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Stemmer 1988 Der Grundriß der platonischen Ethik. Karlfried Gründer zum 60. Geburtstag

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Der Grundriß der platonischen Ethik. Karlfried Gründer zum 60. Geburtstag Author(s): Peter Stemmer Source: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 42, H. 4 (Oct. - Dec., 1988), pp. 529-569 Published by: Vittorio Klostermann GmbH Stable URL: http://www.jstor.org/stable/20484233 . Accessed: 18/12/2014 10:22 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Vittorio Klostermann GmbH is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Zeitschrift für philosophische Forschung. http://www.jstor.org This content downloaded from 132.187.253.25 on Thu, 18 Dec 2014 10:22:14 AM All use subject to JSTOR Terms and Conditions
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  • Der Grundri der platonischen Ethik. Karlfried Grnder zum 60. GeburtstagAuthor(s): Peter StemmerSource: Zeitschrift fr philosophische Forschung, Bd. 42, H. 4 (Oct. - Dec., 1988), pp. 529-569Published by: Vittorio Klostermann GmbHStable URL: http://www.jstor.org/stable/20484233 .Accessed: 18/12/2014 10:22

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  • DER GRUNDRISS DER PLATONISCHEN ETHIK

    Karlfried Gruinder zum 60. Geburtstag

    von Peter S t e m m e r, Berlin

    I .

    ,,Es geht nicht um eine belanglose Frage; woruiber wir sprechen, ist, wie man leben soll" (o6vtLVa TQo6ov xe" liv).1 Sokrates will mit dieser Bemerkung seinen Gesprachspartner Thrasymachos zur Fortfuihrung des begonnenen Gesprachs uiberreden, und er greift zu diesem Zweck zur Finesse der Untertreibung: Die Frage, wie man leben soll, ist nicht nur keine belanglose Frage, sie ist die erste und letzte Frage der Philosophie. Sie steht am Beginn der philosophischen Reflexion, sie treibt das Philo sophieren erst hervor; und ihre Beantwortung ist das Ziel, dem alie philosophischen Anstrengungen dienen.2 So von der Frage nach dem besten Leben bestimmt ist die Philosophie mit der konkreten Lebens praxis aufs engste verbunden. Denn jeder Mensch steht vor der ausge sprochenen oder unausgesprochenen Frage, wie er sein Leben fuihren oder - wie Platon auch sagt3 - welches Leben er wahlen soll. Platon hat ausdruicklich hervorgehoben, daf3 diese Frage nicht den Philosophen eigen sei, sie vielmehr wie keine andere Frage jeden Menschen angehe: ,,Denn du siehst", sagt Sokrates zu Kallikles, ,,daB wir fiber das sprechen,

    worauf wohl auch ein Mensch mit ganz bescheidenem Verstand groferen Ernst verwenden wird als auf irgendetwas anderes: namlich uiber die Frage, wie man leben soll" (ovtLvOC TQOTOV xe 4V).4

    Platon formuliert die Frage unpersonlich mit xerl, obwohl es fuir den einzelnen zunachst naherliegt, zu fragen ,,Wie soll ich leben?" statt ,,Wie soll man leben?". Die unpersonliche Formulierung hebt die Fra ge bereits ein Stfick weit von ihrer lebensweltlichen Unmittelbarkeit ab. Denn sie schweigt fiber die Person, um deren Leben es geht. Die Frage, wie Platon sie stellt, setzt voraus, daBi es moglich ist, Prinzipien der Lebensgestaltung zu formulieren, die ffir alle Menschen wichtig und nuitzlich sind. Vorausgesetzt ist, daf die Frage ,,Wie soll ich leben?" fiber eine Beantwortung der Frage ,,Wie soll man leben?" zu beantworten ist.

    1 Platon, Rep. I, 352d5f.; vgl. auch I,344el-3. 2 Vgl. Rep. IX,578c6f.; Lach. 187e6-188a3; Gorg. 472c5-dl. 3 Vgl. z. B. Rep. X,618c4-6, e4, 619a5. 4 Gorg. 500cl-4.

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  • 530 PETER STEMMER

    Platon meint nicht nur, daB das beste Leben im Prinzip fur alle das gleiche sei, er halt es auch fur richtig, den Begriff des besten Lebens oder - ein anderes Wort - des Gliicks durch Kriterien zu bestimmen, die nicht einfach auf die Selbsteinschitzung der Menschen zuriickgrei fen. Was das beste Leben ist, laBt sich nicht im Rekurs auf das subjek tive Wohlbefinden bestimmen. Denn wie jemand sich gesund fiihlen kann, obwohl er, wie ein Arzt feststellen konnte, tatsachlich krank ist, so kann sich jemand gliicklich fiihlen, obwohl er tatsachlich nicht gliicklich ist, er tatsachlich kein gutes Leben lebt.5 Wie ein Arzt einem Patienten sagen kann: ,,Obwohl Sie sich gesund fiihlen, sind Sie krank.", kann ein Philosoph, ein Seelen- und so auch Glicksexperte, einem Gesprachspartner sagen: ,,Obwohl Sie sich gliicklich fiihlen, sind Sie es nicht."

    Mit dieser zweifach objektivistischen Konzeption des Gliicksbegriffs hangt es zusammen, dag die fur die antike Philosophie fundamentale Frage nach dem besten Leben in der modernen Ethik weitgehend ob solet geworden ist. Seit der Aufklarung hat sich in Europa die liberale

    Uberzeugung durchgesetzt, daB es jedermanns ureigenste Sache ist, wie er sein Leben gestaltet.6 Niemand hat das Recht, andere in diesem Punkte zu bevormunden und zu einer bestimmten Lebensform zu zwingen. Dies macht - so scheint es - eine Theorie des besten Lebens, d. h. Aussagen dariiber, was nicht nur fur mich, sondern fur alle die beste Art zu leben ist, entbehrlich, ja sogar unerwiinscht. Doch der

    Verzicht auf Eingriffe in die Autonomie anderer bedeutet nicht, daB es keine allgemeinguiltigen Prinzipien der Lebensgestaltung gibt und die Frage danach besser unterbleiben sollte. Und umgekehrt: Wer glaubt, allgemeingiiltige Prinzipien der Lebensgestaltung begriinden zu kon nen, mug deswegen nicht versuchen, andere Menschen zu ihrem Gliick zu zwingen. Wir wissen, dag die Versuchung, Menschen gegen ihren Willen zu dem zu verhelfen, was nicht sie, sondern andere fuir ihr

    Gliuck halten, grog ist. Und wir wissen auch, dag Platon dieser Versu chung zumindest in seiner Theorie erlegen ist. Dennoch ist es wichtig, die beiden Fragen, ob sich allgemeine Kriterien guten Lebens formulie ren und begruinden lassen und was, wenn dies gelingt, daraus fuir den

    Umgang mit anderen Menschen folgt, auseinanderzuhalten. Wer keine Diktatur der Philosophen will, will deshalb nicht unbedingt, dag nie

    5 Vgl. Gorg. 463e-464a. 6 Piaton konnte diesen Gedanken zwar formulieren, aber nicht akzeptieren. In

    Rep. VIII,557b8-10 sagt Sokrates, in einer demokratischen Polis k?nne jeder sein Leben so einrichten, wie es ihm gefalle

    -

    eine Idee, die Piaton entschieden attak kiert.

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  • DER GRUNDRISS DER PLATONISCHEN ETHIK 531

    mand die Frage ,,Wie soll ich leben?" im Rekurs auf die Frage ,,Wie soll man leben?" zu beantworten sucht.

    Des weiteren machte die fur die Philosophie der Neuzeit kennzeich nende Verscharfung der Begriindungsanspriiche die Idee einer Theorie des besten Lebens problematisch. Sie schien eine objektive Bestim

    mung des wahren Glucks auszuschlieBen. Denn wie kann eine undog matische Konzeption des besten Lebens gelingen, die nicht auf subjek tives Gliicksempfinden und subjektive Gliicksgewigheit rekurriert, diese vielmehr an sich mif3t? Wie kann man fiber die Wahrheit und Falschheit von Satzen entscheiden, die objektive Kriterien guten Le bens formulieren? Wie ist es moglich, methodisch reflektiert die fulr jede Theorie des besten Lebens elementaren Unterscheidungen von scheinbaren und tatsachlichen Vorteilen, scheinbaren und wohlver standenen Interessen, scheinbarem und wahrem Glulck zu treffen?

    Es mug hier offenbleiben, ob und wie diese Fragen zu beantworten sind. Klar mug sein, daB wir hinter die Forderung undogmatischen Prozedierens nicht zuruickk6nnen. Zu philosophieren, heilt seit So krates, Rechenschaft zu geben und zu fordern, das, was man selbst sagt und tut und was andere sagen und tun, Begriundungsfragen zu unterwerfen. Die neuzeitliche Prazisierung der Begriindungsansprulche ist eine Aufnahme und Verscharfung dieser antiken Tradition. Und sie ist nur mit der Philosophie selbst aufzugeben. Doch offenbart, wie sich zeigen wird, gerade ein entschiedenes Festhalten an den Auswei sungsanspriichen kritischen Philosophierens die Unabweisbarkeit der Frage nach dem besten Leben.

    II. In der kantischen Ethik ist die Grundfrage: ,Wie soll man handeln?"

    Dabei ist das ,,soll" moralisch verwendet: Gefragt wird nach den Handlungen, zu denen der Mensch moralisch verpflichtet ist. Kant un terscheidet bekanntlich drei Arten von Sollen, das moralische, proble

    matische und pragmatische. Das moralische Sollen gilt absolut, nicht relativ zu einem Zweck: ,,es imperiert kategorisch und schlechthin."7

    Das problematische Sollen ist hypothetisch, es gilt relativ zu einem Zweck, und zwar zu einem beliebigen Zweck. Auch das pragmatische Sollen ist hypothetisch, aber es ist nicht auf einen beliebigen Zweck bezogen, sondern auf den, wie Kant sagt, ,allgemeinen Zweck der

    Menschen, das ist die Glickseligkeit."8 Das pragmatische Sollen fin

    7 Vgl. P. Menzer, Eine Vorlesung Kants ?ber Ethik, Berlin 1924, 6. 8 Ebd. 5; vgl. auch Kants entsprechende Einteilung der Imperative in der Grundle

    gung zur Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg. IV,414 ff.

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  • 532 PETER STEMMER

    den wir in der Frage: ,,Wie soll man leben?". Der unausgesprochene, weil selbstverstandliche Zweck, auf den dieses Sollen bezogen ist, ist das letzte Ziel allen Wollens, das, was jeder Mensch natiirlicherweise erstrebt: das Gliick. Weil dieser Zweck nicht beliebig, sondern allge

    mein ist, lautet die Antwort nicht: ,,Wenn du gliicklich sein willst,. ..", sondern ,,Weil du gliicklich sein willst, sollst du so und so leben." Kant nennt das pragmatische Sollen auch das der Klugheit. -

    Wahrend Platons Grundfrage ,,Wie soll man leben?" demnach eine Klugheitsfrage ist, ist Kants ethische Ausgangsfrage ,,Wie soll man handeln?" eine moralische Frage. Die Parallelitat der ,,soll"-Formulie rungen darf nicht iiber die begriffliche Differenz zwischen pragmati schem und moralischem Sollen hinwegtauschen. ,,Wie soll man leben?" bedeutet nicht: ,,Zu welchem Leben ist man moralisch verpflichtet?", sondern: ,,Welches Leben soll man wahlen, um gliicklich zu sein?".9

    Es ist evident, daf3 die kantische Konzeption der Ethik enger ist als die platonische. Kants Ethik ist Theorie moralischen Handelns, Pla tons Theorie des besten Lebens. Kant verwirft alle Versuche, eine

    Theorie des moralischen Handelns in einer Theorie des guten Lebens zu fundieren. Denn ein inhaltlich bestimmter Begriff des Gliicks lal3t sich seiner Meinung nach nicht begriinden, weshalb es auch unmoglich ist, objektiv zu begriinden, welches Handeln fur den einzelnen gliicks fordernd ist. Die kantische Moralphilosophie untersucht, an Hand

    welchen Prinzips entschieden werden kann, welche Handlungen wir tun sollen und welche nicht. Und sie versucht, die spezifische Ver pflichtung des moralischen Sollens begrifflich aufzuhellen und von der unbedingten Giiltigkeit der kategorischen Imperative, unabhangig von allen vorausgesetzten Zielen, auch dem, gliicklich zu sein, zu iuberzeu gen. Da Kant die Frage, ob, moralisch zu sein, Teil des besten Lebens ist, nicht stellt, ist innerhalb seiner Konzeption auch fuir die prinzipiel le, das moralische Handeln insgesamt umgreifende Frage, ob es fur den einzelnen uiberhaupt gute Griinde gibt, moralisch zu handeln, kein Platz. Kant erklart das moralische Sollen als ein Sollen, das sich aus der Struktur der Vernunft selbst deduzieren laiit. Es ist ein besonderes,von dem hypothetischen ,,soll" zweckbezogener Klugheitsnormen unter schiedenes Vernunft-Soll. Die Frage ,,Warum soll ich iiberhaupt mora lisch handeln?" ist damit genauso unsinnig wie die Frage ,,Warum soll ich iiberhaupt vernunftig sein?". Halt man den von Kant unterlegten

    Vernunftbegriff fulr unausweisbar und versteht ,,Vernunft" in seiner gewohnlichen Bedeutung, ist die Frage, ob es fuir den einzelnen iiber haupt verniinftig ist, moralisch zu handeln, hingegen eine sinnvolle

    9 Vgl. hierzu Gorg. 507d; Rep. IV,427d; Phil. lld.

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  • DER GRUNDRISS DER PLATONISCHEN ETHIK 533

    Frage. Platons Beginn ist in diesem Punkte offener. Die Frage ,Wie soll man leben?" schlieBt eine Antwort, die eine amoralische Lebens

    weise empfiehlt, nicht aus. Die Frage, ob es iiberhaupt fur den einzel nen gute Griinde gibt, moralisch zu handeln, lifIt sich innerhalb des Untersuchungsraumes der platonischen Ethik diskutieren, im kanti schen System ist sie hingegen ohne Ort.

