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Ägyptens Texte entdecken – Leben, Liebe, Weisheit und Tod

Date post: 21-Apr-2023
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Ägy p tens Schätze entdecken
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ÄgyptensSchätze entdecken

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jochem kahl2

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Meisterwerke aus dem Ägyptischen Museum Turin

PRESTELMünchen · London · New York

ÄgyptensSchätze entdecken

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Historisches Museum der Pfalz

Domplatz 4 • 67346 Speyer

Telefon 0 62 32-13 25-0

www.museum.speyer.de

[email protected]

© Prestel Verlag, München • London • New York, 2012

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Prestel Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Neumarkter Straße 28 • 81673 München

Telefon 0 89-41 36-0

www.prestel.de

Projektleitung Verlag: Anja Besserer

Lektorat: Michaela Franke, Leonberg

Gestaltung: Verlagsbüro Wais & Partner, Stuttgart

Herstellung: Andrea Cobré

Art Direction: Cilly Klotz

Lithografie: Baun Prepress, Fellbach

Druck und Bindung: Himmer, Augsburg

isbn 978-3-7913-5192-6 (Buchhandelsausgabe)

isbn 978-3-7913-6399-8 (Museumsausgabe)

Verlagsgruppe Random House fsc-deu-0100

Das für dieses Buch verwendete fsc-zertifizierte Papier

Hello Fat matt liefert Papier-Union, Ehingen.

Diese Publikation erscheint anlässlich der Ausstellung

»Ägyptens Schätze entdecken. Meisterwerke aus dem Ägyptischen Museum Turin«

vom 11. März bis 2. September 2012 im Historischen Museum der Pfalz Speyer.

Förderer und Sponsoren

Leihgeber

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1 Die Kalksteinstatue eines

Schreibers repräsentiert einen

hohen Beamten: »Großer der

Zehn von Oberägypten, Vorsteher

der Doppelpyramide des Snofru,

Henka« (Berlin, Ägyptisches

Museum und Papyrussammlung,

Staat liche Museen zu Berlin,

Inv.Nr. ÄM 7334).

ägyptens texte entdecken 101

Ägyptens Texte entdeckenLeben, Liebe, Weisheit, Tod

von ursula verhoeven

Tempel und Gräber, Skulpturen und Särge, Objekte

aus Bronze, Edelsteinen oder Gold – diese materiellen

Schätze sind es, die bei der ersten Begegnung mit der

altägyptischen Kultur zumeist ins Auge fallen und

forschungsgeschichtlich am Anfang des Interesses

standen. Das Verständnis der monumentalen Formen,

menschlichen Figuren, Handlungen, Symbole oder

Gegenstände scheint uns relativ leicht, da die Schön-

heitsideale der Ägypter und die ausgewogenen Pro-

portionen sich von unseren Darstellungsmustern

nicht allzu s ehr unterscheiden. Doch was steht ge-

danklich dahinter?

Im Alten Ägypten war das Bild oder Artefakt fast im-

mer von Text begleitet, man kann s ogar sagen, de -

korierte Grab- und Tempelwände, aber auch Statuen

und kleine Amulette mussten oder konnten gelesen

werden, da nur der Name oder die Inschrift sicher-

stellte, dass ein Abbild richtig funktionierte (Abb. 1).

An dererseits haben uns die ägyptischen Schreiber ein

reiches Repertoire an Sc hriftquellen hinterlassen,

durch die wir über individuelle Lebensläufe und Kri-

sen, Jenseitshoffnungen und Gottesvorstellungen un-

terrichtet werden, aber auch Einblicke in spannende

Konzep te und Deutungen von Mensch und Natur ge-

winnen können.

