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Ottoman and Habsburg Legacies in the Balkans · Syrmien (Srem) im ijekavischsprachigen Kroatien mit...

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Ottoman and Habsburg Legacies in the Balkans Language and Religion to the North and to the South of the Danube River Edited by Christian Voß SLCCEE STUDIES ON LANGUAGE AND CULTURE IN CENTRAL AND EASTERN EUROPE Verlag Otto Sagner
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Ottoman and Habsburg Legacies in the Balkans

Language and Religion to the North and to the South of the Danube River

Edited by Christian Voß

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STUDIES ON LANGUAGE AND CULTURE I N C E N T R A L A N D E A S T E R N E U R O P E

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Inhaltsverzeichnis

Christian Voß Einführung 7

The Ottoman Legacy

Markus Koller Von der „Osmanisierung“ zur „Entosmanisierung“ – der osmanische Charakter des Balkan 13

Milena Mari�-Vogel Language as a Mirror of War and Peace: The Case of Bosnia-Herzegovina 35

Christoph Giesel Sprachpolitik als Identitätspolitik am Beispiel der Einführung des Unterrichtsfaches „Bosnisch“ im serbischen Sandžak – eine kritische Analyse und Erörterung problematischer Aspekte bosniakischer Sprachpolitik 101

The Habsburg Legacy

Philipp Wasserscheidt Mehrsprachigkeit und Sprachwandel bei Ungarischsprechern im serbischen Banat 197

Marija Vu�kovi�Language and Religion among Bulgarian and Croatian Roman Catholics in the Serbian Banat 247

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Marija Ili�Those were all Serbian villages by the Danube: The Concept of Space in Collective Narratives of the Serbs in Hungary 265

Ivo Žani�Speak Croatian so as not to be understood by your fellow Croats: Croatian and Serbian linguistic identities from intelligibility to unintelligibility and back 291

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Einführung

Christian Voß

Der vorliegende Band enthält drei Beiträge zum ehemals osmanischen und vier Beiträge zum ehemals habsburgischen Südosteuropa und thematisiert das Ver-hältnis von Sprache, Religion und Ethnizität.

Im historischen Aufriss und in feldforschungsbasierten Studien wird deutlich, wie die legacy habsburgischer und osmanischer Vergesellschaftungs-prozesse in der Dialektik von Sprache und Religion bis heute nachwirkt und die Donau als Kulturgrenze zwischen dem Erbe der Habsburger und der Osmanen hervortritt. Legacy verstehen wir hier im Sinne von L. Carl Brown als struktur-geschichtliches Vermächtnis (vgl. den von ihm herausgegebenen Sammelband von 1996 „Imperial Legacy. The Ottoman Imprint on the Balkans and the Middle East“).

Das Ende beider Imperien ist letztlich durch den Import des Sprachnatio-nalismus in ethnisch stark durchmischte und national weitgehend indifferente Milieus besiegelt worden, in denen das neue Ideal überdialektaler Einsprachig-keit zugleich als Ausweis ethnischer und nationaler Gruppenzugehörigkeit gewertet wurde.

Habsburg vs. Osmanenreich

Was die Intensität und die Formen der Mehrsprachigkeit betrifft, so ist festzu-halten, dass auf dem Gebiet des Osmanischen Reichs der sog. Balkansprach-bund ausgeformt worden ist, in dem genetisch nicht eng verwandte Sprachen in ihrer Grammatik konvergiert sind und somit beispielsweise die bulgarische Morphosyntax der rumänischen und albanischen ähnlicher ist als der russischen oder serbischen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass die Balkansprachen fossilisierte learner varieties sind: als kontinuierlich falsch gesprochene Sprache des Anderen, in der Regel nur von Männern und vor allem zum Austausch auf dem Marktplatz. Dass diese balkanische Sprachkonvergenz im europäischen Rahmen singulär ist, liegt wohl an der fehlenden ethnischen Hierarchie in der Region – angesehen waren nur die Städter, die als Türken oder Griechen wahrgenommen wurden.

Im Habsburger Reich gab es hingegen sehr klare ethnische Hierarchien, die eine Prestigestufung der Sprachen mit sich brachten – dies ließ Mehr-sprachigkeit eigentlich nur als Diglossie zu. Würde ein Deutsch- oder Ungarischsprecher im 19. Jahrhundert jemals einen slowakischen Dialekt sprechen, selbst wenn er ihn beherrschte? Eine sog. downward-Akkommo-

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dation, d.h. eine Anpassung seitens des sozial Stärkeren, hat nicht statt-gefunden. Träger der Mehrsprachigkeit sind die assimilationisch orientierten Aufsteiger. Dieser Mechanismus ist in der transleithanischen Reichshälfte deutlich stärker gewesen – z.B. bei den magyarisierten Donauschwaben.

Wie gestaltet sich nun das Verhältnis von Sprache, Religion und Ethnizität? Im Habsburger Reich wurde Eigensprachlichkeit von Kleingruppen durch die Religion geschützt, während sie im Osmanischen Reich durch die Religion stark geschwächt wurde und allmählich verloren ging. Die katholische Kirche unterstützte frühe Verschriftlichungen ebenso wie die Pflege im Gottesdienst – dies gilt bis heute. Hier steht die alltagsweltliche Erfahrung der Religionen auf dem Dorf in Einklang mit dem importierten Modell des Sprachnationalismus.

Im ehemals osmanischen Raum ist die Vitalität von Kleinsprachen sehr gering, deren Sprecher sprachpolitische Vorstöße ablehnen: entweder aufgrund einer nationalen Überassimilation oder aber der Überzeugung, dass Religion ein genügend starkes Dissimilationssymbol darstellt, um die gewünschte ethnische Segregation sicherzustellen.

Um 1900 bildete die slawische Frage den Kern der Nationalitätenpolitik. Die Sprecher slawischer Sprachen – nämlich Tschechen, Slowaken, Polen, Ukrainer, Slowenen, Kroaten, Serben und bosnische Muslime – machten 46,3% der Gesamtbevölkerung des Habsburger Reichs aus, und dennoch wurde die Doppelmonarchie nach 1867 von Wien und Budapest regiert. Der verarmte polnische Landadel im Raum Krakau hatte gewiss nichts mit dem musli-mischen Großgrundbesitzer in Bosnien gemein, und dennoch waren es die na-tionalen Vordenker in Prag oder Zagreb, die eine gemeinsame slawische kulturelle Identität und somit auch politische Solidarität forderten, die sog. „slawische Wechselseitigkeit“.

Die zahlenmäßige Dominanz der Slawen war der Hebel, den der russisch dominierte Panslawismus ansetzen konnte, um die nationalen Sehnsüchte der Habsburg-Slawen anzustacheln. Habsburg war unter Zugzwang, und reagierte auf zweierlei Weise: Einerseits mit einem Projekt, das letztendlich in der Schublade blieb, nämlich der Idee, die Slawen zur dritten konstitutiven Gruppe im Reich zu machen. Für uns ist der zweite Aspekt von Bedeutung, der nach dem Prinzip „Teile und herrsche“ funktionierte: Vor allem in der ungarischen Reichshälfte wurde beispielsweise der slowakische oder kroatische Nationa-lismus bekämpft, auf der anderen Seite wurden kleinere Sprachgemeinschaften kulturell gefördert. Dies betrifft vor allem die sog. „ungarländischen Klein-sprachen“: das Burgenlandkroatische, das Russinische und das sog. Banat-bulgarische.

Die Geschichtswissenschaft hat in den letzten Jahrzehnten dazu beige-tragen, ein sehr viel differenzierteres und positiveres Bild der Osmanischen

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Herrschaft vom 14.-20. Jahrhundert auf dem Balkan zu zeichnen, als die balkanischen Historiographien uns glauben lassen möchten. Der Gedanke der gesellschaftlichen Integration war den Osmanen fremd, so dass es nur innerhalb der Christen und Muslime Akkulturation gab. Die Osmanen beließen den balkanischen Religionsgruppen sog. „millets“ – millet bedeutet auf Türkisch „Volk“ – wie Orthodoxen, Armeniern und Juden ihre religiöse Autonomie und nutzten die Strukturen der lokalen Glaubensgemeinschaften, um die nur von Nicht-Muslimen zu entrichtende Kopfsteuer einzutreiben. Bei der Behandlung der orthodoxen Balkanchristen standen die Osmanen unter griechischem Einfluß, der es durchsetzen konnte, dass die gesamte Gruppe – also auch Albaner, Serben, Bulgaren, Makedonen und Rumänen – als „Rhomäer“, als „Ost-Römer“ geführt wurde. Griechisch wurde im 18. Jahrhundert als einzige Liturgiesprache durchgesetzt; die klerikale Hierarchie war griechisch domi-niert, so dass der griechische Nationalismus im 19. Jahrhundert nicht ethnisch zu definieren war, sondern eher eine Kategorie wie „Britishness“ darstellte: Die griechischen Eliten versuchten, das sog. millet rum, also die orthodoxe Religionsgemeinschaft, in eine griechisch-nationale Gruppe zu konvertieren.

Zum Inhalt des Bandes

Markus Koller fragt zunächst nach der Osmanizität Südosteuropas, die hinter zahlreichen historiographischen Negativstereotypen wertneutral freizulegen ist. Als Hauptmerkmal der Osmanisierung nennt Koller die institutionelle Integration lokaler Herrschafts- und Rechtsformen. Eine „Entosmanisierung“ hat bereits im 17. Jahrhundert als Verlagerung des Machtverhältnisses zwi-schen Zentrum und Peripherie stattgefunden. Die Schwächung des Zentrums war ein Vorschritt zur nationalstaatlichen Fragmentierung, die im 19. Jahr-hundert einsetzte, dem der aufklärerisch-modernisierende, später jungtürkische Osmanismus nichts entgegensetzen konnte.

