Der Vernunftbegri�
bei Joseph Ratzinger
DIPLOMARBEIT
zur Erlangung des Magistergrades
an der Katholisch-Theologischen Fakultät
der Universität Salzburg
Fachbereich Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät
Betreuer: Ao.Univ.-Prof.Mag.Mag.Dr. Emmanuel Bauer
eingereicht von
Marina Pinheiro Teixeira
Salzburg 2009
Danksagung
Ich hätte viel zum Sagen. Auf allen meinen Wegen bin ich wunderbaren, von Gott gesendeten Men-
schen begegnet, die meine Reise schöner machten und mir bei vielen Schwierigkeiten hilfreich zur Seite
standen. Diejenigen, die zur Erstellung dieser Diplomarbeit beigetragen haben, verdienen eine besonde-
re Danksagung, denn sie haben mir geholfen, eine der wichtigsten Phasen meines Lebens abzuschlieÿen.
Deswegen möchte ich mich bei den folgenden Personen bedanken:
Bei meinem Betreuer Herrn Professor Emanuel Bauer, für die ewige Geduld, für die liebevolle und
aufmerksame Betreuung und dafür, dass Sie seit meinen ersten Tagen an der Universität Salzburg
immer bereit waren, mich auf viele Weisen zu unterstützen und zu begleiten. Herzlichen Dank für die
wertvollen Lehren, die essentiell für meinen akademischen Fortschritt waren.
Bei Herrn Professor Drago Pintaric, weil Sie mir wie ein Vater unglaublich lieb und ständig geholfen
haben. Sei es bei kleinen Details oder bei groÿen Entscheidungen, Sie haben mir alles ausführlich erklärt
und alles Mögliche getan, damit ich im Studium (und im Leben) weiterkommen könnte. Ohne Sie wären
diese Seiten nicht möglich, denn ich wäre vermutlich nicht einmal eine Studentin an der Universität
Salzburg.
Bei Herrn Professor Clemens Sedmak, meinem Bruder in Christus, für die Hilfe, für die Fürsorglich-
keit, für die vielen Möglichkeiten, für das einfache Dabeisein, für die Liebe eines wahren Freunds.
Bei Christine Sonntag und allen meinen Kolleginnen und Kollegen am Internationalen Forschungs-
zentrum Salzburg, für eine schöne Atmosphäre und unterhaltsame Stunden, denen ein signi�kanter Teil
dieser Arbeit zu verdanken ist.
Bei meinem Papa und Bruder, für das (relativ lang andauernde) Interesse an meiner Arbeit und
dafür, dass wir einander trotz der Ferne haben. Ich bin sehr dankbar, dass ihr meinetwegen alles tut.
Insbesondere muss ich mich bei meinem Papa dafür bedanken, dass ich nicht nur so weit �iegen durfte,
sondern auch dafür, dass du mir sogar den Anstoÿ dafür gegeben hast. Regelmäÿige Reisen und Anrufe
können uns nur vorübergehend physisch verbinden, doch was wir füreinander fühlen, ist gröÿer als diese
Welt.
Bei dem lieben Professor Franklin Trein, für die jahrelange Freundschaft, die einfach so viel bedeutet,
dass man sie gar nicht beschreiben kann. Trotz einiger Tausende Kilometer hast du immer an mich
gedacht und hast immer o�ene Arme, bei jedem Mal, wenn wir uns wiedersehen. Wie du einmal gesagt
hast, du blickst über meine Schulter, du bist bei mir � und dafür kann ich mich nicht genug bedanken.
Ich vermisse dich.
Schlieÿlich bedanke ich mich bei meinem Freund, Gunter Graf, für einfach alles. Denn du bist ein
Geschenk von oben.
Gott und allen diesen Leute verdankt sich nicht nur diese Diplomarbeit, sondern meine Freude, meine
Mut, meine Kraft, der ganze Geschmack meines Lebens... dass ich so weit gekommen bin.
Agradecimentos
Eu teria muito a dizer. Em todos os meus caminhos encontrei pessoas maravilhosas, enviadas por
Deus, que �zeram minha viagem mais bonita e nas horas de di�culdade estiveram sempre a meu lado.
Aqueles que contribuíram para a confecção desta monogra�a merecem um agradecimento especial, já
que com sua ajuda termina agora uma das fases mais importantes de minha vida. Por isso gostaria de
agradecer às seguintes pessoas:
A meu orientador, Emanuel Bauer, pela paciência in�nita, pela orientação com amor e atenção, e
por ter estado sempre a disposição, desde meus primeiros dias na Universität Salzburg, para me ajudar
em muitas maneiras e para me acompanhar. Muito obrigada pelas lições valiosas, essenciais para meu
progresso acadêmico.
Ao professor Drago Pintaric, que como um pai sempre prestou ajuda com incrível afeto. Tanto com
relação a pequenos detalhes ou a grandes decisões, sempre me explicou tudo minuciosamente e fez o
possível para que pudesse ir a frente nos estudos (e na vida). Sem ele estas páginas não teriam sido
possíveis, já que eu não seria sequer aluna nesta universidade.
Ao professor Clemens Sedmak, meu irmão em Cristo, pela ajuda, pelo cuidado, pelas muitas chances,
por simplesmente estar presente, pelo amor de um amigo verdadeiro.
A Christine Sonntag e todos os meus colegas no Internationales Forschungszentrum Salzburg, pela
agradável atmosfera e pelas divertidas horas, às quais devo uma parte signi�cativa deste trabalho.
A meu pai e meu irmão, pelo interesse (relativamente longo) por meu trabalho e por, apesar da
distância, termos uns ao outros. Sou muito grata por fazerem tudo por mim. Agradeço especialmente a
meu pai, por ter não apenas permitido que eu voe tão longe, mas também por ter ele mesmo me dado
o empurrão necessário. Viagens e ligações regulares só podem nos unir �sicamente por pouco tempo,
mas o que nós sentimos uns pelos outros é maior que este mundo.
Ao querido professor Franklin Trein, pela amizade de anos, que tanto signi�ca e não pode ser descrita.
Apesar de alguns milhares de quilômetros, sempre pensou em mim e tem os braços abertos todas as
vezes em que nos revemos. Como disse uma vez, você olha espia por cima dos ombros, está perto � eu
não conseguiria agradecer o su�ciente por isso. Sinto saudade.
Por �m, agradeço a meu namorado Gunter Graf simplesmente por tudo. Você é um presente vindo
de cima.
A Deus e a todas essas pessoas devo não só este trabalho, mas minha alegria, meu ânimo, minha
força, todo o gosto da minha vida... ter chegado tão longe.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung 1
2 Die Krise der Gegenwart 5
2.1 Zur geschichtlichen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
2.1.1 Der Weg zur Machbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
2.1.2 Aufklärung und Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
2.2 Das Bild der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
2.2.1 Das Kriterium der Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
2.2.2 Das Auseinandergehen von Vernunft und Glauben . . . . . . . . . 15
3 Der Gott als Logos 20
3.1 Der Gott der Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
3.2 Der Gott der Philosophen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
3.3 Die notwendige Begegnung � der Gott des Glaubens . . . . . . . . . . . . 28
3.4 �Nicht vernunftgemäÿ zu handeln ist dem Wesen Gottes zuwider� . . . . 33
3.5 Hellenisierung des Christentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
4 Eine neue Begegnung von Vernunft und Glauben 44
4.1 Glaube und Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
4.2 Religion und Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
4.3 Christentum und Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
4.3.1 �Fides et ratio� . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
4.3.2 Religio vera . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
4.3.3 Dialog? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
5 Kritik 66
5.1 Paolo Flores D'Arcais . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
5.2 Hermann Häring und Hans Albert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
5.3 Regensburger Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
6 Abschlieÿende Bemerkungen 84
1 Einleitung
Da der Titel dieser Diplomarbeit �Der Vernunftbegri� bei Joseph Ratzinger� lautet,
könnte man dazu geneigt sein, eine (strenge) De�nition von �Vernunft� zu erwarten.
Doch dies beansprucht Joseph Ratzinger (Papst Benedikt XVI.) nicht, zumindest nicht
in derselben Weise wie Philosophen wie etwa Immanuel Kant. Sein Ziel scheint nicht zu
sein, eine Ergänzung des Satzes �'Vernunft' heiÿt...� anzubieten. Ob sie das Merkmal, das
den Mensch ausmacht, ein Vermögen oder ein Werkzeug ist, wird hier, wenn überhaupt,
nur sehr allgemein beantwortet. Denn was im Vordergrund in dieser Diplomarbeit steht,
ist: �Welche Art von Vernünftigkeit eignet dem christlichen Glauben? Wie ordnet er sich
in das Ganze unserer Existenz ein; ist er mit den grundlegenden Erkenntnissen vereinbar,
die die moderne Vernunft gewonnen hat? Antwortet er auf vernünftiges Fragen, und ist
seine �Vernunft� mitteilbar?�1 Die Antwort Ratzingers auf diese Fragen sind ho�entlich
in dieser Diplomarbeit zu �nden, deren wichtigste Punkte ich im Folgenden darstellen
möchte.
Im ersten Kapitel wird die Problematik der sogenannten �Krise der Gegenwart� the-
matisiert. Nach Ratzinger ist sie das Ergebnis einer geschichtlichen Zuwendung zur
�Machbarkeit�. Was dies bedeutet, wird von Ratzinger erklärt, und zwar durch die Dar-
stellung der Stadien des sogenannten �menschlichen geistigen Umbruchs�. Auch die Rolle
der Aufklärung wird dabei von Ratzinger erörtert, doch mit der Anmerkung, dass Auf-
klärung und Christentum ursprünglich eine Beziehung p�egten, welche aufgelöst wurde.
Die heutige Krise der Vernunft wird einerseits durch die Anerkennung des methodischen
Modells der empirischen Wissenschaften und der Mathematik als Kriterium für Ratio-
nalität charakterisiert. Andererseits beruht diese Krise auf einer Trennung von Vernunft
und Glauben, aufgrund deren die Gottesfrage ausgeschlossen und die Wahrheit der Re-
ligionen, die für etwas �Subjektives� oder für eine Sache des Gefühls gehalten werden,
geleugnet wird. Vernunft und Glaube sind gemäÿ dieser Au�assung nicht feindselig, da
1Ratzinger, [17] Der Gott des Glaubens und der Gott der Philosophen, S. 8.
1
1 Einleitung
sie sich nicht mehr für dieselben Fragen interessieren. Die Fragen nach dem Woher und
Wohin werden nicht mehr gestellt, so Ratzinger, und der Mensch wird als Produkt be-
handelt. Somit zeigt sich die Gefahr einer solchen �selbstbeschränkten� Vernünftigkeit,
wie Ratzinger sie nennt, die überwunden werden soll, und zwar indem der gegenwärtige
Vernunftbegri� erweitert wird.
Im zweiten Kapitel wird deutlich, dass der Begri� �Vernunft� in der Argumentation
Ratzingers auch andere Namen übernimmt: �Philosophie� (verstanden als Suche nach
Vernünftigkeit), �Wahrheit� (bzw. Suche nach der Wahrheit) und �Logos�. Diese Begri�e
werden zwar nicht als Synonyme behandelt, haben aber eine mehr oder minder klare
Verbindung. Ratzinger spricht vom christlichen Glauben als eine Entscheidung für den
Primat des Logos gegenüber der bloÿen Materie, für einen Logos, der zugleich Vernunft
und Liebe ist. Was dies bedeutet erklärt Ratzinger, indem er die Entwicklung des Gottes-
bildes im Christentum kommentiert � ausgehend von der Bibel über die Begegnung vom
Glauben und griechischer Philosophie, die nach Ratzinger für den christlichen Glauben
entscheidend war. Der Gott der Bibel tri�t den Gott der Philosophen und wird zum
Gott des Glaubens, zu einem Gott als Logos, das heiÿt, als Vernunft und Wort zugleich.
Die Argumentation Ratzingers in diesem Zusammenhang spiegelt die sogenannte These
der �Hellenisierung� des Christentums wider, welche am Ende des zweiten Kapitels kurz
kommentiert wird.
An diese Synthese von Glauben und Vernunft, von Glauben und Philosophie müssen
sich nicht nur Christen (der �Glaube�) sondern auch die Wissenschaft und Philosophie
(die �Vernunft�) erinnern � was zum dritten Kapitel führt. Ratzinger merkt an, dass
bestimmte gegenwärtige Probleme durch beide, Vernunft und Glauben, gefördert wer-
den; so wird der Terrorismus oft seitens der Religion gespeist, Kriege und Atombomben
dagegen durch die säkulare Techne und Politik. Daher fordert Ratzinger ein Wechselver-
hältnis, eine Erweiterung des aktuellen Vernunftbegri�es, die ein gegenseitiges Nutzen
und Korrigieren von Glauben und Vernunft voraussetzt und impliziert. Der Glaube,
behauptet Ratzinger, hat mit Vertrauen und Nicht-Berechnen-Können zu tun, ist aber
kein blindes Sichausliefern ins Irrationale. Religion und Vernunft müssen sich wiedertref-
fen, so Ratzinger, ohne sich ineinander aufzulösen. Das Christentum muss sich immer
neu daran besinnen, dass es religio vera ist � eine Religion des Logos, die sich auf die
Vernunft stützt und nicht bloÿ Gewohnheit ist. Um die Argumentation Ratzingers zu
bekräftigen, wird die Enzyklika Fides et ratio von Papst Johannes Paul II. eingebracht,
die in sehr ähnlicher Weise die Synthese von Glauben und Vernunft erörtert und eine
2
1 Einleitung
Korrelationalität von Philosophie, Theologie, Wissenschaft und Christentum einfordert.
Am Ende des Kapitels zeigt aber der Kommentar des Theologen Karl-Heinz Menke,
dass bei den Gedanken Ratzingers auch gewisse Schwierigkeiten sichtbar werden, die
seine Argumente problematisch erscheinen lassen.
Man wird somit in das vierte Kapitel geführt, das der Kritik anderer Autoren an Rat-
zinger und meinen persönlichen Bemerkungen dient. Der Philosoph Paolo Flores d'Arcais
scheint mit der Verbindung von Vernunft und Christentum, für die Ratzinger plädiert,
nicht einverstanden und eher für eine Art Christentum zu sein, die sich zufrieden gibt,
�Ärgernis für die Vernunft� zu sein. Der Philosoph und Soziologe Hans Albert und der
Theologe Herman Häring kritisieren nicht nur einige Punkte Ratzingers, sondern sein
Denken im Allgemeinen. Der Gebrauch von gewissen Begri�e kommt ihnen oft proble-
matisch vor, manche Argumente sind, so behaupten sie, nicht genug begründet. Auch
die Kritik Ratzingers an dem modernen wissenschaftlichen Vernunftbegri� ist ein wich-
tiger Streitpunkt. Die Meinung, Ratzinger werde der analytischen Philosophie und dem
modernen wissenschaftlichen Weltbild nicht gerecht, taucht auch bei anderen Autoren
auf, und zwar bei denjenigen auf, die anschlieÿend eingegangen wird. Aus zwei Sam-
melbänden, die der Erörterung der Regensburger Rede gewidmet sind, werden einige
wichtige Kritikpunkte dazu eingebracht. Nicht nur Ratzingers Einstellung zur modernen
Vernunft, sondern auch die Hellenisierung des Christentums und nicht zuletzt die Paral-
lelisierung von Vernunft und Islam stellen sich als strittige Elemente dar. Die Autoren,
die aus unterschiedlichen Fachbereichen kommen, versuchen sie zu korrigieren oder zu
erläutern. Abschlieÿend mache ich einige persönliche Kommentare, die meines Erachtens
noch o�en gebliebene Fragen und problematische Punkte erörtern.
Das Thema �Vernunft� und insbesondere das Verhältnis zwischen der menschlichen
Vernunft und dem christlichen Glauben sind lange eine der Hauptinteressen Joseph Rat-
zingers. So schreibt Arthur F. Utz in seinem Buch Glaube und demokratischer Plura-
lismus im wissenschaftlichen Werk von Joseph Kardinal Ratzinger : �Die gegenseitige
Durchdringung von Glaube und Vernunft ist [...] der Kern der sozialethischen Äuÿe-
rungen von Kardinal Ratzinger.�2 Die uralte Diskussion bezüglich der oft schwierigen
Beziehung zwischen Vernunft und Glauben scheint also noch nicht beendet zu sein3 und
die Problematik ist nach wie vor aktuell, was zum Beispiel durch die gegenwärtige Dis-
2Utz, [26] Glaube und Pluralismus, S. 28.3Vgl. Müller, Klaus, Vernunft und Glaube: Eine Zwischenbilanz zu laufenden Debatten. Münster: Lit,
2005. S. 1�14.
3
1 Einleitung
kussion über die Lehre des Kreationismus in amerikanischen Schulen, das Aufsehen, das
von den Bücher des britischen Atheisten Richard Dawkins erregt wird, und das Bemühen
um einen interreligiösen Dialog bestätigt werden kann.
Wie zahlreich und unterschiedlich die Meinungen zu diesem Thema sind, zeigt die
Geschichte der Philosophie. Die Antwort Ratzingers kennenzulernen ist nicht zuletzt
deswegen der Bemühung wert, weil er � im Gegensatz zu vielen bedeutenden Autoren,
die sich über die Thematik geäuÿert haben � noch lebt und seit 2005 das höchst wich-
tige Amt des Papstes inne hat. Ratzinger ist wie nur einige wenige in der Lage, einen
unvorstellbaren Ein�uss auf das religiöse, oft aber auch politische und moralische Leben
des Menschen auszuüben.
All dies stand im Hintergrund, als das Thema �Vernunftbegri� bei Joseph Ratzinger�
für diese Diplomarbeit ausgewählt wurde. Aber auch die Tatsache, dass Ratzinger nicht
nur in der Theologie, sondern auch in der Philosophie bewandert ist und sich bei seiner
Argumentation oft auf Denker aus diesem Bereich stützt, hat ermöglicht, dieses Thema
aus philosophischer Perspektive auszuarbeiten.
4
2 Die Krise der Gegenwart
Die berühmte Regensburger Vorlesung von Papst Benedikt XVI. ist in verschiedenen
Bänden abgedruckt worden. In einer der von mir benutzten Quellen, dem Buch Gott
und die Vernunft � Aufruf zum Dialog der Kulturen, hat sie den Titel Der Vernunft ihre
ganze Weite wieder erö�nen1 bekommen, einen Satz, der mitten im Text vorkommt.
Dieser Appell und besonders das Wort �wieder� deuten an, dass sich gemäÿ Ratzinger
die Vernunft in einem Zustand be�ndet, der ihrer vollen Fähigkeit und ihrem Wesen
nicht entspricht. Der Ausdruck des Wunsches um eine Revitalisierung der Vernunft
signalisiert, dass sie irgendwie �unter Erosionsverdacht� steht und zeigt zugleich eine
Krisendiagnose an.2 Die von Ratzinger festgestellte �Krise der Gegenwart� soll der Aus-
gangspunkt dieser Arbeit sein, von dem aus seine Konstruktion bzw. Rehabilitation des
Begri�es �Vernunft� ermöglicht wird. Zuerst werde ich versuchen, den geschichtlichen
Weg darzustellen, der nach Ratzinger die Krise vorbereitet hat. Danach möchte ich die
Hauptkennzeichen der gegenwärtigen Situation herausarbeiten, wie sie von Ratzinger
dargestellt wird: eine �extreme Trennung zwischen Glaube und Vernunft�, eine �Ex-
klusivität des Modells der empirischen Wissenschaften als Rationalitätskriterium� und
deren Entfaltung. Aus diesen kombinierten Faktoren resultiert dann gemäÿ Ratzinger
eine sogenannte �Selbstbeschränkung der Vernunft�.
2.1 Zur geschichtlichen Entwicklung
2.1.1 Der Weg zur Machbarkeit
Ein erstes �Krisensbewusstsein� Ratzingers kann bereits in den Jahren nach dem Zweiten
Vatikanischen Konzil festgestellt werden; es ist bereits in seiner Christologievorlesung aus
1Vgl. Benedikt XVI., [20] Gott und die Vernunft � Aufruf zum Dialog der Kulturen, S. 124. ImFolgenden zitiert als �Vernunft�.
2Vgl. Kuschel, Weltethos aus christlicher Sicht, S. 2. Im Folgenden zitiert als �Weltethos�.
5
2.1 Zur geschichtlichen Entwicklung
1967 sichtbar.3 Ich möchte mich für den nächsten Teil dieser Arbeit auf sein Buch Einfüh-
rung in das Christentum vom Jahre 1968 stützen, in dem Ratzinger schon kritisch über
eine bestimme Form der Haltung vor der Wirklichkeit, die wissenschaftliche, spricht.4 Er
meint, alle solchen Haltungsformen stehen in irgendeiner Weise dem Glauben gegenüber,
sei es als Hindernis oder als Unterstützung. Die gegenwärtige wissenschaftliche Grund-
orientierung � auch heute laut Ratzinger noch gegenwärtig, wie spätere Schriften zeigen5
� wird durch die Beschränkung ihrer Methode auf das Erscheinende, auf das �in den Gri�
zu Nehmende� charakterisiert; sie fragt nicht mehr nach der An-sich-Dimension der Din-
ge und dem Wesen des Seins, das für unerreichbar gehalten wird. Sie ist das Resultat
einer geschichtlichen Zuwendung zur �Machbarkeit�, eine graduelle Ermächtigung der
Techne durch die Geschichte, die die aktuelle Welt6 bestimmt.
Um zu erläutern, wie es zu diesem Bild gekommen ist, geht Ratzinger kurz auf die
Geschichte des �geistigen Umbruchs� des Menschen ein, der sich in zwei Stadien voll-
zogen hat. Das erste Stadium7 wurde von René Descartes vorbereitet und erreicht bei
Giambattista Vico und Immanuel Kant seinen Höhepunkt. In der Antike und im Mit-
telalter ist das Sein selbst wahr und erkennbar, weil Gott, der Intellekt, es gemacht hat,
und zwar indem er es gedacht hat. Im schöpferischen Geist sind Denken und Machen
eins. In diesen Geschichtszeiten gilt, dass alles Sein Gedanke des absoluten Geistes ist,
was auch heiÿt, dass alles Sein Sinn, Logos8, Wahrheit ist. Das menschliche Denken ist
von da aus �Nach-Denken� des Gedanken, der selbst Sein ist. Der Mensch kann über den
Logos nachdenken, weil sein eigener Logos, seine Vernunft, Logos des einen Logos ist.
Da das Sein Gedanke ist, ist es denkbar, also Gegenstand der Wissenschaft, die nach
Weisheit strebt. Hingegen tritt aber in diesem Zusammenhang die Ansicht auf, das
menschliche Werk sei eine Mischung von Logos und Unlogik, zufällig und vorübergehend.
Das Wissen von menschlichen Dingen kann nur �Techne�, handwerkliches Können sein,
nie wirkliches Erkennen oder wirkliche Wissenschaft. Geht man von diesem Punkt an
3Häring, [8] Theologie und Ideologie bei Joseph Ratzinger, S. 41. Im Folgenden als �Theologie undIdeologie� zitiert.
4Ratzinger, [18] Einführung in das Christentum, S. 34. Im Folgenden zitiert als �Christentum�.5Vgl. z. B. die viele Texten im obig erwähnten Buch, die aus Jahren wie 1998, 2004, 2006 usw. stammen
und vom gleichen Thema sprechen.6In Schriften wie die Vorträge in Gott und die Vernunft und sein Artikel in Dialekt der Säkularisierung
wird Ratzinger diese Situation auf Europa und das abendländische Denken beschränken.7Wenn nicht anders angegeben beziehen sich alle Verweise auf das erste Stadium auf Ratzinger, [18]
Christentum, S. 34�38.8Die Bedeutung des Terminus �Logos� und seine Beziehung zum Gottesbegri� ist von absoluter Wich-
tigkeit für Ratzingers Vernunftau�assung. Das wird das Thema des zweiten Kapitels dieser Arbeit sein.
6
2.1 Zur geschichtlichen Entwicklung
zeitlich weiter, kommt man zur cartesianischen Position: die einzige wirkliche Gewissheit
�ndet man nur in der rein formalen Vernunftgewissheit, gereinigt von den Unsicherheiten
des Tatsächlichen. Diese Vernunftgewissheit basiert ihrerseits auf dem Modell der Mathe-
matik, das zur Grundform des Vernünftigen überhaupt aufsteigt. Gerade bei Vico9 sieht
Ratzinger den entscheidenden Trennungspunkt zwischen Metaphysik und Neuzeit. Er
stellt dem �das Sein ist die Wahrheit� der Scholastik seine Au�assung entgegen, wonach
als wahr erkennbar für uns nur das sei, was wir selbst gemacht haben. Ausgegangen von
der aristotelischen These, dass Wissen Wissen der Ursachen sei, meint Vico, wahrhaft
wissen kann man nur das, was man selbst gemacht hat, da wir uns nur selbst kennen.
Die Möglichkeit des menschlichen Denkens wird aus dem Nachdenken des Seins zum
Faktum, zur Eigenwelt des Menschen verlegt; sie allein vermag der Mensch wahrhaft zu
verstehen. Vollkommenes Wissen ist nur bei den Fiktionen der Mathematik und bei der
Geschichte, die dem Raum des vom Menschen selbst Vollbrachten gehört, zu erreichen.
Nach Ratzinger beginnt hier �die Herrschaft des Faktums�, die radikale Wendung des
Verständnisses vom Gewissen zu dem eigenen menschlichen Werk.
Historie und Mathematik werden auf diese Weise zu dominierenden Disziplinen. Der
Ort der Wahrheit wird in die Geschichte versetzt. Hegel und Comte, Baur10 und Marx
unterwerfen jeweils Philosophie, Theologie und Nationalökonomie der Geschichte, wie
ebenso Darwin das System des Lebendigen. Von dieser Ansicht, dass die Welt letztendlich
nur als vom Menschen Gemachtes wissbar ist, folgt, so Ratzinger, dass der Mensch nicht
mehr über sich selbst hinaussehen kann. Es besteht zwar eine Anthropozentrik, aber
paradoxerweise muss der Mensch sich gleichzeitig mit der Feststellung ab�nden, dass er
selbst ein bloÿ zufällig Gewordenes ist, ein Zufallsprodukt uralter Entwicklungen und
geschichtlicher Prozesse.
Nach Ratzinger hat dieses Programm allein sich als nicht genügend erwiesen und
wurde ein Jahrhundert später mit einem anderen Ansatz verbunden, und zwar dem von
Marx11 formulierten. Die Aufgabe der Philosophie wurde vorher als Betrachtung dessen
9Das Prinzip �verum esse ipsum facto� � wahr bzw. erkennbar ist, was man selbst gemacht hat � desneapolitanischen Philosophen, Historikers und Juristen Giambattista Vico erschien erstmals im WerkDe antiquissima Italorum sapientia ex linguae Latinae originibus eruenda libri tres und wurde später imWerk Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker auf die Geschichte angewandt.10Ferdinand Christian Baur (1792, Cannstatt - 1860, Tübingen), Theologe, Begründer der neuen Tü-
binger Schule.11In den Texten Deutsche Ideologie und Zur Kritik der Hegelschen Philosophie formuliert der deutsche
Philosoph Karl Marx die Idee, dass die Geschichte verantwortlich für die Etablierung der weltlichen bzw.menschlichen Wahrheit ist, und dass die Menschen imstande seien, diese Geschichte zu machen.
7
2.1 Zur geschichtlichen Entwicklung
bestimmt, was der Mensch gemacht hat, was erkennbar ist und die Wahrheit trägt; nun
geht es darum, die Welt zu verändern. Die Wahrheit ist die Machbarkeit; nicht mehr
die Wahrheit des Seins oder der menschlichen Taten, sondern der Veränderung und
Gestaltung der Welt. Von einem verum est ens über ein verum quia factum gelangt man
zu einem verum quia faciendum� zum zweiten Stadium des geistigen Umbruchs12. Diese
Wendung, so Ratzinger, bedeutet letztendlich, dass die Herrschaft der Historie seit der
Mitte des 19. Jahrhunderts von derjenigen der Techne entthront wird. Der Historiker
strebt Beweisbarkeit an, sucht Gewissheit in dem Faktum, was aber immer mit einem
bestimmten Element von Rekonstruktion, Deutung und Zweideutigkeit zu tun hat; zu
Beginn des 19. Jahrhunderts wird sein Wissensanspruch also in Frage gestellt und es
zeigt sich, dass es reines Faktum und eine in seiner Forschung vorhandene Gewissheit
gar nicht gibt.
Es setzt sich nach und nach die neue Ansicht durch, wirklich Erkennbares stehe in Ver-
bindung mit Wiederholbarem, mit dem, was der Mensch jeder Zeit wiederholen und neu
vor sich stellen kann. Die naturwissenschaftliche Methode, die sich aus der Kombination
von mathematischem Denken, wiederholbarem Experiment und Faktendenken ergibt,
tritt dann als einzige wirkliche Quelle der Gewissheit hervor. Es kommt, so Ratzinger,
zum Primat des Machbaren vor dem Gemachten. Wie vorher die Geschichte, verlässt
nun die Techne ihre Stelle als Vorstufe, als untergeordnete Wissenschaft und wird zum
eigentlichen Können und Sollen des Menschen. Die Perspektive ändert sich ein drittes
Mal: in der Antike und im Mittelalter wandte sich der Mensch auf das Ewige; dann auf
das Faktum und nun auf das Faciendum. Die vorherige Feststellung, er sei Zufall der
Entwicklung, ist kein Grund für Resignation mehr. Und Gott, der früher als Logos am
Anfang gestanden ist, steht nun am Ende auch als Machbares. Der Mensch kann sich
selbst zu dem erscha�en, was er will.
2.1.2 Aufklärung und Glaube
Innerhalb der geschichtlichen Entwicklung, die Platz für die heutige Krise der Vernunft
gemacht hat, spielt nach Ratzinger gerade die �Aufklärung� eine bedeutungsvolle Rol-
le. Sie wird in der Religionsgeschichte als einer der drei Zweige des Bruches aus dem
Mythos klassi�ziert, neben der Mystik und der monotheistischen Revolution.13 Nach-
12Wenn nicht anders angegeben beziehen sich alle Verweise auf das zweite Stadium auf Ratzinger, [18]Christentum, S. 38�41.13Ratzinger, [19] Glaube �Wahrheit �Toleranz, S. 24. Im Folgenden zitiert als �GWT�.
8
2.1 Zur geschichtlichen Entwicklung
dem die zersprengten Erfahrungen der primitiven Religionen in eine Gesamtanschauung
gesammelt wurden, geht es später darum, sich vom Mythos zu trennen, was in diesen
drei unterschiedlichen Formen � Mystik, monotheistische Revolution und Aufklärung �
statt�ndet.14
Zur Aufklärung gehören aber einige Eigenarten. Obwohl ihr Anfang auf Griechen-
land zurückzuführen ist, hat sie erst in der Neuzeit ihren Höchstpunkt erreicht � oder
besser, wie Ratzinger hinzufügt, erst in der Gegenwart.15 Merkwürdiger ist aber die Tat-
sache, dass sie, anders als die anderen zwei Wege, keine zusätzliche Richtung innerhalb
der Religionsgeschichte ist, sondern nach ihrem Abschluss strebt. Der Mythos wird als
vorwissenschaftliche Erkenntnisform betrachtet und muss �überholt� werden, indem die
rationale Erkenntnis absoluten Charakter bekommt.16
Somit verschwindet die �Absolutheit� interessanterweise nicht ganz; es handelt sich
zwar nicht mehr um eine religiöse Absolutheit, aber sie wird einfach neu zugeordnet, zur
rationalen bzw. wissenschaftlichen Erkenntnis.17 Die Aufklärung ist vor allem durch ihr
streng rationales Wirklichkeitsverständnis gekennzeichnet; Wissenschaft wird zur Welt-
anschauung, sie allein gilt. Die Absolutheit der Religion, die, wie Ratzinger schreibt,
�sich auf ganz anderer Ebene liegt�, wird bestritten.18
In diesem Kontext möchte ich ein Thema ansprechen, das später in dieser Arbeit
vorkommen wird. Hier möchte ich lediglich einen Teil des Hintergrundes, der Ratzingers
Idee von der Beziehung zwischen Glaube und Vernunft bestimmen wird, ansprechen. Die
obige Spaltung zwischen zwei Sphären, Aufklärung und Religion, ist keineswegs endgül-
tig. Beispiel dafür ist die Auseinandersetzung Augustinus' mit Varro19, die Ratzinger
in Glaube �Wahrheit �Toleranz beschreibt. Gott, wie Varro ihn de�niert, ist die Seele,
die die Welt durch Bewegung und Vernunft lenkt. Er ist nicht Gegenstand der Religion.
