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NZZ Global Risk€¦ · 21/11/2019  · Die Zahl der Flüchtlinge dürfte bis Ende des Jahres auf...

Date post: 10-Jul-2020
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NZZ Global Risk: Südamerika in Aufruhr: Flächenbrand statt Wirtschaftsboom Szenario 1 Die Brandherde in den Anden und am Pazifik weiten sich aus Szenario 2 In Brasilien und Argentinien spielen die Regierungen mit dem populistischen Feuer Szenario 3 Brasiliens Wirtschaft erholt sich überraschend schnell – und wird zum Stabilitätsanker Südamerikas Alexander Busch, NZZ-Korrespondent in Salvador/Bahia 21. November 2019 Wahrscheinlichkeit Wahrscheinlichkeit Wahrscheinlichkeit
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NZZ Global Risk:

Südamerika in Aufruhr:

Flächenbrand statt Wirtschaftsboom

Szenario 1

Die Brandherde in den Anden und am Pazifik weiten sich aus

Szenario 2

In Brasilien und Argentinien spielen die Regierungen mit dem populistischen Feuer

Szenario 3

Brasiliens Wirtschaft erholt sich überraschend schnell – und wird zum Stabilitätsanker Südamerikas

Alexander Busch, NZZ-Korrespondent in Salvador/Bahia21. November 2019

Wahrscheinlichkeit

Wahrscheinlichkeit

Wahrscheinlichkeit

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Für eilige Leserinnen und Leser

In wenigen Monaten hat sich die politische Landkarte Südamerikas verändert. In Ecuador, Bolivien und Chile ist die Bevölkerung auf die Barrikaden gegangen und hat einen Staatspräsidenten aus dem Amt gejagt.

Auch in anderen Staaten – wie Brasilien, Argentinien, aber auch Peru und Uruguay – stehen die Gesellschaften unter Hochspannung. Dort finden die abrupten politischen Umschwünge bis jetzt jedoch demokratisch statt.

Die Auslöser für die Spannungen sind unterschiedlich, die Gründe jedoch ähnlich: das seit Jahren schwache Wachstum, die enttäuschten Hoffnungen der Mittelschicht, die hohen Einkommensunterschiede, die unzureichenden öffentlichen Dienstleistungen und die weiterhin hohe Korruption.

Diese strukturellen Ursachen werden so bald nicht beseitigt sein. Es gibt keinen Konsens darüber, was geändert werden soll. Sowohl marktwirtschaftliche Reformen als auch linke Verteilungspolitik mit Staatsdirigismus haben versagt.

Das Risiko steigt, dass politische Aussenseiter an die Macht kommen, weil sie über soziale Netzwerke politische Mehrheiten aufbauen können. Auch könnten Regierungen versuchen, autoritär mithilfe des Militärs und von Notstandsgesetzen an der Macht zu bleiben.

Die Gefahr eines Flächenbrandes in Südamerika besteht derzeit vor allem auf der Pazifikseite. Denn auch in Peru und Kolumbien sind ähnliche Gründe für Massenproteste vorhanden wie in den derzeitigen Krisenländern.

Einen Stabilitätsanker könnte Brasilien für ganz Südamerika wegen seiner Grösse und wirtschaftlichen Bedeutung bilden. Voraussetzung wäre jedoch, dass Brasiliens Wirtschaft bald kräftig wächst. Dann könnte das auch in den Nachbarländern für Entspannung sorgen. Doch ein Wirtschaftsboom ist in Brasilien in den nächsten zwei Jahren unwahrscheinlich.

Da vielmehr Brasiliens rechtspopulistische Regierung weiterhin im Wahlkampfmodus agiert und die Gesellschaft wie die Politik spaltet, drohen auch in Brasilien bei schlechten Wirtschaftszahlen latent Proteste, die sich zu Massendemonstrationen ausweiten könnten.

Es scheint, als müsste sich Südamerika auf Proteste und Demonstrationen als den neuen politischen Status quo einstellen.

