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Zum Silbenbegriff in der Schrift-, Laut- und...

Date post: 28-Aug-2019
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Zum Silbenbegriff in der Schrift-, Laut- und Gebärdensprache - Versuch einer mediumübergreifenden Fundierung _____________________________________________________________________ Abstract The following paper examines modality independent and modality specific properties of the syllable in a comparative study of written language, oral language and sign language. It is argued that the main modality independent property is an alternation structure with specific syllable defining characteristics. The differences between the three different modalities are captured by examining the specific properties of the linguistic sub- stance: phonetic sound, gestural sign, written letter. The graphemic syllable is the main concern in the present paper, since it is a concept which has been most often called into doubt. Some linguists have argued that the graphemic syllable is an epiphenomenon of the sound syllable. Evidence from past research as well as evidence to be presented in the current paper suggest an alternative model of the interaction between the three modalities. Instead of deriving one modality specific system from another, an underlying more abstract, modality independent structure is posited. The sound system, the sign system, and the graphemic system are treated as interface phenoma which result from the interaction between the underlying modality independent system and the articulatory-auditive, the gestural-visual and the writing-visual system respectively. _____________________________________________________________________ 1. Einleitung Der Untersuchungsgegenstand dieses Aufsatzes 1 ist eine Strukturebene zwischen der Ebene der linear nicht weiter zerlegbaren Einheiten, den Segmenten, und der Ebene der lexikalischen Einheiten oder Wörter. Diese suprasegmentale Struktureinheit ist die Silbe. Der Silbenbegriff wurde für die Phonologie der Lautsprachen entwickelt und am eingehendsten erforscht. Er spielt aber auch in neueren Ansätzen zur Schrift- und Gebärdensprache eine zentrale Rolle. Die wichtigste Motivation für suprasegmentale Repräsentationen sind die Regeln der jeweiligen Sprachmodalitäten: Laut-, Schrift- oder Gebärdensprache. So bilden die Silbe und ihre Konstituenten die Domäne für die Anwendung phonologischer, graphematischer und gebärdensprachlicher Regeln bzw. Distributionsbeschränkungen. Das gilt sowohl für suprasegmentale Erscheinungen (z. B. Akzentzuweisung oder Worttrennung nach Silben) als auch für segmentbezogene Phänomene (z. B. die lautsprachliche Auslautverhärtung, die 1 Ich danke Ursula Bredel, Daniela Happ, Antonia Hohenberger, Moritz Neugebauer, drei anonymen Gutachtern der "Zeitschrift für Sprachwissenschaft" und besonders Helen Leuninger für wertvolle Hinweise und kritische Kommentare.
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Page 1: Zum Silbenbegriff in der Schrift-, Laut- und ...idsl1.phil-fak.uni-koeln.de/fileadmin/IDSLI/dozentenseiten/artikel_primus/Primus... · In diesem Modell sind die drei modalitätsspezifischen

Zum Silbenbegriff in der Schrift-, Laut- und Gebärdensprache -

Versuch einer mediumübergreifenden Fundierung

_____________________________________________________________________Abstract

The following paper examines modality independent and modality specific properties of the syllable in acomparative study of written language, oral language and sign language. It is argued that the main modalityindependent property is an alternation structure with specific syllable defining characteristics. The differencesbetween the three different modalities are captured by examining the specific properties of the linguistic sub-stance: phonetic sound, gestural sign, written letter. The graphemic syllable is the main concern in the presentpaper, since it is a concept which has been most often called into doubt. Some linguists have argued that thegraphemic syllable is an epiphenomenon of the sound syllable. Evidence from past research as well as evidenceto be presented in the current paper suggest an alternative model of the interaction between the three modalities.Instead of deriving one modality specific system from another, an underlying more abstract, modalityindependent structure is posited. The sound system, the sign system, and the graphemic system are treated asinterface phenoma which result from the interaction between the underlying modality independent system andthe articulatory-auditive, the gestural-visual and the writing-visual system respectively._____________________________________________________________________

1. Einleitung

Der Untersuchungsgegenstand dieses Aufsatzes1 ist eine Strukturebene zwischen der Ebene

der linear nicht weiter zerlegbaren Einheiten, den Segmenten, und der Ebene der lexikalischen

Einheiten oder Wörter. Diese suprasegmentale Struktureinheit ist die Silbe. Der Silbenbegriff

wurde für die Phonologie der Lautsprachen entwickelt und am eingehendsten erforscht. Er

spielt aber auch in neueren Ansätzen zur Schrift- und Gebärdensprache eine zentrale Rolle.

Die wichtigste Motivation für suprasegmentale Repräsentationen sind die Regeln der

jeweiligen Sprachmodalitäten: Laut-, Schrift- oder Gebärdensprache. So bilden die Silbe und

ihre Konstituenten die Domäne für die Anwendung phonologischer, graphematischer und

gebärdensprachlicher Regeln bzw. Distributionsbeschränkungen. Das gilt sowohl für

suprasegmentale Erscheinungen (z. B. Akzentzuweisung oder Worttrennung nach Silben) als

auch für segmentbezogene Phänomene (z. B. die lautsprachliche Auslautverhärtung, die

1 Ich danke Ursula Bredel, Daniela Happ, Antonia Hohenberger, Moritz Neugebauer, drei anonymenGutachtern der "Zeitschrift für Sprachwissenschaft" und besonders Helen Leuninger für wertvolle Hinweise undkritische Kommentare.

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graphematische Distribution von Dehnungszeichen, die gebärdensprachliche Distribution von

sekundären Bewegungen). Während der laut- und gebärdensprachliche Silbenbegriff

inzwischen als etabliert gelten, wird der Schreibsilbe auch weiterhin mit Skepsis begegnet

(vgl. Ossner 1996, 2001). Der vorliegende Beitrag wird sich zentral mit dem graphematischen

Silbenbegriff auseinander setzen und Gemeinsamkeiten wie Unterschiede zum laut- und

gebärdensprachlichen Begriff herausarbeiten.

Es gibt mindestens zwei Gründe für die Skepsis gegenüber dem Schreibsilbenbegriff: ein

systematischer und ein empirischer. Der systematische Grund ergibt sich aus der phono-

logisch derivationellen Perspektive, der zufolge der Schrift ein abgeleiteter Status zukommt

(Ableitbarkeitshypothese). Dieser Annahme entsprechend werden graphematische Repräsen-

tationen aus phonologischen abgeleitet. Dasselbe gilt für Einheiten wie Graphem oder

Schreibsilbe. Wie Eisenberg (1985) zutreffend feststellt, benötigen diese Ansätze gar keine

schriftsprachspezifischen Begriffe. In diesem Forschungsparadigma ist bspw. ein Graphem

eine schriftsprachliche Variante eines Phonems und somit selbst nicht distinktiv. Wenn es

genuin graphematische Regularitäten gibt, dann haben sie einen peripheren Status.

Der zweite Grund für die skeptische Behandlung der Schreibsilbe ist empirisch-metho-

discher Natur und betrifft die Schwierigkeiten, ein schreibmotorisches oder graphisch-

visuelles Korrelat des Silbenbegriffs und des silbenstrukturell relevanten Sonoritätsbegriffs zu

finden. Während sich der Graphembegriff relativ unproblematisch graphematisch autonom

definieren und durch seine graphische Substanz autonom motivieren lässt (vgl. Eisenberg

1985, Augst 1985, Günther 1988 u. v. m.), bietet der graphematische Silbenbegriff größere

Schwierigkeiten. Im Gegensatz zur lautsprachlichen Silbe, deren phonetische Substanz

inzwischen gut untersucht und abgesichert ist, fehlt nach Ansicht vieler Wissenschaftler der

graphematischen Silbe eine solche natürliche substanzielle Motivation (vgl. Butt/Eisenberg

1990). Daraus wird oft der voreilige Schluss gezogen, dass die Schriftsilbe ein fragwürdiger

Begriff sei.

Eine andere der Ableitbarkeitshypothese konträre Sicht wurde etwas irreführend als

autonomistisch oder zutreffender als Korrespondenzhypothese bezeichnet. Dieser zweiten

Forschungstradition ist der vorliegende Beitrag verpflichtet. Wenn man eine

Korrespondenztheorie der Graphematik verfolgt, müssen zentrale Begriffe wie Graphem,

graphematische Silbe und graphematisches Wort ohne Bezug zur Phonologie definiert und

durch genuin graphematische Regeln, die sich auf diese Begriffe beziehen, motiviert werden.

Korrespondenzregeln zwischen der graphematischen und phonologischen Repräsentation

werden in einem solchen Modell berücksichtigt, ohne den phonologisch basierten

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Korrespondenzen einen Sonderstatus zuzuordnen.

Folgende Annahmen bzw. Beobachtungen motivieren und präzisieren diese Konzeption:

- Es gibt nicht nur phonologisch basierte, sondern auch graphematisch basierte Ableitungs-

regeln sowie bidirektionale, d. h. eineindeutige Korrespondenzen (vgl. Primus 2000).

- Die phonologisch basierten Ableitungsregeln sind weder einfacher noch allgemeiner als die

graphematisch basierten (vgl. Primus 2000, Neef/Primus 2001).

- Es gibt autonome Einheiten und Regeln bzw. Beschränkungen des Schriftsystems, die keine

Entsprechung in der Lautsprache haben (vgl. Abschnitt 5 dieses Beitrags).

- Es gibt nicht-vorhersagbare graphematische Information im Lexikon. M.a.W. enthält das

Lexikon eine graphematische Komponente (vgl. Neef/Primus 2001).

- Es gibt psycholinguistische Evidenz für die Korrespondenztheorie.

Der folgende Beitrag wird einige der o. g. Annahmen untermauern. Auf psycholinguistische

Evidenz sei hier nur kurz verwiesen. Die schriftsprachliche Kompetenz kann unabhängig von

der mündlichen Sprachkompetenz gestört sein (vgl. de Bleser et al. 1987, de Bleser 1991,

Badecker 1996, Sucharowksi 1996). Beim Lesen wird nicht immer phonologisch rekodiert

(vgl. Günther 1988, de Bleser 1991). Die Ableitbarkeitshypothese geht beim Schriftsprach-

erwerb davon aus, dass er eine unabhängig entwickelte phonologische Kompetenz und

insbesondere die Fähigkeit voraussetzt, Wörter in Phoneme zu segmentieren und Phoneme zu

identifizieren. Aber mehrere Studien demonstrieren im Sinne der Korrespondenztheorie, dass

diese Aspekte der phonologischen Kompetenz die Folge und nicht die Voraussetzung des

Schriftspracherwerbs sind (vgl. z. B. Morais et al. 1987, Wimmer et al. 1991). Die Ableit-

barkeitshypothese wird auch dadurch in Frage gestellt, dass im Schriftspracherwerb laut-

basierte Ableitungsregeln viel fehlerträchtiger sind als schriftsysteminterne Beschränkungen

(vgl. Neef/Primus 2001).

Das zu lösende Problem ist, dass die silbischen Erscheinungen in den verschiedenen

Modalitäten Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede aufweisen. Der Versuch, die

Gemeinsamkeiten dadurch zu erklären, dass man die silbischen Erscheinungen einer

Modalität aus einer zugrunde liegenden Modalität, nämlich der lautsprachlichen, ableitet, ist

für das Schriftsystem aufgrund der oben angeführten Bedenken problematisch und auf die

Gebärdensprache nicht übertragbar. Die hier vorgeschlagene alternative Lösung ist das

folgende verzweigende Schnittstellenmodell:2

2 Gedanken in dieser Richtung finden sich in der Gebärdensprachenforschung, vgl. Brentari (1998), Sandler(2000), Leuninger et al. (2001).

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modalitätsunabhängiges System

|¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯|¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯¯|schreibmotorisches/visuelles artikulatorisches/auditives gestisches/visuellesSystem | System | System |

| | |Schriftsprache ⇔ Lautsprache ⇔ Gebärdensprache3

Korrespondenzen Korrespondenzen

In diesem Modell sind die drei modalitätsspezifischen Sprachsysteme, die Laut-, Schrift- und

Gebärdensprache, Schnittstellen-Phänomene, die durch das artikulatorisch-auditive, schreib-

motorisch-visuelle bzw. gestisch-visuelle System mitbestimmt werden.

Angewandt auf die Silbe können die Vorhersagen des verzweigenden Modells - unter

Vorgriff auf die unten präsentierten Ergebnisse - wie folgt charakterisiert werden. Der Silbe

liegt ein modalitätsunabhängiges Strukturprinzip (eine Alternationsstruktur) zugrunde, auf die

die empirisch nachweisbaren gemeinsamen Strukturmerkmale der silbischen Organisation in

verschiedenen Modalitäten zurückgeführt werden können.4 Spezifika des Mediums (z. B.

kontinuierliche Schallereignisse vs. diskrete graphische Einheiten) schlagen sich bei der

Realisierung dieser Alternationsstruktur nieder und erklären vorgefundene Unterschiede.

Charakteristisch für dieses Modell ist die Vorhersage, dass es Strukturmerkmale gibt, die

nicht von intermedialen Korrespondenzen, sondern von modalitätsübergreifenden

Strukturierungsprinzipien herrühren. Diese Sichtweise wurde in der bisherigen

Schriftsystemforschung vernachlässigt.

Die folgende Darstellung konzentriert sich auf das Deutsche in den drei

modalitätsspezifischen Ausprägungen. Dabei fließen allerdings Forschungsergebnisse über

andere Sprachen und Silbentheorien mit universalistischem Anspruch in die Darstellung ein.

Das Deutsche ist insoweit ein gut gewählter Untersuchungsgegenstand, als es in allen drei

Modalitäten klar ausgeprägte silbenstrukturelle Erscheinungen aufweist.

Die weitere Vorgehensweise in diesem Beitrag ist Folgende. Im nächsten Abschnitt wird

der Silbe als mediumübergreifendes Strukturprinzip eine Alternationsstruktur zugrunde

gelegt, die bestimmte charakteristische Eigenschaften aufweist. Im dritten Abschnitt werden

die modalitätsneutralen wie substanzspezifischen Eigenschaften der Silbe in der Gebärden-

sprache in ihren Grundzügen dargestellt. Obwohl die Gebärdensprache nicht im Zentrum

3 Die Gebärdensprache kann Korrespondenzen sowohl mit der Lautsprache als auch mit der Schriftspracheaufweisen, allerdings kann beim jetzigen Forschungsstand eine klare Trennung zwischen diesenKorrespondenzen nicht geleistet werden.4 Dieser Ansatz lässt erwarten, dass jede Sprache über eine silbische Organisation verfügt. Pompino-Marschall(1995: 229) u.a. argumentiert für die Universalität der silbischen Strukturierung und sieht Gegenbeispiele aus derphonologischen Literatur (z.B. Gokana in der Analyse von Hyman 1990) im Beschreibungsmodell begründet.

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dieses Beitrags steht und deshalb auch recht knapp behandelt wird, soll dieser Auftakt dazu

dienen, von der eingefleischten Phonologisierung der Begrifflichkeit Abstand zu gewinnen.

Danach werden im vierten Abschnitt die modalitätsneutralen und substanzdeterminierten

Eigenschaften der lautsprachlichen Silbe vorgestellt. Der fünfte Abschnitt bildet das

Kernstück des Beitrags und ist der Schreibsilbe gewidmet. Hinsichtlich aller drei Modalitäten

wird zunächst gezeigt, dass sich die zugrunde liegende Alternationsstruktur als medium-

unabhängige Charakteristik der Silbe manifestiert. Danach werden die substanzdeter-

minierten, modalitätsspezifischen Erscheinungen hervorgehoben. Lediglich im Abschnitt über

die schriftsprachliche Silbe wird von vornherein die graphische Substanz der Silbe

mitberücksichtigt. Der letzte Abschnitt fasst die Ergebnisse zusammen.

2. Die Silbe als mediumübergreifende Alternationsstruktur

Die suprasegmentale silbische Schicht wird durch eine Alternations- bzw. Oszillationsstruktur

charakterisiert. Solche Strukturen entstehen, wenn man mindestens zwei Einheiten oder zwei

Werte einer Eigenschaft (z. B. Tonhöhe oder Leuchtsignale) in einem wiederkehrenden

Wechsel alternieren lässt. Mit Hilfe der abstrakten Werte " " und " " ließen sich

Alternationen wie in (1) erzeugen:

(1) a. ...

b. ...

Es ist plausibel anzunehmen, dass einfache Alternationsstrukturen, die durch eine Alternation

von nur zwei Einheiten bzw. zwei Werten eines binären Merkmals und die durch ein

einzelnes Vorkommen dieser Einheiten entstehen, bevorzugt sind, vgl. Bsp. (1a).

