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perspektive21 - Heft 48

Date post: 19-Feb-2016
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Wie wollen wir leben?
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BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK HEFT 48 JUNI 2011 www.perspektive21.de HELMUT SCHMIDT: Einer mit innerem Kompass OLAF CRAMME: Auf der Suche nach der Regierungstauglichkeit MAJA S. WALLSTEIN: Noch lange nicht zufrieden MATTHIAS PLATZECK: Wie wollen wir leben? KLAUS NESS & MIKE SCHUBERT: Einladung zum Mitmachen THOMAS KRALINSKI: Nichts für Feiglinge WOLFGANG SCHROEDER & SÖREN KOSANKE: Die drohende Vollbeschäftigung MARTIN GORHOLT & MANJA ORLOWSKI: Zeit für neue Veränderungen ULF MATTHIESEN: Ein Labor für Raumpioniere ARIANE BÖTTCHER: Wir brauchen eine Willkommenskultur BRANDENBURG STARTET IN DIE ZUKUNFTSDEBATTE Wie wollen wir leben?
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BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK

HEFT 48 JUNI 2011 www.perspektive21.de

HELMUT SCHMIDT: Einer mit innerem Kompass

OLAF CRAMME: Auf der Suche nach der Regierungstauglichkeit

MAJA S. WALLSTEIN: Noch lange nicht zufrieden

MATTHIAS PLATZECK: Wie wollen wir leben?

KLAUS NESS & MIKE SCHUBERT: Einladung zum Mitmachen

THOMAS KRALINSKI: Nichts für Feiglinge

WOLFGANG SCHROEDER & SÖREN KOSANKE: Die drohende Vollbeschäftigung

MARTIN GORHOLT & MANJA ORLOWSKI: Zeit für neue Veränderungen

ULF MATTHIESEN: Ein Labor für Raumpioniere

ARIANE BÖTTCHER: Wir brauchen eine Willkommenskultur

BRANDENBURG STARTET IN DIE ZUKUNFTSDEBATTE

Wie wollen wir leben?

| Hoffmann und Campe | Das will ich lesen

20 Jahre nachder friedlichenRevolution von 1989:

Wie viel Einheit haben wir erreicht? Welchen Aufbruch braucht Deutsch-land jetzt?

224 Seiten,gebunden

Eine persönliche Bestandsaufnahme

Wie wollen wir leben?Gut zwanzig Jahre nach Gründung unseres Landes hat die SPD eine Debatte

über die Zukunft Brandenburgs begonnen. Bis weit in das nächste Jahr hinein wollen wir nicht nur Ideen sammeln, sondern sie auch breit diskutieren undso ineinander weben, dass die sozialdemokratische Handschrift für die kommen-den zwei Brandenburger Jahrzehnte sichtbar ist. Die Perspektive 21 wird die Arbeitder „Zukunftskommission“ der Brandenburger SPD intensiv begleiten. In diesemHeft erläutert Matthias Platzeck, warum wir die Zukunftsdebatte brauchen, dane-ben wird die Struktur der Zukunftskommission erklärt und wie sie zur Erneuerungder SPD beitragen kann. Martin Gorholt und Manja Orlowski sowie WolfgangSchroeder und Sören Kosanke stellen dar, vor welchen Herausforderungen wir inden Bereichen Bildung und Wirtschaft in den kommenden Jahren stehen werden.In den kommenden Heften werden wir auch Diskussionsstände aus den anderenArbeitsgruppen der Zukunftskommission veröffentlichen.

Die Zukunft unseres Landes aber wäre nichts ohne seine Vergangenheit. Der Gründervater unseres Landes, Manfred Stolpe, hat vor wenigen Tagen seinen 75. Geburtstag gefeiert. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir in diesemHeft auch einen Beitrag von Helmut Schmidt, der das Lebenswerk ManfredStolpes umfassend würdigt.

IHR KLAUS NESS

vorwort

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inhalt

Wie wollen wir leben?BRANDENBURG STARTET IN DIE ZUKUNFTSDEBATTE

MAGAZINHELMUT SCHMIDT: Einer mit innerem Kompass ................................................... 7

Auf Manfred Stolpes Integrität war immer Verlass

OLAF CRAMME: Auf der Suche nach der Regierungstauglichkeit ........................... 9

Wo die Sozialdemokraten in Europa neue Antworten finden müssen

MAJA S. WALLSTEIN: Noch lange nicht zufrieden ................................................ 19

Was aus den studentischen Positionen anderthalb Jahre nach den Protesten geworden ist

THEMAMATTHIAS PLATZECK: Wie wollen wir leben? ....................................................... 25

Warum wir in Brandenburg eine Debatte über unsere Zukunft brauchen

KLAUS NESS & MIKE SCHUBERT: Einladung zum Mitmachen ............................. 29

Wie die Zukunftskommission der SPD ein Leitbild für Brandenburg erarbeiten wird

THOMAS KRALINSKI: Nichts für Feiglinge ........................................................... 35

Der demografische Wandel braucht eine optimistische und zupackende Grundhaltung

WOLFGANG SCHROEDER & SÖREN KOSANKE: Die drohende Vollbeschäftigung .. 47

Warum wir uns vor großen Zielen nicht fürchten müssen

MARTIN GORHOLT & MANJA ORLOWSKI: Zeit für neue Veränderungen ................ 53

Wie die Bildung im Jahr 2030 aussehen kann

ULF MATTHIESEN: Ein Labor für Raumpioniere ................................................... 59

Wie Entwicklungsimpulse durch selbst organisierte Mikro-Netze entstehen können

ARIANE BÖTTCHER: Wir brauchen eine Willkommenskultur ............................... 69

Über die Heimatgefühle von Ex-Brandenburgern und wie man Exilanten zurückholen kann

6 dezember 2007 – heft 36

Einer mit inneremKompassAUF MANFRED STOLPES INTEGRITÄT WAR IMMER VERLASS

VON HELMUT SCHMIDT

N ach meinem Ausscheiden aus der Bundesregierung 1982 wurde ich des Öfterenvon der Evangelischen Kirche der DDR zu Vortragsreihen und Diskussionen in

ostdeutsche Städte eingeladen. Auf diesen Veranstaltungen konnte ich im direktenGespräch von manchen der Meinungen, Hoffnungen und Ängste der Menschen inder DDR erfahren. Ich habe es dem Engagement von Manfred Stolpe zu verdanken,dass ich diese wertvollen Eindrücke sammeln konnte.

Manfred Stolpe, zu jener Zeit stellvertretender Vorsitzender des Bundes der Evan-gelischen Kirchen in der DDR, hatte meine Besuche organisiert. Er ging damit auchpersönlich große Risiken ein. Ich war mir zwar damals bei meinen Vorträgen desschmalen Grats zwischen offener Kritik einerseits und Provokation eines öffentlichenEklats andererseits bewusst. Aber das Risiko eines spontanen Aufbegehrens meinerZuhörer und deshalb ebenso deren Risiko staatlicher Repression war eindeutig gege-ben. Es wurde in den letzten Jahren vor dem Mauerfall größer.

Die Hoffnung der Menschen in der DDR auf Veränderungen innerhalb des be-stehenden Systems und der Drang nach Ablösung des herrschenden Regimes warenimmer deutlicher wahrzunehmen. Ich erinnere mich noch gut an eine Rede, die ich1988 in der Nikolaikirche in Potsdam hielt und bei der die emotionale Spannungim Publikum geradezu körperlich spürbar war. Manfred Stolpe und meine Frau haben sich damals gegenseitig beruhigt und auch gemeinsam aufgeatmet, als ich, dieGefahr erkennend, den Ton meiner Rede dämpfte.

Ich habe Manfred Stolpe als Mann der Kirche kennengelernt. Als einen, der sichfür die Menschen in der DDR einsetzte und der vielen in Notlagen konkret helfenkonnte. Nach der Wiedervereinigung gab es Kritik daran, auf welchen Wegen dieseHilfen manchmal zustande gebracht werden mussten. Dieser Kritik habe ich stetswidersprochen. Sie resultierte zumeist aus Unwissenheit, aber auch aus Scheinheilig-keit. Wer in einem diktatorischen System anderen in ihrer Bedrängnis helfen will,der muss manchmal krumme Wege gehen, die in kein Schwarz-Weiß-Schema pas-sen. Auch im DDR-Regime war Hilfe oft nur im direkten Kontakt mit dem Macht-

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magazin

apparat möglich. Als ich die DDR-Führung warnen wollte, sich im Falle einersowjetischen Intervention in Polen auf keinen Fall mit DDR-Streitkräften zu betei-ligen, habe ich es sehr geschätzt, dass ich Manfred Stolpe bitten konnte, als eine ArtBriefträger zu fungieren. Ich konnte mich dabei auf seine Integrität verlassen.

Nach dem historischen Glücksfall der friedlichen Revolution in Polen und in derDDR und nach der darauf folgenden Wiedervereinigung schlug das Gemütspendelvon anfänglich euphorischer Begeisterung ziemlich bald in Enttäuschung um. ImWesten mussten bald die enormen finanziellen Transferleistungen in den Osten alsalleinige Ursache für alle ökonomischen und sozialpolitischen Probleme herhalten.Gleichzeitig machte sich im Osten zunehmend ein Gefühl der Bevormundung breit.Das notwendige gegenseitige Verständnis für die Seelenlage der jeweils anderen Seitehat sich nur sehr zögerlich entwickelt. Jene Medien, die sich willfährig und manch-mal geradezu penetrant der Klischees des „Besser-Wessis“ und des „Jammer-Ossis“bedienten, haben den Prozess des Zusammenwachsens zusätzlich behindert.

In diesem Umfeld war es eines der großen Verdienste von Manfred Stolpe, dasser sich in seinem Wirken stets dafür eingesetzt hat, die spaltende Kategorisierung inOst und West zu überwinden. Im Gegensatz zu manch anderen Politikern undParteien hat er sich nicht als Sprachrohr ostdeutscher Partikularinteressen verstan-den. Vielmehr hat er sich als erster Ministerpräsident des neu gegründeten LandesBrandenburg und später als Bundesminister für Verkehr und Aufbau Ost immer umeine ausgleichende gesamtdeutsche Perspektive bemüht. Gleichzeitig unterschiedsich Manfred Stolpe durch seine DDR-Biographie von jenen Politikern und Beam-ten in den neuen Bundesländern, die nach der Wende aus dem Westen gekommenwaren. Dies hat ihm gerade bei den Menschen im Osten von vornherein ein beson-deres Maß an Glaubwürdigkeit gegeben.

In Zeiten des Umbruchs den Menschen eine Orientierung geben, das kann nureiner, bei dem der innere Kompass stimmt. Manfred Stolpes Kompass hat immer indie richtige Richtung gewiesen. �

H E L M U T S C H M I D T

war von 1974 bis 1982 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland und ist heute Herausgeber der Wochenzeitung „Die Zeit“.

8 juni 2011 – heft 48

magazin

Auf der Suche nach derRegierungstauglichkeit WO DIE SOZIALDEMOKRATEN IN EUROPA NEUE ANTWORTEN

FINDEN MÜSSEN

VON OLAF CRAMME

W ie kann sich die europäische Sozialdemokratie aus der gegenwärtigen Malaisebefreien? Das politische Pendel ist im letzten Jahrzehnt deutlich nach rechts

ausgeschlagen. 2009 in Deutschland und 2010 in Großbritannien haben die So-zialdemokraten ihre größte Wahlniederlage seit Jahrzehnten eingefahren. Bei denjüngsten Wahlen in Schweden und Finnland schloss die linke Mitte nicht wesent-lich besser ab und die Aussichten für die portugiesischen und spanischen Wahlensehen auch nicht besonders vielversprechend aus. Diese Rückschläge ereignen sich,obwohl es zunehmend Zweifel an der Glaubwürdigkeit der führenden Mitte-Rechts-Politiker der größten europäischen Länder gibt. Bis auf einige Ausnahmensieht es allerdings derzeit nicht so aus, als ob die Sozialdemokraten von dieserVerwundbarkeit profitieren könnten.

Die missliche Lage der linken europäischen Mitte ist nicht nur eine elektoralesondern vor allem eine Frage der Regierungstauglichkeit. Es gibt derzeit kein kohä-rentes Programm, mit der Sozialdemokraten zukünftig in einer Welt regieren könn-ten, die durch die globale Finanzkrise unwiderruflich durcheinander geschütteltwurde. Es ist nicht einfach nur so, dass Sozialdemokraten schlicht Wahlen nichtgewinnen können. Vielmehr scheint der Öffentlichkeit das Vertrauen zu fehlen,dass Sozialdemokraten eine klare Idee davon hätten, was sie denn mit der Machtanstellen würden, sollten sie gewinnen. Diese These wird gestützt durch Resultateeiner Umfrage zu Kernfragen einer Politik der linken Mitte, die in Großbritannien,den USA, Deutschland und Schweden gleichzeitig durchgeführt wurde.1

Innerhalb der vergangenen zwei Jahre ist die Frage aufgetaucht, warum es aus-gerechnet die Sozialdemokraten sind, die angesichts einer Krise, deren ideologi-schen Ursprünge klar bei den Neoliberalen liegen, so defensiv und müde erschei-

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olaf cramme – auf der suche nach der regierungstauglichkeit

1 Die Umfrage wurde von YouGov im Auftrag des Policy Networks zwischen dem 18. und 22. März 2011 unter jeweils 1.000 bis1.200 Briten, US-Amerikanern, Schweden und Deutschen durchgeführt. Die komplette Studie kann unter www.policy-net-work.net heruntergeladen werden.

nen. Der Grund dafür wird zunehmend offensichtlich. Die Wirtschaftskrise, dieals Subprime-Kredit-Krise in den USA begann, wurde schnell als Krise der öf-fentlichen Finanzen und Defizite wahrgenommen. Mit anderen Worten: Es istder Staat – seine Größe, seine Rolle und seine Effizienz – der das zentrale Themader öffentlichen Debatte geworden ist und nicht so sehr die nach wie vor vorhan-dene Instabilität der Märkte und die Ideologie der freien Märkte.

Nun kann man sagen, dass dies lediglich ein Zeichen fehlender Stärke der So-zialdemokraten ist, die Krise als ein Produkt des zügellosen globalen Kapitalismuszu beschreiben. Während die europäischen Wähler schnell die Sündenböcke derMitte-Rechts-Regierungen akzeptiert haben, argumentierten die Mitte-Links-Politiker oft ausweichend und unentschlossen, unfähig weder ein Projekt, einkompetentes Wirtschaftsmanagement oder eine radikale Reformstrategie für dieBanken und das Weltfinanzsystem im Lichte des Keynsiansimus und des NewDeals der dreißiger Jahre zu entwerfen. Die Geschichte wird darüber urteilen, ob die linke Mitte eine einmalige Gelegenheit verpasst hat.

Wie groß ist das Vertrauen in Wirtschaft und Staat?

Damit die Sozialdemokraten die Krise nutzen und sie als Basis für eine wiederer-wachte progressive Politik verwenden können, müssten sie die Dilemmata desRegierens verstehen. Eine Voraussetzung, um ein seriöser Mitbewerber um dieMacht zu werden, ist es deshalb, unbequeme Wahrheiten anzuerkennen, struktu-relle Herausforderungen zu identifizieren. Die jetzt vorgelegte Studie identifiziertdazu die zentrale Frage: die Frage nach dem Vertrauen in die Marktwirtschaftund den Staat.

Vertrauen ist zweifellos das wichtigste Kapital in der Politik. Wie kein zweiterpolitischer Mitbewerber sind die Sozialdemokraten unter Druck angesichts einesbeängstigend niedrigen Niveaus an Vertrauen in den Staat und die Märkte, ange-sichts weitverbreiteter Zweifel gegenüber staatlicher Umverteilung und der Rollevon großen Unternehmen sowie angesichts eines hohen Niveaus an Zynismusgegenüber der herrschenden Elite (als deren Teil auch die Sozialdemokratenangesehen werden). Und in der Tat, wie keine andere politische Ideologie ist die Sozialdemokratie – zumindest bis heute – vom Vertrauen sowohl in den Staat als auch den Markt, Wohlstand zu generieren, abhängig. So gesehen sollteder kritische Blick auf die Mitte-Links-Parteien keine große Überraschung sein.Die nachfolgenden Zahlen zeigen das Ausmaß der schwierigen Lage der Sozial-demokratie.

10 juni 2011 – heft 48

magazin

I.Die Menschen sind spürbar von der Machtkonzentration in derMarktwirtschaft beängstigt und das demokratische Defizit in der

Wirtschaft spiegelt sich in fehlendem Glauben, dass Staat und Politikdas öffentliche Interesse widerspiegeln. Das Unwohlsein gegenüberMachtkonzentration zeigt sich am stärksten in der kritischen Haltung der Wählerzur Dominanz und Arbeitsweise von großen, in der Regel multinationalen,Unternehmen. Große Mehrheiten in Großbritannien (85 Prozent), Deutschland(83 Prozent), den USA (69 Prozent) und Schweden (60 Prozent) sagen, dassGroßunternehmen sich nur um ihren Profit, nicht jedoch um die Gemeinschaftoder die Umwelt kümmern. Diese Haltung ist unter sozialdemokratischenWählern noch stärker ausgeprägt.

Dass Großunternehmen die Marktwirtschaft dominieren und kleine Firmenverdrängen, wird in allen vier Ländern von Wählern aller Parteien als derwichtigste Nachteil der Marktwirtschaft gesehen. Hier scheint sich Europa inRichtung der amerikanischen Tradition des „progressiven Populismus“ zubewegen, dessen Hauptanliegen der Einsatz für den „kleinen Mann“ (und die„kleine Frau“) und gegen „Spezialinteressen“ war. Aber wenn es einen Bedarfgibt, die Wirtschaft zu demokratisieren, gibt es ein mindestens genauso wich-

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olaf cramme – auf der suche nach der regierungstauglichkeit

Besorgnis über die Macht der Unternehmen

Frage: Große Unternehmen sorgen sich heute nur um den Profit und nicht dieGemeinschaft oder die Umwelt.

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Großbritannien USA Schweden Deutschland

stimme zu stimme nicht zu

tiges Anliegen: das Vertrauen in die demokratische Legitimität von politischenEntscheidungen wiederherzustellen. Im Wettbewerb zwischen dem Allgemein-wohl und gut organisierter Sonderinteressen glauben die Bürger zunehmend,dass sie gegenüber einzelnen Unternehmen, Politikern und Lobbyisten dasNachsehen haben.

Folgerichtig zweifeln die Bürger auch an der Fähigkeit von Regierungen, sichgegenüber organisierten Spezialinteressen durchzusetzen – gerademal 15 Prozentin den USA, 16 Prozent im Vereinigten Königreich, 21 Prozent in Deutschlandund (immerhin) 27 Prozent der Schweden glauben an diese Fähigkeit. Die Wäh-ler sind in hohem Maße beunruhigt über das Ausmaß, mit dem der Staat durchorganisierte Interessen eingespannt wird – besonders ausgeprägt ist dies in Deutsch-land (48 Prozent) und den USA (47 Prozent) gegenüber 38 Prozent in Großbri-tannien und 17 Prozent in Schweden.

Aus diesen Zweifeln erwächst die Skepsis gegenüber der Effizienz von Staats-handeln. Große gesellschaftliche Gruppen in den USA (39 Prozent), Großbri-tannien (29 Prozent) und Deutschland (27 Prozent) stellen in Frage, dass esüberhaupt irgendwelche Vorteile staatlicher Intervention gibt, Gesellschaften zuverändern – im Gegensatz zu einem offensichtlich mehr optimistischen Blick-winkel in Schweden (8 Prozent).

II.Wähler sehen die Vorteile des Marktes, doch der Glaube daran,dass die Marktwirtschaft soziale Güter wie Jobs und Wohlstand

hervorbringt, ist niedrig; das Vertrauen in die Marktwirtschaft wird fra-gil bleiben, solange der Staat nicht eine stärkere Rolle einnimmt. DieWähler schätzen den Wettbewerb in der Marktwirtschaft, weil er für Preiskon-trolle sowie für Waren und Dienstleistungen mit einer breiten Auswahl sorgt.Wettbewerb wird von den Wählern als der Hauptvorteil der Marktwirtschaft inallen Ländern gesehen (Großbritannien 50 Prozent, USA 45 Prozent, Schweden52 Prozent, Deutschland 45 Prozent). Die große Auswahl an Waren und Dienst-leistungen in einer Marktwirtschaft wird von den Wählern ähnlich hoch bewertet(44 Prozent in Großbritannien, den USA und Schweden, 53 Prozent in Deutsch-land). Damit ist klar, dass die Bevölkerung nicht bereit wäre, auf diese Vorteilezu verzichten oder sie einzuschränken.

Gleichwohl sind die Wähler in allen vier Ländern besorgt über die harten Aus-wirkungen, die der Markt auf Individuen haben kann. Dies wird von 41 Prozentder Schweden, 20 Prozent in Großbritannien und Deutschland sowie 20 Prozent

12 juni 2011 – heft 48

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in den USA als wichtigster Nachteil der Marktwirtschaft gesehen. Gleichzeitigwerden die positiven Effekte der Marktwirtschaft auf Arbeit und Wohlstandnicht besonders hoch bewertet – in Schweden liegt dieser Wert bei 24 Prozent, inGroßbritannien bei 21, in Deutschland sogar nur bei 15 Prozent, während es inden USA immerhin 35 Prozent sind. Demzufolge müssen gerade Sozialdemo-kraten viel stärker als bisher verdeutlichen, wie ihre Politik für Marktwirtschaftund Wachstum in Arbeitsplätze und Aufstiegschancen mündet – insbesonderefür die „bedrängte Mitte“.

