprechenden Teilchens

identisch ist. Auf diese Weise kann man von einem Modell zum anderen Modell "shiften". Das

zweite Koppelungsprinzip ist das Gesetz von deBroglie, welches einem Impuls eine eindeutige

Wellenlänge zuordnet. Das dritte Gesetze schließlich verhindert, daß die beiden Modelle

miteinander in Konflikt treten können: es ist die Heissenbergsche Unschärferelation, welche

besagt, daß eine physikalische Entität niemals zugleich einen scharfen Ort und einen scharfen

Impuls, also gemäß dem deBroglie Prinzip eine scharfe Wellenlänge, besitzen kann. Das heißt,

ist etwas als Teilchen fixiert, so sind seine Welleneigenschaften nicht mehr exakt bestimmbar,

und umgekehrt. Zusammengenommen bewirken diese Gesetze eine bis ins Detail geregelte,

empirisch effektive und logisch konsistente Kooperation von zwei im Grunde genommen inkom-

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3 4

patiblen Modellvorstellungen.

Insofern ist die Quantenmechanik geradezu ein "Paradigma für die Kooperation komplemen-

tärer Paradigmen". Eine für das Gesamtprojekte wichtige Frage wäre folgende: Ist der Bohrsche

Komplementaritätsbegriff auf andere Disziplinen übertragbar, z.B. in humanwissenschaftlichen

Superparadigmen, die prinzipiell jeweils nur einen Aspekt der Realität erfassen können? Sind

z.B. die Aspekte der kausalen Determiniertheit und der Freiheit menschlichen Handelns kom-

plementär im stark theoretischen Sinn; d.h. im Grunde genommen widersprüchlich und dennoch

beide unentbehrlich? Diese wäre z.B. für die Erziehungswissenschaften und/oder die Rechts-

wissenschaften von großer Bedeutung.

9. Superparadigmen in den Human-, Sozial- und Geisteswissenschaften

Seit ungefähr zehn Jahren wird in der Psychologie wie in den Sozialwissenschaften von

einem quantitativen versus einem qualitativem Methodenparadigma gesprochen (Jüttemann

1989; Lamnek 1988, 1989). Die folgende Analyse des Verhältnisses dieser beiden Superpara-

digmen ist gewissermaßen exemplarisch für die Probleme der Koexistenz von Super-Para-

digmen in den Nicht-Naturwissenschaften. Wir werden dabei nicht nur, wie in den vorigen Ab-

schnitten, konstruktive Koexistenz oder Kooperation antreffen, sondern auch destruktive Kon-

kurrenz ideologischer Art.

Oberflächlich betrachtet ist der Unterschied folgender. Das quantitative Paradigma ist an

den experimentellen Methoden der Naturwissenschaften orientiert; man sucht nach möglichst

quantitativen Daten, unter möglichst eindeutigen und objektiven (intersubjektiven) Bedin-

gungen. Umfragen werden in Form von standardisierten Interviews mit geschlossenen Fragen

(vorgegebenen Antwortmöglichkeiten) durchgeführt; Beobachtungen werden bevorzugt in Form

von Experimenten angestellt. Das qualitative Paradigma bevorzugt dagegen Feldforschung und

teilnehmende Beobachtung, Umfragen werden in Form von offenen, narrativen (erzählenden)

Interviews ohne vorgegebene Antworten durchgeführt, um nur einige Unterschiede zu nennen.

Als Vorzug der qualitativen Methoden wird oft angegeben, sie eignen sich besser zum Verstän-

dnis der untersuchten Personen; tiefere Aspekte von menschlichen Einstellungen ließen sich in

einem standardisierten Interview nur schwer erfassen (Jüttemann 1989, S. 7; Lamnek 1988, S.

