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BA Paradox der Ausnahme

Date post: 07-Mar-2023
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Das Paradox der Ausnahme – Theorien der Souveränität in Bezug auf Gyula Krúdys „Utolsó szivar az Arabs szürkénél“ Exception and Paradox – Theories of sovereignty in Gyula Krúdys „Utolsó szivar az Arabs szürkénél“ Bachelorarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Bachelor of Arts (B.A.) im Fach Ungarische Literatur und Kultur Humboldt-Universität zu Berlin Philosophische Fakultät II Institut für Slawistik eingereicht von Merten Both geb. am 03.01.1975 in Räckelwitz 1. Gutachter/in: Professor Csongor Lőrincz 1
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Das Paradox der Ausnahme – Theorien der Souveränität in Bezugauf Gyula Krúdys „Utolsó szivar az Arabs szürkénél“

Exception and Paradox – Theories of sovereignty in Gyula Krúdys„Utolsó szivar az Arabs szürkénél“

Bachelorarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades

Bachelor of Arts (B.A.)

im Fach Ungarische Literatur und Kultur

Humboldt-Universität zu BerlinPhilosophische Fakultät IIInstitut für Slawistik

eingereicht von Merten Bothgeb. am 03.01.1975in Räckelwitz

1. Gutachter/in: Professor Csongor Lőrincz

1

2. Gutachter/in Professor György Eisemann

Berlin, den 17.11.2014

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil..................................................4Die Erzählung inhaltlich und formal.........................4Die theoretischen Texte zum Ausnahmezustand.................6

Zweiter Teil................................................11Souveränität per Autorität: das Todesurteil................11Leere, Mehrdeutigkeit – Effekt der souveränen Entscheidung: der Ausnahmezustand........................................12Die Fiktionalität des Textes: das Sprachspiel..............14Der Befehl als Rätsel: die Paradoxie des Befehls...........15Der Oberst.................................................19Der „Arabische Schimmel“ – die Ökonomie des Paradox........27Das Sich-Versprechen des Anderen...........................29Zur „Rhetorik der Souveränität“............................31Die Stillung...............................................34

Zusammenfassung.............................................41

Literaturverzeichnis........................................43

2

Einleitung

„Das ‚unlösliche Verschwimmen der feindlichen Elemente

ineinander’, das ist ‚eben der wahre Charakter alles

Lebendigen; jedes Daseiende birgt seinen Gegensatz; das

pulsierende Leben besteht in der fortwährenden Durchdringung der

entgegengesetzten Kräfte; und in der Tat sind sie erst

wirklich entgegengesetzte, wenn man sie aus dem Leben

herausschneidet’“.1 Diese Sätze, die aus der Geschichte der sozialen

Bewegung in Frankreich von Lorenz von Stein stammen und die Carl

Schmitt in seinem Buch Politische Theologie zitiert, könnten das

(vielleicht ironische) Motto der 1927 in der

Literaturzeitschrift A Nyugat erschienenen Erzählung Utolsó szivar

az Arabs szürkénél (Letzte Zigarre im Arabischen Schimmel) von

Gyula Krúdy bilden. Dabei ist es ebenso wenig ein Zufall, dass

Schmitt Stein zitiert, wie Steins Sätze auf den literarischen

Text bezogen werden können. Die Identität, die alle drei Texte

– mehr oder weniger – miteinander teilen oder zumindest

berühren, ist der Ausnahmezustand oder die Ausnahme. Unter

Zuhilfenahme weiterer theoretischer Texte, dem Homo Sacer von

Giorgio Agamben sowie Ursprung des deutschen Trauerspiels und Zur Kritik

der Gewalt von Walter Benjamin soll der literarische Text Gyula

Krúdys hinsichtlich dieser Identität gelesen werden, die er –

und das ist zugleich die These dieser Arbeit – sozusagen

umfassender beschreibt oder vielmehr: die seine Struktur in

einer Weise prägt, dass die Punkte, die die einzelnen

theoretischen Texte berühren gleichsam vom literarischen Text

zusammengefasst, in ihm konzentriert werden, ja dass es sich

1 Carl Schmitt: Politische Theologie, 78

3

bei Utolsó szivar az Arabs szürkénél um eine Art versprachlichten

Ausnahmezustand, ein auf der Ebene der Sprache sich

entfaltendes Paradox handelt. Die Theorie soll den

literarischen Text beleuchteten, jedoch ohne eine Art

interpretative Norm zur Anwendung zu bringen. Der Erzähltext

soll in keiner Weise den Beweis antreten, dass die genannten

theoretischen Texte wahr oder falsch wären. Umgekehrt soll der

literarische Text aber auch nicht anhand der Theorien auf die

Tragfähigkeit seiner von ihm beschriebenen Realität geprüft

werden. Eher sollen die Gedanken der Theorie die

Interpretation anregen.

Die vorliegende Arbeit besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil

sollen die genannten theoretischen Texte auf das Wesentliche

beschränkt vorgestellt werden, gleichsam als die Punkte, an

denen der Interpretationshorizont des literarischen Textes

aufgespannt wird. Eine kurze Charakterisierung der Thematik

und der Sprachlichkeit der Krúdy-Erzählung soll das

Verständnis des zweiten Teils dieser Arbeit erleichtern.

Der zweite Teil ist der Analyse der Erzählung im Horizont der

vorgestellten Theorien gewidmet. Es ist der Hauptteil der

Arbeit, und zugleich die Grundlage der Zusammenfassung, die

die eingangs genannte These kritisch verhandelt.

Noch ein Wort zum Quellenmaterial. Der Erzähltext liegt auf

Deutsch leider nur in einer fehlerhaften Übersetzung vor. Alle

Zitate aus diesem Text sind daher Übersetzungen des Autors

dieser Arbeit. Der ungarische Originaltext stammt aus der

Magyar Elektronikus Könyvtár; leider fehlen bei dieser Quelle

4

die Seitenzahlen. Ich habe mich dennoch für diese Quelle

entschieden, um den Zugang zu dem relativ kurzen Text

unkompliziert zu gestalten.

5

Erster Teil

Die Erzählung inhaltlich und formal

Will man Gyula Krúdys Erzählung thematisch fassen, müsste man

von der Geschichte eines Ehrenhandels zwischen der elitär-

aristokratischen Institution des „Kasinos“ und einem

Journalisten reden, wenn man so will, einem Vertreter

demokratischer Öffentlichkeit, der einen aus der Sicht des

Kasinos beleidigenden Artikel hat drucken lassen hat.

Interessanterweise begnügt sich das Kasino aber nicht damit,

Satisfaktion von dem Journalisten zu verlangen. Der

Repräsentant und Zweikämpfer, den das Kasino einsetzt – ein

„Oberst a.D.“ –, gilt nämlich als der beste Schütze des

Landes. Der Ausgang des Duells soll beschlossene Sache sein:

der Journalist muss sterben. Das so bedingte Duell gleicht

viel eher einer Hinrichtung als einem Zweikampf. Der Text

scheint die Ungeheuerlichkeit eines Auftragsmordes zu

erzählen, der als Duell, d.h. als zwar gewaltsame, jedoch mehr

oder weniger faire und gleichsam dem Wirken Gottes, den

Unwägbarkeiten des Zweikampfes unterworfene Auseinandersetzung

verschleiert werden soll. Doch das Duell – und auch die

Erzählung – endet nicht mit dem Tod des Journalisten. Der

Oberst stirbt. Eine Art Bericht seines Todes bildet den

Schluss der Erzählung. Das Wirken Gottes, das durch die

besondere und – von Seiten des Kasinos – intentionale

Konstellation des Zweikampfes ausgeschlossen werden sollte,

scheint am Ende zu seinem „Recht“ zu kommen. Die Hybris der

6

„Herren“ des Kasinos scheint bestraft, die Souveränität, die

das Kasino sich selbst zuspricht, von der sie gleichsam

ausgeht, erweist sich als illusionär.2

Doch es gibt im Krúdy-Text ein Element, das auf einer weiteren

Ebene in Verbindung mit den genannten Texten steht. Man könnte

vielleicht sagen, dass die Sprachlichkeit der Erzählung von

einer starken Poetizität geprägt ist. Ihre Sätze oder

sprachlichen Einheiten bilden in ihrer besonderen

Bezüglichkeit einen metaphorischen Sinn. Ja, die sprachliche

Oberfläche des Textes, seine Textur, das besondere

Verwobensein der Wörter bildet neben dem Wortsinn oder Inhalt

einen weiteren, geschehnishaften Sinn.

Der erste Satz der Erzählung soll diese Behauptung

illustrieren: „Der Oberst hatte heute einen Menschen zu

erschießen, er war dazu vom Kasino berufen worden, nachdem die

Herren ihre Entscheidung im Englischen Zimmer gefällt hatten,

das seinen Namen dem Besuch des Herzogs von Wales verdankte.“3

Der angesprochene Komplex von Recht und Gesetz bzw. die

juristische Ausnahme, die das autoritär und unter Abwesenheit

des Verurteilten gefällte Todesurteil schafft, sind zusammen

2 Parallele: Die Termini „Ungeheuerlichkeit“, „Mord“, „Duell“, „Ehre“ sind leicht in Verbindung mit der eingangs zitierten Feindschaft oder Gegensätzlichkeit zu bringen. Außerdem verweisen sie aber auch auf den Begriff der Souveränität, insofern man in der Verschleierung des vermeintlichen Mordes das Problem der Legitimität, d.h. den gesamten Komplex von Recht und Gesetz erkennt und damit nicht zuletzt auch das Verhältnis von Ausnahme und Regel, das eine der zentralen Fragen der Schmittschen Theorie ausmacht, die in ihm den Ursprung der Souveränität ansiedelt.3 Gyula Krúdy: Utolsó szivar az Arabs szürkénél, http://epa.oszk.hu/00000/00022/00425/13282.htm (zuletzt am 17.11.2014 aufgerufen).

7

mit der durch das Urteil (Entscheidung) geschaffenen

Souveränität des Kasinos in Bezug auf den Verurteilten relativ

evident. Im Verborgenen oder „zwischen“ den Sätzen entfaltet

der Satz aber genau jenes Geschehen, das seine eigentliche

oder wörtliche Bedeutung erweitert oder beeinträchtigt. Das

Verhältnis von Bezeichnung und historischem Index des Ortes

oder „Zimmers“, in dem die Entscheidung fällt, birgt eine

Differenz, Bezeichnung und Bezeichnetes decken sich nicht.

Denn der historische Fakt des Besuches des Herzogs von Wales

soll dadurch eine Würdigung erfahren, dass er mit einem Namen

bezeichnet wird, der ihn gar nicht nennt: das „Englische

Zimmer“. Dieser Inkongruenz entspringt die eigentümliche

Dynamik des Satzes: die Bezeichnung „Englisches Zimmer“

verliert in der Konfrontation mit dem Index des von ihr

Gemeinten (des Zimmers), der historischen Tatsache des Besuchs

des Herzogs von Wales, ihren würdigenden Charakter. Die

Absicht der Würdigung wird als Spott, der der Effekt der

geographischen Unstimmigkeit ist, sogar in ihr Gegenteil

verkehrt. Bezeichnung und Bezeichnetes fallen über das Moment

des Ortes (des Zimmers), der als das Gemeinte der Bezeichnung

einerseits, andererseits als eine Art Spur der historischen

Tatsache oder als Objekt seines historischen Index ihren

gemeinsamen Bezug bildet einer Spaltung anheim. Denn gerade

als gemeinsamer Bezug bindet der Ort auch die

Widersprüchlichkeit oder Inkongruenz, die der Satz birgt

aneinander. Der Effekt dieses integrierenden

Ausgeschlossenseins – der gespaltenen Einheit – ist eine Art

Verlangen: das Verlangen der Bezeichnung nach dem Bezeichneten

(nach einer Referenz) und umgekehrt das Verlangen des

8

Bezeichneten nach der Bezeichnung. Die ursprüngliche

Widersprüchlichkeit dieses Verlangens bedeutet in Bezug auf

jedes einzelne seiner Glieder aber immer auch die Schaffung

einer Art sprachlichen Rests. Denn das Verlangen der einzelnen

Glieder muss das jeweils andere – gerade oder wieder aufgrund

der Widersprüchlichkeit, die ihre Gemeinsamkeit bildet –

gleichsam vernichtend in eine Art absolute

Bedeutungslosigkeit drängen, um als Geltung gestillt werden zu

können. Das heißt aber, dass dieses Verlangen nie gestillt

werden kann. Denn die Widersprüchlichkeit des Satzes kann

nicht aufgehoben werden und blockiert die Stillung immer in

dem Moment, da Bezeichnung und Bezeichnetes (oder: Rest und

Rest) einander gleichsam begegnen. Dieses blockierte Verlangen

entspricht als Bewegung einem Oszillieren, das auf den

sprachlichen Sinn übertragen nichts anders als die

Unentscheidbarkeit von Bedeutung oder: Mehrdeutigkeit ist. –

Diese paradoxe Dynamik bildet das sprachliche Geschehen des

Satzes und letztendlich die besondere Poetizität der

Erzählung. Anders ausgedrückt: die Poetizität stellt eine Art

Ausnahmezustand der Sprache dar, in dem sie gleichsam

entkleidet oder „gereinigt“ wird, wo – als Zustand – eine Art

bloße Sprache geschaffen wird.

Die theoretischen Texte zum Ausnahmezustand

Die Politische Theologie Carl Schmitts problematisiert die

politische Souveränität. Sie beginnt mit dem berühmten Satz:

9

„Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“4

Dieser Satz impliziert nicht nur eine gewisse Machtbefugnis

oder ein gewisses Gewaltmonopol; die souveräne Entscheidung

scheint Ausnahme und Regel (oder Norm) ebenso voneinander zu

trennen wie sie sie vereint. Ein besonderes aufeinander

Angewiesensein deutet sich an, das die Ausnahme erst zur

Ausnahme, die Regel erst zur Regel macht: „In seiner absoluten

Gestalt ist der Ausnahmefall dann eingetreten, wenn erst die

Situation geschaffen werden muß, in der Rechtssätze gelten

können. […] Es gibt keine Norm, die auf ein Chaos anwendbar

wäre. Die Ordnung muß hergestellt sein, damit die

Rechtsordnung einen Sinn hat. Es muß eine normale Situation

geschaffen werden, und souverän ist derjenige, der definitiv

darüber entscheidet, ob dieser normale Zustand wirklich

herrscht. […] Der Souverän schafft und garantiert die

Situation als Ganzes in ihrer Totalität. Er hat das Monopol

dieser letzten Entscheidung. […] Der Ausnahmefall offenbart

das Wesen der staatlichen Autorität am klarsten. Hier sondert

sich die Entscheidung von der Rechtsnorm, und (um es paradox

zu formulieren) die Autorität beweist, daß sie, um Recht zu

schaffen, nicht Recht zu haben braucht.“5 Norm und Ausnahme

werden in der Entscheidung darüber, was die Norm ist bzw. was

nicht Norm ist, auf den Souverän übertragen. Er vereint als

der Ursprung dieser Entscheidung Ausnahme und Norm (oder

Recht) in sich. Der „Souverän“ bildet mit seiner Entscheidung

das Moment, das die Widersprüche von Ausnahme und Regel

aneinander bindet, er ist ihr Gemeinsames.

4 Carl Schmitt: Politische Theologie, Duncker & Humblot, Berlin, 1979. 11.5 Ebda. 20.

10

Interessanterweise entwickelt Schmitt das Problem der

Souveränität aber nicht aus der Perspektive dieser Dynamik,

sozusagen nicht von seinem Ursprung her. Seine Arbeit

interessiert freilich auch vor allem die rechtliche

Begründbarkeit oder Nicht-Begründbarkeit politischer

Souveränität. Ihre Perspektive geht zwar vom Subjekt der

souveränen Entscheidung aus, betrachtet das Problem aber

gleichsam von außen.

Ausnahmezustand meint die Außerkraftsetzung geltenden Rechts.

Bei der Frage, wer derjenige sei, der diese Entscheidung

treffen darf, d.h. die Frage nach der Legitimität der

Entscheidung taucht bei Schmitt der Begriff der „Kompetenz“

auf.6 Darüber, wie diese Kompetenz sich kenntlich machen und

sozusagen an die Stelle des Entscheidenden setzen kann

schweigt er sich aber weitesgehend aus. Er unternimmt vielmehr

den Versuch, die souveräne Entscheidung historisch zu

legitimieren, indem er die Frage der Kompetenz davon abhängig

macht, ob eine Entscheidung im Weltbild einer Zeit genügend

Evidenz hat, ob sie eine metaphysische Geltung hat (d.h. ob

sie geglaubt werden kann?).7 Das heißt aber, dass letztlich

eine gewisse Notwendigkeit der Geschichte eine Autorität

einsetzen würde, die nun automatisch befugt oder berechtigt

ist, bzw. die einfach, Kraft ihrer kompetenten Autorität, über

den Ausnahmezustand entscheiden kann, wobei sie im Moment

dieser „Dezision“ wiederum als Souverän bestätigt wird. Er

zitiert Hobbes: „Autoritas non veritas facit legem.“8 Die

Souveränität ergibt sich – durch den Glauben – als historische

6 Ebda. 44.7 Ebda. 49-668 Ebda. 44.

11

Notwendigkeit. Strukturell hat sie aber keine Begründung, sie

ist nicht mehr als eine – performative – Behauptung aus dem

Nichts heraus, die – laut Schmitt – den Souverän gleichsam

macht.