Gleichzeitig sehen die Wähler den Staat keineswegs als komplett machtlosangesichts zunehmend globalisierter Märkte an. Sie scheinen den Glauben nichtverloren zu haben, dass Regierungen Interventionsmechanismen schaffen könnenund auch schaffen sollten, um ihre Bürger zu schützen. Selbst in den USA glau-ben nur 8 Prozent, dass der Staat in einer offenen Marktwirtschaft machtlos sei.Dass die Marktwirtschaft greifbare soziale Werte schaffen kann, hängt also inhohem Maße von der Effektivität des Staates ab, entsprechende Veränderungendurch seine Institutionen zu schaffen.

Das wird jedoch durch die negative Bewertung der Wähler von Bürokratieund Ineffizienz erschwert, die öffentliche Einflussnahme behindern. Dies ist einewichtige Besorgnis in allen vier Ländern und wird von 45 Prozent der Amerika-ner, 44 Prozent der Schweden, 41 Prozent der Deutschen und 40 Prozent derBriten als wichtigster Nachteil staatlicher Intervention gesehen. Sozialdemo-kraten müssen deshalb einen Weg finden, wie sie den Staat selbst reformieren.Dabei wird es darauf ankommen, auf der einen Seite die Vorteile der Marktwirt-schaft zu erhalten und auf der anderen Seite gleichzeitig eine zufriedenstellendereForm der Staatsintervention zu finden, um die soziale Ausprägung der Markt-wirtschaft sicherzustellen.

III.Nicht-sozialdemokratische Wähler glauben, dass Mitte-Links-Regierungen zu viel Steuern erheben mit zu geringen Ergeb-

nissen; sozialdemokratische Wähler sind jedoch eher bereit, die Rollevon Besteuerung zu akzeptieren. Insgesamt glauben Mehrheiten in allenvier Ländern, dass Mitte-Links-Regierungen zu viel Steuern erheben bei insgesamtzu geringem öffentlichen Nutzen: 39 Prozent in Großbritannien, 46 Prozent inden USA, 34 Prozent in Schweden, 48 Prozent in Deutschland sehen das so. Indeutlichem Kontrast dazu stehen die Mitte-Links-Wähler selbst. Sie sehen dieWirksamkeit der Steuer- und Ausgabenpolitik der Mitte-Links-Regierungen deut-

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olaf cramme – auf der suche nach der regierungstauglichkeit

lich positiver. Nur 12 Prozent der demokratischen Wähler in den USA, 9 Prozentder Labour-Wähler in Großbritannien und 6 Prozent der sozialdemokratischenWähler in Schweden sind der Meinung, dass die Ausgabenpolitik ihrer Parteinicht zu greifbaren Erfolgen führt. Von den deutschen SPD-Wählern glaubendies immerhin 23 Prozent.

Gleichwohl ist die Aufgabe, die nicht-sozialdemokratischen Wähler von unse-rer Ausgabenpolitik zu überzeugen, eine echte Herausforderung. 89 Prozent derrepublikanischen Wähler in den USA sagen, dass die Mitte-Links-Ausgaben zuhoch sind im Vergleich zu ihren Effekten für die breite Öffentlichkeit. Im Ver-einigten Königreich sagen dies 68 Prozent der konservativen Wähler, in Deutsch-land 66 Prozent der CDU-Wähler und 22 Prozent der grünen Wähler.

Doch es gibt gleichwohl Unterstützung bei den Wählern der anderen Parteienfür höhere Steuern, sofern die Qualität öffentlicher Leistungen deutlich besserwürde. In Großbritannien sehen dies 32 Prozent der konservativen Wähler so, inDeutschland 47 Prozent der CDU-Wähler, in Schweden 37 Prozent der Wählerder Moderaten. Selbst 17 Prozent der republikanischen Wähler in den USA unter-stützen Steuererhöhungen im Gegenzug zu Verbesserungen im Gesundheitssys-tem, bei den Renten und den Schulen. Das deutet darauf hin, dass die Wählernicht für Besteuerung an sich zu gewinnen sind, sondern nur dann, wenn sie wis-sen, wofür Steuern konkret ausgegeben werden sollen.

14 juni 2011 – heft 48

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Die Politik der Besteuerung

Anteil der Menschen, die zustimmen, dass Mitte-Links-Regierung zu viel Steuernerheben mit zu geringen Effekten

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Großbritannien USA Schweden Deutschland

alle Wähler sozialdemokratische Wähler

IV.Obwohl Sozialdemokraten sozial-investive Strategien zunehmendin den Mittepunkt stellen, hat für die Menschen der Wohlfahrts-

staat alter Prägung mit Arbeitsplatzsicherheit und garantierter Alters-versorgung Priorität. Arbeitsplatzsicherheit bleibt die höchste Priorität derWähler. Das ist in den USA, Deutschland und Großbritannien so, aber auch inSchweden. Die Menschen sind nicht bereit, sich diese Errungenschaft abhandelnzu lassen. Es gibt deshalb bestenfalls lauwarme Unterstützung für Projekte, die aufalternative Formen zur Beschäftigungssicherung zielen, wie bessere Ausbildungoder Karrierechancen. In allen vier Ländern würden nur 13 bis 16 Prozent verrin-gerte Arbeitsplatzsicherheit gegen eine verbesserte Ausbildung akzeptieren.

Auch die Bindung an die entscheidenden Säulen des Wohlfahrtsstaates – staat-liche Altersversorgung, Gesundheitswesen und Leistungen bei Arbeitslosigkeit –ist ungebrochen. Die Leute scheinen nicht überzeugt davon zu sein, dass Sozial-ausgaben sich in Zukunft eher auf Investitionen in die Frühförderung konzentrie-ren sollten. Wenn sie gefragt werden, in welchen der drei genannten Felder amehesten zugunsten von Kitas, Schulbildung und Unterstützung für junge Fami-lien gespart werden könnte, lehnen große Gruppen der Wählerschaft grundsätz-lich alle Kürzungen ab (60 Prozent in Deutschland, 52 Prozent in Schweden,

15perspektive21

olaf cramme – auf der suche nach der regierungstauglichkeit

Das Primat der Arbeitsplatzsicherheit

Frage: Welche zwei der folgenden Optionen würden Sie wählen, wenn Sie imGegenzug eine geringere Arbeitsplatzsicherheit akzeptieren müssten?

keine, Arbeitsplatzsicherheit ist mir wichtiger als alles andere

einen höheren Lohn

eine bessere Balance zwischen Arbeit und Leben

Boni/Profitanteile, wenn es meinerOrganisation gutgeht

bessere Fortbildung und Karrierechancen

ein besserer Sozialstaat, z. B. höhereArbeitslosenunterstützung

mehr Mitsprache bei Unternehmensentscheidungen

weiß nicht

Großbritannien USA Schweden Deutschland

39% 35% 27% 39%

34% 31% 29% 27%

21% 14% 21% 12%

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10% 14% 25% 9%

4% 8% 6% 9%

5% 9% 9% 6%

49 Prozent in den USA und 34 Prozent in Großbritannien). Nur sehr wenigewären bereit, dafür bei Renten und der Gesundheitsversorgung zu kürzen.

V.Der Pessimismus der Wähler gegenüber Chancengleichheit kon-frontiert Sozialdemokraten, als die traditionellen Verfechter von

sozialem Fortschritt und Aufstieg, mit einer besonders großen Heraus-forderung – vor allem unter Männern und ihren eigenen Wählern.Heute glauben die meisten Menschen, dass Beziehungen im Leben wichtiger sindals harte Arbeit und „sich an die Regeln halten“. Am ausgeprägtesten ist dies inGroßbritannien (62 Prozent), gefolgt von Schweden (56 Prozent), Deutschland(54 Prozent) und den USA (46 Prozent). Interessanterweise sind vor allem dieMitte-Links-Wähler von dieser pessimistischen Einstellung betroffen.

Hinzu kommt, dass dies ein überwiegend männliches Phänomen ist. Euro-päische Männer sind in dieser Frage deutlich pessimistischer als Frauen. In Groß-britannien sagen 67 Prozent der Männer, dass Beziehungen wichtiger seien alsharte Arbeit im Vergleich zu 58 Prozent der Frauen. Ähnlich ist es in Schweden(61 Prozent der Männer und 51 Prozent der Frauen) und Deutschland (59 Pro-zent der Männer und 49 Prozent der Frauen). In den USA ist der Unterschied zuvernachlässigen (48 Prozent der Männer und 45 Prozent der Frauen).

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Chancenpessimismus

Frage: Um im Leben voran zu kommen, ist es wichtiger die richtigen Leute zu ken-nen als Arbeit und „sich an die Regeln halten“.

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Großbritannien USA Schweden Deutschland

stimme zu stimme nicht zu

VI.Sozialdemokraten verfolgen eine Bildungspolitik, die auf uni-verselle Hochschulausbildung setzt, die am Ende zu Beschäf-

tigung und Wohlstand führt, während die Mehrheit der Wähler dieser Erwartung nicht glaubt. In Großbritannien, Deutschland und in geringeremUmfang in den USA ist Pessimismus über den Wert von Hochschulbildung an derTagesordnung. Besonders verbreitet ist die Skepsis im Vereinigten Königreich (79 Prozent), gefolgt von Deutschland (66 Prozent) und den USA (57 Prozent).Schweden bietet ein ganz anderes Bild: Hier zweifeln nur 28 Prozent am Wert derHochschulbildung, 37 Prozent vertreten die gegenteilige Auffassung.

Je älter die Wähler werden umso stärker glauben sie, dass Universitätsbildungheute nichts mehr bringt. Eine wichtige Ausnahme ist hier Großbritannien, wovor allem die 18- bis 24-Jährigen besonders skeptisch sind. Dies spiegelt dieAngst vor dem Niveau der Jugendarbeitslosigkeit wider und Befürchtungen, dassAbsolventen zunehmend zu einer „verlorenen“ erwerbslosen Generation werden.

Bemerkenswert ist allerdings, dass sich sozialdemokratische Wähler deutlichpositiver über die Chancen von Hochschulausbildung äußern. Das mag damitzusammenhängen, dass der Zugang zu Universitäten einfacher geworden ist undmithin auch die Chancen für Menschen unterschiedlichster sozialer Herkunftbesser sind, ein Hochschulstudium aufzunehmen. Gleichwohl müssen sich So-zialdemokraten mit der Frage von Chancengleichheit in globalisierten Arbeits-

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olaf cramme – auf der suche nach der regierungstauglichkeit

Das gebrochene Bildungsversprechen?

Frage: Universitätsabschlüsse sind weniger nützlich als sie sein sollten. Hochschul-bildung verspricht heute Karriereaussichten, die sie nicht erfüllen kann.

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Großbritannien USA Schweden Deutschland

stimme zu stimme nicht zu

märkten auseinander setzen und dass es dabei vor allem auf Qualifikation, Bil-dung und Ausbildung und nicht nur auf Hochschulbildung ankommt.

Die Auseinandersetzung mit diesen und anderen vielfältigen Dilemmata desRegierens ist eine wichtige Aufgabe. Sozialdemokraten sind gefordert, ihre Pro-grammatik radikal umzudenken und eine glaubwürdige Alternative zum herr-schenden sozio-ökonomischen Diskurs sowie zu den zunehmend verunsichertenKonservativen und Christdemokraten aufzubauen. Die Sehnsucht nach der Vergan-genheit wird dabei nicht helfen, genauso wenig aber gibt es Anlass zur Verzweif-lung. Sozialdemokratische Errungenschaften, Ideale und Grundsätze stoßen nachwie vor auf breite Akzeptanz. Das europäische Sozialmodell ist als Grundpfeilerunserer Wohlfahrt unverletzlich.

Die Wähler wollen eine aktive Regierung, die fähig und in der Lage ist, diesesModell angesichts des schnellen sozialen und wirtschaftlichen Wandels in derWelt weiterzuentwickeln und anzupassen. Dieser Glaube an die „transformativeKapazität“ des Staates ist nach wie vor weit verbreitet – in Deutschland liegt erbei 55 Prozent, in Großbritannien bei 53 Prozent, in den USA und Schwedenbei 44 Prozent. Sozialdemokraten können sich dadurch bestärkt fühlen. Europabraucht eine effektive Sozialdemokratie, heute stärker denn je. Im Nachgang derWeltfinanzkrise geht es darum, eine zukunftsweisende und innovative Agenda fürArbeitsplätze, Wachstum und Wohlstand zu entwickeln. �

O L A F C R A M M E

ist Direktor der britischen Denkfabrik policy network. Übersetzung: Thomas Kralinski

18 juni 2011 – heft 48

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Noch lange nicht zufriedenWAS AUS DEN STUDENTISCHEN POSITIONEN ANDERTHALB

JAHRE NACH DEN PROTESTEN GEWORDEN IST

VON MAJA S. WALLSTEIN

D er Sommer 2009 war ein heißer Sommer – in Deutschland und auch in Bran-denburg. Aus meteorologischer Sicht, aber vielmehr noch aus bildungs- und

wissenschaftspolitischer Sicht. Studierende, Schülerinnen und Schüler schlossensich in lokalen „Bildungsstreikbündnissen“ zusammen, unterstützt durch ein brei-tes Bündnis von Gewerkschaften, Jugend- und Regionalorganisationen der SPD,der Grünen und der Linken. Darüber hinaus verbündeten sich die dezentral„Bildungsstreikenden“ lose auf der Bundesebene. Zehn Jahre nach „Bologna“ wa-ren sie sich einig: Bildungsideale dürfen nicht einer verschulten Effizienz geopfertwerden und Geld nicht nur für kriselnde Banken locker gemacht werden. ImSommer 2009 fand die Unzufriedenheit über das Bildungssystem ihren Ausdruck in umfangreichen Protesten. Im November 2009 kam es bundesweit, angeregtdurch die österreichische „Uni brennt“-Bewegung, zu Besetzungen von Hörsälenund Unigebäuden. In Potsdam wurde der größte Hörsaal der Universität, dasAudimax, monatelang, bis Mitte Januar 2010 friedlich besetzt und nur durchVermittlungen, wie die des brandenburgischen Wissenschaftsstaatssekretärs MartinGorholt (SPD) zwischen Studierenden und Hochschulleitung, geräumt.

Es geht um Verbesserungen beim Bologna-Prozess

Im hochschulpolitischen Bereich gehörten zu den wichtigsten Schlagworten vorallem: „Master für Alle“, „mehr studentische Mitbestimmung“ „semesterweisesTeilzeitstudium“, „Verbesserung der Studierbarkeit“, „Flexibilisierung der Längedes Bachelor-Studiums“, „mehr Geld für Bildung“. Der Brandenburger Bildungs-streik hatte aus studentischer Sicht drei Adressaten: die Hochschulen, das LandBrandenburg und letztlich auch den Bund.

Letzterer, damals vertreten durch die Bundesbildungsministerin AnnetteSchavan, schien die ganze Aufregung nicht verstehen zu wollen. Die Bologna-

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maja s. wallstein – noch lange nicht zufrieden

Reform ließe sich nicht mehr rückgängig machen und das zu fordern sei „ges-trig“. Hier bewies die CDU-Politikerin eindrücklich, dass sie den Streikendenzum wiederholten Male nicht zugehört hatte. Kaum jemand forderte nocheinen Rückzug aus der Bologna-Reform, längst ging es nur noch um Verbes-serungen am Bologna-Prozess.

Etwas anders verlief die Debatte in den Hochschulen. Auf Druck unterschied-licher Aktionen, monatelanger Besetzungen von Unigebäuden, der Solidaritäteiniger Professoren und Dozenten sowie eines enormen Presseinteresses, wurdean der Universität Potsdam die Einsetzung eines „Runden Tisches“ beschlossen.In Potsdam wurden Anwesenheitslisten für Vorlesungen durch einen Beschlussim Senat für konsequenzenlos erklärt. Die Einführung des Teilzeitstudiumswurde für alle Studiengänge geprüft. Man versprach bei den Gesprächen amRunden Tisch, sich um eine Verbesserung der Lehrqualität und die Erweiterungder studentischen Mitbestimmung zu bemühen.

Die CDU zeigte wenig Interesse

Zufrieden sein kann und darf man damit nicht. Nicht alle Hochschulen in Bran-denburg bemühen sich beispielsweise um die Einführung von Teilzeitstudien-möglichkeiten. Dadurch wird vielen Studierenden eine wichtige Verbesserung derStudienumstände verwehrt. Immer noch sehen sich Studierende mit Kind oderehrenamtlich engagierte oder arbeitende Studierende mit unlösbaren Problemenkonfrontiert. Selbst Studiengänge, die ein Teilzeitstudium vorsehen, bieten diesesnicht semesterweise an, so dass eine flexible Lebensplanung nicht gegeben ist. InZeiten von Bachelor und Master, deren Regelstudienzeit bei sechs bzw. vier Se-mestern liegt, ist ein jahresweise angebotenes Teilzeitstudium das Gegenteil vonFlexibilität und Rücksicht auf sich ändernde Lebensumstände. So zeigt sich, dassTeilzeitstudieren kaum in der Praxis umsetzbar und ein nur jahresweise angebo-tenes Teilzeitstudium geradezu ein Affront gegen Studierende ist.

Die Forderung, alle Bachelor-Master-Zulassungsbeschränkungen durch ent-sprechende Änderungen der Rahmenzulassungsordnung abzuschaffen, wurdeschließlich sogar vom Senat der Universität Potsdam beschlossen, aber von derUnileitung leider noch nicht umgesetzt. Studentische Mitbestimmung in denakademischen Gremien blieb und bleibt ausbaufähig.

Das Land Brandenburg, vertreten durch die damalige Ministerin für Wissen-schaft, Forschung und Kultur Johanna Wanka (CDU), wurde von den Streiken-den aufgefordert, „verbindliche Zusagen zur Verbesserung der Situation an Bran-

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magazin

denburgischen Hochschulen abzugeben.“1 Zu den wichtigsten Forderungen ge-hörten weiterhin die „signifikante Erhöhung der Ausgaben für Hochschulen ausdem Haushalt des Landes Brandenburg, insbesondere die Schaffung von mindes-tens 300 Stellen im wissenschaftlichen Mittelbau zur Verbesserung der Betreu-ungsrelation“, die verbindliche Verankerung eines Rechtsanspruches auf einenMasterplatz bei abgeschlossenem Bachelor-Studium im Brandenburger Hoch-schulgesetz sowie eine generell stärkere Einbindung und Mitbestimmung vonStudierenden in den demokratischen Gremien der Hochschulen. Das CDU-geführte Wissenschaftsministerium zeigte wenig Kooperationsbereitschaft. Sostützten sich Hoffnungen auf die Wahlen im September 2009. Mit der neuen,rot-roten Landesregierung erwarteten die Studierenden einen deutlich erkenn-baren Fortschritt im wissenschaftspolitischen Bereich.

Das Kapitel „Wissenschaft, Forschung und Kultur“ im Koalitionsvertrag, derim September 2009 neu gewählten rot-roten Landesregierung weckt – in Teil-bereichen – Hoffnungen, deren Erfüllung man von eben dieser rot-roten Regie-rung jetzt auch erwarten darf. Von Investitionen über 200 Millionen Euro infünf Jahren in Brandenburgs Universitäten und Fachhochschulen sowie außer-hochschulische Forschungseinrichtungen ist da die Rede. Zwölf Millionen Eurofür den Erhalt von Studienplätzen wollte diese Landesregierung ausgeben. Fort-schrittlich gibt sich die Koalition auch mit der Aussage, dass jede und jeder Stu-dierende mit einem Bachelor-Abschluss auch die Chance haben muss, einenMasterstudiengang zu belegen.

Hoffnungen auf Rot-Rot

Anders als ihre CDU-Vorgängerin suchte die neue Wissenschaftsministerin Dr. Martina Münch (SPD) das Gespräch mit den Studierenden. Gemeinsamsuchte man nach einer für alle Seiten passablen Lösung, wobei Susanne Melior alswissenschaftspolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion und Sören Kosankeals damaliger Juso-Landesvorsitzender die Studierenden nach Kräften unterstütz-ten. Allein es fehlte der Mut zu einem klaren, auch bundesweit wegweisendenAkzent. Das neue Brandenburger Hochschulgesetz sieht für den Bachelor-Master-Übergang vor, dass die Hochschulen neben dem Bachelor-Abschluss Eignungs-und Qualifikationsvoraussetzungen für Masterstudiengänge festlegen können,„wenn dies wegen spezieller fachlicher Anforderungen des jeweiligen Masterstu-diengangs nachweislich erforderlich ist.“ Das ist eine zögerliche Formulierung,die den Studierenden immer noch keinen Rechtsanspruch auf einen Masterplatz

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maja s. wallstein – noch lange nicht zufrieden

zusichert. Mecklenburg-Vorpommern als vergleichbares ostdeutsches Bundeslandwar da mutiger und fand eine weitreichendere Lösung – mit einem CDU-Wissen-schaftsminister in einer SPD-CDU-Koalition!

Im Frühsommer 2010 beschloss die Landesregierung eine einmalige Ent-nahme von zehn Millionen Euro aus den Hochschulrücklagen, um den Lan-deshaushalt zu konsolidieren. Von Wort- und Rechtsbruch des Landes gegendie Hochschulen war die Rede. Schärfste Kritikerin war die damalige Präsi-dentin der Universität Potsdam Prof. Sabine Kunst, deren Universität denLöwenanteil zu erbringen hatte. Nach einer Rochade im Kabinett wurde ausder einstigen Kritikerin die neue Ministerin für Wissenschaft, Forschung undKultur. Dass sich daraus eine finanzielle Verbesserung im Hochschulbereichergibt, ist jedoch nicht absehbar – im Gegenteil, die neuen Haushaltsansätzevom Januar dieses Jahres sehen weitere, enorme Kürzungen für den Hoch-schulbereich vor. Wenn sie eins zu eins umgesetzt werden sollen, können siezur Schließung von Studiengängen und Fachbereichen, zur – hochschulpoli-tisch unsinnigen – Zusammenlegung von Hochschulen, zum Verzicht aufBundesmittel, die man nicht mehr gegenfinanzieren kann, und insgesamt zurStagnation beim ohnedies unterfinanzierten Hochschul- und Wissenschafts-ausbau im Land Brandenburg führen. Im Standortwettbewerb zum Beispielmit Sachsen oder Berlin um die Ansiedlung neuer, innovativer Unternehmenkönnte sich danach Brandenburg nicht mehr mit Erfolg als ein Land der Wis-senschaft und der Forschung darstellen.