    Wie bei allen Handlungen ist es jedoch auch bei moralischen Hand lungen moglich, nach den Griinden, warum man so handeln soll, zu fragen. Wir konnen und miissen als Handelnde zwischen verschiede nen Handlungsmoglichkeiten wahlen, und es ist immer moglich, einer Selbst- oder Fremdempfehlung mit der Frage zu begegnen: ,,Warum soll ich so handeln?". Bei einer moralischen Handlung ware die nichstliegende Antwort: ,,Weil es moralisch ist, s.o zu handeln." Diese Antwort wird dem geniigen, dem es selbstverstandlich ist, daf man moralisch handelt. AnlafI seiner Frage war nur, dafI er nicht sah, dafB die ihm empfohlene Handlung moralisch geboten war. Die Antwort ,,weil es moralisch ist" wird jedoch dem nicht geniigen, dem die Pflicht zur Moralitat selbst fraglich geworden ist. Er wird fragen: ,Warum soll ich iiberhaupt moralisch handeln, warum ist, daf es moralisch ist, ein Grund, so zu handeln?". Beide Fragen haben ihren Ort in einem verniinftigen Dialog, beide Fragen verlangen auf verschiedenen Ebenen eine Begriindung fur eine Handlungsempfehlung.

    Wer die Frage ,,Warum moralisch handeln?" stellt, hat den Stand punkt der Moral zumindest hypothetisch verlassen. Deshalb miissen alle Antworten scheitern, die ihrerseits auf Moral rekurrieren. Die Mo tivationsfrage fragt nach einer nichtmoralischen Begriindung morali sthen Handelns. Hier liegt der Grund dafiir, dagI die Berechtigung die ser Frage in der modernen, von Kant gepragten Moralphilosophie zum Teil entschieden bestritten worden ist. Wer die Frage ,,Warum mora lisch handeln?" stellt oder theoretisch zulait, habe, so heift es, nicht verstanden, was moralisches Handeln seinem Wesen nach sei. Eine moralische Handlung werde um ihrer selbst willen getan. Wer mora lisch handelt, handele nicht um eines anderen Zweckes willen so, son dern weil es moralisch ist, so zu handeln. Diese Bestimmung der Moral macht eine spezifisch moralische Motivation zu einem ihrer Konstruk tionspunkte: Moralisches Handeln ist notwendig moralisch motiviertes

    Handeln. Ist moralisches Handeln in dieser Weise per definitionem durch eine moralische Motivation bestimmt, beraubt die Frage nach einer moralexternen Begriindung moralischen Handelns dieses bereits einer seiner definitiven Bestimmungen. Wer die Motivationsfrage zu laiit, so deshalb der Vorwurf, spricht nicht mehr von Moral, obwohl er das Wort noch im Munde fiihrt. F. H. Bradley nennt, Moral extern

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  • 534 PETER STEMMER

    begriinden zu wollen, eine ,,Prostitution der Moral"10, H. A. Prichard nennt die Motivationsfrage schlicht ,,illegitim".11

    Es zeigt sich also, daB eine Moralphilosophie, die darauf verzichtet, die Theorie des moralischen Handelns in einer Theorie des besten Le bens zu fundieren, in die Schwierigkeit gerat, die Frage nach der Moti vation moralischen Handelns nicht als legitime Frage akzeptieren zu konnen. Mit einer Illegitimitatserklarung wird aber ein bedeutender Teil unseres Handelns von der Frage ,,Warum soll ich das tun?" ausge nommen. Ein Teil unseres Handelns wird eingezaunt und von der Re chenschaftsforderung, dem sokratischen koyov XQ[tIakVELV, abgeschnit ten. Unserem Bemiihen, ein - wie Sokrates sagt12 - ,,gepriuftes Le ben", ein vom Logos gefiihrtes und verantwortetes Leben zu leben, werden auf diese Weise Grenzen gesetzt. Welche Griinde sollte es ge ben, solche Grenzsetzungen zu akzeptieren? Vielleicht mag mancher an therapeutische Beweggriinde denken: der Mensch, so wie er ist, kann nicht an alles die Warum-Frage stellen; er braucht, soll er nicht - iiberstrapaziert durch standige, vor allem selbstauferlegte Rechtferti gungszwange - seine Lebensfahigkeit und Gesundheit einbiiuen, Le bensraume, in denen er sich fraglos, selbstverstandlich, geleitet durch das, was iiblich ist, bewegen kann. So richtig dieser Gedanke ist, er hilft da nicht, wo die Frage nach der Verniinftigkeit moralischen Han delns bereits gestellt ist. Wenn jemand diese Frage hat, ist es allein ver niinftig, nach einer Antwort zu suchen. So berechtigt es ist, daran zu erinnern, daB Moralitat Frucht von Herkommen und Gewohnung ist, so unangemessen ist es, der Motivationsfrage ihren dialektischen Ort zu bestreiten und ihr eine Antwort zu verweigern. Der Hinweis auf die

    10 Why Should I Be Moral?, in: F. H. B., Ethical Studies, Oxford 1876, 21927, 58-84,63. Bradley geht so weit, die Frage ?Warum soll ich moralisch sein?" ?un

    moralisch" zu nennen (62). 11 Does Moral Philosophy Rest on a Mistake? (1912), in: H. A. P., Moral Obliga tion and Duty and Interest, Oxford 1968, 1-17; dt. in: G. Grewendorf/G. Meg gle (Hgg.), Sprache und Ethik, Frankfurt 1974, 61-82, 79.

    -

    Vgl. z. B. auch S. Toulmin, An Examination of the Place of Reason in Ethics, Cambridge 1950, 162 f.; J. Hospers, Why Be Moral? (1961), in: W. Sellars/J. Hospers (eds.), Read ings in Ethical Theory, New York 21970, 730-746, 746; M. G. Singer, Generali sation in Ethics, London 1963, 319-327, dt. Verallgemeinerung in der Ethik,

    Frankfurt 1975, 363-373. - In den f?nfziger Jahren hat bes. K. Nielsen begon

    nen, das Recht der Frage ?Warum soll ich moralisch sein?" ausdr?cklich zu ver

    teidigen. Siehe K. Nielsen: Is ,Why Should I Be Moral?' an Absurdity?, in: Au stralasian Journal of Philosophy 36 (1958) 25-32; Why Should I Be moral? (1963), in: W. Sellars/J. Hospers (eds.), op. cit. 747-768; On Being Moral, in:

    Philosophical Studies 16 (1965) 1-4. 12

    Apol. 38a.

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  • DER GRUNDRISS DER PLATONISCHEN ETHIK 535

    ,,einfache Evidenz der Pflicht"13 verfangt gerade da nicht, wo sich die se Evidenz nicht oder nicht mehr einstellt. Er orientiert sich an einer

    Normalitit, deren Fragilitat er verkennt. Hat das Normale, Gewohn te, Usuelle einmal seine Unschuld verloren, ist sie nicht mehr zuriick zugewinnen. Auch hier ist fur die, die probiert haben, das Paradies verloren.

    Eine Theorie des moralischen Handelns kann nur dann den in der Moderne verschirften Ausweisungsanspriichen geniigen, wenn sie Sinn und Zweck moralischen Handelns selbst zu begriinden vermag. Das ist, wie die Alten wuigten, nur innerhalb einer Theorie des besten Le bens m6glich. Die Moralphilosophie im engeren Sinne mug3 deshalb in eine Ethik, in eine Lehre davon, wie man leben soll, eingebettet wer den. Es mug3 Platz sein fur die Frage, ob Moralitit zu dem Leben gehort, das zu leben am besten ist.

    III. Die Frage ,,Ist es gut, meinem Gliick dienlich, moralisch zu han

    deln?" ist fur die antike Ethik insgesamt selbstverstindlich; fur die pla tonische Ethik ist sie zentral. Da, wo Platon seine Ethik am entschie densten und gruindlichsten ausarbeitet, in der Politeia, ist die Frage nach den Grunden fur moralisches Verhalten das ausdriickliche The ma. Nicht, was es heifgt, gerecht zu sein, sondern ob es Griinde gibt, gerecht zu sein, ist die eigentliche Themafrage der Politeia. Ihr gilt das erste Buch und der Dialogbogen vom zweiten bis zum neunten Buch. Platon geht es nicht um die Bestimmung der deskriptiven, die Applika tion regelnden Kriterien des Wertpradikats, sondern darum, die Hand lungsempfehlung, die mit seiner Verwendung verbunden ist, zu be griinden. Er geht mit dieser Fragestellung iiber die Praxis der friihen Dialoge hinaus; denn in ihnen wird mit den Fragen ,Was ist Beson nensein?", ,,Was ist Tapfersein?" etc. jeweils nach den deskriptiven Kriterien der entsprechenden Pradikate gefragt. Ihr empfehlender Ge halt steht hier nie zur Diskussion. Es ist nie eine Frage, ob es empfeh lenswert ist, besonnen oder tapfer zu sein. Dag es gut ist, so zu han deln, gilt als selbstverstandlich und er6rterungsunbedurftig. Anders in der Politeia: Glaukon formuliert zu Beginn des zweiten Buches sehr deutlich das Thema der folgenden Untersuchung. Es geht darum, so sagt er zu Sokrates, ,,uns tatsachlich davon zu uberzeugen, daf3 es auf jede Weise besser ist, gerecht zu sein als ungerecht."14

    13 So formuliert H.-G. Gadamer, Gibt es auf Erden ein Ma?? (Forts.), in: Philoso phische Rundschau 32 (1985) 1-26,9. 14 Rep. II,357a5-b2.

    -

    Vgl. auch Sokrates' Formulierung in 368c4-7: ... xi t?

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  • 536 PETER STEMMER

    DafB die Frage nach der Begrundung moralischen Handelns in dieser Art in das Zentrum der platonischen Philosophie riickt, griindet in der Herausforderung, die die Sophistik fur Platon bedeutete. Die Ideen der sophistischen Bewegung zwingen Platon zu seiner immer weiter ausgreifenden Ausarbeitung des sokratischen Denkens und treiben ihn in die alle herkommlichen Uberzeugungen prinzipiell in Frage stellen de Radikalitat, die wir bei Aristoteles so nicht finden. Die Sophisten oder besser: einige Sophisten haben in der zweiten Halfte des 5. Jahr hunderts mit sicherem Gespiir fur die Uberzeugungen, die sich in der Lebenspraxis der Menschen objektivierten, die traditionellen Lebens und Verhaltensvorstellungen kritisiert. Sie sahen, daf sich in der Praxis des gemeinsamen Lebens ein Wandel in den handlungsleitenden Orien tierungen zeigte und die iiberkommenen moralischen und politischen Ideen dem, was die Menschen tatsachlich taten, auBerlich geworden

    waren. Angesichts dieser Situation versuchen die Sophisten, das, was in der Polis praktisch gelebt wurde, auf den Begriff zu bringen, die tatsachlich handlungsleitenden Maximen in das Licht des Logos zu stellen, sie so bewuBt handhabbar und damit auch lehrbar zu machen. Sie verstehen sich, wie es Th. Buchheim gut formuliert hat, als die ,,Avantgarde normalen Lebens"15 und werfen den Philosophen vor, sie ,,blieben mit den Freuden und Leidenschaften der Menschen unbe

    kannt und verstunden ... uiberhaupt nichts von ihrer Denk- und Le bensweise. "16

    Diesem ,,Realismus" entspricht im Kontext handlungsbegriindender Uberlegungen der motivationstheoretische Grundsatz, daB jedermann nur Griinde hat, das zu tun, was letztlich gut fulr ihn ist, was letztlich zu seinem Wohl, zu seinem Gliick beitragt. In dem Begriff des dem eigenen Gluck Zutraglichen findet die Sophistik den kritischen MafB stab fur die Anerkennung oder Verwerfung uberkommener (und auch

    ?oxLV ?x?xeoov [oixaioownv xat ??ixiav] xat Jteoi xrj? coqpeXia? a?xo?v x?Xnft?? Jtox?Qca? e%Ei. In II,358b4 ff. und e2 findet sich auch die klassische xt EoxL-Formulierung. Die Antwort in 358e-359b zeigt, wie diese Frage verstanden

    wird: es geht darum, warum man gerecht handelt oder handeln soll. - Der

    Zusammenhang von ?Was ist X?"- und Motivationsfrage bedarf einer eigenen Untersuchung. Vgl. auch unten S. 557 f. 15 Th. Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, Hamburg 1986. -

    Nietzsche hat die Selbsteinsch?tzung der Sophisten bereits genau getroffen, wenn er

    sagt, sie seien ?nichts weiter als Realisten", von dem unbedingten Willen

    bestimmt, ?sich nichts vorzumachen und die Vernunft in der Realit?t zu sehen."

