Date post: | 07-Feb-2023 |
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Astrid Nunn
Körperkonzeption in der altorientalischen Kunst
Einleitung
Gilgameš ist „hochgewachsen“ (I, 37), „numdimud vollendete meisterhaft
seine Gestalt. Jener ist strotzend an Kraft und von strahlender Schönheit,
stattlich ist seine Statur […] Bartbewachsen seine Wangen, wie Lapislazuli
schimmernd sein Bart, seiner Haarmähne Locken sprießen so üppig hervor
wie Nissaba selbst. Als er heranwuchs, ward er in seiner Lebensfülle voll-
kommen. Wunderschön war er gebaut, wie es der Erde angemessen“ (I, 50–
62).1
Gilgamešens Aussehen ist bewundernswert, weil er groß, kräftig und
schön ist und weil er einen gepflegten und lockigen Bart und üppige Haare
besitzt. In Bildern wirken noch heute einige Gestalten wie Naram-Sîn auf
seiner Stele (Abb. 1) oder Assurbanipal auf seinen Orthostaten draufgänge-
risch, entschlossen und stark, kurzum männlich. Die meisten altorientali-
schen Menschenbilder vermitteln jedoch heute einen anderen, statischeren
Eindruck. Allein am Beispiel der Naram-Sîn Stele wird deutlich, dass Form
oder Aussehen den Altorientalen nur in dem Maße interessierten, wie sie
einen bestimmten Inhalt vermitteln konnten. Die Aussage ist das wichtigste,
sie ist kontextabhängig und kann lediglich durch die Inszenierung oder
Attribute klar werden. Die Aussage, Naram-Sîn ist ein starker und erfolg-
reicher König, begreifen wir heute noch, auch ohne zusätzliche Kenntnisse
über schriftliche Quellen. Ein statisch wirkendes Bild vermittelt andere
genau so wichtige Qualitäten, die für uns heutige Betrachter verborgener
bleiben, deren wir uns aber über Texte nähern können.
Zahlreiche Studien der Kunstgeschichte, der Anthropologie und der Phi-
losophie haben gezeigt, dass der Körper ein sozio-kulturelles Konstrukt ist.
Er wird als Mittel eingesetzt, um verschiedenes zu bewirken.2 Was hat den
altorientalischen Betrachter interessiert? Wie wurde der Körper in den
altorientalischen Bildern eingesetzt, was sollte er ausdrücken und was er-
kennen wir heute? Gibt es schon im Alten Orient unterschiedliche bildliche
1 MAUL, S., Das Gilgamesch-Epos, München 2005, 47f.
2 BAHRANI, Z., Women of Babylon. Gender and representation in Mesopotamia, London 2001, u.a.
40ff; ASHER-GRAEVE, J., The Essential Body: Mesopotamian Conceptions of the Gendered Body,
in: WYKE, M. (Hg.), Gender and the Body in the Ancient Mediterranean, Oxford, 1998, 8–37.
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Körperauffassungen oder lediglich unterschiedliche kontextabhängige Ab-
sichten?
Um altorientalische Vorstellungen zum menschlichen Körper zu erarbei-
ten, wäre eine Auswertung der schriftlichen altorientalischen Quellen über
den idealen oder den realen Körper und eine Analyse der bildlichen Wie-
dergabe am ertragreichsten. Danach sollte man beide Standpunkte verglei-
chen. Ich kann diesem Ansatz leider nur sehr oberflächlich gerecht werden.
Auf der einen Seite sind Abhandlungen, in denen das sumerische und akka-
dische Vokabular um den Körper analysiert wird, selten.3 Zum anderen
müsste ich über mehr Zeit verfügen, um unzählige Details an den aussage-
kräftigen Bildern – es handelt sich vor allem um altorientalische Terrakot-
ten, Statuen, Stelen und Orthostaten aus den vier vorchristlichen Jahrtau-
senden – zu verifizieren. So werde ich vor allem versuchen herauszufinden,
wie sich der altorientalische Mensch sah, wie er sich darstellen wollte und
wie wir ihn heute wahrnehmen.
Sprache und Bild
Der Körper wurde in der altorientalischen Literatur nicht „wissenschaftlich“
beschrieben. Dafür gibt es Vergleiche und Metaphern. Ein Vergleich wäre
„der Held ist wie ein Löwe“ und eine Metapher „der Held ist ein Löwe“.4
Dabei ist der Held der Bildempfänger und der Löwe der Bildspender. Bei
der Metapher kann der Bildempfänger wegbleiben. So kann man Löwe
sagen und Held meinen. Ein Tertium comparationis, also eine Bezeichnung
dessen, womit sich Held und Löwe gleichen – Stärke, Mut – fehlt meist.
Das Wissen darüber wurde vom altorientalischen Hörer oder Leser voraus-
gesetzt. Die Auswertung der Vergleiche und Metaphern in den epischen
Texten weist eine kleine Zahl auf (Anm. 4). Auch Liebeslieder, in denen
man erwarten könnte, dass die Beschreibung des geliebten Wesens Bilder
hervorruft, beschränken sich auf immer wiederkehrende Vergleiche, die den
Körper allgemein betreffen. Vermutlich genau so körper- wie charakterbe-
zogen sind Beschreibungen Inannas als „Löwin der Schlacht“ oder Dumu-
zis, Inannas Liebhaber, als „wilder Stier“. Die liebende Inanna ist bunt wie
3 Das Vokabular der Körperteile wurde von DHORME, E., L'emploi métaphorique des noms de
parties du corps en hébreu et en akkadien, Paris 1923 und OPPENHEIM, A.L., Idiomatic Accadian,
JAOS 61, 1941, 251–271 bearbeitet. ULRIKE STEINERT, der ich für ein anregendes Gespräch und
Literaturhinweise danke, bearbeitet dieses Thema in ihrer Dissertation „Altmesopotamische
Vorstellungen über die menschliche Person in Texten des 1. und 2. Jh. v.Chr.“ neu. Der kulturhis-
torische Aspekt ist bei WINTER, I., Aesthetics in Ancient Mesopotamian Art, in: SASSON, J. u.a.
(Hg.), Civilizations of the Ancient Near East 4, 1995, 2569–2580, angesprochen. 4 STRECK, M.P., Die Bildersprache der akkadischen Epik, AOAT 264, 1999, 31, 33f.
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ein Kornhaufen und ein Kanal mit funkelnden Strömen, Dumuzi ist ein
blühender Apfelbaumgarten, ein Obstgarten und aus Alabaster, Elfenbein
oder glänzendem Metall gemacht. Seine Mähne ähnelt einer Dattelpalme,
sein zottiger Hals einer Tamariske, sein Bart ist aus Lapislazuli. Der männ-
liche Körper ist „süß wie Honig“, „hochgewachsen wie ein Baum“ oder
„stark wie ein Baum, der am Wasser gepflanzt wurde“. Am häufigsten wer-
den die Haare beschrieben. Sie sind „hell wie eine Dattelpalme“, „gefloch-
ten wie ein Seil“, der Bart ist wie Lapislazuli oder geprenkelt wie Lapisla-
zuli. Die Schamhaare der Frau ähneln einem Kopfsalat. Obst-, Kopfsalat-
und Honig-Metaphern treten in der Liebeslyrik häufiger auf.5
Vergleiche für einzelne Körperteile wie Augen, Nase, Ohren, Lippen,
Hände, Arme oder Beine fehlen weitgehend, während sie sehr zahlreich in
der Bibel6 vorkommen. In der Bibel sind sämtliche Körperteile mit einer
Vorstellung verbunden. Mit ihrer Darstellung werden gleichzeitig dessen
Fähigkeiten und Tätigkeiten mit bezeichnet und mitgedacht. Eine Hand ist
eine starke Hand; ein Fuß drückt je nach Haltung Erhabenheit oder Unter-
drückung aus; die Kehle ist nicht nur Kehle, sondern auch die Rufe, die sie
hervorbringt; durch die Nase atmet man, solange man lebt; Hals und Na-
cken drücken stolze Haltung und Selbstbewusstsein aus.7 Obwohl diese
Einstellung dem Mesopotamier grundsätzlich nicht fremd war, ist es schwer
zu beurteilen, inwieweit dem Hörer oder dem Bildbetrachter die Benennung
oder die Bilder bestimmter Körperteile bestimmte Eigenschaften hervorrie-
fen oder – umgekehrt – diese Eigenschaften mit Körperteilen verbunden
wurden. Dachte der Betrachter eines Helden oder eines Königs an die Ähn-
lichkeit seines Bartes mit Lapislazuli? Drückt ein königlicher Körper auch
seine Löwenhaftigkeit aus? Evozierte Dumuzis Mähne, den wir leider auf
Bildern nicht identifizieren können, auch eine Dattelpalme? Implizit bejaht
dies I. Winter.8 Der altorientalische Betrachter der Gudea-Statuen würde
aus Texten bekannte Eigenschaften erkennen: den „reichen Lebensodem“
an Gudeas stattlicher Brust, seine von den Göttern stammende „Kraft“ in
den Muskeln seines freien Oberarmes, seine „Weisheit und seinen Intellekt“
an der Breite seines Gesichtes und an der Größe seiner (hörenden) Ohren
sowie die „Blicke“ zwischen ihm und Gottheiten an den großen Augen.9
5 LEICK, G., Sex and Eroticism in Mesopotamian Literature, London 1994, 64, 68, 111–125 über
den Wortschatz der Seduktion. SEFATI, Y., Love Songs in Sumerian Literature. Critical Edition of
the Dumuzi-Inanna Songs, Jerusalem 1998, 86–94 über die Bildersprache. 6 SCHROER, S./STAUBLI, TH., Die Körpersymbolik der Bibel, Darmstadt 1998.
7 SCHROER/STAUBLI, Körpersymbolik (Anm. 6), 62, 103, 105.
8 WINTER, I., The Body of the Able Ruler: Toward an Understanding of the Statues of Gudea, in:
BEHRENS, H./LODING, D./ROTH, M. (Hg.), DUMU-E2-DUB-BA-A. Studies in Honor of Åke W.
Sjöberg, Philadelphia 1989, 573–584.
9 EDZARD, D.O., Gudea and His Dynasty, The Royal Inscriptions of Mesopotamia. Early Periods
3/1, Toronto 1997, 31: „Šul-šaga richly provided with breath of life“ = iii 1–2 auf Statue B. „To
Astrid Nunn 122
Gudea selbst schreibt von seinen Statuen, dass er sie „formt“, aber nicht wie
er sie formt (Abb. 2).
Der ganze Körper
Die Darstellung des Körpers unterliegt stets bestimmten Prinzipien: Im
Alten Orient wird nicht jeder abgebildet und der Betrachter muss erkennen,
um wen es sich handelt. Die Einzelteile müssen klar sichtbar sein, so dass
Überschneidungen, also Abdeckungen, der Klarheit keinen Abbruch tun.