Wahrheit, die vernünftige Einsicht, und Religion, die kultische Ordnung, gehören also
zu getrennten, völlig unterschiedlichen Stufen. Religion wird mit den �mores�, den Ge-
wohnheiten verbunden, und die Verehrung der Göttern hat seine Rolle dabei, dass sie
14Ebenda.15Ratzinger geht noch weiter in der Überlegung und meint, vielleicht wird sie doch erst in der Zukunft
zu ihrer vollen Kraft kommen. Vgl. dazu Ratzinger, [19] GWT, S. 24.16Ratzinger, [19] GWT, S. 24.17Ebenda, S. 26.18Ebenda, S. 26f.19Marcus Terrentius Varro (116 v.Chr., Reate�27 vChr.), römischer Gelehrter. Die Verweise auf Var-
ro und die folgende Auseinandersetzung von Augustinus beziehen sich auf De Civitate Dei, wie vonRatzinger in Glaube �Wahrheit �Toleranz angegeben. Siehe Ratzinger, [19] GWT, S. 134�137.
9
2.1 Zur geschichtlichen Entwicklung
für die Ordnung des Staates und das rechte Verhalten des Volkes wesentlich ist; sie hat
lediglich eine politische Funktion.20 In diesem Zusammenhang unterscheidet Varro drei
Arten von Theologie, nämlich die theologia mythica, die theologia civilis und die theologia
naturalis. Die Theologen der ersten sind die Dichter, die Gesänge über die Götter ver-
fassen; die Theologen der �physischen�, der natürlichen Theologie sind die Philosophen,
die über die Gewohnheit hinaus nach der Wahrheit fragen; die Theologen der zweiten
Theologie sind die �Völker�, die sich bei ihrer Wahl den Dichtern und ihren poetischen
Bildern und Gestalten angeschlossen haben.21 Der mythischen Theologie entspricht das
Theater, der Ziviltheologie die urbs, und der Naturtheologie der Kosmos. Zur zuletzt
genannten gehört die Frage, wer die Götter seien. Nach Ratzinger bedeutet diese Art
von Theologie o�ensichtlich Entmythologisierung; sie ist Aufklärung, die den Mythos
kritisch betrachtet und ihn naturwissenschaftlich au�öst. Noch einmal hat die Erkennt-
nis eine religionszerstörerische Wirkung; Kult und Wirklichkeit, die rationale Erkenntnis
der Realität, gehören zu zwei getrennten Ebenen.22
Nun ordnet merkwürdigerweise Augustinus das Christentum der zweiten varronischen
Theologie, der physischen, zu, das heiÿt, zur Sphäre der philosophischen Aufklärung.23
Diese Entscheidung steht, so Ratzinger, eigentlich in Kontinuität mit den frühesten Theo-
logen des Christentums und mit der Ortsbestimmung des Christlichen im ersten Römer-
brief des Paulus, die ihrerseits zum Alten Testament und den Psalmen zurückführt.24
Das Christentum hat dieser Au�assung nach seine Vorbereitung nicht in der Religion,
sondern vielmehr in der Aufklärung. Wenn das Christentum seit der Areopagrede des
Paulus behauptet, es sei religio vera, ist gerade das gemeint: der christliche Glaube grün-
det sich nach Augustinus nicht auf Poesie oder Politik, sondern auf Erkenntnis; nicht auf
mythischen Bildern mit ausschlieÿlich politischen Zwecken, sondern auf � jenem Göttli-
chen, das die vernünftige Analyse der Wirklichkeit wahrnehmen kann� � dem �wirklichen
Gott�25.
Laut Ratzinger ist eine ursprüngliche Beziehungseinheit zwischen Aufklärung und
Glaube sichtbar, eine Synthese von Vernunft, Glauben und Leben26. Sie ist aber heut-
20Ebenda, S. 136.21Ebenda, S. 134.22Ebenda, S. 135 f.23Ebenda, S. 136.24Ebenda, S. 137.25Ebenda.26Vgl. Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 34 und 37. Er fügt doch hinzu, diese Beziehungs-
einheit sei natürlich nie ganz unbestritten gewesen.
10
2.1 Zur geschichtlichen Entwicklung
zutage nicht mehr überzeugend, und Aufklärung und Christentum gelten als einander
widersprechend, sogar ausschlieÿend. Die Erklärung für diese Veränderung ist nach Rat-
zinger die Feststellung, dass jene Beziehung weniger durch die Entwicklung des Glaubens,
sondern vielmehr durch die der Aufklärung aufgelöst wurde.27
Ratzinger stellt zunächst das Programm der neuzeitlichen Aufklärung dar: ihr ganzer
Impuls ist der Wille zur Emanzipation, zum Ausbruch der Einzelvernunft aus den Ketten
der Autorität, die kritisch überprüft werden muss.28 Dies hat sowohl einen philosophi-
schen als auch einen politischen Charakter, denn die Folge davon ist die Überlegung,
dass die Vernunft allein herrschen muss und es letztendlich keine andere Autorität als
sie geben soll.29 Diese Grundrichtung der Aufklärung bestimmt unterschiedliche, sogar
gegensätzliche sozialphilosophische und politische Entwicklungen, von denen Ratzinger
zwei groÿe hervorhebt: eine mehr naturrechtlich orientierte Richtung und den radikalen
Ansatz von Rousseau.30
Das naturrechtliche Denken kritisiert positive Rechtsordnungen, die Sklaverei schaf-
fen; der Mensch hat �von Natur aus� Rechte, die geltend gemacht werden müssen, damit
Gerechtigkeit bestehen kann. Freiheit wird nicht von auÿen verliehen, sondern vielmehr
hat der Mensch Rechte deshalb, weil er frei gescha�en ist.31 Diese Idee, dass �Natur� �
verstanden als mehr als ein System von biologischen Prozessen � Ethos und Würde in
sich trägt, ist gemäÿ Ratzinger schon bei den Stoiker und in der Bibel sichtbar.32 Das
spezi�sch Aufklärerisch-Neuzeitliche liegt darin, dass der auf der Natur des Menschen
beruhende Rechtsanspruch vor allem die Rechte des Individuums gegenüber den Insti-
tutionen fördert, was gegen bestehende Herrschaftsformen gerichtet ist. Die Institution
erscheint als Gegenpol zur Freiheit, deren Ziel die volle Emanzipation des Individuums
ist.33
In diesem Punkt berührt sich diese Strömung mit der zweiten, nämlich dem Ansatz
von Rousseau. Dabei wird alles, was durch Vernunft und Willen gescha�en wird, als Ge-
gensatz und Verderb der Natur angesehen. Rousseaus Naturbegri� ist mit einer völligen,
27Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 37.28Ratzinger, [19] GWT, S. 192.29Ebenda.30Ebenda.31Ebenda.32Ebenda, S. 193.33Ebenda.
11
2.1 Zur geschichtlichen Entwicklung
durch nichts reglementierten Freiheit verbunden. Das Grundmotiv der Aufklärung, das
Streben nach Freiheit, kommt hier zu seiner radikalsten Form.34
Ratzinger sieht die Folgen davon in den �politischen Radikalismen� des 19. und 20.
Jahrhunderts und in der Französischen Revolution, die mit einer konstitutionellen De-
mokratie angefangen hatte und schnell in einen anarchischen Freiheitsgedanken verfallen
ist. Diese radikale Linie wird von Marx fortgesetzt, indem die demokratische Freiheit als
eine Scheinfreiheit kritisiert wird und man eine bessere, radikale anstrebt.35
Somit stellt Ratzinger fest: das Ergebnis von all dem ist, dass Freiheit im Bewusstsein
der heutigen Menschheit als das höchste Gut überhaupt erscheint. Alle andere Güter sind
nachgeordnet und alles, was mit ihrer Einschränkung zu tun hat und mit ihr konkurriert,
stellt sich als Fessel, als Tabu dar.36 Demgegenüber wird ein anderer Begri�, der der
Wahrheit, mit Misstrauen betrachtet � �man erinnert sich daran, für wie viele Meinungen
und Systeme schon der Begri� Wahrheit in Anspruch genommen wurde; wie oft so
die Behauptung von Wahrheit ein Mittel gewesen ist, um Freiheit niederzuhalten�37.
Verstärkt wird diese Skepsis von der Naturwissenschaft und deren Überzeugung, was
sich nicht exakt erklären und belegen lässt, scheine letztendlich nur subjektive Wertung
zu sein. Die moderne Haltung gegenüber der Wahrheit vergleicht Ratzinger mit der Frage
des Pilatus: �was ist Wahrheit?�. Der, der behauptet, mit seinem Leben, Tun und Reden
in Dienst der Wahrheit zu sein, wird entweder als Schwärmer oder Fanatiker eingestuft.38
Denn was die Aufklärung heute sagt ist: die Wahrheit als solche kann man nicht kennen,
darüber gibt es nur Meinungen.39 Das Geheimnis des Göttlichen kann man auch nicht
auf einem einzigen Weg erschlieÿen. Die Vielfalt an Bildern und Möglichkeiten sind nur
Spiegelungen des Ganzen, keine ist das Ganze selbst40.
Descartes, Spinoza und Kant haben zu dieser Au�assung beigetragen. Die von Hegel
entworfene Synthese versuchte eher den Glauben aufzuheben und ihn in Vernunft umzu-
wandeln. Ab Marx und Comte wird Philosophie ganz auf genaue Wissenschaft reduziert;
nur exakte wissenschaftliche Erkenntnis ist Erkenntnis überhaupt.41 Die geschichtlichen
34Ebenda.35Ebenda, S. 194.36Ebenda, S. 187.37Ebenda.38Ebenda.39Vgl. Ratzinger, [16] Der angezweifelte Wahrheitsanspruch, S. 3. Im Folgenden zitiert als �Wahrheits-
anspruch�.40Ebenda, S. 36.41Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 37.
12
2.2 Das Bild der Krise
Entwicklungen, die sich bis zum 19. Jahrhundert vollzogen, haben zwar zu einer posi-
tivistischen Welt geführt, aber die Philosophie habe auch wesentlich dazu beigetragen:
in einer Art �Sündenfall� hat sie sich dem Positivismus hingegeben, um den Anspruch
auf Wissenschaftlichkeit erheben zu können.42 Diese Bewegung ist zusammen mit der
Evolutionstheorie verantwortlich für eine streng wissenschaftliche Erklärung der Welt,
die keine andere Antwort oder Ursache als die positive zulässt, welche für eine Rückkehr
hinter die Aufklärung gehalten wird. Der Wahrheitsbegri� der Antike wird durch den
der Bewährung ersetzt: Wahrheit gilt als Produkt des menschlichen Scha�ens und muss
sich im Alltag bewähren.43 Die Wahrheitsfrage ist aber nicht �positivierbar�, was dazu
führt, dass sie als unwissenschaftlich geringgeschätzt wird und von den meisten Diskur-
sen verschwindet.44 Dem christlichen Gottesgedanke passiert das Gleiche.45 Die theologia
naturalis verliert ihren ersten varronischen Sinn und wandelt sich in Evolutionslehre, die
keinen Gott kennt, weder den christlichen noch den als Weltseele konzipierten.46
Zu zeigen, dass diese Trennung zwischen Vernunft und Christentum nicht endgültig
ist, ist gerade die Bemühung Ratzingers, wie sich später in der Arbeit zeigen wird.
2.2 Das Bild der Krise
Nun möchte ich versuchen, darzulegen, wie diese historischen Bewegungen zu einem
Vernunftbegri� beigetragen haben, der, so Ratzinger, die Gegenwart prägt und eine
Beschneidung der menschlichen Fähigkeiten repräsentiert.
2.2.1 Das Kriterium der Rationalität
Der springende Punkt, der aus diesem historischen Prozess resultiert und die aktuelle
kulturelle Situation prägt, ist, so Ratzinger, dass das methodische Modell der Human-
und empirischen Wissenschaften als Kriterium für Rationalität anerkannt wird.47 Grob
gesagt ist diesem Verständnis nach nur vernünftig, was experimentell nachgewiesen wer-
42Schneider-Stengel, Detlef, [24] Das Kreuz der Hellenisierung, S. 101. Im Folgenden zitiert als �Helle-nisierung�.43Ebenda.44Ebenda.45Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 38.46Ebenda.47Der Punkt kommt immer wieder in den Schriften von Ratzinger vor. Mein Ausgangspunkt hier
bezieht sich auf Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 14.
13
2.2 Das Bild der Krise
den kann. Doch, ähnlich wie mit Aufklärung und Religion48, hat auch diese Vernunftauf-
fassung ernste Folgen für den Glauben und entspricht nicht dem wahren, breiteren Ver-
nunftbegri�, den Ratzinger wiederherzustellen versucht.
Die Wurzel dieses Modells führt laut Ratzinger auf Kant und auf eine �neuzeitliche
Selbstbeschränkung der Vernunft� zurück, was ich schon in den vorherigen Seiten dieser
Arbeit zu zeigen versuchte. Doch in der Zwischenzeit hat sich diese Au�asung durch
das naturwissenschaftliche Denken verschärft.49 Sie stützt sich, so Ratzinger, auf zwei
Elemente: einen Platonismus bzw. Cartesianismus und einen Empirismus.50 Einerseits
setzt man eine mathematische Struktur der Materie, sozusagen eine innere Rationalität
voraus, was dem Platonismus entspreche. Die Welt ist mathematisch-geistig gestaltet
� ein Grundsatz schon bei Kopernikus, Galilei und Newton.51 Neu ist andererseits die
Verbindung mit der Empirie:52 die Natur wird in ihrer Funktionalisierbarkeit für unsere
Zwecke betrachtet, und Gewissheit hängt mit der Möglichkeit der Veri�zierung oder
Falzi�zierung im Experiment zusammen. Als Ergebnis zeigt sich eine Au�asung von
�Wissenscha�tlichkeit�, die ausschlieÿlich auf einer Form von Gewissheit basiert, wie sie in
der Mathematik und in der Empirie vorherrscht, und somit den Maÿstab für alles liefert,
was Wissenschaft zu sein beabsichtigt. Die Voraussetzung, dass die Welt durch geistige
Gesetze strukturiert ist, Geist in sich trägt, der von unserer Vernunft wiedergegeben
werden kann, muss im Einklang mit der Überprüfung durch die Erfahrung stehen.53
Daraus ergibt sich, dass jede Idee, die von dem Schema dieser Verknüpfung abweicht,
und somit der Wissenschaftsregel widerspricht, aus dem Bereich des Rationalen aus-
gesondert wird.54 Wenn auch immer sich Geschichte, Psychologie, Soziologie und Phi-
losophie dieser Norm anzupassen versuchen, wird die Gottesfrage ausgeschlossen und
entweder als un- oder vorwissenschaftlich klassi�ziert. Nach Ratzinger wird mit diesem
Schritt in Wirklichkeit der Horizont von Vernunft und Wirklichkeit verkürzt, was in
Frage gestellt werden muss.55 Er gibt zwar zu, dass diese �sektorial spezialisierte Ver-
nunft� gewissermaÿen sehr stark und leistungsfähig ist56 und innerhalb des spezi�schen
48Vgl. S. 8 � in dieser Arbeit.49Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 133.50Ebenda.51Ratzinger, [19] GWT, S. 126.52Ebenda, S. 127.53Ebenda.54Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S.15.55Ebenda, 134.56Ratzinger, [19] GWT, S. 115.
14
2.2 Das Bild der Krise
naturwissenschaftlichen Bereiches richtig und notwendig ist.57 Aber wenn sie zum Stan-
dard des menschlichen Denkens wird, wird sie selbst widersprüchlich. Wenn sie als un-
überschreitbare Form von Gewissheit und Vernünftigkeit anerkannt wird, behauptet und
leugnet sie den Geist gleichzeitig, denn sie ist in Wirklichkeit eine beschränkende und be-
schränkte Vernunft.58 Ratzinger spricht auch von �modernen Aufklärungsphilosophien�
und meint, �sie beruhen auf einer Selbstbegrenzung der Vernunft, die im technischen
Bereich erfolgreich und angemessen ist, aber in ihrer Verallgemeinerung den Menschen
amputiert�59. Da diese Philosophien eigentlich an eine bestimmte kulturelle Situation
gebunden sind, und zwar die des modernen Westens, sind sie keineswegs die Philoso-
phie selbst, gelten nicht in der ganzen Welt und drücken nur teilweise die menschliche
Vernunft aus.60
2.2.2 Das Auseinandergehen von Vernunft und Glauben
Die Trennung zwischen Glauben und Vernunft ist, so Ratzinger, die andere Seite der
Krise und auch Folge desselben historischen Prozesses. Das aufklärerische Projekt einer
�Religion innerhalb der Grenzen der bloÿen Vernunft�61 scheiterte schnell und man sah
sich dazu gezwungen, da man von der Unverzichtbarkeit der Religion überzeugt war,
einen neuen Raum für sie zu �nden.62 Dort sollte sie von den fortgehenden Erkenntnisse
der Vernunft unberührt und abgegrenzt leben können. Daher hat man ihr das �Gefühl�
zugeordnet und ihren Zuständigkeitsbereich in diesen Teil der menschlichen Existenz
verschoben. So wird die Welt noch heute, wie Ratzinger meint, �sektorial aufgeteilt�.63
Die Techne und Wissenschaft des Westens sind auf eine Art von Vernünftigkeit hin-
ausgelaufen, die sich für die höchste Art von Vernunft hält,64 sich von Gott völlig löst
und ihn einzig und allein im Subjektiven zulässt � er bleibt also überhaupt von der
gemeinsamen Vernunft ausgeschlossen.65 Es entsteht eine Pathologie der Vernunft, die
komplett mit Gott bricht und alle Erkenntnisse von de�nitiv gültigen Werten � also den
57Ebenda, S. 127.58Ebenda.59Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 77.60Ebenda.61Ratzinger bezieht sich hier o�ensichtlich auf das Buch von Kant.62Ratzinger, [19] GWT, S. 115.63Vgl. Ebenda, S. 115 f.64Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 115.65Ebenda, S. 65.
15
2.2 Das Bild der Krise
ganzen Wahrheitsanspruch der Religion � als Fundamentalismus betrachtet, da sich sol-
che Erkenntnisse nicht an die geforderte �Wissenschaftlichkeit� anpassen. Mit Ratzingers
Worten: �Wenn die einzige Art der �Vernunft� die wissenschaftliche ist, wird der Glaube
jeder Form der Rationalität und der Intelligibilität beraubt und dazu bestimmt, sich
in einen nicht de�nierbaren Symbolismus oder in ein irrationales Gefühl zu �üchten�.66
Die gegenwärtige Krise berührt also die Grundfesten des christlichen Glaubens, denn
nicht nur die Wahrheit des Christentums � der Religion überhaupt � wird geleugnet,
sondern seinen Wahrheitsanspruch selbst.67 Wie Hoping und Tück geschrieben haben,
wer im Glauben die Wahrheit bejaht kann die �achselzuckende Indi�erenz� gegenüber
der Wahrheitsfrage nicht teilen, muss aber im Kaufe nehmen, dass das Festhalten am
Wahrheitsanspruch als anstöÿig erscheint und dass die Gefahr besteht, als �intolerant�
gesehen zu werden.68
Interessanterweise ist, wie Ratzinger anmerkt, eine Folge davon, dass Glaube und wis-
senschaftliche Vernunft einander nicht mehr feindselig gegenüber stehen, weil sie sich
nicht mehr für dieselben Fragen interessieren � die Vernunft hat gar kein Interesse mehr
für jene endgültige Wahrheit.69 Die heutige Kultur hält die Erkenntnis und die Formu-
lierung von Wahrheit einfach nicht mehr für möglich � was üblicherweise �Relativismus�
genannt wird.70 Fragen über das Woher, Wohin, über Religion und Ethos �nden keinen
Platz mehr im Raum der so verstandenen Vernunft.71 Daher wird gewarnt, dass diese
Vernunft vor allem eine amputierte ist. Wenn der Mensch nicht mehr nach so wesentli-
chen Dingen vernünftig fragen kann, wird die Vernunft vielmehr entehrt.72
Eine schwere Folge dieser wissenschaftlichen Rationalität ist die Entwicklung einer
Kultur im europäischen Bereich, welche Gott in ganz neuer und extremer Weise �aus
dem ö�entlichen Bewusstsein� verdrängt.73 Entweder wird er ganz abgelehnt oder sei-
ne Existenz gilt als unbeweisbar oder unsicher und ist Sache subjektiver Entscheidung,
was letztendlich heiÿt, er sei in allgemeiner Sphäre irrelevant.74 Der Verzicht auf Gott,
66Ebenda, S. 15.67Häring, [8] Theologie und Ideologie, S. 41.68Hoping, Tück, [9] Die anstöÿige Wahrheit des Glaubens, S. 15. Im Folgenden zitiert als �Anstöÿige
Wahrheit�.69Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 15.70Häring, [8] Theologie und Ideologie, S. 41.71Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 134.72Ratzinger, [19] GWT, S. 127.73Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 71.74Ebenda.
16
2.2 Das Bild der Krise
der auch Maÿstab und Grenzen heiÿt, führt zum Erkennen des Menschen als Objekt,
als Produkt von Wünschen, der nach seiner Funktionalität und Nützlichkeit bewertet
wird.75 Somit wird auch die Moral gravierend durch einander gebracht � sie muss sich
ebenso dieser Vernünftigkeit unterwerfen und hört auf, eigene Kategorie zu sein, sogar
verstanden als kantisches Gut.76 In sich gut oder schlecht gibt es nicht mehr; was zur
einen oder der anderen Seite gehört, wird utilitaristisch durch Berechnung erschlossen,
durch die E�ekte der Handlungen.77 Ohne Gott droht dem Menschen der Verlust seiner
Humanität, wofür etwa die biopolitische Diskussion als Beispiel steht. Die Bestimmung
über Leben und Tod, ursprüngliche Prärogative Gottes, wird zur variablen Mehrheits-
entscheidung in einer säkularen Gesellschaft. Ihr lässt sich die religiöse Überzeugung sehr
schwer kommunizieren.78
Diese Idee und Nutzung der Vernunft stellt, so Ratzinger, eine Opposition nicht nur
zum Christentum, sondern zu der moralischen und religiösen Überlieferungen der Reli-
gionen überhaupt dar79 und ist unfähig zum Dialog der Kulturen.80 Auch wenn die tech-
nische Zivilisation das glaubt, ist sie nicht einfach religiös und moralisch neutral.81 Die
Wichtigkeit dieser Frage ist nicht nur von rein philosophisch-theologischer Natur, denn
nach Ratzinger steht Europa heutzutage angesichts einer radikalen Spannung zwischen
den beiden Dimensionen, vor einem Kon�ikt, der seinen De�nitionsprozess bestimmt.82
Marxistische oder scientistische beein�ussten Prognosen eines Absterben der Religion
aufgrund der Modernisierung und Industrialisierung haben sich nur partiell veri�zieren
lassen; Säkularisierungsvoraussagen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts plausibel aus-
sahen, müssen nun teils revidiert, teils falsiviziert werden.83 Sie gelten nur für einen Teil
der Weltgesellschaft � vor allem Westeuropa � und können nicht auf die Menschheit
als Ganze übertragen werden. In anderen Regionen spielt die Religion ö�entlich nach
wie vor eine �Massen von Menschen prägende, treibende, motivierende Rolle�84, weshalb
75Feldmann, [6] Papst Benedikt XVI., S. 110.76Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 72.77Ebenda.78Hoping, Tück, [9] Anstöÿige Wahrheit, S. 16.79Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 72.80Ebenda, S. 136.81Ratzinger, [19] GWT, S. 63.82Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 72.83Kuschel, [11] Weltethos, S. 3.84Ebenda.
17
2.2 Das Bild der Krise
der Trennung zwischen dem modernen Vernunftparadigma und der Religion umgedacht
werden muss.
Auch zu diesem Punkt möchte ich zuletzt eine Kritik von Ratzinger hinzufügen, die
eigentlich schon im Kontext des �geistigen Umbruchs� im früheren Teil dieser Arbeit
vorgekommen ist. Zum Thema griechische Aufklärung behauptet Ratzinger, sie beruhe
auf dem Verlieren an Evidenz vom götterbegründeten Recht und dem Bedürfnis eines
tieferen Grundes des Rechts.85 So entwickelt sich die Ansicht, aus der Natur und dem
Sein des Menschen müsse sich ein Recht ergeben, das gefunden werden müsste und eine
korrektive Funktion gegenüber dem positiven Recht ausüben würde.86 Die gleiche Über-
legung taucht im Zusammenhang der Neuzeit und der Entdeckung Amerikas auf, mit
der Begegnung mit anderen Völkern, die völlig unterschiedliche Rechtssysteme bzw.
-au�assungen hatten. Sie sind nicht lediglich rechtlos � was die Sicht mancher damals
war �, sondern man muss ein Recht �nden, das über allen Völker steht und sie im rech-
ten Zusammensein verbindet.87 Mit der Glaubenspaltung innerhalb des Christentums
stellt sich dieselbe Herausforderung dar: es ist ein gemeinsames, minimales Recht zu
�nden, das nicht im Glauben liegt, sondern in der Natur, in der Vernunft des Menschen
begründet sein müsse.88 In der katholischen Kirche ist das Naturrecht als Instrument
geblieben, den Dialog mit anderen Glaubensgemeinschaften und mit der säkularen Ge-
sellschaft zu ermöglichen. Indem es sich auf eine gemeinsame Vernunft stützt, wird ein
Konsens unter der pluralistischen Gesellschaft gesucht.89 Nun ist die Idee des Natur-
rechtes durch die Evolutionstheorie unter Druck geraten. Die Grundvoraussetzung einer
solchen Idee ist ein Naturbegri�, in dem Vernunft und Natur sich ver�echten und die
Natur selbst vernünftig ist. Der Darwinismus � eine laut Ratzinger heute unwiderlegbare
Theorie90 � behauptet dagegen den zufälligen Charakter z. B. des Selektionsprozesses,
was im Grunde genommen heiÿt, dass � auch wenn es in ihr vernünftiges Verhalten gibt
� die Natur selbst keine Vernunft besitzt.91 Wenn die Gentechnikforschung immer tiefer
zu den Wurzeln des Lebens hinkommt, wird der Mensch entsprechend weniger und we-
85Ratzinger, [23] Was die Welt zusammenhält. Vorpolistische moralische Grundlagen eines freiheitli-chen Staates, S. 49. Im Folgenden zitiert als �Säkularisierung�.86Ebenda.87Ebenda.88Ebenda, S. 50.89Ebenda.90Ebenda, S. 51.91Ebenda.
18
2.2 Das Bild der Krise
niger als Geschenk des Schöpfers bzw. der Natur gesehen, sondern als reines Produkt.92
Der Mensch wird � wie andere Dinge � auch �gemacht� und kann genauso zerstört wer-
den93; diese Art von Bedrohung ist Hand in Hand mit den Möglichkeiten gekommen,
die die Aufklärung und die Moderne gebracht haben. Mit der Kritik einer solchen Art
von Vernünftigkeit ist, so Ratzinger, gar nicht gemeint, man müsse hinter die mensch-
liche Geschichte und die Fortschritte zurück gehen; man muss vielmehr die Gefahren
beherrschen, die entstanden sind, indem man das Modell der beschränkten Vernunft
überwindet und dem Vernunftbegri� wieder seine �ganze Weite� erö�net.94
92Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 64.93Ebenda.94Ebenda, S. 135f.
19
3 Der Gott als Logos
In der Predigt am 12. September 2006 in Regensburg, der sogenannten Regensburger Re-
de, stellt Papst Benedikt XVI. einige Überlegungen über den Glauben an und formuliert
die Frage: �Wir glauben an Gott [...] Kann man das heute noch? Ist das vernünftig?�.1
Sein Anlass ist die Behauptung, seit der Aufklärung bemühe sich die Wissenschaft dar-
um, eine �Welterklärung� zu �nden, in der Gott sich als unnötig zeigt.2 Im vorherigen
Kapitel dieser Arbeit ging es darum, den Hintergrund dieser Feststellung darzulegen.
Dafür wurden in den Schriften Ratzingers nähere Informationen zu seiner Diagnose der
Gegenwart gesucht und die Gründe für deren Krise herausgearbeitet. Nun soll ein Schritt
weiter in Richtung der Lösung des Problemes gegangen werden. In der vorher erwähnten
Predigt fährt Ratzinger fort und meint, dass trotz der häu�gen Annahme, die Wissen-
schaft habe es gescha�t, Gott als über�üssig im menschlichen Leben nachzuweisen, ihr
dies nicht gelungen ist. Mensch und Welt seien unmöglich ohne ihn.3 Der Mensch muss
sich zwischen dem christlichen Glauben und der wissenschaftlichen Vernunftau�assung,
die das Thema des vorherigen Kapitels war, entscheiden. Im Grunde genommen steht
er vor der Frage, was am Anfang kommt: der Schöpfergeist, der alles bewirkt, oder �ein
mathematisch geordneter Kosmos�, in dem der Mensch und die Vernunft bloÿ als Zufall
entstanden sind, was eigentlich das Unvernünftige wäre.4 Von der zweiten Antworts-
möglichkeit war in den vorhergehenden Teilen der Arbeit die Rede. Nun möchte ich
Ratzingers Ansicht über die erste Möglichkeit, das heiÿt über Gott, darlegen und zeigen,
wie sich eine Alternative zur beschränkten bzw. beschränkenden Vernunftau�assung der
Wissenschaft darstellen kann.
Obwohl meine nächste Bemerkung evident scheinen mag, halte ich es für wichtig, sie
zu machen: der erste Schritt überhaupt, den Ratzinger macht und den der Leser in Kauf
1Vgl. Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 120.2Ebenda.3Ebenda.4Ebenda, S. 120 und 81f.
20
3.1 Der Gott der Bibel
nehmen soll, ist �der Glaube an den christlichen Gott�. Jene positivistische Vernunft,
die �aus dem Unvernünftigen entstanden und daher letzlich selbst unvernünftig ist�5,
stellt sich nicht nur als keine Lösung für die Probleme der Gegenwart � das unbegrenzte
Können des Menschen, seine Destruktionsmacht usw. � dar, auch sie selbst macht ein
Problem aus � das Erkennen des Menschen als Produkt und der Ausschluss Gottes aus
dem Bereich der Rationalität, wie schon im vorherigen Kapitel erklärt wurde. Um diese
Vernunftau�assung verändern zu können, muss man vor allem davon ausgehen, dass
man an den christlichen Gott glaubt, denn das echte Verständnis von �Vernunft� ist,
nach Ratzinger, untrennbar von diesem Gott. Dieser Glaube ist eine Entscheidung, und
zwar eine �Entscheidung für den Primat des Logos gegenüber der bloÿen Materie�, für
einen Logos, der Gedanke, Freiheit und Liebe zusammenbringt.6 Was das genau heiÿt,
welcher Gott eigentlich gemeint ist, wird das Thema dieses zweiten Kapitels sein.
3.1 Der Gott der Bibel
Die Entstehung des Gottesbildes, das in der Argumentation Ratzingers in Bezug auf die
Vernunft eine zentrale Rolle spielt, kann vielleicht besser verstanden werden, indem man
sie in drei Teilen beschreibt. Ich möchte mit dem Gottesglauben der Bibel anfangen, dem
Ausgangspunkt eines Prozesses, der die griechische Philosophie durchzieht � über den
�Gott der Philosophen� � und, so Ratzinger, den genuinen christlichen Glauben bildet.