Milena Mari�-Vogel untersucht die postjugoslawische Sprachsituation in Bosnien anhand der Sprachpolitik in den Jahren 1994-1995. Bosnien war eine sprachliche Pufferzone, in der sich die kroatische und die serbische Polarität des Serbokroatischen in einer Variantenneutralität auflöste und Städte wie Sarajevo ethnische Schmelztiegel des sozialistischen Jugoslawien wurden. Durch den Bosnien-Krieg 1992-1995, der ein Vertreibungskrieg gegen die Zivilbevölkerung war, entstand schlagartig das Bedürfnis nach sprachlicher Abgrenzung vom Anderen. Der Artikel von Mari�-Vogel stellt ein Korrektiv zur vorherrschenden südslawistischen Forschung dar, die sich fast aus-schließlich auf das Erfassen von Neologismen aus dem ex-jugoslawischen Raum und die normativen Diskurse der sprachpolitischen Eliten beschränkt.

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Sie bezieht hier die bottom-up-Perspektive und untersucht einige wenige morphologische, syntaktische und lexikalische Varianten, die als intralinguale ethnische Marker funktionieren, wie die Soziolinguistik dies für das American Black English beschrieben hat und die in ihrer Kombinatorik klare Gruppen-grenzen sichern. Der Fokus liegt auf dem Jahr 1994, als Muslime und Kroaten eine antiserbische militärische Koalition eingegangen sind. Der nachhaltige Trend einer deutlichen Entserbisierung mit Hilfe einer Kroatisierung des Wortschatzes lässt sich gerade an dieser politischen Zäsur festmachen.

Christoph Giesel untersucht das Bosniakentum im Sandžak. Der mit der Renationalisierung Jugoslawiens seit den 1960er Jahren einsetzende musli-mische bzw. bosniakische Nationalismus war nicht auf die föderale Einheit Bosnien als homeland beschränkt: Im Laufe der 1990er Jahre solidarisieren sich die Muslime im serbisch-montenegrinischen Sandžak mit dem bos-niakischem Nationalismus, der sich stark sprachpolitisch legitimiert. Giesel beschreibt die Probleme der Implementierung des Unterrichtsfachs „Bosnisch“ in Novi Pazar und analysiert neue bosnische Schulbücher, die im Geist des bosniakischen Nationalismus für den Sandžak verfasst sind: Zentrale Bestand-teile des Programms sind die konsequente Durchsetzung des Ijekavischen (d.h. die Distinktivität zum Belgrader Ekavischen) und die Wiedereinführung von Orientalismen in den aktiven Wortschatz. Im Rahmen der bosniakischen Natio-nalideologie wird ein Kanon an bosniakischen Schriftstellern gebildet. Insgesamt sind die Schulbücher von ethnozentrischem Denken geprägt, das als Gegenentwurf zum serbischen, exponiert antimuslimischen Nationalismus in der Region konzipiert worden ist.

Philipp Wasserscheidt beschäftigt sich kontakt- und soziolinguistisch mit Sprachtodphänomenen im heute ungarisch-bulgarisch-serbisch besiedelten Dorf Ivanovo 20 Kilometer nördlich von Belgrad im Banat, einer der am stärksten multiethnisch und mehrsprachig geprägten Regionen Europas. Im Zentrum steht eine empirische Studie zum Sprachwechsel der Ungarisch-sprecher. Nach einer Diskussion von kontaktlinguistischen Phänomenen des Ungarischen, das einerseits bis 1918 Prestigesprache war, seit 1918 aber vom Serbischen als Staatssprache überdacht wird, kommt Wasserscheidt zum Be-griff der Sprachideologie, da attitudinale Faktoren bei Sprachbewahrung bzw. -wechsel eine Schlüsselrolle haben. Doch trotz der nachwirkenden Aura eines ehemals mächtigen Ungarns orientiert sich die junge Generation immer stärker am Serbischen, was Wasserscheidt in Korrelation mit den Faktoren Geschlecht, Alter und Kommunikationsort setzt.

Marija Vu�kovi� spitzt die Frage nach dem Verhältnis zwischen Sprache und Religion zu, indem sie zwei katholische Gruppen untersucht: kajkavisch-sprachige Kroaten und bulgarischsprachige Paulikianer. Diese sog. Banat-

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bulgaren werden seit dem 17. Jahrhundert tatkräftig von der katholischen Kirche unterstützt und können so eine reiche Verschriftungstradition vor-weisen, die sie sprachlich sehr vom bulgarischen Standard entfremdet hat, der im Laufe des 19. Jahrhunderts einseitig auf der Basis ostbulgarischer Dialekte kodifiziert worden ist. Die supranationale Ausrichtung der katholischen Kirche hat es jedoch mit sich gebracht, dass sich die Katholiken des Banats (Ungarn, Kroaten, Banatbulgaren und bis 1945 Donauschwaben) Kirchen und Geistliche „teilten“. Vu�kovi� führt vor, welche Mehrsprachigkeitskonstellationen sich aus den unterschiedlichen Rotationsregeln der Gottesdienstsprachen im Alltag ergeben.

In einer weiteren Studie zum Banat führt Marija Ili� die Serben als transimperiale Grenzgänger vor, die migrationsbedingt nördlich und südlich der Donau siedeln. Ili� untersucht das kollektive Gedächtnis der serbischen Minderheit in Ungarn anhand des Dorfes Szigetcsép 30 Kilometer südlich von Budapest. Im Fokus sind hier nicht soziolinguistische Fragestellungen, sondern die Analyse narrativer Gedächtnisarbeit (nach Halbwachs und Assmann): Welche Rolle spielt heute noch die Erinnerung an die großen Migrations-wellen? Welche Raumkonzepte folgen für die Serben in Ungarn aus der Erinnerung an die „große Wanderung“ (velika seoba) – neben der Kosovo-Schlacht die wohl wichtigste Zeitikone der serbischen Geschichte –, als die Serben 1690 unter der Führung ihres Patriarchen Arsenije III. �arnojevi� aus dem Kosovo nach Südungarn zogen? Ili� stellt heraus, dass die narrative Selbstreflexion sich vor allem auf das 20. Jahrhundert beschränkt und somit eher ein kommunikatives, lebensgeschichtliches Gedächtnis ist, das dennoch vage Raumkonzepte weitertransportiert.

Ivo Žani� knüpft gewissermaßen an Milena Mari�-Vogel an, da auch er den postjugoslawischen Umgang mit dem plurizentrischen Wesen des ehemaligen Serbokroatischen untersucht: Žani� parallelisiert die sprachlich mitbedingten Integrationsprobleme der ekavischsprachigen kroatischen Kriegsflüchtlinge aus Syrmien (Srem) im ijekavischsprachigen Kroatien mit einer Episode aus dem Jahr 1906 im kroatischen Parlament: Damals war einem Abgeordneten von den Ungarn vorgeworfen worden, er spreche Serbisch. In der Analyse des diskursiven Umfelds beider Fälle stellt Žani� das Phänomen der nicht-reziproken Verständlichkeit heraus, das die Funktionsweise ethnischer Marker innerhalb ein- und derselben Sprache perzeptionsbedingt und subjektiv ist.

Resümierend sei festgehalten, dass die Kontrastierung eines Südosteuropa nördlich und südlich der Donau tragfähig zu sein scheint: Die vier Artikel zum ehemaligen Südungarn zeigen eine Region mit einer erstaunlichen historischen Tiefe der konfessionell motivierten und institutionalisierten Förderung der

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jeweiligen Sprachgruppe besitzt, egal wie zahlenmäßig klein die Gruppe ist. Sprache und Religion werden daher nicht als konkurrierende Integrations-modelle wahrgenommen.

Die beiden Fallstudien zu Bosnien und zum Sandžak zeigen, dass die Balkanmuslime erst in der postsozialistischen Transition ihre nationale Identität mit der adäquaten Sprachloyalität und einem re-invention of tradition ver-binden. Hiermit geht ein vormoderner Habitus verloren, der sich durchaus in einem postmodernen Sinne interpretieren lässt: Er könnte uns davor bewahren, Sprache, Nation und Kultur als naturgegebene Einheit zu betrachten.

Ich bedanke mich sehr herzlich bei meinen studentischen Hilfskräften Simone Rajili� und Roswitha Kersten-Pejani� für die zuverlässige Redaktion dieses Bandes.