Girorgio Agamben hat mit seinem Homo Sacer auf die PT Carl

Schmitts Bezug genommen. Die Performativität der Dezision

bleibt auch bei Agamben bestehen, die Entscheidung über den

Ausnahmezustand fällt auch bei ihm unbegründet (autoritär und

nicht legitim), in einem rechtlichen Nichts sozusagen, das

durch sie aber erst geschaffen wird. Agamben sieht aber die

Wirkung dieses rechtlichen Nichts. Er erkennt darin die

Schaffung eines „nackten“ Lebens, das „tötbar“ aber „nicht

opferbar“ ist.9 Dieses von ihm auch „heiliges“ Leben genannte

Leben ist aber laut Agamben der eigentliche Bezugspunkt des

(politischen) Rechts. Aus ihm schöpft es seine Kraft. Er

entdeckt im Ausnahmezustand ein Beziehungsverhältnis, eine

Relation, die er „Bann“ nennt.10 Sie verbindet die

Souveränität mit dem „nackten Leben“ des Homo Sacer, indem die

Souveränität ihn im Ausnahmezustand vom Recht ausschließt. Das

Recht „verlässt“ ihn. Diese Verlassenheit ist aber – als

Verbindung von Souveränität und nacktem Leben – ein paradoxes

einschließendes Ausschließen: „Es ist nicht die Ausnahme, die

sich der Regel entzieht, es ist die Regel, die, indem sie sich

aufhebt, der Ausnahme stattgibt [Ort gibt]; und die Regel

setzt sich als Regel, indem sie mit der Ausnahme in Beziehung

bleibt. Die besondere Kraft des Gesetzes rührt von dieser

9 Giorgio Agamben: Homo Sacer, Suhrkamp, Frankfurt/M., 2002. 92f.10 Ebda. 119.

12

Fähigkeit her, mit einem Außen in Beziehung zu bleiben.“11

Interessant an dieser Formulierung ist, dass sie von einer

„Fähigkeit“ der Regel (des Rechts) spricht. Hier wird nämlich

die Frage aufgeworfen, ob nicht der Effekt des Paradoxons auf

eines seiner Glieder übertragen wird? Denn muss es nicht als

die „Fähigkeit“ des Paradoxons gelten, eine unmögliche –

ausschließend einschließende – Beziehung zu schaffen und

aufrechtzuerhalten? Ist diese „Fähigkeit“ nicht das Paradox

per se? Dann müsste es aber auch die „Fähigkeit“ des „nackten

Lebens“ sein, in Beziehung mit etwas, dass außerhalb von ihm

ist, zu bleiben. Dann „bannt“ auch das „nackte Leben“ die

„Regel“, „verlässt“ sie und weist ihr sozusagen ihren

„eigentlichen“ Ort zu. – Der Bann scheint weniger von der sich

abwendenden, das Andere verlassenden Regel auszugehen, als

dass vielmehr die Performativität (die Gewalt) der souveränen

– autoritären – Entscheidung, die im Nichts und aus dem Nichts

sozusagen gewaltsam gefällt wird – die Paradoxie beinhaltet,

die sich in den Zustand, den sie – die performative souveräne

Entscheidung – schafft, einschreibt, und der vielleicht gerade

aufgrund seiner Paradoxie Ausnahmezustand genannt werden muss.

Oder besser: ist es nicht die entsetzende, weil Recht und

Leben (also die Bedeutung des Rechts zerstörende) voneinander

trennende performative Gewalt der souveränen Entscheidung (was

als Vermischung das Gegenteil einer trennenden Entsetzung

wäre), die sich im Ausnahmezustand als die Kraft manifestiert,

die, als potentieller Tod, das Getrennte wieder vereint

(„entscheidet“)?

11 Ebda. 28.

13

In diesem Sinn würde der Ausnahmezustand die Befreiung des

Todes als Potenz und damit als Leben bedeuten; der

Ausnahmezustand wäre nun die gegenseitige Bannung von Leben

und Tod durch die Befreiung von Gewalt. In der Entblößung

dieser Instanzen (Leben, Tod, Gewalt) offenbart sich aber auch

ihre Unbeherrschbarkeit. Mit anderen Worten vielleicht ihre

Göttlichkeit. Der Ausnahmezustand wäre ein Zustand des an Gott

ausgeliefert Seins, in dem sowohl der sogenannte Souverän als

auch die von seiner Entscheidung betroffenen „nackt“ sind.

Walter Benjamin hat in seinem Aufsatz Zur Kritik der Gewalt und

seiner Habilitationsschrift Ursprung des deutschen Trauerspiels das

Thema des Ausnahmezustandes und der Souveränität von einer

Seite oder einem Standpunkt aus betrachtet, der – aus Sicht

dieser Arbeit – sozusagen ergänzende Wahrnehmungen erlaubt. In

Kritik der Gewalt unterscheidet er zwei Sphären der Gewalt: die

„mythische Gewalt“ (die Sphäre des – grob gesagt – durch die

Organe Exekutive, Legislative, Judikative politisch

organisierten – und organisierbaren – Lebens), die er mit der

Rechtsgewalt identifiziert: „Weit entfernt, eine reinere

Sphäre zu eröffnen, zeigt die mythische Manifestation der

unmittelbaren Gewalt sich im tiefsten mit aller Rechtsgewalt

identisch…“12 und die göttliche Gewalt (die unbeherrschbare,

sich entziehende, undurchschaubare Sphäre, die im Bezug zur

„Seele“ steht).13 Diese Unterscheidung ermöglicht evtl. die

Betrachtung des Ausnahmezustandes als eine Art – politisch –

nicht mehr beherrschbare Freisetzung des Lebens, als das

12 In: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften II (Hrsg.: R. Tiedemann/ H. Schweppenhäuser), Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1999. 199.13 Ebda. 200.

14

uneingeschränkte „Walten“ Gottes.14 Von diesem

geschehnishaften Zustand (?) bleibt aber auch jede politische

Souveränität nicht unbeeinträchtigt. Entsprechend äußert sich

Benjamin auch über die Figur des Fürsten in Ursprung des deutschen

Trauerspiels. Der Souverän ist bei ihm im Gegensatz zu Schmitt

weniger der autoritäre Entscheider über den Ausnahmezustand

als vielmehr die tragische Figur, deren souveräne Entscheidung

gleichzeitig ihr Ende bedeuten kann, und die aus diesem Grund

den Ausnahmezustand vor allem zu vermeiden bestrebt ist. Das

Kennzeichen des Souveräns ist seine Entscheidungsunfähigkeit:

„Der Fürst, bei dem die Entscheidung über den Ausnahmezustand

ruht, erweist in der erstbesten Situation, daß ein Entschluß

ihm fast unmöglich ist. [Er ist der] jähe[n] Willkür eines

jederzeit umschlagenden [Oszillieren] Affektsturms [ausgeliefert]

Denn nicht Gedanken, sondern schwankende physische Impulse

bestimmen [ihn]“.15 Der Fürst vereint den Gegensatz von

mythischer und göttlicher Gewalt in sich. In dieser

Vereinigung tritt aber – neben seiner absoluten Macht – sowohl

sein kreatürlicher Charakter zu Tage („schwankende physische

Impulse“ – Appetit) als auch die Möglichkeit göttlichen

Waltens. Die Entscheidung, die ihm obliegt, bleibt also nicht

ohne Wirkung auf ihn selbst; seine Souveränität geht in dem

Moment verloren, in dem er sie – im Schmittschen Sinne –

ausübt. Die Texte Benjamins erschließen das Wirken oder

Geschehen des Ausnahmezustandes im Vergleich zu den Texten

Schmitts und Agambens umfänglicher, da sie den Souverän als

innerhalb des Ausnahmezustandes, den er per Entscheidung

14 Ebda. 203.15 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften I (Hrsg.: R. Tiedemann/ H. Schweppenhäuser), Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1991, 250f.

15

entweder schafft oder verhindert, betrachten. In ihnen kommt

das Paradox als Zentrum des Ausnahmezustandes vielleicht am

deutlichsten oder: am konkretesten zum Vorschein: als das

Oszillieren „schwankender physischer Impulse“, die als letzte

Instanz die „souveräne“ Entscheidung bestimmen.

Zusammenfassend und sehr grob könnte man vielleicht sagen,

dass Schmitt die Wirkung der Entscheidung über den

Ausnahmezustand als eine Art Voraussetzung der Schaffung

politischer Autorität bzw. Souveränität versteht. Er sieht den

Souverän als denjenigen, der Gebrauch von dieser Entscheidung

macht. Er vernachlässigt aber ihre Effekte. Giorgio Agamben

greift diese Effekte auf und projiziert sie auf eine Art

Subjekt-Objekt-Beziehung. Er stellt damit vor allem den Recht

setzenden bzw. das Recht entziehenden Effekt der souveränen

Entscheidung dar, wobei er Subjekt und Objekt aber als eine

Art Täter und Opfer darstellt, die über den Ausnahmezustand

quasi verfügen bzw. unter ihm leiden. Benjamin zeigt, dass der

Ausnahmezustand auch den Souverän betrifft, dass sein

„Schalten“ ihn gleichsam – über den Körper – dem „Walten“

Gottes ausliefert.16

In welchem Zusammenhang stehen diese Aspekte des

Ausnahmezustandes, der Souvernität mit dem Erzähltext? Welche

Strukturen manifestiert der Text, und inwiefern können sie in

Verbindung zu den genannten theoretischen Texten gebracht

werden? Darauf zu antworten soll im Folgenden versucht werden.

16 siehe Fußnote 14

16

Zweiter Teil

Souveränität per Autorität: das Todesurteil

Bevor näher auf den Erzähltext eingegangen wird, noch ein paar

Worte zu der Situation, die der erzählten Gegenwart zugrunde

liegt, und über die der Text nach und nach und fast über seine

ganze Länge informiert. Wie schon im ersten Teil gesagt,

bildet ein Ehrenhandel den Ausgangspunkt der erzählten

Geschichte. Ein über seine Essgewohnheiten und seine

finanzielle Situation hinaus nicht näher beschriebener

Journalist hat einen Artikel veröffentlicht, den das „Kasino“

als beleidigend wahrnimmt. Dieses Kasino ist eine Art elitär-

aristokratischer Klub, dem anzugehören dem Adel vorbehalten

ist. Sein Herrschaftsanspruch ganz im Sinne von Michel

Focaults Feststellung, wonach „[e]ines der charakteristischen

Privilegien der souveränen Macht […] lange Zeit das Recht über

Leben und Tod [war]“17 manifestiert sich in der Reaktion auf

die öffentlich beleidigenden Worte des Journalisten: sein

Leben muss ausgelöscht werden. Interessanterweise soll dieser

Forderung Geltung verschafft werden, indem der Journalist zum

Duell gefordert wird. Das Kasino „beruft“ für diese schwierige

Aufgabe den „besten Schützen des Landes“, den „Oberst P.E.G.

a. D.“, der der Berufung im autoritär-hierarchisch

organisierten Kasino ohne weiteres Gehorsam leistet. Diese

Ausgangssituation bildet mit ihrer speziellen Dramatik die

motivische Klammer, in der die Erzählung steht: einerseits

17 Homo Sacer. 97.

17

stehen Wort und Tod, Sprache und ultimativer Fakt

gegeneinander, andererseits bildet der Gehorsam des Oberst

eine Art direkte Verbindung gerade von Sprache und Faktizität.

Der erste Satz der Erzählung lautet: „Der Oberst hatte heute

einen Menschen zu erschießen, er war dazu vom Kasino berufen

worden, nachdem die Herren ihre Entscheidung im Englischen

Zimmer gefällt hatten, das seinen Namen dem Besuch des Herzogs

von Wales verdankte.“ Die Ungeheuerlichkeit der Tötung eines

Menschen stellt also nicht mehr dar, als eine Entscheidung und

einen Vollstrecker. Dabei tut es der Ungeheuerlichkeit keinen

Abbruch, dass die Auftraggeber der Tötung die Mitglieder des

elitär-aristokratischen Kasinos sind, das zudem in einem

international Zusammenhang steht. Das Todesurteil beruht

allein auf der expliziten Entscheidung des Kasinos (auch der

weitere Text liefert keinen Hinweis auf irgendeine Art

juristischen Verfahrens), deren Konsequenz ein Mord wäre: die

Tötung wäre gerade als Gesetzesübertretung oder als Ausnahme

vom Gesetz ungeheuerlich. Interessant ist die Opposition, die

die Ungeheuerlichkeit des Tatbestandes und der die Kausalität

simplifizierende Modus des Saloppen (Entscheidung-

Vollstreckung-Tod) bilden. Als Index des Subjekts der

Entscheidung vereint sich die Leichtigkeit des Saloppen

nämlich mit der ihr – aus dem Blickwinkel der Moral gesehen –

widersprechenden Ungeheuerlichkeit und „verleiht“ so dem

Subjekt (dem Kasino) den Status der Unantatsbarkeit. Diese

Metaphorik deutet die o.g. Züge der Souveränität an, die Carl

Schmitt dargestellt hat, insbesondere der Souveränität, die

Schmitt bei Hobbes findet: „Autoritas facit legem non

18

veritas“.18 Betrachtet man nur das Verhältnis von Kasino und

Journalist könnte man also aufgrund des Todesurteils und wie

es gefällt wurde von einer – zumindest angestrebten

– Souveränität des Kasinos in Bezug auf den Journalisten

sprechen. Die Tötung des Journalisten wäre der Ausnahmefall,

in dem sich das Kasino zum Souverän erhebt.

Leere, Mehrdeutigkeit – Effekt der souveränen Entscheidung: derAusnahmezustand

Die Überlegenheit des Kasinos in Bezug auf den Journalisten

ist aber zunächst nichts als eine Behauptung. D.h. sie ist

sprachlicher Natur. Einerseits ergibt sich aus dieser

Behauptung die Dynamik der Text-Handlung, der Text strebt nun

gleichsam selbst nach dem Tod bzw. macht sie auch Hoffnung auf

das Über-Leben des Journalisten. Andererseits birgt dieselbe

Behauptung aber in Bezug auf das Kasino eine gewisse

Mehrdeutigkeit, denn die Potentialität oder Unentschiedenheit

des Verhältnisses Kasino-Journalist, aus dem sie hervorgeht,

kontaminiert gleichsam den Status des Kasinos: es ist

gleichzeitig überlegen und nicht überlegen, souverän und nicht

souverän.

Der letzte Satzteil, der auch die Besonderheit des Satzes

ausmacht, die bereits angesprochene falsche Bezeichnung eines

historischen Faktes, scheint diese Potentialität aufzugreifen.

Die Deckungsungleichheit der Bezeichnung „Englisches Zimmer“ und

der historischen Tatsache des Besuchs des „Herzogs von Wales“,

18 siehe Fußnote 8

19

dem Index des „Zimmers“ entfaltet die oben beschriebene

Mehrdeutigkeit.

Betrachtet man den Ort selbst, wird deutlich, dass auch er der

beschriebenen Spaltung anheim fällt bzw. dass er gleichsam dem

ambivalenten Verlangen des „Englischen Zimmers“ und des

„Besuchs des Herzogs von Wales“ ausgesetzt ist. Einerseits

„drängt“ ihn dieses Verlangen sozusagen in die Dimension der

erzählten Geschichte; andererseits in die Dimension des

Fiktiven (der Fiktion in der Fiktion) oder sogar der Sprache

selbst, gleichsam der reinen Sprache. Da diese

Mehrdimensionalität nicht entscheidbar ist, wird der Ort

selbst gleichsam auch verdoppelt. Das Urteil wird gleichzeitig

im „Englischen Zimmer“ und an dem Ort gefällt, den der Herzog

von Wales besucht hat. Und freilich bleibt diese Verdoppelung

oder Spaltung auch für das Kasino selbst nicht ohne Folgen;

man muss nun sagen, dass das Urteil zwiefach aus den zwei

Mündern eines ebenso verdoppelten Kasinos erklingt (oder als

Echo des jeweils anderen widerhallt). Damit wird aber auch die

eingangs erläuterte Opposition salopp-ungeheuerlich

verunsichert. Die drohende oder behauptete Tötung, die die

souverän-autoritäre Entscheidung – das Todesurteil – gebracht

hat, ist nicht mehr verortbar. Sie ist zugleich historisch

(innerhalb der Erzählung), also „echt“, wie sie auch rein

sprachlich, ja sprachspielerisch, sozusagen doppelt fiktiv

oder, in Bezug auf die „Echtheit“, in gewisser Weise zeitlos-

unwirklich, ja nichtig ist. Ihr fehlt das Gewicht, während sie

ungeheuerlich ist. Auf diese beiden Glieder des Geschehens

muss sich aber auch ihre Präsentation, der Modus beziehen. Im

Bezug auf das Sprachspiel könnte man die simple Kausalität des

20

Saloppen durchaus als treffend, sogar als redundant

bezeichnen, in Bezug auf eine faktische Tötung ist sie

weiterhin spannungsvoll-unpassend oder eine Opposition zur

Ungeheuerlichkeit. Da beide Bezüge aber gleichzeitig bestehen

(müssen), wird nun auch der Status des Kasinos verdoppelt. Es

ist zugleich unantastbar oder souverän und – eine Spielfigur

im Spiel der Sprache: ausgeliefert.