    Vgl. F. Nietzsche, S?mtliche Werke. Krit. Studienausg., hg. v. G. Colli/ M. Montinari, M?nchen 1980, XIII,331; VI,156.

    16 Gorg. 484d2-7; vgl. auch Gorg. 470c-d, 473e, 481b-c und Rep. I,343a-d.

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  • DER GRUNDRISS DER PLATONISCHEN ETHIK 537

    aller anderen) Handlungsempfehlungen.i7 Die Frage ist jeweils: ,Ist es mir zutraglich, wie empfohlen zu handeln?". Der der Medizin ent stammende Begriff des Zutraglichen, des atp6QOV, wird zu einem Schliisselbegriff. 1 8

    Die sophistische Bestimmung begriindeten Handelns so zu verste hen, daB mit ihr moralische Handlungen von vornherein als unbegruin det beurteilt werden, ware falsch. Der Grundsatz, daB man nur Grin de hat, das zu tun, was dem eigenen Wohl zutraglich ist, pladiert nicht fir oder gegen Moralitat; er ist hier neutral. Gesagt wird nur, dag,

    wenn moralisch zu handeln, als verniinftig erwiesen werden soll, zu zeigen ist, daB es fur den jeweils Handelnden gut ist. Die Frage nach der Moralitat wird in den Horizont einer Theorie des guten Lebens gestellt, es wird aber nicht fuir eine unmoralische Lebensweise votiert. Die Maxime, die Verniunftigkeit am Kriterium der Gliickszutraglich keit zu messen, griindet in der nicht nur von den Sophisten, sondern von den griechischen Philosophen insgesamt vertretenen Auffassung, daB es jedermanns letztes, alle anderen Ziele umfassendes Ziel ist, gliicklich zu sein. Aus diesem Grunde ist es verniinftig, Handlungen zu wahlen, die letzten Endes gliickszutraglich sind, und Handlungen zu unterlassen, die letzten Endes gliicksabtraglich sind. Die Zutrag lichkeit als Kriterium verniinftigen Handelns wiirde moralische Hand lungen nur dann von vornherein als unverniinftig ausschliefen, wenn es unmoglich wire, dag eine moralische Handlung nicht nur den Be troffenen, sondern auch dem Handelnden zutraglich ist. Der hand lungstheoretische Grundsatz der Sophisten sagt aber hierzu nichts; er lait sowohl Theorien zu, die eine solche Unmoglichkeit behaupten, als auch Theorien, die sie nicht behaupten. Protagoras etwa hat zu zeigen versucht, daB der Nachteil, seine eigene Freiheit einzuschranken und darauf zu verzichten, andere Menschen zu toten, unter der Vorausset zung, daB sich alle zu dieser Selbstbeschrankung bereitfiiiden, durch den Vorteil aufgewogen wird, vor der Totung durch andere geschiitzt

    17 Vgl. bes. Antiphon der Sophist, DK 87 (80) B 44A; Kallikles: Piaton, Gorg. 483b, 491e-492b; Thrasymachos: Piaton, Rep. I,343c-e; Thukydides V,84-116. Siehe auch Protagoras: Platon, Prot. 327b; Anonymus Iamblichi, DK 89 (82) bes. 6.7.

    18 cruuxp?oov wird seit den drei?iger Jahren des 5. Jahrhunderts h?ufig verwendet, nachdem es bei Herodot und in den fr?hen St?cken des Sophokles noch unge br?uchlich war. Vgl. F. Heinimann, Nomos und Physis, Basel 1945, ND Darm stadt 1980, 128, Anm. 10; auch L. Schmidt, Die Ethik der alten Griechen I, Ber lin 1882, 345-350; F. Solmsen, Antiphonstudien. Untersuchungen der attischen

    Gerichtsrede, Berlin 1931, 62 f.

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  • 538 PETER STEMMER

    zu sein.19 Der Totungsverzicht niitzt den Mitbiirgern und schadet in bestimmter Weise dem, der ihn iibt; aber in anderer Weise niitzt er ihm so sehr, dag es verniinftig ist, den Handlungsverzicht zu wahlen. Protagoras anerkennt also die Zutraglichkeit als Kriterium verniinfti gen Handelns und empfiehlt dennoch bestimmte moralische Handlun gen. Darin liegt kein Widerspruch.

    Der Vorteil, vor Totung geschiitzt zu sein, ist ein sehr handfester Vorteil. Niemand wird erst durch lange Reden zu der Einsicht ge bracht werden muissen, dai es fuir ihn gut ist, diesen Schutz zu haben. Aber nicht jede Art moralischen Handelns ist mit solch eindeutigen Vorteilen verkniipft. Korrespondieren anderen moralischen Handlun gen, solchen, die weniger rudimentar (und anspruchslos) sind als der Totungsverzicht, iiberhaupt Vorteile? Will man diese Frage angehen, ist es wichtig, zu sehen, dagI der Begriff des Zutraglichen ein blol3 for

    maler Begriff ist. Er legt nicht fest, welche Kriterien es erlauben, eine Handlung ,,zutraglich" zu nennen. Seine inhaltliche Bestimmung er halt er erst vom Begriff des Gliicks her, auf den er verweist. Davon, was jeweils unter Gliick verstanden wird, hingt es ab, was als zutrag lich beurteilt wird und was nicht. Fur den, dem das Wohlergehen an derer Menschen ein Konstituens seines eigenen Gliicks ist, wird es auch jenseits handfester Vorteile zutraglich sein, sich anderen Men schen gegeniiber moralisch zu verhalten. Das eigene Gliick in dieser

    Weise zu verstehen, ist nicht nur moglich, es ist der Normalfall: Wenn jemand auf die Frage ,,Wie geht es Ihnen?" antwortete: ,,Danke, es geht mir gut, aber meine Tochter liegt im Sterben.", wiirden wir das als sehr merkwiirdig empfinden. Wir wiirden erwarten, dal der Ge fragte sagt, es gehe ihm schlecht. D. h. wir konzipieren in der Regel das eigene Gliick bewuI3t oder unbewuBt so, dalI es das Wohlergehen anderer miteinschlieI3t. Natiirlich ist eine entscheidende Frage, wie

    weit wir den Kreis der anderen, die uns wichtig sind, ziehen, aber das ist hier nicht relevant. Unsere Uberlegung soll nur klarmachen, dagI die sophistische Definition der Verniinftigkeit von Handlungen keines

    wegs bedeutet, daI3 solche Handlungen, die nicht mit offensichtlichen und handfesten Vorteilen verbunden sind, von vornherein als unbe griindet beurteilt sind. - Was an dem Grundsatz der Sophisten als un moralisch, als egoistisch (im alltaglichen Sinn des Wortes) empfunden wird, ist, daI3 er dazu anleitet, die Frage ,,Warum soll ich das und das

    19 Vgl. hierzu Platon, Prot 320c-328d.

    - Nach fast ?bereinstimmendem Urteil der Forscher kann der Mythos, den Piaton hier vortr?gt, als protagoreisch gelten. Vgl. Guthrie, op. cit. 111,64, n.l.; C. C. W. Taylor, Plato. Protagoras (Oxford 1976) 78.

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  • DER GRUNDRISS DER PLATONISCHEN ETHIK 539

    tun?" mit Griinden zu beantworten, die Griinde fur den Fragenden sind. Eine Motivationsfrage ist indes nur dann in letzter Instanz erfolg reich zu beantworten, wenn sie den, der sie stellt, auf das fur ihn Gute, auf sein eigenes Gliick verweist. Das hat mit Egoismus nichts zu tun; was hier formuliert wird, ist der Gedanke, dag die Frage ,Warum soll ich das tun?" nur mit der Antwort ,weil es deinem Gliick dient!" eine

    Beantwortung findet, die nicht ihrerseits durch eine weitere Motiva tionsfrage hintergehbar ist. Denn wenn es jedermanns natiirliches Ver langen ist, gliicklich zu sein, ist die Frage ,,Warum soll ich das tun, was

    mich gliicklich macht?" ohne Ort.20 Motivationsfragen k6nnen letzt lich nur egozentrisch, nur reflexiv beantwortet werden.

    Die Frage der Sophisten hinsichtlich der traditionell verbindlichen Verhaltensweisen ist also, ob, ihnen gemaif zu handeln, dem so Han delnden zutraglich ist oder nicht. Entsprechend fragt Thrasymachos in der Politeia: ,,Wer ist gliicklicher und lebt das bessere Leben, der Gerech te oder der Ungerechte?" .21 Im Gorgias stellt Kallikles dieselbe Frage beziiglich der Sophrosyne. Die Frage nach dem Grund moralischen Han delns rekurriert wie selbstverstandlich auf den Begriff des besten Lebens. Kallikles geht es ausdriicklich, wenn er iiber Sinn und Unsinn von Selbst beherrschung und Gerechtigkeit spricht, um das richtige Leben.22 Und Sokrates bittet ihn und Thrasymachos, in ihren Uberlegungen nicht nachzulassen, damit klar werde, wie man leben soll (m(; PILWTSoV).23 - Geleitet von einer Idee des besten Lebens, die Freiheit von Hand lungsbeschrankungen, freies Ausleben aller Wiinsche und Liiste zu den entscheidenden, nicht relativierten Konstituentien des guten Lebens

    macht - das Ideal ist die Freiheit des Tyrannen -, kommen Kallikles und Thrasymachos zu Antworten, die den traditionellen Vorstellungen ins Gesicht schlagen. Kallikles lehnt Selbstbeherrschung und Besonnenheit als Formen der Selbsteingrenzung ab; Sophrosyne ist eine Verhaltens

    weise, die dem, der sie aus falscher Riicksicht auf andere iibt, von Nacht eil ist.24 Dasselbe behauptet Thrasymachos von der Gerechtigkeit: ,,Man

    20 Platon hat das deutlich formuliert. In Symp. 205alff. hei?t es: ... xai o?w?xi

    jTQOo?et ???aftai "Iva xi ?? ?oMexai e??aiuxov e?vai ? ?ouXou?voc; ?k\? x?ta>? ?oxe? ?xeiv r\ ?jioxQiai?.

    21 Vgl. Rep. I,344a3-6, bl-c2, 347e2-4, 352d2-4.

    22 Gorg. 491e8.

    23 Gorg. 492d5; Rep. I,352d6; vgl. auch I,344el-7. 24 Vgl. Gorg. 491e-492b.

    - Siehe zum Verfall der Hochsch?tzung der Sophrosyne gegen Ende des 5. Jahrhunderts: B. Witte, Die Wissenschaft vom Guten und B? sen. Interpretationen zu Piatons ,Charmides', Berlin 1970, 10-24; H. North,

    Sophrosyne: Self-Knowledge and Self-Restraint in Greek Literature, Ithaca, N. Y. 1966.

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  • 540 PETER STEMMER

    mug sich also dariiber klar werden, daB ein gerechter Mann einem unge rechten gegenuiber iiberall im Nachteil ist."25 Gerecht zu sein, ist fur die anderen, aber nicht fur den jeweils Handelnden gut; deshalb spricht Thrasymachos von einem LXXOtTQLOV Cyafv.26 Kiug ist foiglich, wer ungerecht handelt; er dient seinem eigenen Wohl.27 Wer hingegen ge recht handelt, ist ein rphfi, gutmiitig, anstandig, aber naiv, ein schlich tes Gemuit.28

    Platon sah in diesen Lehren der Sophisten nicht Verirrungen einzel ner AuBenseiter, sondern, wie die Sophistik selbst, die theoretische Explikation des gelebten common sense. Insofern ist eine Auseinan dersetzung mit den Sophisten nicht ein Scharmiitzel mit einigen intel lektuellen Besserwissern, sondern eine Reflexion auf die Wahrheit und Falschheit der das Leben in der Polis tragenden Uberzeugungen. Pla ton laBt Glaukon von dem sprechen, was Thrasymachos und ,,tausend andere" sagen.29 Und: ,,Ist doch jedermann (ndg 'vie) der Ansicht, daB fir den einzelnen die Ungerechtigkeit viel lohnender sei als die Gerechtigkeit, und damit hat er auch Recht, wie jeder bezeugen wird, der ulber die Frage redet."30 Kallikles wird als jemand prasentiert, der das sagt, was andere zwar denken, aber nicht aussprechen wollen.31 Immer wieder hebt Platon hervor, daB viele Leute zwar an dem Schein, gerecht zu sein, interessiert sind, aber nicht unbedingt auch daran, wirklich gerecht zu sein und gerecht zu handeln.32 Das zeigt, dal sie die Ansicht der Sophisten teilen, dalI es kliuger ist, ungerecht zu

    25 Rep. I,343dl-el.

    26 Rep. I,343c3.

    - Eine Thrasymachos* Positon ?hnliche, wenn auch charakteristi sche Differenzen zeigende Theorie des gerechten Handelns vertritt Antiphon (DK 87 B 44). Vgl. hierzu den vorz?glichen Aufsatz von D. J. Furley, Anti

    phone Case Against Justice, in: G. B. Kerferd (ed.), The Sophists and Their Legacy, Wiesbaden 1981, 81-91.