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Ausgangslage

Noch zu Jahresbeginn sah es so aus, als würde Südame-rika nach Jahren der wirtschaftlichen Stagnation und der politischen Lähmung endlich auf eine geordnete Bahn kommen. In Brasilien, Argentinien, Chile und Kolumbien, also in den vier grössten Ökonomien des Kontinents, waren marktwirtschaftlich orientierte Re-gierungen an der Macht. Alles sah danach aus, dass der mehrmals verschobene Wachstumszyklus Südame-rikas endlich beginnen würde. Einige Investmentban-ken prognostizierten gar einen Börsenboom zwischen Panama und Patagonien.

Doch es kam anders. Südamerika ist nicht mehr eine Wachstumshoffnung für die globalen Finanzmärkte, sondern ein Risikofaktor für die Weltwirtschaft. Der Unterschied in der Stimmung gegenüber jener zu Jah-resbeginn könnte grösser kaum sein.

Umschwung in Argentinien

Die erste Überraschung bot Argentinien, als die Wähler bei den landesweiten Vorwahlen im August der Regierung des liberal-konservativen Präsidenten Mauricio Macri eine Absage erteilten – und damit auch seinen Reformkurs ablehnten. Noch vor zwei Jahren rissen sich private Anleger weltweit um eine 100-Jahre-Anleihe Argentiniens, weil die Zukunft des Landes rosig aussah.

Inzwischen wurde nach den Wahlen Alberto Fernández als künftiger Präsident bestätigt. Er ist Peronist, der eine staatsdirigistische Wirtschaftspolitik mit Zoll-grenzen zum Schutz der heimischen Wirtschaft und kontrolliertem Devisenhandel umsetzen wird. Argen-tinien wird bald wieder umschulden müssen, weil es seine Schulden nicht bedienen kann.

Aber auch der liberale Macri ist mit seiner Reformpo-litik gescheitert. Die Wirtschaft steckt in Hochinfla-tion und Rezession, der Peso hat in diesem Jahr ein

Drittel an Wert gegenüber dem Dollar verloren. Ein erneuter Zahlungsausfall auf die Aussenschuld droht, wie letztmals im Jahr 2001. Doch diesmal könnte es auch dem Internationalen Währungsfonds (IMF), dem Argentinien 56 Mrd. $ schuldet, Probleme bringen. Einen so grossen Kredit hat der Fonds noch nie einem Land gegeben.

Es folgten Ecuador, Peru und Bolivien

Ab Oktober ging es schliesslich Schlag auf Schlag: In Ecuador entfachte eine Erhöhung der Benzinprei-se die Wut der Menschen. Die Regierung von Lenín Moreno war zeitweise gezwungen, ihren Amtssitz aus der Hauptstadt an die Küste zu verlegen. Inzwischen haben Vertreter der indigenen Protestbewegungen und die Regierung einen Dialog aufgenommen. Die Lage hat sich etwas beruhigt.

In Peru kam es zum Machtkampf zwischen Präsident und Parlament. Martín Vizcarra löste den Kongress auf, um Neuwahlen abzuhalten. Das Parlament versuchte wiederum, den Präsidenten abzusetzen. Dann trat die Interimspräsidentin zurück. Im Januar soll es Neuwahlen geben.

Im Nachbarland Bolivien scheiterte Präsident Evo Morales beim Versuch, zum vierten Mal in Folge das Regierungsamt zu bekleiden, obwohl die Verfassung nur eine Wiederwahl zulässt. Die Bolivianer haben Morales vor drei Jahren in einem Plebiszit deutlich gemacht, dass sie ihn nicht mehr als Präsidenten wollen. Vor drei Wochen erklärte sich der 60-Jährige zum Wahlsieger und provozierte damit gewaltsame Proteste. Als schliesslich die Organisation Amerika-nischer Staaten die Wahlen für gefälscht erklärte und Polizei wie Militär sich weigerten, auf Demonstran-ten zu schiessen, rettete sich Morales ins Asyl nach Mexiko. Er sei Opfer eines Putsches, erklärte er.