Im lautlichen Medium nennt man eine solche Alternationsstruktur auch Rhythmus oder

Prosodie. Wie wichtig eine solche Alternationsstruktur für die Verarbeitung von Sprache ist,

haben Phonetiker für die Lautsprache betont. Nach Ansicht Tillmanns (1980) und Pompino-

Marschalls (1993, 1995) – deren Ausführungen zur Phonetik der Silbe ich folge - stellt die

phonetische Silbe als Artikulationsbewegung von der artikulatorischen Engebildung zur

vokalischen Öffnung eine elementare phonetische Produktionseinheit dar. Dem entspricht

eine akustisch-auditive, durch einen raschen Pegelanstieg/-abfall bzw. Lautheitsanstieg/-abfall

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gekennzeichnete Einheit. Wie wichtig diese rhythmische Struktur für die Identifizierung von

Schallereignissen als Sprachereignisse ist, zeigt sich für Tillmann und Pompino-Marschall

darin, dass das wahrnehmende Subjekt phonetische Ereignisse von anderen Schallereignissen

aufgrund der prosodischen Strukturierung der menschlichen Rede unterscheidet. Unter dem

Gesichtspunkt der Sprachwahrnehmung kommt somit dem silbischen Sprachrhythmus eine

gewichtige Rolle zu: Er strukturiert den Analyseprozess im Bereich der Zeit.

Damit eine Alternationsstruktur silbisch genannt werden kann, muss sie weitere Bedin-

gungen erfüllen, die ich zunächst an der lautsprachlichen Silbe erläutere. Wie Tillmann

(1980) mittels eines einfachen Wahrnehmungsexperiments zeigt, hängt die lautsprachliche

silbische Rhythmusstruktur von der Geschwindigkeit der Alternation ab. Wenn man eine

bestimmte Eigenschaft (z. B. Tonhöhe, Lautstärke oder Klangfarbe) sehr langsam zwischen

zwei Werten alternieren lässt, nimmt man die Eigenschaft selbst in ihrer Veränderung wahr

(A-Prosodie). Eine solche langsame Modulation liegt im Fall der Satzintonation vor. Wenn

die Alternation sehr schnell ist, wird nicht die Veränderung bzw. die Alternation als solche

wahrgenommen, sondern es entsteht der Eindruck einer neuen Eigenschaft (C-Prosodie).

Diese Modulation charakterisiert die segmentale Ebene, z. B. einen vibrierenden ("gerollten")

[r]-Laut. Dazwischen liegt die für die Silbenstruktur charakteristische mittlere Stufe, auf der

weder die sich ändernde Eigenschaft noch eine neue Eigenschaft wahrgenommen wird,

sondern die Oszillation selbst (B-Prosodie).

Modalitätsneutral formuliert, wird die Alternationsstruktur erst bei einer bestimmten

temporalen Geschwindigkeit oder räumlichen Ausdehnung der Oszillation als solche wahr-

genommen. Genau diese Bedingung erfüllt die suprasegmentale Alternation, die hier der laut-,

schrift- und gebärdensprachlichen Silbe als strukturelle Charakteristik zugrunde gelegt wird.

Vereinfacht ausgedrückt handelt es sich bei der Silbenoszillation um eine Alternation, bei der

die jeweils wiederkehrenden identischen Eigenschaften bzw. Werte eine bestimmte zeitliche

oder räumliche Distanz aufweisen müssen. Die Oszillationsstruktur darf sich über ein

Segment hinaus, nicht jedoch über ein Wort hinaus ausbreiten.

Die silbische Alternationsstruktur unterliegt neben der spezifischen ("mittleren") zeit-

lichen bzw. räumlichen Ausdehnung noch einer weiteren Bedingung. Eine Einheit dieser

Struktur ist prominenter als die anderen und ist konstitutiv für die Silbe, deren obligatorische

Konstituente sie bildet. Es ist der Nukleus bzw. Silbengipfel. In der Lautsprache wird der

Nukleus als sonorster Laut, als lautlicher Sonoritätsgipfel der relevanten Lautsequenz

substanziiert. Konstitutiv zu sein ist eine strukturelle Eigenschaft, sonor zu sein ist eine

substanzbasierte Lauteigenschaft. Wenn man die abstrakte strukturelle Eigenschaft des

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Nukleus modalitätsneutral konkretisieren möchte, so bieten sich allgemeinere kognitive

Begriffe an, die Clements (1990) für den phonologischen und Perlmutter (1992) für den

gebärdensprachlichen Sonoritätsbegriff anbieten. Sonorität korreliert in dieser Auffassung mit

Wahrnehmungsprominenz bzw. Salienz. Für die Lautsprache leuchtet diese Interpretation

unmittelbar ein, weil sonorere Laute, z. B. Vokale, tatsächlich leichter wahrnehmbar, auffäl-

liger sind als weniger sonore, z. B. Konsonanten. Wir werden sehen, dass diese Interpretation

auch für die Schrift- und Gebärdensprache aufrecht erhalten werden kann.

Die bisherigen Annahmen lassen sich in der Notation der autosegmentalen CV-

Phonologie,5 das auf die anderen Modalitäten übertragen wird, wie folgt darstellen:

(2) ω Wortknoten|σ Silbenknoten

|¯¯¯¯¯¯|¯¯¯¯¯|O N K Silbenteilkonstituenten O= Onset, N= Nukleus, K= Koda | | |(Cn) V (Cn) Skelettpositionen | | |[...] [...] [...] Segmente bzw. Merkmalstrukturen | | |[b i n] phonologisches Beispiel6

(2) trägt als prosodischer Hierarchiebaum der Tatsache Rechnung, dass die Silbe eine

Struktureinheit "mittlerer" Größe zwischen Segment und Wort ist. Sie berücksichtigt auch die

Tatsache, dass die Silbe einen konstitutiven Bestandteil hat, nämlich V als Gipfel bzw.

Nukleus. Die C-Bestandteile sind fakultativ und können mehrfach vorkommen (Cn). In

diesem Beitrag wird die interessante Frage vernachlässigt, ob beides relevant ist, nämlich CV-

und Konstituentenschicht (vgl. dazu Lenerz 2000). Hier wird schon aus rein illustrativen

Gründen beides benötigt. Die CV-Skelettschicht verdeutlicht, dass die Silbe eine Alternation

von C und V ist. Die Konstituentenschicht hilft, verschiedene C-Skelettpositionen zu

identifizieren. Aus der Alternationshypothese folgt, dass eine perfekte Silbe neben genau

5 Diese Notation bedient sich der schriftsprachlichen Modalität und ist somit streng genommen nur für diesegeeignet. Eine modalitätsneutrale Notation gibt es prinzipiell nicht, so dass man zwangsläufig notationelleUngenauigkeiten in Kauf nehmen muss. Die drei Modalitäten werden notationell dadurch unterschieden, dassder Silbenknoten und das Beispielmaterial für die Lautsprache in eckigen Klammern, für die Gebärdensprache ingeschweiften Klammern und für die Schriftsprache in spitzen Klammern erscheinen. DazwischenliegendeKnoten werden aus Lesbarkeitsgründen nicht eingeklammert.6 Im Folgenden wird der Unterschied zwischen zugrunde liegenden und oberflächenorientierten lautsprach-lichen Repräsentationen nicht immer notationell durch schräge vs. eckige Klammern festgehalten. Wenn dieseUnterscheidung irrelevant oder nicht eindeutig zu treffen ist, werden die eckigen Klammern benützt. Außerdemwird die Vokalquantität im Deutschen nicht segmental durch Ungespanntheit, z. B. i - !, e - ", sondernsuprasegmental repräsentiert (vgl. Abschnitt 4 unten).

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einer V-Position auch genau eine C-Position aufweist (vgl. die einfachste Alternationsstruktur

(1a) oben). In (3)-(4) wird diese mediumneutrale Charakteristik zusammengefasst:

(3) Gipfel-Beschränkung: Jede Silbe hat genau eine segmental assoziierte V-Position.

(4) Rand-Beschränkung: Jede Silbe hat genau eine segmental assoziierte C-Position.

Dabei ist es wichtig festzuhalten, dass V und C keine segmentale, d. h. auf inhärenten

Segmentmerkmalen basierende Klassifizierung darstellt, sondern eine rein silbenstrukturelle

Unterscheidung trifft. Die V-Position kann grundsätzlich mit einem nicht-prominenten

Segment (z. B. Konsonanten in der Lautsprache) und eine C-Position kann mit einem

prominenten Segment (z. B. Vokal) assoziiert sein. Die Assoziation zwischen Skelett- und

Segmentschicht ist jedoch nicht beliebig, sondern unterliegt folgenden

Prominenzbeschränkungen:

(5) Voraussetzung für beliebige Segmente S1 und S2: S1 ist prominenter als S2 (S1 > S2);

a. Prominenzbeschränkung für Gipfel (V-Position): In jeder Sprache dominiert das Verbot

der Gipfelplatzierung von S2 das Verbot der Gipfelplatzierung von S1 (*S2 >> *S1).

b. Prominenzbeschränkung für Ränder: In jeder Sprache dominiert das Verbot der

Randplatzierung von S1 das Verbot der Randplatzierung von S2 (*S1 >> *S2).

Der Dominanzbegriff (Abk. >>) und die hier vertretene Auffassung, dass Beschränkungen

verletzbar sind, entstammt der Optimalitätstheorie, in der verletzbare Beschränkungen in einer

Dominanzhierarchie angeordnet sind (vgl. Abschnitt 5.2 dieser Arbeit).

Die Prominenzbeschränkungen in (5) sind keine einzelnen Beschränkungen, sondern

Meta-Beschränkungen, die jeweils mehrere Beschränkungen zusammenfassen und eine

universelle Dominanzhierarchie garantieren (vgl. Prince/Smolensky (1993) für universelle

Dominanzhierarchien auf der Grundlage der Sonoritätsskala). Da die

Prominenzbeschränkungen für die Lautsprache bestens bekannt sind, sollen sie zur ersten

Illustration dienen. Wenn man sich zunächst mit der Unterscheidung zwischen Vokalen und

Konsonanten begnügt und annimmt, dass Vokale prominenter (in diesem Fall sonorer) als

Konsonanten sind, dann besagt die erste Beschränkung, dass in jeder Sprache das Verbot

gegen einen Konsonanten im Gipfel das Verbot gegen einen Vokal im Gipfel dominiert. Eine

solche Dominanzbestimmung schließt Sprachen, die nur Konsonanten im Gipfel aufweisen

sowie Sprachen, die Vokale und Konsonanten unterschiedslos im Gipfel zulassen, aus. Die

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Prominenzbeschränkungen setzen eine Prominenzunterscheidung zwischen den Segmenten

voraus, aber schränken diese selbst nicht ein und können auf einzelsprachliche wie

modalitätsspezifische Prominenzhierarchien angewandt werden.

Die silbische Alternationsstruktur teilt mit syntaktischen Strukturen die Eigenschaft,

genau ein konstitutives Element, den Gipfel bzw. Kopf, aufzuweisen. Die Dependenz-

Phonologie (vgl. Anderson/Ewen 1987) und in noch größerem Maße die Government-

Phonologie (vgl. Kaye/Lowenstamm/Vergnaud 1990) tragen dieser Tatsache Rechnung,

indem sie die Silbenstrukturen den syntaktischen Strukturen angleichen. Wie im Falle des

Verhältnisses zwischen den drei modalitätsspezifischen Silbenbegriffen ist es verfänglich, die

Gemeinsamkeiten dadurch zu erklären, dass man eine Alternative der anderen überstülpt.

Vielversprechender erscheint auch hier die Annahme, dass den syntaktischen und silbischen

Strukturtypen ein abstrakteres Aufbauprinzip zugrunde liegt, das genau ein konstitutives,

wahrnehmungsprominentes Element verlangt. Diese Elemente werden in silbischen und

syntaktischen Strukturen ganz unterschiedlich serialisiert, was auf die Verschiedenartigkeit

der Strukturierungstypen hinweist. In silbischen Alternationsstrukturen werden benachbarte

Nuklei (Hiatbildung) gemieden, in syntaktischen Strukturen werden benachbarte Köpfe

bevorzugt. Syntaktische Strukturen unterliegen nämlich dem Kopfserialisierungsprinzip,

wonach alle Köpfe einer Phrase im optimalen Fall am selben Rand der Phrase platziert sind.

Bei Befolgung dieses Prinzips ergeben sich entweder links- oder rechtsperipher benachbarte

Köpfe. Diese Eigenschaft ist keine Folgeerscheinung der größeren Erstreckung syntaktischer

Phrasen. So vermeidet auch die rhythmische Struktur der Phrasen- und Satzebene (Tillmanns

o. g. A-Prosodie) benachbarte starke Akzente (vgl. Uhmann 1991).7 Ein weiterer Unterschied

zwischen den beiden Strukturtypen ist die Projektivität syntaktischer Köpfe bzw. die Endo-

zentrizität syntaktischer Phrasen. Köpfe vererben ihre flexionsmorphologischen und

syntaktischen Merkmale an den Mutterknoten und umgekehrt. Ein silbischer Gipfel hat keine

vergleichbare Projektivität. Nicht er allein, sondern die Alternation zwischen ihm und einem

anderen Element, identifiziert den Mutterknoten. Ich meine, dass sich diese Unterschiede aus

dem Alternationscharakter silbischer Strukturen ableiten lassen.

Die Annahmen dieses Abschnitts sollen zunächst an der Silbe in der Gebärdensprache

überprüft werden. Sie ist über jeden Verdacht erhaben, dass es sich um eine Gebärdenkopie

der phonologischen Silbe im Sinne einer Ableitbarkeitshypothese handelt. Sie ist deswegen

7 Auf syntaktischer Ebene finden wir somit beide Strukturierungsprinzipien: in der phrasalen Akzentzuweisungund Intonation eine rhythmische Alternationsstruktur und im genuin syntaktischen Aufbau der Phrasen einspezifisches syntaktisches Strukturierungsprinzip.

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besonders geeignet, auch diejenigen Leserinnen und Leser von der Notwendigkeit eines

mediumübergreifenden Silbenbegriffs zu überzeugen, die noch fest daran glauben, dass

Silben nur in der Lautsprache einen Sinn machen.

3. Die Silbe in der Gebärdensprache

Gebärdensprachen sind auf den hier zur Diskussion stehenden Ebenen analog strukturiert wie

Laut- und Schriftsprachen. Es gibt lexikalisch distinktive, jedoch nicht bedeutungstragende

Einheiten, die nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten zu Silben miteinander kombiniert werden.

Silben bilden ihrerseits Gebärden (lexikalische Einheiten bzw. Wörter). Eine Gebärde setzt

sich aus vier distinktiven manuellen8 Komponenten zusammen: dem Ausführungsort der

Gebärde, der Handform, der Bewegung der Hände bei Ort- und Handformwechsel und der

Handorientierung. Aus einer Kombination dieser Elemente resultieren alle Gebärden einer

Sprache. Dass diese kleinsten Einheiten lexikalisch distinktiv sind, soll anhand folgender

Minimalpaare aus der Amerikanischen Gebärdensprache (ASL, engl. American Sign

Language) und dem Ausführungsortmerkmal illustriert werden.

Abb. I Minimalpaare hinsichtlich des Ausführungsorts in ASL (Klima/Bellugi 1979: 42)

SUMMER UGLY DRY

Die drei illustrierten Gebärden unterscheiden sich nur hinsichtlich des Ausführungsortes;

Handform, Bewegung und Orientierung sind identisch.

Eine Vielzahl von Forschern argumentiert für eine Struktureinheit oberhalb der

Segmentebene und unterhalb der Gebärdenebene, die der phonologischen Silbe entspricht (u.

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a. Sandler 1989, 2000, Brentari 1990, 1998, Wilbur 1990, Perlmutter 1992). Im Folgenden

wird der einflussreiche Ansatz von Perlmutter (1992) referiert. Perlmutter klassifiziert die

gebärdensprachlichen Segmente in zwei Typen: Bewegung (engl. movement, M) und Position

(P, bei anderen Autoren location, vgl. Liddell/Johnson (1989)).

Die meisten lexikalischen Einheiten sind einsilbig. Folgende Segmentsequenzen sind in

ASL in einer lexikalischen Einheit möglich: PMP, MP, PM, M und P. Andere, wie etwa *MM

oder *PP, sind ausgeschlossen. Wie diese Sequenztypen aufzufassen sind, soll am Beispiel

einer MP-vs. PM-Sequenz erläutert werden. Vgl. Abb. IIa und IIb (Perlmutter 1992: 409):

Abb. IIa MP: SICK Abb. IIb PM: TAKE OFF

Bei der Gebärde für SICK findet eine Bewegung statt, der eine Positionierung der aus-

führenden Hand an die Stirn folgt. Die Positionierung der Hand vor der Bewegung spielt

keine Rolle. Die Gebärde für TAKE-OFF beginnt mit einer Positionierung der ausführenden

Hand auf der anderen Hand und endet mit einer Bewegung. Weil die ausführende Hand am

Ende der Gebärde keine bestimmte Position einnehmen muss, gibt es kein finales P-Segment.

Unter Berücksichtigung weiterer Evidenz, die im Anschluss diskutiert wird, trifft

Perlmutter folgende Annahmen:

(a) M-Segmente sind sonorer, d. h. wahrnehmungsprominenter, als P-Segmente. M-Segmente

entsprechen den Vokalen in Lautsprachen und P-Segmente den Konsonanten in

Lautsprachen.

8 Wie in der einschlägigen Literatur bleiben nicht-manuelle Komponenten wie Mimik und Körperhaltung hierunberücksichtigt.