Ich beginne mit der Schilderung, wie sie sich in Einführung in das Christentum �ndet.7
Ratzinger erachtet die Erzählung vom brennenden Dornbusch im Buch Exodus, Kapitel
3, für zentral für das alttestamentliche Gottesverständnis. In dieser bekannten Passa-
ge wird Moses von Gott zum Anführer Israels berufen. Moses sieht einen brennenden
Dornbusch, der jedoch nicht von den Flammen verzehrt wird. Gott ruft aus dem Busch
heraus und verkündigt dann Moses, dass er der Gott der Väter, der Gott Abrahams,
Issaks und Jakobs ist und dass er den Hilferuf seines versklavten Volkes gehört hat. Er
be�ehlt Moses, zum Pharao zu gehen und die Israeliten aus Ägypten herauszuführen. Als
Moses ihn danach fragt, was er antworten soll, wenn das Volk den Namen dieses Gottes
der Väter wissen will, sagt Gott: �Jahwe�. In der hebräischen Bibel wird der Name dann
5Ebenda, S. 82.6Ratzinger, [18] Christentum, S. 115.7Wenn nicht anders angegeben bezieht sich der folgende Teil dieser Diplomarbeit auf Ratzinger, [18]
Christentum, S. 84�102.
21
3.1 Der Gott der Bibel
umschrieben und mit dem Ausdruck �Ich bin, der ich bin� erklärt. Moses soll sagen, dass
der �Ich-bin� ihn gesandt hat.
Ratzinger behauptet, dass für die Kirchenväter, die aus einem von der griechischen
Philosophie geprägten Umfeld stammten, die Idee des Seins als Deutung Gottes als eine
�Bestätigung ihrer eigenen denkerischen Vergangenheit� erschien.8 Die griechische Phi-
losophie, so Ratzinger, sah es als eine wichtige Entdeckung an, dass es ein umfassendes
Sein hinter den vielen einzelnen Dingen, denen der Menschen täglich begegnet, gibt.
Zugleich wurde diese Idee des Seins als der angemessenste Ausdruck des Göttlichen be-
trachtet. Daraufhin überlegt Ratzinger, ob das nicht ein Kennzeichen für eine Einheit
von Glauben und Denken, von Platon und Moses, griechischem und biblischem Geist
wäre. Die Kirchenväter, so fährt er fort, haben da eine vollständige Identität zwischen
dem Suchen der Philosophie und dem Ereignis, das im Glauben Israels stattgefunden
hatte, entdeckt.
Die Übersetzung des Textes hat dabei eine wichtige Rolle gespielt. Die Übersetzer,
die für die Übertragung der Bibel vom Hebräischen ins Griechische zuständig waren,
waren beim Lesen und Verstehen vom griechisch-philosophischen Denken beein�usst.
Die Feststellung des Tre�ens von Überlegungen aus der griechischen Tradition und dem
Glauben im Text der Bibel dürfte sie, in Ratzingers Worten, �beseelt haben�, so dass sie
die Brücke zwischen beiden Seiten gebaut haben, indem sie das �Ich bin, der ich bin�
mit �Ich bin der Seiende� übersetzt haben. So wird der biblische Gottesname mit dem
philosophischen Gottesbegri� identi�ziert.
Es entsteht dabei aber ein �Skandal des Namens�, wie Ratzinger es nennt. Für unser
Denken, so meint er, ist es ein Skandal, dass der biblische Gott einen Namen tragen
könnte. Wenn man aber jene Passage näher betrachtet, stellt sich die Frage, ob es wirk-
lich um einen Namen geht. Gleichzeitig ist es unbestreitbar, dass das Volk Israel �Jahwe�
als einen Gottesnamen erkannt hat. Wenn aber Gott Moses antwortet und sagt �Ich bin,
der ich bin�, kommt vielmehr eine Namensverweigerung als eine Namenskundgebung
vor, so Ratzinger. Diese Überlegung wird von anderen Bibelstellen wie Genesis 32, 30,
unterstützt, wo Gott auf die Frage Jakobs mit der Gegenfrage �Warum fragst du denn
nach meinem Namen?� reagiert. In dieser Zurückweisung zeigt sich nach Ratzinger etwas
von dem, was Gott von den anderen Göttern radikal unterscheidet. Der Gott im Dorn-
busch, den Moses tri�t, könnte nicht seinen Namen auf gleiche Weise bekannt geben wie
8Ratzinger, [18] Christentum, S. 85.
22
3.1 Der Gott der Bibel
jene Götter, verstanden als Götter-Individuen, die neben anderen gleichartigen Göttern
stehen und deshalb einen Namen brauchen. Die Dornbuschgeschichte ist also auch auf
dem Hintergrund einer polytheistischen Welt zu verstehen. Die Ausdeutung des Namens
�Jahwe� durch das Wort �Sein� hebt den Namen als Namen auf, so Ratzinger. Sie löst
den Namen auf ins Mysterium hinein. Verborgenheit und O�enbarung verbinden sich
und der Name, der für Bekanntschaft stehen sollte, wird zum Zeichen der Unmöglichkeit,
Gott zu nennen und zu begreifen. Das habe dazu geführt, diesen Namen nicht mehr aus-
zusprechen und lediglich zu umschreiben, so dass er in der griechischen Bibel gar nicht
aufscheint, sondern durch den Ausdruck �Herr� ersetzt wird.
Trotzdem durfte Moses den Fragenden antworten, dass der �Ich-bin� ihn gesandt hat-
te. Er hat trotzdem eine Information erhalten, obwohl sie als ein Rätsel erscheint. Hier
verweist Ratzinger auf den springenden Punkt: Gott enthüllt mit der angeblichen Na-
mensgebung nicht sein Wesen, sondern sich als einen Gott für Israel, für den Menschen.
Die Exegese9 sieht in �Jahwe� den Ausdruck �Ich bin� auch als �Ich bin (für euch) da�.
Gott ist für uns da und, weil er selbst nicht vergeht, sondern �ist�, gibt er uns Fest-
land mitten in unserer Unbeständigkeit. Diese Idee ist auch bei Deuterojesaja10 zentral,
sowohl in Bezug auf die Menschen selbst � �Alles Sterbliche ist wie das Gras und all
seine Schönheit ist wie die Blume auf dem Feld. [...] Das Gras verdorrt, die Blume ver-
welkt, doch das Wort unseres Gottes bleibt in Ewigkeit� (40, 6�8) � als auch in Bezug
auf die Götter, die vergehen und mit der Macht Babylons verbunden waren � �So spricht
der Herr, Israels König, sein Erlöser, der Herr der Heere: Ich bin der Erste, ich bin der
Letzte, auÿer mir gibt es keinen Gott� (44, 6). Der Anfang des Satzes in 48, 12, �Ich
bin es, ich, der Erste und auch der Letzte�, wird auf Griechisch mit �Ich bin es� wie-
dergegeben, während der Ausdruck auf Hebräisch etwas unklar scheint. Nach Ratzinger
erscheint der Gott Israels in diesen drei Wörter als den Göttern gegenüberstehend, weil
er ist und nicht, wie die anderen, vergeht und zerfällt. Die eigene Benennung Gottes
als �Jahwe� könnte als eine �erste Aufklärung� gesehen werden, weil seine Unverfügbar-
keit deutlich wird. Indem die Propheten den Gottesnamen verwendet und die damaligen
heidnischen Kulturen kritisiert haben, zeigten sie, dass Jahwe der einzige, wahre Gott
ist.11 Zusammen mit den Weisheitslehren haben sie eine Götterkritik durchgeführt und
9Ratzinger verwendet den Ausdruck �heutige Exegese�, doch muss man beachten, dass das Buch,worauf ich mich beziehe, Einführung in das Christentum, 1968 erschienen ist.10Dieser Ausdruck bedeutet �Zweiter Jesaja� auf Griechisch. Er bezeichnet den Propheten, der die
Inhalte der Kapitel 40 bis 55 des alttestamentlichen Buches Jesaja verkündet.11Schneider-Stengel, [24] Hellenisierung, S. 85 f.
23
3.1 Der Gott der Bibel
dabei die Sprache der Aufklärung verwendet.12 Da beginnt eine �Entmythisierung�[sic!],
ein �Prozess des Logos gegen den Mythos�.13
Ratzinger sieht weiters im Johannesevangelium eine Fortführung dieses Gedankens,
der Gott und Seinsgedanken verbindet und ihn mit dem einfachen Ausdruck �Ich bin�
auslegt. Das �Ich bin es� aus Jesaja wird zur Zentralformel der Christologie des Johannes.
Der Evangelist greift auch die Dornbuscherzählung wieder auf und parallelisiert Jesus
und Moses � in Jesus kommt die Dornbuschgeschichte erst zu ihrem wahren Sinn. Im
Kapitel 17 sticht die Idee von Christus als O�enbarer des Gottesnamens immer wieder
hervor und stellt sich als neutestamentliches Gegenstück jener Geschichte vom Exodus
heraus. Christus erscheint selbst als der brennende Dornbusch, der den Namen Gottes
den Menschen kundtut. Nach Ratzinger heiÿt es aber weiter, dass es zugleich klar wird,
dass Jesus selbst der Name Gottes ist � die Anrufbarkeit Gottes. Bei der Vereinigung
von Exodus und Jesaja im Johannesevangelium zeigt sich, dass der Name nicht mehr
lediglich ein Wort ist, sondern eine Person, nämlich Jesus selbst.
An dieser Stelle diskutiert Ratzinger den Unterschied zwischen einem Namen und
einem Begri�. Diese Unterscheidung ist insofern wichtig, als später eine Parallele zwi-
schen Glauben und Philosophie gemacht wird. Ein Begri�, so meint er, will das Wesen
einer Sache erkennbar machen, �so wie sie in sich selbst ist�, während ein Name mit
der Möglichkeit zu tun hat, eine Sache zu benennen. Der Name kümmert sich nicht um
das Wesen der von der Person unabhängigen Dinge, sondern macht sie anrufbar, stellt
eine Beziehung zu ihr her. Der Name soll zwar die Sache selbst tre�en, aber die Beto-
nung liegt auf der Relation. In der sozialen Ebene sorgt der Name für die Herstellung
der Mitmenschlichkeit, denn soweit eine Person nur als Begri�, als Gattung oder als
Nummer gekennzeichnet wird, lässt sie sich nicht anrufen und nimmt nicht Teil an den
sozialen Beziehungen als Mensch. Da wird aber zugleicht sichtbar, was im alttestament-
lichen Glauben gemeint ist, wenn man von einem Namen Gottes spricht. Der Begri� des
höchsten Seins, den die Philosophen suchten, kommt aus dem Denken, das sich dafür
interessiert, wie dieses Sein in sich selbst aufgebaut ist. Der Name hingegen hat einen
anderen Zweck. Bei seiner Namenkundgebung macht sich Gott nennbar, er tritt in die
Mitexistenz mit den Menschen ein und wird so erreichbar. In Jesus, so wie es bei Johan-
nes vorkommt, sieht Ratzinger die Vollendung des Sinnes der Idee des Gottesnamens. In
12Ratzinger, [22] Theologische Prinzipienlehre, S. 344. Im Folgenden zitiert als �Prinzipien�.13Vgl. Ratzinger, [22] Prinzipien, S. 344.
24
3.2 Der Gott der Philosophen
Jesus wird Gott erst wirklich rufbar, existiert mit uns, ist einer von uns Menschen. Die
Botschaft der Dornbuscherzählung wird de�nitiv erfüllt.
Es zeigt sich nach Ratzinger also eine doppelte Komponente im biblischen Gottesbe-
gri�, die eine sogenannte �Paradoxie des Glaubens� bildet. Auf der einen Seite steht die
Persönlichkeit, Nähe und Rufbarkeit Gottes. Dies zeigt sich in der Namenkundgebung
der Dornbuschgeschichte, im Gedanken von Gott als Gott der Väter, Abrahams, Issaks
und Jakobs und läuft auf den Gedanken vom Gott Jesu Christi hinaus. Die Betonung
liegt durchaus auf einem Gott der Menschen, der ein Angesicht hat. Auf der anderen
Seite steht die Nähe und Zugänglichkeit für einen Gott, der über Zeit und Raum steht,
der sich auf den Gedanken des Seins richtet. Er ist kein Eigengott eines Volkes, sondern
steht über allem; alles gehört ihm, er gehört niemandem. Er ist auch kein Gott, der wird
und vergeht wie die Dinge in der Welt und wie die anderen Götter, sondern ein Gott,
der �ist�. Der biblische Glaube fasst beide Pole zusammen � man glaubt an �das Sein
als Person und die Person als das Sein selbst�.
3.2 Der Gott der Philosophen
In den vorherigen Teilen der Arbeit kam die Frage nach dem Verhältnis von Glauben
und Philosophie, obgleich nur nebenbei, zur Sprache. Nun wird sie wieder aufgenommen
werden.14 Ratzinger behauptet, dass die Entscheidung des Glaubens für dieses bestimmte
Gottesbild, welches gerade zusammengefasst wurde, im Anbeginn des Christentums und
in der Urkirche wiederholt werden musste. Die frühchristliche Verkündigung sah sich �
wie damals Moses und Israel � in einer �göttergesättigten Umwelt�, und das Bedürfnis
stellte sich noch einmal ein, klar darzulegen, welchen Gott der christliche Glaube meinte.
So schloss man sich jenem bekannten Weg vom Exodus durch das Werk Deuterojesajas
und die Weisheitsliteratur15 bis zum Johannesevangelium an. Die frühe Christenheit
entschied sich im Ende�ekt für den Gott der Philosophen und gegen die Götter der
Religion, so Ratzinger. Nicht Zeus oder Dionysos oder irgendeinem, zu dem gebetet
wurde, sondern dem Gott, von dem die Philosophie redete, entsprach der christliche
Gott. Nach Ratzinger hat sich die frühe Kirche komplett von jenem Universum der
14Wenn nicht anders angegeben bezieht sich der folgende Teil dieser Diplomarbeit auf Ratzinger, [18]Christentum, S. 103�107.15Die biblischen Bücher Hiob, Kohelet, Sprichwörter, Hohelied, Weisheit und einige Psalme werden
der sogenannten Wiesheitsliteratur zugewiesen.
25
3.2 Der Gott der Philosophen
antiken Religionen zurückgezogen und ihren Glauben ausgelegt, indem sie anerkannte,
dass Gott nur das sein könnte, was die Philosophen als den Grund allen Seins betrachtet
hatten � das Sein selbst. Er geht einen Schritt weiter und meint, dass die dabei getro�ene
Wahl eine de�nitive Entmythologisierung der Welt und der Religionen darstellt, und dass
sie sich als �Option für den Logos gegen jede Art von Mythos� zeigt.16
Doch war diese Spannung zwischen dem Gott des Glaubens und dem Gott der Philoso-
phen in der antiken Welt schon bekannt und ausgeprägt. Sie wurde immer intensiver im
Lauf der Zeit und kommt in der Mythenkritik von Xenophanes17 bis Platon vor. Dabei
ging es um den Versuch, den homerischen Mythos zu überwinden und einen neuen, logos-
gemäÿen Mythos an seine Stelle zu setzen. Die Forschung könne die These einer Parallele
zeitlicher und sachlicher Art zwischen der philosophischen und der prophetischen My-
thenkritik unterstützen.18 Obwohl beide von völlig unterschiedlichen Voraussetzungen
ausgehen und völlig unterschiedliche Ziele haben, ist die Bewegung in Richtung Lo-
gos und gegen den Mythos, wie er sich in der philosophischen Aufklärung und in der
Propheten- und Weisheitsliteratur darstellt, durchaus vergleichbar. Beide tre�en sich im
Streben nach dem Logos.
Diese philosophische Aufklärung hat zwar den mythischen Schein, nicht aber die religi-
öse Form der Verehrung der Götter immer weiter zurückgedrängt. So ist nach Ratzinger
die antike Religion durch die totale Trennung zwischen Vernunft und Frömmigkeit, zwi-
schen dem Gott des Glaubens und dem Gott der Philosophen in Bruch gegangen, weil sie
es nicht gescha�t hat, beides zu kombinieren. Das gleiche wäre der christlichen Religion
passiert, hätte sie sich gleicherweise für eine Abtrennung von der Vernunft entschieden
und sich auf das rein Religiöse zurückgezogen. Ratzinger behauptet also, dass das ent-
gegengesetzte Schicksal � der Abfall des Mythos und der Sieg des Evangeliums � auf
das Verhältnis zwischen Religion und Philosophie bzw. Glauben und Vernunft, das auf
beiden Seiten existierte, zurückzuführen ist. In der antiken Philosophie sieht er insofern
ein Paradox, als sie denkerisch den Mythos zerstörte, ihn aber gleichzeitig religiös neu
legitimierte; Religion hörte auf, als Sache der Wahrheit behandelt zu werden, sondern
16Ratzinger, [18] Christentum, S. 104.17Xenophanes (570 v.Chr., Kolophon - 480 v.Chr.), griechischer Philosoph, Dichter und Gesellschafts-
und Religionskritiker. Von seinen Schriften sind nur Fragmente übriggeblieben, in denen sich u. a. fol-gende These �nden lässt: hätten Pferde und Rinder Hände und könnten sie malen, würden sie Götterin der Gestalt von Pferden und Rinder scha�en.18Vgl. Ratzinger, [18] Christentum, S. 104. Noch einmal spricht Ratzinger von �heutiger Forschung�.
Siehe Fuÿnote 8 in diesem Kapitel.
26
3.2 Der Gott der Philosophen
einfach als Sache der Lebensordnung. Im Weisheitsbuch sieht Ratzinger schon Hinwei-
se auf den Fall der antiken Religion, der mit dem Auseinandergehen von Wahrheit und
Frömmigkeit verbunden war. Dies hat Paulus im Römerbrief aufgegri�en und in kürzerer
Form ebenso ausgedrückt: �Denn was man von Gott erkennen kann, ist ihnen o�enbar;
Gott hat es ihnen o�enbart. Seit Erscha�ung der Welt wird seine unsichtbare Wirklich-
keit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen [...] Daher sind sie
unentschuldbar. Denn sie haben Gott erkannt, ihn aber nicht als Gott geehrt und ihm
nicht gedankt. [...] Sie vertauschten die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes mit Bil-
dern, die einen vergänglichen Menschen und �iegende, vierfüÿige und kriechende Tiere
darstellen� (1, 19�23). Jene Religion ging nicht in die Richtung des Logos und verfällt
also in einen wirklichkeitslosen Mythos, in eine bloÿe Form der Lebensgestaltung und
-richtung, in Gewohnheit. Diese �innere Rationalität des Christlichen� hat dem Chris-
tentum die notwendige Überzeugungskraft gegeben, die sein Bestehen mitten im Verfall
der Religionen der alten Welt ermöglicht hat.19
Indem das Christentum sich gerade für das Gegenteil entschied, distanzierte es sich
radikal von einer Art von Religion, die nicht mehr als zeremonielle Gestalt ist und sich
beliebig interpretieren lässt. An dieser Stelle weist Ratzinger auf die Idee dreier Theolo-
gien hin, die in der Antike aufgekommen ist und dieses Auseinandertreten von Mythos
und Logos gerechtfertigt habe. Obwohl er keine Referenz angibt, lässt sich der Zusam-
menhang wahrscheinlich mit dem Gedanken Varros verbinden, den ich im zweiten Teil
des ersten Kapitels eingeführt habe.20 Die neuplatonische Philosophie sei sogar weiter
gegangen und habe den Mythos als Symbol-Theologie betrachtet, in einem Versuch, ihn
�auf dem Weg der Auslegung zur Wahrheit hin zu vermitteln�. Dennoch hält Ratzinger
fest: �Was nur noch durch Interpretation bestehen kann, hat in Wirklichkeit aufgehört
zu bestehen�. Der Mensch richtet sich auf das, was Wahrheit selbst ist, nicht auf das,
was sich mittels einer Interpretation mit der Wahrheit zwar noch vereinbaren lässt, sie
aber selbst nicht mehr besitzt. Somit sind jene Abstimmungsversuche gescheitert.
19Vgl. Ratzinger, [19] GWT, S. 117.20Siehe S. 8�. in dieser Arbeit.
27
3.3 Die notwendige Begegnung � der Gott des Glaubens
3.3 Die notwendige Begegnung � der Gott des
Glaubens
Gegen die soeben erläuterte Position stellt sich die ursprünglich christliche Option.21 Der
christliche Glaube hat sich für den Gott der Philosophen entschieden und somit gegen
die Götterreligionen und gegen den Mythos als Gewohnheit. Er entschloss sich für die
Wahrheit des Seins selbst. Dies führte aber dazu, dass die Anhänger der frühen Kirche
quasi als Atheisten angesehen wurden, denn sie lehnten die gesamte Welt jener antiken
Religionen ab. Sie wurde gänzlich als leere Gewohnheit betrachtet, nichts von ihr lieÿ sich
annehmen. Die Option der frühen Kirche, der Gott der Philosophen, wurde aber für eine
auÿerreligiöse, rein akademische Realität gehalten; sich einzig auf ihn zu berufen schien
als Religionslosigkeit, Atheismus. Dieser Vorwurf forcierte eine Entwicklung in der frühen
Christenheit, wobei ihre Option und Orientierung deutlich erkennbar werden. Indem das
Christentum diesen philosophischen Gott aufgenommen und erklärt hat, er sei der Gott,
der angebetet werden und mit dem Menschen einen Dialog führen kann, gab sie ihm eine
ganz neue Bedeutung.
Kehren wir zum originalen Bild des Gottes der Philosophen zurück. Es handelt sich
um ein Neutrum, einen obersten Begri�, reines Sein und reines Denken. Er kreist in sich
selbst, ist ewig, abgeschlossen. Er streckte sich nicht zum Menschen und zur menschli-
chen Welt aus. Er ist die Ewigkeit, Unveränderlichkeit, die sich von jedem Werdenden
abwendet � man könnte einfach sagen, der aristotelische unbewegte Beweger �, die �ewige
Mathematik des Weltalls�. Für den Glauben hingegen erscheint er als der Mensch-Gott,
als Agape, als schöpferische Liebe, die an der Mitmenschlichkeit teilnimmt.22 Dieser
�mathematische� Gott erlebt die Dornbuscherfahrung und es wird klar, dass er nicht nur
�ewige Geometrie des Weltalls� ist, weil er Liebe, brennender Dornbusch ist, der einen
Namen kundgegeben hat und somit in die Welt des Menschen hineingegangen ist. Die-
ser Gott wird erst wahrhaft erkannt, wenn verstanden wird, dass er beides � Gott der
Philosophen und Gott der Bibel � sein muss und dass die Wahrheit und der Grund allen
Seins ungetrennt vom Gott des Menschen existieren. In Ratzingers Worten: �In diesem
Sinne gibt es die Erfahrung davon, dass der Gott der Philosophen ganz anders ist, als die
Philosophen ihn gedacht hatten, ohne aufzuhören, das zu sein, was sie gefunden hatten.�
21Wenn nicht anders angegeben bezieht sich der folgende Teil dieser Diplomarbeit auf Ratzinger, [18]Christentum, S. 107�112.22Vgl. den vorherigen Teil dieser Arbeit, Der Gott der Bibel.
28
3.3 Die notwendige Begegnung � der Gott des Glaubens
Beispiele dafür sind viele in der Bibel zu �nden, so Ratzinger. Sie zeichnen das Bild
eines sehr anthropomorphen, �unphilosophischen� Gottes, der sich wie ein Mensch freut,
sucht, wartet und Leidenschaft emp�ndet, wie es etwa in der Parabel der verlorenen
Drachme im Lukasevangelium vorkommt. Gott ist da keine �neutrale Gerechtigkeit�, die
über Dingen und A�ekten steht, sondern hat selbst ein Herz, ist ein liebender Gott.
Nach Ratzinger weisen solche Texte auf eine sogenannte �Verwandlung des bloÿ philoso-
phischen Denkens� hin. Gegen den Einwand, dass dieses Gottesbild etwas naiv sei � es
gebe zwar Gott, aber es sei eine Art arglose Denkweise, zu glauben, dass dieses höchste
Wesen sich um den Menschen und seine kleine Welt kümmern sollte � behauptet Ratzin-
ger, man stelle sich dabei Gott als ein allzu menschliches Bewusstsein vor, also begrenzt,
das nie das Ganze umfassen kann. Dieser Gott hingegen, da unbegrenzt, trägt das ganze
Sein in sich und betrachtet somit nichts als zu gering. Er geht über seine Gröÿe hinaus
und reicht zu uns herunter. Dies wird von Ratzinger weiter betont, und zwar indem
er über einen anderen Aspekt des Begri�es �Logos� spricht. Genauso wichtig für die
johannische Charakterisierung Gottes als �Logos� ist die Bedeutung des Ausdrucks als
�Wort�, die wiederum den neuen und genuinen Faktor der Beziehung aufzeigt. Ratzin-
ger hält es für einen eigentlichen und neuen Zug, da die Idee einer �ewigen Rationalität
des Seins� in der griechischen und jüdischen Geisteswelt grundsätzlich akzeptiert und
verbreitet wurde.23 Die neue Dimension des auf Jesus angewandten Begri�es �Logos�
besteht darin, dass Christus als Wort gekennzeichnet wird � �der, der hier ist, ist Wort�,
er ist �Gesprochensein�, Beziehung zwichen Sprechendem und Angesprochenem. Der Ge-
danke des �Sinns� (ratio) wird durch den des �Wortes� (verbum) erweitert.24 Existenz
und Beziehung tre�en sich.
Indem der Glaube sich mit dem Gott der Philosophen verbindet, werden also zwei we-
sentliche Veränderungen vollbracht. Während der philosophische Glaube selbstbezogen
und distanziert ist, stellt sich der Gott des Glaubens fundamental durch die Beziehung
mit den Menschen dar. Dabei tritt ein ganz neues Weltbild und eine neue Weltord-
nung ein, denn die höchste Möglichkeit des Seins hört auf, �Losgelöstheit� zu sein, und
schlieÿt nun das Element der Relation ein. Für Ratzinger bedeutet es eine Revolution,
dass Gott nicht mehr als eine �Autarkie� betrachtet wird, sondern als Verbindung mit
und Beziehung zu den Menschen. Auf der anderen Seite war der Gott der Philosophen
reines Denken, und nur das Denken hieÿ Göttlichkeit. Der Gott des Glaubens ist aber
23Ratzinger, [18] Christentum, S. 148 f.24Ebenda.
29
3.3 Die notwendige Begegnung � der Gott des Glaubens
ein �Denken-Lieben�. Der Logos ist Liebe, ist schöpferisch, weil er als Gedanke Liebe
ist, und als Liebe Gedanke. Es handelt sich nicht um zwei selbständige, nebeneinander
stehende Instanzen, sondern beide sind eins im einzigen Absoluten. Im dem Begri�spaar
�Wahrheit-Liebe� sieht Ratzinger eine �Uridentität�.25
In Einführung in das Christentum legt Ratzinger das Moment der Begegnung vom
Gott der Bibel und dem Gott der Philosophen unter noch anderen Aspekten dar.26
Wichtig dabei ist nochmals sein Versuch, zu zeigen, dass jener philosophische Gott al-
lein nicht genügen könnte. Nun wird Ratzinger das Problem aber in einen moderneren
Kontext stellen.
Zuerst muss man kurz zur antiken Philosophie zurückkehren. Bei dem pythagoreischen
Denken zeigt sich die Figur eines Gottes, der Geometrie treibt und auf die Idee einer
mathematischen Struktur des Seins hinzeigt. Da zeigt sich die Erkenntnis, so Ratzinger,
dass die Materie nicht bloÿ Un-sinn ist, sondern Wahrheit und Verstehbarkeit beinhal-
tet, dass sie sich als Gedachtsein begreifen lässt. Dieser Gedanke hat sich mittlerweile
dank der gegenwärtigen Erforschung der mathematischen Ordnung der Materie und de-
ren Denkbarkeit und Benutzbarkeit verstärkt. Dabei erscheint unser Denken lediglich
als �Nachdenken des in der Wirklichkeit schon Vorgedachten�.27 So ein mathematisches
Weltverstädnis hat aber nach Ratzinger nur jenen Gott der Philosophen durch die Ma-
thematik gefunden. Der Glaube an eine Vernunft, die die Welt baut und ordnet, und
der Versuch, ihr Verfahren und ihre Systematik zu verstehen, decken nach Ratzinger
nur einen Teil der Frage nach dem Gottesglauben � es wird zwar eingesehen, dass das
Sein ein Gedacht-Sein ist und somit auf ein Denken verweist, aber man �ndet nirgendwo
Platz für die Möglichkeit, diesen Gedanken mit dem Menschen in Beziehung zu brin-
gen. Wenn auch immer ein Personbegri� skizziert wird, ein Begri� von einer Macht, die
die Welt kontrolliert, genügt er doch noch nicht, die Verbindung zwischen dem Gott
der Philosophen und dem Gott des Glaubens zu vollziehen. Man geht nicht über die
�Mathematik des Kosmos�, über den �kalten� Gott der Philosophen hinaus.
Diese Idee, die bereits im Kontext der Mathematik entdeckt wurde, wird von Ratzinger
wiederholt: Die Welt ist objektiver Geist, der sich von unserem eigenen Geist nachdenken
und verstehen lässt. Diese Einsicht muss aber in einem nächsten Schritt fortgefahren
25Vgl. Schneider-Stengel, [24] Hellenisierung, S. 89.26Wenn nicht anders angegeben beziehen sich alle Verweise von hier an auf Ratzinger, [18] Christentum,
S. 116�124.27Vgl. Ebenda, S. 116.
30
3.3 Die notwendige Begegnung � der Gott des Glaubens
werden. Zu behaupten, dass man an Gott glaubt, ist Ausdruck der Überzeugung, dass
das Gedachtsein, wie man es als Struktur der Welt vor�ndet, ohne das Denken unmöglich
ist. Was dies genau bedeutet, muss laut Ratzinger weiter geklärt werden. Doch stöÿt
man gleich auf eine Art von Hindernis: in den zweieinhalbtausend Jahren der Geschichte
der Vernunft haben sich zahllose Au�asungen des Begri�es entwickelt, ein Meer von
philosophischen Theorien und Auseinandersetzungen. Man könnte den Eindruck haben,
es sei von vornherein ein vergeblicher Versuch, einen genauen Weg zu �nden. Hier werden
wir nochmals zu jener Frage, die im ersten Kapitel gestellt wurde, geführt: Kommt das
Sein, kommt die Welt aus der Vernunft, aus einem schöpferischen Geist, oder aus der
�Unvernunft�? Trotz der Vielfalt entgegengesetzter philosophischer Betrachtungen kann
man nach Ratzinger einige Grundmöglichkeiten darunter �nden, wie der Mensch das
Sein nachzudenken versucht hat. Die Problematik lässt sich letztendlich in der Frage
zusammenfassen, was jenes Sein ist, das hinter den vielen seienden Dingen steht � hinter
allem, was ist.
In den vielen von der Geschichte hervorgebrachten Antworten lassen sich zwei Hauptrich-
tungen ausmachen. Einerseits wird behauptet, dass alles, dem man begegnet, letztendlich
bloÿ Sto�, Materie ist. Die Materie ist das eigentliche Sein hinter dem Seienden, das,
was übrigbleibt. Ratzinger fügt eine Art De�nition von �Materie� hinzu: ein Sein, das
zwar �ist�, das aber nicht �seinsverstehend� ist, sich also nicht selbst versteht. Alles Sein
auf die Materie zu reduzieren, heiÿt also nach Ratzinger, den Grund allen Seins als sich
selbst nicht verstehend zu betrachten. Dies bedeutet im Ende�ekt, dass das Verstehen
vom Sein nur ein sekundäres Produkt ist, das inmitten von Entwicklungsprozessen zu-
fällig entstanden ist.28 Auf der anderen Seite wird behauptet, dass die Betrachtung der
Materie am Ende zur Entdeckung führe, dass sie Gedachtsein (objektivierter Gedanke)
ist. Die Materie ist nicht das Letzte, sondern vor ihr steht vielmehr das Denken, die Idee.