Es ist diese paradoxe – weil unentscheidbare –

Gegensätzlichkeit, die letzlich die Metaphorik des Satzes

ausmacht, die eigentlich seine Poetizität bildet. Der Satz

schafft einen absolut ausgelieferten Souverän und eine Art

„freies“ Opfer. Er bindet die Sphären des zeitlich-endlichen

und des zeitlos-unendlichen aneinander, indem er zugleich von

einer „Geschichte“ und von der Sprache selbst kündet. Anders

ausgedrückt, befinden sich sowohl das Kasino (als fiktiv-

historisches Subjekt) wie auch der Satz selbst (und der

gesamte Text, wie sich zeigen wird) in einer Art

Ausnahmezustand. (Die Erzählung ist denn auch voll von

Ausnahmen, sie scheinen diesem doppelten Ausnahmezustand zu

entspringen – einige Beispiele: Der Oberst trinkt ein Bier,

obwohl sein Arzt ihm das Biertrinken untersagt hat. Dieses

Bier bildet sodann aus der Sicht des Schankburschen János, der

es dem Oberst nur auf Weisung des Wirtes serviert, eine

weitere Ausnahme. Es ist der Bodensatz des Fasses, den er

tagtäglich, regelmäßig für einen Kontrahenten reserviert. Eine

weitere Ausnahme, sogar eine Art Ausnahmezustand selbst

scheint die spezielle Verfasstheit des Augenblicks, in dem die

erzählte Geschichte ihren Lauf nimmt, der Nachmittag im

„Arabischen Schimmel“ darzustellen, wo beim Kartenspiel der

21

Stammgäste das Warten auf die reguläre Kundschaft eine Art

Unterbrechung des Alltags und der Arbeit bedeutet, gleichsam

eine universelle Ausnahme. Nicht zuletzt kann der Oberst

selbst als Gast im „Arabischen Schimmel“ aufgrund seiner

seltsamen Gelüste und seines sonderbaren Verhaltens auch als

Ausnahme bezeichnet werden.)

Der erste Satz der Erzählung birgt also eine Art

Dekonstruktivität, die als Effekt die Unentscheidbarkeit der

Bedeutung hat. Damit bildet er die von Agamben „Schwelle“

genannte Sphäre, in der der Ausnahmezustand sich entbirgt:

„Das Besondere der Situation, die im Ausnahmezustand

geschaffen wird, besteht nun darin, dass sie weder als

faktische noch als rechtliche Situation bestimmt werden kann,

sondern dazwischen eine paradoxe Schwelle der

Ununterschiedenheit errichtet“.19

Anders ausgedrückt, etabliert sich die Sprache selbst oder

eine Art reine (mehrfach referenzierbare) Sprache als mögliche

Daseinsform des Satzes, d.h. der Satz bezieht sich nur auf

sich selbst, auf die Sprache oder das Sprachliche. Da die

Sprache aber, wie Agamben festgestellt hat, sich als „reine

Potenz der Bezeichnung“ in einem „permanenten Ausnahmezustand

befindet“,20 kann man sagen, das letztlich der Ausnahmezustand

die Norm oder das Gesetz des Satzes ist. Der Ausnahmezustand,

die Entsetzung der Regeln, ist sein – paradoxer – Sinn. Er

schafft als Geschehen eine Art Verlangen, das aber auch für

die Handlung relevant wird.

19 Homo Sacer. 28.20 Homo Sacer. 31.

22

Die Fiktionalität des Textes: das Sprachspiel

Sucht man nach dem Ursprung des Ausnahmezustandes als

gleichsam universeller Ausnahmezustand, als Zustand, der den

gesamten Text betrifft, fällt auf, dass die Entscheidung über

die Tötung des „Menschen“, des Journalisten nur zum Teil als

Ursache in Betracht kommt. Das Todesurteil kann nicht als der

Akt geltend gemacht werden, der den sprachlichen

Ausnahmezustand setzt, der der Text letztlich ist. Der Fakt

der Entscheidung schafft – als Fakt –, wie man gesehen hat,

zwar hinsichtlich des Kasinos eine Art Souveränität in Bezug

auf den potentiell toten Journalisten. Der sprachliche Effekt

der souveränen Entscheidung, der konsequenterweise auch den –

potentiellen – Souverän sozusagen im universellen

Ausnahmezustand verortet, wird aber erst durch einen weiteren

Akt, der performativen Setzung des historisch „walisisch“

indizierten Zimmers als „englisches Zimmer“, einer rein

sprachlichen Handlung (mutmaßlich des Kasinos), im Satz

wirksam. Betrachtet man diese Kausalität von der Geschichte

des Erzählten her, offenbart sich die problematische

Vorgängigkeit dieses Bezeichnungsaktes. Das Zimmer heißt schon

„Englisches Zimmer“, als die Entscheidung fällt. Muss das

Kasino zum Zeitpunkt der Entscheidung als bereits im

Ausnahmezustand befindlich betrachtet werden? Als eine Art

historisch etablierter Souverän durch autonom-autoritäres

sprachliches Handeln? An diesem Punkt laufen zwei zeitliche

Perspektiven zusammen: die Zeit des Erzählten (die bezeichnete

Zeit) und die Zeit des Textes (die Zeit des Lesens). Diese

problematische Verknüpfung deutet auf ein Problem der

23

Kausalität: wo liegt die Ursache des autonom-performativen

sprachlichen Handelns des Kasinos? Es scheint nicht ganz

falsch zu sein, den Grund für dieses Problem in der

spezifischen Sprachlichkeit der Erzählung zu suchen. Die

Hinrichtungsszene des ersten Satzteils mit dem Oberst als

Figur des Vollstreckers und das Wort des Tötungsauftrags aus

dem „Mund“ des Kasinos bilden die bereits beschriebene

(politisch-juristische) Ausnahmesituation. Deren Implikationen

(grob: die Potenzialität) exekutiert die Erzählung durch die

Bezeichnung des Entscheidungsortes dann gleichsam sprachlich.

Die Ursache würde also nicht in der Figur des Kasinos liegen,

sondern im Satz selbst, eine kausale Beziehung existiert

demnach nur auf der reinen Textebene, sozusagen in der Textur

des Satzes. Der Text offenbart im ersten Satz seinen Status

als Sprachspiel. Der Satz hebt die Potenzialität des

Ausnahmezustandes per Autorität des Erzählers – der seine

Worte dem Kasino quasi „in den Mund legt“ – gleichsam auf die

Textebene. Der Text will kein Bericht einer Art politischen

Ausnahmezustandes sein, den eine souveräne Entscheidung

geschaffen hat. Er selbst ist dieser Ausnahmezustand

Der Befehl als Rätsel: die Paradoxie des Befehls

Wie überträgt sich diese Potentialität – die Sprachlichkeit

der behaupteten Souveränität – auf den gesamten Text, oder

besser: wie wird diese Potentialität nun handlungsrelevant?

Der Oberst soll das Todesurteil vollstrecken. Wie bereits

angedeutet, wird es aber keine Hinrichtung geben. Der Oberst

ist berufen, die Vollstreckung des Todesurteils – die

24

Hinrichtung – in einem Zweikampf zu vollziehen: „Das Duell

wird am Nachmittag in einer Kaserne stattfinden, der

Beleidiger des Kasinos darf den Schauplatz nicht lebend

verlassen.“ Und einige Zeilen weiter: „[…] der

Zeitungsschreiber, dessen Todesurteil man im Englischen Zimmer

des Kasinos gefällt hatte, und das der beste Schützen des

Landes vollstrecken sollte […]“. Der Auftrag des Oberst lautet

ab dem zweiten Satz also – unvermittelt oder plötzlich –, den

Anderen in einer Zweikampfsituation zu töten. Man könnte nun

vom Zynismus des Kasinos reden, das den bevorstehenden Mord im

Gefühl der absoluten Überlegenheit damit zu rechtfertigen oder

vielmehr zu kaschieren gedenkt, dass der Tod des Gegners

letztendlich ja aufgrund einer Art Gottesurteil21 eingetreten

ist. In Bezug auf die angestrebte Souveränität ergeben sich

aber einige Probleme. Denn diese Vertuschung würde die durch

den Tod des Gegners erlangte Souveränität gleichsam

zurücknehmen, da der Tod nun im Bereich göttlicher

Verantwortung läge. Der Tod wäre als das Resultat eines

parajuristischen Verfahrens der Wahrheitsfindung in gewissem

Maß zwar gesellschaftlich gerechtfertigt, er würde aber seiner

autoritären – und gleichzeitig seiner außerrechtlichen,

vielleicht: „illegalen“ – Grundlage entbehren, die – laut

Schmitt – ja erst die Souveränität schafft. Ferner oder

gleichzeitig bekundet das Kasino im religiösen Sinne mit der

vorgängigen Feststellung des Resultates – dem Tod des Gegners

– aber auch seinen Unglauben (wobei die Voraus-Setzung des

Urteils auch einen quasi-materiellen Glauben an die21 „Das Ritual des ‚Zweikampfs’, das ein ‚Gottesurteil’ in menschlichen Satzungen und Statuten zu evozieren hat, wird als Mittel der Wahrheitsfindung, als ‘Verfahren der Evidenz’ berufen.“ Vgl. Menke/Schmitt:Am Nullpunkt des Rituals. In: Arcadia, 2005, Vol.40(1). 198. (4.)

25

Unbesiegbarkeit auf der Basis technisch-rationaler

Überlegenheit verrät: dem Wissen und Geschick des Oberst in

Bezug auf den Gebrauch von Feuerwaffen). Denn das Ergebnis –

die Wahrheit – des Zweikampfes gilt als beschlossen. Um das

gewünschte Ergebnis erzielen zu können, muss das Wirken Gottes

aber ausgeschlossen werden. Es darf ihn sozusagen gar nicht

geben. Das Duell wird als parajuristisches Instrument der

Wahrheitsfindung also als eine Art Staffage missbraucht, die

den Anschein einer gewissen Rechtmäßigkeit herstellen soll.

Die Entleerung der Begriffe, die dieses Vorgehen bewirkt, ist

genau der Effekt der Potenzialität, die allein die Bezeichnung

der Tötung als Duell birgt. Der Zweikampf ist keine

Hinrichtung. Umgekehrt gilt dasselbe. Die Identifikation der

beiden Bezeichnungen in einer Art Erwartung – der gewünschten

Ausführung des Befehls – schafft nun aber eine zumindest

teilweise inhaltslose Form bzw. einen Inhalt, den die Form

nicht gänzlich zu umfassen vermag. Anders ausgedrückt: die

„Tötung“ oder „Hinrichtung“ geht als Begriff über das „Duell“

hinaus und umgekehrt. Dass diese paradoxe Synthese möglich

ist, „verdankt“ der Text der Oberst-Figur – doch dazu später.

Man muss die Begriffe hier relativ strikt betrachten. Die

Hinrichtung ist ein reiner Tötungsakt, ein Akt schierer

Gewalt, der eine Art Täter (den Henker) und eine Art Opfer

(der Verurteilte) voraussetzt. Gleichzeitig liegt ihm ein

Urteil, das Todesurteil zugrunde. Die juristische Legitimität

dieses Urteils spielt für die Hinrichtung selbst keine Rolle,

ebenso wenig irgendein Einverständnis des Opfers, vielmehr

kennzeichnet das Opfer sein absolutes Ausgeliefertsein

gegenüber der das Urteil vollstreckenden Gewalt. Die

26

Hinrichtung ist sozusagen das Medium zwischen dem Wort des

Todesurteils und dem Fakt des Todes, ihr Sinn ist die

Vollstreckung, die endgültige oder verewigte „Vermählung“ von

Wort und Fakt durch die Tat des Henkers und den Tod des

Verurteilten. Das Duell oder der Zweikampf kennt jedoch

entweder nur Opfer (die der Gewalt des jeweils Anderen

ausgesetzt sind, sich ihr aussetzen) oder nur Täter (die

Gewalt gegen den jeweils Anderen anwenden), man könnte

vielleicht auch sagen: beide gleichzeitig. Es kommt im

Einverständnis beider Parteien, sich ihm zu stellen (der

Forderung der sogenannten Genugtuung zu entsprechen) zustande.

Sein Prinzip ist zudem die Unschuld, denn der Ausgang des

Zweikampfes gibt – ein deutbares Ergebnis vorausgesetzt – erst

Aufschluss darüber, welcher der Teilnehmer „im Recht“ bzw.

welcher „schuldig“ ist. Zudem basiert die Wirksamkeit dieser

Wahrheit auf einer gewissen Kontingenz: „Die Kontingenzen des

Kampfes, sonderbares Glück und Unfall, sind Medium und Modus

der ‚unmittelbaren’ ‚göttlichen rechtsentscheidung’, für die

der Zweikampf der Schauplatz ist.“22 Das heißt, der Ausgang

des Duells wird als für beide Seiten offen und als allen

möglichen Unwägbarkeiten (Gott) unterworfen vorgestellt. Damit

wäre die einzige Gemeinsamkeit zwischen Hinrichtung und Duell

der Tod (insofern er im Duell eine notwendige Bedingung

darstellt: wenn der Ausgang des Duells nur dann als

aussagekräftig erachtet wird, wenn einer der beiden

Zweikämpfer nicht mehr lebt), der im Duell aber „allen“ droht,

während in der Hinrichtung schon im Voraus „Rollen“ in Bezug

auf ihn feststehen. Das Duell stellt eine Alternative dar, die

22 Am Nullpunkt des Rituals. 208.

27

der Tod entscheiden soll. Die „Hin-Richtung“ stellt als

gewaltsame Verlängerung des Wortes (des Urteils) eher ein

lineares Verfahren dar. Man könnte auch sagen, dass der Tod im

Duell den Index des Göttlichen trägt, er könnte als das

Zeichen göttlicher Gewalt gelten, in der Hinrichtung ist sein

Index jedoch die Gewalt an sich, die nackte, auf den Körper

gerichtete, vielleicht: mechanisch-technische Gewalt. Der Tod

als solcher wäre aber als das primäre Ziel beider Verfahren

ihre fixierbare Gemeinsamkeit.

Der Tod bildet bei der Überlagerung der Begriffe durch ihren

gleichzeitigen Gebrauch in der „Berufung“ des Oberst als Ziel

also die eine Gemeinsamkeit, wobei hier der Tod des

Journalisten gemeint ist. Die Immanenzen der beiden Begriffe

schließen sich an allen anderen Stellen aber aus. Die

„Berufung“ verfügt also über ein Ziel, der Weg zu diesem Ziel

scheint aber unklar: der Tod soll mit der Sicherheit der

Hinrichtung den „Richtigen“ treffen, während gleichzeitig die

Ebenbürtigkeit (die Wehrhaftigkeit) des gesetzten Opfers in

der Kontingenz des Duells gewährleistet werden soll, was die

geforderte Sicherheit – und damit den Hinrichtungscharakter

der Tötung – aber zunichte machen würde. Diese Mehrdeutigkeit

scheint jedes Handeln unmöglich zu machen. Es scheint, als

müsste der Handelnde, der Oberst, eine Entscheidung treffen:

Hinrichtung oder Duell, Henker oder Zweikämpfer.

Im Sinne des Textes muss diese Alternative als sprachliches

Geschehen, also in ihrer Unentschiedenheit, als Metapher

betrachtet werden. Die weiter oben zitierten Textstellen

28

vollziehen diese Unentschiedenheit als Sätze, die je beide

Möglichkeiten vereinen. Der erste zitierte Satz spricht

erstmals – und unvermittelt – von einem „Zweikampf“ und gibt

neben Ort und Zeit („am Nachmittag in einer Kaserne“)

desselben auch eine Regel („darf nicht“) an, die seinen

Ausgang betrifft. Auf den ersten Blick wittert man das bereits

angedeutete Komplott oder Betrug, die kalkulierte Inszenierung

einer Hinrichtung als Duell. Doch damit verfällt man im Grunde

dem Überlegenheitsgefühl, das die Meisterschaft des Schützen

des Kasinos suggeriert. Noch ist (im Text) aber nichts

entschieden. Das Kasino will die Hinrichtung in den Zweikampf

verlegen, indem es diesen reglementiert (wobei man davon

ausgehen muss, dass diese Regel nur dem Oberst bekannt ist).