Berlin, im Dezember 2009

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Von der „Osmanisierung“ zur „Entosmanisierung“ – der osmanische Charakter des Balkan

Markus Koller

Geschichtskonzeptionen

Die Frage nach dem osmanischen Charakter des heutigen Balkan rückt eine Region des europäischen Kontinents in den Mittelpunkt, deren geographische Ausdehnung immer noch Gegenstand kontroverser Diskussionen ist. Zahl-reiche Einzelwissenschaften stellen eine Vielzahl von Anregungen und Argu-menten zur Verfügung, wie die Raumbegriffe „Südosteuropa“ und „Balkan“ sowohl inhaltlich als auch geographisch zu definieren seien.1 Die Fragestellung des vorliegenden Beitrags legt es nahe, den Balkan als eine strukturgeschicht-liche Einheit zu definieren, die vom Erbe der byzantinischen und osmanischen Herrschaftsformen sowie von den mit ihnen verbundenen Zivilisationen ge-prägt ist. Dies trifft auf einen geographischen Raum zu, dessen Nordgrenze die Save-Donau-Linie bildet und der Bosnien-Herzegowina, Serbien (ohne Vojvo-dina), Montenegro, Vardar-Makedonien, Bulgarien, die Dobrudscha, die euro-päische Türkei, Griechenland sowie Albanien umfasst.2

Als seit dem 14. Jahrhundert immer mehr Gebiete des Hämus in einem sich über 150 Jahre erstreckenden Eroberungsprozess unter die Herrschaft der Sulta-ne kamen, begann ein Kapitel der südosteuropäischen Geschichte, dessen Be-wertung nicht nur in den Nationalhistoriographien der Länder3, deren Staats-gebiete zur Gänze oder auch nur teilweise einst zum Osmanischen Reich gehört hatten, unterschiedlicher nicht sein konnte und kann. Auf der einen Seite stehen Vertreter einer Forschungsrichtung, deren Blick auf diese Periode von einem negativen Geschichtsbild eingeengt ist. Sie heben die Unvereinbarkeit der religiösen, sozialen und institutionellen Strukturen des Osmanischen Reiches mit den kirchlichen und gesellschaftspolitischen Gegebenheiten hervor, wie sie in den vorosmanischen Herrschaftsgebilden im südosteuropäischen Raum vorzufinden waren. In ihrer Argumentation steht der Verweis auf fundamentale

1 Einen Überblick über die Literatur bietet Edgar Hösch, „Samuel Huntington und die

orthodoxe Welt“, in: Ulf Brunnbauer; Andreas Helmedach; Stefan Troebst (Hgg.), Schnittstellen. Gesellschaft, Nation, Konflikt und Erinnerung in Südosteuropa. Festschrift für Holm Sundhaussen zum 65. Geburtstag. München 2007, 381-400, 381ff.

2 Holm Sundhaussen, „Balkan/Balkanländer“, in: Edgar Hösch; Karl Nehring; Holm Sund-haussen (Hgg.), Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Wien u.a., 79-83, 80.

3 Zur Historiographie verschiedener südosteuropäischer Länder siehe Fikret Adanır; Suraiya Faroqhi (Hgg.), The Ottomans and the Balkans. A Discussion of Historiography. Leiden u.a. 2002.

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Unterschiede zwischen Islam und Christentum ebenso im Vordergrund wie die These von der Inkompatibilität einer in ihren Augen vorwiegend nomadisch geprägten Zivilisation4 mit einer urbanen Kultur, wie sie im Balkan zu be-obachten gewesen sei.5 Eine solche auf Trennung ausgerichtete Wahrnehmung der Vergangenheit, deren Einfluss auf das Geschichtsbild nicht nur in vielen südosteuropäischen Ländern immer noch deutlich spürbar und für dessen De-konstruktion eine objektive Annäherung an die eigene Geschichte unabdingbar ist, tendiert zu einer meist künstlichen Konstruktion des „Eigenen“, das von dem unterschieden wird, was als „Osmanisch“ gilt. Mit einer von diesem Den-ken geprägten Annäherung an die Geschichte ist der Blickwinkel des Betrach-ters nicht die Perspektive der in der osmanischen Epoche lebenden Menschen, sondern die vom Gedankengut des 19. und 20. Jahrhunderts dominierte Rekon-struktion historischer Prozesse und Ereignisse. Unvermeidlich strebt eine solche künstliche Geschichtskonzeption, die zwischen „Eigenem“ und „Frem-den“ zu unterscheiden versucht, zur Überhöhung und Glorifizierung dessen, was als „eigene Geschichte“ definiert wird. Konsequenterweise muss das „Fremde“ in einem negativen Licht erscheinen und entsprechend stellen die Vertreter einer solchen nationalen Geschichtskonzeption die osmanische Herr-schaft als „türkisches Joch“ und damit als Phase einer Fremdherrschaft dar. Dieses Weltbild erzählt im Wesentlichen vom „Widerstandskampf der gequäl-ten Balkanvölker“ gegen die „türkischen Unterdrücker“.6 Der Terminus „Os-mane“ oder „osmanisch“ tritt in der Mehrzahl der entsprechenden Publikation hinter die Bezeichnung „Türke“ oder „Türkisches Reich“ zurück, wodurch die

4 Im Gegensatz zu dieser Vorstellung deuten osmanische Quellen aus dem 16. Jahrhundert

darauf hin, dass der Anteil der Nomaden an der Bevölkerung als eher gering anzusehen ist. Selbst im anatolischen und syrischen Raum pflegten selten mehr als ¼ der Bevölke-rung einen nomadischen Lebensstil; vgl. dazu Wolf-Dieter Hütteroth, „Ecology of the Ottoman Lands“, in: Suraiya Faroqhi (ed.), The Cambridge History of Turkey. Vol. 3: The Later Ottoman Empire, 1603-1839. Cambridge 2006, 18-43, 19.

5 Maria Todorova, „The Ottoman Legacy in the Balkans“, in: L. Carl Brown (ed.), Imperial Legacy. The Ottoman Imprint on the Balkans and the Middle East. New York 1996, 45-77, 46f.

6 Für Albanien siehe Selami Pulaha, Qëndresa e popullit shqiptar kundër sundimit osman nga shekulli XVI deri në fillim të shekullit XVIII. Tiranë 1978 sowie ders., „Qëndresa e armatosur e popullit shqiptar kundër sundimit osman nga fundi i shek. XVII – fillimi i shek. XVIII, nën dritën e të dhënave të dokumenteve osmane”, Studime Historike 17/3 (1980), 131-167. Es sei an dieser Stelle aber auch darauf hingewiesen, dass beispielsweise unter muslimischen Autoren in Bosnien-Herzegowina Tendenzen existieren, die osma-nische Periode in einem bevorzugt positiven Licht erscheinen zu lassen. Für den Zeitraum ab dem späten 18. und insbesondere dem 19. Jahrhundert rückt dann aber auch in ihren Arbeiten der Widerstand gegen die osmanische Herrschaft und das Streben nach einer “Autonomie” Bosniens in den Vordergrund; vgl. dazu Ahmed Ali�i�, Pokret za autono-miju Bosne od 1831. do 1832. godine. Sarajevo 1996.

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Der osmanische Charakter des Balkan 15

ethnische Pluralität des Osmanischen Reiches vernachlässigt und unreflektiert bleibt. Die durch die Terminologie bewirkte ethnische und politische Einen-gung dessen, der als Okkupant und Unterdrücker definiert worden ist, befreit die Autoren von der Notwendigkeit, die Pluralität und Komplexität der osmani-schen Herrschaft in Südosteuropa in ihrer gesamten Dimension zu erfassen und zu analysieren. Unweigerlich würde dies die Frage nach dem osmanischen Charakter der eigenen Geschichte – im Sinne der Geschichte des eigenen Volkes und Landes – aufwerfen und das Problem auf die Tagesordnung setzen, ob das „Eigene“ überhaupt vom „Osmanischen“ zu trennen ist.

Demgegenüber steht eine Geschichtskonzeption, die der angesprochenen Komplexität der osmanischen Herrschaft auf dem Balkan offener gegenüber-steht. Sie plädiert insbesondere für eine Symbiose zwischen der islamischen und byzantinischen Tradition als charakteristisches Merkmal dieser Periode. Vertreter dieser Forschungsrichtung verstehen die osmanische Geschichte als

„[...] history of all its constituent populations (notwithstanding religious, social, professional, and other divisions and hierarchies). The facts underlying this interpretation are the early syncretism in the religious, cultural, and institutional spheres, as well as the remarkable absorptive capacity of the conquerors.“7

Vorboten der Osmanisierungsepoche

Die These vom absorbierenden Charakter des osmanischen Herrschaftssystems führt unmittelbar in die Frühphase der Besetzung südosteuropäischer Gebiete durch die Armeen des Sultans.8 Um der historischen Wirklichkeit gerecht zu werden, sollten diese Ereignisse nicht als Eroberung sondern vielmehr als Er-oberungsprozess angesehen werden, da von den ersten Kontakten – seien sie militärischer oder diplomatischer Natur gewesen9 – zwischen einem südost-europäischen Herrschaftsgebilde und dem Osmanischen Reich bis zur end-gültigen Eingliederung des betreffenden Gebietes in den osmanischen Reichs-verband mehrere Jahrzehnte vergehen konnten. Der charakteristische Verlauf eines Eroberungsprozesses begann häufig mit den Bemühungen lokaler Geschlechter, die Osmanen als Verbündete in ihre Auseinandersetzungen ein-

7 Todorova, „The Ottoman Legacy in the Balkans“, 49. 8 Über den Verlauf der osmanischen Eroberungen auf der Balkanhalbinsel siehe Edgar

Hösch, Die Geschichte der Balkanvölker. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart. München 1993, 78-106.

9 Sándor Papp, „Hungary and the Ottoman Empire (From the Beginnings to 1540)“, in: István Zombori (ed.), Fights against the Turk in Central-Europe in the first half of the 16th Century, Budapest 2004, 37-89 erläutert die diplomatischen und militärischen Kontakte zwischen dem Osmanischen Reich und dem historischen Königreich Ungarn.