�Sein� heiÿt Gedachtsein und ist auf eine Urwirklichkeit, auf einen Geist, zurückzufüh-
ren. Die De�nition von �Geist� lässt sich in diesem Kontext aus der vorherigen De�nition
von �Materie� ableiten: ein Sein, das sich selbst versteht. Gemäÿ dieser zweiten Richtung
� der Hegel und der deutsche Idealismus zuzuordnen ist � ist alles Sein das Gedachte
eines einzigen Bewusstseins; die vielfältigen Seienden sind Momente dieses Bewusstseins,
und die Einheit des Seins besteht in der Einheit mit ihm.
28Vgl. Ratzinger, [18] Christentum, S. 120 und Ratzinger, [23] Säkularisierung, S. 51.
31
3.3 Die notwendige Begegnung � der Gott des Glaubens
Angesichts dieses Bildes behauptet nun Ratzinger: Der christlicher Glaube entspricht
keiner dieser zwei erwähnten Grundmöglichkeiten. Eine Identi�zierung mit der ersten ist
o�ensichtlich undenkbar. Aber auch mit der zweiten lässt sich der christliche Gottesglau-
be nicht ganz vereinbaren. Er ist zwar genau wie sie überzeugt, dass Sein Gedachtsein
ist, und dass die Materie über sich hinaus auf ein Denken verweist � aber die Dinge
sind gemäÿ des christlichen Gottesglauben nicht einfach scheinbar selbständig, als ob es
in Wirklichkeit lediglich Gedanken eines Bewusstseins gäbe. Der christliche Gottesglau-
ben geht weiter und tiefer, er erkennt die Dinge als Gedachtsein eines schöpferischen
Bewusstseins an, als einer schöpferischen Freiheit entstammend. Somit haben die Dinge
aber selbständiges Sein � sie sind zwar Gedachtsein eines Bewusstseins, aber zugleich
wahres Selbersein.
Als Ergebnis dieser Überlegung zeigt sich nach Ratzinger der Kern des Schöpfungsbe-
gri�s. Die Schöpfung wird nicht nach dem Modell eines Handwerkers verstanden, sondern
als schöpferischer Geist, als �schöpferisches Denken�. Dieser ist wiederum nicht irgend-
ein Bewusstsein, sondern eine schöpferische Freiheit, �die denkt und denkend Freiheit
scha�t�, die �die Freiheit zur Strukturform allen Seins werden lässt� � weshalb Ratzinger
den christlichen Glauben als �Philosophie der Freiheit� bezeichnet. Die Option für die-
sen schöpferischen Geist geht weiterhin mit der Option für einen personenhaften Sinn
einher, für den �Primat des Besonderen gegenüber dem Allgemeinen�. Das heiÿt, das
Höchste für das Christentum ist nicht das Allgemeinste, sondern das Besondere. Der
Mensch wird als ein �unreduzierbares, auf Unendlichkeit bezogenes� Wesen verstanden,
was wiederum die Freiheit einschlieÿt, im Gegensatz zur Notwendigkeit einer kosmisch-
naturgesetzlichen Ordnung. Weil dieser schöpferische Geist auch lieben kann, weil er
deswegen schöpferisch ist, weil er Liebe ist, hat er seinen Gedanken in die Freiheit eige-
nen Seins gesetzt, Selbersein verliehen.
Zusammenfassend behauptet Ratzinger: �Christlicher Glaube bedeutet zunächst die
Entscheidung für den Primat des Logos gegenüber der bloÿen Materie. [...] die Option
[...], dass der Logos, das heiÿt der Gedanke, die Freiheit, die Liebe nicht bloÿ am Ende,
sondern auch am Anfang steht�29. Diese drei Elemente � Gedanke, Freiheit und Liebe
� lassen sich nicht von einander trennen. Dies hat viele Implikationen. Wenn es aner-
kannt ist, dass das Oberste der Welt nicht die kosmische Notwendigkeit, sondern die
Freiheit ist, dann wird Freiheit zur eigentlichen und notwendigen Struktur der Welt, was
29Ratzinger, [18] Christentum, S. 115.
32
3.4 �Nicht vernunftgemäÿ zu handeln ist dem Wesen Gottes zuwider�
wiederum heiÿt, dass die Welt nur als Unbegrei�iches begri�en werden kann. Die Unbe-
rechenbarkeit ist notwendigerweise Teil davon, gehört wesentlich zur Welt. Sie kann nie
auf mathematische Logik zurückgeführt werden und ist �unter dem Risiko der Freiheit
und der Liebe gescha�en und gewollt�.
In einer Welt, die letztendlich Liebe ist, kehren sich die Kategorien von �Minimum�
und �Maximum� um. Wie gering er auch sein mag, der, der liebt, wird zum Gröÿten.
Die Person wird nicht als bloÿes Individuum, als eines �durch die Zerteilung der Idee
in die Materie entstandenes Vervielfältigungsexemplar� � eines von vielen Einzelwesen,
wie es im griechischen Denken hieÿ �, sondern als einmalig und unwiederholbar, als
das Endültige und das Höchste betrachtet. Bei diesem Punkt geht Ratzinger so weit,
nahezulegen, dass die Durchquerung von �Individuum� zu �Person� die ganze Strecke des
Übergangsprozesses von der Antike zum Christentum � vom Platonismus zum Glauben
� umfasst. Das Sein, um das es hier geht, lässt uns nicht nur �bruchstückweise� das
Allgemeine als das Eigentliche ahnen, sondern ist ein Eigentliches, ein Höchstes.
Die letzte Konsequenz einer solchen Idee ist die Überschreitung der Vorstellung eines
Gottes, der nur Einheit ist. Durch diese Argumentation folgt, so Ratzinger, dass die
innere Logik des christlichen Gottes selbst das Überschreiten eines bloÿen Monotheimus
erfordert. Gott ist zwar einerseits Relation zu sich selbst � Ratzinger fährt später fort
und meint, dies geschieht in der Einheit des Vaters, des Sohnen und des Heiligen Geistes
�, aber diese ist keine absolute Einheit wie bei dem Gott der Philosophen, da die Relation
zu den Menschen und zur Welt notwendigerweise eingeschlossen ist.30
3.4 �Nicht vernunftgemäÿ zu handeln ist dem Wesen
Gottes zuwider�
An dieser Stelle kann man sich schon ein gutes Bild machen, welcher Gott hier gemeint
ist. Doch müssen diese Gedanken noch ausführlicher formuliert werden, so dass sie noch
spezi�scher den Begri� �Vernunft� tre�en können. Dieses Wort ist in der Unterscheidung
zwischen dem Gott der Bibel und dem Gott der Philosophen zwar kaum aufgetaucht,
aber die Darlegung der geschichtlichen Hintergründe ist sehr wichtig. Denn was hinter
der Frage steht, was �Vernunft� für Joseph Ratzinger (Papst Benedikt XVI.) bedeutet,
30Schneider-Stengel, [24] Hellenisierung, S. 90.
33
3.4 �Nicht vernunftgemäÿ zu handeln ist dem Wesen Gottes zuwider�
ist vor allem die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Philosophie, Glauben und
Wissen, religiösem Erlebnis und Vernunft.31
Nun möchte ich die bereits erwähnte Regensburger Rede als Ausgangspunkt nehmen32,
ohne aber auf die Kontroverse, die daraus entstanden ist, einzugehen. Einige Kommen-
tare und Meinungen dazu werden erst im letzten Kapitel dieser Arbeit vorkommen. Eine
kurze Zusammenfassung des Hintergrunds genügt uns hier, da das Ziel nicht eine Be-
wertung, sondern eine Darstellung der Au�assung Ratzingers vom Begri� �Logos� bzw.
�Vernunft� ist. Dieser Text beinhaltet wohl den Kern der Vernunfttheorie Ratzingers �
er zeigt, wie der Gott der Bibel und der Gott der Philosophen vereinigt werden im Gott
des Glaubens, im Gott als Logos.
Die Vorlesung fand 2006 an der Universität Regensburg in Deutschland statt. Nach
einigen persönlichen Bemerkungen und Erinnerungen erwähnt Papst Benedikt XVI. den
libanesischen Professor Adel Theodor Khoury33. Khoury hatte im Jahr 1966 mit einer
Arbeit über den byzantinischen Kaiser Manuel II. Palaeologos habilitiert. Dabei �ndet
man den Dialog zwischen dem Kaiser und einem gebildeten Perser über Christentum
und Islam, worauf sich der Papst zunächst bezieht. Es handelt sich um eine Diskussion
über den Glauben in den zwei Religionen, die verschiedene Bereiche berührt und in der
sogenannte siebten �Gesprächsrunde� zum Thema des heiligen Krieges (Djihad) kommt.
Der Kaiser spricht über die angebliche Forderung der Predigt Mohammeds, den Glauben
�durch das Schwert zu verbreiten�34, und behauptet anschlieÿend, dass die Verwendung
von Gewalt für die Glaubensverbreitung widersinnig ist. Papst Benedikt liest ein Zitat
vor: �Gott hat kein Gefallen am Blut, und nicht vernunftgemäÿ, nicht συν λoγω (syn
logo) zu handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider�35. Mit dem Gedanken des letzten Sat-
zes, �nicht vernunftgemäÿ zu handeln ist dem Wesen Gottes zuwider�, erreicht Ratzinger
sein eigentliches Ziel � dadurch kann er jene Verbindung zwischen Christentum und grie-
31Vgl. Ratzinger, [17] Der Gott des Glaubens, S. 13.32Wenn nicht anders angegeben beziehen sich alle Verweise auf Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Ver-
nunft, S. 125�140.33Adel Theodor Khoury (1930, Tebnine), melkitisch-katholischer Theologe und emeritierter Professor
an der Universität Münster. Durch zahlreiche Publikationen fordert er seit Jahren den Dialog zwischendem Islam und anderen Religionen, vor allem dem Christentum. Die vom Papst erwähnte Passage lässtsich im Buch Manuel II. Paléologue, Entretiens avec un Musulman, Paris, 1966, �nden.34Controverse VII 2c, bei Khoury, Manuel II. Paléologue, S. 142 f. Ratzinger (Benedikt XVI.), [20]
Vernunft, S. 126.35Controverse VII 3b�c bei Khoury, Manuel II. Paléologue, S. 144 f.; Förstel, Dialoge mit einemMuslim,
Bd. I, VII. Dialog 1.6, S. 240 � 243. Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 127.
34
3.4 �Nicht vernunftgemäÿ zu handeln ist dem Wesen Gottes zuwider�
chischer Philosophie, auf die in dieser Diplomarbeit schon eigegangen wurde, betonen,
und �ndet dabei gleichtzeitig eine Verstärkung seiner eigenen These.
Ratzinger gibt dann den Kommentar Khourys zu diesem Satz wieder: Der moslemi-
schen Lehre nach sei Gott absolut transzendent und an keine Kategorie, auch nicht an die
der Vernünftigkeit, gebunden. Für den Kaiser Manuel II. Paleologos, einen Byzantiner,
der in der Tradition der griechischen Philosophie aufgewachsen war, sei dieser Gedan-
ke aber evident.36 Dazu fügt Ratzinger die Frage hinzu: Ist es nur griechisch daran zu
glauben, dass �nicht mit Logos� zu handeln dem Wesen Gottes widerspricht, oder gilt
dieser Gedanke in sich selbst? Für Ratzinger zeigt sich da ein Beweis für jenen Einklang
zwischen �dem, was im besten Sinn griechisch ist�, und dem Gottesglauben der Bibel.
Er bezieht sich auf den ersten Vers des Johannesevangeliums: �Im Anfang war das Wort,
und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott�. Das griechische Wort für �Wort� ist
genau dasjenige, das in der griechischen Entsprechung des Ausdrucks �vernunftgemäÿ�,
wie er vom Kaiser benutzt wird, vorkommt: Logos � Gott handelt συν λoγω, mit Lo-
gos. Im Evangelium hat Johannes �das abschlieÿende Wort des biblischen Gottesbegri�s�
geliefert, so Ratzinger. Der biblische Gottesglauben hat darin seine Synthese gefunden.
Ratzinger betont, dass das Zusammentre�en von biblischer Botschaft und griechi-
schem Denken kein Zufall � ja sogar �providentiell�37 � war. Er fährt fort mit einer
Zusammenfassung jenes Glaubensweges, der mit dem Dornbusch angefangen hatte und
zum Gott der Philosophen führte. Bei der O�enbarung des Gottesnamens im brennenden
Dornbusch nimmt Gott Abstand von den Göttern mit vielen Namen � eine Ablehnung
des Mythos, die mit dem sokratischen Versuch, den Mythos zu überwinden, in interner
Analogie steht. Der Prozess, der am Dornbusch begonnen hatte, reift nach Ratzinger
während des Babylonischen Exils. Der Gott Abrahams ist der Gott einer Person; er
kann sie begleiten und schützen, und seine Heiligkeit scheint mit der menschlichen Wür-
de und Moral verbunden zu sein.38 In der folgenden Entwicklung des Volks Israels wird
dieser Gott zu einem Gott des Volkes, des Landes, einer bestimmten Lebensordnung. Er
ist der Gott der Väter, des Sinai.39 Im Moment des Exils formt sich der Gottesglaube
Israels noch weiter aus und Gott gewinnt seine groÿe Gestalt. Üblicherweise wurde ein
Gott, der sein Land verliert und dessen Volk geschlagen wird, als ein zerfallener Gott
36Khoury, ebenda, S. 144, Anmerkung 1. Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 127.37Ratzinger, [19] GWT, S. 78.38Ebenda, S. 118 f.39Ebenda, S. 119.
35
3.4 �Nicht vernunftgemäÿ zu handeln ist dem Wesen Gottes zuwider�
betrachtet. Doch beim Exil Israels zeigt sich genau das Gegenteil. Es wird klar, dass
dieser Gott und die Gottheiten der Weltreligionen völlig unterschiedlich sind: er kann
sich leisten, sein Land hinter sich zu lassen, weil er an kein Land gebunden ist; er lässt
sein Volk in der Niederlage nicht fallen, aber er ist nicht darauf angewiesen, so wie er
nicht auf den Tempel und den darin gefeierten Kult angewiesen ist.40 Der Personengott
der Väter wird mit dem Allgott, mit dem Schöpfer identi�ziert, und dies wird zur Über-
lebenskraft, so Ratzinger. Israel hat keinen exklusiven Gott, sondern verehrt nur den
einen Gott überhaupt. Gott hat zwar mit Abraham gesprochen und Israel erwählt, aber
er ist in Wirklichkeit der universelle Gott von allen Völkern, der alle Geschichte lenkt.41
Zugleich führte die Tatsache, dass die damalige Situation Israels nicht der Macht und
Güte Gottes entsprach, dazu, dass das Element der Zukunft wieder stärker vorkam, das
heiÿt, jene Gegenwart wurde relativiert. Sie könnte nur in einem gröÿeren, die Realität
überschreitenden Horizont verstanden werden.42
Später, in den 500 Jahren nach dem Exil bis zum Kommen Christi, fallen laut Ratzin-
ger zwei Elemente auf. Das erste ist die Entstehung der sogenannten Weisheitsliteratur.
Durch die Bücher des Gesetzes und der Propheten erschien schon allmählich ein Maÿ-
stab der Religion Israels. Es kommt dann eine dritte Richtung, nämlich die Weisheit,
die zuerst vor allem ägyptischen Ein�uss hatte.43 Doch, behauptet Ratzinger, wird der
Kontakt mit dem griechischen Geist immer mehr sichtbar � der Ein-Gott-Glaube vertieft
sich und die Kritik der Götter, schon bei den Propheten anwesend, wird radikalisiert.
Der Monotheismus gewinnt an �rationaler Kraft� dank der �Verbindung mit dem Ver-
such eines vernünftigen Verstehens der Welt�.44 Durch den Begri� der Weisheit, durch
die Betrachtung der Rationalität, die sich in der Weltstruktur als Re�ex der schöpfe-
rischen Weisheit zeigt, wird die Brücke zwischen Gottesgedanken und Weltverständnis
gebaut.45 Dies hat nach Ratzinger auch eine weitere Bedeutung, denn es zeigt sich eine
Verbindung zwischen Kosmologie und Anthropologie, Weltdeutung und Moralität. Die
Weisheit fasst Welt und Materie zusammen, ist aber zugleich eine moralische Weisheit,
die die wesentliche Richtung der Existenz diktiert. Die Thora, das Gesetz, stellt sich
40Ebenda, S. 120.41Ebenda.42Ebenda, S. 120 f.43Ebenda, S. 121.44Vgl. Ebenda.45Ebenda.
36
3.4 �Nicht vernunftgemäÿ zu handeln ist dem Wesen Gottes zuwider�
als Selbstdarstellung der Weisheit dar.46 Nach Ratzinger wird in diesen Zügen die Be-
rührung mit dem griechischen Geist sichtbar, und zwar einerseits mit dem Platonismus
und andererseits mit der Stoa47 � einerseits der eine Gott, der das ganze Sein umfasst
und sich von den Göttern unterscheidet und andererseits die Verbindung von göttlicher
Deutung der Welt und Moral.
Das zweite Element besteht nach Ratzinger darin, dass sich das Näherkommen zum
griechischen Geist ebenso in einem anderen Schritt , nämlich im Übergang des Juden-
tums in die griechische Welt, vor allem in Alexandrien, vollzieht.48 Wichtig in diesem
Prozess war die Übersetzung des Alten Testaments ins Griechische (die sogenannte Sep-
tuaginta), die den universalistischen Zug in der Religion Israels weiter förderte, nicht
nur durch das Gottesbild selbst, sondern auch durch das Wort kyrios, �Herr�, das das
hebräische �Jahwe� ersetzte.49 Mehr als eine bloÿe Übersetzung war sie ein �selbständiger
Textzeuge�, ein wichtiger Schritt in der O�enbarungsgeschichte.50 Die Möglichkeit, durch
die eigene Sprache Zugang zum Glauben Israels zu haben, sorgte nach Ratzinger für die
Faszination des �aufgeklärten Geistes der Antike�.51 Die Religion der Antike hatte seit
der sokratischen Philosophie immer mehr an Plausibilität verloren. Bei Sokrates �ndet
man keinen Skeptizismus oder Zynismus wie bei anderen zeitgenössischen Strömungen,
sondern die �Sehnsucht nach der angemessenen und doch das eigene Vermögen der Ver-
nunft überschreitenden Religion�.52 Im jüdischen Glauben erschien eine mögliche Lösung
� dort bestand die Verbindung zwischen Gott und Welt, Rationalität und O�enbarung,
die die �Postulate der Vernunft�53 und die Sehnsucht nach einem tieferen Sinn in der
Religion kombinierte.54 Dieser Glaube ist ein Monotheismus, aber nicht ein Monotheis-
mus des rein philosophischen Gottes, der aus Spekulation kommt und nicht angebetet
werden kann. Er kommt aus einer echten religiösen Erfahrung und bestätigt �von oben
her�, wie Ratzinger es ausdrückt, was die Philosophie in ihrer eigenen Art schon gesucht
46Ebenda, S. 122.47Ebenda.48Ebenda, S. 123.49Ebenda.50Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 129.51Vgl. Ratzinger, [19] GWT, S. 124.52Vgl. Ebenda.53Was Ratzinger genau unter diesen Postulate versteht, erklärt er im Text nicht.54Ebenda.
37
3.4 �Nicht vernunftgemäÿ zu handeln ist dem Wesen Gottes zuwider�
hatte.55 Somit hat sich die Gottesfurcht gemäÿ dem �griechisch gewordenen Glauben
Israels� über die antike Welt verbreitet.
Obwohl im in der Septuaginta dargestellten Glauben das Zusammentre�en von Ver-
nunft und Geheimnis sichtbar war, fehlte doch noch immer etwas. Jener Universalgott
war noch an ein bestimmtes Volk gebunden, nämlich Israel und seine eigene Lebens-
form.56 Wer nicht zu dieser Gemeinschaft gehörte, konnte nur in einem äuÿeren Teil
dieser Religion stehen. Zugehörigkeit und blutsmäÿige Abstammung waren untrennbar.
Volle Universalität war also nicht möglich, weil eine komplette Zugehörigkeit auch nicht
möglich war. Erst mit dem Christentum ist die wirkliche Unversalität zur praktischen
Möglichkeit geworden.57 Blutsbanden waren nicht mehr nötig, denn der Anschluss an Je-
sus sorgte nun für die wahre Verwandtschaft und vollständige Zugehörigkeit; die Person
Jesu Christi, die alles zusammenfasst und das ganze Wesen des Gesetzes in sich trägt,
trat anstatt partikulärem Recht und partikulärer Moral hervor; der alte Kult wurde in
der Selbsthingabe Jesu, dem wahren Opfer, aufgehoben.58 Das Herrenmahl stellt sich als
reales, endgültiges Zeichen der Versöhnung von Menschen und Gott, der neuen christli-
chen Synthese dar59 � als die Menschen der Antike Christus begegneten, entdeckten sie
die Vernunft des Weltalls, die sich als Liebe o�enbart hatte, jene �gröÿere Realität, die
auch das Dunkle und Irrationale in sich aufnahm und heilte�.60 Durch die Gestalt Christi
wurde der religiöse Monotheismus des Judentums universal und damit die Einheit von
Denken und Glauben � die religio vera � allen zugänglich.61 Vernunft und Geheimnis
haben sich getro�en.62
Mit diesem kleinen geschichtlichen Exkurs vor Augen kann man feststellen, dass ihr
eigentliches Zentrum die Begegnung zwischen Glauben und Vernunft, zwischen rechter
Aufklärung und Religion ist.63 Kaiser Manuel II. Paleologos hat vom inneren Wesen des
christlichen Glaubens � zugleich Wesen des Griechischen, das dem Glauben begegnete �
heraus behaupten können, dass nicht �mit Logos� zu handeln dem Wesen Gottes zuwi-
55Ebenda.56Ebenda, S. 125.57Ebenda, S. 126.58Ebenda, S. 125.59Ebenda.60Vgl. Ebenda, S. 126.61Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 30.62Ratzinger, [19] GWT, S. 126.63Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 129.
38
3.4 �Nicht vernunftgemäÿ zu handeln ist dem Wesen Gottes zuwider�
der ist.64 Logos ist gleichzeitig Vernunft und Wort � �eine Vernunft, die schöpferisch ist
und sich mitteilen kann, aber eben als Vernunft�65. Ratzinger gesteht trotzdem zu, dass
im Spätmittelalter sich gewisse Tendenzen in der Theologie entwickelten, die Richtung
Voluntarismus führten � das heiÿt, Gott habe die Freiheit, auch das Gegenteil von allem,
was er gemacht und gescha�en hat, tun zu können. Die Transzendenz und Unverständ-
lichkeit Gottes mittels der menschlichen Vernunft wurde dabei so radikalisiert, dass sich
ein Bild eines willkürlichen Gottes, der nicht an die Wahrheit und an das Gute gebunden
ist, ergibt. Und unsere Vernunft und unser Sinn für das Wahre hören auf, ein Spiegel
Gottes zu sein.66 Nach einer solchen Au�assung bleibt Gott unzugänglich und verbor-
gen für die Menschen. Gegen diese Meinung stellt sich der kirchliche Glaube, der daran
festhält, dass es zwischen Gott, dem Schöpfergeist, und uns mittels unserer von ihm ge-
scha�enen Vernunft eine Analogie gibt. Die Unähnlichkeiten sind zwar unendlich gröÿer
als die Ähnlichkeiten, aber diese Analogie wird nicht aufgehoben.67 Ratzinger betont im
Anschluss die Beziehung Logos-Liebe und ihre Untrennbarkeit: �[...] der wahrhaft göttli-
che Gott ist der Gott, der sich als Logos gezeigt und als Logos liebend für uns gehandelt
hat�. Die Liebe, wie Paulus in seinem Brief an die Epheser68 meinte, mag die Erkenntnis
übersteigen und nimmt mehr als das bloÿe Denken wahr, aber sie bleibt immer die Liebe
des Gottes als Logos, Einklang vom ewigen Wort und unserer Vernunft.69
Zusammenfassend können wir also behaupten, dass laut Ratzinger das Christentum es
in seiner Frühzeit gescha�t hat, biblischen Glauben und heidnisch-griechische Philoso-
phie zu �versöhnen�, so dass daraus das Einzigartige im christlichen Glauben entstanden
ist.70 In jener Synthese ist das Gottesbild zur Vollgestalt gekommen71 � es beschreibt
einen Gott, der durch den Logos charakterisiert ist, zugleich aber auch durch die Lie-
be: der �wahrhaft göttliche Gott�. Die Vollendung des Wissens über Gott, auch die
Vollendung des Christentums72, ist das Ergebnis einer sogenannten �Hellenisierung des
Christentums�.
64Ebenda.65Ebenda, S. 128.66Ebenda, S. 129 f.67Ebenda, S. 130.68Vgl. Eph 3, 19. Hinweis ebenda, S. 130.69Ebenda.70Vgl. Schneider-Stengel, [24] Hellenisierung, S. 83.71Ebenda.72Ebenda.
39
3.5 Hellenisierung des Christentums
3.5 Hellenisierung des Christentums
Der Terminus �Hellenisierung des Christentums� erscheint zum ersten Mal bei Adolf
Harnack.73 Doch sein Inhalt führt auf eine neuzeitliche Diskussion zurück. Der Begri�
ist umfassend und bezieht sich auf das Verhältnis von Christentum und Spätantike (in
einem eher historischen Sinn), aber auch auf die Beziehung von Religion und Philosophie
(von genuinem Glaubensdenken und philosophischer Vernunft)74 � in anderen Worten
geht es um die �Vermischung der christlichen Überlieferung mit den Ideen und Lebens-
formen des Hellenismus�75, um die �Auseinandersetzung des jungen Christentums mit
der heidnischen Umwelt�76 .
Das Thema wurde erstmals von Guillaume Budé77 begri�ich aufgegri�en.78 Dank ei-
nes erneuten Interesses an der Antike durch den Humanismus und die Renaisance zog
das Thema wieder Aufmerksamkeit auf sich, was zu verschiedenen Stellungnahmen führ-
te, sowohl von katholischer als auch von evangelischer Seite.79 Abgesehen von der Frage
ob und in wie weit das Verhältnis legimitim sei und welche Elemente von einer Seite
in die andere übertragen werder dürfen, scheint der entscheidende Punkt zu sein, �wie
durch die christliche Botschaft die Alte Welt verwandelt und auf eine neue geschichtli-
che Bahn gebracht wurde, so dass eine schöpferische Synthese zwischen dem biblischen
Glauben und dem griechischen Seinsdenken möglich wurde, dergestalt, dass der Gott
der Philosophen im Medium griechischer Geistigkeit zu dem lebendigen, sich in Christus
o�enbarenden Gott der Bibel wurde�80.
Die Problemstellung und ihr Bestehen bis zur Gegenwart zeigen, dass die Frage der
Hellenisierung eine Bedeutung jenseits von rein dogmen- und religionsgeschichtlichen
Diskussionen hat.81 Obwohl die These einer Hellenisierung des Christentums präzisiert
und di�erenziert wurde, ist sie bis heute noch nicht grundsätzlich revidiert worden.82
73Adolf Harnack (1851, Dorpat�1930, Heidelberg), protestantischer Theologe und Kirchenhistoriker.Der Ausdruck lässt sich im ersten Band seines Werkes Lehrbuch der Dogmatik �nden. Hinweis inSchneider-Stengel, [24] Hellenisierung, S. 83.74Vgl. [5] Lexikon für Theologie und Kirche, S. 1407, [28] RGG, S. 1609.75[5] Lexikon für Theologie und Kirche, S. 1407.76Schneider-Stengel, [24] Hellenisierung, S. 83.77Guillaume Budé, (1468, Paris�1540, ebenda), Humanist, Philosoph und Philologe.78[5] Lexikon für Theologie und Kirche, S. 1407.79Für eine detallierte Darstellung der Diskussion und die an ihr Beteiligten siehe: Ebd., S. 1407 f.80[28] RGG, S. 1609.81Vgl. Ebenda, S. 1408.82Ebenda, S. 1408 f.
40
3.5 Hellenisierung des Christentums
Die These, wonach griechische Ein�üsse schon bei den ersten Christen zu �nden sind,
insofern sie Erben eines Judentums, das seinerseits schon von hellenistischem Gedan-
kengut durchgedrungen war, scheint sich bestätigt zu haben.83 Die Problematik weist
heutzutage auf eine andere Frage hin, nämlich auf das Verhältnis von Christentum und
Kultur.84 Dies könnte der Grund für eine weitere Bemerkung Ratzingers im Kontext der
Gegenthese der Hellenisierung, der �Enthellenisierung� des Christentums, sein.
Auch in der Regensburger Rede spricht Ratzinger über drei �Wellen� dieser Gegenbe-
wegung. Die erste85 führt zur Reformation im 16. Jahrhundert zurück. Die Reformatoren
betrachteten die damalige theologische Schultradition als eine Art �Fremdbestimmung
des Glaubens durch ein nicht aus ihm kommendes Denken�, das wiederum aus der Phi-
losophie stammte. Das Sola-scriptura-Prinzip suchte dagegen eine �reine Urgestalt des
Glaubens�. Metaphysik wurde als ein getrenntes, dem Glauben fremdes Denken angese-
hen.86 Ratzinger erwähnt Kant und dessen Behauptung, �er habe das Denken beiseite
scha�en müssen, um dem Glauben Platz zu machen�.87 Die zweite Welle der Enthelleni-
sierung88 ist mit der liberalen Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts verbunden. Eine
deren bedeutendsten Stimmen ist Harnack selbst. Ziel seiner Überlegung ist die Rück-
kehr zum einfachen Menschen Jesus, dessen Botschaft vor jeglicher Theologisierung �
und auch vor einer Hellenisierung � kommt.89 Im Hintergrund steht, so Ratzinger, der
Versuch, das Christentum mit der modernen Vernunft in Einklang zu bringen, indem
es von gewissen, scheinbar philosophischen und theologische Elementen � wie etwa dem
Glauben an die Gottheit Jesu oder an die Dreieinheit Gottes � gereinigt wird.90 Je-
ne moderne Vernunft forderte die Überwindung eines (sich im Dogma ausdrückenden)
hellenistischen Weltverständnisses.91
Gerade die dritte Welle der Hellenisierung92 und ihre Kritik durch Ratzinger muss
man meines Erachtens nach stets im Auge haben, wenn man den Vernunftbegri� Rat-
zingers verstehen möchte. Explizit erwähnt sie Ratzinger zwar nur kurz, aber sie könnte
83Ebenda, S. 1409.84Ebenda.85Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 131.86Ebenda.87Ratzinger weist sich auf die Vorrede zur zweiten Au�age der Kritik der Reinen Vernunft von Iman-
nuel Kant hin.88Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 132.89Ebenda.90Ebenda.91[5] Lexikon für Theologie und Kirche, S. 1408.92Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 135.