Die Aussage ist das wichtigste. Für uns ist dies noch heute beispielsweise in
den Größenverhältnissen leicht ablesbar. Ein stehender König ist größer als
die ihn umgebenden Personen, ein sitzender König ist keinesfalls kleiner als
die Stehenden um ihn, ein stehender König niemals größer als ein sitzender
Gott.
Im Laufe der historischen Jahrtausende beobachten wir eckige und unge-
lenke Körper, wie die der Beterstatuetten der frühdynastischen II-Zeit (Abb. 3), aber auch höchst qualitätsvolle, von innen heraus verstandene Körper-
lichkeit, wie die akkadzeitliche (Abb. 4). In der Akkadzeit werden Muskeln
realistisch betont, in der neuassyrischen Zeit sind die Muskeln auch wieder-
gegeben, aber zumindest im 9. Jahrhundert gleichsam aufgesetzt. Das Inte-
resse, Muskeln darzustellen oder nicht, zeugt von einer Überlegung, wie
man den Körper ins Bild bringen kann und was er aussagen kann und soll.
Aber innerhalb einer Machart sind alle Figuren gleich gestaltet. Auf akkad-
zeitlichen Stelen zeigen die nackten und besiegten Feinde ebenfalls einen
vollendeten vor Kraft strotzenden Körper (Abb. 5). Muskeln zeichnen nicht
den neuassyrischen Herrscher aus, sondern ebenso seine Soldaten und Un-
tertanen. Zudem unterscheidet sich die Funktion der Bilder nicht, insofern
als Demut vor den Göttern und Machtdemonstration vor den Menschen
trotz unterschiedlicher Ausführung und unterschiedlichen Aufstellungsorten
zur Grundmotivation einer Bildherstellung gehören. Einheitlichkeit der
Körperwiedergabe und der Bildmotivation zeigt, dass die Bausteine, mit
denen ein Körper dargestellt wird, – eckige oder runde Formen, schmal
oder korpulenter, gelenkt oder gestaucht, muskulös oder nicht, realistisch
oder abstrahiert – weniger von durchdachten Körpervorstellungen abhän-
gen, als von den unterschiedlichen abgebildeten Personen, ihren unter-
schiedlichen Kontexten und den Mitteln, sie auszudrücken. Diese Mittel
sind die sich ablösenden Stile. Dabei passt der Stil nur solange als das, was
whom Nin-dara gave strength“ = ii 12–13 auf Statue B. „Wise as he is, the ruler will use his
intellect“ = i 12 auf Zylinder A. „Whom (Gudea) Nanše regarded in a friendly manner“ = ii 10–11
und „O statue, your eye is that of Ningirsu“ = vii 58–59 auf Statue B.
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ausgedrückt werden muss, eine adäquate Hülle in ihm findet. Mit Stil ist
hier die technische Art und Weise, etwas darzustellen, gemeint, nicht was
dargestellt ist und wie es ikonographisch wiedergegeben wird. Ein großes
Ohr kann etwas über die Bedeutung des Ohrs aussagen, kann aber auch eine
technische Ursache haben oder ein stilistisches Mittel sein. Mit anderen
Worten, eine altorientalische Personendarstellung ist eine Symbiose zwi-
schen dem Abbild einer realen Person, ihren symbolischen Aussagen und
den technischen Herstellungsmitteln. Die Symbolik lässt sich an Attributen
und am Kontext ablesen. Das reale Abbild ist gemeint und ist zugleich
zeitlich, stilistisch, vom Material und vom technischen Können abhängig.
Dies auseinanderzuhalten ist historisch gesehen nicht sinnvoll, für eine
heutige Analyse obendrein nicht einfach. Versucht man dennoch zu kate-
gorisieren, würde ich beispielsweise für die Zeit normal dargestellte Ohren
dem Stil zuordnen, auffallend große oder zu stark von der zeitüblichen
Darstellungsweise abweichende Ohren mit einem symbolischen Charakter
(etwa für Hören und Gehorchen) versehen und davon ausgehen, dass keine
Ohren die wahren Ohren der abgebildeten Person zeigen. Bezeichnend für
die Nüchternheit der altorientalischen Kunst bleibt, dass ich als heutige
Betrachterin keine auffälligen Ohren in den Bildern gefunden habe.10
Der vermessene Körper
Kehren wir zum eingangs zitierten Auszug aus dem Gilgameš-Epos zu-
rück:11
… elf Ellen hoch ist er gewachsen/ […] statue … […] .
Zwei Ellen beträgt die Breite seiner Lenden/ […] the distance between […].
Sein Fuß mißt drei Ellen, eine halbe Rute sein Bein/ A triple cubit was his foot,
half a rod his leg.
Sechs Ellen sind seine Schultern breit/ Six cubits was [his] stride,
der erste seiner Finger ist eine halbe Elle lang/ [x] cubits the … of his […]
Das akkadische Vokabular, das die Maße angibt, ist unterschiedlich: Gil-
gamešens Füße sind drei nikkas lang, sein Bein ein halbes nindan, seine
Schultern (oder sein Schritt) sechs ammatu und sein Finger die Hälfte da-
von. Die genauen Maße zu eruieren, ist schwierig. Zudem änderten sie sich
im Laufe der Zeit. Ein ammatu und ein nikkas messen im 1. Jahrtausend et-
10
Ägyptische Bilder zeigen hingegen allein abgebildete große Ohren, KEEL, O., Die Welt der
altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament, Köln 1972, 172, Abb. 263, und 173, Abb.
264. 11
Erste Übersetzung von MAUL, Gilgamesch-Epos (Anm. 1), 47f, I, 52–58. Zweite Übersetzung
von GEORGE, A., The Babylonian Gilgamesh Epic Bd. I, Oxford 2003, 541ff, I. 51–58.
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wa 50 cm und ein nindan das Zwölffache davon, also etwa 6 m.12 Diesen
Maßen folgend ist Gilgameš über 5 m groß. Sein Finger misst 25 cm, sein
Fuß 1,50 m, sein Bein und seine Schultern (oder sein Schritt) messen etwa 3
m. Diese Maße stimmen nicht einmal im Verhältnis. Uns wird lediglich
mitgeteilt, dass Gilgameš übermenschlich groß ist. Er ist der berühmteste
mesopotamische Held, ursprünglich so ungestüm, dass ihn die Götter dank
eines Kampfes mit dem sehr starken Enkidu in die Schranken weisen. Beide
schließen Freundschaft und gehen gemeinsam los, um den Wächter des
libanesischen Zedernwaldes Humbaba zu töten. Der Marsch dahin ist be-
schwerlich, der Kampf fürchterlich. Aber Gilgameš und Enkidu siegen.
Beide glauben wir in dieser Szene auf Terrakotten zu erkennen (Abb. 6).13
Gilgameš und Enkidu sind gleich groß und auch Humbaba ist nur selten
größer als sie. Die Wiedergabe ihres Körpers unterscheidet sich nicht von
der eines menschlichen Körpers. Auf Abb. 6 ist der begleitende Mensch
einen halben Kopf kleiner. Das verwundert jedoch nicht, da Gilgameš
schon allein als König größer als Normalsterbliche dargestellt werden muss.
Bei Bildern regiert ein allgemeiner Kanon der Proportionen die Wieder-
gabe des Körpers. Er ist von Kultur zu Kultur sehr unterschiedlich und
innerhalb der altorientalischen Kunst variabel. Um einen Kanon zu analy-
sieren, wird der Körper segmentiert. Ein Segment ist z.B. die Nase, der
Oberarm, die geballte Faust oder auch die Brustweite.
Die Statuen des Herrschers Gudea (um 2100) sind die ältesten, die unter
diesem Standpunkt analysiert wurden. Das Verhältnis von Kopf (ohne
Kopfbedeckung) und Körper ist bei ihnen von 1:6, aber auch – besonders
für sitzende Statuen – von 1:4 (Statue I, Abb. 2) und 1:5 (Statue D). Der
kleinere Körper könnte das Ergebnis der gedrungeren sitzenden Haltung
sein. Bei gedrungeren Proportionen wird am unteren Oberkörper und an den
Schenkeln „gespart“. Die wichtigsten Körperteile Kopf und Brust bleiben
aber groß. Das Basismaß – dies schreibt Gudea selbst – sollen 24 Finger
sein. Ein Finger ist 1,66 cm breit. Die Abmessung an den Statuen zeigt
aber, dass das nächste Maß ein Maß von 16 Fingern ist. 16 Finger entspre-
chen 26,9 cm. Also müsste 26,9 x 6 cm die Höhe der Statuen ergeben. Das
Ergebnis 1,614 m könnte in der Tat zwei Statuen entsprechen. Allerdings
besteht das Problem, dass Genauigkeit nur bei vollständigen Statuen er-
reicht werden kann. Fast keine ist es. So fehlt der Statue E der Kopf und die
12
POWELL, M., Maße und Gewichte, RlA 7, 1987–1990, 470f. 13
LAMBERT, W., Gilgamesh in Literature and Art: The Second and First Millennia, in: FARKAS, A.
u.a. (Hg.), Monsters and Demons in the Ancient and Medieval Worlds, Papers presented in Hon-
our of Edith Porada, Mainz 1987, 37–52; HUOT, J.-L., Le meurtre de Humbaba. A propos du relief
L.85.7 de Larsa, in: Ders. (Hg.), Larsa. Travaux de 1985, Paris 1989, 164–173.
Körperkonzeption in der altorientalischen Kunst 125
Statue BM 122910 wurde zusammengesetzt.14 Diese Statuen und Statue A
zeigen zumindest genau dieselben Proportionen.
Die neuassyrischen Steinplastiken, ob nun rundplastisch oder auf Ortho-
staten, ergeben eine Proportion von 1:6 bis 7. G. Robins stellte fest, dass ei-
nige Figuren auf den Orthostaten im Nordwest-Palast Assurnasirpals, – es
handelt sich um die geflügelten Genien mit Menschen- oder Adlerkopf –
kürzere Proportionen aufweisen und somit gedrungener sind. Der dadurch
entstehende Eindruck ist der der Stabilität und der Stärke.15 Allerdings vari-
iert im Gegensatz zu den Gudea-Statuen die Länge der einzelnen Körpertei-
le innerhalb des Messnetzes.
Die Proportionen wurden in erster Linie an Königsstatuen analysiert. Sie
gelten aber in denselben Variationen auch für die zeitgleichen anderen
Menschen.