8). Ein augenscheinlicher Nachteil ist dagegen, daß die theoretische Auswertung qualitativer

Ergebnisse, etwa einer einer Menge von narrativen Interviews, methodisch kaum geregelt und

daher wenig reliabel ist (Lamnek 1988, S. 96f). Es gibt zwar inhaltsanalytische Methoden zur

Auswertung qualitativer Daten (Mayring 1988), doch hier nähert man sich im Grunde bereits

wieder dem "quantitativen" Paradigma, sofern dieses in einem undogmatischen Sinn verstanden

wird. Man beachte, daß die Bezeichnung "quantitativ" im Grunde eine Fehlbezeichnung ist: in

allen besseren Statistik-Lehrbüchern kann man nachlesen, daß es neben "quantitativen" (ratio-

oder intervallskalierten) auch "qualitative" (nominal- oder ordinalskalierte) Daten gibt, und daß

man auch mit letzteren präzise statistische Analysen betreiben kann. Das Erheben und Aus-

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werten qualitativer Daten an sich ist mit dem empirisch-analytischen Methodenparadigma ab-

solut vereinbar. Dies wird auch in Rudinger et al (1985, S. 12ff) betont, wo aus dieser

Überelgung heraus diverse Mischformen von Methodenparadigmen gvorgeschlagen werden.

Jüttemann (1988, S. 10f) unterscheidet drei Ebenen der qualitativen Forschung: erstens als

Methode der Datengewinnung, zweitens als Methode der Hypothesengenerierung, und drittens

als interpretative Methode. Wie er betont, wird erst auf der dritten Ebene eine "Emanzipation"

vom naturwissenschaftlichen Methodenparadigma angestrebt, während die erste und zweite

Ebene sich diesem unproblematisch einfügen lassen. Im gleichen Sinn gelangen Barton und

Lazarsfeld (1979) in ihrer umfassenden Studie zu qualitativen Methoden (vgl. auch Lamnek

1988, S. 100, 185-7) zum Schluß, daß deren Stärke im Vorfeld quantitativer Methoden liegt, bei

der Exploration relevanter Daten und der heuristischen Generierung interessanter Hypothesen;

daran anschließend sollte jedoch eine quantitative Analyse ansetzen, denn der einzig

angemessene Weg, Beziehungen zwischen Variablen zu prüfen, ist die statistsiche Analyse.

Eine ernsthafte Rivalität der beiden Superparadigmen ergibt sich also nur auf der dritten

Ebene, als Rivalität zwischen dem empirisch-analytischen und dem hermeneutisch-interpreta-

tiven Paradigma, welches bereits in Absch. 7 kurz erläutert wurde. Einfachheitshalber sprechen

wir nach wie vor vom "quantitativen" versus "qualitativen" Paradigma. Während Jüttemann

auch hier die Komplementarität hervorhebt (1988, S. 11), geht es Lamnek vorwiegend um eine

für das qualitative Paradigma parteinehmende Konkurrenz. An diesem Beispiel soll kurz demon-

striert werden, wie ideologische Unterschiede hochstilisiert werden, obwohl im Grunde nicht nur

Komplementarität, sondern weitgehende Konvergenzen vorhanden ist.

Zunächst werden bei der Kritik am quantitativen Paradigma so ziemlich alle im Verlauf der

letzten hundert Jahrten vorgebrachten "positivismuskritischen" Einwände vereint und zu-

sammengemixt; in Schlagworten wird dem quantitativen Paradigma z.B. Scheinobjektivität (S.

15), Theorielosigkeit (S. 10), Meßfetischismus (S. 12) und Fremdperspektive des Forschers

(statt Eigenperspektive der "Betroffenen", S. 16) vorgeworfen. Theorieunabhängige, objektive

Beobachtungen seien nicht möglich, stattdessen werde die "Wirklichkeit" im qualitativen Para-

digma zwischen Forscher und zu Erforschendem "ausgehandelt" (S. 24). Bei der Beschreibung

der Grundlagen des qualitativen Paradigmas, wo Lamnek sich auf Husserls Phänomenologie

beruft, liest man erstaunlicherweise dann aber ganz andere Dinge. Betont wird, daß das inter-

pretative Paradigma die Phänomene so erfassen will, wie sie sind, und nicht, wie wir sie auf-

grund von theoretischen Vorurteilen sehen (S. 52ff); ja sogar die positive Bedeutung des distan-

zierten (also nicht-teilnehmenden) Beobachtens wird betont (S.56). Durch "Wesensschau" soll

im qualitativen Paradigma schließlich das Invariante der Phänomene erkannt werden (S. 56f).