    27 Rep. I,348d3f., elf., 349a 1 ff.

    28 Rep. I,349b5; vgl. auch Gorg. 491e2.

    -

    eunfrnc;, urspr?nglich die anerkennende

    Bezeichnung f?r den charakterlich guten Menschen, verliert im 5. Jahrhundert seine laudative Funktion und wird zum Hohnwort f?r den, der es aus schlichter

    Gutm?tigkeit vers?umt, seine eigenen Interessen und W?nsche zur Geltung zu

    bringen, und f?r den Einf?ltigen allgemein. Vgl. Rep. I,336cl, 343c6, d2, III,400el, 409a8; Thukydides 111,83,1:

    . . . xai x? drrjfte?, ov t? yevva?ov JtXe? OTov u?T8XSi, xaxayEkaoftEv f|qpav?cr?h] . .. Siehe auch J. H. H. Schmidt, Syn onymik der griechischen Sprache III, Leipzig 1879, ND Amsterdam 1969, 648 ff.; C. Gaudin, EYH0EIA. La th?orie platonicienne de l'innocence, in: Re vue philosophique 106 (1981) 145-168. 29 Rep. II,358c8.

    30 Rep. II,360c-d; vgl. auch IV,493a; Gorg. 472a, 511b. 31 Gorg. 492d; vgl. auch 481d-e.

    32 Vgl. Rep. VI,505d; auch II,358a4ff., c2-6.

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  • DER GRUNDRISS DER PLATONISCHEN ETHIK 541

    handeln, zumindest dann, wenn es gelingt, den Schein der Gerechtig keit zu wahren.

    Angesichts dieser Herausforderung durch die Theorie der Sophisten und die Praxis der Polis kann Platon nicht einfach an die Evidenz der uiberlieferten Verhaltensweisen appellieren. Das wire ein aussichtsloses Unternehmen. Denn diese Evidenz gibt es so nicht mehr. Es bedarf vielmehr einer Antwort auf die Frage ,Warum moralisch handeln?". Es mufl gezeigt werden, daf3 es fuir den einzelnen gut ist, moralisch zu handeln, und zwar, obwohl, so zu handeln, mit einem bestimmten eigenen Nachteil verbunden ist. Das ist die Aufgabe, vor die Platon sich gestellt sieht und die er in der Politeia angeht. Dabei teilt er die Fragestellung mit den Sophisten: Welches Leben ist eher zu wahlen, das gerechte oder das ungerechte?33 Der Begriff, im Blick auf den letztlich nur eine Antwort gegeben werden kann, ist der des Wohls, des Gliicks des einzelnen. Platon akzeptiert den motivationstheoreti schen Grundsatz der Sophisten: Man hat nur Griinde, das zu tun, was letztlich fur einen selbst gut ist.34 Er begegnet den Sophisten auf glei chem Boden.

    33 Vgl. z. B. Rep. I,344e-345a, 347e, 352d, III,392a-c, IV,420b-c, 427d, V,472c-d, VIII,545a-b.

    34 Vgl. z. B. die Argumentation in Men. 77b6-78b2.

    - Da? Platon den motivationstheoretischen Grundsatz der Sophisten teilt, hat schon H. A. Pri chard sehr deutlich herausgestellt; vgl. Duty and Interest (1928), in: H. A. P.,

    Moral Obligation and Duty and Interest, Oxford 1969, 201-238, 208 f., 221. -

    Vgl. auch A. W. H. Adkins, Merit and Responsibility, Oxford 1960, 249-253; T. Irwin, Plato's Moral Theory, Oxford 1977, 250-259.

    - Der Frage, ob und

    gegebenenfalls wie das, was Piaton in der Passage Rep. VII,519d-521b sagt, mit diesem Grundsatz zu vereinbaren ist, kann ich hier nicht nachgehen. Piaton sagt an dieser Stelle, die R?ckkehr in die H?hle und die ?bernahme der politischen Leitung des Staates sei zwar f?r die philosophischen W?chter am Ende ihrer Aus

    bildung ein ?vayxaiov, etwas, was sie nicht wollen (sie wollen lieber weiter phi losophieren), aber doch im Interesse des Staates insgesamt. Deshalb m?sse den

    W?chtern die politische Funktion zugemutet werden. Hier sei -

    so wird ver

    schiedentlich argumentiert (bes. von White) - das Wohl des Staates ?ber das des

    einzelnen gestellt, und das sei mit dem dargelegten motivationstheoretischen Grundsatz nicht zu vereinbaren. Ich halte diese Argumentation nicht f?r richtig. Piaton beabsichtigte, den Staat so zu konzipieren, da? es zu diesem Konflikt zwischen Eigen- und Allgemeininteresse nicht kommt. Vgl. Rep. IX,592a. Siehe im einzelnen zu dieser Frage: Adkins, op. cit. 290-292; R. Kraut, Egoism, Love, and Political Office in Plato, in: The Philosophical Review 82 (1973) 330-344; J. Cooper, The Psychology of Justice in Plato, in: American Philosophical Quar terly 14 (1977) 151-157; Irwin, op. cit. 242 f., 337 f. n. 61; N. White, A Compa nion to Plato's Republic, Oxford 1979, 191-196; T. Irwin, Rez.: N. White: A

    Companion to Plato's Republic, in: The Philosophical Review 89 (1980) 640-647; N. White, The Rulers' Choice, in: Archiv f?r Geschichte der Philoso phie 68 (1986) 22-46.

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  • 542 PETER STEMMER

    IV. Was genau wird untersucht, wenn gefragt wird, ob die Gerechtigkeit

    ein aycfov ist? Was genau ist mit dem Pradikat ,,gut sein" gemeint? Ein Blick auf die Verwendungsweise von ayac6v bei Platon verspricht eine Prizisierung der bisherigen Uberlegungen und weitere Einsicht in die Anlage der platonischen Ethik. Er bietet auch die Chance, einige schwerwiegende Milverstindnisse fiber Platons Ethik auszuraumen.

    ayacdov wird in einem Satz wie: bm &xaLoLOv &yaf6v eotL sub stantivisch und pradikativ verwandt. Der sprachliche Prozef3 der Sub stantivierung ist zur Zeit Platons schon lange abgeschlossen; zu aya io6v konnen adjektivische35 und genetivische36 Attribute treten. Wich tig ist, dafl hier von der vergegenstandlichenden, nicht von der abstra hierenden Substantivierung die Rede ist. 'ayacov bezeichnet hier et was, dem die Eigenschaft, gut zu sein, zukommt, nicht - was sprach lich moglich ist37- die Eigenschaft selbst.38

    Seine These, die Gerechtigkeit und das Gerechte seien ein fremdes Gut (aXXO'tQlov aycfto6v) und ein eigener Schaden (oixFta I3X'P)39, erliutert Thrasymachos in Rep. I, 343c4-dl: Die Gerechtigkeit ist ein (VutpQov des Starkeren und Regierenden; die Regierten tun, wenn sie sich gerecht verhalten, etwas, was den Regierenden ein oVutEQov ist.40 Wyaui0v ist hier durch uVtpeov ersetzt. Statt: ,,Die Gerechtigkeit ist ein fremdes Gut." sagt Thrasymachos: ,,Sie ist etwas den anderen Zu

    35 Vgl. Charm. 172d3; Euthd. 294a4: u?ya ayaft?v; Gorg. 452a9, b3, el, 458a5 f.;

    Rep. V,392bl: [xel?ov ayaft?v; Hipp. Ma. 284d4; Gorg. 452a5, c4f., d3, d5f.; Rep. II,366e9, 367c5, V,457d7, 462a3: fx?yioxov ?yad?v.

    36 Vgl. Euthr. 13b8f.; Pol. 293b7. 37 Vgl. Phdo 76d8. 38 ?yad?v kann in der Abstraktbedeutung durch das eindeutige amo x? ayaft?v ersetzt werden. - Zu sagen, ?yad?v bezeichne etwas, was ?yafro? ist, ist proble

    matisch. Denn die Funktion des Adjektivs ist in fast allen Verwendungen von der des Substantivs auf spezifische Weise unterschieden. Mit ?yado? wird jeweils eine besondere F?higkeit oder ein besonderes K?nnen zugesprochen: Jemand ist dann ein guter x, wenn er ?ber die F?higkeiten und das K?nnen, das man von

    einem x vern?nftigerweise erwartet, in besonderer Weise, d. h. in h?herem Ma?e als der normale oder durchschnittliche x verf?gt. In Anlehnung an das griechi sche x?xvr): ?K?nnen", ?F?higkeit" kann man sagen, ?yafto? werde technisch verwandt. Die substantivisch-pr?dikative Verwendung bringt hingegen, wie sich

    zeigen wird, ein anderes als das technische Gutsein zur Sprache. 39 Rep. I,343c3 ff. Der eigentliche Gegenbegriff zu ?Xa?n ist cbcpeXia; aber die Ent gegensetzung von ?Xxx?r) oder ?Xa?eoov und ?yaOov ist nicht ungew?hnlich; vgl. Men. 88d5; Rep. II,379b3; zu vergleichen sind auch Rep. I,332a9 f. und

    I,332d5 ff. 40

    Vgl. auch die Paraphrase der These des Thrasymachos durch Adeimantos in Rep. II,367c2-5: . .. x? [l?v ?ixcuov ?M?xoiov ayafr?v, avuxpeoov xo? xoeixxovoc, x? ?? a?ixov am(b u?v auuxp?oov xai Xvoixekovv, x ?? f]xxovi ?cnjuxpoQov.

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  • DER GRUNDRISS DER PLATONISCHEN ETHIK 543

    tragliches." Die Substitution von ayaEo6v durch ut(cpFQov findet sich ofter. In Rep. I, 347c6 ff. sagt Sokrates, die Besten gingen nicht ans Regieren wie an etwas Gutes (aZyu{ov TL), auch nicht, um sich dabei wohl sein zu lassen, sondern wie an etwas Notwendiges. Wenige Zei len spater (d4 ff.) heift es dann, der wahre Regent sehe von Natur aus nicht auf das ihm Zutragliche (to afrTO lt?pEQOV), sondern auf das dem Regierenden Zutragliche (TO TO &Qxo[tv)CO1 - Die Gebrauchs weise von ui(pVQov ist durch zwei Relationen bestimmt, eine Person und eine Zweckrelation. Wenn etwas ein o pvEQov ist, kann man im mer fragen, wem und wozu es zutraglich ist. In Rep. I, 338c8 sagt Sokrates in einer Hypothese: ,Das Rindfleisch ist dem Faustkamper zutraglich fur seinen Korper (CvUT4 Ot4(TpEQFL ta PFiACC XQF?a rQog TO

    o&)tct)." In Legg. IX, 875a3 heigt es, die Menschen seien von Natur aus nicht in der Lage, zu erkennen, was ihnen fur das politische Leben zutriglich sei (ta ovcPwQovta a rQzoiT Ei; roXLTELav).

    Man konnte die Formulierung, dag die Besten das Regieren nicht als aycd*6v betrachten, weil sie nicht auf das ihnen, sondern auf das den Regierten Zutrigliche aus sind, kritisieren und sagen: Wenn das Regie ren etwas den Regierten Zutrigliches ist, dann ist es doch auch ein Zyaifo6v, ein yyaftv fur die Regierten eben. Doch der Einwurf macht

    nur auf das aufmerksam, was er selbst nicht sieht, nimlich daf3 Platon ayauMv, wenn er es ohne ausdriicklichen Bezug verwendet, reflexiv gebraucht. Dag3 die Besten das Regieren nicht fur etwas Gutes halten, heig3t, dag sie es nicht fur etwas fur sie Gutes halten. Die U[tcP8Qov Formulierung macht diese implizite Reflexivitit explizit. Dieser Be fund findet Bestatigung, wenn Sokrates in Gorg. 468b4 ff. seine gerade vorgetragene Lehre, dagl wir alles, was wir tun, um des Guten willen tun, mit der Uberlegung erlautert, dag wir sogar, wenn wir jemanden umbringen, dies in der Meinung tun, es zu tun, sei besser fur uns (CCtELvov i4t[v) als es nicht zu tun.

    In Rep. I, 332a9 f. zitiert Polemarchos Simonides mit dem Wort, daf Freunde ihren Freunden etwas Gutes (ayaftov TL), aber nichts Schlechtes (xxo6v) tun sollen. Kurz darauf wird die Gerechtigkeit als die TExXvi bestimmt, die den Freunden niitzt und den Feinden schadet (dxpeXiaC;g TE xcL IX6aBa; amo&boivau).42 In 332e3 f. ist die Formulie rung dann cpRkou; cEAXev und 'E%XQoi Ik3X6txJTv, so auch 334b5 f. und b7 f.. Die den Gebrauch von &yc&o6v variierende Formulierung ist

    41 Vgl. auch den Wechsel von x? ouu\cp?oov und xo xivi ?eXxioxov in Rep. I,339d2f., 7 und 341al f., 4. In I,339e3 wird ?oi>|X(poQa (el) durch xax? ersetzt.