Die ersten altägyptischen Schriftzeugnisse tauchen

um 3200 v.Chr. auf, beispielsweise in Form von Etiket -

ten an königlichen Grabbeigaben, die Auskunft über

Besitzer und Herkunft der Güter geben. Das Mittel der

Schrift erleichterte die zentral gesteuerte Verwaltung

des Landes, wurde aber auch bereits früh im Kult und

zur Speicherung von Wissen benötigt. Auch für Ver-

storbene war Schreibmaterial eine wichtige Beigabe:

So ließ sich König Hor Den/ Udimu (um 2 939–

2892 v.Chr.) einen leeren Papyrus mit ins Grab legen.

Der älteste niedergeschriebene vollständige Satz

stammt aus der Zeit des Königs Peribsen (2749–

2734 v.Chr.) am Ende der 2. Dynastie. Er bezieht sich

auf eine Verwaltungs tätigkeit im R ahmen des Göt-

terkultes und benennt dabei das gott-menschliche

Vater-Sohn-Verhältnis, in dem der ägyptische König

gesehen wurde: »Jedes Objekt aus Gold siegeln für

den Ombiten (Gott Seth), nachdem er die Beiden Län-

der (Ägypten) für seinen Sohn, den Doppelkönig

Peribsen, vereinigt hat.« (Abb. 2).

Bereits von Anfang an ist zu erkennen, dass die Ägyp-

ter neben den kunstvollen und detailreichen Hiero-

glyphen, die v.a. in Stein gemeißelt wurden, eine ver-

ein fachte Schreibschrift benutzten, die mit Tinte auf

Papyrus, Leder, Leinen, Holz, Stein oder Ton geschrie -

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ben werden konnte. Die ägyptische Hieroglyphe für

»Schrift« und »schreiben« stellt das nötige Material für

das Schreiben mit der Hand für diese dar: als Schreib-

gerät Binsenstängel in einem Etui, ein Ledersäckchen

für Farbpigmente und eine Palette mit zwei Vertie-

fungen für unterschiedliche Tinte (Abb. 4; Kat.Nr. 21).

Da diese Schrift ab etwa 650 v.Chr. vornehmlich von

Priestern verwendet wurde, erhielt sie im 2. Jh. n.Chr.

den Namen »Hieratisch« (hieratika = priesterlich),

während die Bezeichnung »Hieroglyphen« sich ei-

gentlich nur auf die gemeißelten ausführlichen Zei-

chen der altägyptischen Schrift bezieht. Beide Schrift-

arten, Hieroglyphen und Hieratisch, wurden bis in

die Römerzeit verwendet: Die späteste hieroglyphische

Inschrift kann in das Jahr 394 n.Chr. datiert werden.

Ab dem 7. Jh. v.Chr. entwickelte sich eine noch stärker

abgekürzte Handschrift, die wie die zugehörige

Sprachstufe als »Demotisch« bezeichnet wird. Sie ist

zuletzt in einem Graffito aus dem Jahr 452 n.Chr. zu

finden. Beide Quellen stammen vom Tempel der Insel

Philae.

Ein wichtiges Bindeglied für die Wiederentdeckung

der altägyptischen Sprache, Schrift und Texte ist

schließlich das Koptische, die letzte Sprachstufe, die

vom Altägyptischen abstammt, aber mit griechischen

Buchstaben sowie einigen Zusatzzeichen geschrieben

wurde. Als Sprache beziehungsweise durch die aktive

Produktion von Schriftzeugnissen ist das Koptische

von etwa 100 n.Chr. bis ins 17. Jh. nachweisbar. Noch

heute wird es von den koptischen Christen in Ägypten

zumindest in der Liturgie verwendet. Daher konnten

Jean-François Champollion (1790– 1832) und andere

Gelehrte im 18./ 19. Jh. diese Sprache bereits verstehen,

während die Kenntnis vom System der Hieroglyphen -

schrift in der Spätantike verloren gegangen war. Erst

das Dekret auf dem Stein von Rosetta (London, The

British Museum, Inv.Nr. EA 24; Abb. 3), das für die

multi kultu relle Bevölkerung der Ptolemäerzeit (306/

304–30 v.Chr.) in Hieroglyphisch-Ägyptisch, Demo-

tisch und Griechisch verfasst und geschrieben war,

sowie die Kenntnis einiger Königskartuschen aus Tem-

peln oder von Statuen ermöglichte die neuzeitliche

Entzif ferung und damit di e Erschließung altägyp -

tischer Texte: Das hieroglyphische Schriftsystem war

weder eine reine Bilderschrift noch eine reine Laut-

schrift, sondern kombinierte phonetische Zeichen,

2 Aus der Zeit des Königs

Peribsen (2749 – 2734 v.Chr.)

