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Die urbanistische Entwicklung von Elea in Großgriechenland: von den Anfängen bis zur Umgestaltung...

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Althistorisches Seminar Institut für Archäologie der RAW Universität Göttingen Moskau Phanagoreia und darüber hinaus.... Festschrift für Vladimir Kuznetsov Herausgegeben von Nikolai Povalahev Stiftung „Volnoe Delo“ Cuvillier Verlag Göttingen SONDERDRUCK 2014
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Althistorisches Seminar Institut für Archäologie der RAW Universität Göttingen Moskau

Phanagoreia und darüber hinaus.... Festschrift für Vladimir Kuznetsov

Herausgegeben von Nikolai Povalahev

Stiftung „Volnoe Delo“

Cuvillier Verlag Göttingen

SONDERDRUCK

2014

Inhaltsverzeichnis

Nikolai Povalahev Einleitung 5 Phanagoreia und sein Umkreis Vladimir Kuznetsov, Alexey Zavoikin On the archaeological topography of Phanagoria 29 David Braund The Thessalian foundation of Phanagoria: civic identity re-visited and extended 53 Nikolai Povalahev Literarische Tradition und architektonische Ausstattung: Überlegungen zu einer „Sonderstellung“ Phanagoreias am Nordpontos 75 Vladimir Kuznetsov Apatouros 111 Altay Coskun Kastor von Phanagoreia, Präfekt des Mithradates und Freund der Römer 131 Mikhail Abramzon, Vladimir Kuznetsov A hoard of 4th -1st centuries BC coins from Phanagoria 139 Mikhail Treister A bronze statuette from Phanagoria. A new iconographical type of the Vatergott image 193

2 Inhaltsverzeichnis

Nordwestpontos und Kimmerischer Bosporos Dmitry Chistov, Valeriy Krutilov The archaic town on the Berezan island: new studies on the chronology and urban planning of the Berezan settlement 209 Balbina Bäbler Herodot im Land der Skythen: Die Stadt Gelonos 231 Regina Attula, Ortwin Dally, Sabine Huy, Pavel A. Larenok, Hans Mommsen, Udo Schlotzhauer, Denis Žuravlev Lokale Töpferwerkstätten am Nordpontos – Archäologische und archäometrische Untersuchungen zur Herkunfts-zuweisung der Keramikerzeugnisse aus der Don-Region und am Kimmerischen Bosporos 251 Victor Zin’ko The European Bosporus in the archaic period 283 Sergey Saprykin The Archaeanactids of Bosporus and urban development 297 Natalia Zavoikina Polis and monarchy in the Bosporan kingdom in the 1st-3rd centuries AD 317 Das südliche Pontosgebiet und der Mittelmeerraum Pierre Dupont Vernis Noir du Pont Gauche Premiers résultats archéométriques 347 Dorit Engster Die Kolonie Byzantion – Geschichte, Gesellschaft und Stadtbild einer Handelsmetropole 357

Inhaltsverzeichnis 3

Gustav Adolf Lehmann Das „Pontos – Projekt“ und die Problematik der „Letzten Pläne“ Alexanders des Großen 397 Balbina Bäbler Arrian als Archäologe 407 Verena Gassner Die urbanistische Entwicklung von Elea in Großgriechenland: von den Anfängen bis zur Umgestaltung der Stadt im 5. Jh. v. Chr. 419 Peter Golinski Libyes ante Portas? Die Wahrnehmung der Libyer durch nicht-kyrenaische Autoren 461 Die Autoren 483 Abkürzungsverzeichnis 487 Literaturverzeichnis 491 Register 535

Verena Gassner

Die urbanistische Entwicklung von Elea in Großgriechen-land: von den Anfängen bis zur Umgestaltung der Stadt im 5. Jh. v. Chr.

Die schriftliche Überlieferung Die Gründungsphase Im Jahr 545 v. Chr. flüchteten die Bewohner der an der Westküste Kleinasiens gelegenen Stadt Phokaia vor der Einnahme ihrer Stadt durch die Perser und gründeten nach mehreren Zwischenstationen an der tyrrhenischen Küste Italiens eine neue Siedlung.1 Diese zunächst Ύέλη, dann Elea und spätestens ab römi-scher Zeit Velia genannte Stadt lag in einer kleinen, durch das Mündungsgebiet des Flusses Alento dominierten Bucht und wurde durch das Kap der Punta Licosa vom nördlich anschließenden, wesentlich größeren Golf von Salerno mit der griechischen Kolonie Poseidonia getrennt (Abb. 1). Im Süden folgte ein meist steil zum Meer hin abfallender Küstenabschnitt, der erst im Golf von Policastro wieder bessere Siedlungsmöglichkeiten bot.2 Die Kolonie Elea unter-schied sich von den anderen großgriechischen Städten nicht nur durch dieses relativ späte Gründungsdatum, sondern auch und vor allem durch die Tatsache, dass sie keine klassische apoikia darstellte, bei der ein Teil der Bevölkerung, in der Regel mehrheitlich jüngere, wehrhafte Männer, sein Glück in der Fremde suchte, sondern um die Ansiedlung von Emigranten, die – so berichtet es zu-mindest Herodot – in geschlossenen Familienverbänden vor der Einnahme ihrer Heimatstadt durch die Perser flohen.3 Wir müssen daher wohl von einer Zu-sammensetzung der Bevölkerung und in der Folge auch von Dynamiken der An-siedlung in der Gründungsphase der Stadt ausgehen, die sich in vielem von je- 1 Die Literatur zu Elea ist umfangreich, s. zuletzt den Elea gewidmeten Band der Atti Taranto 45 sowie Vecchio 2012 mit umfassender Bibliographie. 2 Vgl. dazu Greco 1975; A Sud di Velia 1990; De Magistris 1991; La Torre 2008; De Magis-tris 2012. 3 Hdt. 1, 162-167. Die Literatur zu dieser Überlieferung ist äußerst umfangreich: vgl. neben Gigante 1966 zusammenfassend für die französische Literatur Gras 1987; Gras 1991; Bats 1994; Gras 1995; Gras 1997 mit umfassender Bibliographie; Morel 1999; außerdem Barceló 1998, 605-614; Krings 1998, 93-142 (mit der Rez. M. Gras, Topoi 8/1, 1998, 303-308); Gass-ner 2003, 242-249; Greco 2012, 107-1018; Nesselrath 2012.