Die einzig noch heute bekannte Statue eines achämenidischen Königs ist
die 2,70 m hohe Plastik Darius I. Ihre Proportion zwischen Kopf und Kör-
per ist von 1 zu 9. Die Plastik zeigt dieselben Proportionen wie der König
auf den zweidimensionalen Treppenwangen der Apadana. Er zeigt jedoch –
anders als früher – andere Proportionen als die Beamten, Diener und Gar-
den auf den persepolitanischen Reliefs. Er ist größer, schlanker und besitzt
einen breiteren Kopf. Ab Xerxes werden die Proportionen kürzer und stei-
fer.16
Diese kurze Übersicht beweist eindeutig, dass das Verhältnis der einzel-
nen Körperteile durchdachte Maße sind und die erste Körperkonzeption in
der Schaffung eines Bildes bestimmen. Die Daten zeugen davon, dass es
trotz Abweichungen einen zeitbedingten Proportionskanon gab. Im Laufe
der Jahrhunderte wird der Kopf im Verhältnis zum restlichen Körper immer
kleiner, also realitätsnäher. Je jünger die Statuen, umso schlanker. Die älte-
ren sind gedrungener als die Realität. Dieser Kanon drückt Stabilität und
dadurch stabile Macht aus. Allerdings müssen die Proportionen solide sein,
eher als einem bestimmten, immer geltenden Maß entsprechen. Die Zeile I,
62 des Gilgameš-Epos lautet in der Übersetzung von S. Maul: „Wunder-
schön war er gebaut, wie es der Erde angemessen“.17 Vielleicht wird mit
diesem Satz nicht der menschliche Maßstab betont, sondern dass Gilga-
14
COLBOW, G., Zur Rundplastik des Gudea von Lagaš, Münchener Vorderasiatische Studien V,
1987, 29–44. AZARPAY, G., Proportional Guidelines in Ancient Near Eastern Art, JNES 46/3,
1987, 183–213; Dies., Proportions in Ancient Near Eastern Art, in: SASSON, J. (Hg.), Civilizations
of the Ancient Near East 4, New York 1995, 2510–2513. 15
ROBINS, G., Proportions of Standing Figures in the North-West Palace of Aššurnasirpal II at
Nimrud, Iraq 52, 1990, 107–119. 16
DAVIS-KIMBALL, J., Proportions in Achaemenid Art, PhD. Berkeley 1989, University Micro-
fiche, Ann Arbor 1994. 17
In der Übersetzung von GEORGE, Gilgamesh Epic (Anm. 11), 543: „by human standards, he was
very handsome“. Er schreibt aber, dass wortwörtlich „by the standard of the earth“ steht.
Astrid Nunn 126
mešens solide Proportionen von irdischer Haftung und von einer Sicherheit
gebenden Festigkeit zeugen. Deswegen kann man vielleicht einen Propor-
tionswechsel innerhalb einer Dynastie, wie es nach Darius unter Xerxes der
Fall war, nicht nur durch schlechtere Künstler, sondern gar durch bröckeln-
de Macht erklären.
Körper und Schönheit, Körper und Stärke
Die Schönheit eines Körpers wird in den altorientalischen Texten immer
wieder betont. Sie gehört zu den Attributen der wichtigsten Personen, die
eine positive Rolle spielen. Auch Götter sind makellos und schön. Ihre
vollkommene Gestalt ist sogar Teil ihrer Reinheit. Ein schielender oder ein
humpelnder Gott fällt gewissermaßen aus dem göttlichen Kreis heraus.18
Das Aussehen der assyrischen Könige ist dem göttlichen nachgebildet.19 Sie
sind herrlich, löwenähnlich, männlich und stark.20 Wie Gilgameš aussah,
haben wir gelesen. Genauere Beschreibungen, woraus Schönheit besteht,
gibt es nicht. Bei Männern ist die Schönheit stets mit Stärke verbunden,
vermutlich bedeutet Stärke allein sogar schon Schönheit. Ein seltenes Bei-
spiel für eine Gegenüberstellung von Bild und Schrift bieten die beschrifte-
ten Orthostaten Assurbanipals. Der assyrische König ist in verschiedenen
Aktionen während einer Löwenjagd abgebildet. Die kurzen Beischriften
beschreiben ihn als stark und mannhaft.21 Wir sehen einen muskulösen
König, seine Begleiter sind es aber ebenfalls. Betrachten wir seine Ge-
sichtszüge, seine Arme und Beine oder seine Körperhaltung, so merken wir,
dass diese Einzelheiten bei allen Männern um ihn ähnlich sind. Es gelten
also keine königsspezifischen Körpervorstellungen. Diese äußerten sich
lediglich in der Qualität der Ausführung. Analysen über Arbeitsvorgänge an
den neuassyrischen Orthostaten und den achämenidischen Steinreliefs Per-
sepolis ergaben nämlich, dass der König gesondert und von besonders be-
gabten Künstlern gefertigt wurde.22 Der König sticht vor allem durch seine
18
GRONEBERG, B., Die Götter des Zweistromlandes, Düsseldorf 2004, 38. 19
WINTER, I., Art in Empire: The Royal Image and the Visual Dimensions of Assyrian Ideology,
in: PARPOLA, S./WHITING, R.M. (Hg.), Assyria 1995, Helsinki 1997, 372f; ASHER-GRAEVE, Essen-
tial Body (Anm. 2), 20. 20
Als Beispiel Assurnasirpal II., GRAYSON, A.K., The Royal Inscriptions of Mesopotamia, Assy-
rian Periods 2: Assyrian Rulers of the Early First Millennium BC (to 1114–859 BC), Toronto
1990, 195f. 21
STRECK, M., Assurbanipal, Vorderasiatische Bibliothek 7.2, 1916, 306–309; GERARDI, P., Epi-
graphs and Assyrian Palace Reliefs: The Development of the Epigraphic Text, JCS 40, 1988, 25ff;
BORGER, R., Beiträge zum Inschriftenwerk Assurbanipals, Wiesbaden 1996, 297f. 22
NAGEL, W., Die neuassyrischen Reliefstile unter Sanherib und Assurbanaplu, Berlin 1967, 13,
16; Ders., Meister- und Gesellenarbeit an neuassyrischen Reliefs, JDI 73, 1958, 1–8; ROAF, M.,
Körperkonzeption in der altorientalischen Kunst 127
Inszenierung im Bild, durch seine Handlung und durch Attribute oder Ab-
zeichen der Königswürde wie Kopfbedeckung, Kleid und Stoffmuster,
Schmuck und Waffen hervor. Das reicht, um einen Satz wie „ich […] As-
surbanipal Ninurta und Nergal haben mit Stärke, Mannhaftigkeit und un-
vergleichlicher Kraft [meine Gestalt] ausgestattet“23 zu illustrieren.
Körper, Macht und Handlung
I. Winter erkennt dem akkadischen König Naram-Sîn zu, dass sein Gesäß
sexy ist (Abb. 1).24 Naram-Sîn wirkt auf uns heute noch männlich und stark,
aber sexy? Weil er lediglich einen kurzen Schurz trägt, zeigt er mehr nackte
Haut als es für einen altorientalischen König üblich ist. Die Teile seines
Körpers, die man sieht, sind muskulös. Noch auffälliger als sein Körper ist
die Inszenierung seines Körpers in die Landschaft. Naram-Sîn schreitet
isoliert den Berg hinauf in den Himmel, zu den Göttern steigend. Die Sol-
daten, die unter ihm stehen, schreiten ebenfalls steigend. Sie tragen eine
andere Bekleidung. Betrachtet man jedoch ihre nackten Körperteile oder
ihre Rückenlinie, so sind die Stilmittel genau dieselben wie für Naram-Sîn.
Die Inszenierung Naram-Sîns ist also außergewöhnlich, nicht aber die Wie-
dergabe seines Körpers. Die Bildkomposition dient hier als Mittel, seine
Macht auszudrücken.
Wir müssen annehmen, dass sämtliche Machtinhaber diesen Eindruck
vermitteln wollten, dass dies aber nur wenigen so eindeutig wie Naram-Sîn,
zumindest nach unserem heutigen Empfinden, gelang. Die Begründung da-
für ist nicht der ideologische Unterbau, sondern die benutzten Stilmittel.
Warum ein Stil so aussieht, wie er aussieht, kann für keine Zeit erklärt
werden. Wir stellen nur fest, dass es Stile gibt, die sich ablösen. Der Stil ist
aber ein äußeres Merkmal. Der Sinn bestimmter Bilder wird sich im Alten
Orient über Jahrtausende nicht ändern, etwa der eines einen Löwen jagen-
den Herrschers. Stilistisch erhebt sich die Akkadzeit (2300–2100) über alle
anderen Epochen. Die wenigen Objekte, die wir heute noch kennen, zeugen
Sculptures and Sculptors at Persepolis, Iran 21, 1983, 27; COOL ROOT, M., The King and the
Kingship in Achaemenid Art. Essays on the Creation of an Iconography of Empire, Leiden 1979,
14; TILIA, A.B., A Study on the Methods of Working and Restoring Stone and on the Parts Left
Unfinished in Achaemenian Architecture and Sculpture, East and West 18, 1968, 82. 23
Auf dem Prisma E, BORGER, Beiträge (Anm. 21), 204. 24
WINTER, I., Sex, Rhetoric and the Public Monument: The Alluring Body of Naram-Sîn of
Agade, in: BOYMEL KAMPEN, N. (Hg.), Sexuality in Ancient Art, Cambridge/Mass., 1996, 11–26,
hier: 11: „Naram-Sîn displays his wellrounded buttocks, his muscled calves, his elegantly arched
back, his luxuriant beard“. Eine ähnliche Äußerung über Gilgameš dank Textanalyse von WALLS,
N., Desire, Discord and Death. Approaches to Ancient Near Eastern Myth, Boston 2001, The
Allure of Gilgamesh: The Construction of Desire in the Gilgamesh Epic, 9–92.
Astrid Nunn 128
von glänzenden Künstlern. Naram-Sîn stellt eine Ausnahme unter den Herr-
scherbildern dar: Er trägt einen Schurz, der es erlaubt, viel von seiner nack-
ten Haut zu sehen, er trägt eine Hörnerkappe auf dem Kopf und er schreitet
schnurstracks nach oben. Er erscheint als äußerst dynamischer Herrscher.
Ich glaube jedoch, dass sich die Grundvorstellungen, wie sich ein Herrscher
präsentieren muss, – machtvoll, stark, sicher, gütig, aber auch furchteinflö-
ßend – spätestens nach 3000 v.Chr. kaum änderten. Auch Dynamik, zumin-
dest auf dem Schlachtfeld wie bei Enannatum, Sargon von Akkad oder den
assyrischen Herrschern, ist wichtig. Naram-Sîns Künstler fanden nur eine
besonders ansprechende Bildsprache dafür.
Ištar ist die Göttin, bei der wir am besten Texte und Bilder vergleichen
können. Sumerische Texte beschreiben sie wie folgt:
Inanna, die Tochter des Mondgottes,
zog das Herrinnen-Gewand an, hüllte sich ein in Schönheit.
Mit rotleuchtendem Schreckensglanz schmückte sie ihre Stirn25
Sie wird weiterhin als „Löwin oder Herrin des Kampfes oder der Schlach-
ten“ beschrieben. Ihre Beteiligung am Krieg ist eine männliche Eigenschaft,
der weibliche Eigenschaften gegenüber stehen (s.u.). Glücklicherweise
erkennen wir diese Göttin auf zahlreichen Rollsiegeln und einigen weiteren
Flachbildern.26
Im Text Im Bild
Herrinnen-Gewand Falbelgewand, Schlitzgewand
Schönheit ?