41
3.5 Hellenisierung des Christentums
durchaus als die Zusammenfassung des Ziels, das Ratzinger mit seiner Vernunftau�asung
verfolgt, betrachtet werden. In der heutigen Begegnung mit der Vielfalt der Kulturen
wird, so Ratzinger, oft die Meinung ausgedrückt, dass die in der alten Kirche vollzoge-
ne Synthese mit dem Griechentum eine �Inkulturation des Christlichen� gewesen sei.93
Auf sie dürfe man andere Kulturen nicht festlegen. Vielmehr müsse man hinter diese
Inkulturation zurückgehen und die einfache Botschaft des Neuen Testaments hervorhe-
ben, und somit Platz für ein erneutes Inkulturieren scha�en.94 In anderen Worten: Das
Christentum, das sich auf die Hellenisierung stützt95, sei nicht das Christentum der Bi-
bel, sondern eine �Amalgamierung� der Bibel mit griechischer Philosophie.96 Ratzinger
tritt dieser Idee entgegen, da er sie für falsch und ungenau hält. Nach ihm ignoriert
diese These die Tatsache, dass das Neue Testament auf Griechisch geschrieben wurde
und in sich selbst von vornherein die Berühung mit dem griechischem Geist und Denken
trägt, die, wie in dieser Diplomarbeit dargestellt wurde, schon im Alten Testament be-
gonnen hatte und später zur Reife kommt.97 Die Begegnung von griechischem Denken
und biblischem Glauben hatte sich bereits innerhalb der Bibel selbst vollzogen. Manche
Einzelheiten gehören zwar zum Werdeprozess der alten Kirche und sind somit nicht in
alle Kulturen übertragbar, aber �die Grundentscheidungen, die eben den Zusammenhang
des Glaubens mit dem Suchen der menschlichen Vernunft betre�en, [...] gehören zu die-
sem Glauben selbst�.98 Die alte Kirche hat nur jene Begegnung �weiter entfaltet�, und
zwar in konsequenter Weise, da sie im Kern des biblischen Glaubens bereits vorhanden
war.99
Es geht also nicht um kulturelle Partikularitäten, sondern um einen Kerngedanken,
der den christlichen Glauben charakterisiert, um ein für diesen Glauben entscheidendes
Merkmal. Schlüsselwort hier ist nicht �Griechentum�, sondern vielmehr �Aufklärung�,
was natürlich auch zum griechischen Umfeld zurückführt, aber nicht in erster Linie bzw.
nicht nur. Die Suche nach der Vernunft des Glaubens, die Wahrheitsfrage, bildet die �ei-
gentümliche Stellung des Christentums in der geistigen Geschichte der Menschheit�.100
Diese Suche ist selbstverständlich mit der griechischen Philosophie verbunden, sei jedoch
93Ebenda.94Ebenda.95Vgl. Ratzinger, [19] GWT., S. 74. Ratzinger spricht hier von katholisches und östliches Christentum.96Ebenda.97Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 135.98Ebenda.99Ratzinger, [19] GWT., S. 76.100Vgl. Ratzinger, [19] GWT, S. 68.
42
3.5 Hellenisierung des Christentums
zu einer Art Erbe geworden, die jenseits von individuellen Kulturen steht und gerade
deswegen einen Dialog unter ihnen ermöglicht. Man könnte sagen, die Rolle jener Ver-
nunft, für die Ratzinger plädiert, ist Basis für den Dialog der Kulturen. Der antiken
griechischen Philosophie waren die überlieferten Religionen und ihre mythischen Bilder
nicht genug; sie stellte sich die Frage nach der Wahrheit und dem Logos. Die Bibel hält
in derselben Weise den Mensch für wahrheitsfähig und will ihm die Wahrheit erö�nen,
und zwar wie sie in Jesus Christus als Person vor den Menschen steht.101
Die Idee und die Botschaft, die im Hintergrund stehen, überschreiten jede einzelne
Kultur bzw. individuelle Kontexte. Dies reduziert jedoch nicht den Wert der Begegung
zwischen Griechentum und Bibel, die von Ratzinger als providentiell angesehen wird,
als eine Tat der Vorsehung.102 Vielleicht versteckt sich hinter diesem �Detail� (�Detail�,
weil Ratzinger diese letzte Bemerkung in lediglich zwei Sätzen macht) ein sehr wichti-
ger Punkt, der uns hilft, zu verstehen, warum Ratzinger immer wieder jene Vernunft
der Gegenwart kritisiert, die sich der Auseinandersetzung mit der absoluten Wahrheit
entzieht und sich notwendigerweise in einer intrumentellen Logik verfängt.103
101Ebenda, S. 78.102Vgl. Ebenda.103Vgl. Söding, [13] Der Theologe Joseph Ratzinger, S. 21.
43
4 Eine neue Begegnung von Vernunft
und Glauben
Das Verhältnis zwischen dem Vernunftbegri�, von dem im letzten Kapitel die Rede war,
und der Krise, die am Anfang dieser Arbeit besprochen wurde, wird nun immer deutli-
cher. Eine Antwort auf die im ersten Kapitel dargestellte Problematik wurde aber noch
nicht explizit formuliert, und die Aufgabe ist es jetzt, Ergebnisse zu sammeln. Wie kann
man jene �Vernunft� des Gottes als Logos wiederherstellen, wie kann die selbstbeschnit-
tene Vernunft einer verdrehten Aufklärung anders verstanden werden?
Eine erste Formulierung des möglichen Weges aus der Krise der Vernunft �ndet sich
im Text Was die Welt zusammenhält. Vorpolitische moralische Grundlagen eines frei-
heitlichen Staates von Ratzinger. Anlass für diese Schrift war eine Diskussion mit dem
deutschen Philosophen Jürgen Habermas über das Thema, das bereits im Titel ange-
sprochen wird, nämlich die sogenannten vorpolitischen Grundlagen eines freiheitlichen
Staates. Ratzinger überlegt sich zunächst, wie ethische Grundlagen gefunden werden
können, die es ermöglichen, dass die unterschiedlichen Weltkulturen und ihre politischen
und wirtschaftlichen Mächte ihr Miteinander durch eine �rechtlich verantwortete Gestalt
der Bändigung und Ordnung der Macht� führen können.1 Nach einer kurzen Analy-
se gegenwärtiger Probleme � die auch in anderen Texten Ratzingers vorkommt und
ausführlich im ersten Kapitel dieser Arbeit dargestellt wurde � gelangt Ratzinger zum
Thema Terror bzw. Terrorismus und zerstörerisches Potential der heutigen Menschheit.
Es stellt sich die Frage, aus welchen Quellen sich der Terror nährt und wie diese �neue
Erkrankung� gebannt werden kann.2 Eine erste Feststellung ist, dass er unter anderem
durch religiösen Fanatismus gefördert wird. Dies führt wiederum zur Überlegung, ob Re-
ligion eine heilende und rettende Macht, oder ob sie vielmehr archaisch und gefährlich
sei, indem sie durch falsche Universalismen zu Intoleranz und Terror verleite. Wenn diese
1Ratzinger, [23] Säkularisierung, S. 40.2Ebenda, S. 46.
44
4.1 Glaube und Vernunft
zweite Möglichkeit zutri�t, dann müsste die Religion unter die Kontrolle der Vernunft
gestellt und dadurch sorgsam eingegrenzt werden.3
Eine andere Seite der Problematik drängt sich jedoch auf. Der Idee, die Aufhebung
bzw. Überwindung der Religion könne als nötiger Fortschritt der Menschheit in Richtung
Freiheit und Toleranz angesehen werden, kann durch eine weitere Überlegung entgegnet
werden. Denn es gibt auch Gründen für Zweifel an der Verlässlichkeit der Vernunft �
jener �selbstbeschneidenden� Vernunft. Der weitreichende Fortschritt, den der Mensch
mittels der Vernunft und der Naturwissenschaft erreicht hat, hat nicht nur für Gutes,
sondern auch für Bedrohung gesorgt. Atombombe, Menschzüchtung und -selektion (man
denke an gentechnische Experimente) sind auch Produkte der Vernunft.4 Was mittels der
Vernunft schon getan wurde und noch getan werden kann, ist genauso erschreckend und
zerstörerisch als manche Folgen von religiösem Terrorismus. Jetzt kann man den Spieÿ
umdrehen: müsste nicht vielmehr die Vernunft unter Aufsicht gestellt werden? Wenn
ja, dann durch wen oder was? Schlieÿlich stellt sich ein dritter Weg dar, der uns die
Meinung Ratzingers nahelegt: �vielleicht sollten Religion und Vernunft sich gegenseitig
korrigieren und begrenzen�, sich gegenseitig unterstützen und anerkennen.5
4.1 Glaube und Vernunft
Im letzten Kapitel wurde versucht, zu zeigen, wie für Ratzinger das Christentum seit
seinem Ursprung immer mit der Vernunft zu tun hatte, wie der Logos schon immer Teil
seiner Geschichte war. Nun soll gezeigt werden, wie sich beide Seiten der Problematik
� nämlich Vernunft und Glaube � tre�en können, so weit wie möglich ohne auf ge-
schichtliche Wege einzugehen. Somit sollte zumindest eine mögliche Antwort erkennbar
werden, wie die gegenwärtige Krise der Vernunft gelöst werden könnte. Ob sie klar oder
überzeugend ist, wird im letzten Kapitel erörtert werden.
In einer Passage aus Einführung in das Christentum, im Teil mit dem suggestiven
Titel Die Vernunft des Glaubens, bietet Ratzinger eine Art De�nition des Glaubens:
�Das vertrauende Sichstellen auf einen Grund, der trägt, nicht weil ich ihn gemacht und
nachgerechnet habe, sondern vielmehr eben darum, weil ich ihn nicht gemacht habe
3Ebenda, S. 46 f.4Ebenda, S. 47.5Ebenda, S. 48.
45
4.1 Glaube und Vernunft
und nicht nachrechnen kann.�6 Er bedeutet ein �Sichüberlassen� an das, was man nicht
machen kann und nicht machen braucht, �an den Grund der Welt als Sinn�.7 Doch
warnt Ratzinger, dass der Glaube kein �blindes Sichausliefern ins Irrationale hinein� ist.
Ganz im Gegenteil geht es um ein Zugehen auf den Gott, der Logos, der selbst Sinn
und Wahrheit ist.8 Glauben heiÿt ins Verstehen hineingehen; da die Schöpfung aus der
Vernunft kommt und selbst vernünftig ist und der Glaube ihre Vollendung bedeutet,
ist er nach Ratzinger die Tür zum Verstehen.9 Der Glaube kommt, so Ratzinger, von
demjenigen her, der die Vernunft selbst ist. Indem man sich ihm glaubend unterwirft,
weiÿ man, dass man Zugang zum richtigen Verstehen haben kann.10
Jenes Machbarkeitswissen, worauf wir schon gestoÿen sind, begrenzt sich hingegen auf
das Gegebene und Messbare. Es fragt nicht nach der Wahrheit und erreicht seine Erfolge
eben dadurch, dass es auf diese Frage verzichtet. Es beschäftigt sich mit der �Richtigkeit�
und �Stimmigkeit� seines Systems, die sich im Experiment bewähren müssen.11 Indem
man das Sein nicht mehr in sich selbst, sondern in seiner Funktionalisierbarkeit betrach-
tet, ist die Wende zum Machbarkeitswissen möglich. Dies führt zu einer wesentlichen
Veränderung des Wahrheitsbegri�es, da er sich vom Sein trennt und ins Faktum und
Faciendum verlagert.12 Die christliche Glaubenshaltung hat mit Vertrauen, Festigkeit
und Stehen zu tun � der feste Grund für den Menschen und sein Sinn darf nur die
Wahrheit selbst sein, nur sie ist ein angemessener Grund für sein Stehen. Der christliche
Glaube ist wesentlich mit der Überzeugung verbunden, dass der Logos, auf dem man
steht, zugleich sinngebender Grund und Wahrheit ist. Das Wort �Logos� drückt gerade
die Untrennbarkeit von Grund, Sinn und Wahrheit aus, welche das ganze christliche
Weltbild darstellt.13 Somit wird auch sichtbar, dass der Glaube ursprünglich nichts mit
einer �blinde[n] Häufung unverstehbarer Paradoxien� zu tun hat.14 Ferner stellt es sich
als Unfug dar, im Mysterium eine Aus�ucht für das �Versagen des Verstandes� zu su-
chen. Die wahre Idee des Mysteriums ist nicht die Zerstörung des Verstandes, sondern
6Vgl. Ratzinger, [18] Christentum, S. 49.7Vgl. Ebenda.8Ebenda.9Ratzinger, [21] Salz der Erde, S. 35.10Ebenda.11Ratzinger, [18] Christentum, S. 49.12Ebenda.13Ebenda, S. 50.14Ebenda.
46
4.1 Glaube und Vernunft
�ein Glaube als Verstehen�; wo das Gegenteil der Fall ist, besteht nach Ratzinger ein
Missbrauch dieser Idee.15
Der Glaube ist zwar nicht Wissen im Sinn von Machbarkeitswissen, das kann er nie
werden � es wäre nur lächerlich, meint Ratzinger, wenn er sich so zu etablieren versuchte
�; aber umgekehrt ist das berechenbare Machbarkeitswissen wesentlich auf das Erschei-
nende und Funktionierende beschränkt und sagt nicht den Weg zur Wahrheit selbst an.16
Ratzinger behauptet: �Die Form, wie der Mensch mit der Wahrheit zu tun erhält [sic!],
ist nichtWissen, sondern Verstehen: Verstehen des Sinnes, dem er sich anvertraut hat.�17
Verstehen bedeutet wiederum �den Sinn, den man als Grund empfangen hat, als Sinn
zu ergreifen und zu begreifen�.18 Ratzinger fügt noch hinzu, dass die genaue Bedeutung
von �Verstehen� das Anerkennen dessen ist, dass der Grund, auf dem man steht, Sinn
darstellt.19
Wenn diese Grundüberzeugungen angenommen werden, dann folgt, dass Verstehen
keinen Widerspruch zum Glauben darstellt. Das Wissen der Funktionalisierbarkeit, die
die heutige Welt prägt, bringt kein Verstehen; es wächst nur aus Glauben, so Ratzinger.20
Der Gläubige muss in das �Ringen um die Präsenz der Vernunft und des Vernünftigen�
einsteigen, dennoch wissend, dass er die Freiheit der anderen zu achten hat und dass seine
einzige Wa�e letztlich die Vernünftigkeit seiner Argumente ist.21 Theologie, verstanden
als �logoshafte�, d. h. rationale, �vernünftig-verstehende� Rede von Gott, ist daher nach
Ratzinger eine �Uraufgabe� des christlichen Glaubens.22 Wenn es um einen Dialog zwi-
schen Christentum, Religionen und säkularer Gesellschaft geht, müssen Dialogkonzepte
deren Selbstverständnis ernst nehmen und den Ansprüchen der Vernunft genügen, statt
einfach die Wahrheitsfrage aus strategischen Gründen durch die Frage nach der heilen-
den und reinigenden Wirkung von Religion zu ersetzen.23 Allerdings bemerkt Ratzinger:
Verstehen schlieÿt ein, dass unser Begreifen immer wieder überschritten wird und dass
wir zur Erkenntnis unseres Umgri�enseins geführt werden. Verstehen heiÿt also zugleich
15Ebenda.16Ebenda.17Ebenda, S. 51.18Vgl. Ebenda.19Ebenda.20Ebenda.21Ruh, [13] Der Theologe Joseph Ratzinger, S. 126.22Ebenda.23Hoping, Tück, [9] Anstöÿige Wahrheit, S. 17.
47
4.2 Religion und Vernunft
Begreifen unseres Umgri�enseins.24 Wir umgreifen das Verstehen nicht, sondern werden
vielmehr von ihm umgri�en � in diesem Sinn wird von einem Geheimnis gesprochen,
das uns immer vorausgeht und überschreitet. Trotzdem vollzieht sich nach Ratzinger
die Verantwortung des Verstehens gerade in diesem Umgri�ensein. Ohne sie wäre der
Glaube würdelos und müsste sich selbst zerstören.25 Wie Arthur Utz formuliert, ist für
Ratzinger die Vernunft nicht eine autonome Instanz, welche Wahrheit konstruiert, son-
dern vielmehr eine o�ene Potenz, die Wahrheit zu erkennen. Diese Vernunft wird von
einem Glauben gefordert, der nicht diktatorisch, sondern o�en ist. Der Glaube ist nur
richtig, wenn er �zu einer wenigstens rudimentären Einsicht führt�. Des Weiteren sucht
der Glaube als Glaube die Vernunft.26
4.2 Religion und Vernunft
Jenes neuzeitlich-aufklärerische Projekt einer �Religion innerhalb der Grenzen der bloÿen
Vernunft� scheiterte, wie schon bemerkt wurde, nach Ratzinger schnell. Der Grund dafür
ist vor allem, dass diese Religion keine �das Leben tragende Kraft� hatte. Ratzinger
erklärt: Religion braucht zwar zweifellos Einsichtigkeit, aber auch umgekehrt eine gewisse
�Ermächtigung�.27 Der Untergang der antiken Religionen und die Krise des Christentums
in der Neuzeit zeigen, dass sich die Religion au�öst, wenn sie nicht mehr im Gleichgewicht
zu elementaren Gewissheiten einer Weltanschauung steht. Aber sie muss auch �über das
selbst Erdachte� hinausreichen, weil nur so das Annehmen der Forderung, die die Religion
an den Menschen erhebt, möglich ist.28
Ratzinger gesteht ein, dass die Unterscheidung zwischen Religion und Wissenschaft
zwar nötig ist, doch lässt sich diese Unterscheidung nicht �sektorial einengen�, wie es der
Fall ist, wenn sie auf die Ebene des Subjektiven, des Gefühls verlegt wird und wenn ihr
Rationalitätsanspruch abgelehnt wird.29 Ihre Rolle ist, �den Menschen zu seiner Ganz-
heit zu integrieren�30; Gefühl, Verstand, Willen zusammenzubringen und in einander zu
vermitteln; Antwort auf die Herausforderungen von Leben und Sterben, Gemeinschaft
24Ratzinger, [18] Christentum, S. 52.25Ebenda.26Utz, [26] Glaube und demokratischer Pluralismus im wissenschaftlichen Werk von Joseph Kardinal
Ratzinger, S. 18 f. Im Folgenden zitiert als �Glaube und Pluralismus�.27Ratzinger, [19] GWT, S. 115.28Ebenda.29Ebenda.30Ebenda.
48
4.2 Religion und Vernunft
und Person, Gegenwart und Zukunft anzubieten.31 Sie verfährt in Anmaÿung, wenn
sie Probleme lösen will, die ihre eigene Gesetzmäÿigkeit haben, muss aber �zu letzten
Entscheidungen befähigen, in denen immer die Ganzheit des Menschen und der Welt
im Spiele ist�.32 Die Welt von heute, behauptet Ratzinger, ist gerade deswegen in Not,
weil sie sektorial aufgeteilt ist und in vielfältiger Weise denkend und handelnd verfügbar
steht, aber die existentiellen Fragen und die Frage nach Wahrheit und Wert immer mehr
unbeantwortbar bleiben.33 Die Trennung zwischen Vernunft und Gefühl (bzw. dem, was
man aus der Warte jener naturwissenschaftlichen Vernunft unter �Gefühl� versteht), auf
der die Krise der Gegenwart beruht, hat eine Hypertrophie des technisch-pragmatischen
Erkennens zur Folge, die aber wiederum eine �Schrumpfung im Grundlagenbereich� mit
sich bringt.34 Dieser Mangel an Ausgeglichenheit kann sehr gefährliche Implikationen
haben.35 Ratzingers Punkt in der Interpretation von Utz: Wo die Bindung der mensch-
lichen Vernunft an die ewige Vernunft � jenem johanneischen Logos � abgerissen wird,
sucht der Mensch irgendeinen Ersatz, wie etwa den marxistischen Materialismus oder
�moderne Utopien�.36
Die Religion hat trotzdem heute auf keinem Fall abgedankt, so Ratzinger.37 Man
könnte von einer �Hochkonjunktur des Religiösen� sprechen, die jedoch ins Partikulä-
re untergeht, sich von seinen geistigen Kontexten löst und dem Menschen Macht und
Befriedigung der Bedürfnisse verspricht, statt ihn aufzurichten.38 Man sucht dabei das
Irrationale, das Abergläubische und das Magische; es besteht die Gefahr eines Rück-
falls in einen �anarchisch-zerstörerischen� Umgang mit den �verborgenen Mächten und
Gewalten�. �Die bloÿe Ausbreitung religiöser oder religionsartiger Phänomen�, so Rat-
zinger, �ist noch keine Blüte der Religion�.39 Es gibt nicht nur Pathologien der Vernunft,
sondern auch der Religion, und zwar dann, wenn eine �pathologische Verselbständigung
des Gefühls� besteht, die sogar zu so schrecklichen Bedrohungen wie Kriegen und Atom-
bomben beiträgt.40 Der Fundamentalismus isoliert sich von der Vernunft, immunisiert
31Ebenda.32Vgl. Ebenda.33Ebenda, S. 116.34Ebenda.35Ebenda.36Utz, [26] Glaube und Pluralismus, S. 18.37Ratzinger, [19] GWT, S. 116.38Ebenda.39Vgl. Ebenda.40Ebenda, S. 117.
49
4.3 Christentum und Vernunft
sich vor der Kritik und driftet letztlich in die Irrationalität ab.41 So wie der Glaube
erkrankte Formen der Vernunft heilen kann, muss die kritische Vernunft pathologische
Manifestationen der Religion bereinigen. Dieses produktive Wechselverhältnis wäre der
Beitrag des Christentums im Dialog der Religionen.42 Gegen die Versuche, die religiösen
Inhalte zu vergleichgültigen und ein Weltethos zu errichten, das allen Religionen gemein-
sam sein soll, bemüht sich Ratzinger um die Formel �Ohne den rechten Frieden zwischen
Vernunft und Glaube kein Weltfriede�.43 In diesem Punkt warnt Ratzinger: der einzige
Weg scheint zu sein, dass Religion und Vernunft sich wieder tre�en, ohne sich ineinander
aufzulösen.44 Einen Ausweg aus der Krise der Moderne kann es nur geben, wenn sich die
Vernunft wieder an ihre Verwurzelung im religiösen Erbe erinnert. Kirche und Christen
können dabei entscheidende Hilfe leisten, ohne ihre Kompetenzen zu überschreiten oder
Repression auf Staatt und einzelne Menschen auszuüben.45
Die Vernunft hat nach Ratzinger eine �groÿe Anfälligkeit für die Sünde�, das heiÿt, für
die Versuchung der Macht, für die reine Zweckrationalität.46 Deshalb wird eine Reinigung
der Vernunft gefordert � noch präziser: eine Ausweitung der Vernunft, wo sie sich selbst
verengt hat, auf die Gottesfrage und die metaphysischen Wahrheit verzichtet. Umgekehrt
ist jedoch der Glaube, so wie die Menschen ihn leben und verstehen, �nicht eo ipso vor
der Versuchung gefeit�.47 Das Schlüsselwort bleibt Wechselverhältnis.
4.3 Christentum und Vernunft
4.3.1 �Fides et ratio�
Die bekannte schwierige Beziehung zwischen Hans Küng und der Kirche bzw. Ratzinger
geht bereits auf das Ende der 60er-Jahren zurück, als Küng sich über die päpstliche
Unfehlbarkeit äuÿerte und Kritik von vielen Seiten erntete. Unter anderen kritisierte ihn
Ratzinger besonders heftig, was wiederum Küngs Reaktion verursachte und zu weiteren
Unstimmigkeiten zwischen beiden beigetragen hat, die teilweise einen persönlichen Cha-
41Söding, [13] Der Theologe Joseph Ratzinger, S. 21.42Hoping, Tück, [9] Anstöÿige Wahrheit, S. 18.43Vgl. Ebenda.44Ratzinger, [19] GWT, S. 117.45Ruh, [13] Der Theologe Joseph Ratzinger, S. 128.46Ebenda, S. 22.47Vgl. Ebenda.
50
4.3 Christentum und Vernunft
rakter bekamen.48 Die Spannung wuchs in den folgenden Jahren und führte dazu, dass
1979 die Kongregation für die Glaubenslehre Küng für nicht länger quali�ziert erklärte,
�katholischer Theologe zu sein�. Dabei ähnelte der Wortlaut einer früheren Aussage Rat-
zingers, was vermuten lässt, dass er im Voraus über die Entscheidung Bescheid wusste.
Als Folge wurde Küng die missio canonica, d. h. die Genehmigung, an einer päpstlich
anerkannten Einrichtung zu lehren, entzogen. Später verteidigte Ratzinger bei einer Pre-
digt die Maÿnahme gegen Küng.49 Die beiden brachen mit einander.
Vor diesem Hintergrund wurde das mehrstündige Gespräch, das zwischen Papst Be-
nedikt XVI. und Küng 2005 im Palast zu Castel Gandolfo stattfand, im Allgemeinen
als eine Überraschung angesehen. In seinem Artikel �Wie die sich begegnenden Kulturen
ethische Grundlagen �nden können...� wirft der Theologe Karl-Josef Kuschel wichti-
ge Fragen zu dem Kommuniqué dieses Tre�ens auf, die nützlich für das Thema dieser
Diplomarbeit sein können.
Erstens bemerkt Kuschel, dass die Zustimmung des Papstes zu Küng, besonders zu
seinem Buch Der Anfang aller Dinge. Natur Wissenschaft und Religion, nicht zufällig zu
sein scheint.50 Denn in den Schriften beider kommt die gemeinsame Überzeugung vor,
�nur ein wechselseitig kritisches Modell der Zuordnung von Glaube und Vernunft dient
dem recht verstandenen Wohl der Menschen�.51
Zweitens, mitten im Text des Kommuniqués � in Bezug auf Papst Benedikt XVI. �
taucht der Ausdruck �säkulare Vernunft� auf, und zwar ohne diese nichtreligiös orien-
tierte Vernunft abzuquali�zieren.52 Ich zitiere den infrage kommenden Teil: �Der Papst
würdigte positiv das Bemühen von Professor Küng, im Dialog der Religionen wie in der
Begegnung mit der säkularen Vernunft zu einer erneuerten Anerkennung der wesentli-
chen moralischen Werte der Menschheit beizutragen. Er stellte heraus, dass der Einsatz
für ein erneuertes Bewusstsein der das menschliche Leben tragenden Werte auch ein
wesentliches Anliegen seines Ponti�kates darstellt. Ebenso bekräftigte der Papst seine
Zustimmung zu dem Mühen von Professor Küng, den Dialog zwischen Glaube und Na-
48Vgl. Allen, [2] Joseph Ratzinger, S. 112.49Ebenda, S. 113.50Kuschel, [12] �Wie die sich begegnenden Kulturen ethische Grundlagen �nden können...�, S. 31. Im
Folgenden zitiert als �Ethische Grundlagen�.51Vgl. Ebenda.52Ebenda, S. 32.
51
4.3 Christentum und Vernunft
turwissenschaft neu zu beleben und die Gottesfrage dem naturwissenschaftlichen Denken
gegenüber in ihrer Vernünftigkeit und Notwendigkeit zur Geltung zu bringen.�53
Drei Merkmale werden von Kuschel festgestellt: auch dem nichtreligiösen Denken
wird �Vernünftigkeit� zugestanden; auch dem nichtreligiösen Denken können sich religiös-
moralische Werte in ihrer �überzeugenden Sinnhaftigkeit� zeigen; es gibt auch für das
nichtreligiöse Denken gültige Maÿstäbe, die mit religiös-moralischenWerten übereinstim-
men können.54 Nicht nur der Inhalt dieser drei Punkten ist interessant, sondern auch
die Fragestellung selbst � was die Beziehung zwischen Religion und einer säkularen,
nicht-positivistischen Vernunft sei. Das Verhältnis zu jener gegenwärtigen, beschränk-
ten Vernunft ist uns mittlerweile schon klar. Es kann aber auch noch eine andere Art
von säkularer Vernunft geben, eine nicht unbedingt religionsfeindliche. Dazu merkt Ku-
schel an, dass im päpstlichen Text im Kommuniqué �spalterische Wertungen� verhindert
werden und dass beiden, christlichem Glauben und säkularem Denken, ihre eigene Ver-
nünftigkeit zugestanden werden.55 Das für die Neuzeit (Aufklärung) charakteristische
gegenseitige Abquali�zieren von Vernunft und Glaube hat dort keinen Raum. Vielmehr
darf der christliche Glaube das säkulare Denken nicht als �gottlos� verachten und die
�säkulare Vernunft� den christlichen Glauben nicht als irrational.56
Ob Kuschel für die Begründung seiner Feststellungen auch andere Schriften Ratzin-
gers im Auge hatte, ist zumindest im betre�enden Artikel nicht angedeutet. Es scheint
sinnvoll, zu bemerken, dass manche seiner Aussagen weit über den Text des Kommuni-
qués hinausgehen und eine gewisse Extrapolation des Inhaltes voraussetzen, obgleich sie
passend und korrekt zu sein scheinen. Es sind auf jeden Fall wichtige Überlegungen, die
anschlieÿend von einem weiteren interessanten Hinweis ergänzt werden.
Als Hintergrund für den Text Ratzingers weist Kuschel auf die Enzyklika Fides et
ratio von Papst Johannes Paul II. hin.57 Es wird angedeutet, dass diese Enzyklika �sich
wesentlich der denkerischen Gestaltung Ratzingers verdankt�.58 Ratzinger hat sich auf
jeden Fall mehrmals über die Enzyklika geäuÿert und sie scheint groÿteils im Einklang
mit seiner Vernunftau�assung zu stehen. Die Enzyklika wurde 1998 verö�entlicht und
thematisiert die Beziehung zwischen Glauben und Vernunft.
53Ebenda, S. 28.54Ebenda, S. 32.55Ebenda.56Ebenda.57Vgl. auch [4] Dialog der Wissenschaften, S. 97.58Vgl. Ebenda.
52
4.3 Christentum und Vernunft
Die Hauptthese lautet: Glaube und Vernunft widersprechen sich nicht und sollen ge-
meinsam in Dienst der (Suche nach der) Wahrheit stehen. Der ganze Text bemüht sich
darum, zu zeigen, wie sowohl Glaube und Vernunft im Allgemeinen als auch spezi�sch
Theologie und Philosophie sich vereinen können und sollen, zugunsten der Wahrheit.
So heiÿt es zum Beispiel gegen Ende der Enzyklika: �die Kirche hält zutiefst an ihrer
Überzeugung fest, dass sich Glaube und Vernunft ,wechselseitig Hilfe leisten können', in-
dem sie füreinander eine Funktion sowohl kritisch-reinigender Prüfung als auch im Sinne
eines Ansporns ausüben.�59 Es ist bemerkenswert, dass die Formulierung der Passage in
Dialektik der Säkularisierung sehr ähnelt, auf die am Anfang des Kapitels eingegangen
wurde.60 Papst Johannes Paul II. merkt dazu noch an, dass Philosophie und Theolo-
gie ein gemeinsames Ziel teilen61, sowohl in Hinsicht auf einen Weg zu Gott als auch
im Dialog mit Nicht-Christen und säkularen Menschen, wobei Philosophie und Theo-
logie sich bemühen sollten, einen Ansatz zu entwickeln, der auch für diese Menschen
verständlich und annehmbar ist.62 Auch wenn der Glaube sich nicht auf die Vernunft
stützt, kann er sicher nicht auf sie verzichten; zugleich ist für die Vernunft notwendig,
dass sie vom Glauben Gebrauch macht, um �die Horizonte zu entdecken, die sie allein
nicht zu erreichen vermöchte�.63
Es wird auch betont, dass die Wahrheit, die in Jesus Christus von Gott o�enbart
worden ist, nicht in Widerspruch zu der Wahrheit steht, zu der man durch die Philoso-
phie gelangt. Die Wahrheit, die aus der O�enbarung stammt, ist zugleich eine Wahrheit,
die im Lichte der Vernunft verstanden werden muss.64 Die These der Hellenisierung des
Christentums kommt wieder vor, wenn auch in eher unterschwelliger Form. Es wird von
einer �Annäherungsbewegung der Christen an die Philosophie� gesprochen65, von einer
�kritischen Übernahme des philosophischen Denkens seitens der christlicher Denker�.66
Der Papst gibt Beispiele und erörtert das Tre�en von christlichem Glauben, den Kirchen-
vätern und griechischer Philosophie sowie die damalige Aufgabe einer Entmythologisie-
59Vgl. Johannes Paul II., [10] Fides et Ratio, S. 53.60Vgl. Ratzinger, [23] Säkularisierung, S. 46 �. und 57.61Johannes Paul II., [10] Fides et Ratio, S. 9.62Ebenda, S. 54.63Vgl. Ebenda, S. 35.64Ebenda, S. 19.65Ebenda, S. 20.66Vgl. Ebenda, S. 21.