stammt der älteste vollständige

Satz in hieroglyphischer Schrift.

ursula verhoeven102

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die für einen bestimmten Laut oder eine Lautfolge

stehen, mit De utzeichen, die z. B. die Kategorien

Mensch, Säuge tier, Gebäude, Abstraktes usw. bezeich -

nen. Außerdem benutzte man Zeichen, die symbol-

haft direkt das bedeuten, was sie darstellen. So kann

der ägyptische Hausgrundriss 1.) mit einem zu-

sätzlichen Strich versehen »Haus« bedeuten oder 2.)

ande re Bezeichnungen für Gebäude, z.B. »Tempel«,

»Palast«, als solche kennzeichnen und 3.) mit seiner

eigenen Lautung »per« in e ntsprechend lautenden

Wörtern vorkommen, z.B. »peri« »herausgehen«:

1) symbolisch: per »Haus«

2) deutend: hut »Gehöft, Gebäude«;

setep-sa »Palast«

3) phonetisch: peri »herausgehen«.

Den phonetischen Wert der Hieroglyphen erkannte

Jean-François Champollion 1822 speziell an d en

Königs namen »Ptolemaios« und »Kleopatra«. Die

Kombinierbarkeit von Lautzeichen und Symbolzei-

chen wurde ihm deutlich am Königsnamen »Ramses«,

in dem der erste Bestandteil Ra, der Sonnengott, nur

mit der Sonnenscheibe geschrieben wird, währe nd

der zweite Bestandteil mit den Lautzeichen für »ms«

und »s« phonetisch geschrieben und als »hat ihn ge-

boren« zu lesen ist. Nachdem dieses Prinzip verstan-

den war, eröffneten sich ganz neue Zugänge zur alt-

ägyptischen Kultur.

Jean-François Champollion genügte es nicht mehr,

die Zeichnungen der napoleonischen Expedition und

die Objekte im Pariser Louvre zu studieren, er fuhr be-

reits 1824 nach Turin, um das reiche Textmaterial der

Sammlung von Bernardino Drovetti (1776– 1852) ken-

nenzulernen. Unter anderem rekonstruierte er dort

den berühmten Turiner Königspapyrus aus der Zeit

Ramses’ II. (1279– 1213 v.Chr.), der die Königsnamen

der Vergangenheit enthielt. Dies war teilweise nur mit-

hilfe der Überlieferung des ägyptischen Geschichts-

schreibers Manetho (285– 246 v. Chr.) möglich, der

eine Chronik des pharaonischen Ägypten verfasst

hatte.

ägyptens texte entdecken 103

3 Der Stein von Rosetta über lie-

fert ein dreisprachiges Priesterdekret

aus dem Jahr 196 v.Chr. und ermög-

lichte damit die Entschlüsselung der

Hieroglyphen.