Das Land müsste mehr tun

In Nordrhein-Westfalen bezeichnet die rot-grüne Regierung Bildungsinvestiti-onen ebenfalls als „Investition in die Zukunft“ – aber sie handelt auch finanzpo-litisch danach, unter anderem im Wissenschaftsbereich. Die Berliner Hochschu-len haben in den vergangenen Jahren rund 5.000 neue Studienplätze geschaffenund die rot-rote Berliner Regierung verkündet, auch hier finanzpolitisch glaub-würdig, einen weiteren, für den Wirtschaftsstandort Berlin wichtigen Ausbau derStudienplätze an den Berliner Hochschulen.

Wo bleibt hier das Land Brandenburg? Im Ländervergleich hat das Land einensehr geringen Pro-Kopf-Ausgabenansatz für die Hochschulen. Eine Investitions-erhöhung ist auf diesem Gebiet dringend geboten. Brandenburg müsste aus eige-nem Interesse ein Vorbild in der Zielsetzung sein, möglichst viele Abiturientin-nen und Abiturienten für ein Hochschulstudium zu werben; die Werbung

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müsste sich auch stärker auf Abiturienten aus anderen Ländern beziehen. DasLand müsste aus eigenem Interesse die Übergänge vom Bachelor- zu den Master-Studiengängen, wie etwa Berlin, offen halten. Das Land müsste sein Studien-platzangebot wie andere Länder auch, die zu Brandenburg in einer Wettbewerbs-situation stehen, ständig erweitern, um attraktiv für künftige Firmengründer undFirmenansiedlungen zu bleiben oder zu werden. Das Land müsste sich aktiv ummehr und neue Bundesgelder bemühen, statt eine Bundesmitfinanzierung man-gels eigener Finanzierungsbeiträge scheitern zu lassen.

Wo der Bund einsteigen kann

Rot-rote Politik sieht, was den Hochschul- und Forschungsbereich anbelangt, inBrandenburg offenbar ganz anders aus als im rot-roten Berlin. Es gibt in beiden„roten“ Parteien in Brandenburg wohl zu wenig Unterstützung für eine an denZukunftsbedürfnissen ausgerichtete Hochschul- und Forschungspolitik. Berlinsetzt dort – wie auch Nordrhein-Westfalen – auf Ausbau, Brandenburg offenbarauf Stagnation und Rückbau. Phänomene wie doppelte Abiturjahrgänge und dieAussetzung der Wehrpflicht werden vom Brandenburger Wissenschaftsministe-rium mit dem Hinweis kommentiert, dass Studienplätze in nächster Zeit wohlknapp werden könnten.

Dabei wäre, auch vor dem Hintergrund der finanzpolitischen Probleme desLandes, eine offensive Einwerbungspolitik für mehr Bundesgelder gerade jetzterforderlich. Auf der Grundlage einer neuen Rückbaustrategie im brandenburgi-schen Hochschulwesen kann eine derartige Initiative allerdings nicht erfolgreichsein. Im Bundesministerium für Bildung und Forschung wird geprüft, ob dieFernuniversität Hagen in Nordrhein-Westfalen nicht ganz oder größtenteils vomBund finanziert werden kann. Für diese Prüfung ist offenbar die Überlegungwichtig, dass Hagen über das Alleinstellungsmerkmal verfügt, die einzige Fern-unterrichtsuniversität in Deutschland zu sein. Über derartige Alleinstellungs-merkmale verfügt aber auch die Europa-Universität in Frankfurt (Oder) mit ihrerausgeprägten Orientierung auf Ostmitteleuropa und Osteuropa, vor allem aufPolen. Schon das allein könnte eine stärkere Bundesbeteiligung rechtfertigen. Wobleibt eine entsprechende Brandenburger Initiative?

Auch in anderen Bereichen ist eine stärkere Bundesmitfinanzierung denkbar.Eine entsprechende Einwerbungsinitiative kann aber auch hier nicht zum Erfolg

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maja s. wallstein – noch lange nicht zufrieden

1 Offener Forderungskatalog des Potsdamer Bildungsstreiks, einsehbar unter: www.bildungsstreikpotsdam.blogsport.de/offener-forderungskatalog/

führen, wenn sie vor dem Hintergrund einer Politik erfolgen soll, die auf eineReduktion der Brandenburger Wissenschaftspotentiale ausgerichtet ist.

Es muss die Frage gestellt werden dürfen, ob sich Brandenburg eine derartigePolitik leisten kann. Der 2007 verstorbene Philosoph Richard McKay Rorty traffür solch ein Politikverhalten - damals bezogen auf die amerikanische Regierung -mit warnenden Worten den Kern: „Nur eine Regierung, die vergessen hat, wozuUniversitäten da sind, wird glauben, dass sie auf diese Weise etwas spart.“ Klarist, wenn in diesem Sommer die Folgen der Spar- und Rückbaupolitik der Lan-desregierung sichtbar werden, ist auch wieder mit neuen Hochschulprotesten zurechnen. Die Landtagswahlen im Frühjahr zeigen, dass daraus vor allem dieGrünen profitieren werden und die herausgehobene Stellung der BrandenburgerSPD im Bundesvergleich gefährdet wird. Die Brandenburger Sozialdemokratiesollte den beschlossenen Diskussionsprozess zu „Brandenburg 2030“ als Chancenutzen, einen Paradigmenwechsel in der Wissenschaftspolitik zu vollziehen, da-mit Brandenburg und die SPD als Brandenburg-Partei zukunftsfähig bleiben. �

M A J A S. W A L L S T E I N

ist stellvertretende Juso-Landesvorsitzende und war bis 2010 Senatorin der Universität Potsdam.

24 juni 2011 – heft 48

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D ie Zeit ist reif für eine große De-batte in unserem Land. Im Jubi-

läumsjahr 2010 haben wir zurückge-blickt, jetzt brauchen wir den Blicknach vorn. Eine Enquete-Kommissiondes Landtages soll sich mit möglichenGebietsreformen beschäftigen. Das istgut – genügt aber nicht. Allein mit Be-ratungen unter Politikern und Expertengewinnen wir nicht die Zukunft. Waswir jetzt brauchen, ist eine umfassendeVerständigung der gesamten Gesell-schaft darüber, wie wir künftig in unse-rem Land leben wollen. Als freie Bür-gerinnen und Bürger sollten wir mitHerzblut darüber diskutieren, was unswirklich am Herzen liegt, wenn es umdie Zukunft unseres Landes geht.

Warum sollten wir diese Diskussiongerade jetzt beginnen? Weil die Zeitdafür günstig ist wie nie: Das vergange-ne Jahr war das Beste in der gesamtenjüngeren Geschichte Brandenburgs.Unsere Wirtschaft ist 2010 weiter kräf-tig gewachsen, die Arbeitslosigkeit imLand zum ersten Mal seit 1991 wiederunter 10 Prozent gefallen. Branden-burg erhält begehrte Auszeichnungen:als „dynamischste Wirtschaftsregion“Deutschlands, als „europäische Unter-

nehmerregion“, als deutscher Spitzen-reiter bei den erneuerbaren Energien.Manche reiben sich die Augen, abergenau dies ist die neue BrandenburgerWirklichkeit: Aus dem „Land der ge-scheiterten Großprojekte“ ist ein echtes„Aufsteigerland“ geworden.

Märker sind Realisten

Leicht war das nicht. Aber wir allein Brandenburg haben uns zwei Jahr-zehnte lang schwer ins Zeug gelegtund Neues aufgebaut. Uns blieb garkeine andere Wahl, denn unseremLand wurde historisch nicht viel Wohl-stand in die Wiege gelegt. Umso ein-drucksvoller sind die Umbrüche, diewir bewältigt haben. Wir haben unse-rer Wirtschaft mit Zukunftsbranchenwie Luftfahrt, Biotechnologie, Energie,Gesundheit oder Filmindustrie kom-plett neue Grundlagen gelegt.

Anders gesagt: Wir haben uns inden vergangenen zwei Jahrzehnten einstarkes Fundament geschaffen. Dasrechtfertigt Selbstbewusstsein – auchStolz. Aber jetzt stellen sich neue Fra-gen: Wie soll das Haus aussehen, daswir auf dem entstandenen Fundament

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thema – wie wollen wir leben?

Wie wollen wir leben?WARUM WIR IN BRANDENBURG EINE DEBATTE ÜBER UNSERE

ZUKUNFT BRAUCHEN

VON MATTHIAS PLATZECK

bauen wollen? Wie soll hier gearbeitetwerden? Womit können wir künftigunser Geld verdienen? Wie wollen wirunser kulturelles Leben organisieren?Was ist uns wichtig, was weniger wich-tig? Kurz: Wie wollen wir leben?

Wir Märker sind Realisten. Wir wissen, dass wir kein Wolkenkuckucks-heim errichten können. Aber unsergemeinsames Haus Brandenburg wet-terfest und bewohnbar für alle ausbau-en – das können wir schaffen. Dafürwerden wir in den nächsten Jahrenviele gute neue, kreative, auch unge-wöhnliche Ideen brauchen.

Was kommt auf uns zu? Jeder weißes: Der Solidarpakt läuft aus, und dieEU-Förderung geht voraussichtlich zu-rück. Und schließlich werden wir auchweniger Geld aus dem Länderfinanz-ausgleich erhalten. Der nämlich er-rechnet sich nach der Einwohnerzahl –und die sinkt. Darum wird unserHaushalt bis 2019 um bis zu 20 Pro-zent schrumpfen. Das klingt drama-tisch, bedeutet aber andererseitsschlicht Normalität und „Westniveau“:Flächenländer wie Rheinland-Pfalzoder Niedersachsen kommen schonheute mit den Mitteln aus, die uns ab2020 noch zur Verfügung stehen.

Auch die Schrumpfung und Alterungunserer Gesellschaft geht weiter. DerLandkreis Prignitz zum Beispiel wird2030 noch ganze 60.000 Bewohner auf-weisen; in insgesamt neun unserer heu-tigen 18 Landkreise und kreisfreien

Städte werden dann jeweils weniger als 100.000 Menschen leben. Zugleicherleben wir verblüffende Gleichzeitig-keiten: In Frankfurt an der Oder wirdes 2030 kaum mehr Einwohner gebenals in der früheren Kleinstadt Falkensee:51.000 in Frankfurt, 48.000 in Falken-see; noch 1989 hatte Frankfurt 88.000Einwohner und Falkensee 23.000!

Langfristige Trends wie diese lassensich nicht vollständig umdrehen. Des-halb werden wir auch darüber diskutie-ren müssen, wie sinnvoll es ist, beste-hende Gemeinde- und Kreisstrukturenum jeden Preis zu verteidigen. Ich je-denfalls kann mir schlicht nicht vorstel-len, dass wir in Brandenburg im Jahr2020 noch dieselbe Struktur und Zahlvon Gemeinden, Kreisen und kreisfrei-en Städten haben werden wie heute.

Was wir schaffen wollen

Es geht aber noch um mehr: Wie er-halten wir die Mobilität im ländlichenRaum? Wird unser Regionalbahnsys-tem noch finanzierbar sein? Könnenwir das System der Schulbusse aufrecht-erhalten? Die Zahl der Schüler sinkt ja weiter. Welche Lösungen finden wirfür Bildung, Gesundheitsversorgungoder Pflege auf dem Land? Anderswo –in Finnland, in Nordschweden oder inKanada – findet man bei noch vieldünnerer Besiedlung ja auch Antwor-ten. Warum sollte uns nicht gelingen,was andere schaffen?

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thema – wie wollen wir leben?

Allerdings: Die Gefahr ist nichtgering, dass wir stattdessen in einenegative Diskussion geraten, in der es nur noch um Abbau, Defizite undSchuldzuweisungen geht. Mit solcheiner Debatte würden wir uns nurselbst schaden. Wir in Brandenburgsollten uns zutrauen, trotz aller kom-menden Schwierigkeiten darüber zureden, wie wir eigentlich leben, arbei-ten und klarkommen wollen.

Auf ’s Miteinander kommt es an

Meine eigenen Werte und Prinzipiensind bekannt. Ich möchte, dass inBrandenburg auch weiterhin RegineHildebrandts berühmtes Motto gilt:„Kinder, vergesst nicht, der eigentlicheSinn des Lebens liegt im Miteinander.“Die große Mehrheit der Brandenbur-ger sieht es genauso, die Ideen des Mit-einanders und des Gemeinsinns sind beiuns im Land tief verwurzelt. Deshalbbin ich für Modernisierungen und Re-formen, die den Zusammenhalt stär-ken und nicht schwächen.

Ganz gleich, für welche Umbautenwir uns am Ende entscheiden: Wir müs-sen Lösungen finden, die nicht – wie imFall der Gemeindegebietsreform von2003 – schon nach wenigen Jahren wie-der von vorhersehbaren Entwicklungen

überrollt werden. Eben deshalb möchteich die Debatte unter das Motto „Leit-bild Brandenburg 2030“ stellen: Unseregrundlegenden Entscheidungen müssensich als langfristig tragfähig erweisen.

Ich wünsche mir, dass sich möglichstviele Brandenburger an dieser Debattebeteiligen. Die zentralen Weichenstel-lungen, die vor uns liegen, sollten nichtnur von parlamentarischen Mehrheitengetragen sein, sondern von einem brei-ten Konsens in der Gesellschaft. DiesenKonsens kann niemand vorgeben, wirBrandenburger müssen ihn uns imWettstreit der Ideen erarbeiten. So kannes gelingen, dass das Wort „Reform“wieder einen positiven Klang erhält –und nicht von der Mehrheit der Bevöl-kerung als Bedrohung empfunden wird.

Deshalb sollen alle mitreden kön-nen: Es gibt so viel geballte Kompetenzin unserer Gesellschaft, in Stadt undLand, in Wirtschaft, Wissenschaft undPolitik, in Kirchen und Gewerkschaf-ten, in Kultur und Sport, bei Laienund ehrenamtlich Engagierten, beiProfis und Experten. Wir alle solltennoch viel intensiver ins Gespräch kom-men und uns fragen, was wir gemein-sam für unser Land tun können. Bran-denburgs Zukunft hängt von vielenEinzelfaktoren ab – aber vor allem vonuns selbst. �

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matthias platzeck – wie wollen wir leben?

M A T T H I A S P L A T Z E C K

ist Ministerpräsident des Landes Brandenburg und Vorsitzender der Brandenburger SPD.

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Im vergangenen Jahr konnte die Bran-denburger SPD auf zwanzig Jahre er-

folgreicher Regierungspolitik zurückbli-cken. 20 Jahre, in denen Brandenburgwie alle anderen ostdeutschen Bundes-länder eine tiefgreifende Transforma-tion durchlaufen hat, die geprägt warvom Wechsel von der sozialistischenDDR-Planwirtschaft hin zu einer sozia-len Marktwirtschaft. In vielen RegionenBrandenburgs ging das einher mit dra-matischer Deindustrialisierung, auchdie Landwirtschaft verlor als wichtigerBeschäftigungssektor drastisch an Be-deutung. Gleichzeitig entstanden neueArbeitsplätze im nicht-staatlichenDienstleistungssektor, in nennenswerterAnzahl etwa im Tourismus und bei per-sonenbezogenen Dienstleistungen. Aberauch neue industriepolitische Struktu-ren bilden sich heraus, nicht nur imBereich der alternativen Energien oderder Biotechnologie.

Brandenburg hat aber im Unter-schied zu den anderen neuen Bundes-ländern eine spezifische Entwicklungim Gefolge der Transformation der

vergangenen 20 Jahre zu verzeichnen,denn die Entwicklung verlief in deneinzelnen Regionen des Landes sehrunterschiedlich. Während die Entwick-lung im Berliner Umland vorrangigvon Zuzug vieler junger Familien unddem Entstehen neuer Arbeitsplätze ins-besondere im Dienstleistungsbereichgeprägt war, haben in den BerlinfernenRegionen die Deindustrialisierung Ab-wanderung und – in dessen Gefolge –schon jetzt eine negative demografischeEntwicklung befördert.

Die Nachwendezeit ist zu Ende

Heute kann der durch den System-wechsel bedingte Transformationspro-zess als abgeschlossen betrachtet, die„Nachwendezeit“ als beendet angese-hen werden. Dies bedeutet aber nichteine dauerhafte Stabilisierung desStatus quo. Brandenburg wird sichauch in den kommenden 20 Jahrenweiter verändern. Das Brandenburg des Jahres 2030 wird ein anderes Landsein als das Brandenburg des Jahres

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Einladung zumMitmachen WIE DIE ZUKUNFTSKOMMISSION DER SPD EIN LEITBILD FÜR

BRANDENBURG ERARBEITEN WIRD

VON KLAUS NESS UND MIKE SCHUBERT

2011. Das ist der Ausgangspunkt fürdie von der Brandenburger SPD undihrem Ministerpräsidenten MatthiasPlatzeck angestoßene Debatte um ein„Leitbild Brandenburg 2030“. So wiein den Jahren 1989 und 1990 dieGründergeneration ihre Visionen fürdie Zukunft des Landes Brandenburgentwarf, so soll jetzt gut zwei Jahr-zehnte später das Bild für die kom-menden zwei Jahrzehnte entworfenwerden. Oder anders ausgedrückt: Wirwollen jetzt Antworten auf die Fragefinden, welche Reformen in den nächs-ten Jahren notwendig sind, damitBrandenburg auch im Jahr 2030 nochein lebenswertes Land mit gleichwerti-gen Lebenschancen in allen Regionenbleibt.

Reformen stehen ins Haus

Dabei geht es darum, Antworten fürdie vor dem Land stehenden Heraus-forderungen zu suchen. Beispielsweisefür die nicht nur durch das Auslaufendes Solidarpaktes II geringer werdendenfinanziellen Mittel, weiter sinkendeBevölkerungszahlen und drohendenFachkräftemangel. Wie werden wir inZukunft zusammenleben, lernen, ar-beiten und unsere Verwaltung organi-sieren? Bei den Antworten auf dieseFragen gibt es keine fertigen Blaupau-sen und erst recht keine, die auf dasganze Land passen. Die Situation inCottbus ist eine andere als in Potsdam.

Und der Landkreis Dahme-Spreewaldmit dem neuen Flughafen braucht an-dere Lösungsangebote als die Ucker-mark.

Brandenburg steht also auch in denkommenden Jahren vor dringend not-wendigen Reformen. Die Erfahrungder vergangenen Jahre hat gezeigt, dassReformen, die nicht begründet unddeshalb auch nicht verstanden werden,große Widerstände hervorrufen. Auchaus diesem Grund hat Matthias Plat-zeck dazu aufgerufen, das ganze Landin ein großes Gespräch darüber zu ver-wickeln, wie wir in Zukunft leben wol-len. Das Ziel dieses „Gesprächs“ musses beispielsweise sein, dass in möglichstgroßen Teilen der Brandenburger Be-völkerung der gleiche Wissenstanddarüber vorhanden ist, welche Aus-wirkungen der demografische Wandelund die sich verändernde Finanzsitu-ation des Landes auf die eigene Hei-matregion, aber auch das gesamteBundesland hat.

Das Umland wächst

Noch immer wird nicht von allen dieDramatik der vor dem Land liegendenVeränderungen realisiert. Aber unserLand steht vor einer zweiten Transfor-mationswelle, die ähnlich tiefgreifendsein wird, wie die Veränderungen inden neunziger Jahren des letzten Jahr-hunderts. Brandenburgs Bevölkerungwird älter und insgesamt weniger.

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thema – wie wollen wir leben?

Während es in den Berlinfernen Regio-nen erhebliche Bevölkerungsverlustegeben wird, erlebt das Berliner Um-land weiterhin Zuzug. Dies wird dieBevölkerungsverteilung im Land biszum Jahr 2030 deutlich verschieben,der Anteil im engen Raum innerhalbdes Berliner Rings wird weiter zuneh-men, im gesamten anderen Teil desLandes aber deutlich abnehmen. ObGesundheitsvorsorge, Schulangebot,ehrenamtliche Strukturen, Nähe zuVerwaltung und auch gewählten Ab-geordneten – auf jeden Bereich unseresZusammenlebens wird sich diese Be-völkerungsentwicklung auswirken.

Nur noch acht Milliarden

Gleichzeitig wird sich die Einnahme-situation des Landes drastisch verän-dern. Der Landeshaushalt wird vonderzeitig 10 Milliarden Euro bis zumJahr 2020 sukzessive auf etwa 8 Milli-arden absinken. Aufgrund der zurück-gehenden Bevölkerung verringern sichdie Einnahmen aus dem Länderfinanz-ausgleich. Hinzu kommen das Aus-laufen des Solidarpakts und ein Absin-ken der Fördermittel der EuropäischenUnion. Erst auf der Basis eines hohenInformationsstandes kann eine ver-nünftige Debatte über Handlungs-alternativen geführt werden. DieseDebatte soll ohne Zeitdruck erfolgenund in ein „Leitbild Brandenburg2030“ münden.

Leitbilder entstehen nicht überNacht. Die Wegstrecke bis zu ihrerFertigstellung ist lang. Sie bieten aberdie Chance, mehr als nur eine Zusam-menfassung von politischen Ideen undProjekten zu werden. Dafür müssen sievon Beginn an darauf setzen, aucheinen Beitrag zur Identifikation derMitglieder mit ihrer Partei und derVertrauensbildung der Bürgerinnenund Bürger durch frühzeitige Einbe-ziehung zu leisten.