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Markus Koller 16

zubinden. Viele von ihnen erkannten dann die Oberhoheit des osmanischen Herrschers an und gingen dadurch ein Vasalitätsverhältnis ein. Beispielsweise erreichte dieser Prozess in den albanischen Siedlungsgebieten Südosteuropas nach der Schlacht auf dem Amselfeld (1389) seinen Höhepunkt. Zahlreiche Familien schickten ihre Söhne als Geiseln an den Hof des Sultans in Adrianopel/Edirne,10 von denen Georg Kastriota unter dem Namen Skanderbeg in die Geschichte eingehen sollte.11 Mit der Etablierung des Timarsystems, der im Osmanischen Reich verbreitetsten Form von Landbesitz, endete die Phase der indirekten Herrschaft und die betreffende Region wurde nun in den osmanischen Reichsverband eingegliedert. 1431 errichteten die Osmanen aus den von ihnen beherrschten Territorien im albanischen Siedlungsraum einen eigenen Verwaltungsbezirk (sancak-ı Arvanid), der den ganzen westlichen Teil des heutigen Süd- und Mittelalbanien umfasste.12 Ein solcher Verlauf des Er-oberungsprozesses, dessen verschiedene Phasen hier am Beispiel eines ausge-wählten balkanischen Raumes nur angedeutet werden konnten, war ebenso für andere Regionen charakteristisch, die unter die Herrschaft des Sultans fielen.13

Die historische Forschung hat sich bislang – soweit es den südosteuro-päischen Raum betrifft – noch nicht sehr eingehend mit den unterschiedlichen Kontaktformen beschäftigt, die sich während der zeitlich langen Eroberungs-phase zwischen der lokalen Bevölkerung bzw. den Herrschaftseliten vor Ort und den osmanischen Autoritäten ergaben.14 Unsere Vorstellung davon, wel-ches Wissen auf beiden Seiten voneinander existierte, ist noch sehr begrenzt. Dennoch lassen sich in einem Eroberungsprozess, in dessen Verlauf die zu-nehmende militärische und politische Einflussnahme auf die Geschicke einer Region dessen Charakter zu verändern begann, die Vorboten einer Epoche erkennen, in der dann die Osmanisierung des Balkan zu beobachten war.

10 Oliver Jens Schmitt, Das venezianische Albanien (1392-1479), 204 sowie Peter Bartl,

Albanien. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Regensburg 1995, 40f. 11 Oliver Jens Schmitt, „Skanderbeg reitet wieder. Wiedererfindung und Erfindung eines

(National-)Helden im balkanischen und gesamteuropäischen Kontext (15.-21. Jh.)“, in: Ulf Brunnbauer; Andreas Helmedach; Stefan Troebst (Hgg.), Schnittstellen. Gesellschaft, Nation, Konflikt und Erinnerung in Südosteuropa. Festschrift für Holm Sundhaussen zum 65. Geburtstag. München 2007, 401-419.

12 Halil Inalcık, Sûret- I Defter-I Sancak-I Arvanid. Ankara 1987. 13 Ders., „Ottoman Methods of Conquest“, Studia Islamica III (1954), 103-129. 14 Noel Malcolm, Kosovo. A Short History. New York 1998, 60 verweist beispielsweise auf

die Unterstützung nemanjidischer Herrscher wie Zar Stefan Dušan durch türkische Soldaten. Im byzantinischen Bürgerkrieg der 1340er Jahre sicherte sich Kantakuzenos die militärische Unterstützung anatolischer Emire und vertraute schließlich auf die Hilfe Orhan’s, dem er seine Tochter zur Frau gab; vgl. dazu Georg Ostrogorsky, Byzantinische Geschichte 324-1453. München 1996, 448.

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Die Osmanisierungsepoche

Das herausragendste Charakteristikum der Osmanisierungsepoche lag in der In-tegration lokaler Herrschafts- und Rechtsformen in die Institutionen, die mit den Osmanen in den südöstlichen Teil Europas gelangt waren. In dieser Politik der Osmanen, die die ethnische, sprachliche und konfessionelle Vielfalt auf der Balkanhalbinsel

„[...] weniger durch Assimilierung und Nivellierung bzw. gar Zwangsisla-misierung oder -türkisierung zu begegnen suchten, als vielmehr durch Inkorpo-rierung und Modifizierung vorgefundener Verhältnisse und Strukturen in das osmanische System“15,

ist der wichtigste Motor des Osmanisierungsprozesses zu sehen. Dieser Grundzug frühosmanischer Politik begleitete den Aufstieg des anato-

lischen beyliks zur Großmacht und gab den gesellschaftlichen Strukturen im 14. und frühen 15. Jahrhundert ihr Gepräge. Das Haus Osman sah in der Ver-breitung des Islam nicht die wichtigste Triebfeder seiner territorialen Expan-sion, sondern der Entscheidung über Krieg und Frieden lagen – wie es auch in den darauf folgenden Jahrhunderten zu beobachten war – vor allem politische und wirtschaftliche Motive zugrunde.16 Die in der Historiographie häufig als Beleg für die religiöse Intention osmanischer Expansionspolitik angeführten Termini gaza/gazi und akın/akıncı waren zu dieser Zeit nicht zwingend mit religiösen Konnotationen verbunden, sondern beschrieben vielmehr die Art und Weise, wie Muslime und Christen unter dem Banner der Dynastie Osman mili-tärische Aktivitäten durchführten.17 Quellen aus dieser Zeit verweisen auf eine nicht geringe Zahl von Christen, die als akıncı in Erscheinung traten.18 Der-artige Beispiele zeigen, dass die osmanischen Herrscher Osman (1281?-1326) und Orhan (1326-1360) sowie ihre Nachfolger vor allem eine pragmatische Re-alpolitik betrieben, in der religiöse Motive in den Hintergrund traten und daher das Interesse an einer Islamisierung ihrer christlichen Nachbarn gering ausfiel. Es würde jedoch den historischen Gegebenheiten nicht gerecht werden, das religiöse Moment als gänzlich unwichtig darzustellen. Die vom religiösen Vokabular geprägte politische Rhetorik19 jener Zeit muss als Teil der damaligen Weltsicht interpretiert werden, die sehr wohl Entscheidungen über Krieg und

15 Michael Ursinus, „Osmanisches Reich“, in: Edgar Hösch; Karl Nehring; Holm

Sundhaussen (Hgg.), Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Wien u.a., 500-504, 500f. 16 Rhoads Murphey, Ottoman Warfare 1500-1700. London 1999, 149. 17 Heith Lowry, The Nature of the Early Ottoman State. Albany/NY 2003, 132. 18 Ebd., 51f. 19 Zahlreiche Textbelege enthält beispielsweise Colin Imber, The Crusade of Varna, 1443-

45. Aldershot 2006.

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Frieden beeinflussen konnte. Selim I. (1512-1520) und Süleyman I. (1520-1566) rechtfertigten ihre Kriege gegen die Safawiden mit dem Hinweis auf die Bekämpfung der „schismatischen“ Schiiten.20 Eine vergleichbare Argumenta-tion war auch in der christlichen Welt zu finden. Die ungarischen Könige ver-suchten im 14. Jahrhundert ihre Feldzüge gegen das bosnische Königreich mit dem Argument zu legitimieren, sie müssten gegen „Schismatiker“ und „Häre-tiker“ zu Felde ziehen. Das wirkliche Motiv war jedoch ihr Streben nach der bosnischen Krone.21

Von welcher Bedeutung das religiöse Moment im frühosmanischen Herr-schaftsgebilde auch immer gewesen sein mag, die Zugehörigkeit zum Islam war jedenfalls keine zwingende Voraussetzung dafür, zur politischen Elite zu gehören. Zahlreiche Angehörige des byzantinischen Adels fanden sich dort ebenso wie eine große Zahl bythinischer und später balkanischer Christen. Die Zusammensetzung der Bevölkerung und Führungsschicht aus Muslimen und Christen war ein wesentliches Charakteristikum eines frühosmanischen Staates, der auch im Hinblick auf seine Strukturen eine kooptative Politik bevorzugte. Er übernahm die klassischen islamischen Verwaltungspraktiken von den Seld-schuken, Ilhaniden und benachbarten Fürstentümern.22

Als dieses mehr auf Kooptation als Islamisierung ausgerichtete osmanische Staatsgebilde im 14. Jahrhundert endgültig auf südosteuropäischen Boden über-griff und im Verlauf des 15. Jahrhunderts seine Expansion auf der Balkanhalb-insel fortsetzte, brachte es Institutionen mit, die mehrheitlich keine genuin os-manischen Phänomene darstellten, sondern auf vorosmanischen Formen be-ruhten. Wenn der bosnische Gelehrte Nedim Filipovi� in seiner 1971 erschie-nenen Monographie Princ Musa i �eyh Bedreddin auf das Timarsystem, das Ahitum und die Derwische als die wichtigsten Säulen des frühosmanischen Herrschaftsgebildes verwies und betonte, dass sie auch für die Festigung der osmanischen Macht auf dem Balkan von großer Bedeutung gewesen seien,23

wird die zentrale Rolle der kooptativen Elemente in den osmanischen Struk-turen deutlich erkennbar.

Die Wurzeln des Timarsystems dürften im vorosmanischen Anatolien gele-gen haben. Als tımar bezeichnete „Dienstlehen“ fanden bereits unter der Herr-schaft Orhans Eingang in die osmanischen Strukturen. Als ein in Bezug auf unsere Fragestellung wesentliches Kennzeichen des frühen Timarsystems, das primär auf der temporären Zuweisung von Einkünften gegen Dienstleistungen

20 Murphey, Ottoman Warfare 1500-1700, 146. 21 Dubravko Lovrenovi�, Na klizištu povijesti (sveta kruna ugarska i sveta kruna bosanska

1387-1463). Zagreb 2006. 22 Lowry, The Nature of the Early Ottoman State, 132f. 23 Nedim Filipovi�, Princ Musa i �eyh Bedreddin. Sarajevo 1971, 6-12.