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nen anderer großgriechischer Kolonien unterschieden.4 Vor allem die französi-sche Forschung hat in den letzten Jahrzehnten unter Einbeziehung weiterer Quellen überzeugend herausgearbeitet, dass wir uns diese Flucht nicht als ein einheitliches, geschlossenes Unternehmen vorstellen dürfen, sondern dass sich offensichtlich unter den Flüchtlingen mehrere Gruppen mit unterschiedlichen Zielen bildeten, wobei jedoch jeweils versucht wurde, bereits bestehende Kon-takte in den Westen auszunützen.5 So dürfte sich eine Gruppe nach Massalia (Marseille) gewandt haben, wo seit etwa 600 v. Chr. eine phokäische Handels-niederlassung bestand. Hier konnte die archäologische Forschung für die zweite Hälfte des 6. Jh. v. Chr. starke neue Impulse in der Stadtentwicklung beobach-ten, die möglicherweise mit dem Eintreffen neuer Bevölkerungselemente in Verbindung zu bringen sind.6 Eine andere Gruppe ließ sich zunächst in Alalia auf Korsika nieder, wo ebenfalls bereits eine Handelsniederlassung bestand. Von hier aus widmeten sie sich vor allem der Piraterie, was letztendlich zum gemeinsamen Vorgehen von Etruskern und Karthagern gegen die Phokaier und zu einer großen Seeschlacht im sardonischen Meer führte, welche die Griechen zwar nicht verloren, nach der sie jedoch gezwungen waren, die Siedlung von Alalia aufzugeben.7 Nach einer Zwischenetappe in Rhegion (Reggio Calabria) an der Straße von Messina und auf Vorschlag eines „Mannes aus Poseidonia“ hin wurde in der südlich auf Poseidonia folgenden Bucht „im Land der Oinotrer“ ein neuer Siedlungsplatz ausgewählt. Die Art und Weise der Interakti-on mit den Oinotrern hat dabei zu wiederholten Diskussionen geführt, da bisher im unmittelbaren späteren Stadtgebiet keine klaren Hinweise auf eine indigene Besiedlung gefunden werden konnten.8 Obwohl wir für Elea erste Hinweise auf eine Besiedlung aus der mittleren bis späten Bronzezeit kennen, deren Funde sich vor allem auf die Akropolis konzentrieren, fehlen für die frühe Eisenzeit konsistente Hinweise auf Siedlungen im Küstenbereich.9 Erst im Laufe des 6. 4 Vgl. dazu Gassner 2003, 248-249. 5 Vgl. dazu vor allem Gras 1987; Malkin 1990, 42-52; Bats 1994 ; Gras 1995, 364; Gras 1997. Zu weiteren vermuteten phokäischen Gruppen in Unteritalien und Sizilien vgl. zusam-menfassend Gassner 2003, 242, Anm. 45. 6 Gantès 1992, 75-76; Gras 1995; Gantès & Moliner & Tréziny 2001. 7 Zu Alalia vgl. allgemein Vallet & Villard 1966; Morel 1966; Jehasse 1982; Morel 1988, 438. Zur angeblichen Piraterie Ampolo 1994 231-232, der hinter dem Vorwurf der Piraterie die Gründung eines Emporions, einer Handelsniederlassung, vermutet. 8 Zur umfangreichen Literatur zur Gründungsgeschichte vgl. etwa Gigante 1966, 295-317; Krinzinger 1996 sowie zusammenfassend Vecchio 2012, 588 sowie die Lit. Anm. 3. Zum Vorschlag einer Lokalisierung der Oinotrer in Palinuro, wo ab dem letzten Drittel des 6. Jh. v. Chr. eine bedeutende Ansiedlung bekannt ist, vgl. Greco 2012, 1024-1031. 9 Morel 1980, 299-307; Fiammenghi 1994, 82-85. Zumeist handelt es sich um Funde in se-kundärem Kontext. Erstmals ergraben werden konnte ein bronzezeitlicher Horizont im Jahr 1996, vgl. Krinzinger & Gassner 1997; Carneiro 2004. Eine rezente Zusammenstellung der Situation in der Eisenzeit in diesem Küstenabschnitt findet sich bei Greco 2012, 1023-1039.

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Jh. v. Chr. lassen sich im Süden im Bereich zwischen Elea und Laos eine Reihe von Siedlungen beobachten, deren bekannteste wohl Palinuro ist, während die Situation nördlich von Elea im 6. Jh. v. Chr. durch die Entwicklung der Stadt Poseidonia geprägt war.10 In Elea selbst sind die Beispiele für oinotrische Kera-mik selten und gehören durchweg bereits der Gründungszeit der Stadt an (Abb. 2).11 Mögliche Hinweise auf kulturellen Austausch zwischen den Gruppen der Phokaier und Oinotrer finden sich vielleicht in bestimmten Formen des Alltags-geschirrs.12 Die Frage der Wahl des Platzes wurde in den letzten Jahren auch wiederholt in Hinblick auf die natürlichen Ressourcen von Elea diskutiert, wo-bei vor allem das Problem im Mittelpunkt stand, ob die heutige Alento-Ebene in der Gründungszeit der Stadt noch als tiefe Bucht vorzustellen sei (Abb. 3). Jün-gere Forschungen zeigten jedoch, dass sie bereits damals weitgehend verlandet und daher landwirtschaftlich nutzbar war.13 Damit ist mit großer Wahrschein-lichkeit davon auszugehen, dass die Stadt Elea von Beginn an über ein ihrer Größe entsprechendes Territorium verfügte, das die nötigen landwirtschaftlichen Ressourcen bot, auch wenn die Erwirtschaftung von Überschüssen wohl eher auf dem Handel und nicht auf der landwirtschaftlichen Produktion beruhte.14

Besonderes Interesse hat in den letzten Jahren immer wieder die Frage nach der Anzahl der ersten Ansiedler gefunden, wobei die meisten auf eine Zahl zwischen 5.000 - 7.000 Personen kamen.15 Ausgangspunkt für diese Berechnun-gen bildeten meist einmal mehr die Angaben Herodots, nach welchen nach der Schlacht von Alalia noch 20 Schiffe funktionsfähig waren. Bei einer Besatzung von achtzig Mann pro Schiff würde dies 1.600 erwachsene Männer mit ihren Familien bedeuten. Freilich wurde bei diesen Berechnungen nicht auf die spezi-fische Situation der geflüchteten Phokaier Bezug genommen, bei denen der An-teil der Frauen, Kinder und alten Männer nach der verlustreichen Schlacht im sardonischen Meer viel höher gewesen sein muss als jener der kämpfenden Männer. Da nicht davon auszugehen ist, dass die Frauen und Kinder der Gefal-lenen in Alalia zurückgelassen wurden, da es sich dabei ja wohl zum Teil um enge Verwandte handelte, dürfte die Gründungsgeneration von Elea mit einer