Dazu gilt es, sich bei der Erarbei-tung einiger aktueller Probleme vonparteipolitischer Arbeit zu stellen. DieAufgabe von Parteien ist es, Interessenund Meinungen von Mitgliedern sowieWählerinnen und Wählern in Pro-grammen zu bündeln und dann inkonkretes Handeln umzusetzen. SeitJahren gibt es eine breite öffentlicheDebatte darüber, ob dies den etablier-ten Parteien noch gelingt. Stichwortewie Politik- und Parteienverdrossen-heit, Demokratiedefizit beherrschenderzeit eher die öffentliche Meinungvon der Arbeit der Parteien. DieGründe dafür sind vielschichtig undsicher nicht vollständig bei den politi-schen Entscheidungsträgern zu suchen.Vor allem auf das veränderte Informa-tions- und Teilhabeverhalten der Bür-gerinnen und Bürger haben Parteienbisher nur ungenügende Antworten.Bei der Frage mit welchen Formenman Interessen und Meinungen erfasst,befinden sich die meisten Parteien

31perspektive21

klaus ness & mike schubert – einladung zum mitmachen

derzeit in einem Prozess des Auspro-bierens neuer Formen der Beteiligung.Die Brandenburger SPD beschreitetbei der Erarbeitung ihres LeitbildesBrandenburg 2030 ebenfalls einenWeg, der für sie Neuland ist.

Start der Leitbilddebatte

Die Leitbilddebatte reiht sich damit inden 2010 auf dem Landesparteitagbegonnenen Erneuerungsprozess derSPD Brandenburg ein. Dem Personal-konzept „SPD 2020 plus“, mit demjunge Mitglieder das Rüstzeug fürkommende Aufgaben erhalten sollen,wird eine weitere Komponente hinzu-gefügt. Dabei sollen möglichst vieleunserer Mitglieder mitwirken. Deshalbwird die Leitbilddebatte von Beginn ankonzeptionell mit neuen innerparteili-cher Arbeitsstrukturen verbunden, dieeine breite Teilhabe zulassen. Hinzukommt, dass sich die Partei für gesell-schaftliche Gruppen und interessierteBürgerinnen und Bürger öffnet. Mit-arbeit soll nicht vom Parteibuch ab-hängig gemacht werden. Vorbedingungdafür ist, dass durch längere Vorläufebei der Erarbeitung der Inhalte, Raumfür Diskussionen geschaffen wird.

Eine vom Landesvorstand eingesetz-te Zukunftskommission, der Vertreteraller sozialdemokratischen Unterglie-derungen angehören, strukturiert denProzess inhaltlich und organisatorischvor. Daneben arbeiten auch eine Reihe

prominenter und anerkannter externerAutoritäten in der Kommission mit, sozum Beispiel der Chef der IG Metall,Olivier Höbel, der Experte für Ver-waltungsmodernisierung, ProfessorWerner Jann, die Leiterin des ErknerInstituts für Regionalentwicklung undStrukturplanung, Professor HeideroseKilper oder der international anerkann-te Bildungsexperte, Professor MartinBaethge. So wird gewährleistet, dassIdeen und Vorschläge aus dem ganzenLand Eingang in unser Leitbild finden.Darüber hinaus werden alle Gliederun-gen der SPD ausreichend Zeit habenzu diskutieren, Ergänzungen und Än-derungen vorzuschlagen. Die Erarbei-tung des Leitbildes erfolgt in vierPhasen.

VORBEREITUNGSPHASE. Ziel dieserPhase ist es, die konzeptionellenGrundlagen und eine Planung zu ent-werfen. Darauf aufbauend wird durcheine aktive Bewerbung des Prozesses inden Parteigliederungen dafür Sorgegetragen, dass zu Beginn der Beteili-gungsverfahren bei Mitgliedern undNichtmitgliedern Kenntnis über dieLeitbilddebatte vorhanden ist und Lustam Mittun geweckt wird. Die Arbeits-strukturen der Zukunftskommissionwerden vorgestellt, um bereits in dieserfrühen Phase Rückkopplung und er-gänzende Vorschläge zu ermöglichen.Eine Internetseite informiert über denAblauf und die Kommissionsarbeit und

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thema – wie wollen wir leben?

bietet eine Plattform für eigene Ideenund den Dialog über Vorschläge fürMitglieder und Nicht-Mitglieder.Dieses Angebot wird Schritt für Schrittausgebaut und erweitert. Regelmäßigsoll auch in Publikationen, wie demVorwärts über den Fortgang informiertwerden,

ENTWURFSPHASE. Als Basis für dieweitere Diskussion wird bis zumHerbst 2011 ein Thesenpapier erarbei-tet. Es ist eine pointierte Situationsbe-schreibung und fasst die Herausforde-rungen für Brandenburg bis zum Jahr2030 zusammen. Das Papier wird ersteLösungsansätze aufzeigen und zuspit-zen. Die Thesen werden in den fünfArbeitsgruppen der Zukunftskommis-sion erarbeitet. Die Diskussion in denArbeitsgruppen „Bildung und Wissen-schaft“, „Wirtschaft, Arbeit und Um-welt“, „Gesellschaft und Soziales“,„Verwaltung und Staatswesen“ sowie„Regionen“ bilden im Ergebnis dieGrundlage für den späteren Entwurfdes Leitbildes.

RÜCKKOPPLUNGSPHASE. In der Phasewird das Thesenpapier in den Gliede-rungen der SPD und im ganzen Landzur Diskussion gestellt. Mitglieder undNichtmitglieder können sich mit kon-kreten Vorschlägen in die Debatteeinbringen. Hierbei wird es darauf an-kommen, vielfältige Formen der Beteiligung anzubieten, um möglichst

viele innerhalb und außerhalb der Bran-denburger SPD von einer Mitarbeit zubegeistern.

Entscheidend für den Erfolg des ge-samten Projektes wird sein, dass wäh-rend der Rückkopplung nicht nur überdie Thesen informiert wird, sonderndass SPD-Mitglieder und Nicht-Mit-glieder Einfluss auf das spätere Leitbildnehmen können. Das ist der zentralePunkt. Denn nur, wer aktiv Einflussnehmen kann, wird sich am Ende auchmit dem Leitbild identifizieren. Dabeimuss am Ende nicht jeder Vorschlagauch Eingang in das abschließendeErgebnis finden. Vielmehr muss trans-parent sein, wie mit den Vorschlägenverfahren wird, warum ein VorschlagEingang findet oder verworfen wird.Dieses muss den Vorschlagenden mit-geteilt werden. Das direkte Feedbackist mehr als nur ein Symbol der Wert-schätzung gegenüber den Mitwirken-denden, sondern erläutert auch die vonder Zukunftskommission getroffenenEntscheidungen. Das Thesenpapierund die Vorschläge, die im Rahmender Rückkopplungsphase gemacht wer-den, bilden die Grundlage für den Leit-bildentwurf, der 2012 abschließenddurch die Kommission erarbeitet wird.

UMSETZUNGSPHASE. Zum Abschlussdes rund eineinhalbjährigen Prozesseswird der Leitbildentwurf 2012 demLandesparteitag zur Beschlussfassungvorgelegt. Nach der Beschlussfassung

33perspektive21

klaus ness & mike schubert – einladung zum mitmachen

können aus dem damit vorhandenenZukunftsprogramm der BrandenburgerSPD konkrete Maßnahmen für dasLandtagswahlprogramm abgeleitet wer-den. Wichtig wird darüber hinaus wer-den, das Leitbild „Brandenburg 2030“und den dazu gehörigen Erarbeitungs-prozess in verschiedenen Formen inallen Regionen des Landes vorzustellenund die im Leitbild gesammelten Ideenzu diskutieren.

Blaupause für Dialog

Unzweifelhaft begibt sich die Branden-burger SPD mit dem Leitbild „Bran-denburg 2030“ und der dazu geplantenbreiten Zukunftsdebatte auf einen neuenWeg. Die weit über den Rahmen einerparlamentarischen Legislaturperiodehinaus weisenden programmatischenAussagen zur Zukunft des LandesBrandenburg werden für die SPD dieLeitplanken auf dem zukünftigen„Brandenburger Weg“ bilden. Der

inhaltliche Rahmen für die Fortsetzungder erfolgreichen Politik der letztenzwanzig Jahre wird damit gesetzt.

Verbunden mit einem Prozess derkonsequent auf Transparenz, Informa-tion, Beteiligung und Mitendschei-dungsmöglichkeiten für SPD-Mitglie-der und Nicht-Mitglieder setzt, ist dieZukunftsdebatte über das LeitbildBrandenburg 2030 auch ein Versuchmit noch offenem Ausgang. Damit rea-giert die SPD nicht nur auf Symptomeder aktuellen Parteienverdrossenheit,sondern greift auch auf ihre zivilgesell-schaftlichen Traditionen und Wurzelnin der Bürgerbewegung der DDR zu-rück. Die Teilhabe an der Erarbeitungbekommt so einen ähnlich großen Stel-lenwert, wie das Leitbild „Brandenburg2030“ selbst. Bei Erfolg kann dies viel-leicht eine Blaupause für den künftigenDialog zwischen Bürgern und Parteien,aber auch für Diskussionsprozesse in-nerhalb einer Partei, zumindest für dieBrandenburger SPD werden. �

34 juni 2011 – heft 48

thema – wie wollen wir leben?

K L A U S N E S S

ist Generalsekretär der Brandenburger SPD.

M I K E S C H U B E R T

ist Vorsitzender des SPD-Unterbezirks Potsdam und Leiter derZukunftskommission der Brandenburger SPD.

A ltwerden ist nichts für Feiglinge“fasst Joachim Fuchsberger seine

Erfahrungen der letzten Jahre zusam-men. Ironisch plädiert er in seinemjüngsten Buch dafür, sich von demogra-fischen Prognosen nicht den Lebens-abend verderben zu lassen. Und rechthat er. Als vor etwa einem Jahrzehnt derDiskurs über den demografischen Wan-del eine breitere Öffentlichkeit erreich-te, war er häufig mit vielen Zahlen,

Untergangsszenarien und Schreckens-gemälden verbunden. Die Bevölkerunggehe massiv zurück, überall würden nurnoch Alte wohnen und viele Orte müss-ten verlassen werden. Dies hatte zwei-fellos den Effekt, dass Bevölkerungsent-wicklung als Thema überhaupt undendlich wahrgenommen wurde, obwohldoch bereits seit den achtziger Jahrendie ersten Studien und Warnsignale zulesen waren.

35perspektive21

Nichts für Feiglinge DER DEMOGRAFISCHE WANDEL BRAUCHT EINE

OPTIMISTISCHE UND ZUPACKENDE GRUNDHALTUNG

VON THOMAS KRALINSKI

Zahl der Geburten in Brandenburg

Quelle: Amt für Statistik BE-BB

Nach dem Absturz der Geburtenrate in den neunziger Jahren stabilisierte sich die Zahl derNeugeborenen im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Das „demografische Echo“ wird bis2030 jedoch unweigerlich zu einem erneuten Rückgang der Geburten führen.

40.000

29.000

18.000 18.000

13.000 10.000

1980 1990 2000 2010 2020 2030

Heute wird nicht mehr bestritten,dass die grundsätzlichen Trends des de-mografischen Wandels enorme Auswir-kungen haben werden auf die Art, wiewir leben, wie wir wirtschaften, wie wirunseren Staat und unsere Gesellschaftorganisieren. Es ist ein wenig Sachlich-keit in die Diskussion gekommen, mankann auch sagen: Langeweile. Wir befin-den uns schlicht mitten in der demogra-fischen Transformation unseres Landes.

Wir werden älter und gesünder

ERSTENS: PROGNOSEN SIND SCHWIE-RIG, WENN SIE IN DIE ZUKUNFT GE-RICHTET SIND. Wer sich die Bevölke-rungsprognosen der vergangenen Jahreanschaut, sieht zweierlei: Die Prognosenmögen (auch regional) schwanken, inder Grundtendenz ändert sich nicht soviel. So ist vor ein paar Jahren den gro-ßen Städten in Ostdeutschland noch einenormer Bevölkerungsschwund vorher-gesagt worden, während man heute (inbeschränktem Umfang) durchaus vonder Renaissance der Städte sprechenkann. Aber dennoch bleiben ein paarFakten, die hier kurz vorgestellt werdensollen und deren Wirkungsmacht sonachhaltig ist, dass sie die grundsätzli-chen Entwicklungen der kommendenJahre bestimmen werden:

� Die Geburtenrate ist und bleibt nied-rig. Nach dem starken Einbruch zuBeginn der neunziger Jahre werden

zwar wieder (etwas) mehr Kinder geboren, doch nach wie vor bekom-men die Frauen in Brandenburg imDurchschnitt nur etwa 1,4 Kinder.Vor allem aber müssen wir mit dem„demografischen Echo“ rechnen,denn die in den neunziger Jahrennicht geborenen Kinder werden 20,30 Jahre später auch keine Kinderbekommen können. Das heißt, dassdie absolute Zahl der Neugeborenenim kommenden Jahrzehnt weiterzurückgehen wird (selbst wenn dieZahl der Kinder pro Frau ein wenigsteigen sollte). Nach einem demo-grafisch „ruhigen“ Jahrzehnt wird in den kommenden zehn Jahren dieZahl der Neugeborenen um etwa 30 Prozent zurückgehen, außer inPotsdam kann kein Kreis mit einersteigenden Geburtenzahl rechnen.Das hat erneute Konsequenzen erstfür die Größe und Zahl von Kitas,später für die der Schulen.

� Wir werden älter und gesünder. Seitder friedlichen Revolution ist dieLebenserwartung in Brandenburgum ganze sechs Jahre gestiegen.Dieser Trend setzt sich fort. Schät-zungen gehen von ein bis drei Mo-naten zusätzlicher Lebenserwartungpro Jahr aus. Jedes zweite (!) heutegeborene Kind hat eine 50-prozenti-ge Chance, 100 Jahre alt zu werden.Und die nächste gute Nachricht: Äl-tere Menschen sind heute wesentlichgesünder als noch vor ein paar

36 juni 2011 – heft 48

thema – wie wollen wir leben?

Jahren. Heute Fünfundsechzigjährigehaben in etwa das Gesundheitsni-veau von Fünfundfünfzigjährigenvon vor 40 Jahren. Der Anteil derüber 65-Jährigen wird in den kom-menden zwei Jahrzehnten um zweiDrittel zunehmen. Die Zahl der über80-Jährigen wird sich gar verdop-peln. Derzeit kommen auf 100 Bran-

denburger im Alter von 20 bis 65 Jah-re 36 über 65-Jährige, 2030 werden esüber 78 sein.

� Die Abwanderung geht zurück. DassMenschen von A nach B ziehen, istvollkommen normal. Brandenburghat viele Jahre von diesem Trendprofitiert, als zehntausende BerlinerFamilien vor die Tore der Stadt gezo-

37perspektive21

thomas kralinski – nichts für feiglinge

2008 2030 2008 zu 2030 in %

Brandenburg/ Havel 72.500 62.800 -13%

Cottbus 101.800 85.500 -16%

Frankfurt (Oder) 61.300 51.100 -17%

Potsdam 153.000 182.500 +19%

Barnim 176.900 162.900 -8%

Dahme-Spreewald 161.500 153.800 -5%

Elbe-Elster 115.600 87.500 -14%

Havelland 155.100 151.500 -2%

Märkisch-Oderland 192.000 174.600 -9%

Oberhavel 202.200 190.000 -6%

Oberspreewald-Lausitz 125.200 93.800 -15%

Oder-Spree 186.500 153.800 -18%

Ostprignitz-Ruppin 104.800 82.400 -21%

Potsdam-Mittelmark 204.300 192.100 -6%

Prignitz 84.300 61.800 -27%

Spree-Neiße 130.600 95.700 -27%

Teltow-Fläming 160.100 147.500 -8%

Uckermark 132.800 98.200 -26%

Land Brandenburg 2.522.500 2.227.300 -12%

Berliner Umland 892.200 955.900 +7%

äußere Regionen 1.630.300 1.271.400 -22%

Bevölkerungsentwicklung in den Kreisen

Quelle: Amt für Statistik BE-BB

Einzig Potsdam kann in den kommenden zwei Jahrzehnten mit deutlichem Bevölkerungszu-wachs rechnen. Trotz des Bevölkerungsrückgangs in den äußeren Regionen wird 2030 dortdie Mehrheit der Brandenburger (57 Prozent) leben.

gen sind. Brandenburg hat gleichzei-tig darunter gelitten, dass zehntau-sende vor allem junge Menschen aufder Suche nach Jobs und guten Löh-nen in die alten Länder (und nachBerlin) gezogen sind. Beide Trendshaben sich merklich abgekühlt. 2009sind so wenig Menschen wie nie zu-vor aus Brandenburg weggezogen.Nun sind auch in diesem Fall Pro-gnosen schwierig, denn zum einenhaben sich die Jobchancen in Bran-denburg in den vergangenen Jahrendeutlich verbessert. Gleichzeitig lei-den mittlerweile viele westdeutscheFirmen unter Fachkräftemangel undlocken mit höheren Löhnen.

ZWEITENS: DER DEMOGRAFISCHE

WANDEL IST ÜBERALL, ABER NICHT

ÜBERALL GLEICH. Brandenburg ist eines der wenigen Länder, wo sich dieunterschiedlichen demografischenTrends in unterschiedlicher Weise aus-prägen. Das Berliner Umland – undinsbesondere Potsdam – profitiert weiterhin von der Nähe zur Bundes-hauptstadt und kann auch in den kom-menden Jahren mit leichtem Bevölke-rungszuwachs rechnen. Zunehmendwird auch im Umfeld des neuen Ber-liner Flughafens damit gerechnet, dassdie Einwohnerzahlen steigen. Somitverfügt das Land über demografischeInseln, die sich deutlich von den ande-ren Regionen im Land unterscheiden.In und um Berlin entsteht ein moder-ner europäischer Verdichtungsraum,der große Attraktivität auf Wissen-schaft, Kultur, Tourismus und Logistikausübt. Auf zehn Prozent der Landes-fläche werden sich demnächst 40 Pro-zent der Brandenburger Bevölkerungkonzentrieren.

Deutschlandweit einmalig

Je weiter Städte und Regionen vonBerlin und seinem Umland entferntsind, umso stärker sind die bremsendenEffekte des demografischen Wandelssichtbar. Infolge der Abwanderung undder niedrigen Geburtenrate der vergan-genen Jahre wird die Bevölkerungszahlstark schrumpfen. Das geht einher mit

38 juni 2011 – heft 48

thema – wie wollen wir leben?

Bevölkerung nach Altersgruppen

in % der Gesamtbevölkerung

15% 13%

22%

13%

42%

39%

21%

34%

2010 2030

über 67-Jährige

40- bis 67-Jährige

20- bis 40-Jährige

unter 20-Jährige

Die Anteile der verschiedenen Altersgrup-pen verschieben sich deutlich. Die Gruppeder beruflich Aktiven wird dabei deutlichälter und kleiner.

einem einmaligen Rückgang der Bevöl-kerung im erwerbsfähigen Altern (hierdefiniert als die 20- bis 65-Jährigen).Ihre Zahl geht – wie in der Prignitz undder Uckermark – um bis zu 49 (!) Pro-zent zurück. Gleichzeitig verdoppelt sichin den äußeren Regionen der Anteil derüber 67-Jährigen bis 2030. Fast 40 Pro-zent (!) werden dann diese Altersgrenzeüberschritten haben (im Berliner Um-land 29 Prozent). Einzig Potsdam kannmit einer leicht zunehmenden Zahl anpotentiellen Arbeitskräften rechnen.

Das ist deutschlandweit einmaligund dieser Trend hat sich gegenüberder vorletzten Bevölkerungsprognosesogar verstärkt. Jenseits des BerlinerUmlandes wird es in wenigen Jahren zueiner dramatischen Lücke in der Er-werbsbevölkerung kommen. Das kannauf der einen Seite zu einer massivenAbnahme der Arbeitslosigkeit führen.Auf der anderen Seite müssen verschie-dene Maßnahmen dazu führen, dassmehr Menschen Arbeit aufnehmen und annehmen. Nötig ist hier ein ko-ordiniertes Ineinandergreifen von Fort-und Weiterbildung, längerer Lebens-arbeitszeit, besserer Vereinbarkeit vonJob und Familie sowie Anreizen fürZuwanderer aus nah und fern.

DRITTENS: FAMILIENPOLITIK IST WICH-TIG, RETTET UNS ABER NICHT. Nunmag man fragen, ob es einen Auswegaus der demografischen Pfadabhängig-keit gibt. Die Antwort lautet ja und

nein zugleich. Nun ist die Kulturtech-nik des Kinderkriegens allgemein be-kannt und ihre Anwendung lässt sichauch nicht staatlicherseits anordnen.Gleichwohl braucht es eine neue Kin-derpolitik. Sie muss eine umfassendeKinderbetreuung, gleiche Bildungschan-cen und eine umfassende Familien-freundlichkeit in allen Lebens- undPolitikfeldern umfassen. Wunder darfman sich davon nicht erhoffen, allen-falls eine stetige Verbesserung desKlimas für Kinder und Familien. Seitder Einführung des Elterngeldes wartetdie gespannte Öffentlichkeit jährlichauf die neuesten Kinderzahlen undmisst daran den (Miss-)Erfolg dieserjüngsten familienpoltischen Maßnah-me. Das ist grundfalsch. Schon derBlick nach Skandinavien zeigt, dass esnach der Einführung des ElterngeldesJahre und Jahrzehnte brauchte (undvieler anderer Maßnahmen), bis dieKinderzahlen wieder stiegen.