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Sehr früh bekannt war auch eine Sammlung von illus -

trierten Sprüchen auf zahlreichen Papyri, die sich offen -

sichtlich auf das Jenseits bezogen. Im zweiten Band der

Antikenbeschreibung der Description de l’Égypte von

1799 sowie in einer Publikation von 1805 durch Jean

Marcel Cadet liegen die ältesten Veröffentlichungen

eines solchen Pariser Papyrus vor. Champollion deute -

te diese Texte als Grabritual (»Rituel funéraire«), 1842

benutzte der Berliner Ägyptologe Karl Richard Lepsius

(1810–1884) für diese Spruchsammlung den bis heute

geläufigen, wenn auch nicht sehr passenden Begriff

»Todtenbuch der Ägypter«, als er einen knapp 17,5 m

langen hieroglyphischen Papyrus aus Turin (Turin,

Ägyptisches Museum, Inv.Nr. Cat. 1791) in einer eige-

nen Abschrift publizierte und an i hm die bis heute

gültige Einteilung und Nummerierung der Sprü-

che 1–165 festlegte. Die ägyptische Bezeichnung »An-

fang der Sprüche vom Herausgehen am Tage« lässt

den eigentlichen Zweck besser erkennen (Kat.Nr. 22;

vgl. Beitrag Gülden, Herausgehen).

Weitere, auch heute noch wichtige historische oder

lite rarische Texte prägten bereits in d er Mitte des

4 Schreibgerät als Hiero gly-

phe aus dem Grab des Rechmire

in Theben-West (TT 100), um

1420 v.Chr.

ursula verhoeven104

19. Jhs. das Bild Europas vom Alten Ägypten, beson-

ders durch die Publikationen von Emmanuel de Rougé

(1811– 1872) in den 1850er-Jahren: Die persönliche Bio-

grafie des Ahmose, Sohn des Ibana, aus dessen Grab

in Elkab (Oberägypten), beschreibt die Kämpfe zu

Beginn des Neuen Reiches (1550– 1070 v.Chr.); die voll-

ständig erhaltene Erzählung von den zwei Brüdern

Anubis und Bata auf dem Papyrus d’Orbiney (London,

The British Museum, Inv.Nr. EA 10183) schildert die

märchenhafte Lebensgeschichte zweier Hirten und

Viehzüchter bis zur K rönung des jüngeren Bruders

zum König; auf dem Papyrus Sallier III (London, The

British Museum, Inv.Nr. EA 10181) ist die poetische

Form eines Kriegsberichtes über die Schlacht Ram-

ses’ II. im syrischen Kadesch erhalten.

In England arbeitete auch Charles Wycliffe Goodwin

(1817– 1878) an diesen drei Texten und gab 1858 gleich

eine Neubearbeitung heraus, in der er außerdem den

Papyrus Prisse (Paris, Bibliothèque National de France,

Inv.Nr. 183– 194) erstmals vorstellte, dessen »Lehre des

Ptahhotep« er als »das älteste Buch der Welt« verstand.

Der Protagonist Ptahhotep ist zwar nach Aussage des

Textes angeblich ein Bürgermeister und Wesir am

Ende der 5. Dynastie (um 240 0 v. Chr.), allerdings

dürfte der Text nach heutigen Erkenntnissen erst in der

12. Dynastie (1976– 1793 v.Chr.) verfasst und ihm nach-

träglich oder fiktiv zugeschrieben worden sein. Äu-

ßerst kunstvoll ist der Beginn, in dem Ptahhotep seine

Altersbeschwerden minutiös aufzählt, um zu be-

gründen, warum er seine Weisheiten zu Papyrus brin-

gen will. Weiter heißt es: »Es gibt keinen, der weise ge-

boren wurde« und er empfiehlt seinem Nachfolger als

Erstes: »Fühle dich nicht erhaben wegen deiner Kennt-

nisse, sondern berate dich mit dem Unwissenden wie

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mit dem Wissenden.« Seine teilweise immer noch ak-

tuellen Lebensweisheiten entsprechen den »Tugenden

der ägyptischen Welt« (Junge 2003.) und zeugen von

reichen Erfahrungen in zielorientierter Geschäftsfüh-

rung als Verwaltungsbeamter. Höf lichkeit und Be-

scheidenheit, Redlichkeit, eine stabile Meinung und

die Beachtung der Hierarchien und unterschiedlicher

Kommunikationssituationen sind Empfehlungen für

einen gerechten Beamten, der am Hof Karriere ma-

chen will. Auch Sensibilität und fast schon psycho-

therapeutische Methoden gehörten zum Repertoire:

»Wenn du ein Mann in leitender Position bist, dann

höre geduldig auf das Wort des Bittstellers.