    42 Rep. I,332d5 f.

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  • 544 PETER STEMMER

    hier nicht o1iIVic1oV, sondern ein Ausdruck mit bcpcXev oder dxpE X(a; die genaue sprachliche Entsprechung ware C(pFXkL[OV.43 Wird et was ,,niitzlich" genannt, kann man fragen: ,,nitzlich fur wen?" wie auch niitzlich wozu?". Eine Formulierung, die die zweite, die Wozu Relation illustriert, findet sich in Rep. I, 346d6, wo Sokrates sagt, die Heilkunst bewirke Gesundheit, und generalisierend hinzufiigt, jede tF,Xvr bewirke das ihr eigene Werk und sei fur das von Nutzen, worauf es hingeordnet sei (F,p' j nT?TxaTL). Die Medizin ist also - so darf man schlieBen - dem Menschen fur seine Gesundheit von Nutzen. In

    Men. 98cl f. heift es, wahre Meinung sei fur die Handlungen nicht weniger von Nutzen als Wissen (Oi& iqFTTOV bCO(PEkLXt EQiTaL EL Tag

    TQce L;). In Rep. VIII, 559b6 sagt Sokrates, das Verlangen nach Fleisch sei nur insofern notwendig, als es einen Nutzen fur das Wohl ergehen habe (TLvQ bCTPcXLiv TQO\ EvJLuv JaT9QFTuuL).44

    Ein weiteres gelegentliches Aquivalent von cyc 6v ist xQ9 Iov.45 xQoiLiOV bedeutet ,,etwas Brauchbares, Niitzliches". Die Formulie rung ,,Die Gerechtigkeit ist, ein xQ'GLiov." erscheint mehrfach.46

    Auch XQnoi ov ist zweifach, person- und zweck-relational.47 Beide Relationen sind in folgendem Satz ausgefuhrt: ,,Dafur, die Ungerech tigkeit zu verteidigen, ist uns die Rhetorik in keiner Weise brauchbar" (E'T\L [tE\V 'Q9 TO &7OkO ?ld(JaL... OV XQGl[OO OVUEV Tq QfTOQLXT1

    [tv . . .). 48

    Nimmt man diese sprachlichen Beobachtungen zusammen, so ist deutlich, daB ayaco6v durch Worter ersetzt werden kann, deren ge

    43 Vgl. zum Zusammenhang von ?yaft?v und (bcp?Xiuov z. B. Prot. 333d-334b; Gorg. 477a; Men. 88c-d.

    44 In Phdr. 260b6-cl hei?t es, einen Esel zu besitzen, habe diesen und jenen Vorteil und sei auch dar?berhinaus zu vielem anderen von Nutzen (?Xka noXk? uxp?Xi u.ov).

    - Die adverbiale Formulierung dxpeXiuxoc Jtoo? xi findet sich in Rep. VII,529c6, das verbale (bcpeXio) Jtoo? xi und (bcpeX?co e?? xl in Theag. 127d5 und Legg. 819c3f.; vgl. auch die Formulierung ?qpe^oc xivl ei? xi in Rep. VIII,552b7; Person-Relation bei ?)(p?X,iu.ov: Lach. 181el; Charm. 164a9-bl, 171d2; Prot. 338d9f., el f., 334al; Rep. I,346el.

    45 Vgl. z. B. Gorg. 474d7-9, 475a4f., wo Sokrates dem Brauchbaren (xQf|Oiux>v) und der Lust (f)?ovfj) das Schlechte (xax?v) und den Schmerz (kvnr\) entgegen stellt. Der Schmerz ist hier das Korrelat der Lust, das Schlechte das des Brauch baren. 475a3 spricht Sokrates dann statt vom Brauchbaren und der Lust vom

    Guten und der Lust; %QX\oi[iov wird hier durch ?yaftov ersetzt. 46

    Rep. I,332el3, 333al, e2; vgl. auch 333cll, d3f. 47 Person-Relation z.B.: Rep. I,333d3 f., dll; Zweck-Relation, jtqo? c. acc: Hipp. Ma. 295c6; Rep. I,333al0f., e2, VIII,559c4; Crat. 427bl; Legg. 648a6f.,

    722d5f.; ei? c. acc: Prot. 326b4; Rep. I,333b3 f.; einfacher Infinitiv: Phdr. 260b9.

    48 Gorg. 480b7ff.

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  • DER GRUNDRISS DER PLATONISCHEN ETHIK 545

    meinsame Kernbedeutung ,,niitzlich" ist. ov[tcpFov, COpXuFov, X9Q]OLLOV teilen diese Bedeutung.49 Ein &ywOv ist demnach etwas, dem ein, wie man sagen kann50, ,,utilitarisches" Gutsein zugesprochen wird. Wie etwas, was nuitzlich ist, fur jemanden und zu etwas niitzlich ist, so ist, was utilitarisch gut ist, fur jemanden und zu etwas gut. Bei de Relationen sind fur das utilitarische Gutsein definitiv: Jedes kycdJov steht in einem personalen Bezug und in einem teleologischen Zusam

    menhang. Um die Logik des utilitarischen ,,gut" nicht zu verdunkeln, sollte man die Person- und die Telos-Relation sorgfaltig auseinander halten. DagI Person und Telos eng miteinander verkniipft sein k6nnen, das Telos z. B. ein bestimmter Zustand der Person sein kann, ist kein Grund, die beiden Relationen zu einer zu vermengen.

    Das utilitarische Gutsein ist moralisch neutral. Von etwas zu sagen, es sei fur jemanden zu einem bestimmten Zweck gut, bedeutet nicht, ein moralisches Urteil zu fallen. Wenn Sokrates mit Thrasymachos und den Platonbriidern dariiber streitet, ob die Gerechtigkeit oder die Un gerechtigkeit ein MycOdv ist, dann streiten sie also nicht dariiber, wel che der beiden Handlungsdispositionen moralisch gut ist, sondern dar iiber, welche utilitarisch gut ist. Die Frage ist nicht, ob gerecht oder ungerecht zu sein, moralisch gut ist, sondern ob etwas, was moralisch gut ist, das Gerechtsein, oder etwas, was moralisch schlecht ist, das Ungerechtsein, utilitarisch gut ist. Die Moralitat der Gerechtigkeit und die Amoralitat der Ungerechtigkeit ist zwischen Sokrates und Thrasy machos gar nicht strittig. Hier sind sie sich einig. Nur ist das ftir sie beide nicht der letzte und ausschlaggebende Punkt bei der Frage, ob etwas zu wahlen ist oder nicht. Denn beide wissen, dag es, selbst wenn eine Handlung als moralisch gut qualifiziert ist, moglich bleibt, daB jemand sagt: ,,Gut, ich sehe ein, dal so zu handeln, moralisch gut

    ware. Aber warum soll, dalI etwas moralisch gut ist, fuir mich ein Grund sein, entsprechend zu handeln?" Und diese Frage ist nicht nur m6glich, sie ist durch die Sophisten tatsachlich gestellt. Sokrates und

    49 Das hei?t nicht, da? cnjuxp?oov, (bcp?Xiuov, xof|Oifiov vollkommen gleichbedeu tend sind. Jedes dieser W?rter hat seine spezifischen Konnotationen, jedes hat

    Gebrauchskontexte, in denen es durch die anderen nicht oder nur mit sprachli cher H?rte ersetzt werden kann. Vgl. zu Einzelheiten J. H. H. Schmidt, op. cit. IV, ? 166, S. 162-172; vgl. auch unten S. 547 f.

    -

    Neben ouuxp?oov, cbcp?Xiuov, XQT|Oiux)v sind auch die Ausdr?cke Xu?ixeXo?v und xeo?aX?ov zu beachten.

    Auch sie haben bei spezifischen Nuancen die Kernbedeutung ?n?tzlich". Vgl. zu Xvoixekovv z. B. Rep. I,367c2-5, 347e-348b, auch 360c8 ff.; zu xeo?a^?ov

    Rep. I,336d2, 345a3.7. Siehe auch Crat. 419a5 ff. 50

    Vgl. G. H. v. Wright, The Varieties of Goodness, London/New York 1963, 41.

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  • 546 PETER STEMMER

    Thrasymachos wissen, dag sie unabweisbar ist, und die Idee, einen wichtigen Bereich menschlicher Handlungen vor Rechtfertigungsfra gen zu schiitzen, ware ihnen als abwegig, als mit der Idee eines aufge klarten Lebens, eines FmiorTj[tOVwOg 1iv51 unvereinbar erschienen. Ih nen ist ebenso klar, daB die Motivationsfrage nur im Rekurs auf den Nutzen dessen, der moralisch handelt oder handeln soll, mit Aussicht auf Erfolg zu beantworten ist. Deshalb stellen Sokrates und Thrasyma chos in ihrer Untersuchung das, was moralisch gut ist, in den Horn zont des utilitarischen Gutseins. Jhre Frage ist folgerichtig: Ist das mo ralisch Gute auch utilitarisch gut? - Ein Grieche brauchte sich, um das zu formulieren, nicht mit den differenzierenden Adverbien zu behel fen. Seine Frage lautete: Ist das xakov ein a'yaov? t6o xcX6v steht im

    Griechischen u. a. fur das, was wir ,,das moralisch Gute" nennen. Ge lingt es nicht, die Begriffe xaco6v und atyafo6v auseinanderzuhalten, kann man die Grundstellung der platonischen und der griechischen Ethik insgesamt nicht verstehen. Vorschnelles Identifizieren beider Be griffe, wie man es v. a. in alteren Arbeiten haufig findet, macht es unm6glich, Platons Themafrage iiberhaupt angemessen zu formulie ren. Genauso verkennt man den begrifflichen Rahmen der platoni schen Ethik, wenn man die Begriffe des moralisch und utilitarisch Gu ten zwar unterscheidet, aber meint, aycf&0v bezeichne in einer un durchschauten Doppeldeutigkeit beides.

    Beschiftigen mug uns die Auffalligkeit, daB die Frage, ob die Ge rechtigkeit ein &yct*ov ist, in dieser Form, in der sie in Rep. I aufge

    worfen wird und den Fortgang der Diskussion bestimmt, nur eine hal be Frage ist. Sie laBt die fur das utilitarische ,,gut" charakteristischen Relationen unbestimmt, indem sie einfach von einem a'yc?o6v, aber nicht von einem &yacto6v fur die und die Person und zu dem und dem Zweck spricht. Das Problem der fehlenden Person-Relation lost sich leicht durch die Einsicht in die Reflexivitat des aycttv. Die Frage, ob die Gerechtigkeit ein &dydt6v ist, fragt danach, ob die Gerechtigkeit fur den, der gerecht ist, ein &yacftv ist. Etwas schwieriger scheint das Problem der fehlenden Telos-Relation zu sein, vor allem deshalb, weil sich anscheinend nur eine einzige &yaftfov nTOQ6; TL- und uberhaupt kei ne &ayato'v 'Cs tu-Formulierung im platonischen Oeuvre findet.52 Das k6nnte zu dem Schlug verleiten, unsere bisherige Analyse sei falsch. Tatsachlich aber ist die Nichterwahnung des Zwecks, zu dem ein aya ftov gut ist, leicht zu erklaren. Wie bei der Person-Relation, auch

    wenn sie nicht ausdrucklich formuliert ist, klar ist, welche Person ge

    51 Vgl. zu dieser Formulierung Charm. 173dl, e7.7.9, 174bl2. 52 Vgl. Rep. V,462a3 f.

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  • DER GRUNDRISS DER PLATONISCHEN ETHIK 547

    meint ist, so ist auch bei der Telos-Relation, obwohl sie nicht aus driicklich formuliert wird, hinreichend klar, welcher Zweck gemeint ist. Seine explizite Nennung ist iiberfliissig, weil der Begriff des &aya 06v bereits eine bestimmte Telos-Relation impliziert. Die Frage, wel ches dieses implizite Telos ist, beantwortet Glaukon, wenn er seiner These, die Ungerechtigkeit niitze dem jeweils Handelnden viel mehr als die Gerechtigkeit, verdeutlichend hinzufiigt, daf3 das Leben des

    Ungerechten viel besser sei als das des Gerechten.53 Das wird mehr fach wiederholt: Die Gotter haben - so Glaukon - dem Ungerechten ein besseres Leben (IMov aElvov) gegeben als dem Gerechten.54 Auch Thrasymachos hatte schon vorgebracht, daB das Leben des Ungerech ten besser sei als das des Gerechten.55 Das bessere Leben ist das Telos, zu dem die Ungerechtigkeit gut ist, wenn sie ein 'aya6v ist. Das, was ein ayact6v zu einem ayftO6v macht, ist sein Gutsein fur ein besseres Leben. Die Ausdriicke ,,gutes, besseres, moglichst gutes Leben" sind Umschreibungen fur das, was mit einem Wort ,,Gliuck", cVb&Liov(C heift.56 Glaukon kann, statt zu fragen: ,,Hat der Ungerechte emn besse res Leben als der Gerechte?" auch fragen: ,,Wer von beiden ist glickli cher (EiVaLtovEoTEQog)?"57 Sokrates sagt: ,Ob die Gerechten aber auch besser leben als die Ungerechten und gliicklicher sind, ... mufg erst noch untersucht werden."58

    Die Relation zwischen einem ayca6v und der ?v8aL[ov(a mug nicht unvermittelt sein. Der Reichtum z. B. ist, richtig gebraucht, ein aycft6v fur vielerlei. Deshalb kann Sokrates Kephalos fragen: ,,Welches ist das grdflte ayu'&6v, zu dem dir dein Reichtum verholfen hat?"59 Nur haben alle &ycOh, zu denen der Reichtum gut ist, ihrerseits ein gemeinsames Telos, das Gluck. Auch der Reichtum ist, wenn auch vermittelt, letzten Endes fur das Gluck dessen gut, der iiber ihn verfugt.