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Unruhen in Chile

Am überraschendsten war der Ausbruch landesweiter Proteste und Demonstrationen in Chile, dem ökonomi-schen Musterland der Region. Angesichts der Unruhen im umliegenden Südamerika hatte Staatspräsident Sebastián Piñera der «Financial Times» noch kurz davor erklärt, sein Land sei eine «Oase der Stabilität» in Lateinamerika.

Doch schon ein paar Tage später führte eine minimale Erhöhung der Metrofahrkartenpreise zu den gewalt-samsten Demonstrationen seit Ende der Pinochet-Dik-tatur vor dreissig Jahren. Mehr als zwanzig Menschen sind ums Leben gekommen. U-Bahn-Stationen wurden verwüstet, Supermärkte im ganzen Land geplündert. Die Regierung verhängte eine Ausgehsperre und schickte das Militär auf die Strasse.

Nach einigen Tagen ruderte Piñera zurück. Er kündigte Erhöhungen bei Renten, beim Mindestlohn und bei der Gesundheitsvorsorge an. Doch das minderte die Wut der Menschen nicht. Piñera sagte später das Asi-en-Pazifik-Wirtschaftsforum (Apec) Mitte November und den Weltklimagipfel Anfang Dezember ab. Nun soll ein Plebiszit zur Frage stattfinden, ob die Verfas-sung neu ausgearbeitet werden soll. Sie stammt noch aus der Zeit von Pinochet. Ob die Chilenen die Geduld haben, so lange zu warten, bis sich etwas ändert, wird sich zeigen.

Schwaches Wachstum

Angesichts der neuen Entwicklungen in Südamerika übersieht man fast die anhaltende humanitäre Tragödie in Venezuela: Der Diktator Nicolás Maduro hat das Land mithilfe Chinas, Russlands und des kubanischen Gemeindienstes fest im Griff. Die Zahl der Flüchtlinge dürfte bis Ende des Jahres auf mehr als 5 Mio. ange-

schwollen sein. Das ist ein Sechstel der Bevölkerung, das vor Hunger, Krankheiten und Repression aus dem erdölreichsten Land der Erde geflohen ist.

Die Auslöser für die Spannungen in Südamerika sind unterschiedlich, die Gründe jedoch ähnlich.

Das schwache Wachstum frustriert die Menschen. Bereits zweimal hat der IMF seine Wachstumsprogno-sen heuer für Lateinamerika heruntergeschraubt. Nur noch 0,2% Wachstum erwartet der Fonds aus Washing-ton für dieses Jahr, weit hinter dem globalen Durch-schnitt von 3%. Doch das war noch vor den Protesten in Chile, Bolivien und Ecuador; die Wirtschaft dürfte seither noch mehr gelitten haben. Unter den Regionen weltweit bildet Lateinamerika das Schlusslicht. Der Fonds rechnet damit, dass der Kontinent auch die nächsten fünf Jahre weniger als der Durchschnitt der global aufstrebenden Länder wachsen wird.

Der Grund ist einerseits die Rohstoffabhängigkeit. Nach der Jahrtausendwende erlebte Südamerika einen Superzyklus bei den Rohstoffen. Die Exporteinnah-men für Kupfer, Soja, Eisenerz und Erdöl sprudelten. Doch spätestens seit 2013 ist dieser Boom an den Rohstoffmärkten vorbei. Die Preise für Agrargüter und für industrielle Rohstoffe sind gefallen, die Nachfrage schrumpft. Das ist einerseits Folge des Handelsstreits zwischen den USA und China, der sich weit länger hinzieht als erwartet.

Andererseits drücken die schwächeren Aussichten für die Konjunktur in der Weltwirtschaft auf die Rohstoff-preise. Das ist fatal für die meisten Länder Südameri-kas, die Rohstoffanteile bei den Exporten von bis zu 90% haben. Dazu kommt, dass die Industrien zwischen Panama und Patagonien nach Jahren der Abschottung kaum noch wettbewerbsfähig sind.