Weise ihn nicht ab, bis er seinen Leib ganz ›ausgekehrt‹

hat von dem, was er dir zu sagen beabsichtigte. Ein

Kummervoller wünscht mehr, sein Herz auszuschütten,

als dass geschieht, weswegen er kam. Wenn aber

Bittsteller abgewiesen werden, dann sagt man:

›Warum in aller Welt lehnt er das ab?‹ Aber auch

wenn sich all das, worum er bat, nicht erfüllt, eine

›Herzensglättung‹ ist das gute Zuhören.«17. Maxime

Wie viel wir heutzutage vom ursprünglichen Reichtum

ägyptischer Textproduktion kennen, ist schwer zu sa-

gen, für das Alte Reich (2707– 2170 v.Chr.) nimmt man

an, dass nur ein Hunderttausendstel der Texte erhalten

blieb. Die mündliche Überlieferung wird im Alt en

Ägypten außerdem immer eine sehr große Rolle ge-

spielt haben, vergleichbar mit orientalischen Geschich -

tenerzählern oder der europäischen Märchenkultur.

Die bislang bearbeitete »Literatur« der Ägypter enthält

eine große Vielfalt an Formen und Inhalten, wobei die

Gattungen von heute sich nicht einfach auf die alten

Werke übertragen lassen. Gedicht, Epos, Roman,

Novelle, Drama oder Märchen entstammen unserer

eigenen Kultur- und Geistesgeschichte, vor deren Hin-

tergrund sie jeweils gesehen werden sollten. Auch in

Ägypten war der historische Kontext oder die gesell-

schaftliche Funktion der Texte ausschlaggebend für

Form und Inhalt. Aus der Autobiografie eines Grab-

besitzers, die er sich an den Wänden seines Felsgrabes

eingravieren ließ, mag sich die Gattung der autobio-

grafischen Erzählung entwickelt haben. Berühmtes

Beispiel ist die fiktive Lebensgeschichte des Sinuhe, die

um 1900 v.Chr. erstmals niedergeschrieben (Papyrus

Berlin, Ägyptisches Museum, Inv.Nr. P 3022) und in

späteren Epochen als Schultext verwendet wurde. Ge-

schichten von Zauberern, Königen, Göttern und Hel-

den zogen die Zuhörer oder Leser offensichtlich sehr

stark in ihren Bann. In diesen Werken finden sich un-

terschiedlichste zwischenmenschliche Erfahrungen

von Leben und Tod, Liebe und Eifersucht, Wahrheit

und Lüge, Zwietracht und Hilfe, Sieg und Niederlage.

Mütter und Väter sorgen sich um ihre Kinder, Brüder

haben Ärger mit ihren Frauen, Untergebene werden

ungerecht behandelt, Könige vergiftet, und gerne

werden auch die Grenzen zwischen Ägypten und Aus-

land, Diesseits und Jenseits, Menschenwelt und Göt-

terwelt überschritten.

Viel Raum für Spekulation bieten Textquellen, deren

Anfang oder Ende nicht mehr vorhanden ist, so der

Bericht über die schwierige Handelsmission des We-

na mun, der im L ibanon Bauholz für die Barke des

Amun besorgen soll (Papyrus Moskau, Puschkin-

Museum, Inv.Nr. 120). Wegen Diebstahls und auf-

grund von Zuständigkeitsproblemen aber irrt er zwei

Jahre lang umher, bis er auf Zypern landet, wo er zur

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lokalen Fürstin gebracht wird, die angeblich Ägyp-

tisch versteht. An dieser Stelle bricht der einzige Text-

zeuge unvermittelt ab, obwohl noch für einige Zeilen

Platz auf dem letzten Papyrusblatt gewesen wäre.