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basierte, ist die Eingliederung vorosmanischer Eliten hervorzuheben. Insbeson-dere jene Lehns- und Grundherren durften ihren Grundbesitz behalten, die dem Sultan erstmals Tribut leisteten. Der Übertritt zum Islam stellte keine zwin-gende Voraussetzung dar. Das 1431 erstellte tahrir defteri24 für den albanischen sancak zeigt, dass von 355 Timarioten 60 dem christlichen Glauben angehör-ten.25

Eine Kooptation vorosmanischer Strukturen erfolgte auch im Bereich des osmanischen Rechts, das auf dem weltlichen Verordnungsrecht (kanun), dem religiösen Recht (�eriat) und dem als örf bezeichneten Traditionsrecht basierte. Letzteres nahm lokale Rechtstraditionen auf und bildete in vielen juristischen Streitfällen die Grundlage, auf der die osmanischen Richter ihre Urteile fällten. Doch nicht nur Rechtsnormen sondern auch Rechtsinstitutionen fanden Ein-gang in die osmanischen Strukturen und wurden in ihrer Funktion, wenngleich ihre Vollmachten durch mehr oder weniger stark ausgeprägte Einschränkungen begrenzt waren, erhalten. In den Gebieten des historischen Königreichs Un-garn, die von den Osmanen erobert wurden, sprachen auch weiterhin ungari-sche Richter (bíró) Recht und übten insbesondere in den mehrheitlich von Christen bewohnten urbanen Zentren administrative Aufgaben aus.26

Wenden wir uns nun der Frage zu, welche Rolle das kooptative Element während der Osmanisierungsphase in den Institutionen und Strukturen spielte, die gemeinhin für das Osmanische auf dem heutigen Balkan stehen. Nedim Filipovi� erwähnt die Ahis und Derwische, welche im Gefolge der osmani-schen Eroberung nach Südosteuropa gekommen waren. Sie stehen für muslimi-sche Bevölkerungsgruppen, vorwiegend aus dem anatolischen Raum, die den Islam auf dem Balkan zu etablieren halfen. Die Ahis, deren Organisationsform Ähnlichkeiten mit der einer Bruderschaft aufwies und vor allem aus Handwer-kern bestanden haben dürfte, errichteten ein Netzwerk, das im 14. Jahrhundert die Mehrzahl der anatolischen Städte umfasste. Die Ethik des Ahitums basierte wesentlich auf den Grundprinzipien des futuwwa-Wesens, zu dessen wich-tigsten Säulen die Freigiebigkeit und Gastfreundschaft gehörten.27 Diese Män-nerbünde im anatolischen Raum fanden auch Eingang in den Bericht des Ibn

24 Es handelte sich dabei um ein Verzeichnis der „Dienstlehen“ einschließlich der Namen

der Inhaber und der reaya-Haushaltsvorstände. Es gilt zwischen dem detaillierten (mufassal) und dem zusammenfassenden (icmal) Register zu unterscheiden; vgl. dazu Michael Ursinus, „Tahrir Defteri“, in: Edgar Hösch; Karl Nehring; Holm Sundhaussen (Hgg.), Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Wien u.a., 676f.

25 Halil Inalcık, Sûret- I Defter-I Sancak-I Arvanid. 26 Siehe dazu Klára Hegyi, „La juridiction autonome des villes hongroises sous la

domination ottomane“, in: VII. Türk Tarih Kongresi II. Ankara 1973, 629- 636. 27 Franz Taeschner, Zünfte und Bruderschaften im Islam. Texte zur Geschichte der

Futuwwa. München 1979, 301.

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Battuta, wo zu lesen ist, wie er fünf Jahre nach ihrer Eroberung durch die Os-manen die Stadt Bursa besuchte und dort im Hospiz der Ahis nächtigte. Inner-halb einer kurzen Zeitspanne war es ihnen offensichtlich gelungen, eine wichti-ge Rolle im sozialen und ökonomischen Leben der Stadt zu spielen und einen einflussreichen Teil der urbanen Elite zu bilden.28 Eine ähnliche Entwicklung schien auch in städtischen Zentren auf der balkanischen Halbinsel stattgefun-den zu haben, nachdem sich dort die osmanische Herrschaft zu etablieren be-gonnen hatte. Osmanische Quellen aus dem 14. Jahrhundert verweisen auf die wichtige Rolle der Ahis im Leben urbaner Siedlungen in Südosteuropa. Sie traten als Gründer religiöser Stiftungen ebenso in Erscheinung wie als Vorste-her von tekkes. In ihre Organisationsstrukturen integrierten sich auch Teile der lokalen Bevölkerung, die dadurch in ein islamisch geprägtes Umfeld eingebun-den waren. Namen wie Ahi Mihal zeugen von Christen, die dem Kreis der Ahis angehörten.29

Zu den nach Südosteuropa gekommenen Trägerschichten des Islam, die in ihrer Gesamtheit hier nicht vorgestellt werden können, zählten auch die mys-tischen Bruderschaften der Derwische. Im albanischen Siedlungsgebiet trugen vor allem die Bektaschis zur Verbreitung des Islam bei. Ihre religiöse Vorstel-lungswelt war geprägt von nicht-sunnitischen Einflüssen, von denen insbe-sondere die schiitischen Hurufis auf die Lehre der Bektaschis einzuwirken be-gannen. Bis zum heutigen Tag ist deren Stempel erkennbar, wenn in den Bil-dern der tekkes die Gesichter von Ali, Hasan oder Hüseyin durch eine bestimmte Kombination der Buchstaben ihrer Namen gezeichnet sind.30 Die als tekke oder zaviye bezeichneten Niederlassungen der Bektaschis lagen häufig in der Nähe von Wallfahrtsorten, die bereits in vorosmanischer Zeit existiert hatten. Die damit verbundene Nähe zum Volksglauben und Christentum ließ wohl auch einige von deren Elementen in ihre Rituale und Lehre einfliessen.31

Erwähnt seien hier die Existenz einer Buße, das sakramentale Mahl mit Brot und Wein, zölibatäre Lebensformen bestimmter Mitglieder oder das Kreuzzeichen als Verehrungsgeste. Die Kooptation von Elementen des Volksglaubens und christlicher Riten in den Islam ließ diesen zu einer „Volksreligion“ werden.32 Das zu beobachtende Phänomen, dass Muslime und

28 Lowry, The Nature of the Early Ottoman State, 71f. 29 Nedim Filipovi�, Princ Musa i �eyh Bedreddin. Sarajevo 1971, 246f. 30 Annemarie Schimmel, Mystische Dimension des Islam. Die Geschichte des Sufismus.

Frankfurt/Main 1995, 479. 31 Zur Rolle der Bektaschis in Albanien siehe Nathalie Clayer, L’Albanie, pays des

derviches. Berlin 1990. 32 Zu den Riten und Gebräuchen der Bektaschis siehe Alexandre Popovi�; Gilles Veinstein

(Hgg.), Étude sur l’ordre mystique des Bektachis et les groupes relevant de Hadji Bektach. Istanbul 1995 sowie Schimmel, Mystische Dimension des Islam, 479.

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Christen die gleichen Wallfahrtsorte aufsuchen, unterstreicht die Bedeutung dieses Prozesses für den gegenwärtigen Balkan.33 Gerade in der frühen Phase der osmanischen Herrschaft dürfte der Übertritt zum Islam in nicht wenigen Fällen keinen abrupten Wechsel der eigenen religiösen Weltanschauung sowie des alltäglichen Lebens bedeutet haben. Vielmehr war es meist ein facetten-reicher Konversionsprozess, der häufig von einer relativ schwachen Anbindung sowohl an das Christentum als auch den Islam gekennzeichnet war. Die Kryptochristen gaben davon ein beredtes Zeugnis.34 Die Annahme des Islam erfolgte mehrheitlich aus wirtschaftlichen oder sozialen Motiven,35 während Berichte über erzwungene Massenübertritte nicht immer einer kritischen Quellenanalyse standhalten.36 Die Islamisierung der osmanischen Gebiete Südosteuropas erreichte in den meisten Gebieten erst im 17. Jahrhundert ihren Höhepunkt und damit etwa 150 Jahre nach der Eroberung durch die Armeen des Sultans.37 Eine der wenigen Ausnahmen stellte Bosnien dar, wo bereits am Ende des 16. und spätestens zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Mehrheit der Bevölkerung dem Islam angehörte.38

Der bisher skizzierte Verlauf der Osmanisierung bis zum späten 15. Jahr-hundert war wesentlich von einer Symbiose lokaler Strukturen und Traditionen mit den von den Osmanen implementierten Institutionen gekennzeichnet. Das religiöse Moment spielte in diesem Prozess nicht die zentrale Rolle. In der Folge begann sich das Bild jedoch zu verändern und die Osmanisierung trat in eine neue Phase ein. Die in der Literatur kontrovers diskutierte „Knabenlese“ (dev�irme) eignet sich wie kaum eine andere Institution des Osmanischen

33 Ger Duijzing, „Pilgrimage, Politics and Ethnicity: Joint Pilgrimages of Muslims and

Christians and Conflicts over Ambiguous Sanctuaries in Former Yugoslavia and Albania“, in: Max Bart; Adrianus Koster (Hgg.), Power and Political Processes on Past and Present. Amsterdam 1993, 80-91.

34 Peter Bartl, „Kryptochristen und Formen des religiösen Synkretismus in Albanien“, in: Grazer und Münchner balkanologische Studien. München 1967, 117-127 sowie Maurus Reinkowski, „Kryptojuden und Kryptochristen im Islam“, Saeculum 54 (2003), 13-38.

35 Anton Minkov, Conversion to Islam in the Balkans. Kisve Bahası Petitions and Ottoman Social Life, 1670-1730. Leiden 2004, 64-109.