Sozialstaat mit Herz

Aus Skandinavien können wir aberauch lernen, dass wir weiter in dieInfrastruktur für Familien investierenmüssen. Und zwar aus zwei Gründen:Zum einen brauchen wir jedes einzelneKind in unserer Gesellschaft – undzwar gesund, fröhlich, gut ausgebildetund somit voller Zukunftschancen.Wir brauchen deshalb mehr Verbind-lichkeit beim Aufbau von Netzwerken

39perspektive21

thomas kralinski – nichts für feiglinge

für gesunde Kinder, wir müssen nochmehr in die Qualität unserer Kitas in-vestieren. Dazu wird der Sozialstaat derZukunft „Liebe“ auch mit „Härte“ ver-binden müssen. Wir können es unseinfach nicht mehr leisten, auch nurein Kind zurückzulassen. Deshalb wirdman darüber nachdenken müssen,

Sanktionen – wie die Kürzung desKindergeldes – einzubauen, wenn zumBeispiel Vorsorgeuntersuchungen ver-säumt werden, wenn Kinder die Schulenicht regelmäßig besuchen, wenn nötigeSprachkurse vernachlässigt werden. Zumzweiten ist eine gute Familieninfrastruk-tur die beste Möglichkeit vor allem für

40 juni 2011 – heft 48

thema – wie wollen wir leben?

2008 zu2008 2030 2030 in %

Brandenburg a. d. Havel 44.000 31.000 -30%

Cottbus 65.000 45.000 -31%

Frankfurt (Oder) 39.000 24.000 -38%

Potsdam 98.000 104.000 +6%

Barnim 112.000 78.000 -30%

Dahme-Spreewald 99.000 76.000 -23%

Elbe-Elster 70.000 40.000 -43%

Havelland 96.000 77.000 -20%

Märkisch-Oderland 121.000 83.000 -31%

Oberhavel 126.000 95.000 -25%

Oberspreewald-Lausitz 76.000 43.000 -43%

Oder-Spree 116.000 70.000 -40%

Ostprignitz-Ruppin 66.000 38.000 -42%

Potsdam-Mittelmark 128.000 94.000 -27%

Prignitz 51.000 26.000 -49%

Spree-Neiße 81.000 42.000 -48%

Teltow-Fläming 101.000 75.000 -26%

Uckermark 82.000 42.000 -49%

Land Brandenburg 1.570.000 1.082.000 -31%

Berliner Umland 561.000 497.000 -11%

äußere Regionen 1.009.000 585.000 -42%

Bevölkerungsentwicklung in den Kreisen: 20- bis 65-Jährige

Die Zahl der potentiell Erwerbsfähigen wird in den kommenden Jahren sowohl im BerlinerUmland als auch in den äußeren Regionen deutlich zurückgehen. 2030 wird mehr als einDrittel der Brandenburger im Rentenalter sein.

Frauen, Familien und Beruf besser untereinen Hut zu bekommen.

Der zweite Weg, um die grundsätz-lichen demografischen Trends abzu-mildern, ist der Zuzug von Menschen.Nun sieht es so aus, als übe zwar Berlin(und damit auch sein Umland) nachwie vor eine große Anziehungskraft auf

viele Menschen aus. Das ist gut, abernicht hinreichend, denn nach wie vorist die industrielle Basis und internatio-nale Vernetzung der Region vergleichs-weise gering. Auch und vor allem inden äußeren Regionen Brandenburgsist vorläufig nur mit geringerem Zuzugzu rechnen. Vielmehr beschreibt das

41perspektive21

thomas kralinski – nichts für feiglinge

2008: 2030: 2008 zu Anteil der über Anteil der über

2008 2030 2030 in % 67-Jährigen in % 67-Jährigen in %

17.000 21.000 +24% 23% 33%

20.000 27.000 +35% 20% 32%

12.000 18.000 +50% 20% 35%

26.000 40.000 +54% 17% 22%

32.000 58.000 +81% 18% 36%

32.000 51.000 +59% 20% 33%

25.000 33.000 +32% 22% 38%

28.000 46.000 +64% 18% 30%

36.000 62.000 +72% 19% 36%

37.000 60.000 +62% 18% 32%

28.000 35.000 +25% 22% 37%

37.000 58.000 +57% 20% 38%

20.000 32.000 +60% 19% 39%

36.000 63.000 +75% 18% 33%

19.000 26.000 +37% 23% 42%

27.000 38.000 +41% 21% 40%

29.000 46.000 +59% 18% 31%

27.000 40.000 +48% 20% 41%

489.000 754.000 +54% 19% 34%

152.000 278.000 +83% 17% 29%

336.000 476.000 +42% 21% 37%

über 67-Jährige

Quelle: Amt für Statistik BE-BB

Konzept der „Raumpioniere“ die Rea-lität besser als die Arbeitsplatzmigra-tion.1 Für die nächsten Jahre brauchenwir gleichwohl einen Plan über einegesteuerte Zuwanderung, der daraufausgerichtet ist, die einheimische Bevölkerung auf Zuzug vorzubereitenund Überforderungstendenzen vor-zubeugen. Bereits heute gibt es in Brandenburg in etlichen Berufsfeldern– wie Altenpflege und Gesundheit –ein hohes Maß an ausländischenFachkräften. Diese Entwicklung wirdsich zweifellos fortsetzen, benötigt aber eine sensible Strategie, die dieFehler der westdeutschen Integra-tionspolitik der vergangenen Jahr-zehnte vermeidet.

Löhne müssen steigen

Auch wenn die Abwanderung ausBrandenburg merklich nachgelassenhat: Eine der großen Herausforderun-gen der kommenden Jahren wird essein, junge gut ausgebildete Menschenin den Regionen zu halten oder zu-rückzuholen. In der Uckermark oderder Lausitz gibt es bereits gut funktio-nierende Rückholinitiativen, die aufdie Heimatliebe der Fortgezogenenbauen.2 Der Schlüssel für deren Erfolgliegt jedoch nicht in Paketen mit Ost-produkten oder Briefen an die Weg-

gezogenen. Der Erfolg dieser Initia-tiven werden steigende Löhne inBrandenburg selbst sein – hier sindsowohl die Unternehmen als auch dieGewerkschaften am Zug, um Schrittfür Schritt die Einkommen so steigenzu lassen, dass Wegziehen wenigattraktiv und Zurückkehren eineattraktive Option wird.

42 juni 2011 – heft 48

thema – wie wollen wir leben?

1 Siehe dazu den Beitrag von Ulf Matthiesen in diesem Heft.2 Siehe dazu das Interview mit Ariane Böttcher in diesem Heft.

Bevölkerungsveränderung 2008 bis 2030

Fast alle Bundesländer müssen in den kommenden zwanzig Jahren mit Bevölke-rungsrückgang rechnen. Am stärksten ist er in einem Gürtel, der sich von der Saarüber das Ruhrgebiet, Niedersachsen bisnach Sachsen-Anhalt, Thüringen undSachsen zieht.

Quelle: 12. koordin. Bevölkerungsvorausberechnung 2011

+4,6%

-0,4%

-2,1%

-3,0%

-3,6%

-4,1%

-4,4%

-4,7%

-6,1%

-6,9%

-10,5%

-13,3%

-13,8%

-15,2%

-18,7%

-21,2%

Hamburg

Bayern

Baden-Württemberg

Berlin

Bremen

Schleswig-Holstein

Hessen

Rheinland-Pfalz

NRW

Niedersachsen

Brandenburg

Sachsen

Saarland

Meckl.-Vorpommern

Thüringen

Sachsen-Anhalt

VIERTENS: ALLE WARTEN AUF „DIE

EINE“ LÖSUNG, ABER SIE KOMMT

NICHT. Die drei zuvor skizzierten Fel-der verdeutlichen, dass der demogra-fische Wandel Fragen in allen gesell-schaftlichen, wirtschaftlichen undsozialen Feldern hervorruft. Das istsicherlich nicht neu, macht aber deut-lich, dass es „die eine“ Lösung nichtgibt – vor allem aber gibt es keine ein-deutigen Effekte „einer“ oder einer„anderen“ Lösung. Entscheidend istdie Vernetzung und Koordinierungunterschiedlicher Bereiche, die sichteilweise auch politischer Steuerungentziehen. Sinnvoll könnte deshalb dieBündelung aller relevanten politischenFragen – von Fachkräften, Kinderbe-treuung, Gleichstellung, Seniorenfragen,Integration und (soziale) Infrastruktur –in einem eigenen Demografieministe-rium sein. So ließen sich möglicherwei-se viele, sicher nicht alle, demografie-relevanten Fragestellungen bündelnund „interdisziplinär“ denken undhandeln. Denn das genau ist es, aufwas es ankommt. Lösungen, die in derUckermark funktionieren, müssennoch lange nicht in dichter besiedeltenGegenden wie der Lausitz passen. Al-tenpflege, Gesundheitsvorsorge undKinderbetreuung müssen möglicher-weise Hand in Hand gehen, für man-che Probleme dünn besiedelter Räumebraucht es Deregulierungsmaßnahmen,für andere verknüpfte Lösungen wieBürgerbusse oder Kombi-Busse (die

gleichzeitig Linienverkehr, Post, Ku-rier- und Fahrdienste übernehmen).Politik in Zeiten der demografischenTransformation wird viele kleine Schrit-te gehen müssen, wird vieles ausprobie-ren und manches Experiment zulassen(und auch mal scheitern lassen) müssen.

Mutmacher gesucht

Die zentralen Handlungsfelder demo-grafieorientierter Politik sind damit imKern klar umrissen:

� Aktiver Staat und nachhaltige Haus-haltskonsolidierung. Eine schrump-fende Gesellschaft muss zwangsläufigmit schrumpfenden Budgets umge-hen und kann gleichzeitig keine neu-en Lasten aufbauen. Deshalb müssenerst die Neuverschulung auf Null ge-fahren, dann die pro-Kopf-Verschul-dung konstant gehalten und drittensSchritt für Schritt Kredite zurückge-zahlt werden. Anderenfalls würdenpolitische Handlungsspielräumekomplett verschwinden und eineÜberschuldung eintreten. Der Staatbraucht auch in Zukunft Handlungs-fähigkeit, denn zurückgehende Ein-wohnerzahlen führen bereits heutean bestimmten Stellen zu Marktver-sagen – wie zum Beispiel bei der Ge-sundheitsversorgung und im öffent-lichen Nahverkehr. Hier wird inZukunft eher mehr staatliche Inter-vention nötig sein als weniger.

43perspektive21

thomas kralinski – nichts für feiglinge

� Vorsorgende Familien- und Bildungs-politik. Wenn die Bevölkerung zu-rückgeht, wird jeder gebraucht. Dassheißt, wir brauchen ein Klima, indem Familien Lust auf Kinder habenund in dem Arbeit und Familie bes-ser als heute unter einen Hut zu be-kommen sind. Zu viele Frauen sindgut ausgebildet, wollen arbeiten –können es aber nicht. Das kann sichunser Land nicht länger leisten.

� Flexible Infrastruktur. Wo heutenoch Schulen sind, werden dem-nächst Pflegeeinrichtungen ge-braucht, wo heute noch ein Busfährt, lohnt sich demnächst vielleichtnur noch ein Anruftaxi. Alle Infra-strukturplanungen müssen auf denPrüfstand, der Neubau auf das abso-

lut Notwendige reduziert werden, imübrigen auch im Berliner Umland.Denn auch hier ist bereits klar abseh-bar, dass die Generation derjenigen,die in den neunziger Jahren „rausge-zogen“ ist, kollektiv altert und derZuzug junger Familien sich stark ver-langsamt hat.

� Neue Regeln für den Arbeitsmarkt.Am stärksten werden die demografi-schen Veränderungen in der Wirt-schaft zu spüren sein. Die Rente mit67 ist für manche nur schwer vor-stellbar, notwendig ist aber eine ganzandere Einstellung zum Arbeiten imAlter. Warum soll der Ausstieg ausder Beschäftigung nicht schrittweiseanstatt einer Vollbremsung wie der-zeit erfolgen? Warum soll nicht jeder

44 juni 2011 – heft 48

thema – wie wollen wir leben?

1990 2030

1. Potsdam 141.000 1. Potsdam 182.000

2. Cottbus 132.000 2. Cottbus 85.000

3. Brandenburg 92.000 3. Brandenburg 63.000

4. Frankfurt 86.000 4. Frankfurt 51.000

5. Schwedt 54.000 5. Falkensee 48.000

6. Eberswalde 54.000 6. Oranienburg 43.000

7. Eisenhüttenstadt 51.000 7. Bernau 36.000

8. Oranienburg 37.000 8. Eberswalde 34.000

9. Senftenberg 37.000 9. Königs Wusterhausen 31.000

10. Neuruppin 34.000 10. Blankenfelde-Mahlow 31.000

Die zehn größten Städte Brandenburgs

Quelle: Amt für Statistik BE-BB

Innerhalb von nicht einmal zwei Generationen wird das Ranking der Brandenburger Städte ganzschön durcheinander gewirbelt. Die „alten“ Industriestädte schrumpfen deutlich, während zweiStädte im Umfeld des neuen Flughafens erstmals unter den ersten Zehn auftauchen.

selbst entscheiden können, wann erin Rente geht – mit entsprechendenAb- oder Zuschlägen auf das Renten-einkommen.

FÜNFTENS: AM MUTE HÄNGT DER

ERFOLG. Dieser Satz des Ur-Branden-burgers Theodor Fontanes ist eine guteLeitschnur für die Konflikte und De-batten der kommenden Jahre. NebenBrandenburg gibt es nur wenige Län-der, deren Bevölkerungsstruktur sichbinnen so kurzer Zeit so radikal verän-dern, wo Wachstum, Schrumpfungund Alterung so eng beieinander lie-gen. Die größte Aufgabe wird deshalbsein, den Zusammenhalt im Land zustärken – und zwar in generationeller,

sozialer und regionaler Hinsicht. EinSchlüssel dazu wird sein, die Branden-burger in die Gestaltung ihrer Zukunfteinzubeziehen und zu beteiligen, ihnenKommunikationsräume zu eröffnen,untereinander zu diskutieren. MancherFernsehfilm der jüngsten Zeit über dieZukunft gealterter Dörfer hat eherAngst und Schrecken verbreitet. Nötigist jedoch vielmehr ein Klima des zu-packenden Optimismus, wenn man dieanstehenden Veränderungen bewälti-gen will. Eine solche Atmosphäre zuschaffen, muss im Mittelpunkt allerPolitik der kommenden Jahre stehen.Dann der gelingende demografischeWandel braucht keine Feiglinge, son-dern Mutmacher. �

45perspektive21

thomas kralinski – nichts für feiglinge

T H O M A S K R A L I N S K I

ist Chefredakteur der Perspektive 21 und Geschäftsführer der SPD-Landtagsfraktion Brandenburg.

46 juni 2011 – heft 48

B randenburg im Jahr 22 nach demMauerfall: Das Flächenland vor

den Toren Berlins wurde zur europäi-schen Unternehmerregion gekürt. DieMark ist Aufsteigerland, Spitzenreiterim Bereich erneuerbare Energien unddynamischste Region Deutschlands.Trotzdem herrscht in vielen Regionenstatt Sektlaune Katerstimmung.

Offensichtlich steckt den mürri-schen Brandenburgern die Talfahrt dervergangenen beiden Jahrzehnte noch inden Knochen. Dies ist nicht nur unge-recht gegenüber den (eigenen) Leistun-gen der vergangenen Jahre, sondernbirgt auch eine große Gefahr. Wer dasNeue der jeweiligen Situation nichtsieht, kann den Gefahren der Zukunftnicht wirksam begegnen. Diese Gefah-ren bestehen im Erreichen unserespolitischen Zieles der Vollbeschäfti-gung.

Der Brandenburger Arbeitsmarktstand in den vergangenen 20 Jahrenbeispiellosen Herausforderungen ge-genüber: Der Transformationsprozessnach der Einheit führte zunächst zueiner weitgehenden De-Industrialisie-

rung des Landes. Ganze Branchen,Qualifikationen und Erwerbsbiogra-phien wurden im Zuge dieses rasantenStrukturwandels überflüssig. In denehemaligen Großbetrieben derSchwerindustrie, der Landwirtschaftoder im Tagebau gingen TausendeArbeitsplätze verloren, die trotz viel-fach erfolgreicher Strukturpolitik nieflächendeckend im gleichen Umfangkompensiert werden konnten.

Von Abbruch bis Aufschwung

Für zu viele Brandenburgerinnen undBrandenburger mündete der Jobverlustder Wendezeit trotz vielfältiger arbeits-marktpolitischer Initiativen und Maß-nahmen in der Langzeitarbeitslosigkeit,die zahlreiche Biographien, Familienund ganze Regionen prägte und bela-stete. 2003 erreichte die Arbeitslosig-keit einen negativen Rekordwert von18,8 Prozent. Eine Abwanderung gera-de junger, qualifizierter Menschen istdie Folge gewesen, die bis heute vorallem die peripheren Räume Branden-burgs strukturell beeinträchtigt.

47perspektive21

Die drohendeVollbeschäftigung WARUM WIR UNS VOR GROßEN ZIELEN NICHT FÜRCHTEN MÜSSEN

VON WOLFGANG SCHROEDER UND SÖREN KOSANKE

Regionen des äußeren Entwicklungs-raums wie die Lausitz oder die Ucker-mark sind mit Arbeitslosenquoten von17 bis 18 Prozent nach wie vor voneinem schmerzhaften Strukturwandelgezeichnet.

Gleichzeitig hat in den letzten 20 Jah-ren ein nachhaltiger ökonomischerAufbau stattgefunden. Insbesonderedas Brandenburger Umland Berlins hatals engerer Verflechtungsraum eineneindrucksvollen Aufschwung erlebt:Der „Speckgürtel“ der Bundeshaupt-stadt mit dem boomenden ZentrumPotsdam gilt als eine der ökonomischerfolgreichsten Regionen Ostdeutsch-lands. Hier sind moderne Industrie-und Dienstleistungsbetriebe mit neuenArbeitsplätzen entstanden; zudem sinddie Kommunen an der Grenze zuBerlin beliebte Wohnregionen für dieHauptstadt geworden. Die Arbeitslo-sigkeit ist entsprechend gering und bewegt sich im „Speckgürtel“ konstantim einstelligen Bereich.

Nicht nur im Berliner Umland

Vor diesem Hintergrund zeigt derBrandenburger Arbeitsmarkt heuteinsgesamt deutliche Tendenzen zurKonsolidierung: Trotz einer dramati-schen Wirtschafts- und Finanzkrisekonnte die Arbeitslosigkeit in den ver-gangenen fünf Jahren um nicht we-niger als 40 Prozent reduziert werden.Damit lag Brandenburg beim Be-

schäftigungsaufbau im vergangenenJahr an der Spitze. 2010 lag die Ar-beitslosenquote im Jahresschnitt beirund 11 Prozent; zwischenzeitlichwurde sogar die 10 Prozent-Markeunterschritten. Besonders bedeutsam:Seit 2005 steigt die Zahl der sozialver-sicherungspflichtigen Arbeitsverhält-nisse langsam aber stetig an.

Diese Tendenz zeigt sich nicht nurim Berliner Umland. So haben die re-gionalen Wachstumskerne auch in denperipheren Räumen als Beschäftigungs-motor gewirkt und das Auseinander-driften der Regionen abgefedert.

23 Prozent weniger Lohn

Bestehende Arbeitslosigkeit und Struk-turschwäche bewirken trotz positiverTrends niedrige Löhne und weitereAbwanderung. So geht aus dem Bran-denburger Betriebs-Panel 2010 hervor,dass zwei Drittel der in Teilzeitarbeitbeschäftigten Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer aus Mangel an Vollzeit-Jobs in diesen Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind. Die unfreiwillige Teilzeitarbeit betrifft zudem ganzüberwiegend Frauen, die 82 Prozentdieser Beschäftigtengruppe in Bran-denburg stellen. Auch die hohe Zahlausschließlich geringfügig Beschäf-tigter, die im Zeitraum von 2000 bis2009 um 44 Prozent gewachsen ist,wirkt sich negativ auf die Lohnent-wicklung in Brandenburg aus.

48 juni 2011 – heft 48

thema – wie wollen wir leben?

Tatsächlich liegt die Lohnhöhe imDurchschnitt nach wie vor um 23 Pro-zent unter dem Bundesniveau – einerder Hauptgründe für die anhaltendeAbwanderung junger Menschen.Während im Berliner Umland undeinzelnen Branchen (wie zum Beispielder Stahlindustrie) sowie im öffent-lichen Dienst längst Löhne auf West-niveau gezahlt werden, liegt imGesamtdurchschnitt der Niedriglohn-anteil noch bei 17,5 Prozent. In 43Branchentarifverträgen werden Brut-tostundenlöhne (im niedrigsten Be-reich) von lediglich 4 bis 7,50 Eurogezahlt. Mit gravierenden Folgen: 13 Prozent der Brandenburger Be-schäftigten müssen von einem monat-lichen Bruttodurchschnittslohn vonweniger als 1.000 Euro auskommen.Und nicht weniger als etwa 66.000„Aufstocker“ müssen ihren Arbeitslohndurch staatliche Leistungen ergänzenlassen, um ihren Lebensunterhalt be-streiten zu können.

Gewerkschaften sind zu schwach

Niedriglöhne, von einer konservativenWirtschaftspolitik einst als vermeint-licher Wettbewerbsvorteil gefeiert, sind in Brandenburg auch das Resultateiner bislang noch schwach veranker-ten Sozialpartnerschaft. Nach einerkurzen Aufbau-Partnerschaft prägtenein erodierendes Tarifvertragssystem,Verbandsflucht und Niedriglöhne die

Arbeitsbeziehungen in Brandenburg.Lediglich 38 Prozent der ostdeutschenArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerunterliegen einem Branchentarifvertrag(in Westdeutschland 56 Prozent). Der Organisationsgrad der Gewerk-schaften liegt in Brandenburg beibescheidenen 10 Prozent (Gesamt-deutschland 21,3 Prozent). Auch dieAnzahl aktiver Betriebsräte als integra-ler Bestandteil einer effektiven Sozial-partnerschaft ist in Brandenburg ver-gleichsweise gering. Die Hauptursachedafür liegt in der Betriebsstruktur desLandes, die ganz überwiegend ausklein- und mittelständischen Betriebenbesteht.