10 La Torre 2008. Zu Palinuro vgl. Naumann 1958; Naumann & Neutsch 1960; Fiammenghi 1985. 11 Gassner 2000, 1-7; Greco 2012, 1032, fig. 8. 12 Vgl. Gassner 2003,96, wiederaufgenommen von Greco 2012, 1035-1038. Anders Maffettone 1992, 17-42. 13 Vgl. zusammenfassend zur Platzwahl Pugliese Carratelli 1966, 162; Lepore 1966, 260-261; Vallet & Villard 1966, 189; Greco 1992, 84; Greco 1994; Maffettone 1992, 21; zuletzt Greco 2012, 1018-1022. 14 Als topisch hat schon Pierobon Benoit 1995, 403-418 die Hinweise auf die geringen Mög-lichkeiten des Territoriums von Elea gewertet, vgl. auch Mele 2006. 15 Johannowsky 1982, 227; Gras 1985, 421-422; etwas vorsichtiger mit 4.000 – 5.000 Perso-nen Greco 2012, 1017.

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schwierigen und völlig atypischen Zusammensetzung der Bevölkerung ge-kämpft haben, der möglicherweise durch intermarriage begegnet wurde, aller-dings in diesem Fall nicht wie bei anderen Kolonien durch die Heirat junger Griechen mit indigenen Frauen, sondern durch die Verbindung griechischer Frauen mit indigenen Männern.16 Möglicherweise spiegelt sich diese Situation auch in der vieldiskutierten Passage des Herodot über die Kontakte mit den lokal ansässigen Oinotrern wider.17 Die politische Entwicklung der Stadt im 5. Jh. v. Chr.: von Parmenides zu Zenon Die bestimmende Figur der Frühzeit von Elea war Parmenides, als Begründer der sogenannten Eleatischen Schule nicht nur einer der bedeutendsten Philoso-phen dieser Epoche, sondern vermutlich auch ein politisch aktiver Bürger, auf den die „guten Gesetze“ der Stadt zurückgeführt wurden (Abb. 4).18 Das in den Quellen überlieferte Geburtsdatum des Parmenides in der Zeit zwischen 542-539 v. Chr. koinzidiert mit dem Gründungsdatum der Stadt, was kaum als Zufall angesehen werden kann. Gemeinsam mit seinem Schüler Zenon reiste er angeb-lich um die Mitte des 5. Jh. v. Chr. nach Athen. Diese Reise fällt in eine Zeit des erhöhten Interesses Athens an Sizilien und Großgriechenland. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass für diese Reise nicht nur philosophische Interessen aus-schlaggebend waren, sondern dass sie auch der Vertiefung der politischen Ver-bindung der beiden Städte diente. Ob damit auch das ebenfalls in diese Zeit fal-lende Auftreten der Athena und der Eule als Münzbilder in der eleatischen Münzprägung in Verbindung zu bringen ist, wurde zuletzt kritisch diskutiert.19

Zenon spielte eine wichtige Rolle in einer dramatischen Veränderung der politischen Situation in Elea, nämlich dem Sturz der Tyrannis, wobei für den Tyrannen unterschiedliche Namen, meist Nearchos, aber auch Diomedontes, überliefert sind.20 Zenon und seine Freunde planten den gewaltsamen Sturz die-ses Tyrannen, wobei ihnen möglicherweise die Insel Lipari vor Sizilien als Basis diente. Die Verschwörung wurde jedoch entdeckt und Zenon festgenommen. Im Verhör nannte er auf die Fragen nach seinen Komplizen jedoch zunächst die Namen aller Freunde des Tyrannen. Schließlich näherte er sich dem Tyrannen unter dem Vorwand, weitere Namen nur ihm persönlich sagen zu wollen und biss ihn ins Ohr. Daraufhin wurde er von den Wachen des Tyrannen durchbohrt 16 Zur intermarriage vgl. etwa Dalby 1992, Anm. 29 mit einer Zusammenfassung der älteren Literatur; Coldstream 1993; La Genière 1995, besonders 33-40. 17 Vgl. dazu ausführlicher Gassner 2003, 247-249. 18 Zusammenfassend Vecchio 2005, 250-251. 19 Vgl. dazu mit der älteren Literatur Cantilena 2006, 436-437; Cantilena 2008, 525. 20 Vgl. dazu zuletzt zusammenfassend Vecchio 2005 und Vecchio 2012, 590-591, der als mögliche Quelle Timaios von Tauromenion vorschlägt.

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und fand so den Tod. In der Folge erhoben sich jedoch die Bewohner der Stadt und befreiten sie vom Tyrannen. Andere Versionen variieren die Details, sind aber in den Grundzügen identisch.

Für die Rekonstruktion der Chronologie dieser Ereignisse haben wir aus-schließlich die Lebensgeschichte des Zenon zur Verfügung. Seine Akme wird von verschiedenen Quellen in die Jahre 464-461 v. Chr. gesetzt, was ein Ge-burtsdatum am Ende des 6. Jh. v. Chr. ergibt.21 Da Zenon angeblich 78 Jahre alt wurde, folgt daraus, dass er zwischen 426 und 423 v. Chr. ermordet wurde. Die Tyrannis muss somit ein Phänomen des dritten, vielleicht auch schon des zwei-ten Viertels des 5. Jh. v. Chr. gewesen sein.

In das 5. Jh. v. Chr. wird üblicherweise auch ein von Strabon überlieferter Konflikt zwischen Poseidonia und Elea datiert, ohne dass wir hier Zusammen-hänge mit der Tyrannis oder ihrer Abschaffung erkennen können.22 Für die Fol-gezeit setzen unsere historischen Quellen aus, auch wenn wir anhand der archäo-logischen Forschungen erkennen können, dass am Beginn des 4. Jh. v. Chr. grundlegende Veränderungen stattgefunden haben müssen, als die Stadt nicht nur eine neue, stärkere und nun mit Türmen versehene Stadtmauer erhielt, son-dern auch durch zusätzliche Binnenmauern, sog. Diateichismata, verstärkt ge-schützt wurde.23 Die Stadt der Gründungsphase – die archäologischen Zeugnisse Während die literarisch überlieferte Gründungsgeschichte der Stadt häufig und gerne behandelt wurde, haben die archäologischen Zeugnisse dieser frühen Pha-se nicht dieselbe Aufmerksamkeit erfahren. Dies beruht zum Teil darauf, dass die frühesten Zeugnisse meist nur in eingeschränktem Maß ausgegraben werden konnten; außerdem wurden wichtige Bereiche der frühen Stadt zwar ausgegra-ben, aber nur unzureichend publiziert. Beim derzeitigen Forschungsstand ken-nen wir archäologische Kontexte der Gründungsphase ausschließlich von der Akropolis, auch wenn es gewisse Hinweise gibt, dass auch die West- und die Oststadt in dieser Zeit bereits – vielleicht im Kontext eines ersten Anlegeplatzes – besiedelt waren (Abb. 5).24 Am Ende dieser ersten Periode, vermutlich zwi-