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Weniger zu verteilen

Das stagnierende Wachstum führt dazu, dass die strukturellen Mängel der Ökonomien immer mehr zum Vorschein kommen. Jetzt rächt sich, dass in den Boomzeiten zu wenig in Krankenhäuser, Universitäten und Schulen, Infrastruktur oder öffentliche Sicherheit investiert wurde. Das Geld wurde konsumiert oder ver-sickerte in dunklen Korruptionskanälen.

Die Gesellschaften sind obszön ungerecht: Die Ein-kommenskonzentration hat in allen Staaten mit dem Abschwung wieder zugenommen: 1% der Chilenen verfügt über 30% der Einkommen, in Brasilien ist das kaum anders. Nach dem Ranking der World In-equality Database (WID) sind weltweit nur in Katar die Reichen noch reicher. Die Aufstiegschancen der Menschen dagegen haben sich verschlechtert. Nur im informellen Sektor nehmen in der Region die Jo-bangebote noch zu. An der öffentlichen Bildung wird gespart, private Universitäten und Schulen sind für die meisten Menschen unbezahlbar. Das Gleiche gilt für das Gesundheitssystem. Im Boom der 2000er Jahre leisteten sich die Regierungen Verteilungsprogramme für die Armen. Das geht nun nicht mehr so einfach wie zuvor, ohne die Privilegien der Wohlhabenden zu bedrohen. Es gibt einfach weniger zu verteilen.

Zudem droht der Kampf gegen die Korruption, den die Justiz in mehreren Staaten aufgenommen hat, zu verebben, kaum dass er richtig begonnen hat. Die politischen und wirtschaftlichen Eliten halten zusammen und bremsen die Antikorruptionskampag-nen zunehmend aus.

Die Frustration ist jetzt besonders gross bei eben erst aufgestiegenen Armen – aber auch die traditi-onelle Mittelschicht Südamerikas fürchtet sich vor dem Abstieg. Und alle gehen sie auf die Strasse. Es droht eine verhängnisvolle Spirale: Das schwächere Wirtschaftswachstum verstärkt politische und soziale Unsicherheit. Das wiederum schlägt zurück auf das Wachstum, was die Wut der Menschen steigert.

Quellen: Statista, Bertelsmann Stiftung

Auf dem Weg zu Demokratie und MarktwirtschaftBertelsmann-Transformationsindex 2018, Ranking der südamerikanischen Länder

NZZ-Infografik/pm.

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Venezuela

Ecuador

Paraguay

Bolivien

Kolumbien

Peru

Argentinien

Brasilien

Chile

Uruguay

Der Entwicklungsstand eines Landes auf dem Weg zu Demokratie und Marktwirtschaft wird mit dem Statusindexwert abgebildet. 8,50 bis 10 Punkte: weit fortgeschritten; 7,00 bis 8,49 Punkte: fortgeschritten; 5,50 bis 6,99 Punkte: eingeschränkt; 4,00 bis 5,49 Punkte: stark eingeschränkt; 0 bis 3,99 Punkte: gescheitert oder nicht vorhanden.

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Die Voraussetzungen für Massenproteste sind in fast allen Staaten im Westen Südamerikas gegeben.

Ebenfalls gibt es dort eine Tradition, das Militär einzusetzen, um die Ordnung wiederherzustellen.

Die Staaten sind jedoch untereinander zu wenig integriert, als dass von ihnen wechselseitig eine

Ansteckungsgefahr ausginge.

Die Ökonomien stehen solide da und könnten sich bei einer Normalisierung schnell erholen.