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12

(b) Jede Silbe hat einen Nukleus; Onset und Koda sind fakultativ.

(c) Silben unterliegen allgemeinen Sonoritätsbeschränkungen.

Da Sonorität nicht an der lautlichen Substanz festgemacht werden kann, schlägt Perlmutter als

modalitätsneutrales psycholinguistisches Korrelat die Wahrnehmungssalienz bzw. -prominenz

(engl. perspicuity) vor. Sein Vorschlag wird in diesem Beitrag aufgegriffen. Perlmutter bleibt

allerdings bei der lautsprachlich geprägten Nomenklatur, die ich hier originalgetreu

wiedergebe.

Aus den Annahmen (a)-(c) folgt, dass M-Segmente im Gegensatz zu P-Segmenten unein-

geschränkt im Nukleus erscheinen können. Und tatsächlich können alle M-Segmente im Nuk-

leus einer Silbe auftreten, während P-Segmente als Nukleus in ASL nur dann zugelassen sind,

wenn sie von einer der folgenden Veränderungen begleitet werden (1992: 434):

- von einer sekundären Bewegung

- von einem Handformwechsel

- von einem Handorientierungswechsel

Eine sekundäre Bewegung erfolgt mit den Fingern oder dem Handgelenk und begleitet die

Geste der Hand (vgl. Abb. III - TAPE unten). Die Lizensierungsbedingungen für nukleare P-

Segmente erklärt Perlmutter dadurch, dass P-Segmente, die von einer ihrerseits salienteren

Veränderung begleitet werden, sonorer sind als P-Segmente ohne begleitende Veränderung.

Sie wären in etwa die Entsprechung der Sonoranten in der Lautsprache. Aus der binären

Einteilung entsteht folgende mehrgliedrige Sonoritätsskala:

(6) M-Segment > P-Segment mit Veränderung (Pv) > P-Segment ohne Veränderung.

(6) verdeutlicht, dass in Gebärdensprachen die Dynamizität einer Gebärdenkomponente die

Entsprechung der lautsprachlichen Sonorität darstellt (vgl. Brentari 1995).

Perlmutter räumt ein, dass morphologisch abgeleitete Gebärden zumindest oberflächlich

betrachtet nukleare P-Segmente ohne Veränderung aufweisen. In der Deutschen Gebärden-

sprache (DGS, vgl. Pfau 1997) - für die alle hier getroffenen sonstigen Annahmen und

Beobachtungen ebenfalls zutreffen - gibt es auch Einsilbler, die aus einem einzigen P-

Segment ohne Veränderung bestehen (z. B. die Gebärde für DEUTSCH). Das ist nicht

verwunderlich, weil solche sprachspezifischen Bestimmungen für die Besetzung einer

silbenstrukturellen Position auch in Lautsprachen bekannt sind. Aber auch in DGS bleibt die

Klassifizierung von Perlmutter gültig. Sie wird benötigt, um zu erklären, dass M-Segmente im

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Silbenrand (z. B. MM-Einsilbler) ausgeschlossen sind, und dass P-Segmente nur einge-

schränkt oder vereinzelt im Nukleus erscheinen können. Außerdem steht sie möglicherweise

in einem engen Zusammenhang zum allgemeineren Verbot benachbarter P-Segmente in einer

lexikalischen Einheit (*PP), das nicht nur PP-Silben, sondern auch PPM- oder MPP-Silben

sowie MPPM-Sequenzen in Mehrsilblern verbietet.

Weitere zentrale Evidenz für Silbenstrukturen bietet folgende Distributionsbeschränkung

für sekundäre Bewegung und Handformwechsel, die auch für DGS gilt (vgl. Pfau 1997):

(7) Eine sekundäre Bewegung / Ein Handformwechsel kommt nur im Nukleus einer Silbe

vor.

Das heißt, dass diese Veränderungen jedes M-Segment begleiten können, aber nur diejenigen

P-Segmente, die kein benachbartes M-Segment aufweisen. Abb. III zeigt eine zulässige

sekundäre Kreisbewegung der Finger bei einem nuklearen P-Segment.

Abb. III TAPE (Perlmutter 1992: 412)

Abb. IV zeigt, dass dieselbe sekundäre Kreisbewegung bei einem P-Segment, dass als

Silbenonset oder Silbenkoda ein M-Segment (eine Bewegung) begleitet, unzulässig ist:

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Abb. IV Unzulässige Gebärden (Perlmutter 1992: 415)

Dabei ist zu beachten, dass es keine motorische oder perzeptuelle Beschränkung gegen die

Kombination von sekundärer Bewegung oder Handformwechsel und P-Segment gibt. Dies

demonstriert die Tatsache, dass diese Veränderungen P-Segmente im Nukleus lizensieren

können (vgl. auch Abb. III für TAPE). Die Beschränkung ist rein struktureller Natur.

Perlmutter hebt hervor, dass seine Annahmen in einem beliebigen autosegmentalen

Format dargestellt werden können. Hier wird die Notation der CV-Phonologie gewählt, um

den modalitätsübergreifenden Vergleich zu erleichtern. (8) stellt das silbenstrukturelle Gerüst

dar und fasst die bisherigen Beobachtungen für ASL zusammen:

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(8) {σ}|¯¯¯¯¯¯¯¯|¯¯¯¯¯¯¯¯|

Onset Nukleus Koda| | |

(C) V (C)| | |

P/*M M/Pv P/*M generell: *PP*SM SM *SM*HFW HFW *HFW

{σ} - Silbenknoten in der Gebärdensprache; P, M, Pv wie oben in (6); SM - sekundäreBewegung; HFW - Handformwechsel; * - Verbot

Weitere Evidenz für gebärdensprachliche Silbenstrukturen bieten "Vergebärdler", sprachliche

Fehlleistungen, die den Versprechern in Lautsprachen entsprechen, auf die hier lediglich

hingewiesen wird (vgl. Glück et al. 1997, Leuninger et al. 2001). Einschlägig sind Merkmals-

oder Segmentvertauschungen, bei denen die beteiligten Einheiten immer in gleicher silben-

struktureller Position stehen sowie Silbenvertauschungen. Bei Selbstkorrekturen solcher

Fehlleistungen sind diejenigen Fälle einschlägig, bei denen die ursprünglich geplante

Silbenstruktur aufrecht erhalten wird, selbst wenn die Lexeme unterdessen ausgetauscht

worden sind.

Leuninger et al. (2001) präsentieren sowohl modalitätsneutrale als auch modalitäts-

spezifische Befunde. Die modalitätsneutralen Ergebnisse betreffen die Kategorie der

Fehlleistungen, d. h. die Operationen selbst (z. B. Kontamination, Vertauschung, Substitution,

Antizipation, Perseveration), ihr formaler vs. semantischer Status sowie die betroffene Einheit

(z. B. die Handform). Die modalitätsspezifischen Fehlleistungen resultieren aus der Tatsache,

dass Gebärdensprachen über andere Artikulatoren (Hände, Körper, Mimik) verfügen. Diese

Befunde motivieren folgende Annahme von Leuninger et al.:

(9) Der Sprachprozessor ist modalitätsneutral.

Der Gehalt des Sprachprozessors ist modalitätsabhängig.

Dieselbe Hypothese betrifft auch den Monitor, der die Sprachproduktion überwacht und

Fehlleistungen ggf. korrigiert. Sie bestätigt aus kognitiver Perspektive das hier vor-

geschlagene verzweigende Schnittstellenmodell für das modalitätsneutrale Sprachsystem und

die modalitätsspezifischen Systeme.

Fazit: Die gebärdensprachliche Silbenstruktur ist eine Alternationsstruktur mit einer

obligatorischen Konstituente (dem Nukleus bzw. Silbengipfel). Die segmentale Besetzung der

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Silbenstrukturpositionen unterliegt den modalitätsunabhängigen Prominenzbeschränkungen.

Die prominentesten Segmente sind im Nukleus uneingeschränkt zugelassen, während sie in

den Rändern verboten sind. Umgekehrt gilt für die am wenigsten prominenten Segmente, dass

sie in den Rändern uneingeschränkt und im Nukleus nur eingeschränkt zugelassen sind. Das

sind silbenstrukturelle Eigenschaften, die den modalitätsneutralen Beschränkungen (vgl. (3)-

(5) oben) folgen.

Die weiteren Gegebenheiten sind nicht nur modalitätsspezifisch, sondern zum Teil

einzelsprachspezifisch. Hinsichtlich ihrer intrinsischen Prominenz bilden Segmente in ASL

und DGS zunächst zwei Klassen: M- und P-Segmente. Durch die Kombination eines P-

Segments mit einer Veränderung entsteht eine mittlere Klasse und somit folgende Prominenz-

skala: M-Segment > P-Segment mit Veränderung > P-Segment ohne Veränderung. Die

entsprechenden Lautsprachen, Englisch und Deutsch, haben eine weiter gefächerte Sonoritäts-

skala. Zwar postulieren andere Autoren für ASL mehr Zwischenglieder als Perlmutter (z. B.

Brentari 1995, 1998), dennoch zeigt sich auch unter dieser Annahme der Unterschied zur

Lautsprache sehr deutlich. Während in den entsprechenden Lautsprachen eine Sonoritäts-

sequenzbeschränkung eine stetige Sonoritätszunahme zum Silbengipfel hin und eine stetige

Sonoritätsabnahme vom Silbengipfel weg gebietet (vgl. (22) unten), ist eine entsprechende

Beschränkung für Gebärdensprachen nicht attestiert (vgl. Brentari 1995: 627). Sequenziell ist

die gebärdensprachliche Silbe wegen des Verbots von nuklearen M-Sequenzen und von P-

Sequenzen sehr einfach strukturiert. Dementsprechend ist nur die einfachere

Sonoritätsbeschränkung für Gipfel und Ränder im Einsatz. In beiden Gebärdensprachen, ASL

und DGS, sind M-Segmente im Silbenrand ausgeschlossen. Im Nukleus sind in beiden

Sprachen auch P-Segmente zugelassen, in ASL aber nur unter bestimmten

Zusatzbedingungen. Für solche paradigmatischen Beschränkungen sind in ASL mittlere

Prominenzwerte, die durch simultane Gebärdenkomponenten (z. B. Position und sekundäre

Bewegung) entstehen, relevant.

Die sequenzielle Einfachheit von Gebärden zeigt sich nicht nur im Verbot von nuklearen

M-Sequenzen und von P-Sequenzen in lexikalischen Einheiten, sondern auch in der stark

bevorzugten Einsilbigkeit der Gebärden (vgl. Andersen 1993, Sandler 2000 für weitere

Modalitätsspezifika). Sie könnte auf Spezifika des Mediums beruhen. Einschlägig ist die

geringere Beweglichkeit der Gebärdenartikulatoren im Vergleich zu den lautsprachlichen

Artikulatoren (z. B. Zunge, Kiefer). Diese rein anatomisch-physiologische Beschränkung

könnte die einfachere sequenzielle Lexem- und Silbenstruktur von Gebärdensprachen

erklären. Die sequenziellen Einschränkungen scheinen durch simultan realisierte Kom-

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ponenten wettgemacht zu werden. Die ausgeprägte Simultaneität gebärdensprachlicher

Komponenten9 könnte einige Spezifika erklären, wie z. B. die Tatsache, dass erst die Über-

lagerung eines P-Segments durch eine weitere dynamische Komponente eine mehrgliedrige

Prominenzskala entstehen lässt. Außerdem können einzelne simultan realisierte Komponenten

bedeutungstragend sein, wodurch Gebärdensprachen auffällig viele einsilbige polymorphe-

matische Einheiten aufweisen (vgl. Brentari 1995, Sandler 2000). Lautsprachen haben sowohl

simultan realisierte phonologische Merkmale als auch koartikulierte Segmente und können

darüber hinaus sequenziell recht komplexe Silbenstrukturen aufweisen. Dementsprechend

sind in Lautsprachen mehrgliedrige Prominenzskalen nicht nur in paradigmatischen

Prominenzbeschränkungen (z. B. für den Silbengipfel), sondern auch in syntagmatisch-

sequenziellen Prominenzbeschränkungen anzuwenden. Das hier untersuchte

schriftsprachliche Medium weist hingegen sequenziell diskret angeordnete Komponenten auf.

Wie wir später sehen werden, bleiben mehrgliedrige Prominenzskalen in diesem Medium aus.

4. Die Silbe in der Lautsprache

Dass es sich bei der lautsprachlichen Silbe um eine Alternationsstruktur handelt, ist nichts

Neues. Die wichtigsten Eigenschaften der silbischen Alternationsstruktur habe ich

phonetisch-phonologischen Arbeiten entnommen (Tillmann 1980, Pompino-Marschall 1993,

1995). Am deutlichsten repräsentiert wird sie in der CV-Phonologie (vgl. Clements/Keyser

1983) und in Vennemanns (1994) Nuklearphonologie. Bei Vennemann besteht die silbische

Alternationsstruktur aus zwei Werten der Energiekontur bzw. des Silbenschnitts, nämlich

Crescendo und Decrescendo. Ich bleibe bei der Methode der CV-Phonologie, da sie sich einer

breiteren Popularität erfreut und deshalb hier nicht näher motiviert werden braucht. Ich habe

sie auch für die Gebärden- und Schriftsprache übernommen.10

Die modalitätsneutrale Alternationsstruktur der Silbe erklärt die ersten wichtigen laut-

sprachlichen Silbenstrukturbeschränkungen. Die optimale Alternationsstruktur besteht aus

einer einfachen binären Alternation, die durch die Nukleus- und Randbeschränkung (3) und

9 Vgl. Leuninger et al. (2001) für ihre Auswirkung bei Selbstkorrekturen.10 Den Leserinnen und Lesern, die mit neueren phonologischen Silbentheorien nicht vertraut sind, dienenfolgende Hinweise. Einflussreiche Arbeiten zu phonologischen Silbenstrukturbeschränkungen sind Jakobson(1962), Hooper (1976), Vennemann (1982, 1988), Cairns/Feinstein (1982), Selkirk (1984) und dieoptimalitätstheoretische Arbeit von Prince/Smolensky (1993). Die Sonoritätshierarchie wird schon bei Sievers(1901) behandelt. Neuere Gesamtdarstellungen der Silbenphonologie des Deutschen sind Wiese (2000),

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(4) erfasst wurde. Dass diese modalitätsunabhängige Charakteristik auch für die laut-

sprachliche Silbe gilt, belegen folgende verletzbare universelle Silbenstrukturbeschrän-

kungen, die in neueren phonologischen Silbentheorien konsensfähig sind:

(10) Gipfel-Beschränkung: Jede Silbe hat genau eine segmental assoziierte V-Position.

(11) Rand-Beschränkungen:11

a. Onset-Gebot: Jede Silbe hat genau eine segmental assoziierte Onset-Position.

b. Koda-Verbot: Jede Silbe hat eine leere Koda (d. h. keine Silbe hat eine segmental

assoziierte Koda).

Die modalitätsunabhängigen Prominenzbeschränkungen (vgl. (5) oben) werden in der

modalitätsspezifischen Ausprägung als Sonoritätsbeschränkungen in der Phonologie allge-

mein akzeptiert (vgl. für eine genaue Formalisierung im Rahmen der Optimalitätstheorie

Prince/Smolensky 1993):

(12) Voraussetzung für beliebige Segmente S1 und S2: S1 ist sonorer als S2 (S1 > S2);

a. Sonoritätsbeschränkung für Gipfel (V-Position): In jeder Sprache dominiert das

Verbot der Gipfelplatzierung von S2 das Verbot der Gipfelplatzierung von S1 (*S2 >>

*S1).

b. Sonoritätsbeschränkung für Ränder: In jeder Sprache dominiert das Verbot der

Randplatzierung von S1 das Verbot der Randplatzierung von S2 (*S1 >> *S2).

So kann im Deutschen und anderen Sprachen in der V-Position der phonologischen Silbe

jeder Vokal stehen. Konsonanten erscheinen dort nur unter bestimmten Bedingungen, nämlich

nur in einer Reduktionssilbe und nur wenn es in der Silbe keinen Vokal gibt und der

Konsonant eine relativ große Sonorität aufweist und zur Gruppe der Sonoranten gehört. Die

zweite Silbe der folgenden Beispiele hat einen Sonoranten in der V-Position:

Eisenberg (1998) und Ramers (1998a). Eine allgemeine Einführung in die suprasegmentale Phonologie ist z. B.Goldsmith (1990).11 Aus der modalitätsneutralen Alternationsstruktur (vgl. (3)-(4) oben) folgt lediglich, dass eine optimale Silbeüber je eine segmental besetzte C- und V-Position verfügt. Eine Erklärung für die Tatsache, dass lautsprachlicheSilben den Onset anstelle der Koda bevorzugen, bietet Pompino-Marschall (1993). Er weist nach, dass derSonoritätsanstieg des Onsets einen stärkeren Einfluss auf den "Rhythmuspunkt" der Silbe ausübt als derSonoritätsabfall der Koda.