Sozialpartner werden gebraucht

Das hat auch Auswirkungen auf denAusbildungsmarkt. Dieser leidet zu-sammen mit der historisch ungünstiggewachsenen Branchenstruktur aneiner doppelten Strukturschwäche. DieBranchenstruktur weist einen unter-durchschnittlichen Anteil des für dasAusbildungsangebot wichtigen verar-beitenden Gewerbes aus. Parallel dazuist die Anzahl der Betriebe ab 20 sozi-alversicherungspflichtigen Beschäftig-ten in Brandenburg im Bundesver-gleich sehr gering.

Die tiefgreifendste Veränderung er-gibt sich für Brandenburg aus dem sichdrastisch verändernden Altersaufbauder Bevölkerung: Die Anzahl der Bran-

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wolfgang schroeder & sören kosanke – die drohende vollbeschäftigung

denburger im erwerbsfähigen Alter (15 bis 65 Jahre) wird bis zum Jahr2030 von derzeit rund 1,7 Millionenum 500.000 auf 1,2 Millionen Men-schen sinken. Bereits im Jahr 2020wird fast jede dritte Erwerbsperson inBrandenburg älter als 55 Jahre alt sein.Was kurzfristig eine Entlastung für denArbeitsmarkt darstellt, wird innerhalbder nächsten Jahrzehnte als Fachkräfte-mangel zur Herausforderung für denArbeitsmarkt. Der Brandenburger Ar-beitsmarkt braucht daher starke Akteu-re und neue Allianzen, die Verantwor-tung übernehmen. Damit kommt denSozialpartnern eine zentrale Rolle zu,um den Wandel aktiv zu gestalten.

Die Arbeit geht nicht aus

Brandenburg ist auf dem Weg in die Vollbeschäftigung: Im Jahr 2030wird sich die transformationsbedingteLangzeitarbeitslosigkeit weitgehendaufgelöst haben durch die verstärkteNachfrage nach Arbeitskräften, arbeits-marktpolitische Maßnahmen (u. a.„Arbeit für Brandenburg“) und dasErreichen des Rentenalters der Be-troffenen. Auch in 20 Jahren wird inBrandenburg die Arbeit nicht ausge-gangen sein. Aber in einer sich verän-dernden Arbeitswelt wird sie voraus-setzungsvoller und von wenigerMenschen zu leisten sein. Der Ar-beitsmarkt wird komplexer undanspruchsvoller werden und somit

einen erheblichen Steuerungsbedarfentwickeln. Gleichzeitig wird derKonsolidierungsdruck auf die öffent-lichen Haushalte durch wegfallendeFördergelder aus Berlin und Brüsselweiter zunehmen und die Handlungs-spielräume der Politik einschränken.

Das Glas ist halb voll

Trotzdem kann Brandenburg mit einerAusbildungsquote von 5 Prozent aufeine im Bundesdurchschnitt relativhohe Ausbildungsleistung verweisen.Mittlerweile hat sich der Bewerberüber-schuss zu einem Bewerberdefizit in ein-zelnen Branchen, Unternehmen undBerufen entwickelt. Durch entsprechen-de Fördermaßnahmen von Land undBund konnte dieser „Lückenschluss“zuletzt durch eine aktive Ausbildungs-marktpolitik rechnerisch gewährleitstetwerden.

Die Konsolidierung des Branden-burger Arbeitsmarktes nach den Ver-werfungen der frühen neunziger Jahrehat in den vergangenen Jahren erkenn-bare Fortschritte gemacht, die durcheine erhebliche Bereitschaft zur Fle-xibilität und Mobilität ermöglichtwurde. Der Arbeitsmarkt ist heute inseinen Strukturen ebenso komplex wieheterogen. Verschiedene Regionen,Branchen, Generationen und Ge-schlechter treffen auf sehr unterschied-lche Bedingungen und Herausforde-rungen. Viel wurde erreicht, aber es

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thema – wie wollen wir leben?

bleibt auch viel zu tun. Die Bran-denburger „Umbruchkompetenz“(Matthias Platzeck), die in den ver-gangenen 20 Jahren erworben wurde,wird auch in der Arbeitsmarktpolitikder nächsten 20 Jahre unverzichtbarbleiben.

Wie vor 20 Jahren sind wir aneinem Punkt, um uns etwas grundsätz-licher über unsere Zukunftsperspekti-ven Gedanken zu machen. Maßgeblichdafür, ob wir das Glas als halb volloder als halb leer empfinden, wird dieEntwicklung auf dem Arbeitsmarkt.Wenn wir diesbezüglich positiveAntworten entwickeln, werden dieMenschen bleiben, um in unseremLand auch ihre individuelle Zukunft

zu sehen. Eine erfolgreiche Strategiefür ein „Brandenburg 2030“ kannnicht alleine von den Unternehmen,der Zivilgesellschaft und der Politikverantwortet werden. Wir brauchendafür auch die Sozialpartner – also dieArbeitgeber- und Wirtschaftsverbändesowie und vor allem starke Gewerk-schaften. Mit einer abgestimmtenStrategie werden wir es schaffen, Fach-kräfte zu bilden und zu gewinnen,junge Menschen zum Bleiben zu moti-vieren, um Wertschöpfung und Wohl-stand zu steigern. Unsere Strategie zieltdarauf, dass Vollbeschäftigung keine„Bedrohung“ wird, sondern die Basisfür ein starkes und zukunftsoptimisti-sches Brandenburg. �

51perspektive21

wolfgang schroeder & sören kosanke – die drohende vollbeschäftigung

P R O F. D R. W O L F G A N G S C H R O E D E R

ist Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Soziales, Frauen und Familie des Landes Brandenburg.

S Ö R E N K O S A N K E

ist Mitglied des Brandenburger Landtages und wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion.

Die beiden Autoren leiten die Arbeitsgruppe „Wirtschaft, Arbeit und Umwelt“ der Zukunftskommission

der Brandenburger SPD.

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53perspektive21

M ärkische Heide und märkischerSand allein sind nicht des Märkers

Freude, sondern sein Heimatland sinddie Menschen, die Nachbarn, die Ar-beitskollegen, in deren Mitte er sichwohl fühlt. Wir haben in den vergange-nen 20 Jahren erfahren, wie wichtigArbeit, Bildung und Wohlstand für un-ser Gemeinwesen sind. Aber auch wieschwer der Transformationsprozess fürjeden einzelnen Brandenburger und je-de einzelne Brandenburgerin zu begrei-fen und zu bewältigen war. Der wich-tigste Rohstoff, den Brandenburg hat,ist nicht Kohle, sondern Bildung. Dasist übrigens auch der einzige Rohstoff,der sich bei Gebrauch vermehrt.

Wir stehen jetzt an einer weiterenWegmarke. Wir müssen Entscheidun-gen treffen, wie Brandenburg in Zu-kunft aussehen soll. Brandenburg istheute eine der dynamischsten Regio-nen Deutschlands. Aber wie stellen wirsicher, dass sie es im Jahr 2030 auchnoch ist?

Die Antwort, die der oft zitierte ame-rikanische Soziologe Richard Floridadarauf gegeben hat, erscheint so ein-

fach wie bestechend: TTT – Talente,Toleranz und Technologie. Die Fä-higkeit einer Region Talente zu för-dern, zu halten und anzuziehen, To-leranz für gesellschaftliche Vielfalt undmit diesen beiden Faktoren neue Tech-nologien zu entwickeln, ist entschei-dend für den Erfolg im 21. Jahrhun-dert. Die konkrete Frage an uns lautetalso: Wie sorgen wir dafür, dass dieMenschen in Brandenburg tolerantmiteinander leben, ihre Talente erken-nen und fördern sowie Technologienentwickeln, die die Grundlage fürunseren künftigen Wohlstand sind?

Ein Versprechen für den Aufstieg

Die Grundlage dafür sind Bildungspro-zesse, die den Menschen in die Lageversetzen zu erkennen, zu verstehen, zuhandeln. Ausgangspunkt ist dabei einBildungsbegriff, der nicht nach derSchule oder der Ausbildung endet, son-dern der in der Kita anfängt und sichim lebenslangen Lernen fortsetzt.

Sozialdemokraten haben Bildungimmer als Emanzipationsprozess, als

Zeit für neueVeränderungen WIE DIE BILDUNG IM JAHR 2030 AUSSEHEN KANN

VON MARTIN GORHOLT UND MANJA ORLOWSKI

Versprechen für sozialen Aufstieg undeine bessere Zukunft begriffen. Das istkeine Floskel aus der Vergangenheit.Vielmehr zwingt uns diese Verpflich-tung, uns mit den beiden größtenProblemen auseinanderzusetzen undLösungen dafür zu entwickeln: diefinanzielle Situation unseres Landesund die absehbare demografischeEntwicklung.

Ein Leitbild von „Brandenburg2030“, insbesondere für den BereichBildung zu diskutieren, ist ambitioniert.Ein näheres Hinschauen auf die wich-tigen Prognosen zeigt, dass gerade dasJahr 2030 gut gewählt ist. Bis zum Jahr2020 müssen alle ostdeutschen Bundes-länder in den Landeshaushalten enormeSparanstrengungen unternehmen, umden Wegfall von Solidarpaktmitteln,schrumpfende Steuereinnahmen aufGrund des Bevölkerungsrückgangs undgeringere EU-Förderung auszugleichen.Finanzpolitisch werden also bereits bis2020 die Weichen gestellt, wie das Land2030 aussehen soll.

Die Anforderungen an die Bildungs-politik verschärfen sich durch die ab-sehbare Bevölkerungsentwicklung imLand. Zwischen 2020 und 2030 wirdsich die Geburtenrate noch einmal hal-bieren. Das bezeichnen Bevölkerungs-wissenschaftler als „demografischesEcho“. Konkret heißt das: Kinder, diein den neunziger Jahren nicht geborenwurden, können 2030 auch keineKinder bekommen. Die schwächeren

Jahrgänge führen absehbar noch ein-mal zu weniger Geburten im Land.

Diese Entwicklungen wirken sichschrittweise auf die Institutionen imBildungssystem aus. So waren dieAuswirkungen des starken Geburten-rückgangs nach der Wende zunächstim Kita-Bereich zu sehen, von 1997bis 2002 im Grundschulbereich, von2002 bis 2007 im Bereich der Sekun-darstufe I und danach im Bereich derSekundarstufe II.

Das Echo kommt

Lag die Geburtenstärke vor der Wendenoch bei etwa 35.000 so sank sie zwi-schenzeitlich auf unter 15.000, umsich dann bei etwa 18.000 einzupen-deln. Das demografische Echo wirktsich im Gegensatz zum ersten Gebur-tenrückgang jedoch nicht wie ein plöt-zlicher Absturz aus sondern „erschallt“schrittweise.

So wird prognostiziert, dass sich ab2010 die Geburtenzahl schrittweisevon etwa 18.000 auf 10.000 reduzierenwird, vielleicht sogar auf unter 10.000ab dem Jahr 2027. Dementsprechendwird die Zahl der Einschulungen abdem Schuljahr 2017/2018 schrittweisesinken, um dann zu einem neuen Tief-stand, etwa ab dem Jahr 2033, zu ge-langen.

Die großen Unterschiede zwischendem Berliner Umland und den äuße-ren Regionen nehmen weiter zu, da

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thema – wie wollen wir leben?

sich neben der reinen Geburtenent-wicklung auch der Wegzug von jungenMenschen, vor allem von Frauen, aus-wirken wird. Diese schrittweise Ent-wicklung ist ab dem Jahr 2012 bereitsim Kita-Bereich, ab 2017/2018 imGrundschulbereich und ab 2023/2024im Bereich der Sekundarstufe I zusehen.

Die erste Welle des Geburtenknicksder neunziger Jahre konnte durchModellversuche, wie der „KleinenGrundschule“, jahrgangsübergreifendeKlassen oder kleineren Klassen in denweiterführenden Schulen abgefedertwerden. Eine einfache Fortführungdieser Strukturen ist zur Bewältigungdes „demografischen Echos“ jedoch zukurz gesprungen. Zumal sich die regio-nalen Unterschiede verschärfen. In denLandkreisen Elbe-Elster und Prignitzwerden beispielsweise schon im Jahr2015 weniger Kinder die Grundschulebesuchen als im bislang kritischstenJahr 2001.

Keine Hektik

Richtig ist: Seit 1990 hat es viele Ver-änderungswellen in der BrandenburgerBildungspolitik gegeben. Aber auch fürdie Zukunft werden sich schon aus derdemografischen Entwicklung herausVeränderungen in Infrastruktur aberauch in Bildungsinhalten und Bil-dungsausrichtungen ergeben müssen.Dabei ist es gut, sich rechtzeitig mit

den Auswirkungen zu beschäftigen unddann nicht hektisch sondern planmä-ßig neu zu steuern.

Schon heute sind die Auswirkungender demografischen Entwicklung unddes Geburtenknicks nach der Wendefür die Fachkräfteentwicklung sehrbedeutend, da aus den Betrieben undUnternehmen mehr qualifizierte Men-schen durch ihre Verrentung ausschei-den als junge Menschen aus Schule,Ausbildung und Studium nachrücken.

Jeder wird gebraucht

Dabei verbinden sich allgemeine bil-dungspolitische Ziele durchaus mit denErfordernissen aus der demografischenEntwicklung. So ist es nötiger denn je,die Potenziale aller jungen Menschenauszuschöpfen und alle jungen Men-schen zu einem bestmöglichen Schul-und Bildungsabschluss zu führen.

Wir können es uns weder unter Ge-rechtigkeits- und Chancengleichheits-vorstellungen noch unter der Zielset-zung von Fachkräftesicherung leisten,weiterhin 10 Prozent eines Jahrgangsohne Schulabschluss zurück zu lassen.Insofern bedarf es aller Anstrengungen,um beginnend von der Kindertagesstät-te und durch Maßnahmen der Fami-lienunterstützung, insbesondere dieEntwicklung von Kindern aus bildungs-fernen Schichten zu unterstützen.

Genau so wenig ist es länger hinzu-nehmen, dass 20 Prozent eines Jahr-

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martin gorholt & manja orlowski – zeit für neue veränderungen

gangs ohne Berufsabschluss bleiben.Die Bildungspolitik wird sich darumkümmern müssen, dass diese Quotedeutlich sinkt und gleichzeitig all die-jenigen einen nachholenden Berufs-abschluss erhalten, die ihn in ihrerJugend nicht geschafft haben. Es be-darf in enger Kooperation mit derWirtschaft einer Weiterbildung, umQualifikationen nachzuholen, gleich-zeitig aber auch Berufswechsel, Quali-fikationswechsel und Qualifikations-erhalt zu ermöglichen.

Das heißt für uns: Die Grundlagenmüssen stimmen. Auf den Prüfstandgehören in der Bildungspolitik dieUmsetzung des Bildungsauftrags in derKita, auch schon im Krippenbereich,und die Organisation eines gutenÜbergangs von der Kita zur Grund-schule. Wesentlich bleiben auch dieGestaltung des Ganztagesprogrammsan den Schulen unter qualitativenGesichtspunkten und die Förderungvon besonderen Problemgruppen.

Lehrer braucht das Land

Wir brauchen gleiche Bildungschancenin allen Regionen Brandenburgs. Dazumüssen wir vor allen Dingen die Ent-wicklung in den äußeren Regionen inden Blick nehmen. Wie auch im Ge-sundheitsbereich sind hier große An-strengungen zu unternehmen, um auchhier in allen Fächern hinreichendLehrer zur Verfügung zu haben. Wir

dürfen nicht abwarten und wie dasKaninchen vor der Schlange sitzen,sondern wir müssen entscheiden. Undwir sind gut beraten, die Situationaktiv anzunehmen und zu gestalten –sonst gestaltet die Situation uns.

Nach neuen Ansätzen suchen

Einen besonderen Schwerpunkt wer-den wir im Bereich der Erzieher- undder Lehrerausbildung für die Ober-stufenzentren an der FachhochschulePotsdam und der Universität Potsdamführen müssen. Dabei stehen die Fra-gen von pädagogischen und didakti-schen Konzepten stark im Mittelpunkt,das Umgehen mit Heterogenität anden Schulen, das Umsetzen desGrundsatzes der inklusiven Bildung.Bildungsministerin Martina Münchhat einen mutigen Vorschlag gemacht,mit dem Jahr 2019 die inklusive Bil-dung durch die Zusammenführung derallgemeinen Förderschulen mit demallgemeinen Schulsystem zu realisieren.Die inhaltliche Gestaltung und diepädagogische Begleitung dieses Pro-zesses sind zentral für das Gelingeneines so großen Reformvorhabens.

Das demografische Echo wird ge-nauso wie der erste Geburtenrückgangnach der Wende für die Infrastrukturvon Kitas und Schulen Konsequenzenhaben. So müssen wir rechtzeitig dis-kutieren, wie weit kleine Grundschulenvor allem im äußeren Entwicklungs-

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thema – wie wollen wir leben?

57perspektive21

martin gorholt & manja orlowski – zeit für neue veränderungen

raum vermehrt zu organisieren sind, inwieweit Bildungsinfrastruktur imländlichen Raum gehalten werdenkann oder auch eine Zentralisierungim städtischen Raum stattfindet, undwie vor allen Dingen der jetzt schonfür viele Schüler sehr belastende Schü-lerverkehr zu organisieren ist. Schulver-bünde oder aber auch Bildungsverbündevon der Kita bis zur Sekundarstufe Isind zu diskutieren.

Von anderen lernen

Jetzt gilt es Ideen zu sammeln und überden Tellerrand zu schauen. Nationaleund ideologische Grenzen dürfen dabeikeine Rolle spielen. Aus Finnlands Er-folg, in einem dünnbesiedelten Landwirtschaftliche Dynamik und sozialenZusammenhalt zu verknüpfen, habenwir bereits einiges gelernt. Auch andereRegionen bieten gute Praxis, von derwir lernen können, zum Beispiel Ka-nada oder Südtirol.

Brauchen wir eine gezielte Einwan-derungspolitik, um die Folgen der de-

mografischen Entwicklung zu bewäl-tigen? Wir meinen: ja. Wir können esuns nicht leisten, Talenten, die zu unskommen, den Zugang zu erschweren.Die Anerkennung von Bildungsab-schlüssen spielt dabei ebenso einewichtige Rolle wie eine Kultur desWillkommens, die in Brandenburgeine lange Tradition hat. Die Arbeit-nehmerfreizügigkeit für Mittel- undOsteuropa seit Mai 2011 bietet eineChance, gut ausgebildete Fachkräftefür Brandenburg zu gewinnen.

Von allein wird aber niemand kom-men, wir müssen diesen Prozess aktivangehen. Genau so wie wir uns fragenmüssen, ob und wie beispielsweiseStudierende in Brandenburg, die ausden alten Bundesländern kommen, in Unternehmen oder durch Existenz-gründungen hier gehalten werden kön-nen. Damit auf dem Boden von mär-kischer Heide und märkischem Sanddurch Technologie, Toleranz und Ta-lente auch in 2030 Brandenburg einedynamische Region in Deutschlandund Europa steht. �

M A R T I N G O R H O L T

ist Staatssekretär im Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg.

M A N J A O R L O W S K I

ist Vorsitzende der sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft für Bildung Brandenburgs.

Die beiden Autoren leiten die Arbeitsgruppe „Bildung und Wissenschaft“ der Zukunftskommission der Brandenburger SPD.

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I.Unsere Gegenwart ist durch einebreit aufgefächerte Verschärfung

gesellschaftlicher Disparitäten geprägt.Einschlägige Felder für diese Entwick-lungen sind bekanntlich die Demogra-fie, die Ökonomie, die Humanressour-cen, öffentliche Finanzen sowie dieVerteilung des Wohlstands zwischenArm und Reich, auch zwischen reichenund armen Bundesländern. Die Ver-schärfungen dieser Ungleichheiten wer-den jetzt zunehmend auch in unseremAlltag spürbar. Und sie lassen sichinzwischen auch unzweideutig kartie-ren, auf regionaler, nationaler wieeuropäischer Ebene. Denn die dispa-ritäre Entwicklung bündelt sich in geo-grafischen und sozioökonomischenRäumen zu neuen Ungleichgewichtenzwischen prosperierenden Zentren aufder einen Seite und stagnierenden, jakontinuierlich schrumpfenden Peri-pherien („Hinterland“) auf der ande-ren Seite.

Ein aktuell stark diskutiertes Resul-tat dieser Entwicklungen ist die aus-einander laufende Verteilung von Res-

sourcen für die Daseinsvorsorge oderGrundversorgung. Gerade ostdeutscheFlächenländer wie Brandenburg wer-den davon zunehmend „gebeutelt“.Der Stadt- und Regionalplaner JürgenAring hat deshalb jüngst den Vorschlaggemacht, für ländliche Regionen deut-licher zwischen „Selbstverantwor-tungsräumen“ mit niedrigerer Vorsor-gedichte und „Garantieräumen“ mitder Sicherheit der Gleichwertigkeitdes Vorsorgeprofils zu unterscheiden.So schwierig und umstritten im Ein-zelnen solch eine Grenzziehung auchsein wird.

Was die Verfassung sagt

Die hier nur grob skizzierten gesell-schaftlichen und räumlichen Ungleich-gewichte setzen natürlich auch dasVerfassungsgebot einer Herstellungoder Wahrung der „Gleichwertigkeitder Lebensverhältnisse“ unter Druck.Zwar ist seit langem klar, dass damitkeine quantifizierbare Gleichheit gemeint sein kann. Doch fragt sich

Ein Labor fürRaumpioniereWIE ENTWICKLUNGSIMPULSE FÜR BRANDENBURG DURCH

SELBST ORGANISIERTE MIKRO-NETZE ENTSTEHEN KÖNNEN

VON ULF MATTHIESEN

mehr und mehr, wie viel tatsächlichesozioökonomische und regionale Dis-parität die Verfassungslosung von derGleichwertigkeit der Lebensverhältnisseaushält. Angesichts der Krise der öf-fentlichen Finanzen lässt sich dieGrundversorgung in der gesamtenFläche, insbesondere im peripherenHinterland fernab von sich teilweisedynamisch weiterentwickelnden Zen-tren, ja schon länger nicht mehr anjedem Ort garantieren.