Schreckensglanz an der Stirn ?
Leuchtende Karneole Schmuck
Siebenköpfige Keule in ihrer Rechten Waffen: Doppellöwenkeule, Sichelschwert, Streitaxt …
7 Insignien ?
Männliche Weise ?
Fuß auf Lapislazuli-Stier Fuß auf einem Tier, das aber ein Löwe ist
Stolz Haltung mit erhobenem Bein auf Tier, Gesicht oft en
face dargestellt?
Löwin In Form des Attributtieres?
Ištars Eigenschaften in Text und Bild: Ein Vergleich
Der Text- und Bildervergleich zeigt, was zu erwarten ist: Die konkreten, im
Text erwähnten Attribute können gezeigt werden, abstrakte Qualitäten wie
25
HAAS, V., Babylonischer Liebesgarten. Erotik und Sexualität im Alten Orient, München 1999,
46f. 26
COLBOW, G., Die kriegerische Ištar. Zu den Erscheinungsformen bewaffneter Gottheiten zwi-
schen der Mitte des 3. und der Mitte des 2. Jahrtausends, Münchener Vorderasiatische Studien
VIII, München 1991. Über ihre Erwähnung in Texten: 490–504.
Körperkonzeption in der altorientalischen Kunst 129
Schönheit oder Schreckensglanz aber nicht. Möglicherweise wurden sie
vom altorientalischen Betrachter mitgesehen (s. oben, „Sprache und Bild“).
Der nackte Körper. Körper, Schönheit und Liebreiz
Im Gegensatz zur Bekleidung steht die Nacktheit. Sie spielt eine ebenso
wichtige Rolle wie das Bekleidetsein. Auf den ältesten Bildern bis zum
Ende des 6. Jahrtausends wurden die Menschen nur nackt dargestellt. Die
ältesten, protoneolithischen Menschendarstellungen zeigen nackte Figuren.
Die berühmten Frauenbildnisse (Abb. 7) sind zwar geschmückt, aber nackt.
Für einige Interpreten sind sie Göttinnen, sogar die ältesten Gottheiten, weil
die Frau als Trägerin der künftigen Generationen eine besondere Rolle in
diesen Gesellschaften spielte. Für andere Wissenschaftler dagegen stellen
diese Frauen keine Götterbilder dar. Frauenfiguren und Stierhörner wurden
meist in Häusern gefunden. Dies allein unterstreicht ihre Schutzfunktion,
die m.E. das wichtigste Deutungselement darstellt. Die Jäger in Çatal Hüy-
ük tragen den Lendenschurz so, dass er neben ihrem Körper flattert. Ich
glaube nicht, dass diese Nacktheit etwas Spezifisches bedeutete. Bei den
Frauen ist ihre Fülligkeit bedeutsam. Verliert die Fülligkeit ihre Bedeutung,
werden die Frauen wieder schlank dargestellt. Nur selten nach dem Neo-
lithikum zeigen Frauen breite Hüften oder starke Oberschenkel. Sie haben
allerdings dieselbe Bedeutung wie im Neolithikum.
Erst von dem Zeitpunkt an, als Bekleidung dargestellt wird, können wir
Kleidung und Nacktheit überhaupt differenzieren. Somit bekommt Nackt-
heit einen besonderen Status. Ein für die Umbruchphase sehr bedeutungs-
volles Stück ist ein beidseitig bebildertes Stempelsiegel aus Susa (Abb. 8).
Eine Seite zeigt einen bekleideten gehörnten Menschen, der zwei Löwen
bändigt. Dieser Tierbezwinger ist keine neue Figur, sie war aber bisher
immer nackt. Auf der anderen Seite hockt ein bekleideter Mensch vor Mö-
beln, die man für Kultmobiliar halten kann. Kleiderdarstellungen tauchen
also in der frühen Uruk-Zeit zu Beginn des 4. Jahrtausends auf, als sich die
Hierarchien langsam weiter festigten und einige Jahrhunderte später einen
ersten Höhepunkt erreichten.
Erst Ende des 3. Jahrtausends werden Männer ihren Oberkörper bede-
cken. Für alle Epochen der vorderasiatischen Geschichte gilt, dass Herr-
scher bekleidet, Helden auch nackt dargestellt werden. Ab und an tragen
sie lediglich einen Gürtel, der die Nacktheit sogar noch unterstreicht. Für
die Uruk-Zeit können wir nackte Kultpersonen und Opferträger identifi-
zieren. Zum religiösen Bereich zählen ebenso die frühdynastischen Beter
auf den Kupferständern, die Sportler wie auch einige Musiker auf den
altbabylonischen Plaketten. Neu in der Akkadzeit ist der Kampf nackter
Astrid Nunn 130
oder bekleideter Götter, von denen erstere immer besiegt wurden. Schließ-
lich werden Gefangene sehr häufig nackt – als Zeichen ihrer Schwäche –
dargestellt.
Im Alten Orient ist Nacktheit keinesfalls ein Ideal, sondern funktional
und sehr konkret. Sie signalisiert einen (Zu-)Stand vielfältigster Art. Die
griechische Kunst huldigt der „idealen Nacktheit“, etwa der jungen Männer
oder der Athleten. Die Nacktheit ist aber zunächst kein Abstraktum, son-
dern konkret und natürlich. Erst seit dem Hellenismus verselbständigt sie
sich, wird zunehmend allegorisch und im Sinne eines heroisch verklärten
Daseins verstanden.27 Anders als in der römischen Antike, wo Statuen nack-
ter Kaiser allerorts zu sehen waren, war im Alten Orient die Idee von Macht
und irdischer Männlichkeit mit Nacktheit unvereinbar. Helden können
nackt sein, Herrscher nicht. Bei Männern verkörpert sie Heldentum oder,
umgekehrt, Schwäche und Tod. Die Nacktheit der Frauen berührt völlig
andere Gebiete.
... Die ehrfurchtgebietende unter den Göttinnen,
die Herrin der Menschen, die Große unter allen Göttern!
Ja sie! Bekleidet mit Verlockung und Liebreiz,
geschmückt ist sie mit Sex, Erotik und verführerischer Fülle …
Honigsüß die Lippen! Lebenskraft ist ihr Mund! …
Schön sind mit ihrer Farbe ihre bunten Augen, schillernd28
Das ist das Bild der verführerischen Ištar. Sie gerät häufig in Situationen,
in welchen sie mit ihren Reizen etwas erreichen möchte. So etwa bei ih-
rem Liebhaber Dumuzi. Liest man einen solchen Text, könnte man an die
Tonplaketten mit nackten Frauen denken. Von der zweiten Hälfte des 3.
Jahrtausends an, aber vor allem im 2. Jahrtausend in Mesopotamien und
vermehrt von der Spätbronzezeit an in Palästina werden flache Terrakotten
mit einer nackten Frau sehr gängig.29 Sie erscheint am häufigsten en face,
stehend und ihre Brüste darbietend (Abb. 9), oder mit Attributen – etwa
Pflanzen, Tieren, Kopfbedeckung oder äußerst selten mit Hörnerkrone.
Hinzu kommen die Bilder, wo sie eine Brust hält, ihre Arme am Körper
hängen läßt, ihre Arme unter der Brust verschränkt (nur in Mesopotamien)
oder beide Hände auf ihre Scham weisen (in Palästina) (Abb. 10). Zahlrei-
che Tonplaketten zeigen ab dem 5. Jahrtausend, wesentlich häufiger je-
doch ab dem Ende des 3. Jahrtausends und in Palästina erst mit der Eisen-
27
HIMMELMANN, N., Ideale Nacktheit in der griechischen Kunst, Berlin 1990. 28
HAAS, Babylonischer Liebesgarten (Anm. 25), 33f. 29
WIGGERMANN, F.A.M., Nackte Göttin. A. Philologisch, RlA 9, 1998, 46–53 und UEHLINGER,
C., Nackte Göttin B. In der Bildkunst, RlA 9, 1998, 53–64; WINTER, U., Frau und Göttin. Exegeti-
sche und ikonographische Studien zum weiblichen Gottesbild im Alten Israel und in dessen
Umwelt, OBO 53, 1983, 192–199 (Zusammenfassung); KEEL, O./UEHLINGER, C., Göttinnen,
Götter und Gottessymbole, Freiburg i.Br., 1992.
Körperkonzeption in der altorientalischen Kunst 131
zeit bekleidete oder nackte,30 stehende oder sitzende Frauen, die auch ein
Kind stillen31 oder in ihren Armen halten (Abb. 11). Über die Identität der
dargestellten Personen gibt es eine schon langandauernde und noch nicht
abgeschlossene Debatte. Sie sind auch über Zeit und Raum sicher nicht
einheitlich zu interpretieren. Nackte Frauen mit Attributen sind als Göttin-
nen zu deuten (Anm. 29). Die Identifikation der anderen Frau bleibt offen:
Göttin, Attribut einer Göttin, Muttergöttin, Priesterin, sterbliche Frau oder
Fruchtbarkeitssymbol. Die letzte Studie über die nackten Frauen en face
und ohne Attribute stammt von Z. Bahrani.32 Diese Frauen seien jung und
anmutend geformt, strahlen Jugend, Verführung, Erotik und Reiz aus. Ihre
Scham wird sehr oft betont. Für Z. Bahrani stehen zumindest einige dieser
Frauen für Jugend, Schönheit und Spaß am Geschlechtsverkehr eines
Paares. Es handelt sich hier also um reine Lust an Körperlichkeit. Die
Tatsache, dass viele Frauen ein Kind tragen oder stillen, tut dieser Bedeu-
tung keinen Abbruch. Im Gegenteil, sie betont die Jugend der dargestell-
ten Frauen. Zweifelsohne hatten die Altorientalen einen unbefangenen
Umgang mit Sexualität. Die grundsätzliche Frage bei dieser Deutung
betrifft den vorhandenen oder fehlenden symbolischen Inhalt solcher
Bilder. Geht man davon aus, dass Bilder in den antiken Kulturen immer
auch einen symbolischen Aspekt und eine symbolische Funktion besitzen,
dann würde ich einige Überlegungen hinzufügen: der anmutige nackte
Körper einer Frau steht für sexuellen Reiz, aber auch für den damit ver-
bundenen Kinderreichtum und somit für Reichtum und Glück allgemein.
Dabei legen die Bilder der nackten stillenden oder ein Kind haltenden
Mutter nahe, dass Fruchtbarkeit oder mütterlicher Schutz dieses Frauen-
ideal vervollständigt haben könnte. Ebenso ist anzunehmen, dass diese
Terrakotten, die mit anders bebilderten vor allem in Häusern und in Hei-
ligtümern standen, als Schutzbilder dienten.33
Die weiblichen nackten Körper auf den Terrakotten sind wohl proportio-
niert und rund geformt. Bei Liebespaaren auf den Terrakotten entsprechen
die männlichen nackten Körper den weiblichen in ihrer Anziehungskraft.