21 Zur Diskussion der verschiedenen vorgeschlagenen Daten für die Lebenszeit des Zenon siehe zuletzt Vecchio 2005. 22 Strabon 6.1.1. Zu den archäologischen Veränderungen dieser Zeit siehe infra. 23 Zum Phänomen des Diateichismas vgl. Sokolicek 2009, zu Velia besonders 132-135. 24 Zur frühen Phase auf der Akropolis vgl. Fiammenghi 1994; Krinzinger 1994; Cicala & Fiammenghi & Maffettone & Vecchio 1999; Krinzinger 1999; Cicala 2002; Krinzinger 2003; Cicala 2006a; Greco 2006; Greco 2012. Zu einer möglichen frühen Phase in den küstennahen Bereichen vgl. Gassner 2003, 161; Greco 2012, 1042-1043 (mit der älteren Literatur) geht hingegen von mehreren frühen Siedlungsnuklei, darunter auch solchen in der Ost- und in der

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schen 480-470 v. Chr., erfolgte eine Reorganisation der Akropolis, indem die Wohnbebauung aufgegeben wurde und der Platz eine ausschließlich sakrale be-ziehungsweise öffentliche Funktion erhielt. Gleichzeitig oder wenig später wur-de die erste Stadtmauer errichtet, die zu dieser Zeit das südliche Stadtgebiet bis zur späteren Eckbefestigung des sog. Castelluccio umschloss.25 Aus dieser Phase kennen wir auch die erste nachweisbare Wohnbebauung aus der Unterstadt.26 Das Heiligtum auf der Akropolis Das früheste bekannte Heiligtum der Stadt befand sich im westlichen Bereich des Akropolis-Hügels (Abb. 6) und war wahrscheinlich wie in der Mutterstadt Phokaia der Athena geweiht. Alternativ wurde auch die Verehrung der Hera vorgeschlagen, obwohl die Belege dafür nicht eindeutig sind.27 Die Zeugnisse für den frühesten Kultplatz sind aufgrund der späteren antiken und nach-antiken Überbauung nur in geringen Resten erhalten. Mit ersten tiefgreifenden Umstruk-turierungen ist schon bei der Erbauung des großen Tempels zu rechnen, aber spätestens die Errichtung des mittelalterlichen Turmes hat das Erscheinungsbild des Platzes entscheidend verändert.

Einziges sicher fassbares Zeugnis ist eine in Ost-West-Richtung verlau-fende Mauer westlich des späteren Tempels, die in auffallend schön gefügtem polygonalem Mauerwerk errichtet wurde, was wohl zu recht als Reminiszenz auf die ostägäische Herkunft der Eleaten gesehen wurde (Abb. 7).28 Die dem abgearbeiteten Fels vorgeblendete Mauer wurde von der Forschung als Teil ei-nes spätarchaischen Temenos angesehen, dessen Charakter und Ausdehnung in Nordstadt, aus, wobei letztere meines Erachtens nach jedoch nicht eindeutig nachgewiesen sind. 25 Zur Befestigung vgl. zuletzt Gassner 2001; Sokolicek 2006a; Gassner & Krinzinger & Sokolicek & Trapichler 2009. Die frühe Datierung der die Nordstadt umgebenden Befesti-gung, die in den 1970er Jahren von F. Krinzinger vorgeschlagen wurde, kann nach heutigem Forschungsstand nicht als gesichert angesehen werden, vgl. Krinzinger 1986; zuletzt F. Krinzinger in Gassner & Krinzinger & Sokolicek & Trapichler 2009, 31-36. 26 Krinzinger 1994, 21-33; Gassner 2003. 27 Zum Heiligtum allgemein vgl. zuletzt Krinzinger 1999; Greco 2006, 296-308; Greco 2012, 1046-1049. Zur Verehrung der Hera siehe Tocco Sciarelli 1997; Greco 2005a, 159. Diese Annahme beruht auf der – allerdings nicht unumstrittenen – Interpretation von Graffiti auf Votivgefäßen als Weihinschrift an Hera. Allerdings wäre hier auch eine Ergänzung als „hei-lig, geweiht” vorstellbar, s. Vecchio 2006, 373. Für Athena könnte auch der Fund einer eben-falls spätarchaischen Inschrift auf der Akropolis sprechen, die möglicherweise neben Zeus auch Athena Hellenia nennt, doch bleibt diese Interpretation fraglich, vgl. Vecchio 2003, 34-36, n. 1. 28 Diese Mauer wird im Westen von der späteren hellenistischen Stoa, im Osten vom großen Tempel gestört, sodass ihre Länge insgesamt nicht einmal 6 m beträgt. Vgl. Cicala & Fiammenghi & Maffettone & Vecchio 1999, fig.1: Mauer M 16; Krinzinger 1999; Greco 2005a; Greco 2006, 296-298; Krinzinger 2006, 164-167; Mertens 2006, 354-356; Greco 2012, 1046-1048.

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den letzten Jahren lebhaft diskutiert wurden. Seine ausführlichste Rekonstrukti-on verdanken wir F. Krinzinger, der anhand von Beobachtungen von Abarbei-tungen im Fels Vorschläge zu seiner Ausdehnung machte.29 Ausgangspunkt für alle Überlegungen ist die Polygonalmauer, die als Südbegrenzung des Temenos angenommen wurde. Sein westliches Ende wird vermutlich durch einen deutlich erkennbaren Abfall des Felsens um fast 2 m im Westen unter der späteren Stoa bestimmt. Im Osten ließ sich hingegen in der Cella des späteren Tempels im an-stehenden Fels ein im rechten Winkel an die rekonstruierte Verlängerung der Polygonalmauer anschließender Fundamentgraben erkennen, den Krinzinger als Hinweis auf die Ostbegrenzung des Temenos nahm. Wesentlich schwieriger zu bestimmen bleibt die nördliche Begrenzung des Platzes. Krinzinger hat vorge-schlagen, den anstehenden Fels im Nordbereich der Akropolis noch als inte-grierten Teil der Terrasse zu sehen, die dann eine Größe von 35 x 22 m erreicht hätte, aber auch – nach dem höchsten Niveau des anstehenden Felsen – mindes-tes 4 m hoch gewesen wäre.30 Geht man hingegen davon aus, dass der felsige Nordbereich nicht mehr zum Temenos gehört hätte, würde die Höhe der Terras-se vom Fuß der Polygonalmauer bis zur Oberfläche des Felsen noch immer rund 2,80 m betragen.31 Die Größe der Terrasse würde mit einer deutlich reduzierten Breite demnach 35 x 14,50 m betragen. Kürzlich hat G. Greco vorgeschlagen, vier kleine, in ihrer Orientierung in etwa der Polygonalmauer entsprechenden Mauerreste südlich des späteren Tempels als eine Art Zugangsrampe zur Terras-se dieses ältesten Heiligtums zu interpretieren.32 Sie liegen allerdings auf deut-lich tieferem Niveau als die Polygonalmauer, lassen keine für eine Rampe zu erwartende Strukturierung erkennen und bieten mit einer durchschnittlichen Mauerbreite von nur knapp 0,60 m auch kaum die statischen Voraussetzungen für einen monumentalen Zugang. Daher scheint mir die von A. Fiammenghi vorgeschlagene Interpretation der Mauern als Reste von Wohnhäusern weiterhin vorzuziehen zu sein.33