Der Satz kündet, so scheint es, vor allem von der

gebieterischen Macht des Kasinos. Der Klang der Worte des

ersten Satzteils bzw. die Schlichtheit der Verknüpfung von

„Zweikampf“, Zeit und Ort gibt der Sache, die nun schon die

Begriffe Hinrichtung (die der erste Satz zwar nur suggeriert,

die später aber explizit genannt wird) und Zweikampf

konstituieren, den Anschein einer Art absoluten Verfügbarkeit,

einen instrumentellen Charakter. Im Prinzip trifft diese

Instrumentalität auch zu. Doch noch kann dieses Instrument

gleichzeitig ein Tötungsinstrument (die Hinrichtung) und ein

Instrument der Wahrheitsfindung (das Duell) sein. Die

Beziehung von Absicht und Mittel wäre problematisch, es

scheint, als würde man einen Hammer – ohne den Hammer als

solchen wahrzunehmen – in die Hand nehmen, um ein Stück Musik

niederzuschreiben (oder „umgekehrt“). Der Satz reagiert auf

dieses Problem, indem der zweite Teil die o.g. Regel nennt.

29

Das Instrument der Wahrheitsfindung wäre nun der Tötungs-

Absicht angepasst, es wäre – zumindest intentional – nur noch

ein Tötungsinstrument. Genau diese absichtsvolle Einschränkung

entfaltet aber das sprachliche Potential des „Zweikampfes“.

Denn durch die Ausschließung der Kontingenz, die der Zweikampf

beinhaltet, gleichsam der Immanenz Gottes, kommt dieselbe erst

zur Geltung. Sie ist nun im Satz als eine Art Drohung

anwesend. Neben der gebieterischen Macht des Kasinos erhebt

sich also gleichsam eine Art drohender Gott, der sein Recht

fordert, weil es ihm genommen wurde. Der Satz kündet also von

zwei Gewalten.23 Diese zwei Gewalten konkurrieren aber „um den

Tod“, sozusagen um dessen „Herstellung“, um das Recht, ihn zu

bringen. Oder besser gesagt: um dessen Status als Fakt

(Hinrichtung) oder als Potenz (der Kontingenz des Duells).

Diese Konkurrenzsituation, die vielleicht selbst als eine Art

Zweikampf bezeichnet werden kann, nimmt der zweite zitierte

Satz auf, indem er die für eine Hinrichtung nötige Figur des

Henkers (den Oberst) mit dem Index physisch-technischer

Überlegenheit, ja der Unbesiegbarkeit versieht: „den besten

Schützen des Landes“. Ironischerweise unterstellt diese – in

Bezug auf eine Henkerfigur – Übersteigerung der Fähigkeiten

dem Opfer aber eine gewisse Wehrhaftigkeit, ja es tritt aus

der Opferrolle heraus und erscheint dem Henker als Gegner,

dessen Gegen-Gewalt er nun ausgesetzt wäre. Und selbst in

23 Gleichzeitig scheint der Satz diese Gewalten auch in Beziehung zur Sprache zu setzen. Die politische oder vielleicht eher nackte Gewalt des Kasinos kommt als das Genannte indirekt über die Terminierung und Reglementierung des Duells zur Sprache. Die göttliche Gewalt wird dagegen durch ihren Ausschluss aus der Sprache, aus dem Wort „Zweikampf“ zu einer Art unmittelbaren Anwesenheit. In gewissem Sinne zeichnen sich hier die vonBenjamin unterschiedenen Gewalten ab: die „mythische“ und die „göttliche“. Vgl. Zur Kritik der Gewalt. 203.

30

einer als perfides Spiel inszenierten Hinrichtung, wo dem

Opfer ein kalkulierter Spielraum eingeräumt würde, sich der

Hinrichtung zu entziehen, müsste man von seiner, wenn auch

minimierten, Wehrhaftigkeit sprechen. Sie wäre soweit

verkleinert, dass die Hinrichtung eine gewisse Dauer hätte, um

irgendein perverses Bedürfnis befriedigen zu können. Aber auch

über diese Dauer gesehen wäre das Opfer ein Gegner. – Im

zweiten zitierten Satz erscheint die Gottesgewalt also schon

in der Figur des vermeintlichen Opfers: als Gegner im

Zweikampf. Diese Anwesenheit irdischer und göttlicher Gewalt

im Auftrag an den Oberst , diese Zweikampfsituation,

letztlich die Frage nach einer Entscheidung überträgt sich

aber auf den Auftrag oder Befehl an den Oberst: als

Unlesbarkeit des Befehls als Befehl – und wird so in gewisser

Weise sogar zu seinem Inhalt.

Der Oberst

Die Figur des Oberst steht mit ihrer Berufung gleichsam vor

einem Rätsel. Dieses ist aber kein Spiel, sondern ein

existentieller Ernst. Denn im autoritär-hierarchischen System

des Kasinos ergeht die verrätselte Berufung ja gleichsam als

Befehl, und der Oberst als Kasinomitglied wäre also in die

Pflicht genommen. Andererseits droht ihm schlicht der Tod. Im

Prinzip setzt der Befehl als Rätsel die Figur des Oberst als

Befehlsempfänger außer Stande zu handeln. Ja sein Eigenschaft

als Befehlsvollstrecker könnte ihn sogar in Opposition zur

Rätselhaftigkeit des Befehls bringen. Denn der

Befehlscharakter des Rätsels bedeutet ihm ja zugleich eine

31

Anweisung zu handeln. Insofern wäre seine primäre Aufgabe

tatsächlich die Enträtselung des Befehls, die Herstellung von

Eindeutigkeit. Vielleicht sollte man aber zuerst fragen,

inwiefern die Mehrdeutigkeit des Auftrags die Oberst-Figur

beeinträchtigt.

Die – mutmaßlich – erste Reaktion des Oberst auf den Befehl

ist ein Schulterzucken, das – neben der später explizit

genannten Gleichgültigkeit – auch eine gewisse Ratlosigkeit –

der man vielleicht eine Ahnung von der Uneindeutigkeit des

Befehls unterstellen darf – birgt. Auf sein Schulterzucken

folgt das gleichgültige: „Gut, dann mach’ ich halt ein Loch in

den Zeitungsschreiber “. Die Illusion eines unbeweglichen,

objekthaften Ziels, ähnlich einer Zielscheibe scheint für die

Ausführbarkeit des Auftrags zu bürgen.24 Seine Reaktion stützt

in gewisser Weise den Aspekt der Souveränität, der mit dem

geforderten Tod des Journalisten im Befehl eingeschrieben ist.

Er vollzieht die souveräne Entscheidung des Todesurteils, das

im Befehl anwesend ist, erneut und dauerhaft nach. Er setzt

sich selbst als souverän. Und gleichzeitig und

notwendigerweise scheint er die Zweikampfsituation

auszuschließen bzw. zu ignorieren, die der Befehl beinhaltet.

Dass diese Ignoranz oder Blindheit gegenüber der Immanenz des

Zweikampfes oder besser: der im Zweikampf immanenten

Kontingenz gleichsam einen Schatten über den Oberst breitet,

weil gerade die Leugnung dieser Kontingenz sie sozusagen –

ganz im Sinne der bereits beschriebenen drohenden Gottheit –

aktiviert, sei zunächst dahingestellt. Auf die Figur,24 An anderer Stelle wiederholt der Text, wieder in den Worten des Oberst: „[…] den sie mir hinstellen, wie eine Zielscheibe beim Militär“.

32

gleichsam ihren „Charakter“ bezogen, verdeutlicht ihr

Ausspruch in dieser Situation zunächst einfach die

Bereitschaft zur Subordination. Sie legt keinen Einspruch ein,

weder gegen die Unklarheit des Befehls, noch gegen ihre Rolle

als Henker. Sie selbst vollzieht sogar die Vereinfachung des

Befehls zu „töte den Zeitungsschreiber“. Er erkennt das Rätsel

nicht (an), er hebt – ohne es zu sehen – aus ihm vielmehr

heraus, was als Befehl „brauchbar“ ist. Die Figur stützt den

Aspekt der Souveränität, der zum Befehl gehört, und dessen

Vollstreckung umgekehrt ihre Souveränität in Bezug auf den

Gegner bedeuten würde. Die extreme Ausprägung dieses Gehorsams

wird im folgenden Satz dargestellt: „Der Oberst, der sich über

Leben und Tod nicht mehr Gedanken zu machen pflegte als ein

Turm im Schachspiel […]“. Der treu-gehorsame

Befehlsvollstrecker wird im Vergleich mit einer Spielfigur in

seiner „Treue“ zu einem Instrument einer ihm übergeordneten

Macht „gesteigert“. Als solches lässt er den Befehl – als

seine Möglichkeit – gleichsam geschehen (er verwandelt das

Wort zur Tat). Ja, man könnte sogar sagen, dass er identisch

mit dem Befehl ist: er selbst ist die Kugel, die er auf den

Anderen abfeuert. Als Instrument wäre die Oberst-Figur aber zu

einer Art systematischen Blindheit verdammt: er muss

vollkommen blind sein, um den Befehl, „so wie er ist“,

ausführen zu können, um die Reinheit des Befehls wahren zu

können, um das „blinde Werkzeug der Macht“ sein zu können.

Der folgende Ausspruch des Oberst deutet nicht nur diese

Blindheit an, er verortet die Figur auch in einem zweiten

Horizont bzw. stellt dem Horizont der Figur einen weiteren

entgegen. Er schafft so den Effekt der Blindheit, durch den

33

die Figur des Oberst in ihrer Beschränktheit in einer „Welt“

verortet wird, die sie selbst nicht sieht, ja die eher auf die

Figur „zurückblickt“: „Am Ende esse ich noch Kalk!“ erscheint

zunächst als lakonische Antwort auf die kulinarischen Gelüste

des Oberst.25 Gleichzeitig ist „Kalk essen“ – „meszet enni“ –

im Ungarischen aber ein Synonym für Dummheit oder dumm sein.

Die Figur meint ihren Hunger, das physische Bedürfnis, der

Satz deutet aber, autonom sozusagen, auch auf die Dummheit,

das geistige Verhältnis zu einer Sache.26 In ihrem

intentionalen Sprechen umfängt die Figur nur den Bereich der

eigenen Physis, die Sprache selbst aber entzieht sich dieser

intentionalen Einschränkung und erweitert den Bereich des

Gesagten, indem sie die Figur in ein Verhältnis zu einer Sache

– zur Welt – setzt, das – wenig schmeichlerisch – den Index

der Blindheit, eben der Dummheit trägt.27 Die Figur

„verspricht sich“ gleichsam zwangsläufig (aufgrund des

Hungers). Dieses den Sprecher in einem Außen – das er nicht

kennt – neu verortende Wort hallt aus einem anderen Mund, aus

dem Mund eines Anderen. In der doppelten Perspektive, die sich

nun ergibt (von innen/ von außen), erscheint die Sicht von

außen in Bezug auf die Figur als ein bedrohliches, weil ihr

unbekanntes, sozusagen über die Figur hinausgehendes „Mehr“.28

25 Und lässt die eigene Fremdheit erkennen, die der Oberst erlebt, da er alsMann die spezifischen Bedürfnisse Schwangerer (der Appetit auf Kalk oder Mineralien) nicht haben kann. 26 Die Gegenüberstellung der Unbeherrschbarkeit körperlicher Bedürfnisse undder Unbeherrschbarkeit der Sprache. Wiederum gibt es einen Bruch zwischen Deixis und Denomination. 27 Die Aussage des Oberst könnte auch als unwillkürliche Anspielung, als Sprachspiel der Erzählung, nicht der Figur auf das problematische Verhältnis der Figur zu ihrem Befehl gelesen werden. Sozusagen als Kommentar des Erzählers zur Blindheit des Oberst.28 Als Rest korrespondiert dieses „Mehr“ – von der Aussageintention des Oberst aus gesehen – mit dem Bedeutungsüberschuss oder -mangel, den die

34

Das Kennzeichen ihres „Daseins“ ist jetzt das

Ausgeliefertsein, das in seiner Nicht-Wahrnehmung zur

Unheimlichkeit gesteigert wird. Man könnte vielleicht so weit

gehen, zu sagen, dass die Oberst-Figur ihr „Schicksal“

gleichsam nicht mehr in der Hand hat. Es gehört dem Anderen,

dem Mehr, das aber nichts anderes als die Sprache zu sein

scheint. Die Figur wird ihres Wollens beraubt, ihr Wille

spaltet sich von ihr ab, sie „hat ihn nicht mehr“. Und –

bleibt tatsächlich als reines Instrument zurück.29

Der folgende, vielleicht eigentümlichste Satz der Erzählung

greift nicht nur dieses Ausgeliefertsein, diese Art isoliertes

Geworfen-Sein als Blinder in die, von der Figur aus gesehene

Leere auf. Er kündet auch davon, dass dieses Blindsein

sozusagen absichtsvoll ist: „Er war in Zivil, ein weiter

Regenmantel lag auf seinen Schultern, die kanariengelben

Schuhe knarrten, er hatte einen Stockschirm in der Hand, ein

ums andere Mal schaute er in einen geschlossenen Fiaker, denn

er glaubte, dass ihn in seinem Kostüm niemand erkennt, während

er vor dem Duell ein wenig in der regnerischen Stadt

umherwanderte.“ Die schier absolute und totale Bezugslosigkeit

der Figur (ihre Absolutheit vielleicht) wird hier neben ihrer

äußerlichen oder allgemeinen Einsamkeit in einem entvölkerten

und gesichtslosen, unwirtlichen Stadtraum und der die Figur

selbst von ihrem Äußeren isolierenden (oder sie sogar

verdoppelnden) Kostümierung – der Verdeckung eines

tatsächlichen Bezugs – durch den suchenden Blick der Figur in

einen gleichsam blinden Spiegel: die „geschlossenen Fiaker“

erreicht. Einerseits spricht der wiederholte Blick davon, dass(falsche) Bezeichnung der Tötung als Duell birgt.29 Das aber „Hunger“, das also einen kreatürlichen Charakter hat.

35

die Figur geradezu danach verlangt, unerkannt, nicht

identifizierbar, anonym, ja bedeutungslos – niemand, oder:

nicht er selbst – zu sein. Andererseits wirkt die stete

Erneuerung des Blicks in den blinden Spiegel mit der Absicht,

dort genau diese Leere oder eben nichts zu finden wie eine

Suche nach Bestätigung genau dieser Leere. Würde man dieses

Verlangen umkehren, könnte man vielleicht von der Angst des

Blinden zu sehen sprechen. Am interessantesten ist aber

vielleicht die bannende Qualität des Blicks. Als Medium der

Beziehung der Figur zum Anderen oder der Beziehung von Innen

(die geschlossenen Fiaker) und Außen (die Figur) trennt er

genau das, was er verbindet. Der Blick erneuert somit in

seiner Richtung auf das Nichts stets die Isoliertheit der

Figur. Nimmt man das Wort „Absicht“ buchstäblich, erkennt man

eine ähnliche isolierende Wirkung, bzw. die Ab-Gewandtheit der

„Sicht“ von einer Art undefinierten, undefinierbaren Rest. Die

„Ab-Sicht“ des Oberst will also nicht nur seine Blindheit, das

Nicht-Vorhandensein der Welt bestätigen, sondern sie behauptet

auch diesen dunklen Rest30, der sich, man könnte sagen,

dräuend an die Kontur der Oberst-Figur legt, diese vielleicht

sogar bildet. Diesen drohenden Rest darf man vielleicht als

das – verdrängte – Alter Ego des Zweikämpfers deuten. – Die

Oberst-Figur hat kein Gegenüber, sie will es nicht, darf es

nicht haben, um ihren Status als totbringender Souverän

erhalten zu können.

30 Der hier scheinbar als Bedeutung an sich figuriert, da die Bedeutung des „Oberst“ ja offenbar gerade die Nicht-Bedeutung ist. Die Arbitrarität des Zeichens kommt in den Sinn, das an sich nichts bedeutet.