Sie sind ebenso wohl geformt, rund und nicht eckig, aber auch, wie die
30
Es sei BARRELET, M.T., Figurines et reliefs en terre cuite de la Mésopotamie antique, BAH 85,
1968, Tf. 37–44, 82 genannt. 31
PARAYRE, D., Les âges de la vie dans le répertoire figuratif oriental, in: LION, B./MICHEL,
C./VILLARD, P. (Hg.), Enfance et éducation dans le Proche-Orient ancien, Ktema 22, 1997, 67f,
Abb. 11a–d. 32
BAHRANI, Women of Babylon (Anm. 2), 46–55, 67–95, 130–134. 33
Einer der seltenen Aufsätze über Terrakotten, der auch den Fundort berücksichtigt: MARGUE-
RON, J., Palais de Mari: figurines et religion populaire, MARI 8, 1997, 731–754.
Astrid Nunn 132
weiblichen, unauffällig. J. Assante bezeichnet sie als „rational und natura-
listisch“.34
Selten wird der Frauenkörper äußerst schlank und überlängt abgebildet35
oder umgekehrt füllig, wie die einzige erhaltene größere Plastik einer nack-
ten Frau.36 Ihr Erscheinungsbild mag durchaus den unklaren Zweck dieser
Plastik untermauert haben. Denn laut Inschrift diente sie dem „lustvollen
Reiz der Garnisonen“.
Eine kleine Bronze (Abb. 12) und mehrere Tonplaketten zeigen Männer,
deren Rippen man sieht.37 Die deutliche Rippung ist nicht unbekannt. Man
findet sie seit der Akkadzeit bei unterschiedlichen Personen.38 Aber diese
altbabylonischen Darstellungen werfen ungelöste Rätsel auf. Die zwei
Mageren rahmen auf der Tonplakette (Abb. 13) eine Göttin, die ein Kind
stillt und aus deren Schultern zwei kahle Köpfe ragen, die wohl Kinderköp-
fe sind. Rechts und links steht jeweils ein „Omegazeichen“, das vielleicht
als Uterus zu deuten ist und einer Muttergöttin zugeordnet wurde.39 Deswe-
gen wurden die mageren Gestalten als Fehlgeburten interpretiert.40
Die meisten nackten Körperdarstellungen sind unauffällig und ihrem
Kontext angepasst. Aus dem Rahmen fallen wenige zu dünne oder zu dicke
Figuren. Auch der nackte Körper ist ein Medium, um eine Aussage weiter-
zugeben. Seine konkreten Eigenschaften und die Tatsache der Nacktheit
sagen aus, nicht aber ein Abstraktum Körper.
Der bekleidete/verhüllte Körper
In zahlreichen Texten werden die Prachtgewänder der Götter erwähnt. Sie
werden nicht beschrieben, aber schon die Nennung des wertvollen Gewan-
des zeugt von Reichtum und Macht. In diesem Fall ist der Körper verhüllt.
Die Körperaussage wird nach außen auf die Gewänder übertragen. Im Alten
34
ASSANTE, J., The Erotic Reliefs of Ancient Mesopotamia, PhD Columbia University 2000,
University Microfiche, Ann Arbor 2000, 105. 35
Z.B. auf der ungewöhnlichen runden Scheibe mit Tänzerinnen (?), Musikern und Affen, PKG
14, Abb. 186b. 36
Aus Ninive, mit Inschrift Assur-bel-kalas (1074–1057), PKG 14, Abb. 170. GRAYSON, The
Royal Inscriptions of Mesopotamia, Assyrian Periods 2 (Anm. 20), 108. 37
BRAUN-HOLZINGER, E., Figürliche Bronzen aus Mesopotamien, München 1984, 55f, Nr. 195,
Tf. 39. 38
PKG 14, Abb. 103 (akkadzeitlichen Stele), 113 (Gudea-zeitliches Stelenfragment), 183 (altba-
bylonisches Felsrelief des Anubanini). BARNETT, R./LORENZINI, A., Assyrische Skulpturen im
British Museum, Recklinghausen 1975, Tf. VI (Held, Mischwesen und Gott), Abb. 21f (assyrische
Soldaten), 176 (Araber) und 178 (Mischwesen). 39
SEIDL, U., *Muttergöttin. B. I. Ikonographie, RlA 8, 1993–1997, 519. 40
U.a. SCHROER/STAUBLI, Körpersymbolik (Anm. 6), 84.
Körperkonzeption in der altorientalischen Kunst 133
Orient machen die Kleider auf jeden Fall den Menschen. Nicht der Kleider-
schnitt unterscheidet die sozialen Schichten, sondern die Stoffart und die
Schmuckmenge. Ein geschmückter, bekleideter oder nackter Körper drückt
Reichtum und Attraktion aus.
Die Körperteile
Bisher wurde der gesamte Körper betrachtet. Dass die Menschen im Alten
Orient den Körper als eine in viele Teile gegliederte und additiv zusam-
mengestellte Einheit betrachteten, zeigen Omina oder Beschwörungen. Da-
bei waren die Körperteile sicher mit einer, wenn auch nicht immer sehr
konkreten Vorstellung verbunden. Im Folgenden geht es nicht um die äuße-
re Bildform – diese ändert sich je nach Epoche und unterliegt stilistischen
Kriterien –, sondern um die mögliche Art und Weise, wie sich die Symbolik
auf die Darstellung der einzelnen Körperteile niederschlägt (s. auch Anm. 3
und 4).
Der Kopf (qaqqadu, rēšu) als der Körperteil, auf den man bei menschli-
chem Kontakt zuerst blickt, steht für die gesamte Person und für ihr Anse-
hen.41 Der Kopf eignet sich daher besonders als pars pro toto. Neuassyrische
Elfenbeine zeigen ein eingerahmtes Frauengesicht, das gemeinhin als „Frau
am Fenster“ bezeichnet wird und kürzlich als glückbringende und schüt-
zende Baštu interpretiert wurde.42
Der Mund (pû) ist das Organ, mit dem man spricht, isst und auch atmet.
Da im Alten Orient die Analogie zwischen einer Statue und dem dargestell-
ten Wesen so weit ging, dass die Statue ein lebender Vertreter des abgebil-
deten Wesens war, wurde der Statue in detailliert festgelegten Kulthandlun-
gen der Mund geöffnet.43 Ohne Mundöffnung hätte die Statue nicht atmen
und essen, also nicht leben können.
Ich kenne kein Bild, auf dem die Nase (appu) in einer besonderen Weise
hervorgehoben wäre oder auch fehlen würde.44 Den in Texten belegten
41
Bei den Hethitern ist der Kopf der Sitz des Willens, die Seele der Sitz der Sinnlichkeit. Gefühle
sitzen im Herz, in der Seele und im Leib: KAMMENHUBER, A., Die hethitischen Vorstellungen von
Seele und Leib, Herz und Leibesinnerem, Kopf und Person, ZA 56, 1964, 150–210. 42
REHM, E., Abschied von der Heiligen Hure. Zum Bildmotiv der „Frau am Fenster“ in der phöni-
zisch-nordsyrischen Elfenbeinschnitzkunst, UF 35, 2003, 487–519. 43
WALKER, CHR./DICK, M., The Induction of the Cult Image in Ancient Mesopotamia: The Meso-
potamian Mīs Pî Ritual, Helsinki 2001; BERLEJUNG, A., Die Theologie der Bilder. Herstellung und
Einweihung von Kultbildern in Mesopotamien und die alttestamentliche Bilderpolemik, OBO 162,
1998, 178–283. 44
Als Sanktion gegen Diebstahl oder Ehebruch wurde die Nase abgeschnitten. Diebe und Ehebre-
cher wurden aber nicht abgebildet! Vgl. CAD, appu A 1; HAAS, V., Die Frauen mit den verstüm-
Astrid Nunn 134
Ausdruck „am Nasenseil halten“45 erkennen wir auf Bildern. Besiegte Fein-
de und Vassallen werden mit einem Ring durch die Nase,46 aber auch durch
die Lippen (oder den Kiefer?) an der Leine geführt.47
Augen (īnu) sehen. Noch heute beeindrucken uns die riesig geöffneten
Augen der frühdynastischen sog. Beterstatuetten (Abb. 3). Sie standen in ei-
nem Tempel vor einem Gott. Obwohl wir nicht wissen, was sie genau taten,
empfinden wir dank der großen Augen eine Verbundenheit zwischen Statue
und Gott als besonders wahrscheinlich. Augen wurden meist durch farbige
Intarsien betont. Gab es keine Einlage, so wurden sie sehr oft bemalt. Ša-
maš ist als Sonnengott, der morgens im Osten aufsteht, tagsüber den Weg
nach Westen geht und nachts den Weg von Westen nach Osten in der Erde
zurückgeht, der Gott, der alles sieht und dadurch Gott der Gerechtigkeit.
Seine Augen brauchten aber nicht anders als üblich dargestellt zu werden.
Emotionen, Gefühle und Affekte gehören zum Menschsein und existieren
in jeder antiken oder modernen Kultur. Unterschiede gibt es allerdings im
Ausdruck dieser Emotionen, ob schriftlich48 oder bildlich. Liebe, erotische
Liebe, gewalttätige Liebe, Trauer und Reue werden etwa im Gilgameš-Epos
ausgedrückt. Sicherlich geben Träume oder die Alltagskorrespondenz der
altbabylonischen Frauen aus Mari einen Einblick in das, was den Menschen
im antiken Orient bewegte. Weiterhin wurde versucht, den Charakter der
assyrischen Könige in die von den Griechen erarbeiteten Kategorien des
Melancholikers, des Cholerikers, des Phlegmatikers und des Sanguinikers
einzuordnen.49 Aber die assyrischen Könige werden in den Texten nicht nach
ihren Eigenschaften beschrieben, sondern nach denen, die ein assyrischer
König besitzen muss. Den „echten“ Charakter können wir heute höchstens
zwischen den Zeilen lesen, wenn etwa der kränkelnde Asarhaddon häufiger
als andere assyrische Könige auf Ärzte und die Auskünfte von Wahrsagern
zurückgreift. Wir können auch versuchen, den Code, der hinter der offiziel-
len Sprache steckt, zu entziffern. Natürlich hat es Emotionen gegeben, sie
wurden aber nicht in den Gesichtszügen gezeigt. Ein kurzer Blick reicht, um
festzustellen, dass die Gesichtsausdrücke aller abgebildeten Götter und Men-
melten Nasen. Eine Notiz zum hethitischen Ištar-Kult, in: GRAZIANI, S. (Hg.), Studi sul Vicino
Oriente Antico dedicati alla memoria di Luigi Cagni, Bd. I, 2000, 421–431. 45
STRECK, Bildersprache (Anm. 4), 233. 46
BÖRKER-KLÄHN, J., Altvorderasiatische Bildstelen und vergleichbare Felsreliefs, Baghdader
Forschungen 4, 1982, Nr. 31 (Relief des Anubanini in Sar-i Pol). PKG 14, 238ff, Fig 44k (Rollsie-
gel der Ur-III-Zeit). 47
PKG 14, Abb. 226 (Orthostatenrelief Sargons II.), 232 = BÖRKER-KLÄHN, Bildstelen (Anm.