Im eben beschriebenen Bereich konnten keine konkreten Spuren eines Kultgebäudes festgestellt werden, sodass die Existenz eines Kultbaus bezweifelt wurde. G. Greco hat jedoch kürzlich mit Recht darauf hingewiesen, dass die doch beachtliche Anzahl von Antefixen des Typus a palmetta diritta o pendula

29 Krinzinger 1999. 30 ebd., 29. Das Niveau am Fuß der Polygonalmauer lag bei 70,00 abs., der höchs-te Punkt des Felsens bei 74,16 abs. Die genannten Felsen an der Nordseite der Akropolis wei-sen deutliche Abarbeitungsspuren auf, die jedoch nicht näher datiert werden können. 31 Niveau beim Fuß der Polygonalmauer bei 70,00 abs.; Niveau des höchsten Punkts des an-stehenden Felsen innerhalb des Podiums des späteren Tempels bei 72, 87 abs. Vgl. auch Cicala & Fiammenghi & Maffettone & Vecchio 1999, fig 4. 32 Greco 2006 299-300, fig. 2. 33 Fiammenghi 1994, 78-79, fig. 120-122.

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(Abb. 8) beziehungsweise a testa femminile, die auf der Akropolis gefunden wurden, das Vorhandensein eines gedeckten Gebäudes wahrscheinlich machen, das dann wohl als früher Tempel zu interpretieren wäre.34 Vorstellbar wäre eine große Terrasse, auf der ein kleinerer Kultbau gestanden ist. Gehen wir allerdings davon aus, dass die polygonale Mauer nicht die Stützmauer einer Terrasse war, sondern zum Podium eines Tempels gehörte, so würden seine Maße in der zwei-ten, schmäleren Version von 38 x 14,50 m gut zu den Dimensionen der kontem-porären Tempelarchitektur, etwa des Athenatempels von Poseidonia, passen.35 Die urbanistische Organisation der Akropolis Während die westliche Akropolis der Platz des frühesten Heiligtums war, wurde der östliche Bereich von Wohnhäusern eingenommen, die in der Regel als ältes-ter Kern der phokäischen Polis angesprochen werden. Die exakte Grenze zwi-schen dem Heiligtum und dem Wohngebiet konnte nicht bestimmt werden. Zu-sätzliche Schwierigkeiten bereitet die Tatsache, dass die eigentliche Kuppe des Hügels in römischer (?) oder mittelalterlicher Zeit so eingeebnet wurde, dass eine großflächige Terrasse entstand. Die älteren Befunde wurden dabei weitge-hend vernichtet, sodass die spätarchaischen Besiedlungen nur mehr an den Rän-dern dokumentiert werden konnten. 1975 wurde von M. Napoli eine Hausgruppe an der Nordseite der Akropolis ergraben, 1969-1978 von B. Neutsch ein Wohn-viertel am Südabhang der Akropolis erforscht.36 Zumindest für den Bereich der Häuser A.II-VI konnte L. Cicala zwei Bauphasen nachweisen.37

Die Häuser dieser frühen Periode bestanden aus Lehmziegeln, die auf ei-nem ein- bis zweilagigen Sockel aus kleinen Sandsteinen auflagen. In den Fäl-len, in denen die Häuser in den Hang hineingesetzt waren und somit direkten Kontakt mit dem Boden oder Fels hatten, konnten auch weitere Teile der Wände aus Steinen bestehen, die dann wieder in polygonaler Technik verlegt waren (Abb. 9). Die Dächer waren vermutlich aus gebrannten Dachziegeln.38 In der

34 Greco 2005a, 159-160; möglich wäre auch eine gedeckte Halle, doch scheint auch in die-sem Fall dann die Existenz eines Tempels wahrscheinlich. Zu den Architekturterrakotten vgl. Greco & Strazzulla 1994a; Greco & Strazzulla 1994b; Cicala 2006b; Greco 2006, 302-303 weist auch auf zwei Miniaturgefäße hin, die nach ihrer Meinung in ritueller Weise im West-teil dieses frühen Heiligtums deponiert wurden. 35 Maße des Athenatempels: 32,88 x 14,50 m, vgl. Mertens 2006, 224. 36 Cicala 2002; vgl. auch Neutsch 1994. Zu den römischen und/oder nach-antiken Aktivitäten siehe Greco 1977, 781-786; Cicala 2002, 66; Greco 2006, 326. 37 Cicala 2002, 102-103. 38 Die Zahl der erhaltenen Dachziegel aus den Grabungen Neutschs ist gering, doch kann dies zum einen darin begründet sein, dass Dachziegel in dieser Forschungsepoche meist nicht ge-borgen und magaziniert wurden. Zum anderen ist davon auszugehen, dass die Dachziegel bei der intentionellen Schleifung des Wohnviertels abgenommen und an anderer Stelle wieder-verwendet wurden.

Die urbanistische Entwicklung von Elea in Großgriechenland 427

Regel bestanden sie aus einem, zwei oder höchstens drei kleinen Räumen und hatten selten mehr als 25 bis 40 m2 Größe.

Aufgrund des lückenhaften Erhaltungszustands dieses Wohnviertels, aber auch der teilweise beträchtlichen Höhendifferenzen fällt es schwer, eine regel-mäßige urbanistische Organisation des Bereichs zu erkennen, sodass die Akro-polis von Elea oft als klares Beispiel einer organisch gewachsenen Siedlung oh-ne übergeordnete urbanistische Konzeption angeführt wurde, die sich vor allem an den Vorgaben des Geländes orientiert hätte und als charakteristisch für phokäische Siedlungen galt.39 Betrachtet man das Siedlungsgefüge jedoch ge-nauer, so kann man verschiedene Orientierungen erkennen, die als Grundlage eines urbanistischen Systems anzusehen sind (vgl. Abb. 22).