Die inhaltlichen Konvergenzen zu den Erkenntniszielen des quantitativen Paradigmas sind

augenscheinlich: der vorurteilsfreien Erfassung der Phänomene "wie sie sind" entsprechen, der

Zielsetzung nach, die intersubjektiven Reliabilitätskriterien bei der Datenerfassung im quan-

titativen Paradigmas, dem "Invariantenerkennen" des qualitativen Paradigmens entspricht das

Auffinden repräsentativer statistischer Zusammenhänge im quantitativen Paradigma; der For-

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derung des qualitativen Paradigmas, Theorien möglichst eng an die Daten zu knüpfen (S. 106),

entsprechen nicht zuletzt die diversen Methoden der Hypothesenüberprüfung (Reprä-

sentativität von Stichproben, Konfidenzintervalle, Signifikanzkoeffizienten) des quantitativen

Paradigmas. Offensichtlich wird genau das, was am quantativen Paradigma kritisiert wird, beim

qualitativen Paradigma in anderen Worten als positiv hervorgehoben. Es mutet rätselhaft an,

daß Lamnek auf diese inneren Widersprüchlichkeiten zwischen "kritischem" und "positiven" Teil

des qualitativen Paradigmas nirgends im Werk hinweist. An späterer Stelle heißt es, Objek-

tivität werde im qualitativen Paradigma zwar angestrebt (S. 165f), jedoch könne nicht genau

gesagt werden, wie sie zu erreichen ist - dafür gäbe es keine Regeln, sondern dies hinge von der

individuellen Einfühlunsggabe des Sozialforschers ab (S. 97). Zugespitzt soll die "einfühlend-

teilnehmende" Methode auf geheimnisvolle Weise also das schaffen, was den herkömmlichen

wissenschaftlichen Methoden grundsätzlich verwehrt ist: nämlich theorieneutrale Beobachtung.

Zusammengefaßt läßt Lamneks Buch, dem Inhalt nach, im Grunde vorwiegend Konver-

genzen der beiden Methodenparadigmen erkennen, in den Zielsetzungen sowie in grund-

legenden Methodenkernen, und dort, wo echte Unterschiede vorliegen, liegt echte methodische

Komplementarität vor, welche diverse Kooperatzionsmöglichkeiten eröffnet, etwa in der bei

Barton und Lazersfeld angedeuteten Weise. Satt diese Konvergenzen und Komplementaritäten

hervorzuheben, werden von Lamnek, der Aussage nach, Unterschiede ideologisch hochstilisiert

sowie, zum Zwecke einer besseren Abgrenzung, sogar künstlich eingeführt, wobei innere

Widersprüche unvermeidlich sind, welche dem Autor scheinbar nicht auffallen. Die Spitze findet

diese ideologische Polarisierung in der Tabelle auf S. 228, nachdem Musters eines "Yin-Yang-

Schemas" a lá Capra. Dementsprechend äußerst sich Lamnek auch skeptisch zur Frage metho-

dischen Kooperationsmöglichkeiten beider Paradigmen: denn die Regeln der Kooperation seien

"durch niemanden vorgeschrieben", sondern eklektisch-willkürlich, weil es keine gemeinsamen

methodischen Kriterien gäbe (S. 237-9). Wenn man sich weigert, Gemeinsamkeiten anzuer-

kennen, so muß man freilich zu diesem Schluß kommen. Gemäß unserer früheren Klassifikation

haben wir hier also ein Beispiel von starker Konvergenz und Komplementarität in kognitiver

Hinsicht bei gleichzeitiger destruktiver und ideologischer Konkurrenz in faktisch-wissenschafts-

politischer Hinsicht.

Nicht überall dominiert destruktive Konkurrenz bei koexistierenden Superparadigmen in den

Humanwissenschaften. Daß die hermeneutische Methode der Interpretation mit der holistischen

Methode der Überprüfung komplexer naturwissenschaftlicher Theorien im Grunde vieles

gemeinsam hat, wurde von einer Reihe von Autoren betont (vgl. z.B. Stegmüller 1979). So wie

in der Hermeneutik die prima facie Tatsachen, die Aussagen von Personen oder Texten, im

Grunde bereits interpretiert sind und durch gewisse Vortheorien (Alltagswissen) aus den sen-

sualistischen Rohdaten, den syntaktisch-uninterpretierten Zeichengestalten, erst gewonnen

werden müssen, so sind auch die prima facie Tatsachen der Physik, z. B. Positionen von Sternen

am Himmel, bereits interpretiert und durch Vortheorien (Meßtheorien) aus den sensualistischen

Rohdaten, den optischen Eindrücke im Fernrohr, gewonnen.