    Man konnte nach diesen Uberlegungen das utilitarisch Gute auch ,,das eudaimonistisch Gute" nennen. Denn alles, was ein atyc&ov ist, ist letztlich fulr das Gluck dessen gut, der iiber dieses &yw6ov verfiigt.

    53 Rep. II,358c5. 54 Rep. II,362c6 ff.

    55 Rep. I,347e2 ff.

    56 Vgl. Rep. I,354al. 57 Rep. II,361d3.

    58 Rep. I,352d2 ff.

    -

    Vgl. zum Zusammenhang von ?yaftov und ev?a?uovia auch

    Symp. 204e5ff.; Rep. II,379bll-14. - Die Verwendung des adverbialen ei in

    dem Ausdruck ev ?fjv h?ngt mit der technischen Verwendung von ?ycifto? zu sammen: ein Messer, das gut schneidet, ist ein gutes Messer; ein Mensch, der gut lebt, ist ein guter Mensch. Vgl. z. B. Hipp. Mi. 373c9-dl. 59 Vgl. Rep. I,330d2f.

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  • 548 PETER STEMMER

    Diese eudaimonistische Ausrichtung gehort auch zur Bedeutung von (VutcpQov. Ein VtcpQov ist nicht zu irgendetwas niitzlich, es ist dem

    Wohl, dem Wohlergehen eines Menschen zutriglich.60 Das Telos des Zutraglichen ist ein bestimmter Zustand dessen, fur den das Zutragli che zutraglich ist, - ebenso wie das letzte Telos des Guten ein Zustand dessen ist, fur den das ayawov gut ist. Auch WCp)TXiFov hat, wenn auch weniger deutlich, eine eudaimonistische Konnotation; denn ein Cp(Oi)X [iov ist in Beziehung auf ein ayafov niitzlich und dient somit vermit telt auch dem Ziel, glicklich zu sein.61 Fur xoqi[ov gilt dies nicht. Ein xQ'itiov kann zu etwas Gutem, aber auch zu etwas Schlechtem brauchbar sein; das Telos bleibt hier unbestimmt. Nicht als solches, sondern nur sofern es richtig gebraucht wird, ist ein xcQotov nutz lich, ist es ein dCptXiiov.62

    Unsere Uberlegungen zeigen, daB die Idee, etwas sei frei von Quali fizierung, absolut, an sich gut, nicht in die platonische Philosophie ge hort. Sieht man von dem Einzelfall des hochsten Gutes, das zwar per son-, aber nicht telosrelational ist, ab, ist die zweifache Relationalitat fur ein 'ayaov definitiv. Andere Deutungen tragen spatere Begriffe in die platonischen Texte. Im Euthydem sagt Sokrates ausdriicklich, daf das, was gut ist, nicht an und fuir sich (acdtCt yE xacn' avtc) gut ist; nur in einem Kontext des Gebrauchens, in dem etwas fuir jemanden zu etwas gut ist, ist es sinnvoll, etwas ein &ayaftv zu nennen.63 Bei Xe nophon sagt Sokrates: ,,Ich kenne nichts Gutes (oYycuo6v), das zu nichts gut ist."64 Das zeigt, daf3 die beschriebene Verwendung von ayacdov keine platonische Besonderheit ist; Platon verwendet yafo6v in der iiblichen Weise. Nicht umsonst ist dieser Begriff selbstverstand liches, nicht problematisches Arbeitsinstrument der Dialogpartner in der Politeia und den anderen Dialogen.

    60 Vgl. zu den medizinischen Konnotationen von ouutp?oov Heinimann, op. cit.

    128 ff.; Furley, op. cit. 84. 61 Vgl. Hipp. Ma. 296e7: . . . x? ye axpeXiuxw x? jtoio?v ?yafr?v ?oxiv (so auch Hipp. Ma. 303ell). Wenige Zeilen weiter, in 297a3, ersetzt Sokrates x? jtoiouv durch x? cuxiov. Vgl. hierzu Def. 414e6: (bcpeXiuov x? ai'xiov xov ei Jiaoxeiv. In Rep. II,379bl3 hei?t es, x? ?yafr?v sei ein atxiov eimgayiac, bzw. in bl5 f. ein xc?v ?xovxoov a?xiov. Siehe auch Charm 174al0, d3f., e2; Gorg. 468c2-7, 499d2f.

    62 Vgl. Hipp. Ma. 296c5-dl; Men. 88a4 f.; auch J. H. H. Schmidt, op. cit. IV,171. - Diese Differenz schl?gt sich darin nieder, da? XQ^^ov h?ufig mit Telos

    Angabe verwendet wird (vgl. Anm. 47), w?hrend ayafr?v und (bqpeXiuov sich wohl jeweils nur ein einziges Mal (Rep. V,462a3f.; Phdr. 260cl) mit ausdr?ckli cher Telos-Nennung finden. 63 Euthd. 281d2-el, 280b-d; vgl. auch Men. 87e-88a. 64 Mem. 111,8, 3.

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  • DER GRUNDRISS DER PLATONISCHEN ETHIK 549

    Es ist nicht notig, ausfiihrlich auf den Einzelfall des hochsten Gutes einzugehen. Platon hat sorgfaltig auseinandergelegt, dali die Idee eines Guten, das zu etwas gut ist, die Idee eines letzten, nicht zweckrelatio nalen Guten bedingt.65 Das Gliick ist als letztes Telos zwar ei &yc f00v, es ist das ?IkYLOTOV a7yacv66 oder einfach 6 ayyaf6ov67, aber es ist nicht gut zu etwas, weil es ,,jenseits" des letzten Telos nichts mehr gibt, auf das hin es ein telosrelationales kyafo6v sein kdnnte.68 Diese Verwendung von 'ayacdov ist singulir (es gibt nur ein ?yIoaTov aya i00v). Sie andert nichts an den bisherigen Analysen. - Natiirlich be deutet, dal etwas gut ist, ohne auf ein Telos bezogen zu sein, nicht, dafl 'ayac'6v in dieser Verwendung moralisch gebraucht wird. Das Gliick ist nicht ein moralisches Gut; es ist das hochste Gut, im Blick auf das wir entscheiden, ob das moralisch Gute etwas ist, das wir ver niinftigerweise wollen sollen, weil es unserem Gliick forderlich ist.

    V. Meiner Analyse des kyafo6v scheint eine haufig besprochene Passage

    der Politeia, der Beginn des zweiten Buches entgegenzustehen. Glau kon unterscheidet hier drei Arten des atyu{o6v:

    (1) das a'ya{c0v, das um seiner selbst willen (ati'T6o wtoi5 FVsXa), nicht um seiner Folgen willen angestrebt wird. Als Beispiele nennt Glaukon die Freuden ('bovQQ), die um nichts anderes als der Freude willen, die man an ihnen hat, angestrebt werden. Ein konkretes Bei spiel ist das Fltenspiel.69

    (2) das 'ayacov, das um seiner selbst willen (awtO TE awvToiv xacQLv) wie auch um seiner Folgen willen angestrebt wird. Beispiele sind das Denken, das Sehen, das Gesundsein. Das Denken - so Glaukons Oberlegung - macht genauso Freude wie das Flotenspiel, aber es hat auch Folgen, die wir wollen.

    (3) das ayacdov, das nicht um seiner selbst willen (atka &tvT6V ?v?xa), aber um seiner Folgen willen angestrebt wird. Ein Beispiel ist eine arztliche Behandlung aus der Sicht des Patienten. Sie ist fur ihn etwas Miihevolles und Unangenehmes; er strebt sie deshalb nicht als solche an. Dennoch hat sie einen Nutzen, denn sie ist Bedingung fur

    65 Vgl. die exemplarische Argumentation in Lys. 217a-222b.

    66 Euthd. 279c4-8. 67

    Gorg. 494e-495b; Rep. VI,505bl.3.7; dazu G. Vlastos, Happiness and Virtue in Socrates' Moral Theory, in: Proceedings of the Cambridge Philological Society 210, N. S. 30 (1984) 181-213, 183, 203 n. 19.

    68 Symp. 205a2 f.; vgl. auch Euthd. 278e,

    69 Vgl. Gorg. 501 el-3.

    -

    Vgl. zur Kl?rung der Formulierung ai f)?ovai a?Xa?eic (357b5): Gorg 499c6-e5.

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  • 550 PETER STEMMER

    das, was der Patient wiinscht, das Gesundsein oder Gesundwerden.70 Diese Dreiteilung - so der naheliegende Einwand - zeigt deutlich,

    daB die Beschreibung des &cyco&0v als etwas, das fur jemanden zu etwas gut ist, selbst wenn man von dem Sonderfall des hochsten Gutes ab sieht, nicht angemessen ist. Denn mit dem &'ycrto6v erster Art ist von einem ayacdov die Rede, das nicht in einer Gebrauchs- oder Zweck Relation zu etwas anderem steht; vielmehr ist von etwas Gutem an sich die Rede, etwas Gutem, das als solches im Blick steht und angestrebt wird. cyocdo6v meint nicht nur das utilitarisch Gute, es gibt auch das in sich Gute ohne Telos-Relation. Flote zu spielen, ist z. B. etwas, was in sich gut ist, aber nicht zu etwas gut oder niitzlich ist. Es kann zwar auch einem Zweck dienen, etwa dem, Geld zu verdienen; aber so ist das Beispiel gerade nicht gemeint. Gedacht ist daran, daB jemand nur um des Spieles willen spielt.

    Dieser Einwand hat zunachst seine Plausibilitat; doch einer genaue ren Priufung halt er nicht stand. Er entspringt einem Milverstindnis des platonischen Gedankens, einem Mifverstindis freilich, das eine lange Tradition hat und von ererbten Moralvorstellungen getragen

    wird. Eine Reprasentantin dieser Tradition ist Julia Annas. Annas un terscheidet zwei grundlegende moralphilosophische Argumentations formen, die deontologische und die konsequentialistische.71 Der Zen tralbegriff des deontologischen Ethiktyps ist ,,Pflicht", der des konse quentialistischen ,,Nutzen". Platon habe - so Annas - kein Wort fur den Begriff der Pflicht gehabt, aber iiber den Begriff selbst, wie die Dreiteilung der &cCya*c' zeige, verfiigt. Hatte er eine deontologische Theorie vertreten, also sagen wollen, gerecht zu sein, sei unsere Pflicht, so hatte er iiber den begrifflichen Rahmen verfiigt, das zu for mulieren; er hatte namlich gesagt, die Gerechtigkeit sei ein ycyoThov, das um seiner selbst willen und nur um seiner selbst willen angestrebt wird. Statt vom &ycLf00v, das nur um seiner selbst willen angestrebt wird, spricht Annas auch von einem aus ,,moralischen Griinden" ange strebten kCyuoftv oder einem ,,moralischen Wert ,in sich"'.72 Uber all diese Begriffe soll Platon also, auch wenn er andere Worte gebraucht hat, verfugt haben. Der einzige Anhaltspunkt fur diese Deutung ist die Formulierung Tvto CfrUTOi Evrxcx in 357b6. Annas schneidet von dem

    ycyafov Xvto cwTo v evexT d'caiTa6[tFvov jede Telos-Relation ab: Ein ayacfov dieser Art wird nicht als etwas angestrebt, das zu etwas gut ist. Wire Annas' Lesart dieser Formulierung richtig, miiute ich meine

    70 Rep. II,357b4-d2.

    71 J. Annas, An Introduction to Plato's Republic, Oxford 1981, 60 ff.

    72 Ebd. 61, 62.

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  • DER GRUNDRISS DER PLATONISCHEN ETHIK 551

    Analyse des &yaw6v in der Tat korrigieren oder zumindest modifizie ren. Das atyacOhv acT&o aw-ToJ EVFxa aona4o6ivov ware nicht als Spe zies des utilitarisch Guten, sondern als eigene Art des Guten neben dem utilitarisch Guten zu verstehen.