An der Nordseite der oberen Terrasse lagen die Häuser A.II-A.VI, deren Eingänge sich nach Norden öffneten und damit anzeigten, dass hier ursprünglich eine Straße anzunehmen ist, die durch einen späteren Abbruch der Nordseite verloren ging. Die Ausrichtung der Langseiten dieser Häuser entspricht etwa jener der Polygonalmauer, die als Ausgangspunkt für die Rekonstruktion des ältesten Heiligtums gedient hat (Richtung 1a). Die Häuser am Südabhang richte-ten sich hingegen an der Straße Nr. 140 aus, die möglicherweise als Hauptver-kehrsader dieses Viertels anzusprechen ist (Richtung 1b). Dieser Richtung folg-ten auch die spärlichen Reste von zwei Häusern an der Südseite der oberen Ter-rasse (A.VII-VIII.). Die Fortsetzung der Straße Nr. 1 ist offensichtlich durch spätere Eingriffe, wie einen mittelalterlichen Kalkofen, zerstört worden,41 doch ihre Verlängerung nach Süden würde mit der Straße Nr. 3 einen rechten Winkel bilden. Am Südhang der Akropolis fand sich in der NW-SO orientierten Straße Nr. 2 noch eine weitere Orientierung (Richtung 1c). Diese Straße führte in Rich-tung der Orchestra des späteren Theaters und respektierte offensichtlich die Ausdehnung des Felsens, der später für das westliche Koilon des Theaters ver-wendet wurde. Ihre Richtung passt zwar nicht zur Ausrichtung der Straße Nr. 1, doch zeigt ein Blick auf den im Osten folgenden Hügel des Sektors II, dass auch sie sich wiederholt, da ihre Orientierung dort von den spätarchaischen Häusern aufgenommen wird. Unklar bleibt, ob diese unterschiedlichen Richtungen einer einzigen Planung oder zwei aufeinander folgenden Bauphasen zuzuschreiben sind. Jedenfalls existierten damit in spätarchaischer Zeit bereits zwei regelmäßig zu beobachtende Bebauungsrichtungen, die B. Neutsch vielleicht zu enthusias-tisch „prähippodamisch“ genannt hat.42 Das frühe Wohnquartier auf der Akropo-

39 Zuletzt Cicala 2002, 70-72; Greco 2005, 154; Cicala 2006a, 211. Zur sog. phokäischen Siedlungsform s. etwa Tréziny 2006, 527-528 mit der älteren Literatur. 40 Cicala 2002, 67-70, zur Straßenbenennung vgl. 69, Abb. 12. 41 Neutsch 1994, 66. 42 Zuletzt ebd., 57. Vorsichtig Krinzinger 1996, 163.

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lis wäre demnach nicht nur an das natürliche Gelände angepasst gewesen,43 son-dern hätte zumindest ansatzweise die Grundzüge der kontemporären, regelmäßi-gen Stadtplanung reflektiert. Der Hügel des Sektors II und der anschließende Kultplatz 3 Wie schon die Grabungen der 1980er Jahre gezeigt haben, war die Siedlung der ersten Generation nicht auf die Akropolis beschränkt, sondern erstreckte sich auch auf den nächsten Hügel, den wir als Sektor II bezeichnen.44 Die Rekon-struktion dieses Siedlungsbereichs war noch schwieriger als auf der Akropolis, da die natürliche Geländeformation dieses Hügels noch dramatischer verändert worden war, als in hellenistischer Zeit eine große Terrasse für das Heiligtum von Poseidon Asphaleios und Hera geschaffen wurde.45 Reste der spätarchai-schen Bebauung haben sich daher nur an den Rändern dieser Terrasse, vor allem im Nordbereich, erhalten. Das am besten bekannte Beispiel lag im Osten des hellenistischen Terrassenheiligtums.46 Hier konnten zwei Einraumhäuser identi-fiziert werden, die in einer späteren Phase durch eine größere Wohneinheit (Haus A.I.) überbaut wurden, die aus drei bzw. vier Räumen bestand und nach Norden orientiert war (Abb. 10). Hinweise auf weitere Häuser fanden sich im Bereich des späteren Heiligtums, überbaut und teilweise zerstört durch seine Osthalle. Der Bestand an Häusern wird ergänzt durch ein weiteres Haus an der Westseite des Hügels, von dem nur die Südost-Ecke erhalten geblieben ist.47 In ihrer Orientierung entsprechen diese Häuser der Richtung 1c der Akropolis.

Unter den Funden aus Haus A.I fallen einige Fragmente von Statuetten des sog. Ionischen Typs auf, weiters Pfeilspitzen und eine beträchtliche Zahl von Beispielen von schwarz- und rotfiguriger attischer Keramik, die kaum mit dem Kontext von Wohnhäusern zusammenpassen. Außerdem wurde in sekundä-rer Lage in einer Deponierung unter der hellenistischen Stadtmauer im Bereich von Kultplatz 1 das Fragment einer archaischen Statuette, einer weiblichen thro-nenden Figur, gefunden, für die sich die besten Parallelen im städtischen Heilig-tum der Hera in Poseidonia finden. Insgesamt mehren sich so die Hinweise, dass wir auf dem Hügel von Sektor II vielleicht nicht nur mit Wohnhäusern, sondern auch mit einem weiteren archaischen Heiligtum rechnen können, das als Vor-gänger des späteren Heiligtums von Poseidon und Hera anzusprechen wäre.

43 So zuletzt Cicala 2006a, 211; Mertens 2006, 206. 44 Zur Bebauung dieses Bereichs (Terrasse des Heiligtums des Poseidon Asphaleios) vgl. Cicala 2002, 119-130. 45 Vgl. zuletzt Gassner 2005; Gassner 2008; Gassner & Ladurner & Svoboda 2009. 46 Bencivenga 1983; Cicala 2002, 119-130; 154-156, n. A.I.; Gassner 2005. 47 Alle Häuser außer dem Haus A.I wurden bei den Grabungen des Jahres 2006 dokumentiert und sind noch unpubliziert.