46), Nr. 219 (Stele des Asarhaddon). 48
JAQUES, M., Le vocabulaire des sentiments dans les textes sumériens, AOAT 332, Münster
2006. 49
FREYDANK, H., Altorientalische Charaktere, in: ZABLOCKA, J./ZAWADZKI, S. (Hg.), Everyday
Life in Ancient Near East, Šulmu IV, Poznan 1993, 93–104.
Körperkonzeption in der altorientalischen Kunst 135
schen gleich sind: kein Lachen, keine Freude, keine Bekundung von Bewun-
derung oder Staunen, kein Weinen, keine Angstgefühle, keine Trauer. Dass
dies so ist, hängt mit der Stellung des Individuums in der altorientalischen
Gesellschaft zusammen. Nicht das Individuum Mensch zählt, sondern seine
soziale Stellung. Wie dies mit der Darstellung des einzelnen Menschen ver-
einbar ist, wurde vereinzelt angesprochen. Die m.E. beste Überlegung dazu
stammt von I. Winter.50 Nicht die Gesichtszüge, sondern verschiedene Ele-
mente individualisieren die dargestellte Person. Diese Elemente können eine
Inschrift, ein Gewand, eine Frisur, ein Attribut oder eine Haltung sein. I.
Winter bezeichnet diese Elemente als „signature elements“. Kurzum, nicht
Portrait oder Gesichtszüge drücken Emotionen aus, sondern äußere Merkma-
le, unter ihnen Haltungen und Gestik. Diese Emotion, also die damit verbun-
dene Gestik, ist wiederum eng verbunden mit dem sozialen Status des Darge-
stellten. Einige Gesten erwähne ich weiter unten.
Üppiger Haarwuchs symbolisiert in zahlreichen Kulturen Stärke, die
schwindet, wenn die Haare geschnitten werden. Der „ “, was akka-
disch „haarig“ bedeutet, wurde mit dem Wesen gleichgesetzt, das zunächst
die moderne Bezeichnung „sechslockiger Held“ trug.51 Der La mu ist ein
übernatürliches Wesen, das schützt und Glück bringt. Zahlreiche Könige –
wie etwa Gilgameš – betonen die Fülle ihrer Haare. Einen Eindruck dieser
antiken Pracht bekommen wir, wenn wir die raffinierte Frisur des akkad-
zeitlichen Kupferkopfes betrachten, der wahrscheinlich Naram-Sîn darstellt.
Haare und Bart schimmern blau und ähneln dem kostbaren Lapislazuli. Die
meisten Könige lassen sich bärtig darstellen. Der Bart ist Symbol ihrer
Männlichkeit und ihrer Stärke. Fehlt der Bart, wie bei Gudea (2100), so ist
vielleicht der religiöse Aspekt der königlichen Herrschaft hervorgehoben.
Andererseits lässt eine zu ausgedehnte Behaarung an Tierisches denken.
Enkidu, zunächst der wilde Widersacher Gilgamešens, ist „dicht behaart an
seinem ganzen Leibe“ (I, 105). Der babylonische König Nabonid (555–539)
bevorzugte dem Staatsgott Marduk den Gott Sîn. Nach mehreren Jahren
wirtschaftlicher Not in Babylonien ging er ins Exil nach Teima im heutigen
Norden Saudi-Arabiens. Diese Jahre werden im Buch Daniel unvorteilhaft
50
WINTER, I., Rezension zu A. Spycket, La statuaire du Proche-Orient ancien, JCS 36, 1984, 102–
114. SCHLOSSMAN, B., Portraiture in Mesopotamia in the Late Third and Early Second Millennium
B.C., AfO 26, 1978–79, 56–77 und AfO 28, 1981–82, 143–170, hatte davor schon versucht,
portraithafte Züge zu erkennen. Dieser Aufsatz bleibt jedoch eine stilistische Einordnung von
Statuen, die sich ähneln oder demselben Kanon folgen. So auch CZICHON, R., Die Gestaltungs-
prinzipien der neuassyrischen Flachbildkunst und ihre Entwicklung vom 9. zum 7. Jahrhundert
v.Chr., Münchener Vorderasiatische Studien XIII, 1992, 70f. 51
WIGGERMANN, F.A.M., Exit talim! Studies in Babylonian Demonology I, JEOL 27, 1981–82,
90–105.
Astrid Nunn 136
beschrieben. Dort heißt es: „Nebukadnezar52 (604–562) musste sich von
Gras ernähren wie die Ochsen. Der Tau des Himmels benetzte seinen Kör-
per, bis seine Haare so lang wie Adlerfedern waren und seine Nägel wie
Vogelkrallen“ (Daniel 4,30).
Die als Körperteil so wichtige Hand (qātu) steht in Texten auch für
Macht und Kraft. Sie taucht auf altorientalischen Bildern für sich allein
(Abb. 14) zwar öfters als ein Fuß oder ein Ohr auf, ein häufiges Bildelement
ist sie dennoch nicht. In Form von Handabdrücken wird sie seit dem Neo-
lithikum dargestellt. In Çatal Hüyük (7. Jt. v.Chr.) zieren Reihen von vier-
oder meist fünffingerigen Händen die Wände.53 Die Hände sind rot und
schwarz, die rechten meist rot, die linken meist schwarz. Die weltverbreite-
te Symbolik der guten roten rechten Seite und der schlechten schwarzen
linken Seite kommt hier zum Ausdruck. Wahrscheinlich war für den anti-
ken Betrachter der Rechts-Links-Aspekt der wichtigste. Er zumindest war
festgelegt. In seinem Aufsatz über die Hand wehrt sich S. Mittmann gegen
eine früher vertretene These, wonach die Hand das Symbol einer göttlichen
und apotropäischen Macht sei und befürwortet wohl zu Recht ein breitgefä-
chertes Bedeutungsspektrum, in dem Götterverehrung, Fürbitte, Segensgruß
oder auch Schutz durch Götter und Helden ihren Platz finden.54
Der Fuß (šēpu) ist so vielseitig verwendbar wie seine Symbolik wohl
auch. Zeigt ein Gott oder ein König, dass er Feinde besiegt hat, so setzt er
seinen Fuß über sie, eine Geste, die wir bildlich kennen55 (Abb. 15) und die
ebenfalls in Texten beschrieben wird. In einem Gebet an Ištar wünscht sich
der Herrscher, dass sie ihm das Niedertreten der Feinde ermögliche.56 Dabei
ist die Herrschaft über Besiegte zugleich wohlwollender Schutz des neuen
großmütigen Herrschers. Setzt ein Held (ein König) seinen Fuß auf ein
schwaches Tier, das wiederum von einem stärkerem angegriffen wird, dann
beherrscht zwar der Held das schwache Tier, aber schützt es auch (Abb. 16).
Der Fuß bedeutet ebenfalls Besitz. Diese Bedeutung finden wir wieder,
wenn bei einem Grundstücksverkauf der neue Besitzer den Grundstücksbo-
52
Mit diesem Namen ist Nabonid gemeint: BEAULIEU, P.-A., The Reign of Nabonidus King of
Babylon 556–539 B.C., New Haven 1989, 129, 149. 53
NUNN, A., Die Wandmalerei und der glasierte Wandschmuck im Alten Orient, Leiden 1988, 38
und Tf. 7. 54
MITTMANN, S., Das Symbol der Hand in der altorientalischen Ikonographie, in: KIEFFER,
R./BERGMAN, J. (Hg.), La Main de Dieu. Die Hand Gottes, WUNT 94, Tübingen 1997, 19–47. 55
BÖRKER-KLÄHN, Altvorderasiatische Bildstelen (Anm. 46), Nr. 21c und 26 (Naram-Sîn-Stele,
Akkadzeit), Nr. 29–31, 33 (Anubanini), Nr. 111b (altbabylonisch). MIGLUS, P., Die Siegesstele des
Königs Dāduša von Ešnunna und ihre Stellung in der Kunst Mesopotamiens und der Nachbargebiete,
in: DITTMANN, R./EDER, C./JACOBS, B. (Hg.), Altertumswissenschaften im Dialog (FS W. Nagel),
AOAT 306, 2003, 397–419; KOCH, H., Es kündet Dareios der König, Mainz 1992, 15ff (Behistun-
Relief). PKG 14, Abb. 139k, Abb. 267K und 347f, Abb. 103B (altbabylonische Rollsiegel). 56
„Auf den Nacken treten“: STRECK, Bildersprache (Anm. 4), 233; FALKENSTEIN, A./VON SODEN,
W., Sumerische und akkadische Hymnen und Gebete, Zürich 1953, 333.
Körperkonzeption in der altorientalischen Kunst 137
den mit seinem Fuß in die Fußstapfen des alten Besitzers tritt.57 In Emar
waren drei Tonabdrücke von Kinderfüßen mit einem Vertrag beschriftet.
Dieser besagt, dass der Vater seine Kinder wegen Verschuldung verkaufen
musste, dass der Käufer die Kinder jedoch in der Obhut ihres Vaters ließ,
bis sie groß genug waren, um für ihn zu arbeiten. In den Ton sind die Na-
men der Kinder, zwei Zeugen und Siegel eingedrückt.58
Im frühen Mittelalter verliehen Füße, wenn sie nebeneinander erschie-
nen, einer Gestalt Majestät und Statur, suggerierten Weisheit und Tugend.
Aber weil Füße den Staub der Erde berühren, symbolisieren sie auch Demut
und willige Knechtschaft.59 Obwohl es nicht nachweisbar ist, bin ich ge-
neigt, diese Bedeutung auch für den Alten Orient anzunehmen. Statuen
repräsentieren den Herrscher in seiner zeitlosen Macht, vor den Göttern und
den Menschen. In der neuassyrischen Zeit zeigen die Herrscher nackte Füße
bei ihren Statuen und beschuhte Füße auf den Orthostatenreliefs in Szenen,
wo sie agieren. Nackte Füße bekunden den Menschen gegenüber Stärke und
den Göttern gegenüber Demut. Die Schuhe suggerieren hingegen Alltag –
die Könige trugen ja Schuhe – und dadurch Historizität. Vielleicht gilt dies
schon für frühere Epochen. Die sehr schöne akkadzeitliche Plastik zeigt
barfüßige Herrscher, deren Füße gekonnt ausgearbeitet sind. Gudea trägt
auf seinen Statuen keine Schuhe. Er und Urnammu erscheinen barfüßig vor
den Göttern. Andererseits gibt es kein ausreichend gut erhaltenes Herr-
scherbild, in dem Gudea in einer historischen Szene auftaucht. Urnammu
erscheint unbeschuht als Bauherr auf dem dritten Register seiner Stele,60
Naram-Sîn hingegen trägt Schuhe auf seinem Feldzug gegen die Lulubäer
(Abb. 1). Aus Texten wissen wir, dass Priester barfuß den Tempel betraten.