36 Peter Bartl, Albanien. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Regensburg 1995, 52 spricht von einer gewaltsamen Islamisierung während der „Türkenkriege“ im 17. und 18. Jahr-hundert, als christliche Bevölkerungsgruppen umgesiedelt oder Christen nach miss-glückten Aufstandsversuchen aus Furcht vor Repressalien zum Islam übertraten. Minkov, Conversion to Islam in the Balkans, 77-80 zeigt am Beispiel von Teilen Makedoniens und der Rhodopen, wie Berichte von solchen Ereignissen sehr kritisch zu sehen sind.

37 Ebd., 28-63. 38 Dies dürfte im Wesentlichen darauf zurückzuführen sein, dass in diesem Raum bereits vor

der osmanischen Eroberung kirchliche Strukturen geschwächt waren und somit keine engere Anbindung der lokalen Bevölkerung an eine Konfession gegeben war; vgl. dazu Malcolm, Geschichte Bosniens. Frankfurt/Main 1996, 78.

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Reiches zur Verdeutlichung der Weiterentwicklung des Osmanisierungspro-zesses. Seit dem 16. Jahrhundert wurden in den vom Sultan beherrschten Ge-bieten des südöstlichen Europa meist christliche Knaben rekrutiert und zur Ausbildung in die Hauptstadt geschickt. Sie nahmen dort den Islam an und und wurden entweder dem Janitscharenkorps zugeteilt oder genossen eine Aus-bildung im herrscherlichen Palast. Insbesondere Angehörige der letztgenannten Gruppe konnten in die höchsten Ämter der Verwaltungshierarchie aufsteigen, was die große Zahl von Großwesiren belegt, die ihre Wurzeln auf der balka-nischen Halbinsel hatten. Ähnlich wie im frühosmanischen Staatsgebilde, als byzantinische und andere nichtmuslimische führende Familien der politischen Elite angehörten, bildeten nun wiederum vorwiegend Männer mit christlichem Ursprung die Führungsschicht des Osmanischen Reiches. Jetzt war allerdings die Annahme des Islam eine unabdingbare Voraussetzung. Aus diesen rekru-tierten Knaben setzte sich schließlich mehrheitlich der herrscherliche Haushalt zusammen. Spätestens im 17. Jahrhundert erlangte diese dev�irme-Gruppe eine Dominanz im osmanischen Verwaltungsapparat und kontrollierte u.a. als Steuerpächter einen gewichtigen Teil der finanziellen Ressourcen des Rei-ches.39 Dynastie und herrscherlicher Haushalt bildeten nun den osmanischen Kern des Reiches und regierten über Territorien, die mittelbar und unmittelbar zum Machtbereich des Hauses Osman und seines Haushaltes gehörten. Dies kommt im Terminus devlet-i aliye zum Ausdruck, der nicht nur den Vorrang der osmanischen Dynastie vor anderen Herrscherhäusern40 sondern eben auch ein „imperiales“ Staatsverständnis zum Ausdruck brachte. Die Einheit von Reich, Dynastie und Herrschaftsapparat bildete somit den Kern dessen, was unter „osmanisch“ zu verstehen war. Als Osmanen bezeichneten sich daher vor allem die Angehörigen der osmanischen Dynastie sowie des herrscherlichen Haushaltes, während dieser Terminus bis zu den Tanzimat-Reformen nicht für die Bewohner des Osmanischen Reiches verwendet worden ist.41

Der Höhepunkt dieses Prozesses markierte zugleich jedoch auch das Ende der Osmanisierung auf dem Balkan, als die Osmanen – bestehend aus der Dy-nastie und dem herrscherlichen Haushalt – den osmanischen Charakter des Balkans geformt hatten. Das äußerliche Bild dieser Region hatte sich verändert und insbesondere die sich schnell entwickelnden urbanen Zentren gaben der Osmanisierung ein Gesicht. Weniger in den Grundrissen, die in nicht wenigen Fällen antikes oder byzantinisches Erbe darstellten, als vielmehr in der Infra-struktur durchliefen sie einen Wandel. Moscheen und religiöse Stiftungen

39 Siehe dazu Minkov, Conversion to Islam in the Balkans, 73ff. 40 Klaus Kreiser, Der Osmanische Staat. München 2001, 1f. 41 Michael Ursinus, „Osmanen“, in: Edgar Hösch; Karl Nehring; Holm Sundhaussen (Hgg.),

Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Wien u.a., 499f.

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(vakıf),42 die auch die Legitimität der Herrschaft der Osmanen über diese Ge-biete dokumentieren sollten,43 sowie religiöse Schulen oder die tekkes und zaviyes der Derwische ließen die Städte zu einem Motor sowohl der Osmani-sierung als auch der mit ihr einhergehenden Islamisierung werden.44 Beide Pro-zesse erfassten den ländlichen Raum zeitverzögert und teilweise auch mit ge-ringerer Intensität. Die mit den Osmanen auf dem Balkan etablierten Institu-tionen und Strukturen schufen einen für den gesamten Raum gültigen zivilisa-torischen Rahmen, dessen Charakter sich im Austausch mit den regionalen so-zialen, politischen, kulturellen, ökonomischen und religiösen Gegebenheiten ausgeformt und daher auch eine Vielzahl lokaler Besonderheiten aufzuweisen hatte. Die vielfach nicht mehr trennbare Verzahnung des bis dahin Bestehenden mit dem Neuen als Ausdruck des osmanischen Charakters symbolisiert die Alhamiado-Literatur im balkanischen Raum.45

Die Entosmanisierung

Im Verlauf des 17. Jahrhunderts setzte ein Prozess der Entosmanisierung ein, dessen Sogwirkung bis heute die politisch-gesellschaftliche Entwicklung der balkanischen Staaten stark beeinflusst. Seinen Ausgang nahm er in den Verän-derungen, die in den ökonomischen, militärischen und administrativen Struk-turen des Osmanischen Reiches zu beobachten waren.46 Lange Zeit dominierte das Paradigma des Verfalls die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den sozialen und wirtschaftlichen Prozessen sowie politischen Entwicklungen im 17. und 18. Jahrhundert. Inzwischen gehören derartige Vorstellungen mehr-heitlich der Vergangenheit an und an ihre Stelle trat vor allem das Konzept von

42 Zum osmanischen Stiftungswesen siehe J.R. Barnes, An Introduction to Religious

Foundations in the Ottoman Empire. Leiden 1986. 43 Howard Crane, „The Ottoman Sultan’s Mosques: Icons of Imperial Legitimacy“, in: Irene

A. Biermann u.a. (Hgg.), The Ottoman City and Its Parts. Urban Structure and Social Order. New York 1991, 173-244.

44 Für die albanischen Siedlungsgebiete auf dem Balkan siehe dazu Ferit Duka, „XV.-XVIII. Yüzyıllarda Arnavut Nüfusunun Islamla�ması Süreci Üzerine Gözlemler“, XI. Türk Tarih Kongresi IV. Cilt. Ankara 1994, 1691-1701, 1699-1700. Zum Islamisierungs-prozess in den Städten siehe Odile Daniel, „Le processus d’Islamisation dans les villes d’Albanie aux XVIIe-XVIIIe siècles“, in: Structure sociale et développement culturel des villes sud-est europénnes et adriatiques aux XVIIe-XVIIIe siècles. Actes du Colloque interdisciplinaire, Venise, 27. mai 1971. Bukarest 1975, 231-244.

45 Zur albanischen Alhamiado-Literatur siehe Hasan Kaleshi, „Albanska Aljamiado Književnost“, Prilozi za orijentalnu filologiju 17 (1966/67), 49-76. sowie Robert Elsie, Albanian Literature. A Short History. London 2005, 36-43.

46 Zu den im 17. und 18. Jahrhundert stattgefundenen Veränderungen siehe Faroqhi (ed.), The Cambridge History of Turkey.

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der „period of realignment in Ottoman state apparatus and center-periphery relations“47. Die Vertreter dieser Forschungsrichtung sprechen von einer im 17. und 18. Jahrhundert erfolgten Osmanisierung, deren wichtigstes Kennzeichen die im Vergleich zu vorhergehenden Epochen engeren und vielfältigeren Ver-bindungen zwischen der Hauptstadt und den Provinzen gewesen sei. Dies sei durch eine Einbindung der lokalen Bevölkerung in die administrativen und wirtschaftlichen Strukturen des Osmanischen Reiches erfolgt.

„Officials became local by establishing themselves economically where they had been appointed, and locals became Ottoman by acquiring stipends, posts and tax-farming contracts. Marriage reinforced ties both ways.“48

Die zunehmend feingliedrigere Verzahnung von Zentrum und Peripherie hat jedoch dazu beitragen, den Kern dessen, was bis dahin unter „osmanisch“ verstanden worden war, auszuhöhlen. Denn die politische und soziale Elite des Reiches reagierte auf die sich neu formierenden Bedingungen mit der ver-stärkten Bildung eigener Haushalte. Diese Entwicklung trug wesentlich zur Schwächung der bis dahin dominierenden Vorstellung vom osmanischen „Staat“ als einem großen Haushalt49 bei und leitete die Erosion der Einheit dessen ein, was bis dahin unter „osmanisch“ zu verstehen war: Dynastie, herr-scherlicher Haushalt und Reich.