36

Aber zurück zum Verhältnis des Oberst zu seinem Auftrag. Wie

man sieht, würde die Oberst-Figur auch einer Deutung als eine

Art Medium zwischen Wort (Befehl) und Fakt (Tod des Anderen)

gerecht werden. Damit bekommt sie aber gleichzeitig den

Charakter eines Symbols gerade für die absolute Entsprechung,

das Restlose. Sprachlich gesehen sogar für die gleichsam

vollkommene Denomination. Man könnte sagen, der „Oberst“ ist

Bedeutung oder „er bedeutet“, er ist das Geschehen der

Bedeutung. Er bewahrt den Inhalt des Auftrags oder Befehls als

der Hüter des Paktes zwischen Recht und Leben: des Gesetzes –

denn er unterstellt sich, sein eigenes „Leben“ dem Gesetz des

Kasinos in „blindem Gehorsam“. Gerade „dank“ seiner Blindheit

bewahrt er diesen Inhalt aber so wie er ist, in seiner

Mehrdeutigkeit. Die Mehrdeutigkeit des Befehls müsste sich

also auf die Figur übertragen. Die Blindheit der Figur

ermöglicht die paradoxe Gleichzeitigkeit von Zweikampf und

Hinrichtung. Man könnte vielleicht auch sagen, dass sich die

Mehrdeutigkeit des Befehls als Rollen- oder

Bedeutungsmöglichkeit der Oberst-Figur als „tatsächliche“

Möglichkeiten über ihre Funktion als Exekutivorgan des Kasinos

einschreibt: als der Duellant und als der Henker. Die

Bedeutungsüberlagerung (und damit einhergehend die

Widersprüchlichkeit), die dem autoritären Handeln des Kasinos

entspringt, die Gleichzeitigkeit einer Duell- und einer

Hinrichtungssituation, überträgt sich auf die Figur, die –

gekennzeichnet durch ihre Blindheit gegenüber diesem Umstand –

nun beide Rollen gleichzeitig bewältigen, gleichsam in zwei

Richtungen gehen muss und so permanent der Gefahr der Spaltung

ausgesetzt ist oder zumindest permanent auch als das Andere,

37

also zweifach erscheint oder sogar immer gleichzeitig als sein

eigenes (widersprüchliches) Alter Ego existiert – d.h. als

eine Art Zwitterwesen des Ich und des Anderen (Ich), dessen

Daseinsphäre genau die Unentscheidbarkeit zwischen Ich und dem

Anderen ist. (Der Text vollzieht oder illustriert diese

Verdoppelung dementsprechend auch im gesamten Textverlauf

immer wieder neu. Einige Beispiele: neben den bereits

genannten Beispielen erhält die Figur z.B. den militärischen

Rang eines Oberst, wird aber sogleich als „a.D.“ in den Stand

des Zivilisten gesetzt. An anderer Stelle gibt sich der Oberst

gegenüber der Fleischerin als Literaturkenner aus und nimmt

dann beschämt von seinem tatsächlichen Unwissen Zuflucht zur

sozialen Inadäquatheit, also zu seinem eigentlichen – durch

die Kostümierung verdeckten – sozialen Rang. Eine Art

Schizophrenie kennzeichnet sein Verhalten bei Tisch, wo er

über die Luxusspeisen referiert, die er für gewöhnlich

verzehrt, im selben Atemzug aber nach möglichst erbärmlichen

Essensresten verlangt. Letztlich ist auch die Identifikation

der Oberst-Figur mit seinem – fiktiven – Gegner nichts als

eine Verdoppelung.) Die Oberst-Figur wird durch ihre

Blindheit, als der vollkommene Empfänger und Vollstrecker von

Befehlen aufgrund der Paradoxie des Befehls selbst zu einer

paradoxen Figur. Er ist gleichzeitig Henker und Zweikämpfer.

Diese Gleichzeitigkeit bedeutet aber in Bezug auf

Ausgeliefertsein und Überlegenheit (Souveränität), den Indizes

der Rollen, den steten Ausschluss des jeweils – und ständig

wechselnden – Anderen, ein stetes oder oszillierendes „Mehr“

oder „Weniger“ oder die Permanenz eines seinen bedeutsamen

Bezug wechselnden Rests: als Henker wird der Zweikämpfer (und

38

alles, was der Zweikampf impliziert) – sprachlich – zum Rest,

als Zweikämpfer ist es umgekehrt. Als Überschuss an Bedeutung

verlangt dieser Rest – in der Figur des Oberst – nach seiner

Bedeutung (weil er ihrer im Ausschluss durch das Andere der

Figur entbehrt). Er – der „Rest“ – will im Handeln des Oberst

zur Geltung (zu seinem „Recht“) kommen. Es ist dieser paradoxe

Anspruch, der als spaltendes Moment in der Figur wirkt, ja als

Gespaltensein, gleichsam als der Abgrund, der zugleich trennt

und verbindet. Die Paradoxie der Figur hat als Effekt das

Wirken der bereits vorgestellten Kräfte des Ausnahmezustandes.

Den Bann, der Bezüge in ihrer entblößenden Entsetzung zugleich

isoliert und bestehen lässt und so eine Art Schwellzustand

oder Schwelle (das oszillierende Verlangen) schafft, die seine

Sphäre bildet.31 Vielleicht geht man nicht zu weit, wenn man

behauptet, dass das Wirken dieses Banns die Handlung der

Erzählung birgt, dass sie gleichsam aus dem Abgrund der Figur

entsteht. Dass das sich „entfaltende“ Paradox, das der

Berufung des Oberst eingeschrieben ist, die Handlung ausmacht.

In welcher Weise „entfaltet“ sich dieses Paradox? Wie bereits

festgestellt wurde, ist es gerade die Ignoranz oder eben die

sogenannte Blindheit der Oberst-Figur gegenüber der in ihrer

Berufung enthaltenen Zweikampf-Immanenz bzw. der

Ebenbürtigkeit oder sogar drohenden Unterlegenheit gegenüber

einem „freien“ Gegner, die den „drohenden Gott“, den sie

verdängen oder sogar vernichten will, herausfordert. Da nun

der Fokus der Erzählung auf der Oberst-Figur liegt, ja sie

sogar die einzige „handelnde“ Figur ist, ergibt sich aus ihr,

31 Vgl. Homo Sacer. 39.

39

also auch aus ihrer Blindheit das Muster, in dem sich das

Paradox entfaltet. Möchte man es einfach oder die Figur

vermenschlichend sagen, ist der Ausgangspunkt dieser

Entfaltung oder ihre Perspektive der „Glaube“ des Oberst, dass

er seinen Auftrag wie gewünscht ausführen wird: der Journalist

wird sterben. Strukturell gesehen, entspricht dieser „Glaube“

aber genau der Behauptung der Souveränität durch das

Todesurteil, er wird sozusagen entlang der hierarchisch-

autoritären Struktur des Kasinos in die Oberst-Figur hinein

verlängert. Diesem „Glauben“ entspricht eine ganze Reihe von

Äußerungen des Oberst in Bezug auf sein vermeintliches Opfer

über die gesamte Textlänge: „Es ist nämlich so, János, mein

Junge, dass ich noch heute jemanden erschieße, den ich noch nie

gesehen habe, den ich nicht kenne, den man mir hinstellt, wie

eine Zielscheibe beim Militär.“, „Bestimmt trinkt dieser

Taugenichts, den ich heute ins Jenseits befördere, auch so was, weil er

sich nichts Besseres leisten kann! “, „Eigentlich muss er

heute Nachmittag jemanden hinrichten, der das Kasino in seiner

Zeitung beleidigt hatte…“, „Ja, ich will wie der elende

Taugenichts sein, der jetzt irgendwo seinen letzten Willen

aufschreibt, wenn er schlau ist.“, „Ich mache den Herrn im

Voraus darauf aufmerksam, dass seine Sache ein schlimmes Ende nimmt.“,

„Bestimmt ißt dieser zum Tode verurteilte Halunke auch immer so etwas

[…]“, „Er soll nicht sagen können, dass ihn ein Herr von

seinem Logenplatz im Leben aus abgeknallt hat […]“, „Mancher mag

vom Rippenstück die schönen, schieren, mageren Stücken, aber

der Oberst wollte seinem erbärmlichen Gegner in allem ähnlich

sein […]“, „Der Oberst war ein guter Mensch, und er hätte

diesen armen Schlucker, den er per Entschluß des Kasinos heute

40

Nachmittag um sechs ins Jenseits befördern muss, gerne an seinen

Tisch eingeladen […]“, „Wenn ich diesen armen Teufel mit

vollem Magen und in Sektlaune abknalle, hätte ich mir im

Nachhinein noch den Vorwurf zu machen, dass der Kampf mit

ungleichen Waffen gefochten wurde.“ (Hervorh. M.B.) Der Text

bietet derer Beispiele noch mehr. Die zitierten Sätze mache

aber deutlich, das sich das Paradox von Hinrichtung und

Zweikampf oder Überlegenheit und Ebenbürtigkeit/ drohender Tod

von diesem Winkel her entfaltet: dem Oberst als in Bezug auf

den Anderen – im Zeichen des Todes – souverän Überlegenen, als

sein Henker.

An dieser Stelle kommt derselbe Mechanismus zum Tragen, der

schon im Zusammenhang mit dem ersten Satz erläutert wurde.

Konkret gesagt, würde der Oberst als Henker seiner ihm vom

Befehl diktierten Bedeutung als Zweikämpfer nicht gerecht

werden. Der Zweikampf selbst und alles, was ihm immanent ist,

würden als von Bedeutung (dem handelnden Oberst) verlassen,

von dieser Verlassenheit gebannt, um mit Agamben zu sprechen,

als „bloße“, „nackte“ Bedeutungen nach ihrem Bezug (ihrem

Recht), nach dem entsprechenden Handeln des Oberst

verlangen.32 Als Aspekt der Figur selbst gehört dieses

Verlangen also auch ihr, ist ihr – per Befehl – als

Innerliches (Verschwiegenes, Unausgesprochenes)

eingeschrieben. So wird dieses Verlangen zum eigentlichen

Handlungsmotiv der Figur. Der Hunger, von dem der Text immer

wieder spricht, scheint aber genau diesem Verlangen zu

entsprechen.33 32 Homo Sacer. 93.33 Die Gleichsetzung von profanem Hunger und sprachlichem „Verlangen“ ist möglich aufgrund der paradoxen Struktur der Oberst Figur. Das Paradox enthält oder schafft ein Verlangen, das in zumindest einer seiner Wirkungen

41

Folgende Sequenz, die einen direkten Bezug auf die bereits

zitierte Antwort des Oberst („Dann wird halt ein Loch in den

Zeitungsscheiber gemacht.“) auf die Entscheidung des Kasinos

darstellt, nennt den Hunger zum ersten Mal: „Währenddessen

bekam er aber großen Hunger. Größer war die Unruhe nicht, die

sich seiner am Tag des tödlichen Duells bemächtigt hatte. Ein

abscheulicher, nie gekannter Hunger überkam ihn. Sein Magen

hatte Hunger, sein Mund hatte Hunger, im Halbschlaf lagen ihm

Geschmäcke nie gekannter, nie angerührter Speisen auf der

Zunge.“ Einen Hinweis auf die Metaphorizität dieses „Hungers“

und damit die Möglichkeit der Übertragbarkeit auf das

sprachliche Verlangen einer „verlassenen“ Bedeutung

versinnbildlicht die Fleischereiszene,34 in der die

Fettgrieben, in denen der Oberst das Mittel zur Stillung

seines Verlangens erblickt, von der Fleischerin in einer

Papiertüte verpackt werden, die sie aus den Seiten eines

Gedichtbandes (von János Vajda35) gemacht hat. Diese

Einhüllung durch Literatur erlaubt es, mit einiger Sicherheit

zu behaupten, dass die Speise, sobald sie verzehrt wird, in

ihrer Mehrdeutigkeit also nicht nur den profanen physischen

Hunger, sondern auch einen anderen, den angezeigten

Bedeutungshunger der paradoxen Figur stillt.

Die Abscheulichkeit des Hungers, die Fremdheit der Gelüste

(„Am Ende esse ich noch Kalk!“), die Unwillkürlichkeit dieses

der des Hungers gleichkommt: die Unruhe. Die Unruhe (das Stillen) ist in der Entsetzung der Bezüge, der Ortlosigkeit der Bedeutungen angelegt.34 Interessant an dieser Szene ist auch das angedeutete Geplänkel um die Masse der Fettgrieben. Das Fassungsvermögen des Magens findet gleichsam seine – vom Fachverstand der Fleischerin festgelegte – Entsprechung in Fettgrieben. Man könnte das als eine Art reine oder vollkommene Bedeutung sehen, die keinen Rest kennt. Vielleicht auch als die Ökonomie des Magens. 35 politisch liberaler, romantischer Dichter, der, symbolisch betrachtet, inOpposition zum Kasino steht

42

Verlangens („sein Magen hatte Hunger, sein Mund hatte Hunger“)

deutet, aus der Perspektive des Oberst, des elitären

Kasinomitglieds genau auf das ihm Entgegengesetzte, das ihm

nicht Zugehörige, ja das Feindliche oder Gegnerische: auf den

Journalisten. Sein Appetit schafft eine oppositionelle

Position, die eine Parallele auf der sozialen Ebene hat. Wie

die eingangs zitierten Sätze zeigen, erhält diese Opposition

auch eine Parallele in den die Speisen würdigenden Äußerungen

des Oberst. Die Gelüste deuten also in Bezug auf das

Ausschließende des Paradoxes auf den Rest (an Bedeutung), den

die Behauptung der Position des Henkers in der Oberst-Figur

generiert. Das Essen des Henkers mutiert so zu einer steten

Allusion des Anderen (des hinzurichtenden Zweikämpfers). Das

Stillen des Hungers stillt das Verlangen des – im Paradox des

Befehls immanenten – Zweikämpfers oder Gegners nach seiner

Bedeutung.

Die zitierten Sätze können – im Kontext gesehen – als

Stationen oder mindestens als einige der Wegmarken dieses

Stillens betrachtet werden; manche der Sätze beziehen die vom

Oberst verzehrten Speisen sogar explizit auf „seinen“

Hinzurichtenden (Gegner). Um zwei Beispiele zu nennen: „Der

Oberst hob noch beim Essen den Bierkrug in die Höhe und drehte

ihn argwöhnisch zum Fenster: ‚Bestimmt trinkt dieser

Taugenichts, den ich heute ins Jenseits befördere, auch solches

Bier, weil er sich nichts Besseres leisten kann!’, dachte der

Oberst und kippte den Krug mit geschlossenen Augen an, als

tränke er auf das Seelenheil dieses Taugenichts.“ Sowie:

„Mancher mag vom Rippenstück die schönen, schieren, glatten

Stücken, aber der Oberst wollte seinem erbärmlichen Gegner in

43

allem ähnlich sein, denn er glaubte, dass dieser spezielle

Zeitungsschreiber sich ohnehin keinen besseren Bissen leisten

kann.“ (Hervorh. M.B.) Das Essen, das durch immer neue Gelüste

seine Dauer erlangt, scheint einem Weg zu ähneln, auf dem

nicht nur der profane Hunger, sondern metaphorisch auch ein

sprachliches Verlangen gestillt wird. Den Verzehr der Speisen

begleiten die Worte des Oberst. In diesen Worten verspricht

sich sozusagen das Verlangen des vom Oberst „verlassenen“

Zweikämpfers. Dadurch kommt der „Zweikämpfer“ als Bedeutung

samt seiner Immanenz zu seinen – sprachlichen – Bezügen.

Der „Arabische Schimmel“ – die Ökonomie des Paradox

Bevor dieser Prozess erläutert wird, aber noch ein Wort zum

„Arabischen Schimmel“, der Lokalität, die der Erzählung ihren

Namen gibt. Neben der bereits genannten Qualität, eine Art

Spielraum zu sein, für den eine gewisse suspendierte

Zeitlichkeit zu gelten scheint, die wiederum das Alltägliche

aufhebt und das Spielerische, das Fiktive hervorhebt,36 der

gewissermaßen ein Ausnahme darstellt, ist ein weiterer Zug von

Bedeutung. Die Figur des mehr oder weniger stummen János

illustriert diese andere Qualität am Besten: ihr ist eine Art

extremes oder totales ökonomisches Denken zu eigen, das alles,

was kein Verhältnis von Wert und Gegenwert aufweisen kann,

jedes Mehr oder Weniger, auszuschließen scheint, was im

konkreten Fall – aus der Perspektive János’ – die Funktion

eines Filters hat, der allein das Zweckmäßige erkennt und

anerkennt. Seine im Text immer wieder deutlich gemachte36 Vielleicht eine Art musische Triebhaftigkeit, die das Ladenschild mit demZigeuner und dem Schimmel andeutet.

44

Stummheit ist eine notwendige Folge der Reden des Oberst,

seines Gegenübers, die – durch diesen Filter gehört – kaum

oder gar keinen Sinn ergeben. So antwortet János z.B. auf das

widerspruchsreiche Bekenntnis des Oberst, dass er Austern mag,

die von ihm verzehrten Knochenreste aber eine Art Signal der

Bußfertigkeit seien, das einem unbekannten Anderen den Tod

ankündigt, den der Oberst selbst herbeiführen wird: „Sich hier

zu prügeln ist nicht ratsam. Der Wirt ist sehr stark.“ Genau

in dieser Taubheit gegenüber Widersprüchen oder in diesem

offenen Ohr nur für das Eindeutige, der Gültigkeit nur einer

Wahrheit, manifestiert sich jener andere Zug des „Arabischen

Schimmel“. (Der auch z.B. dem Geplänkel zwischen Wirtin und

Oberst um die Phonetik des Wortes „pörkölt/perkelt“, der

Auseinandersetzung um die Gültigkeit einer Wahrheit, zugrunde

liegt. Und nicht zuletzt dem eigentümlichen Verhältnis von

Wirt und Wirtin, in dem gleichsam zwei sich widersprechende

Wahrheiten (die rationale und die irrationale) nebeneinander

existieren, da sie nie in Berührung miteinander kommen, weil

die einzige Verbindung – der Halbschlaf – der zwei sich

gegenseitig ausschließenden Sphären (Schlaf und Wachen oder

Traum und Ratio/Logik) gewaltsam, durch einen Knall (der

Spielkarten!), geradezu routinemäßig zunichte gemacht wird).