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In den Erziehungswissenschaften war die Kontroverse zwischen dem empirisch-analy-

tischen und dem hermeneutisch-humanistischem Superparadigma zumindest zeitweise versöhn-

licher. Neemann (1971, S. 223ff) beschreibt verschiedene Annäherungstendenzen, bezweifelt

am Ende allerdings die Sinnhaftigkeit eines Kompromisses (S. 227f). Vogel (1991) gibt einen

wesentlich konstruktiveren Vergleich der empirisch-analytischen und der "sytematischen"

Pädagogik, wobei mit letzterer die traditionelle, von Hermeneutik, Phänomenologie, Kant und

dem Humanismus beeinflußte Pädagogik gemeint ist. Seine These ist, daß die Ansätze dieser

beiden Paradigmen im Grunde komplementär sind, und daß als Folge davon zwar keine direkte

faktische Kooperation, jedoch eine Art gegenseitige Befruchtung eingetreten ist: jedes Para-

digma war genötigt, den ihm fehlenden und im anderen Paradigma verabsolutierten Aspekt in ir-

gendeiner Weise zu integrieren.

Zunächst unterscheiden sich beide Paradigmen im Subjektmodell: während die empirische

Pädagogik das menschliche Verhalten durch Gesetze erklären will, und somit implizit die Auf-

fassung des "manipulierbaren Zöglings" suggeriert (S. 21), betont die traditionelle humanisti-

sche Pädagogik das Eigenrecht des Zöglings, die Autonomie des Subjekts, und fordert deren

Entfaltung in ihren pädagogischen Thesen. Offenbar geht es hier um die Komplementarität

zwischen der Determiniertheit versus der Freiheit menschlichen Handelns, welche sich schon

dadurch manifestiert, daß sich im Theoriekern der empirisch-analytischen Pädagigik lediglich

deskriptiv-explanative Aussagen finden, während der Theoriekern der traditionellen Pädagogik

auch (aber nicht nur) normative Forderungen enthält (z.B., der Zögling soll frei sein, usw.).

Eine ähnlich gelagerte Komplementarität wird im Beitrag von Herber zum Vergleich der psycho-

logisch-explanativen und der pädagogisch-teleologischen Interessenstheorie einer eingehenden

Analyse unterzogen.

Wie Vogel ausführt, befruchteten sich die Paradigmen wechselseitig. Zum einen hatte die

traditionelle "systematische" Pädagogik ein Empirieproblem, mußte sie doch zeigen, wie ihre

Forderungen empirisch verwirklichbar seien, woraus sich ein Bedarf nach empirischem Wissen

ergab, welches sie "einzuholen" suchte (1991, S. 21). Zum anderen mußte auch das empirisch-

analytische Paradigma der Forderung nach Freiheit, d.h. selbstbestimmter Denk- und Hand-

lungsfähigkeit, gerecht werden, und ging daher recht bald vom restriktiv-behavioristischen

Ansatz ab und integrierte kognitive Subjektmodelle in den eigenen Ansatz, welche selbstbe-

stimmtes Handlen zulassen (S. 22f). Vogel spricht hier von "komplementären" Problemdefi-

nitionen (S. 20), doch war diese "Integration des Komplementären", wie Vogel dann erläutert

(S. 25), nicht die Folge von faktischer Verständigung und Kooperation, sondern Resultat inter-

ner Theorieentwicklung.