Zwei Kalksteinplatten pflastern den Boden im Eingang zur Vorcella des
Tempels von Ain Dara (Abb. 17). Die Abdrücke zweier nebeneinander lie-
gender Füße wurden in die äußere Platte eingemeißelt, der Abdruck des
linken Fußes befindet sich auf der folgenden Platte. Zwischen Vorcella und
Cella liegt eine weitere Platte, die mit dem Abdruck des rechten Fußes verse-
hen wurde. Sämtliche Fußabdrücke sind 97 cm groß, 35–36 cm breit und
nach innen gerichtet. Sie sind im Alten Orient einmalig.61 Weil diese Abdrü-
57
KEEL, O., Symbolik des Fußes im Alten Testament und seiner Umwelt, Orthopädische Praxis
18/7, 1982, 534f. 58
SYRIE. Mémoire et Civilisation, Institut du Monde Arabe, Paris, 1993, 219 Nr. 165; FORTIN, M.
(Hg.), Syrien. Wiege der Kultur, Ausstellungskatalog Québec, 1999 und Basel 1999–2000, 286
Nr. 300f; JANOWSKI, B./WILHELM, G. (Hg.), Texte zum Rechts- und Wirtschaftsleben, TUAT, NF
I, Gütersloh, 2004, 151f. 59
MANGUEL, A., Bilder lesen. Eine Geschichte der Liebe und des Hasses, Rowohlt Taschenbuch
2002, 86. 60
Urnammu-Stele: BÖRKER-KLÄHN, Altvorderasiatische Bildstelen (Anm. 46), Tf. 14. 61
Ain Dara liegt Luftlinie 35 km nordwestlich von Aleppo. Diese Tempelphase geht auf das Ende
des 2. Jt. v.Chr. zurück: ABOU ASSAF, A., Der Tempel von 'Ain Dārā, Damaszener Forschungen 3,
Astrid Nunn 138
cke ins Tempelinnere weisen, wurden sie als Wegweiser für den Gläubigen
gedeutet. Spuren oder Abdrücke sind nicht nur Zeichen, sondern auch Bilder,
die das Eingedrückte personifizieren. In diesem Fall kann es sich nicht um
einen menschlichen Fuß handeln – er ist viel zu groß –, sondern um einen
göttlichen. Möglicherweise verkörpert der Fußabdruck die göttliche Präsenz
im Tempel. Er steht als Teil der Statue, gleichsam als Fortsetzung der Statue
in Form ihrer Abdrücke. Wäre dies ein Beispiel für Antikörperlichkeit?
Gestik
Einzelne Körperteile drücken im Alten Orient nur implizit etwas aus, da sie
in keiner außergewöhnlichen Art und Weise dargestellt werden. Sehr große
Ohren oder eine unförmige Nase würden unsere Aufmerksamkeit auf Ohr
oder Nase lenken. Solche Beispiele habe ich aber nicht gefunden. Gesten
drücken hingegen – stark kulturell geprägt – ein weites Spektrum an macht-
politischen, religiösen oder emotionalen Situationen aus, die wir teilweise
noch heute auch ohne Textbegleitung verstehen können.62
Im politisch-historischen Bereich vermitteln einige klare Bilder sowohl
Unterwerfung wie auch Angst: unterworfene Feinde zeigen am Rücken
gefesselte Arme;63 sie liegen nackt oder bekleidet64 auf dem Boden; Königs-
diener oder besiegte Feinde knien vor dem König, liegen ihm zu Füßen oder
küssen den Boden;65 sie halten ihre Arme in einer Flehgebärde hoch (Abb. 1);66 abtransportierte Zivilbevölkerung hält einen Arm oder zwei über dem
1990, 14, 17 und Tf. 11; Ders., Zur Bedeutung der Fußabdrücke im Tempel von 'Ain Dara, in:
MEYER, J.-W./NOVÁK, M./PRUSS, A. (Hg.), Beiträge zur Vorderasiatischen Archäologie, Winfried
Orthmann gewidmet, Frankfurt/Main, 2001, 20–23. 62
BONATZ, D., Gebärden, I. Alter Orient, Neuer Pauly 4, 1998, 818f; CHOKSY, J., In Reverence for
Deities and Submission to Kings: A Few Gestures in Ancient Near Eastern Societies, Iranica
Antiqua 37, 2002, 7–29. 63
Schon auf Stempelsiegeln aus Tepe Gaura XIA (Mitte des 4. Jt., VON WICKEDE, A., Prähistori-
sche Stempelglyptik in Vorderasien, Münchener Vorderasiatische Studien VI, München 1990, Nr.
300), auf urukzeitlichen Rollsiegeln (PKG 14, 223 Fig. 39d), auf akkadzeitlichen Stelen (PKG 14,
Abb. 98, 103) oder auf neuassyrischen Orthostatenreliefs, BARNETT/LORENZINI, Assyrische
Skulpturen (Anm. 38), Tf. 31. 64
Schon auf den Siegeln der Schicht Uruk V,
BOEHMER, R.M., Uruk. Früheste Siegelabrollungen,
AUWE 24, 1999, Tf. 19–23. Auf der frühdynastischen Geierstele (PKG 14, Abb. 91), akkadzeit-
lich (PKG 14, Abb. 102), häufige Darstellungen auf den Steinorthostaten oder den Bronzetoren der
neuassyrischen Zeit. 65
Vielleicht schon auf den Uruk V-Siegeln, BOEHMER, Uruk (Anm. 64), Tf. 24ff. In der neuassy-
rischen Kunst: BARNETT/LORENZINI, Assyrische Skulpturen (Anm. 38), Tf. 156, 167 und Tf. 45 =
BÖRKER-KLÄHN, Altvorderasiatische Bildstelen (Anm. 46), Nr. 152 (Schwarzer Obelisk, Ulai-
Schlacht). 66
Vom Ende des 4. Jt. bis zur neuassyrischen Kunst, Uruk V-Siegel in: BOEHMER, Uruk (Anm.
64), Tf. 14f, 17, 26f; BÖRKER-KLÄHN, Altvorderasiatische Bildstelen (Anm. 46), Nr. 21 (akka-
Körperkonzeption in der altorientalischen Kunst 139
Kopf.67 Die Haltung des Bein- und Fußerhebens habe ich oben erwähnt. Ei-
nige dieser Gesten können kombiniert werden, etwa wenn ein nackter Be-
siegter auf dem Boden liegt und seine Arme in Flehgebärde hochhält.
Religiöse Haltungen sind Knien, seine Hände vor der Brust verschrän-
ken, die „Hand erheben“, die „Fäuste öffnen“, die Hände erheben, den Zei-
gefinger ausstrecken …68 Privatere Gefühle, wie die der Freude, dürfen wir
bei der Haltung von Menschen, die Musik spielen oder an Festen teilneh-
men, annehmen.69 Paare und (seltene) „Familienbilder“ drücken Liebe aus.70
Trauergebärde ist im Gegensatz zu Ägypten im mesopotamischen Kernland
nicht unmittelbar aus den Bildern zu erschließen. Trauerszenen mit Klage-
frauen kommen auf den neuassyrischen Orthostatenreliefs, die uns das
reichhaltigste Bildmaterial liefern, nicht vor, obwohl Trauerrituale in Tex-
ten beschrieben werden.71 Der Ahiram-Sarkophag aus Byblos zeigt jeweils
vier Trauernde auf den Schmalseiten.72
Die Gestik ist stereotypisch. Sie erlaubte es, unterschiedliche Situationen
mit festgelegten Mitteln auszudrücken, die jeder verstand. Auch sie ist eine
Körperkonzeption, deren oberstes Ziel es ist, begriffen zu werden.
Die Negation des Körpers
Da Aussage und Verständnis das Vorrangigste sind, kann das für uns realis-
tische Bild leicht durch ein anderes nicht realistisches ersetzt werden, so-
lange auch dieses verstanden wird. Dieses Phänomen beobachten wir von
der Mitte des 2. Jahrtausends an, wenn die anthropomorphen Götterstatuen
durch Symbole ersetzt werden. Diese Symbole, die einer anthropomorphen
Gottesstatue in göttlicher Immanenz und in Kulthandlungen völlig gleich-
gestellt waren,73 zeigen, dass ein Körper nicht unbedingt wichtig ist, son-
dern seine Aussage. Das ist ein zusätzliches Argument, um Ain Daras Fuß-
stapfen als zwar sehr außergewöhnliche, aber durchaus denkbare göttliche
Präsenz im Tempel zu interpretieren.
disch) = PKG 14, Abb. 102, Abb. 139k und 182a (altbabylonisch). BARNETT/LORENZINI, Assyri-
sche Skulpturen (Anm. 38), Tf. 79f, 156, 158. 67
BARNETT/LORENZINI, Assyrische Skulpturen (Anm. 38), Tf. 27. 68
MAGEN, U., Assyrische Königsdarstellungen – Aspekte der Herrschaft, BaF 9, 1986. 69
BÖRKER-KLÄHN, Altvorderasiatische Bildstelen (Anm. 46), Nr. 88 (Gudea-Stele); BARNETT/
LORENZINI, Assyrische Skulpturen (Anm. 38), Tf. 161. 70
PKG 14, Abb. 20 (frühdynastische Beterstatuette), 184a (altbabylonische Terrakotta). BUCCEL-
LATI, G./KELLY-BUCCELLATI, M., The Royal Storehouse of Urkesh. The Glyptic Evidence from
the Southwestern Wing, AfO 42/43, 1995/96, 10 (akkadisches Rollsiegel). 71
ALSTER, B., The Mythology of Mourning, Acta Sumerologica 5, 1983, 1–16. 72
REHM, E., Der Ahiram-Sarkophag, Mainz 2004, Tf. 4 und 7. 73
BERLEJUNG, Theologie (Anm. 43), 34f.
Astrid Nunn 140
Schluss
Sprache und Bilder zeigen eindeutig, dass nicht Formen oder Aussehen an
sich die Altorientalen interessiert haben, sondern die Wirkung, die diese
ausüben sollten. Ihre Aussage steht im Vordergrund, diese Aussage ist sehr
konkret und wird wiederum durch den Kontext ausgedrückt und erläutert.