    Auch W. Wieland preBt Glaukons Dreiteilung zu schnell in ein vor gegebenes Schema und verschenkt damit eine prazise Nachzeichnung des platonischen Gedankens.73 Wieland sieht in der Dreiteilung eine Unterscheidung einer einstelligen Verwendung von ,,gut" im Sinne von ,an und fur sich gut" (ayw06v der ersten Art) und einer mehrstelligen

    Verwendung im Sinne von ,gut in Beziehung auf anderes" (a'yafo6v der dritten Art). Und nur in dieser mehrstelligen Verwendung ist ,,gut" - so Wieland - mit niitzlich" aquivalent.

    Diese Interpretationen werden durch eine Formulierung des Adei mantos widerlegt. Adeimantos hatte Sokrates in langen Ausfiihrungen daran erinnert, dafB, wenn es um die Griinde, gerecht zu sein, geht, iiblicherweise immer nur von den Folgen der Gerechtigkeit die Rede sei.74 Der Hinweis auf die Folgen sei aber unzureichend75, weshalb Sokrates zeigen miisse, daB die Ungerechtigkeit durch sich selbst ein xax6v und die Gerechtigkeit durch sich selbst ein &yc#6v sei (avd'Ti L'

    vtiv '

    ?V xax6v, i? a 'yat6v ?oTLV).76 Durch die Formulierung anhT &' Cht?'av macht Adeimantos deutlich, daf er von Sokrates einen Beweis dafiir horen mochte, daB die Gerechtigkeit ein tyctfo6v der er sten Art ist. Das wtu'T &' 8C tUv nimmt eindeutig das friihere avo.T cdProiT vEvxa auf, dessen sich Adeimantos auch sofort wieder be dient.77 Der Wechsel von der FVEXa- zur bLU-Formulierung findet sich schon mehrfach in der ersten Entfaltung der Dreiteilung.78 Wenig spa ter wiederholt Adeimantos seine Aufforderung an Sokrates, diesmal

    mit den Worten: ,,... lobe also an der Gerechtigkeit, dag sie durch sich selbst (cCUTv ' C nTT'v) dem, der sie hat, nutzt und daB die Unge rechtigkeit schadet (TOv ?xovTu OViLVO9LV XacL a&&XLC IXJTEL).79 Diese Formulierung macht deutlich, daB auch das acyaf6v der ersten Art einen Nutzen hat, ein &yc&0v ist, das fur jemanden zu etwas gut ist.

    Was dieses aytftov vom &ycEo6v der dritten Art unterscheidet, ist

    73 W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, G?ttingen-1982, 166 f. 74 Vgl. Rep. II,366e. 75 Vgl. zu den Gr?nden f?r diese Aussage Abschnitt VI.

    76 Rep. II,367b4 f.

    -

    Vgl. auch Glaukons entsprechende Aufforderung an Sokrates in 358dl f. Hier ist die Formulierung amo xctfr' omx?. 77 Rep. II,367c6 ff.

    78 Vgl. Rep. II,357c3, 358al.6.

    79 Rep. II,367d2ff.

    -

    Vgl. zu dem Gegensatz ?vlv?](il und ?Xajtxu) auch Hipp. Mi. 373a4f.; Ale. I,120d4f.

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  • 552 PETER STEMMER

    nicht, dafB dieses fir etwas niitzlich und zutraglich ist, jenes aber nicht; der Unterschied liegt vielmehr darin, dafB das kyaf6v der ersten Art selbst zutraglich ist, wahrend das ayw1o6v der dritten Art selbst nicht zutraglich, sondern miihevoll und schmerzhaft (Em(nrovo;, 357c7) ist und nur dadurch, dafB es Bedingung von etwas Gutem ist, mittelbar gut und zutraglich ist. Hatte z. B. eine schmerzhafte arztliche Behand lung nicht die Genesung zur Folge, gabe es keinen Grund, sich ihr zu unterziehen. Die Behandlung ist als solche kein &yao6v, nichts, das zu wahlen wir Grund haben; sie ist nur mittelbar, via Folgen ein aya fov.80 Mit einer anderen Formulierung kann man sagen: Das 'yufE6v der ersten Art, z. B. das Fl6tenspiel, dient unmittelbar dem, was wir letztlich wollen, es ist gliicksunmittelbar. Das &yccfo6v der dritten Art, z. B. die arztliche Behandlung, dient nur mittelbar unserem letzten Ziel, es ist gliicksmittelbar.

    Etwas, was durch sich selbst gut ist, ist deshalb gliicksunmittelbar, weil es selbst Teil oder Konstituens des Gliicks ist, wahrend, was nicht durch sich selbst, sondern durch seine Folgen gut ist, nicht in einem konstitutiven, sondern in einem instrumentellen Verhaltnis zum Gluck steht. Ein &yacdov der dritten Art hat ein Telos, das von dem ayauo6v selbst getrennt ist, wahrend ein ayacov der ersten Art Realisierung seines Telos ist. Flote zu spielen, ist keine Handlung, die auf ein von dem Spiel getrenntes Telos zielt, es zielt vielmehr auf ein Telos, dessen Verwirklichung das Spiel selbst ist. Flote zu spielen, ist selbst Vollzug gelungenen, gliicklichen Lebens. Und sollte Gerechtigkeit ein ayav6v der ersten Art sein, dann ist es nicht etwas, das zu dem Ziel des guten Lebens in instrumentellem Verhaltnis steht; gerecht zu sein, ist dann selbst Realisierung des angestrebten Gliicks. Aristoteles hat diese Dif ferenzierung deutlicher expliziert als Platon. Er sagt ausdriicklich, dafB es kein Widerspruch ist, von ein und demselben zu sagen, es werde als solches (&L' aTO6) und es werde um des Gliickes willen (TPj EVMCL&o v(ct; xxiv) angestrebt.81 DafB hier kein Widerspruch vorliegt, griindet

    80 Etwas anders, mit, wie es scheint, unn?tig kompliziertem interpretatorischen Aufwand, aber im Ergebnis ?bereinstimmend interpretiert Ch. Kirwan, Glau con's Challenge, in: Phronesis 10 (1965) 162-173, 169 f. die fraglichen Passagen. Statt die verschiedenen Weisen, in denen die ayaM der ersten und der dritten

    Art von Nutzen sind, durch die Unterscheidung eines mittelbaren und unmittel baren Nutzens zu differenzieren, nimmt Kirwan zwei verschiedene Bedeutungen des Wortes ?Nutzen" bei Platon an. Piaton verwende, wenn er von den beiden

    ?yaM-Typen sagt, sie seien n?tzlich, ?n?tzlich" nicht in demselben Sinn. Kir wan

    spricht von einer ?Ambiguit?t", die Piaton nicht bemerkt oder zumindest nicht ausdr?cklich gemacht habe. 81 Nie. Eth. I,5.1097b2-5; vgl. auch VI,13.1144al-6.

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  • DER GRUNDRISS DER PLATONISCHEN ETHIK 553

    darin, daf das Gliick aus &tyawa der ersten Art besteht, dafB es nichts anderes ist als der Besitz oder Vollzug dieser ayacfti: ,,Denn Gliick konstituiert sich aus bestimmten ycyadat . es ist nicht irgendetwas getrennt von diesen: es ist diese."82

    Sowohl das Gutsein der ersten wie auch das der dritten Art sind also telos-relational konzipiert. Beide Weisen, gut zu sein, sind verschiede ne Varianten, gut zu etwas zu sein; in beiden Fallen handelt es sich um Varianten des utilitarischen Gutseins. Der Begriff eines nicht-relatio nalen Guten, eines aus ,moralischen Griinden" angestrebten Guten, eines ,,moralischen Wertes ,in sich"' findet sich in dieser dreifachen

    Differenzierung sowenig wie im sonstigen Oeuvre.83 Wenn es iiberhaupt Schwierigkeiten macht, die beschriebene iibli

    che Verwendung von &yxtf6v mit der Dreiteilung der aycWto zusam menzubringen, dann liegt das Problem nicht bei der ersten, sondern bei der dritten Art. Denn das &yai&6v dieser Art ist ja etwas, das, sieht man von seinen Folgen ab, nicht zutraglich ist. DafB es Platons intuiti vem Sprachgebrauch entgegenlief, es dennoch ein &yui6v zu nennen, zeigen verschiedene Formulierungen, in denen er ayafca der dritten

    Art abspricht, fxyawT zu sein. In Rep. II, 358c2-4 z. B. sagt Glaukon, dafB die Leute, die gerecht handeln, das nur widerwillig tun. Fur sie sei die Gerechtigkeit etwas Notwendiges (&vuyxctiov), ein notwendiges

    Mittel zu einem angestrebten Ziel, aber nicht ein a&yct6v. kycdEov ist hier deutlich auf die Bedeutung ,etwas, das unmittelbar gut ist" einge grenzt. Dies ist die Bedeutung, die offenbar am ehesten assoziiert wird, wenn von einem &ycxft6v gesprochen wird.84

    Die Frage, vor der Sokrates in seinem Gesprach mit Glaukon und Adeimantos steht, ist also, ob die Gerechtigkeit als solche niitzlich und zutraglich ist oder ob sie, wie die Menge meint, eine Last ist, die man,

    wenn es nicht anders geht, auf sich nimmt, um in den Genuf ihrer Folgen zu gelangen. DaBi auch die Frage, die die Gerechtigkeit als sol che in den Blick nimmt, nach ihrem Nutzen fragt, macht Sokrates

    82 Magna Moralia I,2.1184a26-29: f| y?o e??a?uovia ?oxiv ex xtvcov ?yafr v ouy xeiuivr| ... ou ya? ?oxiv ?Xko xi x^Q?-? totjxcov f) etj?a?uovia, ?XX? xa?xa.

    -

    Siehe zum Problem des ?yadov ?i' am? bei Aristoteles J. L. Ackrill, Aristotle on Eudaimonia, in: A. O. Rorty (ed.), Essays on Aristotle's Ethics, Berkeley 1980, 15-33; Vlastos, op. cit. 183 ff.

    83 Vgl. auch G. Vlastos, Justice and Happiness in the ,Republic4 (1969), in: G. V., Platonic Studies, Princeton 21981, 111-139, 112 n. 1.

    84 Vgl. auch Rep. I,347c5-d2. In Gorg. 467c-468c bezeichnet Sokrates das, was er

    in Rep. II ein ?yaftov der dritten Art nennt, noch nicht als ?yafr?v, vielmehr als etwas, was am Guten teilhat (^ex?xei xou ?yafto?, 467e7). Siehe auch Lys. 220a7-b7 und Th. C. Brickhouse/N. D. Smith, Socrates on Goods, Virtue, and

    Happiness, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 5 (1987) 1-27,8 ff.

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  • 554 PETER STEMMER

    noch einmal in einer Formulierung deutlich, mit der er seinen Auftrag beschreibt: Es sei nun zu erforschen, was Gerechtigkeit und Unge rechtigkeit seien und wie es sich in Wahrheit mit ihrem Nutzen verhal te (xac 7trL tig dWprX(Lug acuToiv ta&kXrp noTEQw EXEl).85

    Die durch Annas reprasentierte Auslegungstradition verkennt grundlegend die Eigenart der platonischen Ethik. Platon hat sowenig wie die griechische Ethik vor und nach ihm iiber den begrifflichen Rahmen einer deontologischen Ethik verfiigt. Sie lag auBerhalb des Horizonts der griechischen Welt. Und Platon nahm mit der Bestim mung der Gerechtigkeit als aycfto6v der zweiten Art nicht - wie Annas meint - eine Mittelposition zwischen deontologischer und konsequen tialistischer Ethik ein. Platon ist Konsequentialist. Mit der Dreiteilung der ayawh setzt er sich nicht von einer in ihr als Moglichkeit formu lierten Pflicht-Ethik ab, er tragt vielmehr in den Konsequentialismus eine weitreichende begriffliche Differenzierung hinein, die Differenzie rung zwischen dem, was fuir jemanden unmittelbar zu seinem Gliick gut ist, und dem, was fur jemanden mittelbar zu seinem Gliick gut ist.

    Platon fragt in der Politeia, ob wir, weil wir gliicklich sein wollen, gerecht sein sollen oder nicht. Das ,,soll" ist hier ein pragmatisches oder prudentielles ,,soll", nicht ein kategorisches oder moralisches. Es geht darum, ob Gerechtsein Teil des Lebens ist, das wir leben wollen. Die Frage ,,Soll man gerecht sein?" ist eine Teilfrage der ersten Frage der Philosophie, der Frage: ,,Wie soll man leben?".

    VI. Sokrates ist der Meinung, die Gerechtigkeit sei ein Gut der zweiten

    Art, also etwas, das sowohl unmittelbar als auch mittelbar gut ist.86 Dennoch will und soll er die Verniinftigkeit des Gerechtseins durch den Nachweis dartun, daB die Gerechtigkeit etwas unmittelbar Gutes ist.87 Es ist nicht sofort klar, warum eine aussichtsreiche Antwort auf die Frage ,,Warum gerecht sein?" nur auf diesem Wege moglich sein soll. Warum kann eine Begriindung des Gerechtseins nicht auch ulber den Nachweis gelingen, daB es ein kyacuv ist, das um seiner Folgen willen angestrebt wird?