Eine ähnlich gelagerte Kontroverse gibt es in der Geographie, in der Rivalität zwischen dem

Superparadigma der physiologischen Geographie und dem der Humangeographie, welche von

Weichhart (1993) eingehend beschrieben wird. Obwohl aus vielerlei sachlichen Gründen die Ko-

operation beider Paradigmen nicht nur möglich, sondern auch sinnvoll wäre, scheitert diese an

allzu engsichtigen Abgrenzungen der wissenschaftlichen Gemeinschaften. Eine analoge

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Situation skizziert Gabriel in seinem Beitrag anhand des Verhältnis der lebensweltphäno-

menologischen Handlungstheorie von Schütz und der rationalen Entscheidungstheorie (rational

choice theory). Man beachte, daß man es im letzteren Fällen, wie auch bei den oben erwähnten

Interessenstheorien im Beitrag von Herber, nicht mit "reinen" Superparadigmen, sondern mit

Koppelungen von jeweils einem Paradigma (der Interessenstheorie, Handlungstheorie) mit

einem Superparadigma (empirisch-analytisch, interpretativ/humanistisch) zu tun hat.

Für Arbeiten im Gesamtprojekt ergeben sich aus diesen Überlegungen folgende Fragen: In

welchem Ausmaß wirkt sich der - die meisten Nicht-Naturwissenschaften durchziehende -

Konflikt zwischen Superparadigmen destruktiv, und in welchem Ausmaß konstruktiv auf den

Wissenschaftsbetrieb aus? In welchem Ausmaß und in welcher Weise werden die bestehenden

Methodenkomplementaritäten in Form von faktischer Kooperation oder wenigstens wechsel-

seitigen Befruchtungen genutzt? Wie kann die interparadigmatische Analyse zur Förderung der

Kooperation und zur Überwindung ideologischer Barrieren beitragen?

10. Wechselseitige Befruchtung und Come-Backs von Paradigmen

Am Beispiel der Superparadigmen der Erziehungswissenschaften haben wir die Möglichkeit

der wechselseitigen Befruchtung von koexistierenden und rivalisierenden Paradigmen gesehen.

Ein weiterer Fall dieser Art wird von Gholson und Barker (1985) am Beispiel pschologischer

Lerntheorien beschrieben. Ohne hier auf Einzelheiten einzugehen, sei nur das wesentliche skiz-

ziert. Die Rivalität zwischen dem behavioristischen und dem kognitiven Lernparadigma begann

in den späten 20ern. Es gab daraufhin einige Herausforderungen für das behavioristische Pro-

gramm, wie Lashley's Entdeckung von systematischen Response-Mustern bei Ratten, noch be-

vor der Verstärungsreiz eingeführt wird (1929), oder das Phänomen des Übertragungslernen,

worin auch dem ursprünglichen Stimulus ähnliche Stimuli die ankonditionierte Reaktion auslösen

(Gholson/Barker, 1985, S. 759). Obwohl diese beiden Phänomene zunächst durch das kognitive

Lernmodell besser erklärt werden konnten, gelang es den Vertretern des behavioristischen

Ansatzes, ihre Theorie so zu bereichern (im ersten Fall durch die Erklärng von "zufälligen

Nebenprodukten" vergangener Konditionierungsgeschichte, im zweiten Fall durch die Ein-

führung einer Generalisierungskomponente), daß ihr verbesserter Ansatz diese Phänomene nun

sogar wesentlich besser erklären konnte als der kognitive Ansatz (welcher damals primär in

qualitativer Form, z.B. der Gestalttheorie des Lernens, entwickelt war). So lernte das beha-

vioristische Paradigma vom kognitiven, überholte es, und zwischen 1930 und 1950 trat das kog-

nitive Paradigma in den Hintergrund. Ein Come-Back erlebte es aber in den 50iger Jahren, als

bei Experimenten mit Affen (Harlow) und Menschen (Rock, Estes) Phänomene beobachtet

wurden, die dem behavioristischen Modell direkt zu widersprechen schienen (Gholson/Barker

1985, S. 760f). Harlow beobachtete bei Affen, daß nach erfolgreicher Erlernung eines bestimm-

ten Problems durch Konditionierung auch ein anderes beherrscht wurde, ohne daß Kondi-

tionierung dazu nötig gewesen wäre. Rock stellte bei College-Studenten einen stufenförmigen

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alles-oder-nichts-Verlauf des Lernerfolges fest - "hat man es einmal verstanden, versteht man

es immer". Dies veranlaßte diverse Anhänger des behavioristischen Paradigmas, zu Kogniti-

visten zu werden. Die behavioristischen Ansätze wurden zwar weiterentwicklet, in Gestalt der

immer komplizierter werdenden mathematischen Lerntheorie, welche jedoch im Grunde genom-

men -- bei der Verwendung von Markow-Modellen, wo Umweltreaktionen sich nicht sofort auf

das Verhalten auswirken, sondern intern eine gewisse Zeit gespeichert und gesammelt werden

-- ebenfalls interne kognitive Parameter annahm und dadurch in das kognitive Paradigma

"hineinkonvergierte", bzw. dieses in "modernisierter", nämlich mathematisierter Gestalt,

wiederauferstehen ließ (Gholson/Barker 1985, S. 761, 764).