Die urbanistische Entwicklung von Elea in Großgriechenland 429

Mögliche architektonische Zeugnisse dafür wären dann alle den hellenistischen Bauaktivitäten zum Opfer gefallen.48

Hinweise auf eine weitere spätarchaische Kultstätte hat ein Zufallsfund im Bereich des späteren Kultplatzes 3 erbracht. In den steilen Hängen südlich des späteren Heiligtums wurde nach einem großen Buschfeuer im Sommer 2008 ein fast unversehrtes Relief gefunden, das dem Typus der sogenannten Kybele-Reliefs entsprach (Abb. 11).49 Dargestellt ist eine aufrecht auf einer Bank sit-zende Frau mit Schleier und Diadem, die beide Hände auf die Knie gelegt hat. Kennzeichnende Attribute fehlen. Bei den Grabungen im Kultplatz 3 im Jahr 2010 konnte der untere Teil eines weiteren Reliefs in sekundärer Verbauung ge-funden werden. Der Typus war in Elea bereits von einem heute im Nationalmu-seum von Neapel befindlichen Relief bekannt, das am Ende des 19. Jahrhunderts an einem heute nicht mehr näher identifizierbaren Punkt des Stadtgebiets gefun-den wurde. Er findet gute Parallelen in Massalia, von wo mehr als 40 Beispiele bekannt sind.50 Die beiden Neufunde der Jahre 2008 und 2010 erlauben nun mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass die Verehrung der Göttin im Be-reich des späteren Kultplatzes 3 erfolgte. Da sich entsprechende Heiligtümer häufig am Rand des Stadtgebiets fanden, wie etwa die Beispiele aus der Mutter-stadt Phokaia zeigen, könnte die Lokalisierung des Heiligtums im Osten des Einschnitts der späteren Porta Rosa auch einen Hinweis auf die Ausdehnung des spätarchaischen Siedlungsgebiets geben.51 Zusammenfassung Die erste Siedlung von Elea konzentrierte sich auf die Akropolis und den nach Osten folgenden Hügel (Sektor II), auch wenn vereinzelte Hinweise auf eine Nutzung und Besiedlung des küstennahen Bereichs nicht fehlen und auf die mangelnde Erforschung der frühen Kontexte im unteren Bereich der Stadt hin-zuweisen ist. Demnach wäre die archaische Stadt vor allem auf die beiden Hügel westlich des dominanten Einschnitts des Frittolo, des Wassertals, das später West- und Oststadt trennte, konzentriert gewesen, wobei beide Hügel sowohl Wohnviertel als auch ein Heiligtum getragen haben könnten. Für die Akropolis scheint nach heutigem Wissensstand die Verehrung der Athena wahrscheinlich, während für das Heiligtum auf dem anschließenden Hügel in Analogie zur spä-teren Situation Hera und Poseidon und damit die beiden wichtigen Gottheiten 48 Gassner & Ladurner & Svoboda 2009; Svoboda 2010; Ladurner 2010. 49 Höhe 0,53 m, Breite 0,41 m, Tiefe 0,22 m. Vgl. Gassner & Ladurner & Svoboda 2009, 85-87; Gassner 2010 mit weiterer Literatur zur Problematik der Kybele-Reliefs. 50 Johannowsky 1961; zu Massalia vgl. Hermary 2000a; Hermary 2000b, 132 mit weiterer Literatur; zusammenfassend de La Genière 2003. 51 Zur Situation in Phokaia vgl. Naumann 1983, 153-155; Graf 1985, 401-403; Özyiğit & Er-dogan 2000, 11-23.

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der Nachbarstadt Poseidonia vorstellbar sind. Dieses Modell würde der Situation im archaischen Massalia nahe kommen, für welches Strabon einen Tempel der Athena auf dem Hügel Petra beschreibt, während auf der Halbinsel von Butte Saint Laurent das Heiligtum von Artemis und Apollo angenommen wird.52 Auch wenn die topographische Situation für die Art der Bebauung eine entscheidende Rolle spielt, ließen sich durch Beobachtung unterschiedlicher, aber regelhaft wiederkehrender Richtungen Hinweise auf eine übergeordnete urbanistische Or-ganisation dieser frühen Stadt finden. Unklar bleibt die Lage des ersten städti-schen Zentrums, der Agora, für die sich allerdings zu dieser Zeit auf der oberen Terrasse der Akropolis Platz gefunden hätte. Nach unserem bisherigen Kennt-nisstand war diese erste Siedlung nicht befestigt. Einziger bisheriger Hinweis ist eine 1,80 m breite Lehmziegelmauer im westlichen Bereich der späteren Terras-senmauer I, die jedoch nur in einem sehr kurzen Abschnitt ergraben wurde.53 Sie findet keine Entsprechungen im übrigen Stadtgebiet, sodass für sie auch andere Funktionen angenommen werden können. Die Entwicklung der Stadt im 5. Jh. v. Chr. In der zweiten Hälfte des 5. Jh. v. Chr. wurden die Wohnviertel sowohl auf der Akropolis als auch auf dem östlich anschließenden Hügel des Sektors II inten-tionell aufgegeben. Die spätarchaischen Häuser wurden im gesamten Bereich verlassen und einplaniert. Die Akropolis wurde von da an ausschließlich als öf-fentlicher und sakraler Raum genutzt, während wir nicht wissen, welchen Zweck der Sektor II bis zur Errichtung des Heiligtums im 4. Jh. v. Chr. erfüllte. Ab dem zweiten Viertel des 5. Jh. v. Chr. lassen sich auch in der Unterstadt erstmals Wohnhäuser nachweisen, wobei eine geschlossene Verbauung des Gebiets wahrscheinlich scheint. Spätestens um die Mitte des 5. Jh. v. Chr. wird auch die erste Stadtbefestigung errichtet, die zumindest das südliche Stadtgebiet von der Akropolis bis zur späteren Eckbefestigung des Castelluccio einschließt. Die Monumentalisierung der Akropolis Der grundlegende Funktionswandel der Akropolis führte zu einem neuen archi-tektonischen Konzept, das massive Eingriffe in den anstehenden Fels mit ein-schloss und am Ende des 5. Jh. v. Chr. mit der Umgestaltung des Akropolis-Hügels in zwei große Terrassen abgeschlossen wurde (Abb. 6). Die obere Ter-rasse bildete das Zentrum des Heiligtums, auf der zu einem vermutlich späteren Zeitpunkt der Haupttempel errichtet wurde, während die Südost-Seite des Hü-gels zu einer langen Terrasse umgestaltet wurde, der sogenannten Theater-

52 Gantès & Moliner & Tréziny 2001, 205-207. 53 Krinzinger & Gassner 1997.

Die urbanistische Entwicklung von Elea in Großgriechenland 431

Terrasse, deren Ende im Nordosten in der Senke zwischen Akropolis und dem Hügel des Sektors II lag (Abb. 12).