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(13) σ|¯¯|O N| |C V| |

[a t m] <Atem>[e d l ] <edel>[e d n] <Eden>

Mit der Zulassung von Sonoranten in der V-Position sind wir schon bei den substanz-

determinierten Besonderheiten der lautsprachlichen Silbe angekommen.

In der Lautsprache haben wir zeitlich kontinuierliche, simultane Artikulations- bzw.

Schallereignisse, d. h. Ereignisse, die aus mehreren sich überlappenden und ineinander über-

gehenden Teilereignissen bestehen. Letzteres wird in der Phonetik als Koartikulation und

Steuerung bezeichnet (vgl. Menzerath/de Lacerda 1933, Kohler 1977 und Heike 1992 unter

besonderer Berücksichtigung der Silbe). Dass in der Phonetik von Einzellauten und

Segmenten gesprochen wird, führen Tillmann (1980: 56) und Pompino-Marschall (1995: 227)

auf das Alltagsverständnis einer alphabetisch literalen Gesellschaft zurück, womit sie diese

Vorgehensweise als schriftinduziert erklären.

Realisiert man die abstrakte Alternationsstruktur der Silbe durch lautsprachliche Signale,

so ergeben sich die wichtigsten charakteristischen Eigenschaften der phonologischen Silben-

struktur. Dem Silbenrand entspricht ein artikulatorischer Verschluss, dem Silbengipfel eine

artikulatorische Öffnung. Das auditivphonetische Korrelat ist ein Lautheitsanstieg bzw.

-abfall. Durch die Charakteristik lautsprachlicher Artikulationsvorgänge handelt es sich um

ein graduelles, kontinuierliches Öffnen und Schließen (vgl. Eisenberg 1998, Kap. 4 für eine

detaillierte Darstellung). Die phonologische Entsprechung dieser substanziellen Gegebenheit

ist eine graduelle, skalare Anordnung der Laute entlang einer sehr differenzierten Sonoritäts-

hierarchie bzw. -skala. Die wichtigsten Sonoritätsunterschiede für das Deutsche illustriert

folgende Skala (durch Komma getrennte Segmente haben dieselbe Sonorität):

(14) ----- abfallende Sonorität ---->

a, e > i, u > r > l > m, n, N > v, z, J > f, s, š, ç, x, h, > p, t, kb, d, g

Vokale Sonoranten Obstruenten (Frikative, Plosive)

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Die Silbenphonologie wird durch solche mehrgliedrigen Sonoritätshierarchien determiniert.

Graduelle Begriffe wie Sonoritätsmaximum, Sonoritätsminimum und stetiger Sonoritäts-

anstieg bzw. -abfall sind phonologisch relevant, ebenso Übergangsgrade, z. B. Sonoranten

wie in (13) oben gezeigt. Hinzu kommt, dass die Beweglichkeit der lautsprachlichen

Artikulatoren sequenziell komplexe Silbenstrukturen nicht behindert. Diese Gegebenheiten

schlagen sich phonologisch darin nieder, dass die einfache binäre CV-Alternationsstruktur

sequenziell komplexer ausfallen kann (z. B. CCV, CVVC usw.) und in vielen Sprachen

tatsächlich auch komplexer ausfällt, und dass sie als graduelle Sonoritätssequenz realisiert

wird. Die wichtigste silbenstrukturell relevante substanzielle Charakteristik wird in (15)

zusammengefasst:

(15) Lautsprachliche Prominenzskalen können zwischen maximal konsonantisch und

maximal vokalisch sehr viele Differenzierungen aufweisen. Diese graduellen

Übergänge determinieren eine graduelle phonologische Alternationsstruktur.

Mehrere Erscheinungen des Deutschen demonstrieren die substanzielle Charakteristik der

lautsprachlichen Silbe. Eine wurde bereits erwähnt. In der V-Position mancher Silbentypen

(vgl. (13)) erscheinen nicht nur Vokale, sondern auch die sonorsten Konsonanten (Sonoran-

ten). Außerdem gibt es Silbengrenzen mit Gelenkkonsonanten, die nicht genau segmentiert

werden können, d. h. sich segmental überlappen. Um diese Erscheinung erklären zu können,

müssen zunächst die silbenstrukturellen Besonderheiten des Standarddeutschen (Abk. des

Deutschen) vorgestellt werden.

Für das Deutsche wird angenommen (vgl. Wiese 1986, 2000), dass der Nukleus von

Vollsilben zwei Positionen hat, die segmental besetzt sein müssen. Vgl. (16):

(16) Verzweigungsgebot im Deutschen: Der Nukleus einer Vollsilbe hat zwei Skelett-

positionen, die segmental assoziiert sein müssen.

Vollsilben sind Silben, die im Gegensatz zu Reduktionssilben den Wortakzent tragen können.

Im Folgenden spreche ich von vokalischer und konsonantischer Nukleusposition bzw.

nuklearer V- oder C-Position. Während die Annahme, dass in bestimmten Silbentypen zwei

Skelettpositionen besetzt sein müssen, relativ unumstritten ist, findet die Annahme, dass diese

dem Nukleus zuzuschlagen sind, häufiger Kritiker (u. a. Becker 1996, Lenerz 2000). Die

Wirkung des Verzweigungsgebots zeigt (17):

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(17) a. [σ] b. [σ]|¯¯¯|¯¯¯| |¯¯¯|O N K O N| /\ | | /\C V C C C V C| \/ | | | |

[f a l] <fahl> [f a l] <Fall>

Das Verzweigungsgebot wird durch die Verteilung der Lang- und Kurzvokale im Deutschen

gerechtfertigt. Im Deutschen ist die Vokalquantität lexikalisch distinktiv, wie folgende

Minimalpaare illustrieren:

(18) Beet - Bett, fahl - Fall, Miete - Mitte, Höhle - Hölle, rote - Rotte, fühle - fülle, Buhle -

Bulle

In der phonologischen Komponente des Lexikons des Deutschen muss also vermerkt werden,

ob ein Vokalmonophthong in einer Vollsilbe mit der nuklearen C-Position assoziiert ist oder

nicht, weil diese Information nicht vorhersagbar ist, d. h. aus silbenstrukturellen Beschrän-

kungen nicht abgeleitet werden kann; vgl. die Spezifikationen in (19), in denen die doppelt

durchgestrichene Linie - wie in der Autosegmentalen Phonologie üblich - eine verbotene

Assoziation darstellt:

(19) CN CN

| f a l <fahl> f a l <Fall>

Die Assoziationen mit den anderen silbenstrukturellen Positionen ergeben sich aus den unten

diskutierten Silbenstrukturbeschränkungen von selbst und müssen nicht lexikalisch markiert

werden. Vokalquantität wird in Anlehnung an neueren phonologischen Theorien

suprasegmental repräsentiert, und zwar dadurch, dass ein Langvokal im Gegensatz zu einem

Kurzvokal zwei Skelettpositionen besetzt (vgl. schon Clements/Keyser 1983).

Das Deutsche scheint eine Silbenschnittsprache zu sein (vgl. Vennemann 1994, Becker

1996), deren silbenstrukturelle Besonderheit die in (16) genannte Beschränkung für die

Besetzung der nuklearen C-Position ist. Dieser Beschränkung zufolge bildet schon der

Nukleus einer Vollsilbe eine minimale segmental obligatorisch zu besetzende VC-

Alternationsstruktur, deren phonetisches Korrelat tatsächlich prosodischer, und nicht wie

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vielfach angenommen ausschließlich quantitativer Natur ist (vgl. Spiekermann 2000). Diese

nukleare Alternationsstruktur charakterisiert die Vokalopposition im Deutschen: Langvokale

bzw. Vokale mit sanftem Schnitt werden mit beiden Nukleuspositionen assoziiert (vgl. fahl),

Kurzvokale bzw. scharf geschnittene Vokale nur mit der V-Position (vgl. Fall). Im Folgenden

wird weiterhin aus rein praktischen terminologischen Gründen von Vokalquantität, Lang- und

Kurzvokal gesprochen.

Da eine minimale Vollsilbe im Deutschen zwei besetzte Nukleuspositionen aufweist,

muss einem Kurzvokal ein Konsonant (vgl. fall) oder ein weiterer Vokal in der zweiten

Nukleusposition folgen, womit sich ein Diphthong ergibt (z. B. rau). Das Verzweigungsgebot

erklärt auch, warum im Standarddeutschen ein Langvokal, ein Diphthong und die Folge

Kurzvokal + Konsonant phonotaktisch äquivalent sind: nach Kurzvokal kann genau ein

Konsonant mehr in der Silbe auftreten als nach Langvokal oder Diphthong. Alle diese Ein-

heiten besetzen nämlich genau zwei nukleare Skelettpositionen (V und C). Diese minimale

Alternationsstruktur wird durch die Besetzung eines Silbenrandes, bevorzugt des Onsets,

erweitert. Insoweit folgt auch das Deutsche der allgemeinen Rand-Gipfel-Konfiguration CV.

Im Deutschen muss man allerdings zwischen Nukleus im weiteren Sinn und V-Silbengipfel

unterscheiden. Im V-Silbengipfel muss der Sonoritätsgipfel liegen (vgl. (22) unten). Die

unmittelbar folgende C-Position genießt einen Sonderstatus. Ihre segmentale Besetzung ist in

Vollsilben obligatorisch, was für ihren nuklearen Status spricht. Anderseits unterscheidet sie

sich vom V-Silbengipfel dadurch, dass sie weniger sonore Segmente beherbergen kann und

der Auslautverhärtung (vgl. ab [ap]) unterliegt. Der Sonderstatus der nuklearen C-Position

wird sich auch in der deutschen Schriftsprache zeigen.

Wie bereits erwähnt, folgt aus dem Verzweigungsgebot, dass in Vollsilben mit Kurzvokal

die zweite Nukleusposition durch ein anderes Segment besetzt sein muss. Das gilt auch für

wortinterne Kurzvokale wie bei fallen. Das Verzweigungsgebot und das bereits genannte

Onset-Gebot (11a) rechtfertigen die Annahme von ambisilbischen Konsonanten oder

Gelenkkonsonanten wie bei fallen. Vgl. die silbenstrukturelle Darstellung des Minimalpaares

fahlen - fallen:

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(20) (a) [ω] (b) [ω]|¯¯¯¯¯¯¯| |¯¯¯¯¯¯¯|σ σ σ σ

|¯¯¯| |¯¯|¯¯| |¯¯¯| |¯¯|¯¯|O N O N K O N O N K| /\ | | | | /\ | | |C V C C V C C V C C V C| \/ | | | | | \/ | |

[f a l ´ n] [f a l ´ n]

Die zweite Silbe dieser Beispiele ist eine nicht betonbare Reduktionssilbe, die über einen

einfachen Nukleus verfügt. Gelenkkonsonanten stiften segmental diffuse Silbengrenzen und

könnten sich als Mediumspezifikum erweisen, da die phonetische Substanz der Lautsprache

keine diskreten Einheiten hat. In der Schriftsprache, die über diskrete Einheiten verfügt, gibt

es keine Gelenkkonsonanten.

Eine weitere Erscheinung, die der graduellen, kontinuierlichen Substanz der Lautsprache

entspricht, ist die Tatsache, dass Vokale mit geringerer Sonorität, also die hohen Vokale [u],

[y] oder [i], in gipfeladjazenten C-Positionen erscheinen können (vgl. Wiese 2000). Zum

einen finden wir sie in der nuklearen C-Position im Diphthong (vgl. bspw. die phonologische

Form von leiten, lauten oder läuten). Zum anderen kommen solche Vokale z. B. im Onset der

zweiten Silben von Ferien, Nation und graduell vor, wenn die Wörter zweisilbig ausge-

sprochen werden. (21) illustriert die zweisilbige Struktur von Nation:12

(21) [ω]|¯¯¯¯¯¯¯¯¯|σ σ

|¯¯¯| |¯¯¯¯|¯¯|O N O N K| /\ /\ /\ |C V C C C V C C| \/ /\ | \/ |

[n a t s i o n]

Solche Segmente werden von vielen Phonologen nicht als Vokale im engeren Sinn, sondern

als Glides klassifiziert (vgl. Ramers/Vater 1995, Ramers 1998a). Die Einführung dieses neuen

Segmenttyps erweist sich bei Berücksichtigung silbenstruktureller Gegebenheiten als

überflüssig, weil die konsonantenähnlichere Realisation dieser Vokale eine Folgeerscheinung

12 Dass nur der Vokal [o], nicht aber auch [a] lang artikuliert wird, liegt an der Tatsache, dass oberflächen-realisierte Vokallänge mit Betonung korreliert (vgl. Wiese 2000 und Becker 1996, der diese Korrelationaußerdem als grundlegend betrachtet und das Verzweigungsgebot auf Tonsilben einschränkt).

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ihrer C-Position und der Sonoritätssequenzbeschränkung ist, der wir uns nun widmen. Vgl.

(22):

(22) Sonoritätssequenzbeschränkung: In einer phonologischen Silbe muss die Sonorität der

Segmente zur V-Position hin stetig zunehmen und von der V-Position weg stetig

abnehmen.

Diese Beschränkung erklärt u. a., dass Vokale nicht nur im Silbengipfel, d. h. in der V-

Position, sondern auch in einer benachbarten C-Position, d. h. in der Silbengipfelschale, vor-

kommen, hier aber nur, wenn sie weniger sonor sind als der Vokal im Silbengipfel.

Die Wirkung der Sonoritätssequenzbeschränkung zeigt sich auch darin, dass in (23) nur

die ersten beiden einsilbigen Formen akzeptabel sind (vgl. Vennemann 1982 für eine

eingehendere Diskussion):

(23) [trik], [hort], *[rtik], *[hotr]

Nur extrasilbische Elemente wie [št] oder [šp] in Stau und Spaten, die i. d. R. nur am Rande

phonologischer Wörter vorkommen, werden von dieser Beschränkung nicht erfasst (vgl.

Vennemann 1982, Wiese 2000).

Die Sonoritätssequenzbeschränkung setzt im Gegensatz zur mediumneutralen Prominenz-

beschränkung (5) bzw. (12) mehrgliedrige graduelle Prominanzabstufungen voraus. Auf eine

binäre Vokal-Konsonant-Skala angewandt, kann die Sonoritätssequenzbeschränkung die

soeben besprochenen Restriktionen im Deutschen nicht erfassen. Sie ist somit eine weitere

mediumspezifische Erscheinung, die sich aus dem kontinuierlichen, graduellen Charakter

phonetischer Ereignisse erklären lässt und weder in der Gebärdensprache noch im Schrift-

system eine exakte Entsprechung findet.

Die Relevanz gradueller Sonoritätsabstufungen zeigt sich auch bei der lautsprachlichen

Syllabierung. Die einschlägige Beschränkung ist (24):

(24) Syllabierungsbeschränkung: Bei einer lautsprachlichen internuklearen Konsonanz

beginnt der nächste Onset mit dem letzten Sonoritätsminimum.

(24) trifft über die Sonoritätssequenzbeschränkung (22) hinaus eine Differenzierung zwischen

Onset und Koda und verlangt das Sonoritätsminimum im Onset und nicht in der Koda. Aus

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diesem Grund wird die Beschränkung auch als Onset-Maximierung bezeichnet. Die

Onsetcluster, die (24) verlangt, müssen natürlich anderen gleich- oder höherrangigen

Beschränkungen genügen. Eine einschlägige Beschränkung ist das Verzweigungsgebot für

Vollsilben, die die Besetzung der nuklearen C-Position verlangt (vgl. (16) oben) und

zusammen mit den Onsetgeboten (24) und (11a) eine Gelenkbildung erzwingt (vgl. (20b)

oben). Eine weitere intervenierende Beschränkung ist, dass die wortmedialen Onsetcluster

auch wortinitial zugelassen sein müssen (vgl. das Initialgesetz von Vennemann 1982). Die

Beispiele in (25a, b) befolgen alle intervenierenden Beschränkungen. Die Beispiele in (25c)

verletzen das Initialgesetz (wenn man Eigennamen wie Gmund sinnvollerweise außer

Betracht lässt). Im Falle eines solchen Regelkonflikts gibt es schwankende Intuitionen und

auch schwankende normative Festlegungen (vgl. Muthmann 1996: 487f.):

(25) a. [ma:$l´], [ty:$r´]

b. [vi:$driç], [e:$kliç], [duN$kl´]

c. [a:$dl´r], [ra:$dl´r], [re:$dn´r], [ma:$gma]

Ich fasse zusammen. Die grundlegende modalitätsneutrale Alternationsstruktur manifestiert

sich auch in der lautsprachlichen Silbe des Deutschen dadurch, dass die CV-Silbe die ideale

Konfiguration ist. Aufgrund der charakteristischen Substanz der Lautsprache - kontinuierliche

sich überlappende Schallereignisse bzw. feinmotorische Artikulationsvorgänge - können sehr

fein abgestufte Sonoritätsskalen an Relevanz gewinnen. Infolgedessen nehmen die laut-

sprachlichen Prominenzbeschränkungen auf solche Feinabstufungen Bezug und ergeben viel

differenziertere Restriktionen als in den anderen untersuchten Modalitäten. Aus der binären

CV-Alternation kann - wie am Beispiel der deutschen Lautsprache gezeigt - eine durch die

Sonoritätssequenzbeschränkung erfasste graduelle Alternation entstehen. Das sind modalitäts-

unabhängige wie allgemein lautsprachliche Merkmale, die sich in der deutschen Lautsprache

manifestieren. Mindestens fünf Erscheinungen des Deutschen demonstrieren die substanzielle

Charakteristik der lautsprachlichen Silbe. In der V-Position von Reduktionssilben erscheinen

nicht nur Vokale, sondern auch die sonorsten Konsonanten (Sonoranten). Ferner gibt es

Silbengrenzen mit Gelenkkonsonanten, die nicht genau segmentiert werden können, d. h. sich

segmental überlappen. Außerdem sind in C-Positionen nicht nur Konsonanten, sondern

weniger sonore, hohe Vokale zugelassen. Desweiteren gibt es in der Lautsprache eine

Sonoritätssequenzbeschränkung, die mehr als zwei Abstufungen zwischen den einzelnen

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Skelettpositionen vornimmt. Schließlich nimmt die Zerlegung der Wörter in Silben auf den

graduellen Begriff des Sonoritätsminimums Bezug.