Szenario 1

Die Brandherde in den Anden und am Pazifik weiten sich aus

Wahrscheinlichkeit

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Die Staaten zwischen Anden und Pazifik im Westen Südamerikas gleichen sich in vielerlei Hinsicht: Das gilt für die nun kriselnden Staaten wie Bolivien, Chile und Ecuador genauso wie für Peru und Kolumbien. Sie sind stark exportorientiert nach Asien. Dorthin liefern sie vor allem Rohstoffe. Chinas Nachfrage ist entscheidend für das Wachstum dieser Ökonomien. Deswegen konnten die Staaten auch in den letzten 15 Jahren ziemlich kontinuierlich wachsen, als Zulieferer für Chinas Urbanisierung und wirtschaftliche Ent-wicklung.

Geschwächte Eliten

Gleichzeitig sind einige dieser Gesellschaften nicht nur entlang der üblichen Einkommensgegensätze, sondern auch noch ethnisch gespalten. In Peru, Bolivien, Ecuador gibt es einerseits die wohlhabende-re Minderheit, die ihre Wurzeln meist auf die Koloni-satoren zurückverfolgt und die wirtschaftliche Macht innehat. Auf der anderen Seite steht die arme, indigene Mehrheit der Bevölkerung, die jedoch zunehmend po-litischen Einfluss gewinnt. Morales in Bolivien, selber ein indigener Gewerkschafter, gelang es als erstem Präsidenten seit vielen Jahren, über seine fast 14 Regierungsjahre hinweg ein Gleichgewicht im Land herzustellen, ein Erfolg, den er jedoch jetzt mit seiner Machtversessenheit aufs Spiel gesetzt hat.

Vor allem im seit langem instabilen Peru besteht das Risiko, dass die Lage ausser Kontrolle geraten könnte. In Peru und teilweise Kolumbien sind die schweren Korruptionsverwicklungen des brasilianischen Bau-konzerns Odebrecht in Südamerika zwar mit am

weitesten aufgedeckt worden. Doch das hat zur Folge, dass fast die gesamte traditionelle Politikerelite der einzelnen Länder wegen Korruptionsverstrickungen ausgeschaltet oder geschwächt ist. Das Ansehen der Regierungen hat stark gelitten, wie überall auf dem Kontinent.

In Kolumbien steht die Regierung ebenfalls unter Druck: Das liegt an den vielen Flüchtlingen aus Venezuela, an der wieder aktiven Guerilla sowie dem rasant ausgeweiteten Coca-Anbau und der Koka-in-Produktion. Auch hier könnte sich Unmut in der Bevölkerung entladen.

Entscheidend für die Region ist, ob die derzeit von schweren Unruhen betroffenen Länder Chile, Bolivien

Ecuador Bolivien Peru Global

Quellen: Statista, IMF

Rückgang der WirtschaftsdynamikWachstum des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP), in %

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und Ecuador bald wieder zur Ruhe kommen. Das erscheint derzeit eher unwahrscheinlich. Die im ersten Kapitel beschriebene Frustration sitzt zu tief, die Wut hat sich zu lange aufgestaut, als dass sich die Demons-tranten mit den etablierten Parteien und Politikern an einen Tisch setzen wollten für Verhandlungen oder zur Kompromissfindung.

Geringe Ansteckungsgefahr

Das Risiko steigt, dass politische Aussenseiter an die Macht kommen, weil sie über die sozialen Netzwerke politische Mehrheiten aufbauen können. So, wie das der zuvor politisch unbedeutende Ex-Hauptmann Jair Bolsonaro in Brasilien vorgemacht hat.

Ausserdem könnten die Auseinandersetzungen zunehmend autoritär ausgetragen werden. In den An-den-Pazifik-Staaten gibt es die Tradition, das Militär einzusetzen «zur Sicherung der öffentlichen Ordnung», was sich oftmals gleichsetzen lässt mit «zur Sicherung der Interessen der Elite». Das gilt besonders für Chile oder Bolivien. Derzeit erscheint kein Putsch der Militärs wahrscheinlich. Es könnte aber gut sein, dass die Regierungen das Militär rufen, wenn die Demons-trationen immer gewalttätiger werden. In allen Staaten am Pazifik ist das Militär zudem gut ausgerüstet, also logistisch vorbereitet auf einen solchen Einsatz.