Der „Rest“, jedes irgendwie undefinierbare, dunkle, irgendwie

energisch-energetische Mehr oder Weniger scheint an diesem Ort

geradezu undenkbar. Es gibt, einfach gesagt, in ihm nur

Eindeutigkeit. Gerade diese Eigenschaft ermöglicht –

paradoxerweise – aber die freie Entfaltung von

widersprüchlichen Sätzen oder Setzungen. Denn sie macht das

Nebeneinander dieser Widersprüchlichkeiten möglich. Ihre

45

Ignoranz entzweit gleichsam die Glieder des Widerspruchs. So

wie die Blindheit der Figur des Oberst den Zugang des

paradoxen Befehls zur Figur und damit zu einer Einheit

gewährleistet, scheint die „Blindheit“ des „Arabischen

Schimmel“ sozusagen die Bühne zu errichten, auf der die im

Paradox eingeschlossenen Eindeutigkeiten ihre „angestammten“

Plätze einnehmen können, ohne auf die das Paradox bildende

Widersprüchlichkeit „Rücksicht“ nehmen zu müssen. Das Paradox

kann sich quasi – mit der Einschränkung des Verlangens, das es

erzeugt – frei entfalten. Die Wirksamkeit des Spielraums des

„Arabischen Schimmel“ basiert also auf dieser – vom Lesen aus

gesehenen – zweiten Blindheit. Fragt man nun nach der Ursache

für diese Blindheit, wird ihr Zusammenhang mit dem besonderen

Status des „Arabischen Schimmel“ als Ausnahmesituation klar.

Denn wenn das konstitutive Merkmal der Ausnahme die

Suspendierung aller Bezüge in einer Art Bann (dem Verlangen)

ist, wie Agamben feststellt,37 dann gibt sich diese Blindheit

genau als die konkrete Analogie dieser Bezugslosigkeit zu

erkennen, als die sprachliche „Verwirklichung“ der Aufhebung

oder Suspendierung von Bezügen. Aus der Sicht der Sprache

bedeutet diese Bezugslosigkeit aber nichts anderes als die

absolute Performativität der Sprache. Der „Arabische Schimmel“

bildet die Sphäre einer absolut performativen Situation.

Anders ausgedrückt, herrscht im „Arabischen Schimmel“ der oben

beschriebene Ausnahmezustand, die Absolutheit aller Werte vor

dem Hintergrund des Nichts (das dem (rechtlichen) Nichts

entspringt, aus dem die Entscheidung über diesen

Ausnahmezustand hervorgeht – oder konkret: aus dem das

37 Homo Sacer. 119.

46

Todesurteil über den Journalisten hervorgegangen ist). Man

könnte vielleicht auch sagen: Das Spiel ist nicht nur

Illustration oder Anstrich, sondern es findet tatsächlich

statt.

Für die paradoxe Figur des Oberst bedeutet das aber: die

Befreiung (Erlösung?) des in ihr anwesenden Zweikämpfers/

Zweikampfes.38 Die Befreiung des Anderen und damit der

Möglichkeit der Ebenbürtigkeit, des Scheiterns, des Todes. Die

Oberst-Figur wird im „Arabischen Schimmel“ durch die

Freisetzung des in ihr eingeschriebenen Paradoxons gleichsam

entzweit. Er verdoppelt sich als der Henker und der

Zweikämpfer.

Das Sich-Versprechen des Anderen

Die gleichsam systematische Parallele zwischen der Oberst-

Figur und den speziellen Bedingungen des „Arabischen Schimmel“

prägt sich konkret im besonderen Verhalten des Oberst aus.

Sein spezieller Appetit und das „Verschwinden“ der Speisen

gleichsam in der Oberst-Figur selbst deuten beide in gewisser

Weise auf den „Rest“ bzw. das Restlose: Der „Oberst“ nimmt

sich mit großer Lust vor allem der Essens-Reste an. Er

verzehrt alles, was übrig ist, denn sein Appetit verlangt

danach. Ihn gelüstet nach allem, was nicht nur er, sondern was

auch allgemein vernachlässigt wird. Er stopft sich den Magen

mit Fettgrieben voll. Er trinkt mit großer Befriedigung

abgestandenes Bier. Er bestellt geradezu zitternd vor

38 In diesem Sinne kann auch der gegen Ende erscheinende (zweite) „Fremde“ gedeutet werden. Nicht als ein – in Bezug auf den Oberst – Anderer. Sondernals er selbst, als sein Alter Ego, das Ich des Zweikämpfers.

47

Verlangen angebrannten Gulasch (pörkölt). Er will „den

Anschnitt“ von einem Schweinebraten (abgesnitez). Er nagt

rußverschmierte Knochen ab. Und so weiter. Alles Speisen, auf

die üblicherweise die Vernichtung wartet: sie sind – für den

Magen – bedeutungslos geworden. Dieser Zug oder dieses

Verlangen korrespondiert mit dem blinden Gehorsam des Oberst,

seiner absoluten Treue zum Befehl, ja seiner Instrumentalität;

und im übertragenen Sinn – gleichsam im Sinne der Metaphorik

der Speisen – mit der reinen, ungetrübten Denomination. Er

strebt als Gast des „Arabischen Schimmel“ dieselbe

„Restlosigkeit“ (den Mangel oder die Vernichtung eines „Mehr“

oder „Weniger“ an Bedeutung) an, die auch der Index einer

reinen Denomination wäre. So wie die Ausführbarkeit des

Befehls von seiner Eindeutigkeit abhängt, also davon, dass

kein irgendwie gearteter Bedeutungsrest den Befehl als solchen

unlesbar macht, so ist die Oberst-Figur bestrebt, diesen Rest

zu tilgen (konkret: sich als Vollstrecker des Todeurteils zu

behaupten). Im selben Masse, wie der Oberst aber den Rest (den

der Befehl als die Immanenz des Zweikampfes beinhaltet)

vernichtet bzw. seine Rolle als Vollstrecker behauptet,

verlangt dieser im Befehl anwesende vernichtete Rest, der

nichts als eine immer noch anwesende Bedeutung ohne Bezug ist

(ein Zweikampf ohne Zweikämpfer oder ein Zweikämpfer ohne

Zweikampf) aber genau nach diesem Bezug, seinem „angestammten“

Platz, gleichsam nach dem Oberst als tatsächlichem

Zweikämpfer. Die Vernichtung des Bedeutungs-Restes im Wort des

Befehls generiert also in diesem Rest selbst ein Verlangen.

Die Identität von Oberst und Befehl verlagert dieses Verlangen

aber in die Figur des Oberst, den gleichzeitigen Tilger des

48

Rests. Es scheint, als könnte das Verlangen gar nicht gestillt

werden, da es ein zweifaches Verlangen ist, das sich in seiner

paradoxen Abhängigkeit voneinander mehrt. Betrachtet man aber

die Effekte dieser Tilgung bzw. Stillung wird deutlich, dass

sie denselben Ursprung haben, ja dass sie ein und dasselbe

sind, und dass ihre unterschiedliche Bezeichnung nur aufgrund

des jeweils anderen Blickwinkels auf sie zustande kommt. Das

tilgende Behaupten des Oberst seiner Rolle als Henker stillt

nämlich zugleich das Verlangen des nun geschaffenen Rests (des

Zweikämpfers) nach seinem Recht oder seinem Bezug, gerade weil

er – der Rest – erst durch die Tilgung als Unausgesprochenes

eine Bedeutung sozusagen zugesprochen (gelesen) bekommt. Das

in Abrede-Stellen der Bedeutung des Rests bzw. des Rests an

sich (die Behauptung absoluter Überlegenheit/Souveränität, der

Henkerrolle) spricht ihm genau diese, seine Bedeutung (des

Zweikämpfers) – als Unausgesprochenes – zu. Dieses Zusprechen

erscheint in der performativen Sphäre des „Arabischen

Schimmel“ als Bedeutungs-Potenz (als Kraft). Die Potenz der

Bedeutung des Rests wächst gleichsam mit seiner Tilgung aus

dem Wort des Befehls.

Es ist genau dieses Bedeutung-Zusprechen, das den Verzehr der

genannten (und ungenannten) Speisen, diesen sozusagen

ergänzend und wortwörtlich als Äußerungen und erzählte

Gedanken des Oberst – als Worte – begleitet – oder, wie

gesagt: das aus dem Verzehr hervorgeht, das der Verzehr birgt.

– Das „bedeutsame“ Essen bzw. die Metaphorizität der Physis

sowie das oppositionelle, ja autonome oder subjektive Wirken

dieses metaphorischen Hungers macht der Text an Stellen wie

der folgenden sehr deutlich: „Der Gast des Arabischen Schimmel

49

hatte ein unleugbares Glück in allem, was sich sein nicht zu

bremsender Magen an diesem Tag vorstellte. Der Magen des Oberst,

der die Gestalt eines Weinhebers hatte, wie die meisten

menschlichen Mägen, fühlte sich an diesem Tag irgendwie nicht

wohl, er wurde von nervösen Erscheinungen heimgesucht, die

sogar das strenge Denken des Oberst beeinträchtigten.“

(Hervorh M.B.) Das heißt: während er sich – ein ambivalentes

oder oszillierendes „sich“, das aber intentional immer auf die

Rolle des Vollstreckers/ Henkers zu deuten scheint – sättigt,

erschaffen seine Worte – unwillkürlich – die Immanenz des

Duells, füllen sozusagen auch die von ihm verlassene Rolle des

Zweikämpfers aus. Die zitierten Textstellen am Anfang des

Abschnitts deuten diese Sättigung zum Teil an. Die Immanenz

des Duells kommt mehr und mehr sprachlich zur Geltung. Die

Behauptung der Souveränität des Kasinos im Tod seines Gegners

wird durch die Worte des Oberst, die nichts anderes anstreben,

als diese Souveränität zu unterstreichen, verunsichert, ja

zunichte gemacht. Im Hintergrund wird aber die Leere, das

rechtliche Nichts, der autoritär-setzende Charakter, der

Ursprung des Todesurteils, sichtbar: die Kehrseite seiner

Performativität.

Zur „Rhetorik der Souveränität“

Einige Beispiele sollen nun Aufschluss darüber geben, wie die

Immanenz des Duells oder mit anderen Worten: die

Ebenbürtigkeit des vermeintlichen Opfers „sich verspricht“.

Der erste Satz, den der Oberst im „Arabischen Schimmel“ zu

seinem Auftrag äußert, spricht offensichtlich von einer

50

Hinrichtung, macht diese mehr oder weniger explizit: „Es ist

nämlich so, mein lieber János, dass ich heute noch jemanden

erschieße, den ich noch nie gesehen habe, den ich nicht kenne,

den man mir hinstellt, wie eine Zielscheibe beim Militär.“ Das

gleichzeitige Bekenntnis der Unbekanntheit des Opfers spricht

diesem selbst aber eine Art subjektive Kontingenz zu, die das

Verhältnis von Henker und Opfer mit einer Dimension versieht,

die den Index des Opfer-Täter-Verhältnisses, die absolute

Überlegenheit bzw. das absolute Ausgeliefertsein

beeinträchtigt und die Möglichkeit der Ebenbürtigkeit

andeutet. Die Möglichkeit eines Gesichtes (bzw. unendlich

vieler Gesichter: dem Bild der sogenannten subjektiven

Kontingenz), die die ausgesprochene Unbekanntheit des Opfers

eröffnet, lässt das Opfer nämlich aus seiner Rolle

heraustreten und buchstäblich in aller Unschuld als Individuum

erscheinen, dessen Index die Freiheit ist. Die Möglichkeit

eines Gesichts macht die Hinrichtungstat zum Mord; der Mord

liefert den Henker aber an die Schuld aus. Die – zugesprochene

– Individualität des vermeintlichen Opfers macht es dem ebenso

vermeintlichen Henker insofern ebenbürtig, als sie in ihrer

Vernichtung als Schuld auf den Henker übergeht: er hat sie

„auf dem Gewissen“. Im Ausspruch des Oberst konkurriert die

absolute Überlegenheit des Henkers gegenüber dem

Hinzurichtenden gleichsam mit der Unsterblichkeit des

Individuums. Dabei ergibt sich die Unsterblichkeit (als

Schuld) aber erst aus der – vermeintlichen – Überlegenheit

(als Mord). Einfach gesagt, bildet der Satz folgendes Paradox:

Je überlegener der Oberst – je sicherer der Tod seines Opfers

–, desto unsterblicher der Journalist. Je mehr die Kontingenz

51

einer Duellsituation aus dem Handeln des Oberst verbannt wird,

desto größer die Schuld des Oberst. Dem sicheren Tod des

Journalisten durch die Hand des Oberst steht gleichsam dessen

Unbesiegbarkeit entgegen. „Täter“ und „Opfer“ sind einander

absolut ebenbürtig. Im Satz verspricht sich sozusagen

unausgesprochen eine Situation, die der Hinrichtungssituation

diametral entgegengesetzt scheint, und die die Souveränität,

die durch den Tod des Journalisten behauptet werden soll,

unmöglich macht, weil sie das Opfer nicht vernichtet sondern

im Gegenteil – im Tod –verewigt. Gerade die Verdrängung der

Ebenbürtigkeit – die Behauptung der Souveränität – drängt den

vermeintlichen Souverän in die Ebenbürtigkeit: das

Ausgeliefertsein an die Gewalt des Anderen. Oberst und

Journalist sind im Satz sowohl als Täter und Opfer als auch

als Gegner anwesend.

Die Bier-Szene, die nun folgt, verunsichert den Gegensatz

Überlegenheit-Unterlegenheit, indem es „Unterlegenheit“ mit

minderer Kaufkraft identifiziert und gleichzeitig das

minderwertige Gut als ebenso zufriedenstellend qualifiziert

wie das vermeintlich höherwertige. Die beiden Äußerungen des

Oberst in Bezug auf den Journalisten39 verorten in ihrer

Verächtlichkeit die Überlegenheit bei der Oberst-Figur, die

Unterlegenheit bei dem todgeweihten Journalisten: „Bestimmt

trinkt dieser Nichtsnutz, den ich heute ins Jenseits befördere,

auch solches Bier, weil er sich nichts Besseres leisten

kann!’, dachte der Oberst und kippte den Krug mit

geschlossenen Augen an, als tränke er auf das Seelenheil

dieses Nichtsnutz.“ Ferner: „Jetzt sah er schon wohlwollender

39 Wobei die zweite als indirekte Rede gelten muss.

52

auf die kleine Kneipe am Üllöer-Weg, nachdem gerade noch genug

Zeit zur Hinrichtung dieses Schmierfinken war.“40 (Hervorh. M.B.)

Das erste Zitat enthält auch den Zusammenhang von

Unterlegenheit der Person und Minderwertigkeit der Speise/ des

Konsumgutes, der im Übrigen schon am Anfang der Erzählung mit

der Beschreibung der Essgewohnheiten des Journalisten

angedeutet wird. Minderwertige Kost und Unterlegenheit der

Person sind quasi eins. Der Genuss, den der Oberst aber mit

diesen minderwertigen Speisen verbindet (unter anderem: „Und

das Bier schmeckte dem Oberst.“), bringt ihn – paradoxerweise

– selbst in die Position des Unterlegenen. Der Gegensatz von

Überlegenheit und Unterlegenheit, der über die Kaufkraft41 und

die Qualität der Speisen aufgebaut wird, kollabiert im

genussvollen Verzehr der – vermeintlich – minderwertigen Kost.

Diese verunsicherte Opposition öffnet die Figur des Oberst

(und damit auch die des Journalisten) aber einer Kontingenz,

die sowohl ihre Über- als ihre Unterlegenheit beinhaltet. Die

bereits genannte Instanz des Göttlichen tritt in die Beziehung

zwischen Oberst und Journalist. Beide Figuren können als ihr

ausgeliefert gelten: der Tod droht beiden, beide haben

Hoffnung auf Leben. Sie erscheinen wiederum als einander

ebenbürtig – und, in Bezug auf das Göttliche, als in gewisser

Weise verwandt, wobei das „Menschliche“ der Index dieser

40 Die eigenartige Zeitlichkeit des Satzes, die „Zeit zur Hinrichtung“, ist beabsichtigt. Sie entspricht dem Originaltext und deutet auf die Performativität der steten Behauptung der Souveränität des Oberst gegenüberseinem vermeintlichen Opfer, auf das Wort als Tat. Mit anderen Worten darauf, dass der Oberst den Journalisten noch im „Arabischen Schimmel“ „hinzurichten“ gedenkt oder glaubt.41 Die Bedeutung der Kaufkraft birgt die Anekdote um die ehemaligen Offizierskollegen des Oberst, die ihr Abendessen auf Kredit mit einer „Sektrechnung garnieren“, um sich für den Kredit nicht schämen zu müssen.