Wird er mit der Fürstin glücklich? Kehrt er erfolgreich

nach Ägypten zurück? A uch der »Verwunschene

Prinz« will sich, ebenfalls im Ausland, drei Schicksa-

len stellen, die sein Leben bedrohen. Nachdem er die

ersten beiden Gefahren in G estalt von Hund und

Schlange offensichtlich abgewendet hat, nähert er sich

einem See, in dem die dritte Macht, ein krokodil arti-

ges Wesen, auf ihn lauert – aber der Ausgang der Ge-

schichte ist leider unbekannt, da die einzig erhalte ne

Textquelle, ein Papyrus (London, The British Muse um,

Inv.Nr. EA 10060), bei einem Brand beschädigt wurde.

Grundsätzlich ist zu beo bachten, dass tr aditionelle

Texte und uralte Rituale immer wieder benutzt und

manchmal nur wenig verändert wurden. Die Schreiber

mühten sich, in Arc hiven die besten Vorlagen und

Varianten zu finden, um zuverlässige Abschriften her-

stellen zu können. Andererseits tauchen auch sprach-

liche Modernisierungen, inhaltliche Umdeutungen

und neue Varianten auf. Zwischen den großen Bi-

bliotheken und Schulen des Landes muss es enge Be-

ziehungen gegeben haben, denn von manchen Wer-

ken existieren Kopien oder Zitate über Jahrtausende

und weite Entfernungen hinweg. So wurden z.B. Text-

kompositionen aus Assiut etwa 500 Jahre später in

Theben wieder verwendet.

Andererseits gibt es auch Anzeichen dafür, dass Au-

toren eine große Freude am s elbst geschriebenen

Wort, an aktuellen und anspruchsvollen Formulierun -

gen hatten. Die Klage eines Mannes namens Chache-

perreseneb, die frühestens ins 1 9. Jh. v. Chr. datiert

(Holztafel London, The British Museum, Inv.Nr.

EA 5645), könnte auch aus dem Mund eines zeitge-

nössischen Schriftstellers des 21. Jhs. n.Chr. stammen:

»Oh hätte ich doch unbekannte Redewendungen,

ungewöhnliche Sprüche,

in neuen Worten, die noch nicht gebraucht wurden,

frei von Wiederholungen! Nicht die Sprüche an

bekannter Rede, die (schon) die Vorfahren

gesprochen haben.«Burkard/ Thissen 2007, S. 138.

Schrift-, Wort- und Zahlenspiele, Lautmalereien, Alli -

te rationen, Parallelismen, tabellenartige oder sogar

wie Kreuzworträtsel gestaltete Texte zeugen von am-

bitionierter und kultivierter Schreibkunst, die in der

Ptolemäerzeit u. a. durch eine Verzehnfachung der

Anzahl der Schriftzeichen ihren Höhepunkt erreicht.

Die Verwendung von roten Verspunkten, Überschrif-

ten, Gebrauchsanweisungen und mitunter Seiten-

zahlen, aber auch Korrekturen und Anmerkungen

lassen dabei erkennen, dass man die Leser oder Be-

nutzer der Texte im Auge behielt.

Obwohl die meisten Werke keine Verfasser nennen,

kennen wir eine Reihe berühmter Autoren, entweder

aufgrund ihrer Werke oder weil die Nachwelt an sie er-

innert. Erst seit etwa 20 Jahren ist das Werk eines Man-

nes aus Deir el-Medineh in der Ägyptologie bekann-

ter geworden, da immer mehr Textzeugen zutage

traten: Amunnacht, Sohn des Ipuye, war ab 1167 v.Chr.