Die Ansteckungsgefahr zwischen den Ländern erscheint jedoch eher gering – trotz den vielen Ge-meinsamkeiten: Obwohl die Pazifikanrainerstaaten in Südamerika schon seit 2012 in der Pazifikallianz vereint sind, sind sie politisch, gesellschaftlich und in

Bezug auf die Infrastruktur weiterhin wenig integriert. Die Länder haben untereinander kaum Lieferketten. Ausserdem spielen Ecuador und Bolivien ökonomisch bei einer risikobehafteten Entwicklung in Südamerika kaum eine Rolle. Dafür sind ihre Volkswirtschaften zu klein.

Für eine Stabilisierung spricht überdies, dass die Staaten wirtschaftlich solide dastehen: Die Inflation ist in Chile, Peru und Kolumbien niedrig, die Staatshaus-halte sind im Lot. Lediglich die Leistungsbilanzdefizite haben sich erhöht wegen der geringeren Exporte nach Fernost. Das bedeutet, dass diese Staaten Spielraum dabei haben, Sozialausgaben oder sonstige Vertei-lungsmassnahmen einzuleiten, um bei Protesten Dampf abzuführen. Auch könnten sich die Staaten schnell erholen, wenn sich die Kontrahenten einigen.

Chile Global

Quellen: Statista, IMF

Chiles bewegte WirtschaftWachstum des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP), in %

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In Argentinien ist der Handlungsspielraum der neuen Regierung minimal. Die enttäuschten Wähler könnten

bald zu Protesten aufrufen.

In Brasilien könnte die Regierung die politische Spaltung des Landes weiter vertiefen – und dabei die

wirtschaftliche Reformagenda vernachlässigen.

Verschärfte politische Spannungen in den beiden Ländern würden die Einschätzung Südamerikas als

Risikoregion unter den Investoren deutlich verstärken.

Szenario 2

In Brasilien und Argentinien spielen die Regierungen mit dem populistischen Feuer

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Auch in Argentinien und Brasilien ist das Risiko gross, dass die Menschen frustriert auf die Strasse gehen, weil die Regierungen ihnen mehr versprochen haben, als sie liefern.

Rückkehr der Peronisten

In Argentinien ist Präsident Macri mit seiner wirt-schaftsliberalen Politik gescheitert – sein Nachfolger Alberto Fernández soll es nun richten. Er steht vor einer kaum lösbaren Aufgabe: Er will das Haushalts-defizit weiter senken, die Renten und Sozialleistungen erhöhen und dann auch noch die Schulden tilgen. Doch dafür hat er keinen Handlungsspielraum. Das Land ist mit seiner hohen Verschuldung in Dollar und den geringen Exporteinnahmen nicht solvent. Argenti-niens Wirtschaft ist seit 2011 nicht gewachsen. Knapp 7% wird die Wirtschaft in der zweijährigen Rezession unter Macri geschrumpft sein.

So muss Fernández versuchen, sich mit dem IMF zu einigen. Argentinien schuldet der Institution in Washington 56 Mrd. $. Doch Verhandlungen mit Washington sind für Fernández politisch ein No-Go. Damit würde er sich bei seinen Wählern in kurzer Zeit diskreditieren. Doch wenn die Wirtschaft nicht bald nach Antritt der neuen Regierung im Dezember wieder wächst und Fernández sogar noch versuchen sollte, Sparmassnahmen durchzusetzen – dann wird es nicht lange dauern, bis seine politisch selbstbewuss-

ten Anhänger auf die Strasse gehen, um gegen ihn zu protestieren.

Dann stünde auch seine Vize bereit: Es ist die zweifache Ex-Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner. Sie könnte versuchen, mit der Jugendorganisation der Pe-ronisten und ihren Vertrauten erneut einen strammen linkspopulistischen Kurs in Staat und Wirtschaft durchzusetzen. Damit würde sich Argentinien aber wieder global isolieren. Als Financier bekäme China dann einen privilegierten Zugang dazu, die Infrastruk-tur des Landes auf seine Bedürfnisse ausgerichtet auszubauen. Von Argentinien wären dann aber keine stabilisierenden Impulse für Südamerika zu erwarten.