5. Die Silbe in der Schriftsprache

Die Rolle silbischer Einheiten in der Graphematik wurde in früheren Arbeiten auf die Wort-

trennung am Zeilenende beschränkt (vgl. Hofrichter 1980, 1989 unter der Bezeichnung

"graphisches Wortsegment"). In neueren Ansätzen wird die Rolle der Schreibsilbe als eigen-

ständige graphematische Einheit deutlicher herausgearbeitet (z. B. Eisenberg 1989, 1995,

Augst 1986, 1990, Butt/Eisenberg 1990, Prinz/Wiese 1991, Günther 1992, Maas 1995, 1997,

Ramers 1998b, Primus 2000, Sternefeld 2000). Die Ergebnisse dieser schriftsystembezogenen

Ansätze werden durch psycholinguistische Evidenz für eine suprasegmentale, sublexikalische

graphematische Einheit ergänzt (z. B. Caramazza/Miceli 1990, McCloskey et al. 1994,

Badecker 1996, Domahs et al. 2001, Will et al. 2001, Nottbusch/Weingarten 2001). Es gibt

aber auch neuere Ansätze, die die Relevanz der graphematischen Silbe im Besonderen und

graphematischer Einheiten im Allgemeinen (Graphem, Wort u. Ä.) weiterhin abstreiten (z. B.

Garbe 1985, Ossner 1996, 2001). Wie bereits in der Einleitung dieser Arbeit erwähnt, ist diese

Position zum einen systematisch und theoretisch durch ein derivationelles Modell des

Schriftsystems begründet. Zum anderen ist die Skepsis gegenüber der Schreibsilbe durch die

Schwierigkeiten bedingt, den Begriff zu präzisieren und somit den Weg für eine allgemeine

graphematische Silbentheorie frei zu machen. Um die Schließung dieser Forschungslücke

bemüht sich der vorliegende Abschnitt.

5.1 Die graphische Substanz der Alternationsstruktur

Zunächst soll die graphische Substanz der Silbe näher erläutert werden, um auf dieser

Grundlage die charakteristische Alternationsstruktur der schriftsprachlichen Silbe besser

erfassen zu können. Als Untersuchungsgegenstand dient das Allgemeine Moderne Römische

Alphabet und die zusätzlichen Buchstaben, derer sich das deutsche Schriftsystem bedient.

Viele der aufgestellten Hypothesen gelten auch für andere Sprachsysteme, aber das Beispiel-

material und einige Detailfragen betreffen ausschließlich das Deutsche. Außerdem wird

sowohl im Sinne der Ableitbarkeitshypothese als auch im Sinne der Korrespondenzhypothese

angenommen, dass im Deutschen die graphematische Silbe dieselbe Konstituenten- und

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Skelettstruktur aufweist wie die phonologische Silbe (vgl. Primus 2000). Das führt zur

Annahme eines verzweigenden Nukleus auch in der Graphematik des Deutschen.

Alphabetische Schriftsprachen sind auf den hier zur Diskussion stehenden Ebenen analog

strukturiert wie Laut- und Gebärdensprachen. Es gibt kleinste lexikalisch distinktive, jedoch

nicht bedeutungstragende Einheiten, die nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten zu immer

größeren distinktiven, aber nicht bedeutungstragenden Einheiten miteinander kombiniert

werden, nämlich zu Buchstaben, Graphemen und Silben. Die kleinsten Einheiten des

Schriftsystems untersucht die Graphetik (vgl. Althaus 1980, Watt 1983, 1988, Brekle 1994),

die sich mit den kleinsten Buchstabenteilen und ihrer Kombinatorik beschäftigt. Allerdings

wurden solche Merkmale kaum hinsichtlich ihrer Funktion im Sprachsystem untersucht (vgl.

jedoch Naumann 1989 und Primus 2001). Die vorliegenden Überlegungen beziehen sich auf

rezeptionsorientierte, visuelle Merkmale, die im Gegensatz zu den produktionsorientierten

Merkmalen weniger Variationen unterliegen.13

Für die Silbe ist die Spatiumeinteilung der Kleinbuchstaben14 relevant. Die Buchstaben

und ihre distinktiven Teile werden auf der Grundlage vier übereinander liegender Spatien

bestimmt:

Jeder Großbuchstabe hat unabhängig von seiner internen Struktur eine gleiche Länge, die sich

auf die Spatien 2-4 erstreckt. Kleinbuchstaben unterscheiden sich systematisch in der Länge

von Großbuchstaben und sind in ihrer Länge variabel. Brekle (1994) hat nachgewiesen, dass

für die Buchstabenformen der westlichen Alphabetschriften (beginnend mit den Phönizi-

schen) die Ausformung einer geraden vertikalen Linie, die er Hasta und Watt (1983, 1988)

Vexillum nennt, charakteristisch ist. Besonders deutlich ist dieses Hasta- bzw. Vexillum-

prinzip in den modernen römischen Kleinbuchstabenalphabeten, unserem zentralen Unter-

suchungsgegenstand, manifest. Den buchstabendifferenzierenden Teil nennt Brekle Coda und

Watt Augment. Aufgrund der folgenden Beschränkung kann das Mittelspatium, das aus den

13 Watt (1983, 1988) und Günther (1988) betonen das Primat der rezeptionsbasierten Merkmale in Schrift-systemen. Wichtig für unsere Überlegungen zur graphematischen Silbe ist jedoch die Tatsache, dass sich dieseEinheit auch in der Schreibproduktion nachweisen lässt (vgl. Will et al. 2001, Nottbusch/Weingarten 2001).14 Das System der Kleinbuchstaben ist das grundlegende System, aus dem die Großschreibung (die Initial-großschreibung wie die durchgehende Großschreibung) durch Regeln abgeleitet werden kann (vgl. Gallmann1985, Günther 1988)

A B a b c p e

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inneren Spatien 2 und 3 besteht, als Wahrnehmungszentrum der Buchstabenschrift aufgefasst

werden.

(26) Mittelspatiumbeschränkung: Die Kleinbuchstaben haben ihr buchstabendifferenzieren-

des Augment im Mittelspatium (Ausnahme "g" vs. "q"). Viele Kleinbuchstaben über-

schreiten das Mittelspatium nicht.

Hinsichtlich der Länge der Kleinbuchstaben wird folgende Festlegung getroffen:

(27) Kleinbuchstaben, die nur das Mittelspatium füllen, sind [-lang], solche, die es

überschreiten, sind [+lang].

Mit dem graphetischen Längenkontrast korreliert die graphematisch relevante Klassifizierung

der Segmente (Buchstaben und Grapheme) in V- und C-Segmente. (28) zeigt, dass native V-

Buchstaben im Gegensatz zu C-Buchstaben das Mittelspatium nie überschreiten dürfen:15

(28) V-Buchstaben [-lang]: a, e, i, o, u

C-Buchstaben [+lang]: b, d, f, g, h, j, k, l, p, q, ß, t

C-Buchstaben [-lang]: c, m, n, r, s, v, w, x, z

Die Buchstaben mit Trema, d. h. ä, ö, ü, sind komplexe Grapheme (vgl. Gallmann 1985).

Grapheme sind lexikalisch distinktive Buchstaben oder Buchstabencluster wie z. B. <ch> und

<sch> in <tauchen> bzw. <tauschen>, die silbenstrukturell eine unzerlegbare Einheit bilden

(vgl. Eisenberg 1985, Augst 1985). Die Klassifizierung in V und C gilt auch für Grapheme.

Komplexe Grapheme, die einen C-Buchstaben enthalten und somit das Mittelspatium

überschreiten dürfen, sind C-Grapheme (z. B. <qu>).

Die Unterscheidung zwischen V- und C-Graphemen spielt für die Zerlegung der Wörter in

Silben (Syllabierung) sowie für Silbenstrukturbeschränkungen eine wichtige Rolle. Die

Syllabierungsbeschränkung lautet (vgl. (41) unten), dass das letzte C-Graphem zwischen zwei

V-Graphemen bei der Worttrennung am Zeilende auf die nächste Zeile kommt (z. B. <be-

ten>, <ker-le>). Die Relevanz des Längenmerkmals für das Schriftsystem des Deutschen hat

15 Weil das graphische Längenmerkmal keine komplementäre Klasseneinteilung erlaubt, schafft nur eine exten-sionale Definition durch Aufzählung der betroffenen Einheiten Eindeutigkeit. Diese Unterscheidung ist trotz

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Naumann (1989: 194f.) hervorgehoben. Naumanns Annahme ist, dass das lange Vexillum der

C-Grapheme bzw. C-Buchstaben als ikonisches Zeichen für einen wortinternen

phonologischen Onset, dem eine Schließbewegung der Artikulatoren entspricht, dient.

Folgende Tabelle veranschaulicht mehrere einschlägige Fälle:

Onset Nukleus Koda Onset Nukleus

langer Buchstabelautlicher Verschluss

kurzer Buchstabelautliche Öffnung

leer oder kurz langer Buchstabelautlicher Verschluss

kurzer Buchstabelautliche Öffnung

b e t e

k e r l e

t ö n e

k e n n e

f a l t e

f a h r e

Naumanns Hypothese der graphetischen Onsetvisualisierung ist empirisch nur partiell erfüllt.

Bei Wörtern wie <töne> oder <kenne> wird der Onset der zweiten Silbe visuell durch Länge

gar nicht angezeigt. Bei Wörtern wie <falte> wird er nicht eindeutig angezeigt. Bei Wörtern

wie <fahre> enthält fälschlicherweise die Koda der ersten Silbe und nicht der Onset der

zweiten Silbe die Länge. Die Probleme ergeben sich aus der Annahme Naumanns, dass es auf

das lange Vexillum der C-Buchstaben und den Silbenanfang ankommt. C-Buchstaben sind

jedoch in ihrer Länge unterschiedlich und außerdem kommen sie nicht nur im Onset vor. Aus

diesem Grund können sie den Silbenanfang durch Länge nicht immer eindeutig abbilden.

Hier wird dagegen die Auffassung vertreten, dass die visuelle Kennzeichnung des Silben-

gipfels zuverlässiger ist als die des Silbenanfangs. Folgende Beschränkung über den Silben-

gipfel gilt ausnahmslos:

(29) Der graphetische Silbengipfel darf das Mittelspatium nicht überschreiten. Nicht-native

Buchstaben / Grapheme (vgl. Lyrik, Physik) unterliegen dieser Beschränkung nicht.

Die Beschränkung gilt für Buchstaben und nicht für Diakritika (Trema, i-Punkt).

verfänglicher CV-Terminologie segmentaler und nicht silbenstruktureller Natur. In Ermangelung einer besserenTerminologie wird hier diese Mehrdeutigkeit in Kauf genommen.

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Diese Beschränkung lässt sich aus der allgemeineren Prominenzbeschränkung erklären, dass

der Silbengipfel unabhängig vom Realisationsmedium (Laut-, Schrift- oder Gebärdensprache)

das Wahrnehmungszentrum der Silbe bildet und im optimalen Fall nur mit wahrnehmungs-

prominenten Elementen assoziiert wird (vgl. (5) oben). Mediumspezifisch ist die binäre

Prominenzskala:

(30) Prominenzskala für die deutsche Schriftsprache: V-Segment > C-Segment (Buchstabe

oder Graphem)

Diese binäre Segmentklassifizierung liegt in der substanziellen Charakteristik der Schrift-

sprache begründet (vgl. Günther 1983), die in (31) zusammengefasst wird:

(31) Das schriftsprachliche Medium weist diskrete Einheiten auf. Schriftsprachliche

Prominenzskalen sind binär und diskret. Sie determinieren eine binäre silbische

Alternationsstruktur ohne Übergangselemente zwischen C und V. Diese starke

Binaritäts- und Diskretheitshypothese gilt uneingeschränkt für das nativ-deutsche

Schriftsystem.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die graphische Substanz der Alternations-

struktur in der Spatiumeinteilung bzw. Länge der Kleinbuchstaben liegt. Im Silbengipfel wird

das Mittelspatium, das Wahrnehmungszentrum der untersuchten Alphabetschrift, nicht

überschritten, in den Silbenrändern wird es sehr oft (aber nicht immer) überschritten. Es

handelt sich um eine binäre Alternation, die zur allgemeinen Diskretheit graphischer

Elemente gut passt. Aus dieser medialen Charakteristik ergibt sich die auf das Schriftsystem

bezogene binäre Klassifizierung in V- und C-Grapheme, wobei erstere die prominenten

Segmente sind.

5.2 Silbenstrukturelle Beschränkungen des deutschen Schriftsystems

Die Prominenzbeschränkung des Schriftsystems nimmt nicht direkt auf das Mittelspatium

Bezug, sondern auf die zwei Buchstaben- bzw. Graphemklassen. V-Grapheme belegen nur

das Mittelspatium, C-Grapheme sind nicht auf das Mittelspatium beschränkt, so dass die ein-

zige graphembezogene Generalisierung, die die graphetische Beschränkung (29) ausnahmslos

erfüllen kann, folgende ist:

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(32) Silbengipfel-Beschränkung in der deutschen Schriftsprache: Jeder graphematische

Silbengipfel (jede V-Position) ist mit einem V-Graphem assoziiert. Formal:

V !<V> <V> - V-Graphem, ! - Gebot

Aus (32) und der Binarität der graphematischen Prominenzskala folgt: Kein graphematischer

Silbengipfel ist mit einem C-Graphem assoziiert. (32) erfüllt die allgemeine Gipfel-Be-

schränkung (3), die die Besetzung des V-Gipfels fordert, sowie die allgemeine Prominenzbe-

schränkung (5a), die das Verbot der Gipfelfüllung mit einem nicht-prominenten Segment

(hier C-Graphem) über das Verbot der Gipfelfüllung mit einem prominenten Segment (hier

V-Graphem) stellt.

Wo zeigt sich (32) als eigenständige graphematische Beschränkung am deutlichsten? Es

gibt Wörter wie Atem, Eden und edel, deren Normalaussprache einen Konsonanten im Gipfel

der Reduktionssilbe enthält. Trotzdem können wir sie nicht so schreiben, wie wir sie

sprechen, weil dann ein C-Buchstabe im Silbengipfel erschiene. Vgl. (33):

(33) Konsonant im Gipfel einerReduktionssilbe (vgl. auch (13)):

Nur V-Graphem im Silbengipfel:

[a:tm#][e:dn#][e:dl!]

*<atm>

*<edn>

*<edl>

<atem>

<eden>

<edel>

Ein C-Graphem im Silbengipfel könnte wie bei <edl> lang ausfallen, was schon der graphe-

tischen Gipfelbeschränkung (29) widerspräche. Vgl. die graphetische Analyse der zwei

Optionen für die Verschriftung der Reduktionssilbe von [e:dl !] in (34):

(34)

*

Onset Gipfel Onset Gipfel Koda

d l d e l

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Eine weitere, zugegebenermaßen periphere Evidenz für die schriftsprachliche Eigenständig-

keit der Beschränkungen (29) und (32) sind phonologisch zweisilbige Formen, die standard-

sprachlich aus dem Bairischen entlehnt sind wie z. B. Dirndl oder Stubn. Sie werden zwei-

silbig ohne Schwa ausgesprochen und ohne <e> geschrieben. Die Absenz dieses zweiten V-

Graphems bedingt die graphematische Einsilbigkeit dieser Formen: sie dürfen am Zeilende

nicht getrennt werden.

Zusammenfassend kann man festhalten, dass die graphematische Prominenzbeschränkung

für Silbengipfel nie verletzt wird, und zwar auch dann nicht, wenn die Normalaussprache

eines Wortes eine Verletzung legitimieren würde.