über 30 Jahre lang unter vier verschiedenen Ramessi-

denkönigen als Schreiber der thebanischen Nekropo -

le tätig (vgl. Beitrag Verhoeven, Butehamun). Er ver-

fasste zwei Dichtungen, vier Hymnen und eine eige ne

neue Lehre, in der er z.B. Belesenheit empfiehlt:

ursula verhoeven106

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5 Graffito in Grab N13.1

in Assiut mit der Erwähnung

des »Bürgermeisters und Wesirs

Kairsu«

Lit.: Brunner-Traut 1991. – Burkard/Thissen 2007. – Burkard/ Thissen 2008. – Hoffmann/ Quack 2007. – Kurth 1999. –Junge 2003. – Loprieno 1996. – Parkinson 2009. – Quack 2005. –Schlott 1989. – Verhoeven 2009.

ägyptens texte entdecken 107

»Wende dich nicht ab von den Worten und

Sprüchen der alten Schriften. […] Werde Schreiber

und gehe im Lebenshaus (Bibliothek) umher,

werde wie eine Bücherkiste!«

Möglichem Desinteresse am Lernen wird der Nutzen

einer Ausbildung gegenübergestellt:

»Siehe, nützlicher ist es, sie (die Schule) zu vollenden

als das Riechen der Lotosblüten in de r Sommerzeit,

und als Salböl im Grabe«. Burkard/ Thissen 2008, S. 127.

Neue Textquellen sind allerorts von großer Wichtig-

keit für die Forschung, wie sich jüngst in Assiut zeigte.

Hier wurden in einem verschütteten Grab 200 Text-

und Bildgraffiti an den Wänden entdeckt, die zum

einen von Besuchen hoch oben auf dem Gräberberg

berichten, zum anderen die Anfangspassagen berühm -

ter Literaturwerke, die auch in der Schule geübt wur-

den, wiedergeben. Letzteres ist nur für dieses Grab

belegt, in Deir el-Medineh schrieb man literarische

Passagen dagegen auf Kalksteinscherben. Aufgrund

von Überlieferungszufällen war der Name des Autors

der sogenannten Loyalistischen Lehre auf keiner der

bekannten Quellen (eine Holztafel, drei Papyri und

65 Ostraka) erhalten, sodass man auf Spekulationen

angewiesen war. Das neu entdeckte Grab N13.1 in As-

siut bietet nun Graffiti mit dre i verschie denen Ab-

schriften dieser Lehre, und an einer Stelle sind erst-

mals der Name und weitere Titel des Autors erhalten,

sodass der »Bürgermeister und Wesir Kairsu« jetzt

endlich zu seinem Urheberrecht kommt! (Abb. 5)

Die Geschichte und die Bandbreite der ägyptischen

Literatur sind zu groß, um sie in diesem Rahmen auf-

fächern zu können. Neben den hier nur exemplarisch

herausgegriffenen Erzählungen, Märchen, Lehren und

Dichtungen gibt es zahlreiche Briefe – übrigens auch

an Verstorbene –, Urkunden, historische Texte, reli-

giös-theologische Hymnen und Traktate, Mythen,

Unterweltsbücher und Ritualanweisungen, heilkund -

liche Werke sowie Wissenstexte zu Mathematik, As-

tronomie oder Schlangenkunde, verschiedene kult-

topografische Kompendien, Fest- und Loskalender,

Anweisungen zur Traumdeutung und vieles andere

mehr. Monumentalinschriften in Gräbern, auf Stelen

und in Tempeln sind ein weiterer immenser Fundus

für historische oder kultische Fragen. Etliche Text-

quellen sind immer noch unzureichend oder noch

gar nicht bearbeitet. Auch die spätägyptische, Demo-

tisch geschriebene Erzählliteratur ab der 2. Hälfte des

1. Jts. v.Chr., von der in den letzten Jahren viele umfang -

reiche Quellen erschlossen werden konnten, berichtet

von Geistern, Priestern oder Kriegshelden vergange-

ner Epochen, die zumeist in Konflikte mit Fremdlän-

dern oder in schwierige Liebesbeziehungen geraten:

Die Themen für Spannung und Abenteuer haben sich

über die Jahrtausende offensichtlich kaum verändert.

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