    85 Rep. II,368c5 ff.

    -

    Vgl. auch die XvoixeXel-Formulierung in Rep. IV,444e7-445a4. Hier machen die mit ?dvxe und e?vjteo eingeleiteten Bedin gungss?tze deutlich, da? es darum geht, zu untersuchen, ob das Gerecht- oder das Ungerechtsein als solches, unabh?ngig von den Konsequenzen, n?tzlich ist oder nicht. Genauso: Rep. III,392c2 ff.

    86 Rep. II,358al-3.

    87 Rep. II,358dl f., 363al f.; vgl. II,367c5-d5.

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  • DER GRUNDRISS DER PLATONISCHEN ETHIK 555

    Um das zu verstehen, mug3 man sich die allgemein akzeptierte Meinung iiber die Gerechtigkeit und ihre Implikate genauer vor Augen fiihren. Die

    Menge hilt die Gerechtigkeit fur ein Gut der dritten Art, fur etwas Miihevolles, Belastendes, das aber niitzliche Folgen hat, die die Last des Gerechtseins iiberwiegen. Glaukon expliziert diese Auffassung, die er mit den Thesen des Thrasymachos verbindet88, ausfuhrlich. Von Natur aus - so sein Referat - ist das Unrecht Tun ein Gut, das Unrecht Leiden ein ibel. Da das ibel gr6oBer ist als das Gut, ist es verniinftig, auf das Gut zu verzichten, wenn es m6glich ist, dadurch das (bel zu vermeiden. Die

    Moglichkeit eines solchen Tausches hat niemand fur sich; aber man kann mit denen, mit denen man zu tun hat bzw. zu tun bekommen kann, die Vereinbarung treffen, daB jeder seinen Handlungsspielraum einschrankt und darauf verzichtet, Unrecht zu tun, und dafuir im Gegenzug die Zusage der anderen erhalt, von ihnen kein Unrecht zu erleiden. Jeder hat auf diese Weise den Vorteil, fur den Verzicht auf ein kleineres Gut den Schutz vor einem gr6oeren Ubel zu erhalten. Jeder einzelne hat von dieser Vereinbarung seinen Nutzen und insofern - so scheint es - allen Grund, an ihr teilzuhaben.

    Die kontraktualistische Begriindung des Gerechtseins ist nicht ohne Attraktivitat. Sie liegt in der relativen Anspruchslosigkeit des Begriin dungsansatzes: er appelliert nur an das Eigeninteresse des einzelnen und setzt bei den Beteiligten nicht bereits eine moralische Einstellung voraus. Aber die kontraktualistische Begriindung, das zeigt Glaukon, scheitert. Denn nicht jeder ist in gleicher Weise in der Gefahr, Unrecht zu erleiden. Und nicht jeder hat in der gleichen Weise Macht, Unrecht zu tun. Daraus ergeben sich verschiedene Interessen: Wer wenig

    Macht hat, Unrecht zu tun, aber haufig in Gefahr ist, Unrecht zu erlei den, wird mehr Interesse an einem Kontrakt haben als der, der grolie

    Macht hat, Unrecht zu tun, aber selten in Gefahr ist, Unrecht zu erlei den. Fur den, der so viel Macht hat, daf er sich vollstindig vor Un recht schiitzen, aber selbst unbehelligt Unrecht tun kann, gibt es voll ends keinen Grund, sich an einem Kontrakt der beschriebenen Art zu beteiligen. Er hatte nur Nachteile davon. Glaukon sagt es sehr deut lich: ,,Denn wer dazu die Macht hat und ein wirklicher Mann ist, der

    wird nie mit jemandem vereinbaren, kein Unrecht zu tun und kein Unrecht zu erleiden; es ware ja wahnsinnig ([ctLvco'&caL)."89

    An einer Vereinbarung teilzuhaben, die die eigenen Handlungsmog lichkeiten einschrankt, ist nur der zweitbeste Weg, der Weg fur die, die fur den besten Weg nicht uber die notige Macht verfugen. Gerecht

    88 Rep. II,358b7f., c7f.

    89 Rep. II,359bl-4.

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  • 556 PETER STEMMER

    zu sein, ist etwas fur die, die auf die Zuriickhaltung der anderen ange wiesen sind und sie sich dadurch erkaufen, daB sie selbst diese Zuriick haltung den anderen gegeniiber iiben. Gerechtigkeit gilt - so laBt es Thukydides die Athener im Melierdialog mit aller Kiihle sagen90 - bei Gleichheit der Krafte, sonst regiert die Macht. Die Gerechtigkeit ist, wenn sie als zweitbestes Mittel, moglichst unbeschadet durchs Leben zu kommen, angestrebt wird, ein tyaftov der dritten Art: ein caxov, ein Eui`OVOV, etwas, was Nachteile mit sich bringt. Deshalb wird sie nur widerwillig (" xovtFg) als etwas Notwendiges, nicht als etwas Gu tes angestrebt.91 Fur die, die an den Folgen des Gerechtseins nicht interessiert zu sein brauchen oder sie sich billiger verschaffen konnen, ist die Gerechtigkeit kein 0yc06v, vielmehr nur Last, Einschrankung, die auf sich zu nehmen, kein Grund besteht.

    In einem zweiten Schritt zeigt Glaukon, daB eine kontraktualistische Begriindung der Gerechtigkeit nicht nur am Phanomen der Macht scheitert, sondern auch an der M6glichkeit, im Verborgenen zu han deln. Man kann Unrecht tun, ohne entdeckt zu werden, und d. h. ohne die entstehenden, im Kontrakt festgelegten Sanktionen hinneh men zu miissen. Fur den, der den Kontrakt notgedrungen eingehen mul, ist es am niitzlichsten, zwar vorzugeben, die Leistung, die der Kontrakt verlangt, zu erbringen, sie aber tatsachlich, sooft es unent deckt moglich ist, nicht zu erbringen. Der Kontrakt motiviert also die, die ihre Vorteile klug kalkulieren, nicht zur Gerechtigkeit, sondern bloB zum Schein des Gerechtseins.92 Glaukon nimmt auch mit diesem

    Argument Tberlegungen der Sophistik auf. Antiphon hatte schon ge sagt, man habe den gr6flten Nutzen, wenn man vor Zeugen gerecht handele, allein und unbeobachtet hingegen Gerechtigkeit Gerechtigkeit sein lasse.93 Und Kritias (oder Euripides) hat den kritischen Gedanken formuliert, daB die Einsicht in das Fehlen eines Motivs, auch im Ver borgenen moralisch zu handeln, der Grund fur die Erfindung der Got ter und der Furcht vor ihnen gewesen sei.94

    90 Thukydides V,89: .. . ?juoxaLi?vou? jtq?? ei?oxa? ?xi ?ixaia u?v ?v x avftoameico Xoy curo xfj? ?crn? ?v?yxr]c xQivexai, ?vvax? ?? 01 JtQot3xovxe? jiQa??ou?i xai ol ?cr?eve?? ?uyx oo?oiv.

    91 Rep. II,358c2-4.

    -

    ?yadov wird hier, wie schon gesagt (vgl. oben S. 553), in enger, das ?yafr?v der dritten Art nicht umfassender Bedeutung gebraucht. 92

    Vgl. Rep. II,359b6-360d7. 93 DK 87 (80) B 44, A 1,14-23; siehe auch Demokrit, DK 68 (55) B 181; Xeno phon, Mem. IV,4,21; Euripides, Hippolytus 403-404. 94 DK 88 (81) B 25.

    - Das Drama ?Sisyphos", aus dem dieser Text stammt, ist in der ?berlieferung teils Kritias, teils Euripides zugeschrieben worden. Nachdem sich die Forscher jahrzehntelang in der Zuschreibung an Kritias fast ohne Aus nahme einig waren, hat j?ngst A. Dihle mit Entschiedenheit f?r die Autorschaft

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  • DER GRUNDRISS DER PLATONISCHEN ETHIK 557

    Die Einsicht in die Insuffizienz der kontraktualistischen Theorie zeigt, dal, gerecht zu sein, zwar Mittel zur Erlangung bestimmter an gestrebter Zustande - des Schutzes vor Unrecht, spater von Adeiman tos ins Gesprach gebracht: der Hochschatzung durch andere, der biir gerlichen Reputation, des Prestiges bei den Gottern95 - sein kann, aber nicht sein mug. Die Konsequenzen, die das Gerechtsein hat, k6nnen auch anders als dadurch, gerecht zu sein, erlangt werden. Gerecht zu sein, ist nur mogliches, aber nicht notwendiges Mittel zum Erreichen dieser Konsequenzen. Gerechtsein, und das bedeutet ja: durchgangiges Gerechthandeln, nicht Lavieren je nach Umstanden, kann also iiber seine Konsequenzen nicht als etwas erwiesen werden, das zu wollen,

    wir Grund haben. Zu begriinden sind auf diese Weise nur einzelne, sporadische gerechte Handlungen, die dem Schein des Gerechtseins ge legentlich die n6tige Undurchsichtigkeit verleihen. Ware die Gerechtigkeit blof ein atyafv dritter Art, wie es die Men

    ge meint, bliebe also die Frage ,,Warum gerecht sein?" ohne Antwort. Nur in der Bestimmung der Gerechtigkeit als etwas auch um seiner selbst willen Anstrebenswertes liegt iuberhaupt die Chance einer Be griindung. Glaukon spitzt diese Einsicht zu der, wie er selbst sagt96, extremen Vision zu, daf3 zu zeigen ist, daf Gerechtsein bei Ungerecht Scheinen anstrebenswerter ist als Ungerecht-Sein bei Gerecht-Schei nen.97 Diese Forderung, ganz und gar von den Folgen, die das Ge rechtsein hat, abzusehen, entspricht einer sorgfaltigen und durchdach ten Analyse der Motivationsproblematik. Wer sieht, daf3 die Frage nach den Griinden, die wir haben konnen, gerecht zu sein, die The mafrage der Politeia ist, wird die Folgerichtigkeit dieser Zuspitzung sehen. Eine aussichtsreiche Begriindung des Gerechtseins ist nur dann

    moglich, wenn die Gerechtigkeit als etwas bestimmt wird, was auch unmittelbar gut ist. Die fur den Gang der Politeia charakteristische Verkniipfung der Bestimmungsfrage ,,Was ist Gerechtsein?" mit der Begriindungsfrage ,,Warum gerecht sein?" wird hier verstandlich: Die erste Frage wird im Blick auf die Konsequenzen dieser oder jener Ant

    wort fur die Beantwortung der zweiten Frage untersucht.98 Ubersieht man den Zusammenhang dieser beiden Fragen, wird man

    des Euripides pl?diert. Vgl. Das Satyrspiel ?Sisyphos", in: Hermes 105 (1977) 28-42. Vgl. zu Interpretation und Kontext des Fragments K. D?ring, Antike Theorien ?ber die staatspolitische Notwendigkeit der G?tterfurcht, in: Antike und Abendland 24 (1978) 43-56.

    95 Vgl. Rep. II,362e4-365a3. 96 Rep. II,361el f.

    97 Rep. II,360el-361d3.

    98 Vgl. hierzu oben Anm. 14; siehe auch Wieland, op. cit. 167 ff.

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  • 558 PETER STEMMER

    der platonischen Vorgehensweise kaum gerecht werden konnen. Pla ton ist haufig vorgeworfen worden, seine Theorie der Gerechtigkeit sei nicht an Handlungen, sondern am Handelnden orientiert, sie sei - so Annas99 - nicht ,,act-centered", sondern ,,agent-centered". Das decke sich nicht mit unseren modernen Vorstellungen und stimme auch mit der klassischen griechischen Ethik nicht iuberein, die ebenfalls hand lungsorientiert gewesen sei. Ahnlich meint D. Sachs, die gewohnliche

    Konzeption der Gerechtigkeit verstehe sie als ,,non-performance of acts of certain kinds"'100 und diese Auffassung habe auch Platon zu Beginn der Politeia zu Grunde glegt, im Laufe der Untersuchung aber zugunsten der Ansicht, die Gerechtigkeit sei eine bestimmte Verfagt heit der Seele, aufgegeben. Deshalb nennt man Platons Begriff der Ge rechtigkeit ,,revisionar" und sieht eine Diskrepanz zwischen ,,platoni scher" und ,,gewohnlicher" (common) Gerechtigkeit.

    Es ist hier nicht wichtig, ob eine solche Diskrepanz tatsachlich be steht und wie das Verhaltnis der platonischen zur gew6hnlichen Auf fassung der Gerechtigkeit genau zu bestimmen ist. Wichtig ist, zu ver stehen, warum Platon die Gerechtigkeit so faBt, wie er es tut. Der

    Grund liegt vor allem darin, dag er seine Theorie der Gerechtigkeit im Kontext der Motivationgsfrage entwickelt. Und das schlieBt eine hand lungsorientierte Bestimmung der Gerechtigkeit aus. Denn gerechte

    Handlungen sind fur Platon nicht durchgangig ycait des zweiten Typs. Sie sind haufig nur &yaEcd des dritten Typs; man tut sie, aber nicht, weil man sie selbst will, sondern weil sie Folgen haben, die man will. Dag gerechte Handlungen als solche unangenehm und lastig sein konnen, leugnet Platon nicht. Sokrates sagt in Rep. IV, 444c8-d2, die gerechten Handlungen stiinden zur Gerechtigkeit in


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