Neue Handlungsräume

Derartige Disparisierungsprozesse wer-den zunehmend auch als „ungerecht“empfunden. Das ruft ganz unterschied-liche Reaktionen hervor. Einmal drohtkonkret die Gefahr einer weiteren kon-tinuierlichen Abwanderung von Kom-petenz. Gut ausgebildete junge Frauenverlassen bekanntlich peripher fallendeRegionen als erste, zumeist aus Arbeits-marktgründen. Zurück bleiben über-durchschnittlich viele Ältere, vor allemMänner mit geringerer Qualifikationund dann auch eingeschränkten Chan-cen zur Paarbildung.

Gleichzeitig aber öffnen sich hierauch neue Handlungs- und Optionen-räume. Beispielsweise für innovativeMikronetze und selbst organisierte Pra-xisformen, die inzwischen unter demSammelbegriff „Raumpioniere“ zusam-mengefasst werden. Dabei ist unerheb-lich, ob solche Netze von den langjähri-

gen Bewohnern selbst, von später Zu-gezogenen oder – was inzwischen zurRegel wird – von beiden gemeinsamgeknüpft werden. Entscheidend ist, dassRaumpioniere die neuen, durch dispa-ritäre Entwicklungen sich öffnendenMöglichkeitsräume entschlossen alsSelbstorganisationschance begreifen –und tatkräftig ergreifen. Das passiertnicht mehr nur in Einzelfällen, sondernin einer ganzen Fülle von Praxisfeldernund Räumen, zudem mit ansteckenderWirkung. Um zumindest in Stichwor-ten die Bandbreite der hier einschlägi-gen Räume und Praxisfelder zu markie-ren: Sie reichen von Z über N und Msowie D zu A. Sie reichen von Zwi-schennutzungen für aus der Funktiongefallene Bauten und Ensembles überNeue Medien und Low- oder High-Mid-Tech-Unternehmensgründungenin ausgebauten Kuhställen oder Scheu-nen zur beispielhaft selbstorganisiertenDaseinsvorsorge (Erziehung, Alter,Krankheit) bis hin zu rückgekehrtenMitgliedern ostelbischer Adelsfamilienund Alteigentümern, die auf rückge-kauften Teilflächen einen imaginativenmanufakturellen Neuanfang wagen.

II.Der offene Suchbegriff Raumpio-niere erleichtert die Entdeckung

und Förderung derartiger innovativerMikronetze in Räumen mit besonde-rem Erneuerungsbedarf. Bei Raumpio-nieren handelt es sich also um kleineNetze von Akteuren, die neuartige

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thema – wie wollen wir leben?

Nutzungen, Institutionen und Orga-nisationen für Räume erproben, dieaus der ursprünglichen Funktion gefal-len oder deren ursprüngliche Verwen-dungsformen ausgedünnt bzw. verlorengegangen sind. Dazu gehören etwaumbrechende Kulturlandschaften mitstark eingeschränkter Grundversor-gung, Leerstands- und Schrumpfungs-räume, Zwischennutzungsareale, ruppi-ge Biotope, transitorische Wirtschafts-und Sozialräume, posttraditionaleKulturräume mit massivem Erneu-erungsbedarf, langsame Räume auf derSuche nach neuen Kontrastprofilen,vergessene und aufgelassene, von Wüs-tungen bedrohte Rauminseln in Landund Stadt. Raumpioniere entwickelnbeispielhafte Taktiken zur Reaktivie-rung jeweils konkreter Räume vor Ort.Sie bündeln neue Nutzungsideen zuanschluss- wie zukunftsfähigen Kultur-und Organisationsformen. Sie wirkenin der Regel zugleich als Inkubatorenund Impulsgeber für andere, weitereRäume und deren Akteure. Ein hohesMaß an Selbstorganisation liegt in derNatur der Sache; häufig haben Nach-haltigkeitsgesichtpunkte hohe Priorität.

Nicht mehr an jedem Ort

Um ein zunehmend wichtiger werden-des Aktivitätsfeld für Raumpionierenoch einmal herauszugreifen: Ange-sichts der Krise der öffentlichen Haus-halte lässt sich die Grundversorgung –

Infrastruktur, Technik, Verkehr, Ge-sundheitswesen, Kultur, Bildung – inder Fläche Brandenburgs als Ganzesund in seinen peripheren Teilregionenfernab der sich dynamisch entwickeln-den Zentren nicht mehr an jedem Ortgarantieren. Hier formieren sich ver-stärkt bürgergesellschaftliche Initiativ-gruppen, die wir wegen der günstigenWirkungen auf ihre peripher fallendenLebens- und Arbeitsräume, ihrer hoch-gradigen Vernetzung und gemeinsamenVorsorge auch zu einer interessantenKerngruppe der Raumpioniere zählen.

Wir brauchen Freiräume

Für Raumpioniere insgesamt ist ty-pisch, dass sie eine hohe Bereitschaftauszeichnet, selbstverantwortlich – inmanchen Phasen auch schon malselbstausbeuterisch – nach innovativenLösungen für Probleme zu suchen, dieaus konkreten Problemen vor Ort re-sultieren. Das setzt natürlich voraus,dass es attraktive Freiräume für derar-tige Raumpioniere gibt. Gemeint sinddamit physische, soziale, ökonomischeund kulturelle Handlungsräume, dieattraktiv sind und Luft für kreative Lö-sungen lassen – etwa aufgrund einerneue Nutzungen zulassenden Vor-Struktur (inklusive niedriger Rege-lungsdichten, der Schaffung von „Aus-nahmetatbeständen“ etc.)

Das ist inzwischen selbst in den pe-ripheren Landesteilen Brandenburgs

61perspektive21

ulf matthiesen – ein labor für raumpioniere

(früher hieß das „äußerer Entwick-lungsraum“) längst kein kleiner Punktmehr. Auch hier gibt es eine neueKonkurrenz um Flächen. Zur Aufzuchtso genannter Energiepflanzen wie Maisund Raps werden etwa riesige Flächenneu bespielt. Überall schießen Biogas-anlagen aus dem Boden. Dabei kommtes zu einer teils schon dramatisch zunennenden weiteren Homogenisierungder Kulturlandschaften. Die Verknap-pung der Flächen resultiert einmal ineiner erheblichen Reduktion potentiel-ler Anbauflächen für Pflanzen zurHerstellung von (ökologischen) Le-bensmitteln. Dann steigen die Preise.Damit verschärft sich auch die Kon-kurrenzsituation bei der Suche nachPotentialräumen für Raumpioniereerheblich. Raumpioniere werden dabeizunehmend zurückgeworfen auf sub-optimale Rauminseln sowie die Ver-wertung von Reste-Räumen. Ihre bele-bende und ansteckende Anker- undInkubator-Wirkung auf die umgeben-den, von weiter laufender Peripheri-sierung bedrohten Hinterland-Räumekönnen sie kaum mehr richtig ausspie-len. Statt neue Attraktoren für Raum-pioniere zu entwickeln, um das Hin-terland exemplarisch in Schwung zubringen, gibt es also zunehmendSchwierigkeiten, überhaupt Räume fürderartige Unternehmungen zu finden.

Verschärfend kommt hinzu, dasskeinesfalls alle Räume für Raumpio-niere attraktiv sind. Vielmehr lassen

sich günstige und ungünstige Lagenerkennen. Das macht es wichtig, nochgenauer zu bestimmen, was günstigeund was ungünstige Lagen genau aus-zeichnet. Dann aber muss überlegt wer-den, wie sich Räume selbst für endoge-ne wie für exogene Raumpioniereanziehend und anregend machen las-sen. In Frankreich etwa gibt es längstRegionalmessen, auf denen periphereTeilregionen und Departements mitinnovativen AnsiedlungspolitikenWerbekampagnen und regelrechteWettbewerbe für Raumpioniere veran-stalten. Dabei werden – wie selbstver-ständlich – auch gerne Holländer,Belgier und Engländer umworben. Da-von könnten sich die BrandenburgerEntwicklungspolitik und das Standort-marketing dicke Scheiben Anregungabschneiden. Rezepte allerdings sindauch hier eher unwahrscheinlich, daRaumpioniere in einer enormen Band-breite von sehr speziellen Räumen undPraxisfeldern unterwegs sind und damitdie konkrete Konstellation vor Ort eineentscheidende Rolle spielt.

Kultur der Selbstverantwortung

Aber sehen wir noch einmal etwasgenauer hin auf Effekte, Wirkungen,Funktionen und Arbeitsweisen derRaumpionier-Netze: Häufig angeregtoder verstärkt durch Raumpionierewächst innerhalb der ländlichen undkleinstädtischen Milieus Brandenburgs

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thema – wie wollen wir leben?

eine Kultur der Selbstverantwortunggerade für schwierige, auf gewisseWeise aber eben auch hoch attraktiveRäume heran. Aktiv wird dabei an derWiederbelebung von Formen gemein-schaftlichen Handelns gearbeitet. Ohnedies ausdrücklich zu thematisieren, ver-handeln diese Akteursnetze Gemein-schaft nicht länger als Gegenentwurf zuGesellschaft und deren funktionalenSystemen (Ferdinand Tönnies 1887),sondern als deren dynamisierende undintegrierende Grundierung (MichaelOpielka 2006). So kann Selbstorgani-sation hier wieder zu einem zentralenOrganisationsprinzip und zur Stützeeiner Gemeinschaft von Landbürgernwerden. Das hilft, den weiter wachsen-den Ungleichgewichten der Entwick-lung zumindest an einzelnen Ortenihre Härte zu nehmen und den Druckdes demografischen Determinismusund kontinuierlicher Abwanderungs-raten zu lockern.

Ein anderes Glücksversprechen

In diesem Sinne erweisen sich Raum-pioniere als Vorreiter einer sich formie-renden „Selbsthilfegesellschaft“ (HorstW. Opaschowski 2010). Nicht zuletztbeteiligen sie sich durch ihre vielfälti-gen Praxis-Formen auch an einer Um-definition von gesellschaftlichemWohlstand. Das Ziel, besser zu leben –das heißt ja die Steigerung von Lebens-glück – sowie die Beförderung von Ge-

meinschaftsgütern tritt dabei zuneh-mend selbstbewusst gegen die üblichenmonetarisierten Glückversprechen an.Allerdings ohne deren faktisches Ge-wicht romantisierend zu unterschätzen!Das wäre fatal.

Auf der Grundlage einiger hundertFälle von Raumpioniernetzen hat dieRaumpionierforschung am Institut fürEuropäische Ethnologie der Hum-boldt-Universität zu Berlin folgendesKriterienraster für aktuelle Raumpio-niere erarbeitet:

� Zukunftsfähige Raumeffekte undneue Nutzungsstrukturen – im Ge-gensatz zu weiterer Raumhomogeni-sierung und passiven Strategien nachArt des Aussitzens von Problemen,

� Nachhaltigkeit und Zukunftsfähig-keit,

� Qualität des Umnutzungskonzeptes,� Einbindung lokaler Milieus,� Innovativität und Kreativität im Sin-

ne des Neuen als Neuen,� Steigerung gesellschaftlicher Tole-

ranz in den lokalen Milieus,� Stärkung struktureller Heterogenität,� Abgrenzung zu Aktivitätsformen, die

nicht die Qualität von Raumpionier-Netzen erreichen, einschließlich derBestimmung von Übergangszonen.

Fünf durch Forschungs- und Faller-fahrungen unterfütterte Charakteristikavon Raumpionieren und ihren Netzenlassen sich besonders herausheben:

63perspektive21

ulf matthiesen – ein labor für raumpioniere

� Raumpioniere konstruieren und re-konstruieren Räume auf unterschied-liche Weise: so etwa durch die Schaf-fung von Institutionen wie einerDorfschule; durch die Wieder-Erfin-dung zumeist langsamerer, traditio-neller, kultureller Techniken wiedem Wein- oder Lehmbau; durch dieWiederbelebung gemeinschaftsbe-zogener Projektnetze; nicht zuletztdurch die Vorwegnahme gesamtge-sellschaftlicher Trends wie derSelbstverantwortungsgesellschaftoder technologischer Trends wie derökologischen Abwasserbehandlung.Raumpioniere machen also in vielfäl-tiger Weise auf bisher ungedachteMöglichkeiten für funktionslosscheinende Räume aufmerksam.

� Raumpioniere entwickeln in derRegel besondere, spezifische statt ge-nereller Lösungsmuster. Sie folgendabei der Eigenlogik des jeweiligenOrtes und stärken oder profilierendessen Potentiale. Auf diese Weisekommt die Dimension der Identitätdieser Räume mit ins Spiel.

� Raumpioniere mischen häufig sehrgeschickt das Selbstorganisationspo-tential gemeinschaftsorientierter in-formeller Milieus mit den strategi-schen Netzwerkdynamiken inMarkt, Politik und Zivilgesellschaft.Dadurch entstehen neue gemischteInteraktionsformen, die hohe Profes-sionalität und Gemeinschaftsorien-tierung koppeln.

� Raumpioniere nutzen zunehmendkreativ die neuen Medien. Sie tundies vor allem, um die Vernetzungs-dynamiken innerhalb und zwischenden Projektökologien zu stärken unddie kleinen Gemeinschaften der Da-seinsvorsorge zu stabilisieren. Häufigentstehen auf diese Art neue, teilwei-se überraschende Verknüpfungenzwischen lokalen und europäischenund globalen Entwicklungen. So las-sen sich die neuen Muster der Struk-turierung von Räumen stärken ohnedass die Projekte darüber ihre Er-dung vor Ort verlieren.

� Raumpioniere zeigen nicht zuletztdurch ihre Netzwerke eine ungewoll-te Affinität zu Krisenzeiten und Kri-senräumen. Zeiten und Räume, dievon Krisen durchschüttelt werden,sind häufig Geburtsstätten des Neuenals eines wirklich Neuen. Sie ermögli-chen die praktische Erprobung vonneuen Raumtaktiken und Raumstra-tegien auf unbekanntem Terrain.

Zwischenfazit: Gerade für eineRaumpolitik unter den Bedingungenschwachen Wachstums bilden Raum-pioniere hoch relevante Akteursgruppen.Sie können bei der praktischen Erkun-dung neuer Raumdynamiken sowie beikreativen und innovativen Krisenlö-sungsversuchen vor Ort helfen. Raum-pioniere lassen sich als „lebende Wün-schelruten“ (Johann Georg Hamann)für Problemräume kennzeichnen.

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thema – wie wollen wir leben?

III.Angesichts der zukunftsfähigenStruktureffekte vieler Projekt-

ökologien mit Raumpionieren stelltsich die dringende Doppel-Frage: Wielassen sich deren Netze angemessenerfördern? Und wie lässt zugleich verhin-dern, dass dabei eine zu große Abhän-gigkeit von den jeweiligen „Förder-töpfen“ entsteht? Dazu bedarf es derWeiterentwicklung von experimentel-len Förderkomponenten.

Die richtige förderpolitische Grund-entscheidung in Brandenburg, die Ärader Gießkanne zu beenden undWachstumskern-, Schwerpunkt- undClusterförderungen zu betreiben, hatvor dem Hintergrund der oben skiz-zierten Disparitätenentwicklungenzumindest kurz- und mittelfristig denunbequemen Seiteneffekt, Dispari-tätenbildungen zwischen den För-derräumen und den nicht mehr geför-derten Räumen und Gemeindenzunächst eher zu verstärken. Was dielangfristigen Effekte von Clusterförde-rungen auf peripher fallende Regions-teile anlangt, muss man bekennen: Wirwissen es nicht genau. Insofern machtes Sinn, genereller über wagemutigere,experimentellere, kleinere Förderkom-ponenten nachzudenken, die systema-tisch die Wachstumskernförderungenflankieren müssen. Denn eine der zen-tralen Leistungen von Raumpionier-netzen ist es, konkret, vor Ort undfrühzeitig deutlich zu machen, wasetwa in schwierigen Lagen des Landes

geht und was überhaupt nicht geht,was Disparitäten mindert und wasDisparitäten weiter verschärft.

Eine Reihe von schon praktiziertenFördermaßnahmen unterstützen natür-lich schon derartige initiative Gruppen.Aber das ist bisher unabgestimmte, inmehreren Ministerien am Rand mit-laufende Förderpraxis. Die Gesamt-konstellation der Raumpionier-Bewe-gung und der dringende Bedarf füreine systematische experimentelleKomponente zur Förderung vonRaumpionier-Projektökologien wirdweiter nicht erkannt. Sachsen-Anhaltscheint auf diesem Feld gerade einenSchritt nach vorne zu tun.

Weniger Regeln, mehr Flexibilität

Zur Attraktion und weiteren Anregungvon Raumpionieraktivitäten in den ein-zelnen Landesteilen und ihren Raum-typen, vor allem aber in den peripherfallenden Gebieten gehört die Flexibi-lisierung von Regelungsdichten – an-ders gesagt: die Schaffung der obenerwähnten Ausnahmetatbestände. Dasspielt nach unseren Untersuchungs-ergebnissen bei der Anregung weitererRaumpionierprojekte eine wichtigeRolle. Das verbindet übrigens die ge-genwärtige Lage mit früheren Pionier-zeiten. Die erfolgreiche preußischePolitik der Anwerbung von Kolonistenund der Gründung neuer Siedlungenzwischen 1685 und 1786 etwa lässt

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ulf matthiesen – ein labor für raumpioniere

sich mit Gewinn als kluge Politik derDeregulierung verstehen. Die damali-gen Attraktoren waren temporäre Be-freiung von Steuern, Befreiung vomMilitärdienst, Freiheit der Religions-ausübung und die Möglichkeit, selbst-ständig Siedlungsräume zu entwickeln.

Wie man Orte wiederbelebt

Elektronische Medien und deren An-gebot weltweiter Vernetzung sindheute für eine Stärkung der Attrakti-vität von Möglichkeitsräumen uner-lässlich. Breitbandkabel gehören zujeder angemessenen Förderung. Zieleiner zukunftsfähigen Förderung vonRaumpionieren muss es sein, an-steckende Wirkungen zu erzielen, diewie in früheren Zeiten zum Einwan-dern weiterer Kompetenzen führen,die den brain drain zunächst lokal inbrain gain verwandeln.

Zur genaueren Präzisierung derAttraktoren für Raumpioniere ist aller-dings auch weitere vergleichende regio-nal-ethnografische Forschung nötig. Es wäre schade, wenn die Raumpio-nier-Dynamiken zunehmend auf sub-optimale Rauminseln und Resteräumezurückgeworfen würden oder gegen dieWand des regionalpolitischen Nicht-Interesses anrennen müssten. Dannkönnten sie ihre vielerorts zu beob-achtende belebende und ansteckendeWirkung für die Brandenburger Teil-regionen nicht mehr richtig ausspie-

len. Hier ist also viel zu tun. Ein paarPunkte nur:

� Förderlogiken aushandeln, neu ju-stieren und weiter entwickeln: alsoFödermaßnahmen, die einerseits pas-sen, innovativitätsfördernd sind undandererseits nicht Fördertopf-abhän-gig machen,

� schwach geregelte Kontexte für ent-schlossene Pionier-Projekte: Daswird – neben adäquaten Flächen undRäumen – zu einem immer wichtigerwerdenden Attraktor für weitereRaumpioniere,

� Absenken der Regelungsdichte, dasheißt zum Beispiel Deregulierungvon Bauvorschriften und „Sonder-zonen“,

� Vernetzungsgebote zur Stärkung derAttraktoreffekte,

� externe Evaluation: Qualität undZukunftsfähigkeit (& Arbeitsplätze),

� ansteckende Wirkungen, spillover,brain gain.

IV.Gerade für aktuelle Raum- undVorsorgepolitiken auf dem

schwierigen Terrain schrumpfenderländlicher Regionen bekommen dieselbstorganisierten Experimente derRaumpioniere ein zunehmendes Ge-wicht (vgl. auch Ch. Links, K.Volke(Hg.) 2009): Nicht zuletzt haben sieauch eine erhellende gesellschaftlicheFunktion, indem sie uns auf anschluss-fähige Weise mit dem Problem unseres

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thema – wie wollen wir leben?

Nicht-Wissens konfrontieren (s. Taleb,Schwarzer Schwan 2008). Weder Po-litik noch wissenschaftliche Expertisewissen genau, wie den disparitärenDynamiken in den Räumen der post-traditionalen Wissensgesellschaft bei-zukommen ist. In dieser unübersicht-lichen Lage erkunden Raumpioniere inder Tat für uns – und nicht selten überweite Strecken auch auf eigene Rech-nung –, was in problematischen Räu-men möglich und erreichbar ist, was vorOrt bald nicht mehr zu haben sein wird,also anders geregelt werden muss oderwas gar nicht funktioniert. Die Netzeder Raumpioniere zeigen uns also im-mer auch, was an schwierigen Ortengeht, wie Problemlagen über selbst be-stimmte Projektnetze zu entwickelnsind, wie sie vielleicht beweglicher ge-staltet oder auf andere einfallsreichereWeise stabilisiert oder institutionell neugeregelt werden können.