Die schriftsprachliche Entsprechung der Prominenzbeschränkung für Silbenränder ist im

Deutschen folgende:

(35) Prominenzbeschränkung für Silbenränder in der deutschen Schriftsprache: Kein

graphematischer Silbenrand ist mit einem V-Graphem assoziiert. Formal:

CO/K

<V>

(35) ergibt sich von selbst aus der binären Prominenzskala, dem Alternationsgebot und der

Silbengipfelbeschränkung. Dass diese graphematische Beschränkung nicht aus der

Lautsprache abgeleitet werden kann, zeigt sich in Fällen, in denen phonologisch ein hoher

Vokal im Onset erscheinen kann, wie bei der zweisilbigen Aussprache von Nation, Ferien

oder graduell. Vgl. die phonologische Repräsentation in (21) oben, der (36) am ehesten

entspräche:

(36) <ω>|¯¯¯¯¯¯¯¯¯|σ σ

|¯¯¯| |¯¯¯¯|¯¯|O N O N K| /\ /\ /\ |C V C C C V C C| \/ | | \/ |

*<n a t i o n>

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Aber nicht (36), sondern (37), wo alle V-Grapheme im Nukleus erscheinen, garantiert, dass

<nati-on> am Zeilenende getrennt werden darf.16

(37) <ω>|¯¯¯¯¯¯|¯¯¯¯¯¯¯|σ σ σ

|¯¯¯| |¯¯¯| |¯¯¯|O N O N N K| /\ | /\ /\ |C V C C V C V C C| \/ | \/ \/ |

<n a t i o n>

Formen mit <qu> im Onset wie <quelle> oder <quark> verletzen die Randbeschränkung

nicht, wenn man <qu> wie üblich als C-Graphem klassifiziert und außerdem annimmt, dass

die segmentalen Silbenstrukturbeschränkungen - wie hier geschehen - graphembezogen zu

formulieren sind. Verletzungen von (35) findet man nur bei einigen wenigen Fremdwörtern,

darunter einigen Eigennamen mit <i> im Onset, z. B. Ion, ionisch, Iokaste, Iolanthe, Iota, Iod,

Maia (röm. Göttin). Diese Formen unterliegen einer deutlich erkennbaren Eindeutschungs-

tendenz im Sinne der Beschränkung (35), wie bspw. Jota, Jod, Maja, Aja ("Erzieherin" von

ital. aia) demonstrieren.

Die Prominenzbeschränkungen für graphematische Silbengipfel und Silbenränder sind

Spezialfälle der modalitätsneutralen Beschränkungen (5a, b). Substanzspezifisch ist die

Prominenzskala, in der kurze V-Einheiten, die nur das Mittelspatium füllen, prominenter sind

als C-Einheiten, die in ihrer Länge variieren. Außerdem ist die Binarität dieser Skala

charakteristisch für unsere Alphabetschrift. Aufgrund dieser substanziellen Charakteristik ist

eine graphematische Entsprechung der lautsprachlichen Sonoritätssequenzbeschränkung (vgl.

(22) oben), die feinere Prominenzabstufungen zwischen den einzelnen Skelettpositionen

fordert, nicht nachzuweisen. Nicht nur die bisherigen Beobachtungen, sondern auch die Daten

in (38) weisen darauf hin:

(38) a. <schön>, <mai-sche>, <che-mie>, <ro-chen>

b. <ihm>, <rohr>

c. <saal>, <moor>, <fee>

16 Dass bei Familie die Worttrennung <famili-e> nicht vorgenommen wird, liegt daran, dass ein einzelnerBuchstabe am Zeilenende nicht mehr Platz in Anspruch nimmt als der Trennungsstrich und dass ein einzelnerBuchstabe mit Trennungsstrich mehr Platz benötigt als ohne.

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In (38a) steigt die graphematische Prominenz (d. h. graphetische Kürze) wegen des

Buchstabens h zum Silbengipfel hin nicht stetig an. Unter der Annahme, dass

Prominenzbeschränkungen nicht auf die Buchstaben innerhalb eines Graphems greifen,

erweist sich diese Gruppe von Beispielen allerdings als nicht einschlägig. Die Beispiele in

(38b), in denen die graphematische Prominenz wegen des Buchstabens h vom Silbengipfel

weg nicht stetig abfällt, kann man jedoch nicht auf diese Weise wegerklären. Die Fälle in

(38c), für die angenommen wird (vgl. Primus 2000), dass der V-Dehnungsbuchstabe die

nukleare C-Position besetzt, zeigen, dass gar kein Prominenzabfall von der V-Position zur

nächsten C-Position stattfindet.

Eine weitere unterschiedliche Silbenstrukturerscheinung betrifft die oben eingeführten

Gelenkkonsonanten, die die deutsche Lautsprache charakterisieren. In der Graphematik sind

segmental überlappende Silbengrenzen nicht zu erwarten, und tatsächlich kommen

Silbengelenke hier nicht vor, worauf Peter Eisenberg in mehreren eingangs erwähnten

Arbeiten hingewiesen hat:

(39) Es gibt keine graphematischen Silbengelenke in der deutschen Schriftsprache.

(40) illustriert die diesbezüglichen Unterschiede zwischen der Laut- und Schriftsprache des

Deutschen:

(40) a. [ω] b. <ω>|¯¯¯¯¯¯¯| |¯¯¯¯¯¯¯|σ σ σ σ

|¯¯¯| |¯¯|¯¯| |¯¯¯| |¯¯|¯¯|O N O N K O N O N K| /\ | | | | /\ | | |C V C C V C C V C C V C| | \/ | | | | | | | |

[f a l ´ n] <f a l l e n>

Fremdwörter wie City oder Limit weisen eine phonologische Gelenkbildung auf, die in der

graphematischen Form nicht sichtbar markiert ist. Natürlich könnte man analog zur Phono-

logie auch in der Graphematik in solchen Fällen ein Silbengelenk ansetzen. Diese graphema-

tische Analyse wäre jedoch aufgrund der segmental distinkten Syllabierung <ci-ty> bzw. <li-

mit> unplausibel.

Eine weitere Beschränkung, die für den Unterschied in der Organisation der phonologi-

schen und graphematischen Silbe sehr aufschlussreich ist, betrifft die Syllabierung. Zunächst

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sei vermerkt, dass weder in der Phonologie noch in der Graphematik die wortinternen Silben-

grenzen hörbar oder sichtbar gemacht werden müssen. In der Schriftsprache syllabiert man

graphisch sichtbar nur bei der Worttrennung am Zeilenende. Die einschlägige Syllabierungs-

beschränkung, die in der graphematischen Forschung und in normativen Orthographien in

empirisch äquivalenter Formulierung mehrheitlich angenommen wird, ist folgende:

(41) Syllabierungsbeschränkung: Bei internuklearen C-Graphemen beginnt der nächste

Onset mit dem letzten C-Graphem.

Dass die schriftbasierte Beschränkung graphembezogen formuliert werden muss, zeigt die

Nichttrennbarkeit der Grapheme <sch> und <ch> in rascheln und Rachen. Auch die kom-

plexen Fremdgrapheme <ph>, <th> oder <rh> wie in Graphem, Äther oder Myrrhe sind nicht

zerlegbar. Die lautbasierte Syllabierungsbeschränkung (vgl. (24) oben) sei hier kurz in

Erinnerung gerufen: Bei internuklearen Konsonanten beginnt der nächste Onset mit dem

letzten Sonoritätsminimum. Auch hier zeigen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede

zwischen Laut- und Schriftsprache sehr deutlich. Beide Beschränkungen führen zur Vermei-

dung von VC-Silben zugunsten von CV-Silben (zur so genannten Onsetmaximierung). Die

Unterschiede sind substanzbedingt und resultieren aus der graduellen Sonoritätsskala der

Lautsprache und der binären Prominenzskala der Schriftsprache.

Der Unterschied zwischen der phonologischen und graphematischen Syllabierung tritt

nicht in Erscheinung, wenn dem letzten bzw. einzigen internuklearen C-Graphem phono-

logisch das letzte internukleare Sonoritätsminimum entspricht. Vgl. (42):

(42) <a-ber>, <tü-re>, <be-ten>

<hir-te>, <hir-se>, <bal-gen>, <hol-men>, <tun-ken>, <am-pel>

Einschlägig für den Unterschied zwischen phonologischer und graphematischer Syllabierung

sind Fälle, in denen dem letzten internuklearen Sonoritätsminimum nicht das letzte inter-

nukleare C-Graphem entspricht, vgl. (43):

(43) [vi:$driç], [duN$kl´], [kem$pf´]

*<wi-drig>, *<dun-kle>, *<käm-pfe>

<wid-rig>, <dunk-le>, <kämp-fe>

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Unterschiede ergeben sich auch aus der Existenz der oben besprochenen phonologischen

Silbengelenke. Eine phonologische Silbengrenze kann im Gegensatz zu einer

graphematischen Silbengrenze in einem Segment liegen (was hier einfachheitshalber linear

durch Unterstreichung notiert wird):

(44) [rat´], [kem´n], [siti], [limit]

<rat-te>, <käm-men>

<ci-ty>, <li-mit>

Die Domäne der Syllabierung ist eine Einheit, die gegebenenfalls kleiner ist als das syntak-

tische Wort. In der Phonologie ist der phonologische Wortbegriff (Abk. ω) relevant, wobei

Stämme, Präfixe und Suffixe mit anlautendem Konsonanten als phonologische Wörter zählen.

Die einschlägige Korrespondenzbeschränkung, die die lautsprachliche und graphematische

Syllabierungsbeschränkung dominiert, ist folgende:

(45) Jeder ω-Grenze entspricht eine Silbengrenze (aber nicht notwendigerweise auch um-

gekehrt).

Die folgenden Syllabierungen, die die graphematische Syllabierungsbeschränkung verletzen,

demonstrieren die Wirkung der Korrespondenzbeschränkung: <stand-ort>, <ab-ernten>, <an-

ekeln>.

Die graphematische Syllabierung wird nach Meinung vieler (vgl. Duden 1991, 1996) auch

bzw. in erster Linie durch die phonologische Syllabierungsbeschränkung bestimmt. Gemäß

dieser Auffassung fände bei der graphematischen Syllabierung eine Konkurrenz der Be-

schränkungen statt, die man mit den Methoden der Optimalitätstheorie (OT) genauer fassen

kann. Die OT geht von den folgenden Hypothesen aus (vgl. Prince/Smolensky 1993), die

auch in diesem Beitrag angenommen werden:

- Allgemeine (insbes. universelle) Beschränkungen sind verletzbar.

- Beschränkungen sind in einer sprachspezifischen Dominanzhierarchie geordnet.

- Was grammatisch bzw. korrekt oder akzeptabel ist oder nicht, wird aus der Menge aller

möglichen Kandidaten durch die Dominanzhierarchie der Beschränkungen determiniert.

Derjenige Kandidat gewinnt und ist somit grammatisch, der relativ zu den anderen Kandi-

daten die wenigsten Verletzungen hinsichtlich der dominantesten einschlägigen Beschrän-

kung aufweist. Dies erklärt, warum auch verletzbare Beschränkungen im Allgemeinen genau

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einen grammatisch korrekten Output haben. Für die Etablierung des optimalen Kandidaten

wurde ein Überprüfungsverfahren entwickelt, das die möglichen Kandidaten in einem

Tableau in der ersten Spalte aufreiht und spaltenweise die einschlägigen Beschränkungen von

links nach rechts gemäß ihrer Dominanzhierarchie anwendet.

In den folgenden Tableaus werden einige relevante Kandidaten (Syllabierungen eines

Inputs ohne Silbengrenze) evaluiert. Dabei kommt gemäß der Hypothese der normativen

Orthographie zunächst die phonologische Beschränkung und erst dann die graphematische

zum Zuge. Der gemäß dieser Dominanzhierarchie optimale Kandidat wird wie üblich in der

OT mit dem Handsymbol angezeigt, ein Kandidat, der eine Beschränkung verletzt, erhält ein

Sternsymbol. Eine orthographische Normverletzung wird durch ein Doppelkreuz markiert.

Tableau 1

EVAL <aber>

phonologische Beschränkung

(24)

graphematische Beschränkung

(41)

1. #<ab-er> *! *

2. !<a-ber>

Der Kandidat <ab-er> unterliegt schon aufgrund der phonologischen Beschränkung einer

fatalen Verletzung (*!), die zu seiner sofortigen Elimination aus dem Wettbewerb führt. Eine

Verletzung ist für einen Kandidaten fatal genau dann, wenn es weitere Kandidaten im

Wettbewerb gibt, die weder eine höherrangige noch die betreffende Beschränkung verletzen.

Bei einer fatalen Verletzung ist es unerheblich, ob der betreffende Kandidat weitere weniger

dominante Beschränkungen verletzt (s. Schraffierung). Diese Evaluation illustriert den Fall, in

dem die graphematische und die phonologische Beschränkung nicht miteinander konkurrieren

(vgl. auch (42) oben). Erst die nächste Evaluation, bei der die beiden Beschränkungen

miteinander konkurrieren (vgl. auch (43) oben) demonstriert, dass die Dominanzannahme der

normativen Orthographien nicht stimmen kann, weil man inkonsistente Ergebnisse (!#)

erzielt:

Tableau 2

EVAL <widrig>

phonologische Beschränkung

(24)

graphematische Beschränkung

(41)

1. <wid-rig> *!

2. !#<wi-drig> *

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Wenn die graphematische Beschränkung die phonologische dominiert, erhält man konsistente

Ergebnisse:

Tableau 3

EVAL <aber>

graphematische Beschränkung

(41)

phonologische Beschränkung

(24)

1. #<ab-er> *! *

2. !<a-ber>

Tableau 4

EVAL <widrig>

graphematische Beschränkung

(41)

phonologische Beschränkung

(24)

1. !<wid-rig> *

2. #<wi-drig> *!

Dieses Ergebnis schürt den Verdacht, dass die phonologische Syllabierung für die Graphe-

matik irrelevant ist (vgl. Günther 1992). Es könnte sich allerdings zeigen, dass die

phonologische Syllabierung in der Graphematik benötigt wird, wenn die graphematische

Syllabierungsbeschränkung nicht greift.17 Das sind Fälle, in denen eine V-Graphemfolge kein

dazwischen liegendes C-Graphem aufweist. In solchen Fällen ist die graphematische

Syllabierung mehrdeutig. Die folgende Zusammenstellung fasst graphematisch mehrdeutige

Fälle zusammen und liefert Belege für die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten:

<ai> a. Mai, Sai-te

b. A-i-da, A-ï-da

<ei> a. rei-ten, berei-ten, nei-den

b. re-i-terieren, Nere-i-de, Ne-re-ï-de

<ie> a. Tier

b. Ti-er von engl. "Schicht, Ebene"

<eu> a. Heu, Eu-ro

b. de-us

<eie> a. rei-ern, fei-ern

b. kre-ieren

17 Es gibt auch den umgekehrten Fall, in welchem die phonologische Beschränkung nicht greift, vgl. z. B. <ru-he>, <wei-he>, weil in der Lautsprache keine internukleare Konsonanz vorliegt (vgl. jedoch Ossner 1996, 2001,der hier ein /h/ in der zugrunde liegenden phonologischen Repräsentation postuliert).

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<oo> a. Zoo

b. zo-o in zootechnisch u. Ä.

<ee> a. scheel

b. re-ell

V-Buchstabenfolgen wie z. B. <ue> in Duell und <aue> in klauen und Frauen sind eindeutig,

weil <ue> keine Diphthonglesart hat. Eine Syllabierung mit einem zweifachen Hiat für <aue>

kommt ebenfalls nicht in Frage.

Man braucht für solche Fälle den Zugriff auf den Lexikoneintrag der entsprechenden Ein-

heiten. Denn auch die phonologische Silbentrennung ist in diesen Fällen nicht aus der ein-

schlägigen Beschränkung (24) ableitbar. Damit liefern diese Beispiele keinen Beweis, dass

ihre graphematische Silbentrennung einer regelgeleiteten phonologischen Syllabierung unter-

liegt. Mit Günther (1992) sollte man sich darüber hinaus die Frage stellen, ob es notwendiger-

weise die phonologische Teilkomponente der Lexikoneinträge ist, auf die beim graphemati-

schen Syllabieren zugegriffen wird. Dies setzt einen notwendig indirekten, über phonolo-

gisches Rekodieren vermittelten Lexikonzugriff voraus. Leseexperimente und Dyslexien

belegen jedoch, dass der indirekte Zugriff nicht immer stattfindet (vgl. Günther 1988, de

Bleser 1991). Aus diesem Grund sollte man Günthers Vorschlag folgen und annehmen, dass

die graphematische Lexikonkomponente die Syllabierungsinformation selbst liefert. Die Ver-

wendung des Tremas für die rein graphematische Lösung von Syllabierungsambiguitäten wie

in Aïda und Nereïde zeigt, dass dies ein plausibler Vorschlag ist.