Auch innerhalb des kognitiven Lernparadigmas gab es analoge Entwicklungen. Z.B. gab es

eine facettenreiche Kontroverse zwischen der Piagetschen Auffassung, wonach sich die kind-

liche Intelligenz in Form von plötzlich auftretenden abstrakten kognitiver Kompetenzen

entwickelt, und einer kontroversen Auffassung, wonach kindliche Intelligenz auf inhaltsgebun-

denen Kompetenzen basiert, welche erst nach und nach auf andere Objektbereiche generalisiert

werden (vgl. hierzu Schurz 1985, 1986). Während am Anfang das Piagetsche Paradigma domi-

nierte, setzte sich nach und nach die inhaltsgebundene Theorie durch, doch erst nachdem sie

wesentliche Kernelemente von Piaget übernommen hatte.

Eine interessantes Beipsiel aus der Geographie geben Arnreiter und Weichhart in ihrem

Beitrag. Um 1969 gab es in der deutschsprachigen Geographie eine Wende, worin die ehe dem

dominierende Landschaftsgeographie, welche eher ideographisch-einfühlend orientiert war und

die Erfassung der individuellen Besonderheiten von Landschaften ins Zentrum rückte, durch die

raumananalytische Geographie abgelöst, welche sich stattdessen der quantitativ-statistische

Analyse von allgemeinen geographischen Raumgesetzlichkeiten verschrieb. Daß es sich nur

scheinbar um eine "Kuhnsche Paradigmenwende" handelte, zeigt die Tatsache, daß das ideo-

graphisch-interpretative Paradigma Mitte der 70er Jahre wieder ein Come-Back erlebte, in Form

der humanistischen Geographie, welche in Absetzung vom analytisch-positivistischem Quan-

tifizieren wieder lebensweltliche Sinn- und Deutungsfragen ins Zentrum setzte. Die Paradigmen

haben sich nicht abgelöst, sondern lediglich in einer gewissen Pendelbewegung fluktuiert.

Wechselseitige Befruchtungen und Come-Backs von Paradigmen zu studieren wird eine

weitere wichtige Aufgabe im Rahmen des Gesamtprojekts sein.

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11. Ursachen und methodologische Auswirkungen des Phänomens der Koexistenz rivali-

sierender Paradigmen.

Über Ursachen und methodologische Auswirkungen haben wir in den bisherigen Abschnitten

schon so viel Material zusammengetragen, daß wir uns hier auf eine knappe Zusammenfassung

beschränken können.

Die Ursachen für die lang andauernde Koexistenz rivalisierender Paradigen sind grund-

sätzlich von zweierlei Art. Erstens von rational-kognitiver Art. Daß auf lange Sicht kein über-

greifendes, einheitliches Paradigma gefunden werden kann, sondern die Kooperation von zwei

oder mehreren Paradigmen, die jeweils einen Aspekt der Sache beleuchten, das Bestmöglichste

ist, kann schlicht mit gewissen Grenzen menschlichen Erkentnisvermögens zu tun haben (s.

hierzu auch Schurz 1992). Eine solche Grenze liegt im Bereich der Mikrophysik, und wurde bei

der Diskussion des Bohrschen Komplementaritätsprinzips beschrieben. Eine weitere solche

Grenze liegt in der Komplexität gewisser Phänomene. Komplexität ist, gemäß Feinberg (1969),

die zentrale Herausforderung "post-moderner" Wissenschaft. Ein Lehrstück hierzu ist die mo-

derne Chaostheorie. Es mag sein, daß aus diesem Grund komplexe Phänomene in den Human-

oder Sozialwissenschaften dem menschlichen Erkennntisvermögen ein multiparadigmatisches