53
4.3 Christentum und Vernunft
rung.67 Auch die spätere Kritik Ratzingers an der Enthellenisierung des Christentums68
ist bereits in Fides et Ratio sichtbar. Der Papst betont, dass die Begegnung zwischen
frühem Christentum und griechischer Philosophie prinzipiell auch anders hätte ablau-
fen können. Des Weiteren hindert die Verkündigung des Evangeliums auf keinen Fall
den Empfänger daran, seine kulturelle Identität zu bewahren. Die einzige Voraussetzung
und zugleich Garantie für die Zugehörigkeit im Christentum ist der Glaube an Christus.
Das Christentum ist durch eine Universalität ausgezeichnet, die jede Kultur aufneh-
men kann und an keinen Hellenismus gebunden ist.69 Jedoch, so behauptet der Papst,
darf die Kirche ihr aus der Inkulturation ins griechisch-lateinische Denken resultieren-
des Erbe nicht vergessen, wenn sie Kontakt mit anderen Kulturen herstellt, mit denen
sie noch nie in Berührung gekommen ist. Die Ablehnung dieser Vergangenheit �würde
dem Vorsehungsplan Gottes zuwiderlaufen, der seine Kirche die Straÿen der Zeit und
der Geschichte entlangführt�.70 In der Enzyklika taucht auch eine Charakterisierung der
�Krise der Gegenwart� auf, die sehr ähnlich zu der Ratzingers ist. Papst Johannes Paul
II. drückt seinen Eindruck aus, dass �vor allem in unserer Zeit die Suche nach der letzten
Wahrheit oft getrübt erscheint�. Einerseits gesteht er der modernen Philosophie zu, dass
sie die Vernunft bei ihrem Streben unterstützt hat, ihre Erkenntnisse weiterzuentwickeln
und ihre Aufmerksamkeit auf den Menschen konzentrieren zu helfen.71 Ähnliches gesteht
Ratzinger der Aufklärung zu.72 Andererseits kritisiert Papst Johannes Paul II. die Tat-
sache, dass diese Vernunft immer mehr Kriterien pragmatischer und empirischer Natur
verwendet, die zur irrigen Überzeugung führen, dass alles von der Technik beherrscht
werden muss. Anstatt der legitimen Pluralität von Denkpositionen kommt ein indi�e-
renter Pluralismus vor, und in der heutigen Welt kann man ein verbreitetes Misstrauen
gegenüber der Wahrheit feststellen. Dieses Misstrauen hat die philosophische Sphäre
überschritten und breitet sich auf allgemeine Lebensbereiche des Menschen aus. Er ist
sich seiner �groÿartigen Erkenntnisfähigkeiten� nicht mehr bewusst.73
Bei Johannes Paul II. �ndet man auch eine direkte Kritik am �Szientismus� (im Sinne
von Positivismus und Neopositivismus). Diese philosophischen Au�assungen ordnen, so
67Vgl. Ebenda, S. 19 � 23.68Vgl. Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 135.69Johannes Paul II., [10] Fides et Ratio, S. 37.70Vgl. Johannes Paul II., [10] Fides et Ratio, S. 38 und Ratzinger, [19] GWT, S. 78.71Johannes Paul II., [10] Fides et Ratio, S. 3.72Vgl. Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 81.73Ebenda, S. 3 f.
54
4.3 Christentum und Vernunft
Johannes Paul II., jegliche religiöse und theologische Erkenntnis der Sphäre der Phanta-
sie zu. Sie behaupten, Aussagen metaphysischen Charakters seien sinnlos. Werte werden
als Produkte des Gefühls betrachtet und nur die reine Tatsächlichkeit scheint bei die-
sen Philosophien Platz zu haben. Die unbestreitbaren Erfolge der Naturwissenschaften
und der modernen Technologie haben zur Verbreitung dieser Theorie beigetragen. �Al-
les, was die Frage nach dem Sinn des Lebens betri�t, [wird] vom Szientismus in den
Bereich des Irrationalen oder Imaginären verwiesen.74� Auch im naturwissenschaftlichen
Bereich wird eine positivistische Denkweise festgestellt, die sich nicht nur komplett von
der christlichen Weltanschauung distanziert hat, sondern auch � jeden Hinweis auf die
metaphysische und moralische Sicht fallen [lieÿ]�.75 Im allgemeinen bedeutet dies ein
�verbreitetes Misstrauen gegen die umfassenden und absoluten Aussagen�.76
Ein weiterer Vorwurf ist, dass das moderne philosophische Denken sich dermaÿen von
der christlichen O�enbarung abgewendet hat, dass die beiden heutzutage klare Gegen-
pole darstellen.77 Den Höhepunkt dieser Bewegung sieht Papst Johannes Paul II. im 19.
Jahrhundert; er erwähnt den Idealismus und den Versuch, den Glauben und seine Inhal-
te in �rational fassbare dialektische Strukturen� umzuwandeln. In ähnlicher Weise hatte
auch Ratzinger den Idealismus kritisiert, jedoch nicht ganz explizit.78 Es wird auch von
verschiedenen Formen eines atheistischen Humanismus gesprochen, die den Glauben als
ein Hindernis für die volle Entwicklung der Vernünftigkeit ansehen. Diese präsentieren
sich oft als neue Religionen und dienen teilweise als Basis für totalitäre Systeme.79 Der
Papst warnt weiter: Eine Philosophie, die sich nicht mehr für die Frage des Sinns des
Daseins interessiert, läuft Gefahr, �die Vernunft zu rein instrumentalen Funktionen zu
degradieren, ohne jegliche Leidenschaft für die Suche nach der Wahrheit�.80
Aus diesen Au�assungen resultiert dem Papst zufolge ein allgemeiner Nihilismus, das
heiÿt, eine Ablehnung jeder Grundlage und die Leugnung jeder objektiven Wahrheit
zugleich.81 Einige Philosophen haben aufgegeben, �die Wahrheit um ihrer selbst willen
zu suchen�, und das einzige Ziel scheint die subjektive Gewissheit und die praktische
Nützlichkeit zu sein. Es wird eine fortschreitende Trennung zwischen Glauben und (phi-
74Ebenda, S. 47.75Vgl. Ebenda, S. 25.76Vgl. Ebenda, S. 30 und Ratzinger, [19] GWT, S. 187.77Ebenda, S. 25.78Vgl. Ratzinger, [18] Christentum, S. 119 f.79Johannes Paul II., [10] Fides et Ratio, S. 25.80Vgl. Ebenda, S. 43.81Ebenda, S. 48.
55
4.3 Christentum und Vernunft
losophischer) Vernunft herausgestellt. Dabei warnt Johannes Paul II., dass ohne den
Beitrag der O�enbarung die Vernunft Gefahr läuft, ihr letztes Ziel aus dem Blick zu
verlieren; umgekehrt kann der Glaube ohne die Vernunft kein universales Angebot mehr
sein.82
Im Einklang mit Ratzinger83 drückt Papst Johannes Paul II. die Notwendigkeit aus,
dass Glaube und Philosophie ihre tiefe Einheit wiedererlangen sollen, was aber auch
heiÿt, das ihre Autonomie geachtet wird und dass sie ihrem eigenen Wesen treu bleiben.84
Auch wenn die Theologie philosophische Argumente und Begri�e verwendet, muss die
Autonomie des Denkens respektiert werden. Dieser Gedanke darf jedoch nicht zu einer
�getrennten� Philosophie führen, wie sie von einigen modernen Philosophen vertreten
wird. Berechtigte Autonomie ist nicht gleich unzuverlässige Unabhängigkeit des Denkens.
Die Beiträge der göttlichen O�enbarung zu verweigern bedeutet �sich zum Schaden der
Philosophie den Zugang zu einer tieferen Wahrheitserkenntnis zu versperren�.85
Papst Johannes Paul II. hält an der Überzeugung fest, dass es eine legitime Erkennt-
nis auÿerhalb der Erkenntnissphäre menschlicher Vernunft gibt, das ist der Glaube, �der
sich auf das Zeugnis Gottes gründet und der übernatürlichen Hilfe der Gnade bedient�,
der von einer anderen Ordnung als die philosophische Erkenntnis ist, jedoch immer noch
�Erkenntnis� ist.86 Der Zusammenhang zwischen dieser Erkenntnis und der Vernunft-
erkenntnis wird zunächst von Papst Johannes Paul II. erläutert. Ähnlich formuliert wie
in den Schriften von Ratzinger, stellt Johannes Paul heraus, dass die Besonderheit des
biblischen Textes in der Überzeugung besteht, dass zwischen Vernunft- und Glaubenser-
kenntnis �eine tiefe, untrennbare Einheit besteht�. Der Glaube ermöglicht, dass der Ver-
stand sich o�en macht und die tätige Gegenwart der Vorsehung entdeckt.87 Diese For-
mulierung und auch die Erwähnung der Weisheitsbücher erinnern auch an den Text
Ratzingers.88
Zunächst scheint es empfehlenswert zu sein, einen Blick auf einen Text zu werfen, den
Ratzinger speziell über die Enzyklika Fides et Ratio geschrieben hat. Die Verknüpfungs-
punkte zwischen der Enzyklika und seinen Überzeugungen sind dort klarer sichtbar.
82Ebenda, S. 26.83Vgl. Ratzinger, [19] GWT, S. 117.84Johannes Paul II., [10] Fides et Ratio, S. 26.85Vgl. Ebenda, S. 39.86Ebenda, S. 5 f.87Ebenda, S. 10.88Vgl. Ratzinger, [19] GWT, S. 121.
56
4.3 Christentum und Vernunft
Ratzingers Argumentation geht tatsächlich teilweise über die Gedanken hinaus, die sich
in der Enzyklika be�nden.
Die selbstverständliche Wichtigkeit der Wahrheitsfrage für das Christentum wird von
Ratzinger hervorgehoben, wenn er sagt, dass sie gemeinsam mit der Liebe die Grundka-
tegorie der christlichen O�enbarung ist und dass die Universalität des Christentums von
ihr abhängig ist.89 Deswegen fährt Ratzinger fort und behauptet, im Anschluss an die
Enzyklika, dass es keinen Gegensatz bzw. keine Trennung zwischen christlichem Glauben
und menschlicher Vernunft geben kann, da beide auch in ihrem Unterschiedensein in der
Wahrheit vereint sind und eine signi�kante Rolle im Dienst an ihr haben.90
Wie zuvor schon angedeutet, übt die Enzyklika, ähnlich wie Ratzinger, Kritik an
gegenwärtigen Tendenzen, die die Fähigkeit der menschlichen Vernunft, die Wahrheit
erkennen zu können, ablehnen. Ratzinger betont, dass die Enzyklika auf die Krisenssi-
tuation der Gegenwart reagiert und energisch die �metaphysische Fähigkeit� der Vernunft
wieder in den Vordergrund stellt, die eine notwendige Tatsache des Glaubens ist.91 Wenn
aber die Art von Philosophie negiert wird, die kein Ohr für die Beiträge der Religion
und für religiöse Inhalte hat, und von �christlicher Philosophie� gesprochen wird, warnt
Papst Johannes Paul II., dass es wohl nicht heiÿt, die Kirche weise auf eine �o�zielle
Philosophie� hin.92 Diese Tatsache bekräftigt Ratzinger und behauptet, dass der christli-
che Glaube kein System ist, dass er nicht wie ein geschlossenes Denkgebäude dargestellt
werden kann.93 Er fügt jedoch hinzu, dass die christliche Lehre nicht die Durchsetzung
eines bestimmten philosophischen Systems, sondern einer recta ratio fordert � das heiÿt,
�eine gerade ausgerichtete philosophische Vernunft�.94 Diese recta ratio entspricht keiner
bestimmten Philosophie, drückt vielmehr �den wesentlichen Kern und die unverzichtba-
ren Eckpfeiler der rationalen Wahrheit des Seins, der Erkenntnis und des moralischen
Handelns des Menschen� aus.95 Diese kommen wiederum aus der Vielfalt von Philoso-
phien und Kulturen und dienen als Beurteilungskriterium verschiedener Aussagen der
philosophischen Systeme.96
89Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 13.90Ebenda.91Ebenda, S. 16.92Johannes Paul II., [10] Fides et Ratio, S. 39 f.93Ratzinger, [19] GWT, S. 118.94Vgl. Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 18.95Ebenda.96Ebenda.
57
4.3 Christentum und Vernunft
In diesem Kontext wird nochmals der Einklang zwischen Ratzingers Au�assung und
der Enzyklika evident. Gerade das, was Ratzinger mit der Theorie der Hellenisierung des
Christentums zeigen wollte, taucht in der Enzyklika bündig formuliert auf: Die christli-
che O�enbarung ist selbst der Vergleichs- und Verknüpfungspunkt zwischen Philosophie
und Glauben.97 Ratzinger betont die Bemühung Papst Johannes Pauls II. in der Enzy-
klika, die Wechselseitigkeit von Philosophie und Theologie au�eben zu lassen: ohne eine
gesunde Philosophie ist die Theologie zu jenen Denkformen der Postmoderne verurteilt,
die auf die Wahrheitsfrage verzichten; ihrerseits sollte die Philosophie �eine ständig gülti-
ge Tradition� auch als Option sehen und die Dimension der Weisheit und der Wahrheit,
auch der metaphysischen, in ihrem Denken wieder ermuntern.98
Ein letzter Punkt ist die Überzeugung Ratzingers, die Enzyklika antworte auf die wich-
tigste Herausforderung der heutigen Zeit, nämlich den Sinn der Freiheit.99 Er benutzt
eine Passage von Johannes Paul II. � �Wahrheit und Freiheit verbinden sich entweder
miteinander oder sie gehen gemeinsam elend zugrunde�100 � als Anlass für eine weitere
Überlegung zu dem Thema101. Ratzinger stellt fest, dass sich die Idee der Freiheit sukzes-
siv zu vollständiger Autonomie hin entwickelt hat. Sie scheint unvereinbar mit der Idee
einer absoluten und unbedingten Wahrheit. Eine der Folgen ist, dass das Ziel der kultu-
rellen und philosophischen Re�exionen und der sozialen Bemühungen eine �realisierbare
ö�entliche Zustimmung� ist. Das heiÿt, man sucht lediglich einen gemeinsam Bereich
oder eine Plattform, wo ethische oder allgemein menschliche Werte vereinbart werden
können, um die herum sich ein Konsens bilden lässt. Darin besteht das Ziel, nicht in der
Zustimmung zur oder in der Suche nach der Wahrheit.102 Doch stellt Ratzinger heraus,
dass Fides et Ratio diese �Beschränktheit der Vernunft und der Freiheit� überwindet und
die untrennbare Verbindung zwischen Freiheit und Wahrheit aufzeigt.103 Freiheit heiÿt
nicht, gleichgültige, austauschbare Entscheidungen zu tre�en; sie ist auf ein �erfülltes
Lebens� ausgerichtet, das man mit der Ausübung der Freiheit, �aber in ,richtiger Weise'
(recta ratio) erobern muss�.104
97Johannes Paul II., [10] Fides et Ratio, S. 42.98Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 18.99Ebenda, S. 19.100Johannes Paul II., [10] Fides et Ratio, S. 48.101Vgl. die Erörterung, die im ersten Kapitel in zusammengefasster Form dargestellt wurde, aus Rat-zinger, [19] GWT, S. 187 � 208.102Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 19.103Ebenda.104Vgl. Ebenda.
58
4.3 Christentum und Vernunft
Ratzinger fasst zuletzt die Enzyklika und ihre Wichtigkeit zusammen: die Enzyklika
ist deswegen aktuell, weil sie zeigen will, dass der christliche Glaube � das Annehmen
der Wahrheit Gottes, die sich in Christus o�enbart � weder für die Vernunft noch für
die Freiheit eine Bedrohung ist.105 Vielmehr schützt der Glaube die Vernunft, weil er
fragende und forschende Menschen braucht.106 Was tatsächlich den Glauben hindert, ist
nicht das Fragen selbst, sondern jene Einstellung, die nicht zum Fragen bereit ist und
die Wahrheit für etwas Unerreichbares oder für �nicht der Mühe wert� hält. In diesem
Sinn ist es falsch zu behaupten, dass der Glaube die Vernunft zerstören könnte.107
4.3.2 Religio vera
Wir haben im zweiten Kapitel gesehen, wie Ratzinger sich darum bemüht, zu zeigen,
dass sich das Christentum seit seinem Anfang als Religion des Logos darstellte, als eine
vernunftgemäÿe Religion. Nun betont er, dass das Christentum sich immer neu dar-
an erinnern muss, dass es auch heute eine Religion des Logos ist. Der Glaube an den
Schöpfergeist, von dem alles Wirkliche stammt und der sich als Logos bezeichnet, muss
heute die philosophische Kraft des Christentums sein.108 Meier-Hamidi merkt dazu an,
dass diese feste Überzeugung Ratzingers von seinen Väterstudien herrührt, wobei es
klar erschien, wie sehr es zur Glaubwürdigkeit und zum Glauben der Kirchen beigetra-
gen hat, dass im Gefolge paulinischer und johanneischer Theologie kein Gegensatz zur
Philosophie aufgebaut, sondern der Anspruch dargelegt worden ist, das Christentum sei
die �wahre Religion� und �wahre Philosophie�.109 Ratzinger betont immer wieder, dass
das Christentum seine Vorläufer prinzipiell nicht in den anderen Religionen der antiken
Welt, sondern in der philosophischen Aufklärung gehabt hat. Die Stimme der Vernunft,
behauptet Ratzinger, war aber allzu sehr �domestiziert�, wenn auch die Suche nach Ver-
nünftigkeit schon immer zum Christentum gehörte. Es war und ist ein Verdienst der Auf-
klärung, �diese Ursprungswerte des Christentums neu aufgenommen und der Vernunft
ihre eigene Stimme wieder gegeben zu haben�.110 So eine �innere Korrespondenz� von
Christentum und Aufklärung zeigt auf einen Weg zur wirklichen Versöhnung zwischen
Kirche und Moderne. Sie beruht auf einem gemeinsamen, groÿen Erbe, das anscheinend
105Ebenda, S. 20.106Ebenda.107Ebenda.108Ebenda, S. 80 f.109Vgl. Söding, [13] Der Theologe Joseph Ratzinger, S. 22.110Vgl. Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 81.
59
4.3 Christentum und Vernunft
beide Seiten aufgegeben haben.111 Schlieÿlich lautet das Programm, mit dem die dem
biblischen Glauben verp�ichtete Theologie am �Disput der Gegenwart� teilnimmt: �Mut
zur Weite der Vernunft, nicht Absage an Ihre Gröÿe.� An dieser Stelle wiederholt Rat-
zinger: �Nicht vernunftgemäÿ, nicht mit dem Logos zu handeln ist dem Wesen Gottes
zuwider.�112
Zurückkommend zum Thema �Aufklärung� behauptet Ratzinger, dass der christliche
Glaube seine Vorgeschichte in den ersten Jahrhunderten vielmehr in der Aufklärung,
d. h. in der �Bewegung der Vernunft gegen eine zum Ritualismus tendierende Religion�
gesucht hat. Die Vätertexte weisen im Original nicht auf Religionen hin, sondern auf
die Philosophie � es wurde früher in dieser Arbeit das Beispiel der Auseinandersetzung
Augustinus' mit Varro dargestellt. Die Philosophie z. B. von Sokrates, den Ratzinger
als �gleichzeitig Gottsucher und Aufklärer� bezeichnet, wird für eine �fromme Aufklä-
rung� gehalten.113 Die Tatsache, dass der christliche Glaube Aufklärung und Religion
nicht trennt, hat ihm eine ganz eigentümliche Stellung in der geistigen Geschichte der
Menschheit verliehen, so Ratzinger.114 Dieser Glaube, der aus dem Glauben Abrahams
gewachsen ist, hält an der Wahrheitsfrage fest, die alle Menschen angeht. Sein Wille zur
Rationalität, der zugleich immer die Vernunft zu einer Selbstüberschreitung drängt, liegt
gemäÿ Ratzinger im Wesen des Christentums.115
Das Christentum bleibt auch heute �Aufklärung� aufgrund seiner Option für den Pri-
mat der Vernunft, so Ratzinger. Eine Aufklärung, fährt er fort, die diese Option be-
streiten sollte, stellt in Wirklichkeit keine Evolution dar, sondern eine Involution der
Aufklärung.116 Zudem bemerkt er, dass philosophische und wissenschaftliche Au�assun-
gen, die eine schöpferische Vernunft bzw. eine vernünftige Ordnung als Anfang von allem
leugnen und sich als Vernunft präsentieren, noch immer nichts anderes können als auch
vernünftig das Unvernünftige zu denken � �womit sie implizit doch wieder den eben
geleugneten Primat der Vernunft aufrichte[n]�.117
Diese Orientierung der christlichen Religion an einer vernünftigen Sicht der Wirklich-
keit, wie Ratzinger den �Primat der Vernunft� weiter erklärt, hat aber eine andere Seite,
111Ebenda.112Vgl. Ebenda, S. 137.113Ratzinger, [19] GWT, S. 67 f.114Ebenda, S. 68.115Ebenda.116Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 41.117Vgl. Ebenda.
60
4.3 Christentum und Vernunft
und zwar das Ethos und seine konkrete Anwendung � der sogenannte Primat der Lie-
be.118 Primat des Logos und Primat der Liebe erwiesen sich in der frühen Christenheit
als identisch, was zur Einsichtigkeit des Christentums im Kontext der Krise der Göt-
ter und der antiken Aufklärung beigetragen hat. Der Logos, das haben wir im zweiten
Kapitel gesehen, erschien nicht nur als mathematische Vernunft, sondern auch als schöp-
ferische Liebe. Der �kosmische� und der �existentielle� Aspekt der Religion trafen sich
und wurden ein Einziges, so Ratzinger.119
Hingegen wird, behauptet Ratzinger, jede Erklärung des Wirklichen, die ein Ethos
nicht sinnvoll und einsichtig begründen kann, notwendigerweise ungenügend bleiben.120
Die Evolutionstheorie, zum Beispiel, hat versucht, das Ethos evolutionär neu zu begrün-
den. Dieses evolutionäre Ethos beruht jedoch entscheidend auf dem Modell der Selektion,
das heiÿt dem Kampf ums Überleben, dem Sieg des Stärkeren und erfolgreicher Anpas-
sung. Es hat, so Ratzinger, �wenig Tröstliches zu bieten�. Trotz der Versuche, diese
Theorie sozusagen zu verschönern, stellt sich dieses Ethos noch immer als ein grausames
dar � es handelt sich um Bemühungen, �aus dem an sich Vernunftlosen das Vernünftige
zu destillieren�, die nach Ratzinger o�enbar scheitern. Die Menschen brauchen vielmehr
eine Ethik des universalen Friedens, der praktischen Nächstenliebe und der Überwindung
des Eigenen, wozu die Evolutionstheorie zu wenig beitragen kann.121
In der heutigen Krise der Menschheit besteht also nach Ratzinger das Bedürfnis, dem
Begri� des Christentums als religio vera wieder einen einsichtigen Sinn zu geben.122 So
wie im frühen Christentum wird man unter diesem Ausdruck verstehen müssen, dass
Liebe und Vernunft als �Grundpfeiler des Wirklichen� zusammenfallen. In ihrer Einheit
und im Verständnis, dass die wahre Vernunft die Liebe und die Liebe die wahre Vernunft
ist, liegt nach Ratzinger der wahre Grund und das Ziel von allem.123
Der Begri� �religio vera� ist im Kapitel 2 dieser Diplomarbeit schon vorkommen und
soll nun etwas genauer erklärt werden. So schreibt Ratzinger, dass das Christentum
seit der Areopagrede des heiligen Paulus mit dem Anspruch auftritt, die religio vera
zu sein.124 Dies will sagen, dass (nach Augustinus und der für ihn maÿgebenden bibli-
118Ebenda.119Ebenda.120Ebenda, S. 42.121Ebenda.122Ebenda.123Ebenda.124Ebenda, S. 29.
61
4.3 Christentum und Vernunft
schen Tradition) das Christentum �nicht auf mythischen Bildern und Ahnungen [beruht],
deren Rechtfertigung schlieÿlich in ihrer politischen Nützlichkeit liegt�; es handelt sich
vielmehr um jenen Gott, jenes Göttliche, das �die vernünftige Analyse der Wirklichkeit
wahrnehmen kann�.125 Wie wir im ersten Kapitel dieser Arbeit gesehen haben, identi�-
ziert Augustinus bei seiner Auseinandersetzung mit Varro den biblischen Gottesglauben
mit jener theologia naturalis, das heiÿt, mit der philosophischen Aufklärung. Somit wird
zugleich behauptet, dass der christliche Glaube nicht auf Poesie und Politik beruht, son-
dern auf Erkenntnis.126 Er verehrt � jenes Sein, das allem Existierenden zugrunde liegt�.127
Im Gegensatz zu den antiken Religionen, die viele Götter angebetet haben und die mit
�Gewohnheit� oder reiner Lebensgestaltungsweise zu tun hatten, verehrt der biblischen
Glaube nicht einen Gott unter Göttern, sondern den �wirklichen Gott�.128
In diesem Kontext geht es um den Sieg des Christentums über die heidnischen Reli-
gionen, der vor allem durch den Anspruch seiner Vernünftigkeit ermöglicht wurde. Wie
Meier-Hamidi erklärt, steht �wahre Religion� für � jene Religion und Philosophie, die der
Wahrheit die Ehre gebe und sich nicht damit begnüge, Traditionen zu p�egen und Pietät
anzumahnen, sondern zum Verstehen, zur Überzeugung, zur Bekehrung anleite�. Dies be-
dingt wiederum nicht �naiven Vernunftoptimismus�, sondern ist nach Meier-Hamidi für
das ökumenische Gespräch von groÿer Bedeutung.129
4.3.3 Dialog?
Zum Abschluss dieses Kapitel soll ein hilfreicher, kritischer Kommentar des Theologen
Karl-Heinz Menke130 besprochen werden, der zugleich einen Übergang zum vierten und
letzten Kapitel, das der Kritik an Ratzinger gewidmet ist, herstellt.
Menke drückt zunächst seine �Faszination� beim Lesen der Einführung in das Chris-
tentum aus, seine Begeisterung angesichts Ratzingers starker Betonung der Rationalität
des christlichen Glaubens.131 Er beschreibt und diskutiert dann die kritische Rezension
des Theologen Walter Kasper zum oben erwähnten Buch Ratzingers und die Reaktion
125Vgl. Ebenda.126Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 29.127Vgl. Ebenda.128Vgl. Ebenda.129Söding, [13] Der Theologe Joseph Ratzinger, S. 22.130Menke, [14] Wahrheit und Geschichte, Theorie und Praxis. Im Folgende zitiert als �Wahrheit undGeschichte�.131Ebenda, S. 40 f.
62
4.3 Christentum und Vernunft
darauf.132 Menke spricht vom Vorwurf Kaspers �einer quasi hegelianischen Aufhebung
des Geschichtlichen in das Vernünftige bzw. Notwendige�133, bzw. �einer geradezu hege-
lianischen Identi�zierung des Geschichtlichen mit dem Notwendigen bzw. des Glaubens
mit der Liebe�134.
Menke geht dann kurz auf die Gegenargumente Ratzingers ein und stellt schlieÿlich
fest, dass das eigentliche Problem bei der Kontroverse zwischen den beiden Theologen
ein erkenntnistheoretisches ist.135 Anschlieÿend wird die Position Ratzingers erörtert.
Sie stellt sich zunächst als Ergänzung bzw. Korrektur einer der Ansichten Kaspers dar.
Es gebe nach Kasper �weder für den einzelnen Gläubigen, noch für die Gemeinschaft
der Gläubigen (Kirche) einen anderen Zugang zu Christus als über den von der Schrift
bezeugten Jesus der Geschichte�.136 Menke behauptet, Ratzinger hätte dem prinzipiell
zustimmen können, doch mit der zusätzlichen Anmerkung, dass nicht die Re�exion der
Exegeten, sondern das Lehramt der Kirche entscheidet, ob ein Dogma mit dem Glaubens-
bewusstsein der Urkirche übereinstimmt.137 Die Exegese könne solche Entscheidungen
vorbereiten, verfügt aber selbst über kein eigenes Wahrheitskriterium.138
Bei dieser auf den ersten Blick rein theologischen Diskussion wird dann das erkennt-
nistheoretische Problem graduell sichtbar. Menke bringt ein Zitat Ratzingers ein, in dem
dieser die These kritisiert, dass �das geistig erhellte Ich des Menschen� der Sprache trans-
zendentallogisch vorausliege und es deshalb so etwas wie das Wahrheitskriterium aller
hermeneutischen Bemühungen der Theologie sei.139 Ratzinger fährt fort und behaup-
tet, dass der �Versuch einer streng autonomen Vernunft, die vom Glauben nichts wissen
will�, letztlich nicht gelingt, dass die menschliche Vernunft gar nicht autonom ist und die
�geschichtliche Hilfe� braucht, um über �geschichtliche Sperren� hinwegzukommen.140
Nun fügt Menke hinzu: die von Ratzinger gemeinte �geschichtliche Hilfe� sei der Glau-
be der römisch-katholischen Kirche.141 Im zitierten Vortrag spreche Ratzinger diesem
und keinem anderen Glauben die Fähigkeit zu, �die Vernunft zu sich selbst zu bringen�.
132Siehe ebenda, S. 41�45.133Ebenda, S. 42.134Ebenda, S. 41.135Ebenda, S. 46.136Vgl. Ebenda, S. 45.137Ebenda, S. 45 f.138Ebenda, S. 46.139Ebenda, S. 47.140Ebenda.141Ebenda.
63
4.3 Christentum und Vernunft
Es wird behauptet, dass �das geschichtliche Instrument des Glaubens [...] die Vernunft als
solche wieder freimachen [kann], so dass sie nun [...] wieder selber sehen kann�.142 Dabei
stellt sich aber nach Menke eine Schwierigkeit dar: Einerseits spreche Ratzinger von einer
�Befreiung der Vernunft zu sich selbst�, andererseits aber erkläre er jede Autonomie der
Vernunft als Illusion.143 Der Autor suggeriert, dass Ratzinger eine vom �linguistic turn�
bestimmte Theologie vermeiden will, gleichzeitig aber unkritisch voraussetzt, dass �einzig
und allein die von der Kirche vergegenwärtigte Tradition der Vernunft aller Menschen
aller Zeiten die eine Wahrheit schenkt�.144 Folgende Frage drängt sich nach Menke auf:
Wird die Vernunft durch die Tradition der Kirche erst konstituiert, oder ist sie befähigt,
Rechenschaft über den Glauben an Jesus als den Christus abzulegen?145 Menke bringt
die Interpretation des Theologen Klaus Müller ein, die besagt, dass Ratzinger weder die
Geschichtlichkeit des Christusereignisses ausreichend berücksichtigt noch die Wahrheits-
fähigkeit des menschlichen Erkennens genügend würdigt.146 Müller wirft Ratzinger eine
Art Fideismus vor: Ratzinger verteidige einen �Primat des Hörens auf die Tradition, für
den Autorität und Wahrheit so gut wie in eins fallen�.147
In Menkes abschlieÿenden Bemerkungen wird konstatiert, Ratzinger plädiere für eine
Vernunft, die sich als Alternative zur autonomen Vernunft der von Descartes begonne-
nen Subjektphilosophie der Aufklärung und des Deutschen Idealismus darstellen wolle.
Ratzinger plädiere des Weiteren für einen konsequenten Primat der Praxis vor der Theo-
rie.148 Dennoch erkläre er kaum, �warum die christliche Tradition die Wahrheit sei, die
sich nicht nur de facto gegenüber allen anderen Sinnentwürfen, Weltanschauungen und
Religionssystemen durchsetzen�149 werde. In diesem Zusammenhang drückt Menke seine
Ansicht aus, die Zukunft des Christentums und seiner Theologie werde davon abhängen,
�ob es gelingt, im Dialog mit den anderen Weltreligionen, aber auch mit den Natur- und
Humanwissenschaften, die Frage nach dem Wahrheitskriterium neu zu bedenken�.150 Er
142Vgl. Ebenda.143Ebenda, S. 48.144Vgl. Ebenda.145Ebenda.146Ebenda, S. 49.147Vgl. Ebenda. Die Begründung Müllers für seine Position kommentiert Menke nicht weiter.148Ebenda, S. 62.149Ebenda, S. 63.150Vgl. Ebenda.