Die Netzwerke solcher Haushalte konnten sich auch auf Provinzen er-strecken,50 wo die als ayan bezeichneten lokalen Notabeln51 eine immer größer werdende Macht erlangten und als Vertreter lokaler Partikularinteressen einem sich verstärkenden Regionalismus den Weg ebneten. Jedoch dürfen lokale No-

47 Hülya Canbakal, Society and Politics in an Ottoman Town. Ayntab in the 17th Century.

Leiden 2007, 61. 48 Ebd., 62f. 49 Carter Vaughn Findley, „Political Culture and the Great Households“, in: Faroqhi (ed.),

The Cambridge History of Turkey, 65-80, 72. 50 Zu den Haushalten in den osmanischen Provinzen siehe Thomas Lier, Haushalte und

Haushaltspolitik in Bagdad 1704-1831. Würzburg 2004 sowie Jane Hathaway, The Politics of Households in Ottoman Egypt. The Rise of the Qazda�lıs. Cambridge 1997.

51 In Bosnien und anderen südosteuropäischen Provinzen erlangten die ayane insbesondere während und nach den militärischen Auseinandersetzungen mit den Habsburgern zwischen 1683 und 1699 eine immer wichtigere Stellung. Sie übernahmen administrative Aufgaben, die eine geschwächte osmanische Verwaltung in einem nicht mehr aus-reichendem Maße zu übernehmen in der Lage war. Um 1726 wurde schließlich dieses Amt als ayanlık institutionalisiert und die Aufgaben der Amtsinhaber festgelegt; vgl. dazu Bruce McGowan, „The Age of the Ayans, 1699-1812“, in: Suraiya Faroqhi; Bruce McGowan; Donald Quataert; �evket Pamuk (Hgg.), An Economic and Social History of the Ottoman Empire, vol. 2, 1600-1914. Cambridge 1994, 637-758 sowie Avdo Su�eska, Ajani. Prilog izu�avanju lokalne vlasti u našim zemljama za vrijeme Turaka. Sarajevo 1965.

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tabeln wie die im südosteuropäischen Raum agierenden Ali Pascha Tepedelenli oder die Familie Bushattliu nicht als Vorkämpfer nationaler Unabhängigkeits-bestrebungen gesehen werden.52 Es handelte sich – und so wurden sie auch von ihren Zeitgenossen mehrheitlich wahrgenommen – um Angehörige des os-manischen Verwaltungsapparates, die innerhalb der administrativen Strukturen vor allem um eine Erweiterung ihres Einflussbereiches und einen besseren Zugriff auf lokale Finanzressourcen bemüht waren.53

Die machtpolitische Schwächung der Osmanen im Inneren ihres Reiches wurde von einer Legitimationskrise ihres Herrschaftsanspruches begleitet und wesentlich gefördert. Die verlorenen Kriege gegen die Habsburger und das russische Zarenreich im 17. und 18. Jahrhundert sowie die Besetzung Ägyptens durch Napoléon Bonaparte im Jahre 1798 erschütterten zutiefst das Vertrauen der muslimischen Bevölkerung in den Sultan. Wie lokale Chroniken muslimi-scher Zeitgenossen zeigen, beschuldigten die Menschen den Herrscher in Istan-bul direkt, seine Untertanen verraten und den Franzosen die Okkupation dieser Provinz gestattet zu haben.54 Diese im Inneren zu beobachtende erste Phase der Entosmanisierung endete mit der Stärkung des Regionalismus, als im Jahre 1808 mit dem als sened-i ittifak bezeichneten Dokument die erwähnten lokalen Notabeln offiziell halbautonome Vasallen der Pforte wurden.

Die zweite Phase der Entosmanisierung begann in einer Zeit, als die Ideo-logie des Nationalismus, ausgehend vom Gedankengut der Aufklärung und der Strahlkraft der Französischen Revolution, in den osmanischen Machtbereich hineingetragen wurde. Im südosteuropäischen Raum agierten als Träger dieser Idee zunächst vor allem einzelne Persönlichkeiten, die mit den west- und mitteleuropäischen Ideen von Nation und Volk in Kontakt kamen. Dem von ihnen propagierten Nationalstaatskonzept hatte das von der Legitimitätskrise und dem zunehmenden Regionalismus geschwächte Haus Osman zunächst keine eigene Vision entgegenzusetzen und stand daher den Aktivitäten der Na-tionalisten weitgehend ohnmächtig gegenüber. Dem Nationalismus wohnte das Bestreben inne, den osmanischen Charakter des Balkan dadurch zu dekonstru-ieren, dass er die während der Osmanisierungsphase auf vielen Gebieten statt-gefundene Symbiose zwischen lokalen und den von den Osmanen eingeführten Strukturen negierte bzw. aufzulösen versuchte. Es galt, um es mit anderen Worten zu formulieren, die balkanische Realität den stark von der deutschen 52 Solche Interpretationsansätze sind in der traditionellen albanischen Nationalhisto-

riographie erkennbar; vgl. dazu Stavri Naçi, Pashalleku i Shkodrës nën sundimin e Bushatllive në gjysmën e dytë të shekullit të XVIII (1757-1796). Tiranë 1964.

53 Michael Hickok, Ottoman Military Administration in Eighteenth-Century Bosnia. Leiden 1997, 152-175.

54 Markus Koller, Bosnien an der Schwelle zur Neuzeit. Eine Kulturgeschichte der Gewalt (1747-1798). München 2004, 190-197.

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Romantik geprägten Visionen anzupassen, um die erdachten Staatsgebilde Wirklichkeit werden zu lassen. Dieser Widerspruch ist ein zentrales Charakte-ristikum der zweiten Entosmanisierungsphase, die bis heute noch nicht abge-schlossen ist und den osmanischen Charakter des gegenwärtigen Balkan we-sentlich prägt. Die Propagandisten nationalstaatlicher Visionen entfalteten viel-fältige Bemühungen, die an dieser Stelle nicht im Detail erläutert werden können. Ausgehend vom Topos der „türkischen Fremdherrschaft“ wurde das idealisierte Bild des „heldenhaften Widerstands“ der „unterdrückten Völker“ gepflegt, das seinen Ausdruck insbesondere in der ideologisierten epischen Volksdichtung fand.55 Diese Völker sollten als Sprach- und Kulturgemein-schaften in einzelnen Staatsgebilden zusammenleben. Dafür war es aber not-wendig, eine jeweils eigene Sprache, Kultur und vor allem Ethnizität zu schaffen. Dies setzte wiederum voraus, das als ursprünglich „Eigene“ wahrge-nommene vom vermeintlich „Fremden“ zu lösen. In diese Richtung zielten auch Gedanken, die Vuk Karadži� in seinen Schriften darlegte. Er unterschied zwischen den „richtigen Türken“ (Janitscharen; çiftlik-Besitzer) und den sipahis, die mehrheitlich aus Bosnien und der Herzegowina nach Serbien ge-kommen und eigentlich „alte Serben“ gewesen seien. Sie hätten zwar den „türkischen Glauben“ angenommen, jedoch ihre Namen behalten.56 Die Be-mühungen, das „Eigene“ vom „Fremden“ zu unterscheiden, bezogen sich aber nicht nur auf das Verhältnis zur osmanischen Macht sondern eben auch auf die Beziehungen zu den anderen aufkommenden Nationalstaaten auf dem Balkan.

Der Osmanismus (Osmanlılık) als Versuch einer „neuen Osmanisierung“

Die Antwort der osmanischen Regierung auf den Nationalismus und der damit verbundenen Entosmanisierung entwickelte sich während der Tanzimat-Re-formen, deren tatsächliche Anfänge mit den in den 1820er Jahren erfolgten ersten Umwälzungen gleichzusetzen sind. Priorität besaß die Modernisierung des Militärs, so dass Sultan Mahmut II. (1808-1839) zunächst daran interessiert war, die aus seiner Sicht reformfeindlichen Kräfte innerhalb der Armee auszuschalten. Ein Schritt auf diesem Weg war die Vernichtung des Istanbuler Janitscharenkorps im Jahre 1826. Die damit verbundene Auflösung dieser ehe-maligen Eliteeinheit rief in zahlreichen Städten in den osmanischen Provinzen Südosteuropas erheblichen Widerstand hervor, wo dieses Korps faktisch das

55 Fikret Adanır, „Heiduckentum und osmanische Herrschaft, sozialgeschichtliche Aspekte

um das Frühneuzeitliche Räuberwesen in Südosteuropa“, Südost-Forschungen 41 (1982), 43-116 zeigt, wie der Inhalt der epischen Texte dem vom romantischen Gedankengut geprägten Zeitgeist angepasst wurde.

56 Radoš Ljuši�, Srbija 19. veka. 2 dj. Beograd 1994, 72.

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politische und wirtschaftliche Leben dominierte und seine Angehörigen zahl-reiche Privilegien wie Steuerbefreiungen genossen. Unmut unter der muslimi-schen Bevölkerung riefen jedoch nicht nur der Verlust von Privilegien hervor, von denen ohnehin primär die urbane Bevölkerung profitierte, sondern auch der an den Uniformen der neu geschaffenen Armeeinheiten sichtbare Einfluss des christlichen Europa.57 Noch tiefergehendere Erschütterungen lösten die Ver-suche der osmanischen Regierung aus, die Macht der lokalen Notabeln zu brechen. Der im heutigen Südalbanien und Epirus herrschende Ali Pascha Tepedelenli wurde 1822 erst in einem regelrechten Feldzug gestürzt und Mus-tafa Pascha Bushattliu, von dessen Familie ebenfalls bereits die Rede war, ergab sich 1832 den osmanischen Truppen.58 Mahmud II. schaffte 1838 sogar das Amt des Großwesirs ab und wenn auch diese Maßnahme wieder rück-gängig gemacht wurde, so deuteten dennoch alle Anzeichen auf das Ende der Zeit der großen Haushalte hin. An ihre Stelle traten neue Eliten, aus deren Mitte Staatskonzepte entstehen sollten, die veränderte Definitionen dessen, was unter „osmanisch“ zu verstehen sei, vorstellten.