53

Verwandtschaft wäre.42 Ja, in diesem Ausgeliefertsein können

sie also sogar als identisch gelten.

Als Muster wiederholen sich – analog zum immer neu

entfachten Appetit bzw. dem immer neuen Verzehr ungewöhnlicher

Speisen – diese besonderen Reden des Oberst, ja man könnte

vielleicht von einer besonderen Rhetorik des Oberst reden.

Etwas ironisch vielleicht: die Rhetorik der Souveränität.

Dabei bildet der Genuss minderwertig genannter Speisen, der

Opfer und Henker gleichsam identifiziert, eine Art

Umwertungsmechanismus, der als Prozess nicht nur im Text

anwesend ist, sondern den Text sogar hervorbringt. Der Text

antwortet gleichsam immer wieder auf die Implikationen der

eigentümlichen Konstellation von Überlegenheit und

Unterlegenheit, die er behauptet. Die Paradoxie dieser

Konstellation schreibt diesem Prozess aber eine Art

Wechselbewegung vor, die dem eingangs erläuterten Oszillieren

gleichkommt: die Äußerungen springen sozusagen zwischen den

Positionen Souveränität/ Ausgeliefertsein hin und her, wobei

sowohl die Oberst-Figur als auch sein vermeintliches Opfer

stets ihren Status ändern: „Ich esse dieses ‚perkelt’ zur

Busse. Ich bitte im Voraus um Entschuldigung, ich mache meine

42 Die Szene gibt zudem dem Bier den Status einer mehrfachen Ausnahme. In Bezug auf den Oberst: „Einen schönen Krug Bier, - antwortete der Oberst, dabei hatte ihm ein Militärarzt Bier zu trinken wegen seiner Herzklappen untersagt.“. Ferner macht János eine Ausnahme, indem er dem Oberst den letzten Rest schalen Biers überlässt, der eigentlich ein Fixposten seiner anekdotisch vorgestellten Rache an einem Widersacher ist. Diese Ausnahme macht er auf Weisung des Wirtes, dessen Autorität die Auseinandersetzung umdas Bier entscheidet, indem er – im ungarischen Originaltext – auf Deutsch zwei mal: „Gib im“ sagt. Obendrein erhält auch die Person des Oberst einen Ausnahmestatus, da der Wirt, der normalerweise ein guter Menschenkenner ist, ihn nirgends zuordnen kann. Vielleicht kann man soweit gehen, zu sagen, dass die Szene als beinahe totale Ausnahmesituation insgesamt selbstauf das Göttliche oder das von der Norm „verlassene“ Singuläre deutet.

54

Absicht im Voraus deutlich, weil ich nicht will, dass etwas

plötzlich eintritt. Einem Herrn geziemt es, bevor er jemandem

eine Ohrfeige gibt, denjenigen, der die Ohrfeige früher oder

später erhält, im Voraus darauf aufmerksam zu machen. Nur

Banditen schlagen rücklings, von hinten. Ich mache den Herrn

im Voraus darauf aufmerksam, dass seine Sache ein schlimmes

Ende nimmt. Jetzt aber, auf der Schwelle zu seinem Tod, lasse

ich mich zu ihm herab, ich söhne mich mit ihm aus, ich büsse

gemeinsam mit ihm, auch wenn ich wahrlich unschuldig bin….“.

Diese an Wahnsinn grenzende Rede43 unternimmt den Versuch, den

Implikationen jener expliziten Ebenbürtigkeit zu entkommen.

Die bevorstehende Tötung wird euphemistisch zu einer

„Ohrfeige“ umgedeutet – die gewiss nicht tödlich ist. Die

Verpflichtung, die sich aus der Identität des Titels („Herr“)

ergibt, dem Anderen dasselbe Recht einzuräumen, das er für

sich selbst in Anspruch nehmen kann, wird auf eine Art

förmliche Sittlichkeit einschränkt, die ihm gleichsam nicht

mehr abzuverlangen scheint als sich vor dem anderen Herrn zu

verneigen, bevor er ihn erschießt. Gerade der Versuch, die

Duellsituation (samt dem drohenden Tod), die die Identität des

Titels impliziert, „wegzureden“, bringt sie ans Licht. Dem

Oberst droht gleichsam in der Begegnung mit dem Anderen von

Angesicht zu Angesicht (auf Augenhöhe) der eigene Tod („Nur

Banditen schlagen rücklings, von hinten“). Die Bezeichnung des

43 Das Wahnhafte liegt darin, dass der Andere gar nicht anwesend ist. Allein, der Verzehr des „pörkölt“-s soll ihm anzeigen, dass er sterben wird. So wird der Verzehr der Speise aber zum Akt der Magie, der die Anwesenheit des Anderen herstellt. Diese Stelle ermöglicht die Deutung des Fremden, der in den Augen des Oberst als sein Gegner erscheint, als Wahnvorstellung und gleichzeitig als das im Befehl anwesende und durch die Behauptung des Henkers isolierte oder „verlassene“ Alter Ego des Oberst: des Zweikämpfers.

55

Verzehrs als „Busse“ soll den sicheren Todes des Anderen

jedoch gewährleisten. Zum einen setzt gerade dieses

Eingeständnis der Illegitimität der vermeintlichen Hinrichtung

aber eine Art Rechtsordnung voraus, der sowohl der Oberst als

auch der Andere (Herr) gleichermaßen angehören, und die sich –

im Gegensatz zur o.g. Sittlichkeit – nicht nur auf die Form,

sondern auch auf den Inhalt einer Tat erstreckt: denn der Tod

fordert die Busse, nicht die nicht eingehaltene Form. Zum

anderen verortet das sprachliche Geschehen sowohl den Oberst

als auch den Journalisten als „Herr“ in Bezug auf die

bevorstehende Begegnung aber nicht nur im selben Rechts-

Horizont. Das Eingeständnis der Schuld, dass die Bußfertigkeit

des Oberst enthält, unterstellt dem vermeintlichen Opfer auch

die Unschuld, die – im Sinne der Möglichkeit einer Alternative

– eine Grundvoraussetzung oder überhaupt erst der Anlass für

ein Duell ist. Das Wort des Oberst: „auch wenn ich wahrlich

unschuldig bin“, soll intentional die Schuld verdecken (die

paradoxerweise der Grund der Busse ist), die die Hinrichtung

des Unschuldigen bedeuten würde. Unwillkürlich kündet sie aber

buchstäblich von der Wahrheit der „wahren Unschuld“ der Figur.

Denn der Tod des Anderen durch die Hand des Oberst ist – immer

noch – nichts als reine Potenz. Der Text – die Rede des

Oberst – trennt metaphorische Bedeutung und eigentliche

Bedeutung, er schafft eine Art reine Denomination bzw. ist

seine Sprache zutiefst ambivalent, dabei aber rein

denominativ, sie ist eine gespaltene Sprache. In der

performativ-magischen Sphäre des „Arabischen Schimmel“44

44 Vgl. den Eindruck János’: „Der Schankburshce stand sogleich vollständig im Dienste des Oberst, denn in den Worten des Fremden war ein Zauber, dem man tagelang lauschen konnte.“

56

bleibt diese Rhetorik des Oberst nicht ohne Konsequenzen. Denn

Sein Wort scheint einer Tat gleichzukommen.

Die Stillung

Die Rhetorik des Oberst, die intentional seine absolute

Souveränität in Bezug auf den Journalisten verkündet, erweist

sich bei genauerem Hinhören also als von derselben Paradoxie

beeinträchtigt, die auch den Befehl (und letztlich die Oberst-

Figur selbst) kennzeichnet. Seine Äußerungen bewegen sich

entlang der bekannten Logik, dass die Überlegenheit – im Sinne

der Behauptung der Souveränität des Oberst – immer bei ihm

selbst, dem Mitglied des Kasinos gesetzt sein muss. Aufgrund

der paradoxen Bezüglichkeit zueinander – die nichts anderem

entspringt als der paradoxen Verknüpfung von Souveränität

(Überlegenheit) und Zweikampf (Ebenbürtigkeit) im Befehl an

den Oberst – oszillieren diese Äußerungen aber genau zwischen

den bekannten Positionen von Überlegenheit (Leben) und

Unterlegenheit (Identität mit dem potentiellen Esser derselben

Speisen, die der Oberst verzehrt) oder Ebenbürtigkeit (die

sich aus der Identität des Oberst mit seinem potentiellen

Gegner ergibt). Dieses Oszillieren bzw. die Paradoxie der

Bezüglichkeit der Äußerungen hat als Effekt aber wiederum das

gegenseitige einschließende Ausschließen, das seine Glieder

entblößt. Diese Entblößung bedeutet in Bezug auf die

Äußerungen des Oberst aber, dass sie sich – als von

irgendeiner Referenz befreite Sprache – in ihrer vollen

Potentialität entfalten. Sie werden gleichsam von der –

unausgesprochenen, oder vielleicht: unaussprechbaren –

57

Kontingenz, die sie selbst schaffen oder sind, gleichsam von

ihrem Unausgesprochenen selbst gestillt.45 Die performative

Situation – der Ausnahmezustand – ermöglicht also eine Art

reine Sprache, die ihren – geteilten, aber ungleichzeitigen,

weil isolierten – Sinn aus einer Art künstlichen

Gegensätzlichkeit bezieht, die der paradoxe Bann

gewährleistet. Die Paradoxie, die ihnen per Befehl

eingeschrieben ist, reinigt gleichsam – entlang der Ökonomie

des Paradox, die auf der Symmetrie gründet, die jedes Paradox

voraussetzt – die Glieder, die es konstituieren. Der Sinn, der

dieser Gegensätzlichkeit entspringt, ist aber gerade die –

sprachliche – Sättigung ihrer Glieder: das Geschehen ihrer

Entstehung. Diese Zweigliedrigkeit überträgt sich aber auf

ihren Sprecher, die Stillung bedeutet auch das Geschehen der

Entstehung des „Oberst“ als eine Art Zwitterwesen, das einen

Gegensatz in sich vereint, mit anderen Worten: der Entstehung

der Spaltung der Oberst-Figur.

Denn der Text vollzieht die Verbindung von Unausgesprochenem

(der unausgesprochenen Gegensätzlichkeit) und Ausgesprochenem

(der behaupteten Souveränität) auf der Handlungsebene nach und

transferiert so diese Verbindung in die erzählte Zeit. Eine

Art Schlüsselszene des Textes gibt Aufschluss über diese

Bewegung, die Begegnung des Oberst mit dem zweiten – aus der

Sicht des „Arabischen Schimmel“ – Fremden: „Der junge Mann

führte das Glas zum Mund und wollte es gerade ankippen, als

sein Blick unerwartet dem spöttischen, verächtlichen,

dünkelhaften Gesicht des Oberst begegnete. Obwohl der Oberst

das mit Sicherheit nicht wollte, war sein Gesichtsausdruck so45 Freilich handelt es sich hierbei um den Prozess des Lesens, also des Deutens, das Unausgesprochene „erscheint“ im Leser.

58

wie er ordinärerweise war: durchaus verletzend. Tja, das

mondäne Leben verlangt auch nach Gesichtsausdrücken, die

nichts anderes als Masken sind. Bei manchen Menschen kann man

das wahre Gesicht erst sehen, wenn der Tod es macht“. Diese

Szene scheint gleichsam die Inkarnation des Unausgesprochenen

auszuführen. Das Unausgesprochene nimmt, könnte man meinen,

die Gestalt des Fremden an. Die Verbindung von Ausgesprochenem

und Unausgesprochenem scheint tatsächlich auf einer Art Magie

zu basieren. (Die Erschaffung der phänomenalen Gestalt des

Gegners/Opfers bzw. des Journalisten durch die Worte des

Oberst.) Bei genauerem Hinsehen offenbart sich aber zunächst

die reine Sprachlichkeit dieses Verbundenseins. Denn nichts in

der erzählten Zeit bürgt für die Identität der Figur des

Fremden mit der Figur des Journalisten. Diese wird höchstens

angedeutet, als der Fremde, nachdem er das bestellte Glas

Pálinka entsetzt vom Anblick des Oberst fallen lässt, ruft:

„Los in die Kaserne“.46 Der Oberst allein behauptet die

Identität von Fremdem und Journalist. Zunächst – und sozusagen

unschuldig – geht er eine – für die übrigen Anwesenden

– unerklärliche Verbindung mit dem Fremden ein, indem er die

Bezahlung des nicht getrunkenen und zerbrochenen Glases

Pálinka übernimmt: „Und was ist mit der Bezahlung? – brüllte

János, auch der Wirt sprang vom stillen Kartenspiel auf, denn

es war schon lange her, dass so etwas in seinem Haus

vorgekommen war, das darf man nicht dulden, auch wenn es nur

46 Im Ungarischen: „Gyerünk a laktanyába“. Das Wort „laktanya“ trägt zwar dieselbe Bedeutung wie „kaszarnya“ (Kaserne), der lexikalische Unterschied ermöglicht aber gleichsam einen räumlichen Bruch: die „Kaserne“ des geplanten Duells und die „Kaserne“ des Fremden könnten – aufgrund ihrer unterschiedlichen Oberfläche (Klang, Wortbild) – verschiedenen Sphären angehören.

59

um ein paar Filler geht. Der Wirt wollte János soeben den

Befehl erteilen, der Mietkutsche nachzulaufen, wenn es ein

muss, auch bis in die Kaserne, als der Oberst, der andere

Fremde, jetzt mit einem stillen, finsteren Gesicht einwarf:

„Das Gläschen bezahle ich dann“. Die Oberst-Figur wiederholt

in gewisser Weise die Begegnung oder Berührung der Blicke, sie

macht sich gleichsam gemein mit dem anderen Fremden, tritt, im

Rahmen der Ökonomie von Verzehr und Bezahlung, an die Stelle

des Anderen und stellt so die Identität zwischen ihr selbst

und dem Anderen in der erzählten Zeit – zumindest auf dieser

ökonomischen Ebene – her. Der Oberst tritt als Gläubiger des

Fremden auf. Mit der Bezahlung bürgt er für den Anderen. Seine

Tat bringt den Fremden, dessen Erscheinen etwas gespenstisches

hat,47 gleichsam zur Existenz. Das die Tat inspirierende

Moment der sich berührenden Blicke wird nachträglich durch den

Oberst selbst gedeutet: „Der Oberst wurde jetzt ganz still auf

seinem Platz, als hätte seit dem Erscheinen des jungen Mannes

im Wirtshaus eine düstere Ahnung von ihm Besitz ergriffen. Er

war zwar kein Mann, den man einen abenteuerlichen Denker

nennen konnte, er hatte aber sogar den besonderen Einfall,

dass dieser junge Mann der Zeitungsschreiber sei, mit dem er

im Laufe des heutigen Tages ein tödliches Duell bestreiten

muss.“ Die Identität des Fremden ist also eine Zuschreibung

durch die Oberst-Figur. Genau diese Zuschreibung bestätigt

aber gleichsam die Existenz nicht nur des Anderen. Die

Identität der beiden, die aus ihrer – durch die Rede des

47 Vgl. auch die Identität des Kutschers, der den Fremden fährt: „Tatsächlich, die späteren Diskussionen ergaben auch, dass diesen Kutscher hier in der Gegend niemand kennt, obwohl hier, beim Araber jeder Fiaker zu verkehren pflegte, der zu irgend etwas gut war. Selbst dann, wenn dazu ein Umweg gemacht werden musste.“

60

Oberst behaupteten – Gegensätzlichkeit hervorgeht, bringt nun

auch die Oberst-Figur gleichsam zum Leben (im Sinne der o.g.

Existenz). Die Oberst-Figur gebiert (weil sie es glaubt)

gleichsam sich selbst als gespaltene Figur. In gewisser Weise

scheint das oben beschriebene Verlangen, der metaphorische

Hunger, hier seine Stillung zu finden. Nicht nur wird das Wort

(des Oberst) mit der Bezahlung des Pálinkas gleichsam zur Tat,

dringt in die erzählte Zeit ein, die virtuelle Inkarnation

sowohl des Unausgesprochenen (in der Figur des jungen Fremden)

und – als Effekt – des Ausgesprochenen (des vermeintlich

souveränen Oberst) bedeutet auch eine Zuordnung, einen

Verortung der beiden Bedeutungen auf einer Art Oberfläche (den

Erscheinungen der beiden Figuren).48 Es lohnt vielleicht, hier

auf eine Stelle zu blicken, die der „Inkarnation“ vorausgeht.

Die Beschreibung der Rettiche, die der Oberst verzehrt, kurz

bevor der junge Fremde erscheint: „[…] als er den Rettich, der

ihm in die Hände gefallen war, aufschnitt und sein Fleisch

aufmerksam in Augenschein nahm. Die Rettiche machten klar,

dass die Besucher des Arabischen Schimmel Kenner waren, denn

jeder Rettich, den er aufschnitt, erwies sich als makellos.