64
4.3 Christentum und Vernunft
bemerkt: Eine Sprache, die nur �Insider� verstehen, kann nie als Grundlage für einen
Dialog verwendet werden.151
151Ebenda.
65
5 Kritik
In den vorherigen Kapiteln wurde die Position Ratzingers zum Verhältnis von Glauben
und Vernunft ausführlich dargestellt. Einige kritische Kommentare von anderen Autoren
sollen nun aber auch noch eingebracht werden. Es gibt sicherlich genug Autoren, die in
ihren Arbeiten der Philosophie und Theologie Ratzingers zustimmen und sie zu �vertei-
digen� versuchen, doch hier werden vorwiegend kritische Texte herangezogen, um einen
Vergleich und einen Kontrast anzubieten. Die hier zitierten Texte und Autoren spiegeln
nur einen Teil aller verfügbaren Literatur zu Joseph Ratzingers Philosophie wider � viele
unterschiedliche Reaktionen werden dennoch sichtbar: Kritik aus religiöser, theologischer
und philosophischer Perspektive; Stellungnahme derer, die sich von Ratzinger kritisiert
fühlen; radikale Kritik, die sich nicht auf einige Aspekte der Arbeiten Ratzingers bezieht,
sondern ein prinzipielles Problem in seinem Denken ortet.
5.1 Paolo Flores D'Arcais
Im Buch Gibt es Gott? kann man ein im Jahr 2000 stattgefundenes Gespräch zwischen
dem politischen Theoretiker und Philosophen Paolo Flores d'Arcais und Joseph Rat-
zinger nachlesen. In einem moderierten Dialog beantworten beide gestellte Fragen und
gehen teilweise auf die jeweiligen Argumente des anderen ein.
Flores D'Arcais scheint zunächst für eine Art Christentum bzw. Religion zu plädieren,
die sich damit zufrieden gibt, �Ärgernis für die Vernunft� zu sein. Die Art des Glaubens,
der einer anhängt, behauptet er, sei essentiell für ein auf Toleranz und Respekt gegründe-
tes Zusammenleben; so glaubt er, dass ein angeblich für die erste Generation von Chris-
ten charakteristischer Glaube � das heiÿt ein �credo quia absurdum�, eine sogenannte
�Ärgernis für die Vernunft� � keinen Kon�ikt zwischen Gläubigem und Nicht-Gläubigem
verursachen könne, da �ein Glaube dieser Art sich nicht aufzwingen, sondern [...] nur
66
5.1 Paolo Flores D'Arcais
respektiert sein [will]�.1 Wenn aber der Glaube, so wie vermutlich im Programm Ratzin-
gers, �die summa von Vernunft und Menschsein�, die �Zusammenfassung und Vollendung
der Vernunft� sein will, berge sich darin die Gefahr, dass dieser Glaube sich aufzwin-
gen wolle, auch mit Hilfe des säkularen Staates. Denn, erklärt Flores d'Arcais, �wer mit
den Geboten des Glaubens und vor allem mit den moralischen Konsequenzen dieses
Glaubens in Kon�ikt gerät, geriete dann auch in Kon�ikt mit der Vernunft und dem
Wesen des Menschen�.2 Daraus würde folgen, dass jeder, der gegen die Anschauungen
der Kirchen verstöÿt, auÿerhalb der Rationalität und der Menschheit steht.3 Wenn der
Glaube beansprucht, so Flores d'Arcais, nicht nur Glaube, sondern auch �Vollendung der
Vernunft� zu sein, können unlösbare Kon�ikte entstehen.4
Gemäÿ Flores d'Arcais zeigt die Lektüre der frühchristlichen Schriften, dass für die
ersten Christen nicht die Vernunft, sondern der Glaube ihre Überzeugungen bestimmte.
Dies stand, fährt er fort, in grundsätzlichem Widerspruch zu dem, was den Menschen
der Zeit als vernunftgemäÿ erschien.5 Das wesentliche Element des frühen Christentums
sei gerade jenes �Ärgernis�, eine �Torheit�, die mit dem Anerkennen des Glaubens als
Recht zu tun habe und dennoch im Widerspruch zur Vernunft stehe.6 Ein Dialog mit
den antiken Philosophen sei so lange möglich gewesen, als von einem einzigen Gott die
Rede war; sobald es um die Auferstehung der Toten ging, haben die Philosophen kein
Interesse mehr, denn das sei für die Vernunft bloÿe Torheit.7
Flores d'Arcais macht auch eine Unterscheidung zwischen �schlechter� und �guter�
Aufklärung. Er bezieht sich im Gespräch auf Enzykliken von Papst Johannes Paul II., in
denen dieser die Aufklärung kritisiert. Anlass dafür ist der im Gespräch vorausgehende
Punkt Ratzingers, in dem er behauptet, das Christentum wolle im Sinne Sokrates und der
Propheten des Alten Testaments Aufklärung sein.8 Die schlechte Aufklärung entspreche
nach Flores d'Arcais der Tradition, die von Voltaire ausgeht und die man heute als Auf-
klärung versteht � diejenige Aufklärung, die für den Individualismus verantwortlich sei
und bei der nach Papst Johannes Paul II. der Verlust einer absoluten Wahrheit beginnt.9
1Vgl. Flores d'Arcais, Ratzinger, [7] Gibt es Gott?, S. 22.2Vgl. Ebenda.3Vgl. ebenda, S. 51.4Ebenda, S. 64.5Ebenda, S. 24.6Ebenda, S. 25.7Ebenda.8Vgl. Ebenda, S. 30 f.9Ebenda, S. 33.
67
5.2 Hermann Häring und Hans Albert
Die gute Aufklärung, von der Ratzinger spreche, sei �historisch kaum auszumachen� und
vollkommen in der Minderheit geblieben.10
5.2 Hermann Häring und Hans Albert
Hermann Häring ist emeritierter Professor für Theologie und Wissenschaftstheorie der
Universität Nijmegen. In seinem 2001 erschienenen Buch Theologie und Ideologie bei Jo-
seph Ratzinger und bei anderen Gelegenheiten übt er schärfste Kritik an Ratzinger. Ein
au�älliges Merkmal ist, dass er sich im Vergleich zu anderen Autoren �leidenschaftlicher�
gegen Ratzinger wendet. In seiner Rezension zu Theologie und Ideologie bei Joseph Rat-
zinger 11 beschreibt Klaus Berger den Text Härings als �schulmeisterisch, allzu erkennbar
ressentimentgeladen� und meint, dies fällt letztlich auf Häring zurück. Einerseits hat, so
Berger, viel von seiner Kritik an Ratzinger eine Art Gegene�ekt und wird vielmehr zum
Lob am Kardinal; andererseits wird Härings Versuch, Nachweise für die Unfähigkeit, ja
sogar Dummheit Ratzingers Satz für Satz zu �nden, �Sandkastenniveau� zugeschrieben.
Obwohl ich hier die folgenden Argumente Härings (so wie später die von Hans Albert)
nicht weiter kommentiere, möchte ich mich der Kritik Bergers anschlieÿen und meine
Überzeugung ausdrücken, dass seine und Hans Alberts Texte bei der reinen Kritik blei-
ben und nicht weiter helfen. Von einer besseren Alternative ist nicht die Rede.
Ein erster Punkt weist auf Ratzingers Kritik an der Moderne und der heutigen Kultur
hin. Wir haben gesehen, dass die Kritik teilweise so formuliert wird: Die Erkenntnis und
Formulierung der Wahrheit wird für unmöglich gehalten, und somit werden nicht nur
die Grundfesten des Christentums angegri�en, sondern auch dessen Wahrheitsanspruch.
Das Schlüsselwort lautet �Relativismus�. Dieses Wort, so Häring, wird vom Vatikan seit
der Zeit von Papst Pius IX. zur Bennenung der oben beschriebenen modernen Haltung
vor der Wahrheit verwendet. Häring fährt dann fort und behauptet, es habe zwar eine
philosophische Strömung des Relativismus gegeben, aber die Denker, gegen die Ratzinger
und der Vatikan Vorwürfe erheben, lassen sich nur selten dieses �Etikett� anhaften.12
Auÿerdem wirft Häring Ratzinger vor, dass er bei seiner Kritik nur Richtungen an-
deutet. Sätze oder Ideen, auf die hingewiesen wird oder die zitiert werden, werden, so
10Ebenda.11Vgl. Berger, Klaus. [3] Selber, selber!.12Häring, [8] Theologie und Ideologie, S. 41.
68
5.2 Hermann Häring und Hans Albert
Häring, nicht genau untersucht oder di�erenziert.13 Besonders die Feststellung Härings,
dass Ratzinger nicht einmal einen repräsentativen Denker der Moderne oder des 20.
Jahrhunderts zitiert, hat groÿes Gewicht.14 Er fragt sich dabei, ob ausschlieÿlich anti-
ke Autoren deswegen zitiert werden, weil die Kenntnisse Ratzingers von Zeitgenossen
begrenzt seien.15
In einer Anmerkung im ersten Kapitel wurde schon auf die Tatsache hingewiesen,
dass die vielen Texte, in denen Ratzinger über die Krise der Gegenwart spricht, in einem
Zeitraum von ungefähr 40 Jahren verfasst worden sind. Die Kritik kommt bereits in
Einführung in das Christentum aus dem Jahr 1968 vor und taucht in Schriften von 1998,
2004 und 2006 � der berühmten Regensburger Rede � in fast gleicher Form wieder auf.
Nach Häring zeigt sich nicht etwa, dass sich die Krisensituation einfach nicht verbessert
hat, sondern dass Ratzinger das Thema �als dogmatisches behandelt�, da er dabei keine
Di�erenzierung hinzufügt oder spätere Forschungen berücksichtigt.16
Vor allem diagnostiziert Häring ein �uneingeschränktes Lob der Aufklärung sowie die
auÿerordentliche Hochschätzung von Verstand und Rationalität�.17 Besonders im Auge
hat Häring den im Jänner 2000 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienenen Ar-
tikel Der angezweifelte Wahrheitsanspruch. In diesem bemerkt Ratzinger, dass die philo-
sophische Grundlage des Christentums durch das �Ende der Metaphysik� problematisch
geworden ist, und dass infolgedessen eine generelle Skepsis gegenüber dem Wahrheits-
anspruch der Religion weiter untermauert wurde.18 Ratzinger wiederholt seine Kritik an
den positiven Wissenschaften und am heutigen Denken, die jeden Versuch, �Metaphysik�
statt �positive� Theorien ins Spiel zu bringen, für einen Rückfall hinter die Aufklärung
halten.19 Häring kritisiert, dass Ratzinger den komplizierten Begri� �Metaphysik� höchst
allgemein mit dem Glauben an einen letzten Sinn identi�ziere.20 Metaphysik abzulehnen
heiÿe, nicht an einen letzten Sinn der Wirklichkeit zu glauben. Die Alternative zu Me-
taphysik, fährt Häring vor, laute Nihilismus.21 Häring lehnt solche Gedanken energisch
ab und meint, es sei eine unannehmbare Simpli�kation, ein �Ja zum Verünftigen und
13Ebenda, S. 42.14Ebenda, S. 43.15Ebenda.16Ebenda, S. 44.17Vgl. Ebenda, S. 45.18Ratzinger, [16] Wahrheitsanspruch, S. 1.19Ebenda, S. 3.20Häring, [8] Theologie und Ideologie, S. 46.21Ebenda.
69
5.2 Hermann Häring und Hans Albert
Sinnvollen� ohne weiteres mit �Metaphysik� zu identi�zieren. Er hält daran fest, man
könne auch ohne Metaphysik im strengen Sinn und auÿerhalb ihrer bejahen, dass die
Welt sinnvoll ist.22
Weiter hält es Häring für banal, zu behaupten, letzte Wahrheitsfragen werden heute
nicht mehr gestellt.23 Er behauptet, dass die Stärke Ratzingers immer darin bestanden
hat, komplexe Zusammenhänge einfach und durchsichtig auf den Punkt bringen zu kön-
nen; zugleich warnt er, dass eine groÿe Gefahr darin bestehe, aus der Konzentration
Simpli�kation, aus der Kritik Ideologie zu machen.24
Auch einer der wichtigsten Punkte der Logostheorie Ratzinger fällt unter die Kritik
Härings. Er legt nahe, Ratzinger wolle den Logos im ersten Vers des Johannesprologs,
den Logos des Beginns, unkritisch als Metaphysik identi�zieren.25 Ratzinger habe in Hin-
blick auf Metaphysik �Johannes mit Platon und Aristoteles verwechselt�.26 Nach Häring
behauptet Ratzinger, dass man den �Logos� des Johannesevangeliums mit �Vernunft�
oder �Rationalität� identi�zieren muss und dass �Dissidenten� mit der Kritik an meta-
physischen Systemen die Grundlage des Christentums aufgeben � was ein �starkes Stück
Geschichtsklitterung, Verfälschung unserer Denkgeschichte� bedeute.27 Er behauptet,
die Diskussion über die Herkunft und Bedeutung des Johannesprologs sei noch lange
nicht ausgestanden, und dass die Meinungen abweichen, ob in ihm ein hellenistischer
Ein�uss sichtbar sei. Seine philosophische Herkunft und A�nität sei, so Häring, stark
anzuzweifeln.28
Häring greift einen zweiten Zeitungsartikel auf, nämlich Das Christentum wollte im-
mer mehr sein als nur Tradition, ein 2000 erschienenes Interview von der Frankfurter
Allgemeine Zeitung mit dem damaligen Kardinal Ratzinger. Wieder kritisiert Häring die
angebliche Allgemeinheit der Aussagen und das Fehlen von Belegen für die Behauptun-
gen Ratzingers; er wirft ihm vor, dass kein einziger Theologe direkt kritisiert wird, und
dass alle, die sich auf die Neuzeit oder die Modern einlassen, �einem allgemeinen Verdikt�
verfallen.29 Bereits die erste Frage im Artikel ist für Häring problematisch: Er stellt die
Frage, was ein �postmoderner schwacher Vernunftbegri�� sei und kritisiert die Verwen-
22Ebenda, S. 47.23Ebensa, S. 48.24Ebenda.25Ebenda, S. 49.26Vgl. Ebenda.27Ebenda.28Ebenda, S. 49.29Ebenda, S. 178.
70
5.2 Hermann Häring und Hans Albert
dung des Begri�es.30 Des Weiteren stellt er eine angebliche Schlussfolgerung Ratzingers
dar, die er für unhaltbar erachtet: Aus der Feststellung, kraft hellenistischen Denkens
habe sich im christlichen Glauben die Suche nach der Wahrheit durchgesetzt, lasse sich
ableiten, das Christentum sei �in einem absoluten Sinn� die �wahre Religion�.31
Ein letzter Punkt hat mit Härings Überzeugung zu tun, dass Ratzinger in seinen
Schriften immer wieder �kleinere oder gröÿere Untergangsszenarios� entwickelt.32 Mal
behaupte Ratzinger, dass die Gesellschaft ihre zentralen Werten aufgibt, mal sage er,
dass die Theologie �auf die schiefe Bahn� gerät, mal gehe es sogar um den Untergang des
Abendlands.33 Häring behauptet, solche Katastrophenszenarien seien irreal und Ratzin-
ger weise �dafür allen anderen Kräften die Schuld zu auÿer der katholischen Kirche�.34
Er gesteht der Argumentation Ratzingers zwar ein gewisses Recht zu und sagt, er sei
in seiner Au�assung korrekt, dass die Fortschritte der Neuzeit auch katastrophale Aus-
wirkungen gehabt haben.35 Dann wirf Häring jedoch ein, Ratzinger sei dem Gegenteil
verfallen: Seine �Ideologie des Verfalls� habe als einzige Lösung die Rückkehr zu den
Ursprüngen Europas, zu einer hellenistisch geprägten Kultur, �in der die katholische
Kirche die einzig gültige Wahrheit gebracht und in eine sakrale, eine kulturelle und in
eine politische Wirklichkeit umgesetzt hat.�36
Der Soziologe und Philosoph Hans Albert hat der Kritik Ratzingers ebenso ein ganzes
Buch gewidmet, nämlich Joseph Ratzingers Rettung des Christentums.37 Viele Punkte
haben mit Ratzingers Argumentationsweise zu tun, die Albert oft für verwirrend hält; er
wirft ihm vor, unterschiedliche Begri�e oft ohne weiteres gleich zu setzen und kritisiert
manche Schlussfolgerungen. Der Hauptpunkt bei seiner Kritik ist: Obwohl Ratzinger
ständig die zentrale Rolle der Vernunft für den christlichen Glauben betont, plädiere er
de facto für Beschränkungen des Vernunftgebrauchs, die diesen Glauben gegen mögli-
30Ebenda.31Ebenda, S. 178 f. Ich glaube, Häring hat dabei eine Passage aus dem anderen oben erwähnten Artikel
Ratzingers, �Der angezweifelte Wahrheitsanspruch� im Auge, denn der Ausdruck �wahre Religion� �religio vera � taucht nicht im Interview auf. Vgl. Ratzinger, [16] Wahrheitsanspruch, S. 1 bzw. Ratzinger,[19] GWT, S. 136 f. oder Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 29.32Vgl. Häring, [8] Theologie und Ideologie, S. 188.33Ebenda.34Vgl. Ebenda, S. 190.35Ebenda.36Vgl. Ebenda.37Albert, [1] Joseph Ratzingers Rettung des Christentums. Im Folgenden zitiert als �Rettung des
Christentums�.
71
5.2 Hermann Häring und Hans Albert
che Kritik schützen sollen.38 Dieser Vorwurf scheint er auf Theologen im Allgemeinen
auszuweiten.39
Zunächst scheint ihm Ratzingers Kritik der Aufklärung problematisch. Er wirft ein,
dass seine und ähnliche theologische Argumentationen einen Rückfall in ein Denken mit
sich ziehen, das sich nicht ernsthaft mit Einwänden beschäftigt, die aus dem Erkenntnis-
fortschritt der Wissenschaften resultieren.40 Nach Albert lässt Ratzinger Resultate der
historischen Forschung nur dann gelten, wenn sie für seine Zwecke nützlich seien.41 Er
scheint auch dahingehend zu interpretieren, dass Ratzingers Programm die modernen
Wissenschaften einem Pragmatismus zu opfern impliziert, sodass sie �als bloÿe Werkzeu-
ge der praktischen Lebensbewältigung� behandelt würden und �für den Aufbau unseres
Weltbildes nicht in Betrachte kämen�.42 Er scheint davon überzeugt zu sein, dies sei eine
�willkürliche Einschränkung des Vernunftgebrauchs zur Vermeidung möglicher Kon�ik-
te�.43
Albert kommentiert dann die Unterscheidung zwischen Wissen und Glauben in �Ein-
führung in das Christentum�, wobei Wissen als �Machbarkeitswissen� charakterisiert
wird.44 Ratzingers Behauptungen (etwa die Beschreibung von �Sinn� und was christli-
cher Glaube bedeute) betrachtet Albert skeptisch; er glaubt, Ratzinger konfrontiere den
Leser mit einer Reihe von Behauptungen, ohne zu argumentieren, warum sie akzeptiert
werden sollten.45 Albert wirft Ratzinger (auch in anderen Passagen) ein Begründungs-
problem vor.46
Der Soziologe behauptet auch, die Kritik Ratzingers an der modernen Wissenschaft
könne nur deswegen plausibel scheinen, weil Ratzinger von einem Zerrbild der wissen-
38Ebenda, S. 8.39Ebenda.40Ebenda, S. 15.41Ebenda, S. 59.42Vgl. Ebenda, S. 19.43Vgl. Ebenda. Ich möchte dazu lediglich eine persönliche Anmerkung machen: Hans Albert zeigt zwar
zahlreiche Probleme in der Argumentation Ratzingers auf, doch den Hauptvorwurf, der die �willkürlicheEinschränkung des Vernunftgebrauchs� betri�t und als Anlass für sein Buch gesehen werden kann, habeich nicht einsehen können. Nach über hundert Seiten habe ich nicht verstehen können, was der Autordamit meint, auÿer dass er nicht in diesem oder jenem konkreten Element im Denken Ratzingers einProblem sieht, sondern in seiner ganzen Theologie und Philosophie im Allgemeinen.44Vgl. Ratzinger, [18] Christentum, S. 48�52.45Albert, [1] Rettung des Christentums, S. 29.46Ebenda.
72
5.3 Regensburger Rede
schaftlichen Forschung ausgehe.47 Weiters argumentiert er dafür, dass die Evolutionslehre
und eine Zurückweisung jeder Metaphysik keinesfalls unbedingt verbunden seien.48
Ein besonders problematischer Punkt ist für Albert die Feststellung, dass Ratzinger
gar nicht auf das Theodizeeproblem eingeht.49 Dies hält Albert für eine äuÿerst wichtige
Frage, und dass Ratzinger kaum etwas dazu sagt, erscheint ihm �geradezu skandalös�.50
Ein weiterer und letzter Punkt ist eine von Albert festgestellte Unzulänglichkeit bei
einer Passage in Dialektik der Säkularisierung. Dort betont Ratzinger �die faktische
Nicht-Universalität der beiden groÿen Kulturen des Westens, der Kultur des christli-
chen Glaubens wie derjenigen der säkularen Rationalität�.51 Albert behauptet, dass die
zuletzt genannte, die Kultur der säkularen Rationalität, soweit die Rede von Wissen-
schaft ist, �inzwischen nahezu universale Geltung� erreicht habe, was die Formulierung
Ratzingers unverständlich mache.52 Während die religiösen Weltanschauungen mitein-
ander streiten, habe sich das wissenschaftliche Denken in der ganzen Welt durchgesetzt,
so Albert.53
5.3 Regensburger Rede
Als Reaktion zur 2006 in Regensburg gehaltenen Rede des Papstes Benedikts XVI. ist
ein riesiges Medienecho entstanden. Mehr oder minder heftige Äuÿerungen von ver-
schiedenen Seiten haben für Kontroversen und unter anderem auch dafür gesorgt, dass
einzelne Passagen des Textes hervorgehoben wurden, ohne den Gesamtzusammenhang
zu berücksichtigen. Aus diesen Gründen scheint es unzuverlässig, sich auf Medienberich-
te oder einzelne abgesonderte Auseinandersetzungen zu stützen. Für den nächsten Teil
der Diplomarbeit wurden daher zwei Sammelbände ausgewählt, die Sto� für eine kriti-
sche, wissenschaftliche Erörterung der Rede anbieten: Die Religionen und die Vernunft
und Die �Regensburger Vorlesung� Papst Benedikts XVI. im Dialog der Wissenschaften,.
47Ebenda, S. 40. Ähnliches � obgleich nicht in so �aggressiver� Weise � behaupten Rolf Busse undHans Rott anlässlich ihrer Kritik an der Regensburger Vorlesung. Vgl. Busse, Rott, [4] Dialog derWissenschaften, S. 86�99 und die Diskussion später in dieser Diplomarbeit.48Albert, [1] Rettung des Christentums, S. 41.49Ebenda, S. 12 und 70.50Vgl. Ebenda, S. 70.51Vgl. Ratzinger, [23] Säkularisierung, S. 54.52Albert, [1] Rettung des Christentums, S. 96.53Ebenda.
73
5.3 Regensburger Rede
Sie fassen die Ansichten unterschiedlicher Autoren aus verschiedenen Fachbereichen zu
Ratzingers Rede zusammen.
Wenden wir zunächst die Aufmerksamkeit einigen Autoren aus dem ersten Band, Die
Religionen und die Vernunft, zu. Der Philosoph und islamische Gelehrter Aref Ali Nayed
repräsentiert eine muslimische Stimme. Zunächst klärt er einige Missverständnisse in
Bezug auf den Islam und diskutiert religiöse Aspekte der Rede. Er richtet die Aufmerk-
samkeit auf die Art von Beratung in Sachen des Islams, die Papst Benedikt XVI. zur
Verfügung steht und kritisiert den Zusammenhang zwischen dem mittelalterlichen Dia-
log und der Hauptlinie der Rede als �künstlich und entlegen�.54 In diesem Kontext macht
er noch andere wichtige Kommentare, doch scheint es sinnvoll, sich auf die Bemerkun-
gen, die für das Thema dieser Diplomarbeit relevant sind, zu konzentrieren. Diese haben
mit Implikationen der Theorie der Hellenisierung des Christentums zu tun. In Bezug
auf die Passage, in der Ratzinger vom heiligen Paulus und von den Mazedoniern spricht,
meint Ali Nayed, der Kontrast Asien�Mazedonien werde zur �Legitimierung der befremd-
lichen Behauptung einer ,von innen her nötigen' Annäherung von biblischem Glauben
und griechischen Fragen� herangezogen.55 Dies führe zu einem Eurozentrismus, wonach
das Christentum seinen Platz in Europa und nicht in Asien, durch die europäische und
nicht durch die asiatische Vernunft �ndet.56 Die Fragwürdigkeit einer solchen Deutung
sei aufgrund der daraus folgenden Abwertung nicht griechischer und nicht europäischer
Versionen des Christentums o�ensichtlich, so Ali Nayed. Ihm zufolge beansprucht diese
Au�assung, also vermutlich die von Ratzinger, einen allgemeinen und zugleich spezi�sch
griechischen Vernunftbegri�, nach dem die Vernunft schlieÿlich rein christlich gedacht
wird.57
Zudem behauptet er auch, dass in der Rede Europa als der singuläre Ort aufgefasst
wird, an dem die groÿe Synthese aus Christentum und Vernunft entstanden ist. Diese
Synthese sei zugleich identisch mit der europäischen Kultur.58 Ali Nayed beurteilt die
angebliche Parallelisierung kritisch: �Europa ist christlich-griechisch und rational, und
das Christentum ist europäisch-griechisch und rational�.59 Daraus folge, dass alle nicht
europäischen und nicht christlichen Elemente auszuschlieÿen seien, was die These von
54Vgl. [27] Die Religionen und die Vernunft, S. 23.55Ebenda, S. 33.56Ebenda.57Ebenda, S. 34.58Ebenda, S. 36.59Vgl. Ebenda.
74
5.3 Regensburger Rede
einem �barbarischen� und nicht europäischen Wesen des Islam nur bestärke.60 Auÿerdem
sei dieses für die Rede grundlegende Bild selbstgerecht und übersehe viele schmerzvolle
historische Fakten.61
Ein anderer Punkt ist der von Ali Nayed konstatierte problematische Versuch, vom
�Wesen� Gottes und von �Vernünftigkeit� und �Unvernünftigkeit� zu sprechen. Er stellt
die Frage, welche Vernunft es wäre, von der die Rede ist. Ginge es um eine menschli-
che Erkenntnisfähigkeit, welche Art von Erkenntnis wäre dann gemeint: eine kognitive,
emotive oder spirituelle? Oder wäre die Vernunft �eine Art ontologischer Mittler oder
Emanation�?62
Über die vom Papst beschriebene Verbindung zwischen der Aussage von Kaiser Manuel
Paleologos II. und dem Johannesprolog bemerkt Ali Nayed, dass die Idee einer �Vernunft,
die schöpferisch ist und sich mitteilen kann�63 nahe bei Johannes sei. Aber diese Idee ent-
spreche nicht dem, was die griechischen Philosophen unter �Vernunft� gemeint haben.64
Ali Nayed behauptet, für diese Philosophen sei die Vernunft mit reiner Kontemplation
verbunden, nicht mit schöpferischer Tätigkeit; sie habe mit Selbstmitteilung zu tun.65
Der Synthese von biblischem Glauben und griechischer Vernunft werde bei Ratzinger
nach Ali Nayed absolute Bedeutung zugeschrieben; sie sei der Kulminationspunkt einer
Entwicklung, durch die �allen anderen Ausdruckswegen von Religiosität die Position des
Subsumierten und Überholten� zugewiesen werde.66 Er schreibt den Aussagen des Paps-
tes einen �erstaunlich hegelianischen� Charakter zu67 � der biblische Glaube habe einen
�mühsamen� und �verschlungenen� Weg genommen, um in die johanneische Synthese zu
münden.68 Obwohl er dies nicht weiter kommentiert, fügt er hinzu: �im Licht der kumu-
lativ verfügbaren Erkenntnisse historisch-kritischer Forschung muten Aussagen, dass der
biblische Glaube in einer griechisch-christlichen Synthese kulminiert, befremdlich an�.69
60Ebenda, S. 37.61Ebenda, S. 29.62Vgl. Ebenda, S. 31.63Vgl. Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 128.64[27] Die Religionen und die Vernunft, S. 32.65Ebenda.66Ebenda, S. 35.67Der Vorwurf eines angeblichen �Hegelianismus� taucht auch bei der Rezension Walter Kaspers zum
Buch Einführung in das Christentum auf, obgleich aus unterschiedlichen Gründen. Vgl. Menke, [14]Wahrheit und Geschichte, S. 41 f. Michael Schulz hat ebenso ein Artikel geschrieben, in dem vermeint-lichen Kontaktpunkte zwichen Hegels und Ratzingers Denken bzw. hegelsche Elemente im DenkenRatzingers erörtert werden. Vgl. Schulz, [25] Grenzgänge des Denkens.68Ebenda, S. 33.69Vgl. Ebenda.
75
5.3 Regensburger Rede
Auch der Philosoph Jürgen Habermas, der bereits selbst ein Gespräch mit Ratzinger
geführt hatte, hat sich zur Rede geäuÿert. Er behauptet, der Papst habe mit der Rede
eine negative Antwort auf die Frage gegeben, �ob sich die christliche Theologie an den
Herausforderungen der modernen, der nachmetaphysischen Vernunft abarbeiten muss�.70
Habermas widerlegt auch manche Schlussfolgerungen Ratzingers: Duns Scotus und der
Nominalismus führen nicht nur zum Bild eines Willkür-Gottes, sondern ebnen auch den
Weg zur modernen Wissenschaft; Kant führe nicht nur zur Kritik der Gottesbeweise,
sondern auch zum Autonomiebegri�, der das moderne Verständnis von Recht und De-
mokratie erst möglich gemacht habe; der Historismus führe nicht notwendig zu einer
�relativistischen Selbstverleugnung der Vernunft�, sondern mache uns für die kulturellen
Unterschiede sensibel und vermeide eine �Überverallgemeinerung von kontextabhängiger
Urteile�.71
Schlieÿlich ergänzt Knut Wenzel, Professor für systematische Theologie, den von Rat-
zinger formulierten Gedanken einer Begegnung von christlichem Glauben und griechi-
scher Vernunft. Wenzel bemerkt dazu, dass was in der griechischen Vernunftgestalt Rat-
zingers Aufmerksamkeit auf sich zieht, nicht in einer bestimmten Denkschule oder -
tradition innerhalb des ganzen Raums des griechischen Denken zu suchen sei, sondern
in einem allgemeinen Merkmal jenes Denkens, in einer charakteristischen, spezi�schen
Vernunftkompetenz. Diese beschreibt Wenzel als eine Kompetenz dieser Vernunft, sich
auf sich selbst zu beziehen, sich selbst thematisieren, sich selbst kritisieren, korrigieren
und auf diese Weise weiter entwickeln, weiter ,aufklären' zu können.72 Wenzel bezeich-
net die griechische Rationalität als Rationalität der Selbstkorrektur.73 Dieser Gedanke
könnte die Wichtigkeit der griechischen Philosophie für Ratzinger weiter erklären.
Der zweite Sammelband, Die �Regensburger Vorlesung� Papst Benedikts XVI. im Dia-
log der Wissenschaften74, bringt verschiedene Fachbereiche der Universität Regensburg
zur Diskussion der päpstlichen Rede zusammen. Dabei werden hier nur diejenigen Kom-
mentare, die Nützliches für diese Diplomarbeit anbieten, dargestellt. Zunächst stellt
Sigmund Bonk, Professor für Philosophie, einige interessante Überlegungen an. Obwohl
Bonk selbst seine Antwortversuche auf die Frage, was Papst Benedikt XVI. genau mit
70Vgl. Ebenda, S. 56.71Vgl. Ebenda.72Ebenda, S. 108.73Ebenda.74Im Folgenden zitiert als �Dialog der Wissenschaften�.