Der Bildkontext ist für Menschen abwechslungsreicher als für Götter. Götter
werden am häufigsten stehend oder sitzend abgebildet, vor ihnen stehen
Menschen. Dagegen kommen Menschen in sehr unterschiedlichem religiö-
sem oder historischem Kontext vor. Auch hier gilt, wer abgebildet werden
soll: ein siegender König, ein betender Mensch oder ein arbeitender Schrei-
ner. So werden die Abstrakta Macht, Stärke oder Schönheit eines Helden
oder eines Königs nicht durch seine Gesichtszüge bezeugt, sondern durch
Attribute – Bildinszenierung, Haltung, Bekleidung, Größe, Haarwuchs, Bart
oder auch Kopfbedeckung und Schmuck … – ausgedrückt. Könige und Die-
ner oder Fremdvölker unterscheiden sich nicht durch eine andere Körperlich-
keit, sondern durch ihre Bekleidung, Haartracht, Hautfarbe oder Attribute.
Insofern differieren private und öffentliche Körper nur durch ihre Haltung
oder ihre Kleidung. Die Schönheit eines sexuell anziehenden Körpers wird
nie genau beschrieben, sondern nur metaphorisch mit schönen Sachen vergli-
chen. Die einzusetzenden Mittel – legere Kleidung, Schmuck, Schminke,
Parfum … – vermitteln Hörern oder Lesern einen Geschmack des Schönen.
Eine abstrakte Körperkonzeption fehlt. Aber ich würde dennoch von
Idealtypen sprechen, da gezielte Körperwiedergaben mit Idealen verbunden
sind. Angestrebt wird die bestmögliche Äquivalenz zwischen Aussage und
Bildergebnis. Einige Aspekte, etwa die Macht, werden über die 3000 histori-
schen Jahre der altorientalischen Kultur im Zentrum des Interesses bleiben.
Diese Ideale sind nicht abstrakt, sondern mit ganz konkreten Elementen
verbunden. Wenn zwei sehr unterschiedliche Menschentypen zeitgleich
existieren, – etwa ein schlanker und eine gedrungener Menschentyp wie in
der Kassitenzeit – würde ich diese zwei Typen keinesfalls als realistische
Wiedergabe von schlanken und gestauchten Menschen und auch nicht als
signifikanten Stilgriff betrachten, sondern als eine uns unklare Aussage über
zwei zu unterscheidende Menschengruppen. Das Kürzen des Halses betont
die Massigkeit des Oberkörpers. Gestauchtheit steht also auch für Stabilität
und erhöht die Stärke und die Männlichkeit des dargestellten Menschen. Bei
der nackten Frau spielen Anmut und sexuelle Anziehungskraft sicher eine
entscheidende Rolle. Dennoch bleibt, dass sämtliche Frauenbilder tief veran-
kerte Symbole verkörpern, deren Anwesenheit in den Häusern, als Weihgabe
in den Tempeln und gelegentlich in Gräbern der gesamten Familie Schutz
und Glück bringen sollten.
Körperkonzeption in der altorientalischen Kunst 141
Die Körperlichkeit der altorientalischen Kunst ist einfach und nüchtern,
kurzum unauffällig. Es ist kein Zufall, dass ihre Schlichtheit den heutigen
ästhetischen Geschmack anspricht und moderne Künstler inspiriert hat.74 In
den Fußstapfen des für die damalige Zeit bahnbrechenden „Musée imaginai-
re“ (Paris, 1951 und 1952) von A. Malraux, in dem er über die schönsten
Objekte der Weltkunst nebeneinander und ohne Hierarchie schwärmte, stellte
A. Parrot einem Kopf von Gudea einen von Brancusi gegenüber.75 Diese
Gegenüberstellung fasziniert, obwohl wir hier Zeugen einer völlig falschen
Interpretation der antiken Kunstwerke werden. Die Schlichtheit eines Kör-
pers interessierte den altorientalischen Betrachter nur solange sie gerechtfer-
tigt war. Dabei spielte der ästhetische Geschmack natürlich auch eine Rolle.
Aber weniger die Form an sich, sondern die Äquivalenz zwischen Ästhetik
und Aussage galt im Alten Orient, um gelungene Bilder von weniger gelun-
genen Bildern zu unterscheiden. Zu den kaum vorhandenen schriftlichen
Zeugnissen über Kunstbetrachtungen gehört ein Brief des Bildhauers Nabu-
ašared an Assurbanipal:
Seiner Majestät dem König!
Dein Diener Nabu-ašared:
Mögen Aššur und Ešarra den König segnen!
Bezüglich der Angelegenheit, über die der König mich gefragt hat: […] und Bêl-ibni
[…] (zerstört). Wir haben jetzt dem König zwei königliche Statuen geschickt. Ich habe
die, welche „Gestalt“ hat, gemacht; sie haben die andere gemacht, die eine gewisse
Plumpheit hat. Möge der König sie sich anschauen! Wir werden jene vollenden, die der
König vorzieht. Der König sollte besondere Aufmerksamkeit auf die Hände wenden,
auf das Kinn und die Haartracht. An der Statue, die sie (die anderen) anfertigten, liegt
das Szepter über dem Arm, sein Arm ruht auf seiner Hüfte. Ich kann diesem nicht zu-
stimmen und werde es nicht tun. Wenn ich mit ihnen (den anderen Bildhauern) über
guten Geschmack oder irgendetwas anderes rede, hören sie mir nicht einmal zu […]
(zerstört).76
Die „Gestalt“ darf nicht plump sein, im Mittelpunkt des Interesses stehen das
Gesicht mit dem Kinn, die Haare, der Oberkörper mit den Armen, den Hän-
den und dem, was sie halten, hier ein Szepter, und der Unterkörper mit der
Hüfte. Dass der König, sind diese „Elemente“ gut verteilt, dann machtvoll,
kräftig, schön, Angst und Respekt einflößend … erscheint, ist selbstverständ-
lich.
74
TEJA BACH, F., Shaping the Beginning. Modern Artists and the Ancient Eastern Mediterranean,
with a contribution by V. Brinkmann, Ausstellungskatalog, Athen 2006, 64 mit Statue von H.
Moore nach Gudea … CZICHON, Gestaltungsprinzipien (Anm. 50), 14, zitiert einen Satz von P.
Picasso: „Die assyrischen Reliefs bewahren noch die gleiche Reinheit des Ausdrucks. Diese
wunderbare Einfachheit ist verlorengegangen, weil der Mensch aufgehört hat, einfach zu sein“. 75
PARROT, A., Sumer, L'Univers des formes, Paris 1960, XLI. 76
BARNETT/LORENZINI, Assyrische Skulpturen (Anm. 38), 37f. Kursive Hervorhebung von mir.
Körperkonzeption in der altorientalischen Kunst 145
Abb. 7: Halaf-Figur
Abb. 8: Stempelsiegel aus Susa
Astrid Nunn 146
Abb. 9a: Tell Zeror Abb. 9b: Tell Zeror
Abb. 10a: Tell Taanach Abb. 10b: Tell Beit Mirsim
Astrid Nunn 150
Abbildungsnachweis
1. Naram-Sîn-Stele, Susa, H. 2 m. A. PARROT, Sumer, Univers des Formes, Paris 1960, Abb.213.
Akkadzeit.
2. Gudea I, Tello/Girsu, H. 0,45 m. a) A. MOORTGAT, Die Kunst des Alten Mesopotamien, Köln
1967, Abb.168, b) PARROT, Sumer, Abb. 251. Ur-III-Zeit.
3. Beterstatuetten aus Tell Asmar/Ešnunna. H.: Mann 0,72 m und Frau 0,59 m. PARROT, Sumer,
Abb.135. Frühdynastisch II.
4. Fragment vom Sitzbild eines nackten Mannes, Susa, H. 10,5 cm. MOORTGAT, Kunst, Köln
1967, Abb. 145–146. Akkadzeit.
5. Stele, Susa, H. 0,46 m. Internet (1) oder MOORTGAT, Kunst, Abb. 138 (2). Sargon-zeitlich =
Akkadzeit.
6. Ton-Plakette mit Kampf zwischen Humbaba, Gilgameš und Enkidu, Kunsthandel, H. 8,1 cm.
PKG 14, Abb. 186a. Altbabylonisch.
7. Frauenfigur, Kunsthandel, H. 8,8 cm. Idole. Frühe Götterbilder und Opfergaben, Ausstellungs-
katalog München 1985, Mainz 1985, Abb. 1. Halaf-Zeit.
8. Stempelsiegel aus Susa B, niv. 11. P. AMIET, La glyptique mésopotamienne archaïque, Paris 2.
Auflage 1980, Nr. 119. 4000–3500.
9. Terrakotte mit einer Frau, die ihre nackten Brüste darbietet, a.–b. Tell Zeror, Spätbronzezeit
und Eisenzeit. O. KEEL/C. UEHLINGER, Göttinnen, Götter und Gottessymbole, Freiburg, 1992,
111 Nr. 121b und 122a. c. Munbaqa, H. 17,8. D. MACHULE/R. CZICHON/P. WERNER, Ausgra-
bungen in Tall Munbāqa 1987, MDOG 121, 1989, 73.
10. Terrakotte mit einer Frau, deren Hände auf die Scham weisen, a. Tell Taanach, Spätbronzezeit
und b. Tell Beit Mirsim, Eisenzeit. KEEL/UEHLINGER, Göttinnen, 111 Nr. 121c und 122b.
11. Terrakotte mit einer Frau, die ein Kind stillt, Isin, H. 9 cm. B. HROUDA (Hg.), Der Alte Orient,
München 1991, 224.
12. Männliche Statuette, Kunsthandel, H. 15 cm. E. BRAUN-HOLZINGER, Figürliche Bronzen aus
Mesopotamien, München 1984, Tf. 39 Nr. 195. Altbabylonisch.
13. Tonplakette, Kunstandel. S. SCHROER/TH. STAUBLI, Die Körpersymbolik der Bibel, Darmstadt
1998, 84 Abb. 24. Altbabylonisch.
14. Zwei Rollsiegel, Kunsthandel, a. altbabylonisch, b. H. 1,6 cm, altsyrisch. S. MITTMANN, Das
Symbol der Hand in der altorientalischen Ikonographie, in: R. KIEFFER/J. BERGMAN (Hg.), La
Main de Dieu. Die Hand Gottes, WUNT 94, Tübingen 1997, 34 Abb. 1b und 1c.
15. Felsrelief in Sar-i Pul-i Zohab II. J. BÖRKER-KLÄHN, Altvorderasiatische Bildstelen und
vergleichbare Felsreliefs, Baghdader Forschungen 4, 1982, Abb. 31. Beginn des 2. Jt.
16. Neubabylonisches Rollsiegel, Uruk, H. 3,8 cm. S. SCHROER/TH. STAUBLI, Die Körpersymbolik
der Bibel, Darmstadt 1998, 216 Abb. 94. Ende 9.–8. Jh.
17. Ain Dara, Fußabdrücke im Tempel, L. 0,97 m. A. Abou Assaf, Der Tempel von ’Ain Dārā,
Damaszener Forschungen 3, 1990, 14, 17 und Tf. 11. Ende des 2. Jt.