Gerade in Brandenburg prüfenRaumpionier-Netze insofern auchdurchaus avantgardistisch Strategienund Taktiken durch, wie mit den Fol-

gen der disparitären Entwicklung vonRäumen umzugehen ist, was derschwächer werdenden öffentlichen Da-seinsvorsorge entgegengesetzt oder andie Seite gesetzt werden kann. DieVielzahl der Akteure und Wege, die einesolche Veränderung voranbringen kön-nen, macht Mut. Die kreativen Impulseaus den ländlichen Regionen und diemateriale Lebensqualität, die darin auf-scheinen, verdienen allerdings weitausstärkere öffentliche Aufmerksamkeit und Unterstützung. Der Sammelbe-griff „Raumpioniere“ kann hier zueiner größeren öffentlichen Sichtbarkeitbeitragen. Zu undeutlich sind bislangnoch das Profil und die Fülle dieserüberraschend breit gestreuten Selbstorga-nisationsprozesse. Dabei ist klar: Geradein solchen pionierartigen Projektnetzenbilden sich anschluss- und zukunftsfä-hige Modelle – auf dem langen, win-dungsreichen Weg zu neuen Formen der Kooperation zwischen Bürgergesell-schaft und Staat. Und hierbei gehenBrandenburger Raumpioniere erhobe-nen Hauptes vielfach vorne mit. �

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ulf matthiesen – ein labor für raumpioniere

P R O F. D R. U L F M A T T H I E S E N

arbeitet am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität Berlin.

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thema – wie wollen wir leben?

Weiterführende Literatur

Einfach Gut Leben (Hg.), Eurotopia. Gemeinschaften & Ökodörfer in Europa, 2009

Roland Köhler, Die Zugezogenen. Neusiedler in derUckermark, Multikulturelles Centrum Templin e.V., 2008

Christoph Links, Kristina Volke (Hg.), Zukunft erfinden.Kreative Projekte in Ostdeutschland, 2009

Ulf Matthiesen, Wissensmilieus in heterogenen stadtregionalenRäumen Ostdeutschlands – zwischen Innovationsressourcenund kulturellen Abschottungen; in: Gertraud Koch, BerndJürgen Warneken (Hg.), Region-Kultur-Innovation, 2007, S. 83-122.

Ulf Matthiesen, Raumpioniere, in: Philipp Oswalt (Hg.),Schrumpfende Städte Band 2, Handlungskonzepte, 2005, S. 378-383 (gemeinsam mit Bastian Lange)

Joachim Meißner et al. (Hg.), Gelebte Utopien. AlternativeLebensentwürfe, 2001

Horst W.Opaschowski, Wir! Warum Ichlinge keine Zukunftmehr haben, 2010

Michael Opielka, Gemeinschaft in Gesellschaft, 2006

Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin (Hg.), UrbanPioneers. Stadtentwicklung durch Zwischennutzung, 2007

Richard Sennett, Handwerk, 2008

Nassim Nicholas Taleb, Der Schwarze Schwan. Die Machthöchst unwahrscheinlicher Ereignisse, 2008

Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grund-begriffe der reinen Soziologie, 1969

Im Mai beschloss der BrandenburgerLandtag koordinierte Maßnahmen, die es potenziellen Rückkehrern und Zuwan-derern erleichtern sollen, sich über Bran-denburg zu informieren und sich letztlichfür eine Ansiedelung in der Mark zu ent-scheiden. Damit soll in erster Linie demsich verschärfenden Fachkräftemangel imLand entgegengewirkt werden. Bereitsseit 2008 kümmert sich die TemplinerinAriane Böttcher um „Rückkehrer“ undhat einen Verein gegründet, der in ehren-amtlicher Arbeit eine Informationsplatt-form für ausgewanderte Brandenburgerbietet, die sich noch immer mit ihrerHeimat verbunden fühlen.

PERSPEKTIVE 21: Wie sind Sie darauf gekommen, Ihren Verein „Zuhause inBrandenburg“ zu gründen?ARIANE BÖTTCHER: Aus einer eigenenBetroffenheit heraus. In einem Kreisvon Leuten, die alle abgewandert wa-ren, haben wir uns immer mal wiederin unserer Heimatregion getroffen. Beiunseren Gesprächen haben wir regel-

mäßig festgestellt, dass es in der Regionzu wenig Angebote für junge Menschengibt und dass zu wenig gegen ihre Ab-wanderung getan wird. Dagegen woll-ten wir etwas tun. Und das war danndie Geburtsstunde des Vereins.

Wer wandert ab?

Wer arbeitet dort inzwischen mit?BÖTTCHER: Die Leute aus Gründungs-tagen sind noch dabei. Wir habeneinen Kern von 20 Leuten, die sehrintensiv am Thema arbeiten, die aberauch nicht alle Mitglied im Vereinsind. Darüber hinaus gibt es ein relativgroßes Netzwerk von Akteuren, diepunktuell mit uns zusammenarbeiten.Das sind Privatpersonen, aber auchLeute aus anderen Institutionen, ausPolitik und Verwaltung, die sich be-teiligen.

Welche Projekte setzen Sie konkret um?BÖTTCHER: Wir bespielen hier verschie-dene Felder. In einem unserer ersten

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Wir brauchen eineWillkommenskulturÜBER DIE HEIMATGEFÜHLE VON EX-BRANDENBURGERN UND DIE FRAGE,

WIE MAN EXILANTEN ZURÜCKHOLEN KANN, SPRACH JOHANNA LUTZ MIT

ARIANE BÖTTCHER

Projekte wollten wir zunächst malmehr über die Motivationslage vonuckermärkischen Abwanderern bzw.Rückkehrern herausfinden. Wir habenalso biografische Interviews mit Rück-wanderern geführt, um zu erfahren,was sie zurück in die Uckermark ge-führt hat und welche Punkte letztlichfür diese Entscheidung ausschlagge-bend waren. Das ermöglichte unsauch, Ansätze herauszuarbeiten, wieRückwanderung befördert oder Ab-wanderung gemindert werden kann.Unsere Ergebnisse haben wir in einerBroschüre zusammengefasst – auch um damit die Diskussion vor Ort zubefördern. Das ist uns ganz gut gelun-gen. Daneben unterhalten wir zweiInternet-Auftritte: Einmal den Blog„Zuhause in Brandenburg“ und eineFacebook-Gruppe „Zuhause in derUckermark“. Darüber versuchen wirden Kontakt mit Leuten zu halten, die mal in der Uckermark oder auch in Brandenburg gelebt haben. Sie er-halten Informationen darüber, was eigentlich in unserer Region los ist.Wir versuchen, dort besonders diepositiven Wirtschafts- und Infrastruk-turentwicklungen zu präsentieren.Wir machen also Image-Werbung.Aber wir haben natürlich auch Leser,die hier wohnen und einfach nur am Thema interessiert sind. Zunehmendkommt das Thema Beratung von Rück-kehrwilligen auf uns zu, das wird im-mer mehr eingefordert.

Welche Gründe bewegen ehemaligeBrandenburger nun am häufigsten zurRückkehr in ihre Heimat?BÖTTCHER: Die allermeisten Leute ver-lassen die Region, weil sie hier keineberufliche Perspektive sehen. Bemer-kenswert ist daher, dass sie nicht zu-rückkommen, weil sie hier plötzlichein gutes Job-Angebot bekommenhaben. Die berufliche Motivation trittsogar völlig in den Hintergrund. Einegroße Rolle spielen hingegen Dingewie Heimatverbundenheit, ein emotio-naler Bezug zur Region oder auch dieintakten, sozialen Netzwerke vor Ort.Speziell in der Uckermark sind tat-sächlich sehr viele Rückkehrer in dieSelbstständigkeit gegangen. Auch wennder Arbeitsmarkt in der Region sichzwar verbessert hat, so haben wir fest-gestellt, dass es insbesondere für höherQualifizierte keine guten Job-Angebotegibt und sie deshalb die Nische derSelbständigkeit wählen. Das zeigt einmal mehr, dass oft ausschließlich „weiche Faktoren“ eine Rolle bei derRückkehr spielen.

Mit Pioniergeist

Halten Sie die Wahl der Selbständig-keit nach der Rückkehr für ein typischesuckermärkisches Phänomen? BÖTTCHER: Es ist vermutlich einfachtypisch für strukturschwache Regio-nen. Schließlich bleibt den Menschenja sonst wenig Auswahl. In berlinna-

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thema – wie wollen wir leben?

hen Regionen Brandenburgs, wo der Arbeitsmarkt besser entwickelt ist, kommt es vermutlich seltener vor, dass die Leute in die Selbsts-tändigkeit gehen. Dieser Pioniergeistist aber gerade aus wirtschaftlicherSicht gut! Schließlich befördern Neu-gründungen die strukturschwachenRegionen.

Sind die Neugründungen denn ten-denziell auch langfristig stabil underfolgreich? BÖTTCHER: Da sind unsere Erfahrun-gen sehr positiv. Fast alle, die zurück-kehren, fassen beruflich Fuß, ob mitSelbständigkeit oder Arbeitsplatz. Da-bei ist das gute soziale Umfeld, das dieRückkehrmotivation bildet, sicherlichsehr förderlich.

Bis nach Südafrika

Wissen Sie denn auch von Menschen, dieaus Sehnsucht in die Uckermark zurück-kommen, ohne dass sie einen Job in Aus-sicht haben?BÖTTCHER: Ich stehe gerade in Kontaktmit einer alleinerziehenden Frau, die imSommer mit ihren Kindern aus Brüsselzurückkommen möchte. Sie erkundigtsich auch schon nach den Schulen vorOrt, nach dem Wohnungsmarkt undauch nach möglichen beruflichen Per-spektiven. Aber sie hat noch keinenkonkreten Job, doch die Entscheidungzur Rückkehr steht für sie fest.

Wie sieht die Altersstruktur von Rück-kehrern aus?BÖTTCHER: Der typische Rückkehrer istzwischen 25 und 35 Jahre alt. In derRegel verlassen junge Leute die Marknach der Schule, um woanders eineAusbildung zu machen oder zu studie-ren. Oft folgen noch einige Jahre Be-rufserfahrung – und danach stehen sieplötzlichen in einem neuen Lebensab-schnitt: Sie möchten eine Familie grün-den und stellen sich deshalb die Frage,wo sie künftig endgültig leben wollen.Und an diesem Punkt beschließen typi-scherweise viele Leute, dass sie in ihreHeimat zurückgehen wollen.

Gibt es auch Rentner unter den Rück-kehrern? BÖTTCHER: Ja, es gibt auch Leute, dienach der Wende aufgebrochen sind,lange im Westen gearbeitet haben unddann für den Ruhestand zurückkom-men. Ich kann allerdings schwer beur-teilen, ob das ein Trend ist. Wir kom-munizieren viel über das Internet, dasvor allem von der jüngeren Generationgenutzt wird. Ich habe allerdings vomTempliner Bürgermeister gehört, dasser viele Neuanmeldungen verzeichnetvon ursprünglichen Uckermärkern imRentenalter.

Wo wohnen derzeit die meisten Bran-denburger im Exil?BÖTTCHER: Die größte Communitylebt in Berlin. Eine weitere große

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ariane böttcher – wir brauchen eine willkommenskultur

Ballung gibt es im Rhein-Main-Gebiet.Aber wir haben auch viele Leute, dieins europäische Ausland gegangen sind.Unsere Verbindungen reichen letztlichbis nach Südafrika.

Schneeballeffekt im Internet

Ihr Verein beschäftigt sich ja auch mitden Motivationen der Abwanderer. Wiegehen Sie mit dem Thema um?BÖTTCHER: Man kann das ThemaRückwanderung nur sinnvoll bearbei-ten, wenn man sich auch genauer mitder Motivation für Abwanderung aus-einandersetzt. Wir wissen, dass die jun-gen Leute weggehen, weil sie woandersbessere Ausbildungs- und Berufsper-spektiven sehen. Und natürlich: Alleinum Medizin zu studieren oder Fremd-sprachen richtig zu lernen, muss manBrandenburg verlassen. Unser Vereinvertritt die Ansicht, dass es den jungenLeuten auch gut tut, wenn sie woan-ders Erfahrungen sammeln und sichmal anderen Wind um die Nase wehenlassen. Es ist im Handwerk ja aucheine gute und sehr sinnvolle Tradition,auf Wanderschaft zu gehen und Neueskennenzulernen. Das sieht vor allemdie Wirtschaft derzeit anders: Auf-grund des Fachkräftemangels appelliertsie an die Schülerinnen und Schüler,direkt bei brandenburgischen Betrie-ben anzuheuern. Das verträgt sich meines Erachtens aber nicht mit denAnforderungen von Flexibilität und

Mobilität, die insgesamt zunehmendan junge Menschen gestellt werden.Der springende Punkt ist: Die Leutemüssen wieder zurückgeholt werden –und das gelingt noch zu wenig.

Wie machen Sie denn die Abgewander-ten ausfindig?BÖTTCHER: Das Internet ist unserHauptinstrument. Es ist wirksam,kostengünstig und von überall zugän-gig. Über die sozialen Netzwerke imInternet erreichen wir über denSchneeball-Effekt stetig mehr Men-schen. Wir arbeiten inzwischen auchgezielt mit Schulen zusammen: Wirstellen den Schülern unseren Vereinvor und erklären, wie sie darüber Anknüpfungspunkte für eine späteremögliche Rückkehr behalten. Wir versuchen dadurch eine Art Alumni-Netzwerk aufzubauen, in das wirimmer wieder Informationen über die Region und den Verein einspeisen.

Fördert die Frauen!

Was kann denn institutionell getanwerden, um den Rückkehrwunsch zubefördern?BÖTTCHER: Als ich vor vier Jahren mitder Arbeit an diesem Thema begann,war das Problem noch gar nicht in dasBewusstsein von Politik und Verwal-tung gedrungen – vor allem nicht aufkommunaler Ebene. Ich bin froh, dassdas das Thema nun in der Öffentlich-

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thema – wie wollen wir leben?

keit präsent ist und die Politik dafürsensibilisiert ist. Vorschläge für kon-krete nächste Schritte haben wir einige.Wir versuchen derzeit beispielsweiseein Internetportal für Rückkehrer aufzubauen. Dort sollen gebündelt Informationen aufbereitet werden zuFragen wie: Wo finde ich eine guteSchule? Welches Kita-Angebot stehtzur Verfügung? Wie sieht es auf demImmobilienmarkt aus? Auch Arbeit-geber sollen sich dort vorstellen kön-nen. Bei der Beschäftigung mit demThema ist uns ein wichtiger Aspektaufgefallen: Unter den Abwanderernsind besonders viele Frauen, unter den Rückkehrern sind allerdings mehrMänner als Frauen. Das heißt, dass die Rückwanderung den Mangel anFrauen in den Regionen sogar nochverstärkt. Das findet auch deutlichenNiederschlag in den Kommunen. BeiUntersuchungen der Zusammenset-zung von Stadtverordnetenversamm-lungen und Gemeindevertretungenhaben wir festgestellt: Der Anteil vonFrauen in diesen Parlamenten liegt inder Regel unter 25 Prozent. In einzel-nen Parlamenten sitzt nur eine einzigeFrau neben 20 Männern. Dadurchbleiben weibliche Themen auf derStrecke oder die Themen werdenanders bearbeitet. Das hat natürlichwiederum Auswirkungen darauf, wieattraktiv eine Region für Frauen ist.Daher lautet ganz klar unser Appell andie Parteien: Fördert eure Frauen!

Versucht, sie in Positionen zu bringenund ihnen auch öffentliches Gewichtzu verleihen. Denn das hat aus unsererSicht auch eine ganz deutliche Auswir-kung darauf, dass Frauen ihre Heimat-region für sich attraktiv finden.

Mit welchen Partnern und Institutionenarbeiten sie in der Region neben Schulennoch zusammen?BÖTTCHER: Beim Aufbau des Internet-portals unterstützt uns zum Beispiel die Sparkasse Uckermark und das LandBrandenburg. Bei Veranstaltungenergeben sich mitunter Kontakte zuUnternehmen, die sich als potenzielleArbeitgeber ins Gespräch bringen.Darüber hinaus stehen wir in ständi-gem Austausch mit Akteuren, die sichmit dem Thema befassen, dazu ge-hören unter anderem die IHK, dieLandeszentrale für politische Bildung,Parteien, die Arbeitsagentur, Kultur-und Sportvereine oder auch der „Ver-bund für Rück- und Zuwanderung.“

Die Region, aus der man kommt

Ihr Verein trägt den Zusatznamen„Zuhause in der Uckermark“. Wieso istdas wichtig?BÖTTCHER: Unsere Erfahrung ist, dasssich die Menschen weniger als Bran-denburger verstehen, sondern eher alsUckermärker, Prignitzer, Lausitzer unddementsprechend auch wieder in ihreeigene Region zurückkehren wollen.

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ariane böttcher – wir brauchen eine willkommenskultur

Wenn jemand den Schritt zur Rück-kehr geht – und dafür seinen Job auf-gibt –, dann geht er nicht einfachirgendwo nach Brandenburg, sondernin die Region, aus der er stammt. DerBeratungsbedarf ist folglich auch sehrregionalspezifisch. Bei der Frage, wel-che Schule gut ist oder welche Kitasich durch welche Besonderheiten aus-zeichnet, benötigt man schon regionaleKenntnisse. Eine zentrale Stelle könntedas weniger gut leisten. Auch aufgrundder Resonanz, die wir auf unsere regio-nale Initiative bekommen, plädiere ichfür einen regionalen Ansatz.

Besser vernetzen

Stehen Sie in Kontakt mit anderen ost-deutschen Rückkehrer-Initiativen?BÖTTCHER: Auf Bundesebene arbeitenwir mit dem „Verbund für Rück- undZuwanderung“ und den darin beteilig-ten Rückkehrinitiativen anderer ost-deutscher Bundesländer zusammen.Allerdings ist auf dieser Ebene derAnsatz stark auf das Thema Fachkräf-tesicherung ausgerichtet. Aus unserenErfahrungen mit der Motivation vonRückkehrern halte ich diese Fokus-sierung aber für zu kurz gegriffen.Denn die Leute zieht es in erster Linieaufgrund der „weichen Standortfakto-ren“ in ihre Heimat zurück. Aus unse-rem breiteren Ansatz ergibt sich auchein entsprechendes Kommunikations-konzept, das speziell an diese Faktoren

anknüpft. Wir halten Fachkräftesiche-rung auch für wichtig, aber wir be-schränken uns eben nicht darauf. Hierunterscheiden wir uns von anderenAnsätzen.

Was könnte Ihrer Meinung nach dasLand tun, um regionale Projekte zubefördern oder zentral zu verbinden?BÖTTCHER: Die Vernetzungsfunktion,die vom Land ausgehen kann, halte ichfür wichtig. Unser Verein steht in Kon-takt mit der Staatskanzlei. Das dortigeReferat „Demografischer Wandel“ bil-det eine Art Scharnier für die Zusam-menarbeit mit anderen Akteuren. DasLand könnte die regionalen märkischenInitiativen, die es bereits gibt, stärkermiteinander vernetzen, um den Erfah-rungsaustausch zu befördern. In einzel-nen Berufsbereichen kann und solltesich das Land aber durchaus für die ge-samte Landesebene engagieren. DieAnwerbung von hochqualifizierten Wis-senschaftlern für die verschiedenen For-schungsstandorte sollten beispielsweisebesser koordiniert vom Land erfolgen.

Nur Werbung reicht nicht

Sachsen-Anhalt hat an seine ExilantenPäckchen mit landestypischen Produktenverschickt oder über die Weihnachtsfeier-tage Radio-Anzeigen geschaltet. HaltenSie solche Initiativen für sinnvoll? BÖTTCHER: Das sind kreative Maßnah-men. Allerdings wird die einzelne Wer-

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thema – wie wollen wir leben?

bemaßnahme nie allein erfolgreichsein. Dahinter muss immer ein gutesKonzept mit einem gesamten Maßnah-menbündel stehen. Das Bundesland soll-te auch genauso wie die Regionen daranmitarbeiten, eine generelle Willkom-menskultur gegenüber Rückkehrern zuschaffen. Dazu gehört es auch, bürger-

schaftliches Engagement zu stärken.Wenn junge Leute früh in Vereinen, imSport, bei der Feuerwehr oder auch inParteien mitwirken, bleiben sie in derRegel auch später in der Region gut ver-netzt und fühlen sich verwurzelt. Unddann kehren sie auch irgendwann wie-der in ihre märkische Region zurück. �

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ariane böttcher – wir brauchen eine willkommenskultur

A R I A N E B Ö T T C H E R

ist Politikwissenschaftlerin und Vorstandsmitglied des Vereins „Zuhause in Brandenburg e.V.“

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perspektive21

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Seit 1997 erscheint „perspektive 21 – Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik“.

Wenn Sie Interesse an bisher erschienenen Ausgaben haben, können Sie ältereExemplare auf unserer Homepage www.perspektive21.de als pdf herunterladen.

Einzelne Exemplare von bisher erschienenen Ausgaben schicken wir Ihnen gerne auchauf Wunsch kostenlos zu. Senden sie uns bitte eine E-Mail an [email protected].

Zur Zeit sind folgende Titel lieferbar:

Heft 17 Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende?

Heft 18 Der Osten und die BerlinerRepublik

Heft 19 Trampolin oder Hängematte? Heft 20 Der Letzte macht das Licht aus?Heft 21/22 Entscheidung im Osten:

Innovation oder Niedriglohn?Heft 23 Kinder? Kinder!Heft 24 Von Finnland lernen?!Heft 25 Erneuerung aus eigner KraftHeft 26 Ohne Moos nix los?Heft 27 Was nun Deutschland?Heft 28 Die neue SPDHeft 29 Zukunft: WissenHeft 30 Chancen für RegionenHeft 31 Investitionen in Köpfe

Heft 32 Auf dem Weg ins 21.Jahrhundert

Heft 33 Der Vorsorgende SozialstaatHeft 34 Brandenburg in BewegungHeft 35 10 Jahre Perspektive 21Heft 36 Den Rechten keine ChanceHeft 37 Energie und KlimaHeft 38 Das rote PreußenHeft 39 Osteuropa und wirHeft 40 Bildung für alleHeft 41 Eine neue Wirtschaftsordnung?Heft 42 1989 - 2009Heft 43 20 Jahre SDPHeft 44 Gemeinsinn und ErneuerungHeft 45 Neue ChancenHeft 46 Zwanzig Jahre BrandenburgHeft 47 It’s the economy, stupid?


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