Brasilien Argentinien Global

Quellen: Statista, IMF

Argentinien und Brasilien hinken hinterherWachstum des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP), in %

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Isoliertes Brasilien

Auch in Brasilien sind die Aussichten auf eine baldige Erholung der Wirtschaft gering: Ein Wachstum von 1% erwarten die meisten Investmentbanken in diesem Jahr, 2% im nächsten Jahr. Zwar ist es der Regierung nun gelungen, die Rentenreform durch den Kongress zu bringen. Doch das Vertrauen der Brasilianer auf die wirtschaftliche Erholung hat seit dem Amtsantritt der Regierung von Präsident Jair Bolsonaro zum Jahresan-fang abgenommen.

Die Unternehmer halten sich mit den Investitionen zurück. Die Ausschreibungen für Infrastrukturprojek-te (Flughäfen, Strassen, Schienen, Kraftwerke, Öl- und Gasförderung) laufen zu langsam und zu zögerlich an, als dass sie bald einen Investitionsschub auslösen und damit die Konjunktur beleben könnten. Die Gefahr besteht, dass die bisherigen Reformanstrengungen umsonst sind, weil die Regierung des Rechtspopulis-ten dann kurzfristig auf nachfrageorientierte Massnah-men zurückgriffe.

In Brasilien stehen im Oktober nächsten Jahres Ge-meindewahlen an. Sie haben politisch eine Bedeutung vergleichbar mit den Zwischenwahlen in den Verei-nigten Staaten. Weitere Reformen sind deshalb in den nächsten Monaten unrealistisch. Zumal infolge der vorübergehenden Freilassung des Ex-Präsidenten Luiz

Inácio Lula da Silva eine weitere Zuspitzung der politi-schen Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern Bolsonaros und jenen Lulas zu erwarten ist. Das wird die politische Tagesordnung dominieren.

In Südamerika steht die Regierung Bolsonaro inzwi-schen isoliert da. Seit Amtsantritt im Januar hat die brasilianische Regierung die Nachbarländer entweder brüskiert oder ignoriert bei dem Versuch, sich Donald Trump in den USA als engster Alliierter anzudienen. Seit die sonst einzigen konservativen Regierungen in Argentinien und Chile abgewählt worden sind oder unter Druck stehen, gibt es nicht einmal mehr Partnerländer, die den wirtschaftsliberalen Kurs der Regierung Bolsonaro teilen. Den argentinischen Prä-sidenten hat der Bolsonaro-Clan schon vor Bolsonaros Antritt persönlich beleidigt. Eine Annäherung oder weitere Integrationsschritte mit Argentinien dürften unter diesen Regierungen schwierig werden.

Fazit:

Von Brasilien – aber auch Argentinien – sind politisch keine Stabilitätsanstrengungen in Südamerika zu erwarten. Ganz im Gegenteil: Auch in den beiden Ländern könnte es zu Protesten gegen die Regierungen kommen.

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Szenario 3

Brasiliens Wirtschaft erholt sich überraschend schnell – und wird zum Stabilitätsanker Südamerikas

Brasilien könnte wegen der Bedeutung seiner Wirtschaft in Südamerika stabilisierend wirken.

Doch dafür müsste das Land einen Wachstumsboom erleben. Das ist unwahrscheinlich.

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Was in Brasilien in den nächsten Monaten geschieht, ist ökonomisch bedeutsam für ganz Südamerika. Brasilien ist die mit Abstand grösste Ökonomie auf dem Kontinent. Um die Relationen zu verstehen: Die Wirtschaftsleistung (BIP) Brasiliens ist trotz der nun sechsjährigen Rezession und Stagnation immer noch um ein Viertel grösser als das BIP aller anderen Länder des Kontinents zusammen.