76
5.3 Regensburger Rede
einer �(Wieder-) Erö�nung der Vernunft zu ihrer ganzen Weite� meint, von vornherein
als �verfehlt� kennzeichnet75, scheinen sie sinnvolle Bemerkungen zu enthalten.
Eine der Antwortmöglichkeiten lautet: Der Vernunftbegri� der Naturwissenschaften
soll mittels einer �rehellenisierten� bzw. �reaugustinisierten� Philosophie und vor allem
Theologie ergänzt werden.76 Diese Möglichkeit lässt sich aus der Kritik des Papstes an
den drei Wellen der Enthellenisierung in dem Sinne ableiten, dass � wo die Enthelleni-
sierung bedauert wird � die Rehellenisierung erwünscht zu sein scheint; auÿerdem sei
sie aufgrund des wissenschaftlichen Werdegangs Ratzingers naheliegend, der seit früher
Zeit deutliche Sympathie für die Kirchenväter gezeigt hat, und die Kirchenväter sind
bekanntlich mehrheitlich � unter ihnen auch Augustinus � von griechischen Philosophen
beein�usst gewesen. 77
Dennoch wäre es nach Bonk ein Missverständnis, dem Papst eine unkritische und
unhistorische �Rückkehr zu Augustinus� zu unterstellen.78 Eine Schwierigkeit wird sicht-
bar: Es wird festgestellt, dass ein einheitlicher oder gar allgemeiner Vernunftbegri� unter
der Vielfalt an Entwürfen und Schulen des klassischen Hellas (und folglich unter dem,
was man unter �Hellenismus� versteht) kaum au�ndbar ist. Bonk bemerkt, dass in dem
Zeitraum zwischen Sokrates und der Schlieÿung der platonischen Akademie zwar �ein
gewisser mit metaphysischen Zielsetzungen verknüpfter Erkenntnisoptimismus� wahr-
genommen werden kann, aber zweifellos sind auch so bedeutungsvolle Bewegungen wie
Kynismus, Epikuräismus und Skepsis darin auszumachen.79 Somit suggeriert Bonk, es sei
eher an Platon oder an Aristoteles als an einen Hellenismus im Allgemeinen zu denken.80
Bonk kehrt dabei zur sprachlichen Formulierung dieser Möglichkeit zurück, und zwar
zumWort �ergänzt�. Er gesteht seine Schwierigkeit ein, Ratzingers Einstellung zur Natur-
wissenschaft zu verstehen. Einerseits bemerkt er, dass Ratzinger sie für einen wichtigen
Partner auf der Suche nach der Wahrheit über die Welt hält, andererseits wird aber auch
immer konstatiert, dass diese Wissenschaft dem Bereich der bloÿen Techne angehöre und
insgesamt Teil einer instrumentellen Vernunft sei.81 Bonk fragt sich, was Ratzinger eher
meinen könnte: Könnte die Naturwissenschaft, besonders in Gestalt der Physik und der
75[4] Dialog der Wissenschaften, S. 74.76Ebenda.77Ebenda, S. 74 f.78Ebenda, S. 75.79Ebenda.80Vgl. Ebenda.81Ebenda, S. 76.
77
5.3 Regensburger Rede
Quantenphysik, aus sich heraus metaphysisches Potenzial entwickeln und somit aus ei-
gener Kraft existentiell bedeutsame Fragen beantworten, oder sei sie notwendigerweise
bzw. für alle Zeit in ihrer methodischen, positivistischen �Askese� verfangen, so dass sie
prinzipiell Rettung oder Ergänzung durch Philosophie und Theologie bedürfe.82
Die zweite Alternative kommt ihm wahrscheinlicher vor. Dazu behauptet er, dass die
derzeit spannendsten metaphysischen Diskussionen im Umfeld der Physik mitzuerle-
ben seien, und bemerkt, dass der Begri� �Ergänzung� weiter geklärt werden sollte.83
Des Weiteren ist der Positivismus, den Papst Benedikt XVI. kritisiert, durch das so-
genannte �Hempel-Oppenheim-Schema der Erklärung�84 (es wird im Allgemeinen von
einem �Zusammenspiel von Mathematik und Empirie� gesprochen85) bestimmt. Bonk
wirft Ratzinger vor, dass in der täglich praktizierten Wirklichkeit der Forschung die-
ses Modell schon im Kontext rein naturwissenschaftlicher Fragen und Probleme als zu
eng empfunden wird; es sei dem komplexen Geschehen der Forschungsgegenstände der
Wissenschaft keinesfalls gerecht.86
Die Kritik von den Philosophen Ralf Busse und Hans Rott im nächsten Artikel des
Sammelbands geht in eine ähnliche Richtung. Zunächst erklären sie, dass sie weitgehend
zu Themen und nach Methoden der sogenannten analytischen Philosophie arbeiten und
sich in dieser Weise �der wissenschaftlichen Weltau�assung verp�ichtet fühlen�.87 Ihr Ziel
ist es, die Vernunftkonzeption zu verteidigen, die heute in der analytischen Philosophie
vertreten wird.
Zunächst gestehen sie ein, dass von der analytischen Philosophie lange Zeit gefor-
dert wurde, sich auf zwei Dinge zu beschränken: Einerseits auf wissenschaftstheoretische
82Ebenda.83Ebenda.84Dieses Modell ist als deduktiv-nomologisches Modell bekannt. Demnach besteht eine wissenschaft-
liche Erklärung aus einem �Explanandum�, das zu Erklärende, und einem �Explanans�, das das Expla-nandum erklärt. Eine Erklärung für das Explanandum durch das Explanans kann erst bestehen, wenngewisse Voraussetzungen erfüllt sind. Für das deduktive Element gilt: Erstens muss das Explanandumlogisch aus dem Explanans folgen und zweitens müssen die Sätze, aus denen das Explanans bestehen,wahr sein. Das heiÿt, die Erklärung muss die Form eines deduktiv gültigen Argumentes haben, in demdas Explanandum aus den Prämissen im Explanans abgeleitet wird. Für das nomologische Elementgilt: das Explanans muss mindestens ein �Naturgesetz� beinhalten, das eine essentielle Prämisse desArgumentes sein muss (d. h., wenn diese Prämisse entfernt würde, wäre die Ableitung des Explan-andums nicht möglich). Vgl. Woodward, James. Scienti�c Explanation. in: Standford Encyclopedia ofPhilosophy, verfügbar unter http://plato.stanford.edu/entries/scienti�c-explanation. Stand: 16.06.2009.85Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 133.86[4] Dialog der Wissenschaften, S. 82.87Vgl. Ebenda, S. 86.
78
5.3 Regensburger Rede
Analysen (das heiÿt, mit Hilfe der modernen Logik den Gehalt erfolgreicher wissenschaft-
licher Theorien präzise zu formulieren und ihren Bezug zur empirischen Beobachtung zu
verdeutlichen) und andererseits auf die Analyse der gewöhnlichen Sprache und des in ihr
ausgedrückten Weltbezugs.88 Doch heute wird diese Philosophie von keiner der beiden
Forderungen mehr beherrscht. Sie beansprucht, �über die bloÿe Analyse von wissen-
schaftlichen Theorien und Alltagsüberzeugungen hinaus zu gehen�, und hat als Ziel, zu
einer Synthese von Erkenntnistheorie, Philosophie des Geistes und Naturphilosophie zu
gelangen, die �die beste uns mögliche theoretische Gesamtsicht der Wirklichkeit� (und so-
mit ihr emp�ndendes, wahrnehmendes, denkendes, wissendes, wertendes und handelndes
Wesen) im Ganzen beinhaltet.89 Damit sei ein metaphysisches Programm gekennzeich-
net: Es wird daran festgehalten, dass �nach� und �hinter� der einzelwissenschaftlichen
Forschung (besonders �nach� der Physik) etwas Gehaltvolles über das Ganze der Wirk-
lichkeit von der Philosophie gesagt werden kann.90
Es wird aber betont, dass die analytische Philosophie nicht in dem Sinne metaphysisch
ist, dass sie über einen eigenen Bereich, der nicht zur empirisch-wissenschaftlich erfass-
baren Wirklichkeit gehört (etwa über Gott), sprechen wolle.91 Sie erzielt befriedigende
Ergebnisse sowohl in den Hauptgebieten der Philosophie als auch in einer Gesamtauf-
fassung der Wirklichkeit, �ohne eine Wirklichkeit jenseits des den Einzelwissenschaften
begri�ich und epistemisch Zugänglichen postulieren zu müssen�92. Diese Tendenz, be-
tonen sie, sei aber nicht notwendig materialistisch oder physikalistisch.93
Danach diskutieren die Autoren die Anregung des Papstes zur Ausweitung des wis-
senschaftlichen Vernunftbegri�s. Erstens wird behauptet, die gegenwärtige Philosophie
bestätige die Warnung Benedikts XVI., sich nicht auf das Kriterium strenger empiri-
scher Veri�kation oder Falsi�kation zu beschränken.94 Die Wissenschaftstheorie habe
schon seit Langem anerkannt, dass diese Kriterien in der wissenschaftlichen Praxis nicht
die entscheidende Rolle spielen, die ihnen die logischen Positivisten in der ersten Hälf-
te des 20. Jahrhunderts zugewiesen hatten, und dass eine solche Rolle auch als Norm
unangemessen ist.95
88Ebenda, S. 87.89Ebenda.90Ebenda, S. 87 f.91Ebenda, S. 88.92Vgl. Ebenda.93Ebenda.94Ebenda, S. 89.95Ebenda, S. 89 f.
79
5.3 Regensburger Rede
Zweitens wird ein Beispiel aus der Geschichte der Philosophie dargestellt, in dem ei-
ne Erweiterung des Vernunftkonzeptes über den Kontext des Logischen und Induktiven
hinaus geltend gemacht wurde, nämlich Kants Lehre vom Bewusstsein des Sittengeset-
zes als einem Faktum der Vernunft.96 Die Autoren stellen die Hypothese auf, dass der
päpstliche Gedanke einer Ausweitung des modernen Vernunftbegri�s als ein religiöses
Analogon zu Kants These gemeint sein könnte.97 Zugleich werden Schwierigkeiten zu
einer solchen Hypothese kurz diskutiert, darunter die Möglichkeit, diese These inter-
subjetiv phänomenal auszuweisen. Die Tatsache, dass es viele o�enbar vernünftige und
re�ektierende Menschen gibt, die sich als Agnostiker oder Atheisten bekennen, stellt sich
gemäÿ den Autoren als Herausforderung für eine solche Erklärung dar.98 Die analytische
Philosophie, so Busse und Rott, bestehe darauf, unabhängig von den Voraussetzungen
einer bestimmten O�enbarungsreligion zu sein, und versucht in diesem Sinne vorausset-
zungslose Wissenschaft zu sein.99
Die Autoren gestehen ein, dass die heutige analytische Philosophie zwar de facto ten-
denziell naturalistisch sei, betonen aber, dass ihre Vision einer philosophischen Gesamt-
sicht die Möglichkeit zulässt, dass die beste Theorie der Wirklichkeit im Ganzen einen
göttlichen Ursprung von Natur und Geist einschlieÿt. Aus wissenschaftstheoretischer
Sicht besitzt jedoch eine solche Theorie auf den ersten Blick keinen Vorzug gegenüber
einer naturalistischen.100
Der nächste Punkt bezieht sich auf die Behauptung Benedikts XVI., dass die eigentlich
menschlichen Fragen, �die nach unserem Woher und Wohin, die Fragen der Religion und
des Ethos�, keinen Platz in der gegenwärtigen wissenschaftlichen Thematik haben und
�ins Subjektive verlegt� werden müssen.101 Die Autoren behaupten, die analytische Phi-
losophie habe zweifellos beweisen können, dass sie über rein Logisch-Empirisches hinaus
auch über Normatives substantielle Aussagen tre�en kann.102 In Bezug auf philosophi-
sche Ethik werden drei Positionen erwähnt. Dem moralischen Realismus nach haben
ethische Werte oder Normen den Status von objektiven Tatsachen, die von Menschen
erkannt werden können; eine zweite Position hält einen gehaltvollen Kodex moralischer
96Ebenda, S. 90.97Ebenda, S. 91.98Ebenda, S. 91.99Ebenda.100Ebenda, S. 94.101Vgl. Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 134.102[4] Dialog der Wissenschaften, S. 95.
80
5.3 Regensburger Rede
Regeln für begründbar, sobald einige �kaum abweisbare� Prämissen angenommen wer-
den; der dritten Position nach soll das menschliche Moralbewusstsein im Ganzen zuerst
als Faktum hingenommen werden, eine philosophische Analyse und Systematisierung sei
aber dann durchaus durchführbar.103 Die Autoren heben hervor, es sei einerseits durch-
aus möglich, objektive Werttatsachen in der Welt anzunehmen (also das, was mit der
ersten Position gemeint ist), ohne sie auf einen �göttlichen Gesetzgeber� zurückzuführen,
also ohne dass die Ethik in engem Zusammenhang mit Religion steht.104 Andererseits
laufe keine dieser Positionen darauf hinaus, dass moralische Bewertungen dem vernünf-
tigen Diskurs entzogen bleiben und der subjektiven Gewissensentscheidung überlassen
werden müssen.105
Die Lebenserfahrung, so fahren sie fort, bestätige, dass ein Fehlen religiöser Überzeu-
gungen in keiner Weise zwingend von Amoralität begleitet wird. Auch unter Atheisten
und Agnostikern gebe es vollkommen vernünftige, integere und moralisch tadellose Men-
schen.106 Dabei werde die christliche Morallehre überhaupt nicht verkannt, betonen die
Philosophen. Es sei dennoch wichtig, hervorzuheben, dass eine moralische Position, die
�die Ethik an die manifesten praktischen Einstellungen des Menschen [...] statt an eine
letzte religiöse Wahrheit bindet�, keineswegs gefährlich sei.107
Die analytische Philosophie, so Busse und Rott, �verzweifelt� nicht an Fragen wie �Wer
bin ich?�, oder �Woher komme ich und wohin gehe ich?�, �Warum gibt es das Böse?� � Fra-
gen, die sie �Fragen nach der Wahrheit� nennen.108 Doch enthalte sich diese Philosophie
eines fachlichen Urteils darüber.109 Die Autoren geben zwei Gründe dafür an: Einerseits
besteht eine tiefe Skepsis, ob die Philosophie als akademische Disziplin über diese The-
men in der Form eines rationalen Diskurses zu intersubjektiv nachvollziehbaren Aussagen
gelangen kann. Andererseits steht sie selbst vor der �ernüchternden Erfahrung�, dass viel
kleinere Fragen, wie �Welche grundlegende logischen Prinzipien gibt es?� und �Was ist
sprachliche Bedeutung?�, nach Jahrhunderten des Nachdenkens von ihr nicht verbind-
lich beantwortet werden konnten.110 Daher erscheint es für die akademische Philosophie
legitim, so die Autoren, in ihrem eigenen Streben nach der Wahrheit jener vom Papst
103Ebenda.104Ebenda.105Ebenda, S. 95 f.106Ebenda, S. 96.107Vgl. Ebenda.108Ebenda, S. 97.109Ebenda.110Ebenda, S. 98.
81
5.3 Regensburger Rede
diagnostizierten �Selbstbeschränkung der Vernunft� grundsätzlich zu folgen. Diese Opti-
on für die Standards der empirischen Wissenschaften sei nicht unre�ektiert.111 Es sollte
aber klargestellt werden, dass diese Philosophie heute eine viel liberalere Konzeption von
wissenschaftlicher Vernunft vertrete, als mit dem Bild von empirischer Falsi�kation und
Veri�kation angedeutet wird.112
Letztlich fassen Busse und Rott ihre Überzeugung darin zusammen, dass das nichtreli-
giöse, philosophische Denken heute weiter reiche als von Papst Benedikt XVI. angenom-
men und trotzdem bewusst darauf verzichte, die groÿen �eigentlich menschlichen Fragen�
zu beantworten, weil es nicht erkennen könne, �wie rational begründbare, intersubjektiv
verbindliche Antworten� möglich seien.113
Herbert Breckle, Professor für Sprachwissenschaft, hebt einige ähnliche Kritikpunk-
te hervor. Erstens wird Ratzinger vorgeworfen, er verkenne in der Regensburger Rede
die uralten Bemühungen und Ergebnisse der Philosophie � von der Antike bis heute �,
deren Bestreben es war und ist �ohne theologische Grundlagen oder sonstige transratio-
nale Annahmen eine vernunftgemäÿe Ethik für den Menschen in seinen verschiedenen
Gesellschaftsformen zu entwerfen�.114 Breckle behauptet, Erkenntnisse der Evolutions-
biologie, Psychologie und Soziologie können die Grundlage einer philosophischen Ethik
stützen, so dass die Papst Benedikt XVI. zugeschriebene Behauptung, dass sie einfach
nicht reichen, keine Begründung �nden könne.115
Die gegenwärtige Wissenschaft, so Breckle weiter, sei doch in der Lage, ihre erkenntnis-
theoretischen Fundamente zu re�ektieren, was auch in den ethisch relevanten Bereichen
der Biologie und Medizin der Fall sei.116 Dies widerspreche der Behauptung einer ver-
meintlichen �Abneigung gegen die grundlegenden Fragen [der] Vernunft�.117 Die Proble-
me, die aus der Anwendung solcher Erkenntnisse in verschieden Technologien entstehen,
seien jedoch eine andere Frage.118
Nach Breckle ist eine Voraussetzung für die Fruchtbarkeit des vom Papst geforderten
�Muts zur Weite der Vernunft�119, dass die Theologie �von Absolutheits- und Prioritäts-
111Ebenda.112Ebenda.113Ebenda, S. 99.114Vgl. Ebenda, S. 161.115Ebenda.116Ebenda, S. 162.117Vgl. Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 137.118[4] Dialog der Wissenschaften, S. 162.119Vgl. Ratzinger (Benedikt XVI.), [20] Vernunft, S. 137.
82
5.3 Regensburger Rede
ansprüchen Abstand [nimmt]�120 � diese Möglichkeit hält er aber für unmöglich und
schlieÿt sie sofort aus.121 Er stellt auch kritisch fest, dass in der Rede eine hervorgeho-
bene Rolle, ein �Einzigkeitsanspruch� erhoben wird: Es wird dabei vorausgesetzt, dass
Religionen essentiell und dominierend in allen Kulturen anwesend sind.122 Die Gültigkeit
dieser Annahme könne aber �aus rein empirischen Gründen bezweifelt werden�, so Breck-
le.123 Breckle behauptet, es sei notwendig, zu zeigen, dass wesentliche Teilbereiche der
weltlichen Kulturen (Wissenschaft, Ethik, Technik, Künste, usw.) von einer jeweiligen
Religion abhängig seien. Auch die daraus entstandene Schwierigkeit, dass sich die ver-
schiedenen Religionen in ihren Ausprägungen und Kernbereichen sehr weit von einander
unterscheiden, müsse noch angedeutet werden.124 Breckle scheint überzeugt zu sein, dass
ein säkular orientierter interkultureller Dialog � �befreit von religiösen und theologischen
Di�erenzen� � ein friedlicheres Wechselverhältnis zwischen unterschiedlich strukturierten
Gesellschaften und ihren kulturellen Eigenschaften ermöglichen könnte.125
120[4] Dialog der Wissenschaften, S. 162.121Vgl. Ebenda.122Ebenda, S. 163.123Ebenda.124Ebenda.125Ebenda.
83
6 Abschlieÿende Bemerkungen
Zum Schluss dieser Diplomarbeit soll nun zuerst jener roter Faden, der in der Einleitung
dargestellt wurde, kurz wiederholt werden, diesmal in der Form eines Rückblicks. Wir
haben gesehen, dass der Ausgangspunkt jene �Krise der Gegenwart� war. Ratzingers
Diagnose eines problematischen Vernunftbegri�s der Gegenwart zu berücksichtigen, ist
essentiell für das Verständnis seiner eigenen Konzeption von �Vernunft�. Indem die von
Ratzinger festgestellten Hauptmerkmale und Folgen jenes aktuellen wissenschaftlichen
Rationalitätskriterium dargestellt wurden, ist nach und nach klar geworden, dass er das
Bedürfnis sieht, dieses Kriterium zu verändern � besser, zu erweitern: Der Glaube muss
miteinbezogen werden, denn Vernunft und Glaube stellen sich nicht als Gegensätze dar.
Zu zeigen, dass Vernunft und Glaube zusammengehen müssen, ist also das Ziel der
Argumentation Ratzingers. Zunächst schildert er die Entwicklung des Gottesbildes im
Christentum und das Tre�en eines �Gottes der Bibel� mit einem �Gott der Philosophen�,
aus dem das Bild eines christlichen �Gottes des Glaubens� entsteht. Der Gott des christ-
lichen Glaubens ist, so Ratzinger, �Logos� � Vernunft und Liebe zugleich. Im Gott sind
Primat der Vernunft und Primat der Liebe identisch. Die These einer Helleniesierung
des Christentums, auf der Ratzingers Argumentation beruht, dient dem Versuch, eine
zwischen christlichem Glauben und griechischer Philosophie ursprüngliche Beziehung in
Erinnerung zu bringen. Darauf, dass das Christentum auch heute religio vera bleibt � das
heiÿt, nicht bloÿ Gewohneit, sondern Suche nach Vernünftigkeit �, müssen wir uns nach
Ratzinger immer neu besinnen. Dies ist seine Botschaft, seine Forderung an die heuti-
ge Welt. Religion und Vernunft müssen sich nach Ratzinger wiedertre�en, ohne sich in
ineinander aufzulösen; Es geht vielmehr darum, eine �Wechselverhältnis� aufzubauen.
In seinen Bemühungen wird Ratzinger, wie alle anderen Denker, mit Kritik konfron-
tiert. Andere Autoren wurden daher eingebracht, die in Ratzingers Denken Fehler oder
Missverständnisse sehen oder seine Argumentation zu ergänzen versuchen. Nun möchte
ich anschlieÿend noch eigene persönliche Bemerkungen machen, die teils meine Meinung,
teils meines Erachtens o�en gebliebene Fragen darstellen sollen.
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6 Abschlieÿende Bemerkungen
Erstens scheint es mir wichtig hervorzuheben, dass Ratzinger (Papst Benedikt XVI.)
keine De�nition von �Vernunft� im strengen Sinne anbietet. Er will die Vernunft nicht
etwa als ein Vermögen charakterisieren. Das Adjektiv �vernünftig�, könnte man sagen,
spielt sogar eine gröÿere Rolle in seiner Arbeit. Ich glaube, dass es Ratzinger bewusst
ist, welchen tiefen normativen Charakter dieses Adjektiv haben kann, und was es be-
deutet, wenn einer Person, einer Institution oder einer Religion dieses Attribut nicht
mehr zugesprochen wird. In einem kleinen Wortspiel zeigt sich in einfacher Form die
Verbindung von Glauben und Vernunft: Was die Menschen als unvernünftig emp�n-
den, emp�nden sie zugleich als unglaubwürdig. Und gerade die �Unglaubwürdigkeit des
christlichen Glaubens� � aber auch der Religionen im Allgemeinen � ist eine der Seiten
dieser Krise der Gegenwart, die der Kirche und den gläubigen Menschen die groÿe Her-
ausforderung au�ädt, sich als vernünftig zu beweisen, aber ihnen durch ein prinzipielles
Abquali�zieren des Glaubens gar nicht die Möglichkeit dafür gibt.
In diesem Sinne möchte ich betonen, besonders in Hinblickt auf alle, die aus dem
philosophischen Bereich kommen und diese Arbeit gelesen haben, dass die Suche einer
Begri�sde�nition hier einfach nicht erzielt worden ist. Vielmehr steht eine gewissermaÿen
�ethische Aufgabe� im Vordergrund. Glaube und Vernunft sollen so verbunden werden,
dass beide Seiten ihren eigenen Raum haben, sich aber ergänzen. Die �Vernunft� (und
da sind wohl die aufgeklärte, moderne Wissenschaft und die Nicht-Gläubigen gemeint)
soll den Glauben anerkennen und einsehen können, dass er nicht nur Antwort an groÿe,
unausweichliche menschliche Fragen geben kann, sondern auch nach Wahrheit strebt;
Der �Glaube� wiederum soll sich bewusst werden, dass er kein �blindes Sichausliefern
ins Irrationale hinein�, sondern ein Glaube an den Gott ist, der selbst Logos, Vernunft
ist. Wenn der Gläubige von der Vernünftigkeit seiner Religion überzeugt ist, wenn er
glaubt, dass sein Gott und dessen Schöpfung vernünftig sind, dann müssen auch seine
Argumente vernünftig sein. Daraus würde folgen, dass der Glaube kein Fideismus sein
kann; Gott handelt nicht nur vernünftig, sondern hat eine Beziehung mit uns, und der
Gläubige kann schlussendlich nur vernünftig argumentieren und muss die Freiheit der
anderen respektieren können. Andererseits würde die Vernunft den Glauben nicht als
reines Gefühl abquali�zieren, als ob er eine willkürliche, subjektive, ja gar irrationale
Entscheidung wäre. Die Vernunft würde auch verstehen, dass sich der Glaube nicht nur
an ihre Anforderungen anpassen muss, sondern dass umgekehrt auch sie vom Glauben
korrigiert und begrenzt werden soll. In dieser Weise würden diejenigen Kon�ikte und
Probleme vermieden werden, die aus der Trennbarkeit von Vernunft und Glauben ent-
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6 Abschlieÿende Bemerkungen
stehen: Terrorismus, Atombombe, gewisse gentechnische Experimente und so weiter. Ob
die Argumente Ratzingers für eine solche �Wiedervereinigung� von Glauben und Ver-
nunft überzeugend sind, ist eine andere Frage.
Meinem ersten Kommentar muss ich noch einige Überlegungen hinzufügen. Dass Rat-
zinger nicht �Vernunft� im Sinne eines Satzes wie �Vernunft ist...� de�niert, heiÿt nicht,
dass er sie in keiner Weise zu de�nieren versucht. In dieser Diplomarbeit hat sich gezeigt,
dass Ratzinger gewisse Anwendungen der Vernunft kritisiert und zu ergänzen versucht,
indem er auch anderen Vernunft zuschreibt. Das moderne wissenschaftliche Verständnis
von Vernunft scheint unvollständig zu sein, diese Vernunft wäre also keine vollende-
te Vernunft; demzufolge wäre dieser Begri� erst vollkommen, wenn Religion und Gott
miteinbezogen würden. Eine zweite Feststellung ist ganz klar: Nicht vernunftgemäÿ zu
handeln ist demWesen Gottes zuwider. Mal wird behauptet, Gott sei die Vernunft selbst,
mal entspreche die Vernunft seinem Handeln.
Trotzdem scheint mir dies nicht genug zu sein. Auch wenn man Ratzingers Überzeu-
gungen zustimmt, habe ich den Eindruck, dass man nicht ganz sicher sein kann, was mit
�Vernunft� gemeint wird. Wenn er sagt, dass Gott die Vernunft selbst ist, müsste nicht
folgen, dass jemand, der Gott ablehnt, zugleich auch die Vernunft ablehnt? Bei seiner
Kritik schreibt er jedoch der modernen Wissenschaft Vernunft zu, obgleich eine �selbstbe-
schränkte� Vernunft. Weiters kann ich auch die Probleme einsehen, die entstehen, wenn
die Religion und die Gläubigen vom Bereich des Vernünftigen ausgeschlossen werden, was
dazu führt, dass solch eine Einstellung verurteilt wird. Was kann aber über diejenigen
säkularen Menschen gesagt werden, die keine religionsfeindliche Meinung p�egen, den-
noch Gott und Religion nicht akzeptieren können? Haben sie auch eine Art beschränkte
Vernunft, haben sie unter Umständen Anspruch auf eine �totale� Vernünftigkeit, kön-
nen sie überhaupt vernünftig sein? Dabei schlieÿe ich mich teilweise der Bemerkung von
Paolo Flores D'Arcais an: was sind die Folgen dessen, wenn sich die Religion als eine Art
Vollendung der Vernunft betrachtet (im Sinne, dass ohne die Beziehung zur Religion und
zu Gott die Vernunft nur unvollständig bleiben kann)? Läuft man nicht Gefahr, alle, die
Gott nicht annehmen können (egal aus welchen Gründen), auszuschlieÿen? Bleibt man
nicht noch immer in einem Absonderungsverhältnis, nur dass jetzt die Pole umgekehrt
werden?
Abgesehen von diesen Problemen und Fragen, halte ich es für wichtig, einen positiven
Punkt zu betonen: die Forderung nach einem Dialog. Sicherlich könnte man sich überle-
gen, inwieweit ein Dialog tatsächlich möglich ist, wenn die unterschiedlichen Wahrheits-
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6 Abschlieÿende Bemerkungen
ansprüche der Religionen und Kulturen berücksichtigt werden. Ich möchte hier jedoch
davon ausgehen, dass diese Möglichkeit vorhanden ist. Die Idee einer Vernunft als �Lo-
gos�, das heiÿt, als �Vernunft� und �Wort� zugleich, kann verallgemeinert werden und
in eine Forderung münden, das Element des Dialogs mit dem der Vernunft notwendi-
gerweise zu kombinieren. �Vernunft� würde also nicht nur etwas wie �Suche nach der
Wahrheit� implizieren, sondern auch eine Art Beziehung, das heiÿt die notwendige Be-
gegnung zwischen verschiedenen Positionen. Die Vielfalt an Kulturen, Meinungen und
Glaubensrichtungen steht faktisch vor uns. Streitereien und fruchtlose Zusammenstöÿe
können nur vermieden werden, wenn man dazu bereit ist, in einen aufrichtigen Dialog
mit den anderen einzutreten. Die Basis dafür wäre eben eine Vernunft, die nicht nur
ein Beharren auf den eigenen Idealen und Überzeugungen bedeutet, sondern auch ein
o�enes Ohr voraussetzt.
Ich glaube, dies ist der Hintergrund des Vernunftbegri�s Ratzingers, und ich halte die-
se Überlegungen für durchaus legitim und sinnvoll. Doch glaube ich, dass dieses �o�ene
Ohr� insofern problematisch ist, weil nicht klar ist, ob es ein reines Zuhören oder ein
Annehmen des anderen bedeutet. Denn wenn die letzte Option zutri�t, wenn eine Mei-
nung nicht nur gehört, sondern akzeptiert werden will, dann entsteht die Frage: Warum
soll ich den anderen unbedingt anerkennen? Diese Frage zu beantworten ist die gröÿte
Herausforderung, wenn jene �selbstbeschränkte� wissenschaftliche Vernunft und die Reli-
gion voreinander stehen. Karl-Heinz Menke formuliert das Problem: �Warum soll ich den
Anderen unbedingt anerkennen? Warum auch und gerade dann, wenn mein Entschluss
zur Anerkennung nicht erwidert oder sogar mit Hass beantwortet wird?�1 Diese Fra-
gen bleiben bei Ratzinger, soweit ich sehe, unbeantwortet. Ich zwei�e stark daran, dass
seine Argumentation, das Christentum hätte seine Vorläufer prinzipiell in der philoso-
phischen Aufklärung, die vermeintlichen Vertreter einer �selbstbeschränkten� Vernunft
überzeugen kann. Es scheint mir wahrscheinlicher, dass sich die These der Hellenisie-
rung des Christentums im akademisch-theologischen Kontext, bestenfalls innerhalb der
Gläubigen bewähren kann. Als Argument für die Vernünftigkeit des Christentums, das
sich auch unter Nicht-Christen und insbesondere säkularen Menschen durchsetzen soll,
scheint sie mir ungenügend zu sein.
1Menke, [14] Wahrheit und Geschichte, S. 63.
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