Vorgehen aufnötigen, etwa die Unumgänglichkeit, mikrologische mit makrologischen Para-

digmen zu kombinieren, weil die ab-initio-Prognostizierbarkeit komplexer Systeme aufgrund des

Auftretens chaotischer Phänomene grundsätzlich beschränkt ist. Eine dritte Grenze ergibt sich,

wie in Schurz (1992) ausgeführt wird, aus dem Phänomen der Selbstreflexivität, welches -

obzwar in gewagter Analogie - nicht nur der Grund der bekannten Erkenntnisgrenzen in der

Logik ist (Gödelscher Unvollständigkeitssatz), sondern letztlich auch der Grund der Komple-

mentarität des Selbstbildes des Menschen als "naturdeterminiert" (Außenschau) versus "frei"

(Innenschau). Diese knappen Hinweise können Anregungen geben für weitere diesbezügliche

Überlegungen im Rahmen des Gesamtprojektes.

Zweitens können Ursachen für die Koexistenz von Paradigmen natürlich auch faktischer,

wissenschaftspolitischer Art sein: obwohl Konvergenz vorhanden ist, werden Kontroversen und

wechselseitige Abgrenzungen gehütet und gepflegt. Auch dafür haben wir viele Beispiele

kennengelernt. Schließlich könnten beide Arten von Ursachen auch zusammenspielen: die erste

erklärt, warum die Paradigmenkontroverse immer wieder von neuem entsteht, während die

zweite erklärt, warum die Kontroverse statt in kooperativer Art in ideologisch-abgrenzender Art

ausgefochten wird. Auch hierzu sind weitere Überlegungen von großer Bedeutung.

Wenn wir abschließend nach dem methodologischen Konsequenzen das Phänomens fragen,

so liegt eins natürlich auf der Hand: die Aufforderung, nach kooperativen Brückenschlägen

zwischen rivalisierenden Paradigmen zu suchen, denn dadurch - und in vielen Disziplinen

vielleicht nur dadurch - können weitere Erkenntnisfortschritte erzielbar sein. Dies haben jeden-

falls viele unserer Beispiele gezeigt. Die wissenschaftspraktischen Konsequenzen, die sich

daraus ergeben (vgl. Abschnitte 4 und 5: Überwindung sprachlicher Barrieren, rationale

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Vergleiche rivalisierender Paradigmen, Aufstellung von Kooperationsprinzipien, das alles unter

Einsatz adäquater organisatorischer Mitteln), sind vom Prinzip her klar und sollen hier nicht

extra erläutert werden; diese aber von wissenschaftshistorischer, -soziologischer und -politi-

scher Seite einmal detailliert zu analysieren, wäre eine weitere wichtige Aufgabe.

Was die grundsätzlichen Implikationen für das Selbstverständnis der Wissenschaft betrifft,

so rufen wir uns hier noch einmal die Ausführungen des ersten Abschnitts in Erinnerung. Para-

digmenpluralismus als Methode ist in jedem Fall eine methodologische Devise kritisch-

rationaler Wisenschaft, ob mit ohne ohne dem Phänomen koexistenter Paradigmen. Paradigmen-

pluralismus als Ziel ist jedoch eine problematische normative Annahme, welche aus dem hier

untersuchten Phänomen nicht zwingend folgt. Nichts spricht dagegen, dennoch am - richtig ver-

standenen - Vereinheitlichungsideal festzuhalten, am Streben nach einem einheitlichen Para-

digma - doch leider rückt das Ziel dieses Strebens in weite Ferne und die Suche nach gezielten

Kooperationssystemen zwischen komplementären Paradigmen erweist sich als das Beste, was

auf diesem Weg erreicht werden kann. So kann man es jedenfalls für empirische Wissen-

schaftsbereiche sehen. Gehen wir jedoch in Disziplinen mit normativem Anteil, wo eine Redu-

ktion auf ein Paradigma eine Reduktion der Pluralität von Werten implizieren würde, und damit

eine Reduktion menschlicher, gesellschaftlich-kultureller Freiheit, so mag es hier auch grund-

sätzliche Argumente dafür geben, Paradigmenpluralismus als genuines Ziel (statt als bloßes

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