Spätestens als im hatt-ı �erif von Gülhane, das am 3. November 1839 verkündet worden war, das Leben und den Besitz einer jeden Person zu schüt-zen, ein gerechtes Besteuerungssystem einzuführen und allen Untertanen, ohne Ansehen der Religion, Schutz ihrer Person zu gewähren,59 traten der Eliten-wechsel und damit auch neue ideengeschichtliche Wege sichtbar zu Tage. Denn hinter den im hatt-ı �erif verlautbarten Absichtserklärungen verbargen sich bereits die ersten Ansätze einer neuen Staatskonzeption, die im Verlauf der Tanzimat immer deutlicher an Konturen gewinnen sollte. Zunächst richtete sich der Erlass an alle Bewohner des Reiches und versuchte, die osmanische Öffent-lichkeit für die Reformen zu gewinnen. Inhaltlich orientierte sich das groß-herrliche Sendschreiben zwar immer noch an den Prinzipien der nahöstlichen Staatstheorie60, der bis zum 18. Jahrhundert dominierenden Staatskonzeption, 57 Am Beispiel der Provinz Bosnien zeigt dies Malcolm, Geschichte Bosniens, 145. 58 Bartl, Albanien, 75-80. 59 Th. Scheben, Verwaltungsreformen der frühen Tanzimatzeit. Gesetze, Maßnahmen,

Auswirkungen. Von der Verkündigung des Ediktes von Gülhane 1839 bis zum Ausbruch des Krimkrieges 1853. Frankfurt/Main 1991.

60 Deren theoretische Grundlage findet sich im Kutadgu Bilig, das 1090 von Yusuf Hajib verfasst wurde. Sie besagt, dass zur Kontrolle des Staates eine starke Armee nötig sei, für deren Unterhalt ein großer Reichtum vorhanden sein müsse. Um diesen Wohlstand er-wirtschaften zu können, bedürfe die Bevölkerung gerechter Gesetze. Im Jahre 1564 fügte Kınalızade mit seinem Werk Ahlak-ı Ala’i noch eine zentrale Aussage hinzu, die in der Literatur als „circle of equity“ bezeichnet wird. Sie besagt, dass die Gesellschaft in vier Klassen (das Militär, die Gelehrten, die Händler und die Bauern) eingeteilt werden müsse. Das Wohlergehen einer jeden Schicht hänge aber von der Gerechtigkeit des Herrschers ab, der seine Autorität vom �eriat (religiöses Recht) und dem kanun (weltli-

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mit Blick auf die Zukunft öffnete es jedoch den Weg zu einer rechtlichen Gleichstellung aller Untertanen und darin lag die Wurzel eines neuen osmani-schen Ordnungsmodells. Die Bewohner der balkanischen Reichsteile spürten dessen Entstehungsprozess zunächst vor allem durch die Bemühungen der Re-gierung in Istanbul, eine effektive Kontrolle über die Provinzen zu erreichen. Die Schwierigkeiten, dieses Ziel zu realisieren, zeigten sich beispielsweise sehr deutlich in den nordalbanischen Stammesgebieten, wo die Mirditen ihr Sied-lungsgebiet hatten. Sie waren eine Konföderation katholischer Stämme, an deren Spitze ein als kapudan bezeichneter Stammesführer stand. Die Mirditen waren zur Heeresfolge verpflichtet und genossen dafür weitgehende Steuerbe-freiungen und Autonomie. Diese privilegierte Stellung geriet in Gefahr, als der osmanische Staat 1843 ein neues Wehrgesetz durchsetzte. Versuche der Regie-rung, in den nordalbanischen Stammesgebieten Rekruten auszuheben, führten zu einem Aufstand, der nur mit Mühe unterdrückt werden konnte. Dieses Bei-spiel zeigt, dass die sich im hatt-ı �erif von Gülhane abzeichnende verbesserte Stellung der Nichtmuslime in vielen Teilen der südosteuropäischen Provinzen des Osmanischen Reiches von sekundärer Bedeutung war. Das Kernproblem bei der Implementierung der innerstaatlichen Reformen lag im Widerstand der Bevölkerungsgruppen, die Privilegien zu verlieren drohten und daher die Ord-nung des status quo zu bewahren suchten. Dabei trat die Bedeutung der Reli-gionszugehörigkeit in den Hintergrund. Die bisherigen Reformmaßnahmen, die im Rahmen dieser Ausführungen nicht im Einzelnen erläutert werden können, hatten noch nicht das erwünschte Ergebnis einer effektiven Kontrolle über die Provinzen gebracht, sondern vielmehr gezeigt, dass konservative Strömungen in den einzelnen Regionen enger in die Reformen eingebunden werden mussten. Dies geschah mit dem vilayet-Gesetz, das am 8. November 1864 in Kraft trat. Ziel war es, innerhalb eines vilayets, wie die großen Verwaltungsein-heiten nun genannt wurden, die Zentralisierung zu stärken. Die Ortschaften und Dörfer erhielten ihre eigene Verwaltung, der ein Ältestenrat unter dem Vorsitz eines von den lokalen Notabeln gewählten Amtsträgers vorstand. In den Ver-waltungsorganen saßen nun Muslime und Christen, deren Kompetenzen jedoch

ches Recht) beziehe. Der Herrscher habe also für Gerechtigkeit (adalet) zu sorgen. Damit hat sich die Vision einer politischen Ordnung herausgebildet, die auf Gerechtigkeit und Gehorsam gegenüber �eriat und kanun basierte. Die Harmonie dieses Staates hing gemäß dieser Konzeption von einer immer siegreichen Armee ab, die die Expansion des Staates garantieren konnte. Spätestens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verlor in den politischen Schriften diese Vorstellung einer politischen und sozialen Harmonie auch an-gesichts der militärischen und politischen Entwicklungen an Bedeutung; vgl. dazu Halil Inalcık, „Kutadgu Bilig’de Türk ve Iran Siyaset Nazariye ve Gelenekleri“, in: Re�it Rah-meti Arat Için. Ankara 1969, 259-275 sowie Virginia Aksan, „Ottoman Political Writing, 1768-1808“, International Journal of Middle Eastern Studies 25/1 (1993), 53-69.

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auf die Felder der Besteuerung und polizeiliche Aufgaben beschränkt waren. Zunächst wurde diese Verwaltungsreform nur in dem neugeschaffenen Donau-vilayet eingeführt, das sich aus den Distrikten Silistra, Vidin und Niš zusam-mensetzte. An die Spitze dieser Provinz berief die Regierung mit Midhat Pascha einen der engagiertesten Reformer.61 Er bemühte sich während seiner Amtszeit von 1864 bis 1868 nicht nur darum, die öffentliche Infrastruktur zu verbessern, sondern legte auch großen Wert auf den Ausbau des Schulsystems. 1865 wurde das vilayet-Gesetz auch in Bosnien und zwei Jahre später fast im gesamten Osmanischen Reich angewandt.

Das Wehrgesetz, die unglücklichen Reformversuche im Steuersystem, wo die Abschaffung der Steuerpacht auf Widerstand stieß, sowie das vilayet-Gesetz zeigen die ganze Bandbreite der Tanzimatreformen bis zu den 1860er Jahren, die vom Einsatz militärischer Gewalt bis zu einer kooptierenden Politik reichte, die Rücksicht auf die lokalen Gegebenheiten nahm. Traditionelle innenpolitische Mechanismen sowie die Strahlkraft der nahöstlichen Staatskon-zeption waren in den Reformmaßnahmen der frühen Tanzimat immer noch deutlich erkennbar.

Jedoch trat in den 1860er Jahren ein Paradigmenwechsel ein, der auch das Verhältnis zur Bevölkerung in den osmanischen Gebieten Südosteuropas auf eine neue Grundlage stellte. Der osmanische Staat versuchte nun zusehends, durch Normierung, Disziplinierung und Rigidität in allen Regionen des Reiches und in allen gesellschaftlichen Schichten präsent zu werden und Legitimität zu erlangen. Die Realisierung dieser Ziele sei, so die osmanische administrative und politische Elite der Tanzimat, die Grundvoraussetzung für die Etablierung der jetzt definierten neuen Ordnung. Sie sollte nicht mehr eine zyklische immer wieder gefährdete Ordnung sein, sondern aus einem stabilen Zustand von Dis-ziplin und Zivilisation bestehen. Im osmanischen Terminus terbiye, der sowohl mit Bestrafung als auch Erziehung übersetzt werden kann, kam die veränderte Politik der Tanzimat zum Ausdruck.62

Wenden wir uns zunächst der Vorstellung von Zivilisation zu, die im balka-nischen Raum vor allem für die nordalbanischen Stämme von großer Be-deutung werden sollte. Führende Vertreter der Tanzimat begannen die tribalen Gesellschaften in der inneren und äußeren Peripherie als barbarische und min-derwertige Menschen anzusehen, die einer Zivilisierung bedurften. Das neue ordnungspolitische Denken veränderte entsprechend auch die Einstellung os-manischer Beamter gegenüber den Mirditen. Während in den 1840er und

61 R.H. Davison, „Midhat Pascha“, in: Encyclopedia of Islam VI (1991). Leiden, 1031-

1035. 62 Maurus Reinkowski, Die Dinge der Ordnung. Eine vergleichende Untersuchung über die

osmanische Reformpolitik im 19. Jahrhundert. München 2005, 286.


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