Eine anhaltende Stagnation in Brasilien belastet die ganze Region. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch: Erholt sich die Wirtschaft in Brasilien schneller als erwartet, sind die Konjunktureffekte recht bald in den Nachbarländern zu spüren. Das gilt vor allem für die Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur, in der Brasilien mit Argentinien, Paraguay und Uruguay verbunden ist.

In den letzten Wochen haben Banken, wie etwa die UBS, die Wachstumserwartungen für Brasilien 2020 auf 2,2% (von 1,7%) erhöht. Die historisch niedrigen Zinsen könnten die Investitionen in Brasilien schneller ansteigen lassen als bisher erwartet. Vor allem im Bausektor nehmen die Jobs zu. Auch hat China gerade beim Brics-Gipfel einen 100-Mrd.-$-Fonds aufgelegt für Investitionen in die brasilianische Infrastruktur. Der Kredit aus Peking könnte ebenfalls das Wachstum beschleunigen.

Vor allem Argentinien würde deutlich von einer Erholung in Brasilien profitieren: Die argentinische Autoindustrie ist stark abhängig von der Nachfrage im grossen Nachbarland. Zusammen mit den Zuliefer-ketten könnte Brasilien also durchaus kurzfristig die Stimmung von Argentiniens Wirtschaft aufhellen. Das würde den Druck auf die Regierung Fernández seitens der Gewerkschaften reduzieren. Argentiniens wirt-schaftliches Gewicht hat zwar deutlich verloren in den letzten Jahren. Es ist aber neben Kolumbien immer noch die Nummer zwei in Bezug auf die Wirtschafts-leistung in Südamerika.

Auch für Boliviens nächste Regierung wäre ein wachsendes Brasilien wichtig: Brasilien nimmt den Grossteil des Erdgases ab, das Bolivien produziert. Es ist eines der wichtigsten Exportgüter und damit eine der Finanzierungsquellen des bolivianischen Staates.

Dennoch ist von Brasilien kurzfristig kein stabilisie-render Effekt zu erwarten. Es brauchte schon eine fulminante Erholung in Brasilien, damit weitere Wachstumsimpulse in der gesamten Region ausgelöst würden. Danach sieht es im Moment nicht aus.

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Es ist noch völlig offen, wie China auf den sozialen Aufruhr in Südamerika reagieren wird. Denn gerade in den Ländern, die jetzt politisch unter Druck kommen, hat China massiv in Rohstoffvorkommen investiert; so in Peru (Kupfer, Aluminium), Ecuador (Kupfer) und Chile (Eisenerz,

Lithium). In Venezuela hat China schlechte Erfahrungen gemacht. Dort hat Peking Kredite gegen künftige Erdöllieferungen vergeben. Wird nun

China versuchen, über seine hohen Investitionen auch erstmals direkten politischen Einfluss in der Region auszuüben?

Unternehmen aus der Schweiz und Deutschland reagieren bis jetzt eher routinemässig auf die Unruhen in der Region. Man sollte nicht vergessen:

Ruhe und Stabilität waren in Südamerika langfristig gesehen eher die Ausnahme, abrupte Umschwünge in der Politik und der Konjunktur

dagegen die Regel. Dies sind die meisten Unternehmen gewohnt, die schon länger in Südamerika tätig sind.

Beruhigend auf die Proteste könnte sich auch der auf der Südhalbkugel nahende Sommer auswirken. Er könnte die Demonstrationsbereitschaft

der Menschen abmildern. Weihnachten ist in der familiär geprägten Region ein wichtiges Fest. Es könnte also sein, dass die Proteste – etwa in Chile – schon allein wegen der bevorstehenden warmen Jahreszeit,

der Feiertage und der sich anschliessenden Ferien an Vehemenz verlieren.

Zum Schluss: Drei Dinge, die Sie nicht

vergessen dürfen

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«NZZ Global Risk»: Das Weltgeschehen in Szenarien

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2000 km

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