Die bisher besprochene einfache Syllabierungsbeschränkung (41) wird durch zusätzliche

Normen ergänzt. So galt bis zur Neuregelung der deutschen Orthographie (vgl. Duden 1991)

ein Verbot der Abtrennung einzelner Buchstaben wie z. B. *<a-ber>, das aufgehoben wurde

(vgl. Duden 1996). Weiterhin bestand ein inzwischen aufgehobenes Verbot, die Graphem-

folge <st> wie in <has-ten> zu trennen. Dafür hat die Neuregelung die Untrennbarkeit der

Graphemfolge <ck> eingeführt, so dass *<bak-ken> nicht mehr normkonform ist. Auch für

Fremdwörter gelten Sonderregelungen. Man trennt in Fremdwörtern im Allgemeinen nicht

die Buchstabenfolgen, die einem Plosiv, nämlich [p, t, k, b, d, g], und einem Liquid, nämlich

[l, r], entsprechen, sowie <chth>, <gn> und <kn>. Dadurch ergaben sich bis zur Neuregelung

als einzige Trennmöglichkeiten <ta-blett>, <hy-drant>, <ere-chtheion> und <ma-gnet>. Die

Neuregelung wandelte dieses strikte Verbot in ein verletzbares um, womit sich eine zweite

Trennungsmöglichkeit nach der graphematischen Syllabierungsbeschränkung (41) ergibt,

nämlich <tab-lett>, <hyd-rant>, <erech-theion> und <mag-net>.

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In den bisherigen Betrachtungen zur Schreibsilbe wurde die nukleare C-Skelettposition

der graphematischen Vollsilbe vernachlässigt. Wie bereits erwähnt, gibt es in der deutschen

Lautsprache Evidenz, dass diese Position in Vollsilben einer erweiterten Nukleuskonstituente

zuzuschlagen ist. Der besondere Status dieser Skelettposition zeigt sich auch in der Graphe-

matik, allerdings in einer genuin graphematischen, von der Lautsprache unabhängigen Art

und Weise. Es ist die einzige Position, in der sowohl V- als auch C-Grapheme vorkommen,

wie z. B. die Minimalpaare <maat> - <matt>, <saat> - <satt> und <stiel> - <still> demonstrie-

ren. Außerdem gilt für sie folgende Komplexitätsbeschränkung:

(46) *Komplex-CN: In der nuklearen C-Position der Schreibsilbe ist ein komplexes

Graphem ausgeschlossen.

Komplexe Grapheme sind nicht nur <sch> oder <ch> wie in waschen oder lachen, sondern

auch Buchstaben mit Trema wie <ä> oder <ü>. Dass Buchstaben mit Trema ein komplexes

Graphem bilden, wird unten näher begründet. Aus (46) und der Annahme, dass das erste

Element einer C-Geminate, ein V-Dehnungsbuchstabe und der zweite Bestandteil eines

Diphthongs in der nuklearen C-Position platziert sind (vgl. Primus 2000), ergeben sich fol-

gende Spezialverbote für die nukleare C-Position sowie eine einheitliche Funktion des

Tremas von selbst:

i) V-Buchstaben mit Trema werden nicht verdoppelt;

ii) Der Umlautdiphthong wird <äu> statt *<aü> verschriftet;

iii) Das Trema kennzeichnet die nukleare V-Position;

iv) Komplexe Grapheme werden nicht geminiert;

Als erstes verbietet die Komplexitätsbeschränkung Geminata bzw. Dehnungsbuchstaben mit

Trema wie in *Sääle, *Häärchen oder *Böötchen.

Der zweite Spezialfall zeigt sich bei der Schreibung der Diphthonge. Die Lautsprache des

Deutschen verfügt über die drei Diphthonge /au/, /ai/ und /ay/, vgl. lauten, leiten und läuten.

Alternative oberflächenorientierte Notationen sind [ao], [ae] und [oy] oder [oø].18 Die

Variation bei der phonetischen Transkription der Diphthonge deckt schon ein erstes

phonologisches Problem auf. Die Aussprache des zweiten Bestandteils erreicht nicht das vom

Sprecher intendierte artikulatorische Ziel (vgl. Vennemann 1982: 275, Wiese 2000: 159), ein

18 In den Interjektionen hui und pfui kommt auch der Diphthong [ui] vor, den ich aber im Folgenden ver-nachlässige, weil seine Schreibung aus der phonologischen Form direkt ableitbar ist. Außerdem befolgt seinzweiter Bestandteil die einschlägigen Beschränkungen (46) und (50).

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für Diphthonge typisches Merkmal. Phonologisch ist jedoch davon auszugehen, dass die drei

Diphthonge den Höhenkontrast maximal ausschöpfen, vgl. folgendes Schema:

(47) VN CN | |

u a i

y [+tief] [+hoch] [-hoch] [-tief]

Die C-Position wird in einer linearen (d. h. nicht-strukturellen) Notation mittels eines diakri-

tischen Zeichens angegeben wie z. B. in [au$] oder [ai8]. Da die Korrespondenz zwischen

Lautsprache und Graphematik in der Regel durch zugrunde liegende phonologische Formen

determiniert ist (vgl. z. B. Prinz/Wiese 1990), sind oberflächenphonologische

Diphthongvarianten für die Verschriftung irrelevant.

Die Schreibung der lautsprachlichen Diphthonge ist innergraphematisch betrachtet sehr

systematisch (vgl. Eisenberg 1995: 66), was hier in der Distributionsbeschränkung (48)

zusammengefasst wird:

(48) VN CN | |<e> <i><a> <u><ä>

Alle vier möglichen Kombinationen mit <a> und <e>, nämlich <ei>, <eu>, <ai> und <au>,

werden ausgenützt und sonst gar keine (vgl. leiten, Leute, Saite, Seite und lauten). Der

Diphthongbestandteil <ä> ist morphologisch-paradigmatisch bedingt und lässt sich nur mit

<u> kombinieren, vgl. läuten (wegen laut und lauten).

Der Schreibdiphthong <äu> ist hier von besonderem Interesse. Die Behandlung des

Diphthongs /ay/ weicht von älteren Auffassungen ab und richtet sich nach Wiese (2000:

159f.). Hinsichtlich des ersten Bestandteils liefert Wiese mehrere Argumente für zugrunde

liegendes /a/ und gegen die traditionellere Annahme von [o]. Die Folge [oy] würde zwei

runde Vokale im Nukleus zusammenfügen, eine Vokalfolge, die es im Deutschen generell

nicht gibt, d. h. auch im morpheminternen Hiat nicht (vgl. jedoch Duo und Myom sowie zoo-

in zootechnisch). Der zweite Bestandteil ist hier bedeutsamer. Wie schon Kloeke (1982: 17)

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mit unabhängigen Argumenten belegt, kann die Umlautung (vgl. Baum - Bäume) nur den

zweiten Bestandteil betreffen, also [u] zu [y]. Die Umlautung von [a] ergibt nämlich nicht [o],

sondern [e], vgl. ich falle - du fällst. Aufgrund dieser Umlautbeschränkung müsste der

Diphthong als <aü> verschriftet werden. Entgegen der lautsprachlichen Vorgabe und gemäß

der Komplexitätsbeschränkung für die nukleare C-Position wird graphematisch nur der erste

Bestandteil umgelautet <äu> (vgl. auch <eu>). Übrigens belegt auch dieser Fall, was wir

schon von der Syllabierung wissen: phonologisch basierte Korrespondenzbeschränkungen

können innergraphematischen Beschränkungen im Wettbewerb unterliegen.

Die eingehendere Besprechung der Diphthonge lohnt sich, weil sie für eine weitere

Beschränkung der nuklearen C-Position einschlägig ist. Zunächst muss festgehalten werden,

dass die Klasse der Schreibdiphthonge größer ist, als die Korrespondenz zur Lautsprache

vorgibt. Die allgemeinste Auffassung ergibt sich aus der Definition (49):

(49) Ein Schreibdiphthong besteht aus zwei V-Graphemen im Nukleus derselben Silbe,

wobei das erste Graphem die V-Position und das zweite V-Graphem die C-Position

einnimmt.

Diese Definition ergibt im Deutschen 9 Schreibdiphthonge, wobei Eigennamen und

Fremdgraphien nicht berücksichtigt wurden:

<aa>, <ee>, <oo>, <ie>, <ei>, <ai>, <au>, <eu>, <äu>

Diese Auffassung erlaubt, die Dehnungsgraphie <ie> wie in viel oder Tier als Graphemfolge

(und nicht wie üblich als komplexes Graphem) zu behandeln und somit das Grapheminventar

des Deutschen zu vereinfachen. Die Nichttrennbarkeit dieser Einheit sowie aller Schreib-

diphthonge ergibt sich von selbst dadurch, dass ihre Bestandteile im Nukleus derselben Silbe

platziert sind. Die folgende Beschränkung regelt die lautsprachliche Funktion der

Schreibdiphthonge:

(50) V-Komplementarität in CN: Phonologisch nicht-korrespondierende (<a, e, o>) und

phonologisch korrespondierende V-Grapheme (<i, u>) sind in der nuklearen C-

Position komplementär verteilt.

Diese Beschränkung determiniert, dass den 5 Schreibdiphthongen <ei>, <ai>, <au>, <eu>,

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<äu> und nur diesen Lautdiphthonge entsprechen. Aus (50) folgt, dass nur <a>, <o> und <e>

als stumme V-Dehnungszeichen fungieren. Sie sind an den Schreibdiphthongen <aa>, <ee>,

<oo> und <ie> beteiligt. Eine weitere wichtige Funktion der Komplementaritätsbeschränkung

ist, dass sie erlaubt, die verschiedenen lautsprachlichen Funktionen von <a>, <o> und <e>

ohne Annahme einer Homographie zu erfassen. In der graphematischen V-Position sind diese

Grapheme phonologisch korrespondierend, <a> und <o> sogar eineindeutig (vgl. Primus

2000). In der nuklearen C-Position der Schreibsilbe sind sie stumm. In beiden Positionen

erscheint jeweils dasselbe Graphem <a>, <o> bzw. <e>.

Wenden wir uns nun dem dritten Spezialfall des Komplexitätsverbots für CN, der grund-

legenden Funktion des Tremas, zu. Das Trema gehört wie der i-Punkt zu den V-Diakritika,

d. h. zu den graphematischen Elementen, die selbst keine Buchstaben sind und vertikal über

oder unter Buchstaben angeordnet sind. Im Gegensatz zum i-Punkt ist das Trema selbst

distinktiv (vgl. falle - fälle, wurde - würde, schon - schön). Ein V-Buchstabe mit Trema wird

daher als komplexes Graphem behandelt (vgl. auch Gallmann 1985). Diese Behandlung ist

schon aus Ökonomiegründen vorzuziehen, weil es das Buchstabeninventar des Deutschen

reduziert. Wie wir bereits wissen, sind V-Grapheme im Silbenrand ausgeschlossen. Damit

kann auch das Trema nicht im Silbenrand erscheinen, so dass nur die beiden Nukleus-

positionen in Frage kommen. Aus dieser Annahme sowie aus dem Komplexitätsverbot für CN

ergibt sich als Korrolar, dass das Trema nur in der nuklearen V-Position der Schreibsilbe

vorkommt. Seine grundlegende Funktion ist daher die Kennzeichnung der nuklearen V-

Position. Dass seine Funktion nicht auf die Umlautschreibung begrenzt ist, zeigt sich

insbesondere im Diphthong <äu>, wo - wie bereits erwähnt - die lautsprachliche Umlautform

zu <aü> führen würde. Außerdem wird die grundlegende Funktion durch Schreibungen wie

Aïda oder Nereïde belegt, in der gar keine lautsprachliche Umlautung, aber eine mehrdeutige

Syllabierung vorliegt, die das Trema auflöst.

Der vierte Spezialfall der Komplexitätsbeschränkung für CN ist das Verbot der C-

Gemination komplexer Grapheme, vgl. *waschschen - waschen, *lachchen - lachen. Es

erfasst auch nicht-native komplexe Grapheme, vgl. *Myrhrhe - Myrrhe. Dieses Verbot wurde

in der bisherigen Forschung vielerorts in dieser oder einer ähnlichen, empirisch gleich-

wertigen Formulierung als eigenständige Beschränkung behandelt. Die Voraussetzung für die

Behandlung dieses Verbots als Spezialfall der allgemeineren Komplexitätsbeschränkung sind

silbenstrukturelle graphematische Repräsentationen, die in der bisherigen Forschung nicht

selbstverständlich sind. Außerdem muss angenommen werden, dass das erste Element einer

C-Geminate, ein V-Dehnungsbuchstabe und der zweite Bestandteil eines Diphthongs in

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derselben Skelettposition platziert sind. Ob diese Position dem Nukleus im weiteren Sinn

zugeschlagen wird oder nicht, ist eine davon unabhängige Entscheidung.

Diese Entscheidung wird hier für die Graphematik mit dem besonderen Status dieser

Position begründet, die schon in der Komplexitätsbeschränkung zu Tage tritt. Ihr Sonderstatus

manifestiert sich darin, dass sie die einzige silbenstrukturelle Position ist, in der sowohl V-

Grapheme als auch C-Grapheme zugelassen sind. Sonst sind V- und C-Grapheme silben-

strukturell eindeutig verteilt. Außerdem handelt es sich um eine Position, für die Korrespon-

denzbeschränkungen zur Lautsprache nicht greifen. Hier kommen lautsprachlich nicht

realisierte V-Dehnungsbuchstaben und stumme erste Bestandteile von C-Geminaten vor. Dass

der erste Bestandteil einer C-Geminate im Gegensatz zum zweiten Bestandteil nicht den

einschlägigen Korrespondenzbeschränkungen unterliegt, belegen auch die Sonderfälle <ck>,

<tz> und <dt> wie in backen, hetzen und Städte. Die Korrespondenz einer C-Geminate zur

phonologischen Form wird nur durch das zweite Element bestimmt, das entweder, wie soeben

belegt, im Onset der nächsten Silbe oder in der Koda wie in back, Hatz oder Stadt platziert ist.

Für die laufende Argumentation ist die lautsprachliche Entsprechung der graphematischen C-

Gemination, nämlich die Kennzeichnung eines vorangehenden betonten Kurzvokals oder

einer lautsprachlichen Gelenkbildung, die in der Forschung recht hitzig debattiert wird (vgl.

Ramers 1999, Eisenberg 1999), nicht unmittelbar von Interesse.

Das Komplexitätsverbot für die die nukleare C-Position konkurriert mit der graphema-

tischen Entsprechung des lautsprachlichen Verzweigungsgebots für diese Position in

Vollsilben (vgl. Ramers 1998b, Primus 2000). Es wird in (51) formuliert:

(51) Graphematisches Verzweigungsgebot im Deutschen: Der Nukleus einer Vollsilbe hat

zwei Skelettpositionen, die segmental assoziiert sein müssen.

(51) erzwingt für den Lexikoneintrag von Tag und Tage die silbenstrukturelle graphematische

Repräsentation in (52a), die perfekt mit der zugrunde liegenden lautsprachlichen Repräsen-

tation in (52b) korrespondiert:

(52) a. <σ> b. /σ/|¯¯¯|¯¯¯| |¯¯¯|¯¯¯|O N K O N K| /\ | | /\ |C V C C C V C C| \/ | | \/ |

<t a g> /t a g/

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Die lautsprachliche Realisierung von /ta:g/ als [ta:k] wird durch die Auslautverhärtung

geregelt. Wie bereits bei den Diphthongen erwähnt, nehmen Korrespondenzbeschränkungen

des Schriftsystems im Allgemeinen auf zugrunde liegende phonologische Repräsentationen

Bezug, so dass diese Realisationsform für die Verschriftung irrelevant ist. Für Formen mit

einfachem Kurzvokal erzwingt das Verzweigungsgebot, dass das nachfolgende C-Graphem

mit der nuklearen C-Position assoziiert wird, wie z. B. in wirr und wird.

Der Konkurrenzfall zwischen Komplexitätsverbot und Verzweigungsgebot tritt in Fällen

wie Bach, lachen, rasch oder waschen ein. Da der Nukleusvokal der Vollsilbe in der

Lautsprache kurz ist, darf der entsprechende V-Buchstabe nicht in der nuklearen C-Position

erscheinen. Diese Position muss wegen des Verzweigungsgebots allerdings besetzt werden.

Wegen der Komplexitätsbeschränkung kann das komplexe C-Graphem nicht in dieser

Position erscheinen. Hier liegt also ein Beschränkungskonflikt vor. Dass sich das Komp-

lexitätsverbot gegenüber dem Verzweigungsgebot durchsetzt, belegt die Syllabierung solcher

Formen, z. B. <la-chen>, <wa-schen>, in denen das komplexe Graphem eindeutig im Onset

steht. Dass das graphematische Verzweigungsgebot - im Gegensatz zu seiner lautsprachlichen

Entsprechung im Ansatz von Wiese (1986, 2000) und Becker (1996a, b) - verletzbar ist,

demonstriert auch die bereits erwähnte unterbliebene C-Gemination in Fremdwörtern wie

Limit oder City (vgl. (44) oben). In diesen Fällen dominiert ein Treue-Gebot hinsichtlich der

quellsprachlichen Form (engl. limit, city) das Verzweigungsgebot und blockiert damit die C-

Gemination für den phonologisch ambisilbischen Konsonanten. Es ist plausibel anzunehmen,

dass in Fällen wie lachen oder Limit die nukleare C-Position segmental nicht assoziiert ist und

als überflüssiger Knoten eliminiert wird.