Ihr schneeweißes Fleisch schwitzte leicht, aber da war keine

Spur von zum Beispiel dem braunen Wurm, der heimtückisch an

das Rettichherz herankriecht, keine Spur von den holzigen,

fauligen Stellen, deren Anblick den Rettichkenner so traurig

48 Zugegebenermaßen ist der Übergang des Wortes zur Tat nicht nachvollziebar, sein Kennzeichen ist die Plötzlichkeit, die in der Begegnung der Blicke auch genannt wird: „als sein Blick unerwartet dem […] Gesicht des Oberst begegnete…“, aber auch die Stille, also die Bedeutungsleere (oder der Überschuss?): „…als der Oberst […] mit einem stillen, finsteren Gesicht einwarf: „Das Gläschen bezahle ich dann.“, vielleicht eine Art bedeutsames Nichts. Trotzdem erscheint die Tat des Oberst nicht als zufällig, sondern als notwendig.

61

stimmt, als würde er denken, dass es auf der Welt keine

ehrbaren Menschen noch Rettiche mehr gibt, dass das Äußere

trügt, und dass selbst die ehrlichste Frucht im Innern

schlecht sein mag. Die Rettiche des Oberst täuschten nicht.

Ihr Äußeres versprach wirklich nicht mehr als ihr Inneres

hergab. Sie waren gesund.“ Die Gesundheit (im Ungarischen

„Ganzheit“) erscheint hier als Identität von innen und außen,

von Oberfläche und Substanz – eine substanzielle Erscheinung

oder scheinbare Substanz, das Bild einer Einheit, die keine

Zweideutigkeit duldet, sozusagen einer reinen Eindeutigkeit,

einer Art referenzlosen Bedeutung oder einer absoluten

(unbezüglichen) Referenz, einer Art Absolutum. Die

„Inkarnation“ würde in diesem Sinne (im Sinne der eigenen

Absolutheit bzw. der Absolutheit der Souveränität) dem Versuch

der Oberst-Figur gleichkommen, das Eigene, das ihm zugehörige

Unausgesprochene oder die Ebenbürtigkeit, ja die

Unterlegenheit, kurz: die Kehrseite der intentional bei ihr

selbst gesetzten Souveränität an einer anderen Stelle als bei

sich selbst zu verorten, sich ihrer sozusagen zu entledigen

(sie von sich zu isolieren). Doch gerade, weil diese

sogenannte Unterlegenheit den Worten des Oberst (seiner

Deutung des Fremden) entspringt, wird die Figur des jungen

Fremden als sein Feind (oder Opfer) zum Teil seiner selbst:

der „Feind“ entspringt der Oberst-Figur, er macht gleichsam

ihr „Inneres“ aus. Die Oberst-Figur kann nun als zweigeteilte

Figur bzw. als Figur gelten, die eine Oberfläche (die

maskenhafte Überlegenheit oder Souveränität des Oberst) und

ein Inneres, eine Substanz (das romantisch-theatralische

Erscheinung des jungen Fremden) hat. Gerade diese Zweiteilung

62

bzw. die Anwesenheit des Anderen in der Oberst-Figur lässt die

bevorstehende Hinrichtung (bzw. das Duell) aber zu einer

Bedrohung des Oberst (des Henkers) selbst (Benjamin) werden.

Denn als Teil der Oberst-Figur wird ihr Opfer (der junge

Fremde, oder: der „Journalist“) zu einem (zumindest

teilweisen) Selbstopfer. Die Gewalt des Henkers richtet sich

gegen ihn selbst. Der Oberst-Figur wird eine ähnliche

Erkenntnis zuteil, die sie als „unangenehm“ erfährt: „Wenn er

wirklich diesen närrisch aussehenden jungen Mann dort

vorfinden würde […] wenn wirklich dieser elende,

unzurechnungsfähige junge Mann sein Gegner wäre, die Sache

wäre durchaus unangenehm, an der Situation würde das aber

nichts ändern.“ Das „unangenehm“ macht die Verbindung zwischen

dem „Oberst“ und dem „zweiten Fremden“ unleugbar, der Tod, der

die Forderung des Duells oder der Hinrichtung ist, weist nun

in die Figur des Oberst. Man könnte vielleicht sogar sagen,

der Tod ist in der Figur. Der eigene Tod ist der Oberst-Figur

gleichsam per Gehorsam eingeschrieben (denn: „gegen die

Entscheidung des Kasinos [das Todesurteil] gibt es keine

Appellation“).

Dieser „unangenehmen“ Erkenntnis begegnet der Oberst mit der –

unwillkürlichen – Bestellung desselben Pálinkas, den der

Andere nicht trinken konnte. Der behauptete Tod des Anderen,

der sein eigener ist, wird, im Zeichen der Scham („denn es

beschämte ihn jetzt schon einigermaßen, sich so mit seinem

Gegner identifiziert zu haben“), von diesem Pálinka, den er

trinkt, gleichsam verdeckt. Diese Verdeckung ähnelt aber der

oben beschriebenen Blindheit. Der Pálinka macht die Oberst-

Figur gleichsam blind für das bzw. den Anderen (und den Tod).

63

Doch kann die Verdeckung des Anderen diesen nicht vernichten,

die Erfahrung der Innerlichkeit nicht rückgängig machen. Der

Akt des Pálinka-Trinkens schafft den Oberst als eine Art leere

Hülle, deren Merkmal die vielzitierte Souveränität ist. Der

„Andere“, den der Oberst quasi geschaffen hat, erscheint nun

aber als aus der Oberst-Figur „herausgedrängt“. Die

Ortlosigkeit des „Anderen“ wird hier aber sozusagen zur großen

Frage des Textes.

Es ist kein Zufall, dass die Handlung an dieser Stelle

gleichsam abbricht. Die Zigarre, die der Oberst noch raucht,

stellt, als ritueller und gewohnheitsmäßiger Abschluss des

Essens bei den Mitgliedern der sozialen Schicht, der der

Oberst angehört (und nicht der Journalist), gleichsam die

„Ordnung“ wieder her. Der Oberst demonstriert seine soziale

Zugehörigkeit und damit – vermeintlich – seine Überlegenheit.

Er vollzieht die Abkehr von dem „Anderen“ äußerlich oder

sichtbar nach. Das „Gespenst“ des Anderen verlangt nun –

aufgrund dieser Widersprüchlichkeit – aber umso

nachdrücklicher nach seinem Platz in der erzählten Zeit. „Er“

will kein Gespenst sein.

Was folgt, ist ein perspektivischer Bruch, der Erzähler tritt

gleichsam aus Zeit der Erzählung aus und blickt aus einer Art

universellen Perspektive, einer Art Zeitlosigkeit, auf das

Geschehen, seine Rede ist an den Leser adressiert: „Mit dieser

Raucherszene kommen wir nun auch in Ungefähr zum Ende mit dem

Arabischen Schimmel und all den Herren, deren Ankunft aus

verschiedenen Stadtteilen hier zu erwarten war, weil sie in

dieser Hinsicht einen inneren Instinkt hatten. Dass die

Klinikgehilfen schlussendlich eintrafen, war sicher, weil

64

selbst in der Klinik nicht Tag und Nacht seziert wird. Die

Leichenkutscher kamen aus den verschiedenen Stadtteilen an,

denn auch beim Leichentransport gibt es irgendwann eine

gewisse Pause. Und gegen Abend zogen die Fiakerbesitzer vor

dem Haus auf, weil ihre Ställe irgendwo in der Gegend waren.

Es gab zu tun am Schanktisch, und durch die offene Küchentür

strömte der Geruch von neuem ‚perkelt’. János, die Wirtin und

auch noch Andere hatten gerade genug Zeit gehabt, den Oberst

zu vergessen, der hier am Nachmittag beängstigend die runden

Augen verdreht hatte, der aber eigentlich ein Gemütsmensch

war, der sich auch gerne mit dem Schankburschen auf ein

Gespräch einließ. Als gegen Abend ein verspäteter

Leichenkutscher vor dem Schanktisch erschien und dort mürrisch

stehenblieb, wie einer, der unzufrieden mit seinem Beruf ist.

Im Stand rieb er sich mit dem Fuß des einen Beins die Wade des

anderen und sagte solange nichts, bis er zwei Gläser von dem

starken Pálinka getrunken hatte.“49

Der Leichenkutscher berichtet János nun vom Tod des Oberst. Er

liefert keinen Beweis dafür, dass das Duell stattgefunden hat.

Nur die Aussage zum Tod des Oberst: „Man hat gesagt, dass er

in einem Duell in der Kaserne erschossen worden ist“. Das

allgemeine Subjekt ist als Zeuge wenig verlässlich, bzw. nicht

identifizierbar, die Aussage nicht überprüfbar. Der Andere,

der Gegner im Duell wird nicht erwähnt. János seinerseits kann

den Toten jedoch nicht in Verbindung mit dem Oberst vom

Nachmittag bringen, den der Leichenkutscher als Soldat a.D.,

der in Zivil aufgefunden wurde, beschreibt. Der Umstand der49 Interessant ist hier der Fokus auf den Beinen des Kutschers, der „Zweigliedrigkeit“ sowie die Notwendigkeit zweier Pálinkas zum Sprechen. Das Vereinende der Kutscher-Figur, das den Moment des sich begegnenden Blicks von Oberst und jungem Mann zu wiederholen scheint.

65

Zivilkleidung überantwortet die Leiche des Oberst aber an die

zivile Institution des Leichenhauses.50

Am Ende der Erzählung erscheinen zwei Oberst-Figuren: die des

nachmittäglichen Gastes, der „beängstigend die runden Augen

verdreht hatte“ und der tote Zivilist. In der Erzählung des

Leichenwagenfahrers und dem Vergessen János’ erscheinen die

Figuren als voneinander getrennt, und natürlich vereint seine

Erzählung die beiden, jedoch nur für den Leser, außerhalb der

erzählten Zeit. Die beiden Figuren scheinen erlöst von ihrem

paradoxen Verbundensein ihre jeweiligen „heimatlichen“ Plätze

gefunden zu haben: die Ebene des Leser bildet aus der Sicht

der handelnden Figur eine Art unzugängliche, unbeeinflussbare,

ja göttliche Sphäre, zu der die Sphäre der erzählten Zeit im

Gegensatz steht. Es scheint, dass das „Gespenst“ des „Anderen“

hier, in dieser „göttlichen“ Sphäre, der Sphäre der Sprache

seinen Platz findet: als das „wahre“ Gesicht des Oberst, das

„erst der Tod macht“.

50 In der Budapester Szvetenay-utca (heute: Lenhossék utca) war früher das Leichenschauhaus. http://epa.oszk.hu/00000/00003/00026/fabri.html (letzter Aufruf 17.11.2014)

66

Zusammenfassung

Utolsó szivar az Arabs szürkénél ist ein reines Sprachspiel das eine

Art pseudo-Handlung entlang des Motivs des „Duells“ bzw. des

Ehrenhandels inszeniert. Das „Duell“ ist nicht nur der

beschriebene Vorwand für die Legalität der Hinrichtung, es ist

auch sozusagen ein Handlungsvorwand. Der Text spielt oder nutzt

den Anschein, von einem Ehrenhandel zu berichten. Tatsächlich

generiert diese Referenz aber nur eine Erwartung: die Erwartung

der Gegnerschaft und der Entscheidung. Der Autor überträgt

diese Erwartungen als (sprachliches) Verlangen in den Text bzw.

in die Textur des Textes, indem er durch eine gewisse Gewalt,

die er gegenüber der Referenzialität der Sprache ausübt, durch

autoritäre sprachliche Setzungen, die die Referenzialität der

Sprache stören oder zerstören eine Art sprachlichen

Ausnahmezustand, eine referenzlose oder in ihrer Referenz

unbestimmbare, mehrdeutige, zwischen den Referenzen

oszillierende, isoliert betrachtet „reine“ Sprache schafft. Der

Text selbst baut auf Gegensätzlichkeit und einem gewissen

Entscheidungsnotstand auf, er „lebt“ vom Verlangen nach der

Entscheidung.

Im Zentrum dieser Performativität steht – in Bezug auf den Text

als Sprachspiel – die Einheit eines paradoxen (unmöglichen)

Befehls und des Gehorsams der Oberst-Figur gegenüber diesem

Befehl. Die Handlungsunfähigkeit, die dem „unmöglichen“ Befehl

entspringt, wird zur (quasi-)Handlung, indem sich der Befehl

per Gehorsam als die Paradoxie, die er ist, in die Oberst-Figur

einschreibt. Die „Handlung“ geht im von den Reden des Oberst

67

begleiteten Verzehr bestimmter Speisen gleichsam auf. Diese

Einheit von Sprechen und Essen bildet eine Art

Referenzialisierungsmechanismus, dessen Funktion – vor dem

Hintergrund des bevorstehenden Duells – die Setzung von

Souveränität oder Überlegenheit bei der Oberst-Figur in Bezug

auf das bzw. die bei einem virtuellen (weil allein sprachlich

determinierten)51 Gegner gesetzte Ausgeliefertsein oder

Unterlegenheit sein soll. Über die künstliche oder konstatierte

Einheit von Essgewohnheiten (der Verzehr ausschließlich von als

Armeleuteessen gewerteten Speisen) entfaltet sich dabei entlang

der in jedem Paradox wirkenden Symmetrie oder Ökonomie (der

absoluten, d.h. das jeweils andere in seiner Totalität

vernichtenden Gegensätzlichkeit der einzelnen Glieder des

Paradox), der negativen Äquivalenz seiner Glieder das paradoxe

Verbundensein des o.g. Gegensatzes von Souveränität und

Ausgeliefertsein. Der Gegensatz „verspricht sich“ durch den

Oberst als Medium, der gleichzeitig die Identität der

widersprüchlichen Glieder gewährleistet, indem er mit seinem

vermeintlichen Gegner vermeintlich den Appetit teilt. In dieser

paradoxen Mechanik scheint die Ebenbürtigkeit, die die

Identität des Oberst und seines „Gegners“ voraussetzt, die

jeweils behauptete Souveränität bzw. das Ausgeliefertsein

auszuschließen (zu isolieren), sie gleicht einer Unruhe, die

nie zum Stillstand kommt, die in einem ewigen Hin und Her,

einem vernichtenden Behaupten ein immer neues Verlangen, ein

neues Moment der Unruhe generiert. In diesem pulsierenden sich-

Versprechen offenbart sich letztlich nicht nur die Struktur des

51 Alles, was der Oberst von dem Journalisten weiß, ist ihm gesagt worden. Darüber hinaus gibt es keine Verbindung zwischen den beiden Figuren. Die Worte des Oberst „machen“ den Gegner.

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Paradox an sich: das (gebannte) Verbundensein zweier sich

absolut ausschließender Werte durch eine gemeinsame Identität,

mit dem Effekt der Schaffung einer Art virtuell-absoluter Werte

(einer absoluten Souveränität zw. eines absoluten

Ausgeliefertseins). Sondern die Totalität der Vernichtung des

jeweilig entgegengesetzten Gliedes des Paradoxons setzt auch

eine gewisse Symmetrie, eine Art Ökonomie des Paradox, die o.g.

negative Äquivalenz seiner Glieder voraus. Diese Künstlichkeit

(in Bezug auf irgendeine Art Leben) des Paradox, seine totale

Sprachlichkeit macht der Text deutlich, der die

Gegensätzlichkeit der Figur des Oberst uns seines „Gegners“ nur

als Applikation der vorgängig in der Rede der Oberst-Figur

generierten Gegensätzlichkeit auf die erzählte Wirklichkeit

übertragen kann. Damit schafft der Text aber eine Differenz

zwischen Sprache und „Leben“. Das „Leben“ oder die

„Wirklichkeit“ ist nichts als eine Projektionsfläche für eine

sprachliche Wirklichkeit und selbst undurchdringlich. Zum einen

wird hier deutlich, das die Ausnahme als Paradox zur großen

Gemeinsamkeit der genanten theoretischen Texte und des

Erzähltextes wird. Andererseits offenbart sich an dieser

Stelle auch die leise Ironie des der Erzählung in der

Einleitung dieser Arbeit unterstellten Mottos. Denn die

Gegensätze sind zwar „in der Tat […] erst wirklich

entgegengesetzte, wenn man sie aus dem Leben

herausschneidet“.52 Doch scheint der Text die Frage

aufzuwerfen, ob die Sprache, deren Domäne diese Gegensätze

sind, überhaupt etwas „aus dem Leben schneiden“ kann. Es

scheint viel eher so zu sein, dass die Sprache – wie Agamben

52 siehe Fußnote 1.

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festgestellt hat53 – einem ewigen Ausnahmezustand gleicht, der

hier an einem Nachmittag im „Arabischen Schimmel“ – neben einem

undurchdringlichen Leben – „die Welt“ bedeutet hat.

53 siehe Fußnote 20.

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Literaturverzeichnis

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