Im folgenden OT-Tableau werden einige einschlägige phonographisch mögliche Schrei-

bungen und Syllabierungen für [laxn #] hinsichtlich der wichtigsten besprochenen graphe-

matischen Silbenstrukturbeschränkungen evaluiert:

Tableau 5

EVAL [laxn#]

undominierte Beschränkungen N-Verzweigungsgebot

1. <lach-chen> *! *Komplex-CN

2. <lach-en> **! *Komplex- CN, Syllabierung

3. <lachen> *! *Silbengelenk

4. <la-chn> *! *<C>-Silbengipfel *

5. !<la-chen> *

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Die Beschränkungen in der linken Spalte sind undominiert, womit in der OT ihre Unverletz-

barkeit erfasst wird.

Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung zur Schreibsilbe im Deutschen werden in

der folgenden Synopse zusammengefasst:

Onset Nukleus Koda

C-Position(en) V-Position C-Position C-Position(en)

C/*V-Graphem

Bei internuklearen C-Graphemen genau einC-Graphem

V/*C-Graphem

Trema-Position

V/C-Graphem

Kein komplexesGraphem

<i, u> mit Lautwert<a,e,o> ohne Lautwert

C/*V-Graphem

Keine Silbengelenke

Die Synopse fasst die wichtigsten Beschränkungen, die die Schreibsilbe im Deutschen

determinieren, in vereinfachter Formulierung zusammen. Sie verdeutlicht, dass die Orga-

nisation der Schreibsilbe im Deutschen den modalitätsneutralen Beschränkungen (vgl. (3)-(5)

oben) folgt. Modalitätsspezifisch ist die binäre Prominenzskala. Auf der Grundlage einer

solchen Skala fallen graphematische Silbenbeschränkungen besonders einfach aus: Der

Silbengipfel muss mit genau einem prominenten Segment, nämlich einem V-Graphem,

assoziiert sein, das wiederum im Silbenrand ausgeschlossen ist. Die Relevanz der binären

Prominenzskala und die Gipfelbeschränkung reichen schon aus, um vorauszusagen, dass nur

C-Grapheme im Silbenrand zugelassen sind. Bei der Syllabierung wird sichergestellt, dass

eine CV-Silbe mit genau einem Silbenrand-Segment entsteht. Auf eine einfachere Art und

Weise kann man die modalitätsneutralen Beschränkungen kaum erfüllen. Anders formuliert:

eine einfachere Alternationsstruktur kann man mit sprachlichen Mitteln kaum erzeugen. Die

Besonderheit des Deutschen zeigte sich im Sonderstatus der nuklearen C-Position.

Alle hier eingeführten Beschränkungen sind genuin graphematische Erscheinungen, die

für die Eigenständigkeit der graphematischen silbischen CV- und Konstituentenschicht

sprechen und nicht aus lautsprachlichen Beschränkungen abgeleitet werden können. Das

schließt im Sinne der Korrespondenztheorie nicht aus, dass zwischen graphematischen und

phonologischen Repräsentationen Korrespondenzen bestehen. Entgegen der Meinung von

Vertretern der Ableitbarkeitshypothese, die ihnen einen peripheren, linguistisch uninteressan-

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ten Status zuweisen,19 sind graphematische Beschränkungen sehr umfassend und einige von

ihnen sind unverletzbar. Manche dominieren die entsprechenden lautbasierten Beschränkun-

gen. Außerdem braucht man eigenständige silbenstrukturelle graphematische Repräsenta-

tionen für eine adäquatere Behandlung der Korrespondenzen zwischen Schrift- und

Lautsprache. So benötigt man sie, um die eineindeutigen Korrespondenzen für die V-Position

(vgl. Primus 2000), die Komplementarität der V-Grapheme in der nuklearen C-Position und

die grundlegende Funktion des Tremas in ihrer einfachen allgemeinen Systematik zu erklären,

um nur einige Beispiele zu nennen. Ohne Bezug zu silbenstrukturellen Einheiten kann man

weder die innergraphematischen Distributionsbeschränkungen der Segmente noch ihre

Korrespondenz zur Lautsprache angemessen behandeln.

6. Zusammenfassung und Ausblick

Der vorliegende Beitrag nimmt die strukturalistische Hypothese von Saussure (1969: 146),

dass "Sprache eine Form und nicht eine Substanz" sei, ernster, als in der bisherigen Forschung

geschehen. Dabei versteht Saussure unter Form natürlich Struktur und fasst Sprache als

Algebra, als Netzwerk von Relationen, auf. Nach dieser Auffassung, die sich in der

Linguistengemeinschaft gut etabliert hat, ist Sprache ein kombinatorisches System, in

welchem einige wenige Grundbausteine zu immer komplexeren Einheiten nach einfachen

allgemeinen Strukturierungsprinzipien verknüpft werden. Dabei sollte die mediumabhängige

Substanz keinen Einfluss auf solche Prinzipien haben. Saussure selbst hat seine Annahme

nicht in die Praxis umgesetzt und verteidigte (zur damaligen Zeit vielleicht mit gutem Grund)

das Primat der Lautsprache. Es ist jedoch klar, dass man zu substanzunabhängigen Struktur-

gesetzen nicht durch die Untersuchung eines einzigen Mediums vorstoßen kann.

Neuere Forschungsergebnisse zur Gebärdensprache und Schriftsprache sowie die schon

länger zurückliegenden Erkenntnisse zur Lautsprache ermöglichten den hier gewagten

Vorstoß ausgerechnet für eine Struktureinheit, die auch in der Phonologie erst Anfang der

80er Jahre den Durchbruch geschafft hat: die Silbe.

Sehr gut untersucht und eingehender behandelt werden konnte nur die Silbenstruktur des

Deutschen in den drei Modalitäten, wobei Forschungsergebnisse über andere Sprachen

implizit (hinsichtlich der Amerikanischen Gebärdensprache auch explizit) mitberücksichtigt

19 Vgl. Ossner (1996, 2001) für diese Auffassung im Sinne der Ableitbarkeitshypothese und die Kritik inNeef/Primus (2001).

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wurden. Das Deutsche ist ein vielversprechender Untersuchungsgegenstand, weil die

Relevanz silbenstruktureller Einheiten in allen drei Modalitäten inzwischen gut untersucht

und empirisch gesichert ist. Dementsprechend konnte der vorliegende Beitrag für die

Lautsprache auf zuverlässige Ergebnisse zurückgreifen. Das gilt auch für die Darstellung der

gebärdensprachlichen Silbenstruktur. Ganz anders verhält es sich mit der Struktur der

Schreibsilbe. Ihre Eigenständigkeit ist noch immer umstritten und präzisere, formale silben-

strukturelle Repräsentationen gibt es auch nur in jüngster Zeit. Nur einige der hier vor-

gestellten graphematischen Beschränkungen finden sich - wie im Text an entsprechender

Stelle angegeben - bei anderen Autoren, allerdings oft in einer erheblich differierenden

Formulierung, die keinen Bezug zu silbenstrukturellen Gegebenheiten erkennen lässt.

Ein wichtiges Ziel des vorliegenden Beitrags war der Modalitätenvergleich und der Ver-

such, modalitätsneutrale Aspekte der Silbenstruktur zu erarbeiten und von substanzbasierten

Aspekten zu trennen. Die vorgefundenen Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der

Organisation der Silbe in den drei Modalitäten führten zur Annahme eines verzweigenden

Schnittstellenmodells. In diesem Modell sind die drei modalitätsspezifischen Sprachsysteme,

die Laut-, Schrift- und Gebärdensprache, Schnittstellen-Phänomene, die durch das artikula-

torisch-auditive, schreibmotorisch-visuelle bzw. gestisch-visuelle System mitbestimmt

werden. Angewandt auf die Silbe bedeutet dies, dass es ein modalitätsunabhängiges

Strukturprinzip gibt, das Einheitenklassen der untersten syntagmatischen Ebene zu größeren

Einheiten innerhalb eines Wortes verknüpft. Daraus erklären sich systematische

Gemeinsamkeiten der Silbenstruktur in der Laut-, Schrift- und Gebärdensprache. Es gibt

andererseits systematische substanzbedingte Unterschiede.

Die mediumübergreifende definierende Eigenschaft der Silbe ist ihre Alternationsstruktur.

Sie lässt sich im Rahmen neuerer Ansätze auf der Ebene der Skelettschicht als CV-Alterna-

tion modellieren. Auf der Basis eines allgemeinen Silbenschemas lassen sich die wichtigsten

Subdomänen der Silbe, Onset, Nukleus und Koda, bestimmen und als Konstituentenstruktur

darstellen. Der Nukleus ist die konstitutive Einheit, für die nur wahrnehmungsprominente

Segmente in Frage kommen. Die Alternationsstruktur verlangt jedoch auch die Besetzung

eines Silbenrandes und zwar mit einem weniger wahrnehmungsprominenten Segment. Die

einfachste Alternationsstruktur kommt mit genau zwei Segmentklassen, die sich in ihrer

Prominenz unterscheiden, aus. Modalitätsneutrale Beschränkungen auf dem theoretischen

Hintergrund der Optimalitätstheorie präzisierten diese Annahmen.

Der Begriff der Prominenz wurde als modalitätsneutraler Begriff dem lautsprachlich

geprägten Sonoritätsbegriff vorgezogen. Prominenzunterscheidungen können binär oder

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mehrgliedrig skalar ausfallen. Wie sich Prominenz substanziell manifestiert, hängt von der

Sprachmodalität ab. In der Lautsprache erscheint sie als Sonoritätsunterscheidung, in der

Gebärdensprache als Dynamizitätsunterscheidung (Bewegung vs. Position) und in der unter-

suchten alphabetischen Schriftsprache manifestiert sie sich in der Spatiumeinteilung der

Kleinbuchstaben. Wieviele Prominenzunterscheidungen vorliegen, ist grundsätzlich einzel-

sprachlich geregelt. Keine der aufgestellten modalitätsneutralen Beschränkungen setzt daher

eine bestimmte Prominenzunterscheidung voraus. Es ist aber klar, dass eine sprachlich mani-

feste Alternationsstruktur mindestens eine binäre Unterscheidung der Segmente voraussetzt.

Verschiedene Prominenzunterscheidungen sorgen für Sprachvariation entlang zweier Achsen:

hinsichtlich unterschiedlicher Modalitäten (z. B. deutsche Laut- vs. Gebärdensprache) und

hinsichtlich verschiedener Einzelsprachen innerhalb einer Modalität (z. B. deutsche vs.

amerikanische Gebärdensprache).

Im vorliegenden Beitrag wurden allgemeinere modalitätsspezifische Hypothesen über

Prominenzunterscheidungen getroffen. Denn es gibt Modalitäten, die substanzbedingt die

Bildung fein abgestufter, mehrgliedriger Skalen ermöglichen und somit favorisieren, und

Modalitäten, die sie eher verhindern. Das lautsprachliche Medium befindet sich auf der

mehrgliedrigen skalaren Seite, das alphabetische Schriftmedium auf der binären Seite.

In der Lautsprache sind substanzbedingt aufgrund der ausgeprägten Kontinuität und

Simultaneität der Artikulations- und Schallereignisse sehr differenzierte Sonoritätsskalen

möglich. Die feinmotorisch genau abstimmbaren, sehr beweglichen Artikulatoren er-

möglichen darüber hinaus sequenziell recht komplexe Silbenstrukturen. Diese substanz-

basierten Gegebenheiten können sich in der Silbenphonologie einer Lautsprache, z. B. des

Deutschen, manifestieren. Sie zeigen sich vor allem in Beschränkungen, die auf

überlappende, graduelle, fein abgestufte Unterschiede Bezug nehmen. Ich erinnere an die

Sonoritätssequenzbeschränkung, an die Syllabierungsbeschränkung und an die Gelenkbildung

im Deutschen. Hier sind Begriffe wie stetiger Sonoritätsanstieg bzw. -abfall oder Sonoritäts-

minimum und segmental unzerlegbare Silbengrenzen (Gelenke) im Einsatz.

Die alphabetisch-schriftsprachliche Substanz bietet keine Grundlage für derartig fein

abgestufte Prominenzunterscheidungen. Unsere Buchstabenschrift verfügt über diskrete

Einheiten. Hier kommt nur eine mit der Spatiumeinteilung der Kleinbuchstaben korrelierende

binäre Klassifizierung in V- und C-Graphemen zum Tragen. Dementsprechend fallen die

graphematischen Beschränkungen des Deutschen, die auf diese binäre Unterscheidung Bezug

nehmen, sehr einfach aus: Im Silbengipfel kommen nur V-Grapheme vor, im Silbenrand sind

sie ausgeschlossen. Gelenkbildung gibt es nicht, und die Syllabierungsbeschränkung zählt

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unterschiedlos alle internuklearen C-Grapheme ab und schlägt das letzte C-Graphem zur

nächsten Silbe. Graduelle Begriffe kommen nicht zum Zuge.

Die Substanz der Gebärdensprache hat Eigenschaften, die sie hinsichtlich der zu erwarten-

den Prominenzunterscheidungen zwischen Laut- und Schriftsprache rangieren lässt. Position

und Bewegung, die grundlegende Prominenzunterscheidung der Gebärdensprache, können

simultan realisiert werden, wodurch mehrgliedrige Skalen entstehen können. Dabei ist die

gebärdensprachliche Artikulation bei weitem langsamer und aufwendiger als die lautsprach-

liche. Wenn man diese substanzbedingten Besonderheiten mitberücksichtigt, ist es nicht über-

raschend, dass paradigmatische Prominenzbeschränkungen zwar eine mehrgliedrige Skala

ausnützen, aber die sequenzielle Struktur der Silbe sehr einfach ist und keiner sequenziellen

Sonoritätsbeschränkung unterliegt. Auch die sequenzielle Struktur der Lexeme ist sehr

einfach; sie sind bevorzugt einsilbig.

Das hier propagierte verzweigende Schnittstellenmodell lässt zwei Quellen für Gemein-

samkeiten in der Organisation der Silbe erkennen: modalitätsneutrale Beschränkungen und

intermediale Korrespondenzen. Beim jetzigen Forschungsstand fällt es manchmal schwer,

eine Einordnung zu treffen. In der Laut- und Schriftsprache ist CV bzw. Rand-Gipfel

gegenüber VC bzw. Gipfel-Rand bevorzugt. Die intermediale Korrespondenz zwischen Laut-

und Schriftsprache könnte diese parallele Bevorzugung erklären. Vielleicht liegt aber auch

eine noch nicht erkannte gemeinsame modalitätsneutrale Beschränkung vor.

Der vorliegende Beitrag hat sich auf systembezogene Evidenz für das verzweigende

Schnittstellenmodell konzentriert und dabei auch nur das Deutsche eingehender untersucht.

Weitere modalitätsvergleichende Untersuchungen über andere Sprachen sind erforderlich, um

das Modell empirisch abzusichern oder zu korrigieren. Es gibt auch psycholinguistische

Untersuchungen, die dieses Modell attraktiv erscheinen lassen. Mehrere Studien, die die Lese-

und Schreibfähigkeiten absoluter, von Geburt an Gehörlosen untersuchten (vgl. Hanson et al.

1983, Hanson 1986, Nottbusch/Weingarten 2001), sprechen deutlich für die Annahme einer

abstrakten hierarchischen "phonologischen" Repräsentation. Diese Studien schließen einen

Einfluss subvokaler Artikulation oder visueller Schemata auf die hierarchischen Muster aus.

Dass die erwähnten Autoren diese abstrakte Kompetenz "phonologisch" nennen, hängt mit

der lautbasierten terminologischen Tradition zusammen und soll nicht darüber

hinwegtäuschen, dass sie substanzunabhängig zu sein scheint. Diese Ergebnisse sowie andere

bereits erwähnte psycholinguistische Untersuchungen über die Gebärdensprache von

Gehörlosen (vgl. Leuninger et al. 2001) belegen auch aus psycholinguistischer Perspektive

die Annahme einer modalitätsneutralen, nicht notwendigerweise lautsprachlich

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substanziierten "phonologischen" Kompetenz. Andererseits ist klar, dass die untersuchten

Sprecher auch über eine modalitätsspezifische phonologische Kompetenz verfügen bzw. im

Falle der absoluten Gehörlosen darüber nicht verfügen.

Die empirisch nachweisbare Unterscheidung zwischen abstraktem substanzunabhängigem

Sprachwissen und substanzbasiertem Sprachwissen kann nicht dadurch adäquat erfasst

werden, dass man die Strukturgesetze einer Modalität einer anderen Modalität vollständig

aufoktroyiert. In der Schriftsystemforschung führte dieses Verfahren zur Hypothese des

absoluten Primats der Lautsprache und zu derivationellen Modellen der Schriftsprache. Auch

die Erforschung der Gebärdensprache wurde durch die Annahme des Primats der Lautsprache

eher behindert als gefördert. Das hier postulierte verzweigende Schnittstellenmodell kommt

mit den empirischen Befunden besser zurecht als derivationelle Modelle, die die Lautsprache

als zugrunde liegendes primäres System behandeln. Außerdem eröffnet es auch für den

theoretisch Interessierten die Möglichkeit, zu sehr allgemeinen substanzunabhängigen

Strukturprinzipien vorzustoßen.

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