Diese Theater-Terrasse wurde in der ersten Phase der Umgestaltung er-baut und wurde durch die Terrassenmauer I, eine lange Stützmauer in pseudo-polygonaler Technik, gebildet. Hinweise auf weitere Bauten oder Installationen haben sich nur in der Form von in den Fels eingeschnittenen Rinnen und Gruben erhalten.54 Die völlige Umgestaltung des Bereichs wird durch die Tatsache un-terstrichen, dass sich die Ausrichtung der neuen Terrasse grundlegend von jener der älteren, planvoll abgetragenen Häuser unterschied. Der genaue Zeitpunkt dieser Umgestaltung ist schwer zu definieren. Auf der Basis der Funde aus der Hinterfüllung der Terrassenmauer I hat J.-P. Morel ein Datum zwischen 480/470 v. Chr. angenommen, während L. Cicala ein etwas späteres Datum um die Mitte des 5. Jh. v. Chr. vorschlug.55 Da sich das Fundrepertoire der Häuser auf der Ak-ropolis aber eindeutig durch die vermehrte Präsenz von ionischen Schalen von jenem der in das zweite Viertel des 5. Jh. v. Chr. datierenden Häuser in der Un-terstadt unterscheidet, scheint mir die frühere Datierung wahrscheinlicher zu sein.56

In einer folgenden, zeitlich nur schwer eingrenzbaren Phase in der zweiten Hälfte des 5. Jh. v. Chr. wurde auch der oberste Bereich der Akropolis neu ge-staltet, indem der Fels an der Südseite abgearbeitet und ihm die Terrassenmauer II vorgeblendet wurde. Sie diente der Sicherung der obersten Terrasse und un-terschied sich in ihrer Ausrichtung deutlich von der Terrassenmauer I, was nicht nur durch die natürliche Geländesituation bedingt, sondern auch einem überge-ordneten, weitere Stadtteile betreffenden Vermessungssystem geschuldet war.57 Diese Mauer hat sich aus verschiedenen Gründen als besonders problematisch erwiesen, da sie aus mehreren Abschnitten mit unterschiedlicher Bautechnik be-stand, die zeitlich vermutlich zu differenzieren sind, wobei die umfassende Res-taurierung der Terrassenmauer in den 1980er Jahren heute weiterführende Ana-

54 Krinzinger 1999, 24; Krinzinger 2003, 22-23; Greco 2005a, 165-166; Krinzinger 2006, 167-168; Greco 2012, 1060-1062. 55 Morel 1970; Cicala 2002, 94-100; 112-114. Zu den angenommenen Korrelierungen mit der politischen Geschichte vgl. Greco 2005a, 164; Vecchio 2005, 253-258. 56 Gassner 2003, 68-71; Gassner 2006, 487-493. Zur Übereinstimmung der Ausrichtung der Terrassenmauer I mit jener der Lehmziegelhäuser in der Unterstadt vgl. infra den Abschnitt „Überlegungen zur urbanistischen Planung von Elea“ und besonders Anm. 93. 57 Die Datierung der Mauer beruht auf – wenigen – Funden aus mit ihrer Errichtung verge-sellschafteten Kontexten, die innerhalb des Theaters ergraben wurde. M. Trapichler hat dafür die zweite Hälfte bzw. das Ende des 5. Jh. v. Chr. vorgeschlagen. Ihre Bearbeitung der Funde aus den Theatergrabungen ist bisher unpubliziert; vgl. dazu auch Krinzinger 2003, 23-24. Zur urbanistischen Organisation vgl. infra den Abschnitt „Überlegungen zur urbanistischen Pla-nung von Elea“.

432 Verena Gassner

lysen schwierig macht.58 Krinzinger ging bei seiner Studie dieser Mauer davon aus, dass der Westteil der jüngere, der von ihm ins 5. Jh. v. Chr. datierte Ostteil der ältere ist, doch ist die Situation vermutlich komplexer als angenommen. Die Errichtung dieser obersten Terrasse könnte auch mit einer Umgestaltung des ei-gentlichen Sakralbereichs einhergehen, die sich jedoch bisher zeitlich nur schwer festmachen ließ. Die frühen Heiligtümer: die Akropolis und die Zeusterrasse Zu den großen, immer noch offenen Fragen in der Umgestaltung der Akropolis zählt die Problematik des großen, als ionisch angesprochenen Tempels auf der obersten Terrasse (Abb. 13).59 Der erste Ausgräber des Tempels, A. Maiuri, hat ihn in das erste Viertel des 5. Jh. v. Chr. datiert, doch wurde diese zeitliche Ei-nordnung in den letzten Jahrzehnten aufgrund des auffallend gedrängten Grund-risses mit gutem Grund bezweifelt. Mertens und Krinzinger haben in der Folge eine hellenistische Datierung vorgeschlagen, die vor einer gründlichen bauge-schichtlichen Untersuchung des Monuments jedoch nur als Hypothese gelten kann60. Dieser Unsicherheitsfaktor in der zeitlichen Einordnung des dominieren-den Bauwerks auf der Akropolis belastet die gesamte weitere Interpretation des Platzes, dessen Gestaltung mit einem großen Tempel sowie der Errichtung eines Theaters im Ostteil erst für den frühen Hellenismus klar fassbar wird.

Wenn wir davon ausgehen wollen, dass der heute unter dem mittelalterli-chen Turm sichtbare große Tempel nicht im 5. Jh. v. Chr. errichtet oder zumin-dest nicht vollendet wurde, so stellt sich die Frage nach dem Aussehen des Hei-ligtums in dieser Zeit. Wir können entweder davon ausgehen, dass das in spätar-chaischer Zeit errichtete Heiligtum weiter in Funktion war, weil – so die Argu-mentation Krinzingers – die Neugestaltung des Heiligtums zwar begonnen, je-doch nicht abgeschlossen werden konnte, oder wir müssen annehmen, dass et-waige Bauten des 5. Jh. v. Chr. durch die späteren Eingriffe völlig vernichtet wurden.61 Die Untersuchungen des Jahres 1991 an der Westseite der Akropolis deuten jedenfalls Bautätigkeit an, da unter der mittelalterlichen West-Bastion Strukturen in opus quadratum angeschnitten wurden.62 Eine klare Neugestaltung des Bereichs lässt sich jedoch erst in hellenistischer Zeit fassen.

58 Unter diesen Umständen ist die von J. Daum 1976 angefertigte Dokumentation der unrestaurierten Mauer mit Stereophotos als besonders wertvoll hervorzuheben: Daum 1999; die ausführlichste bisherige Diskussion der Mauer findet sich bei Krinzinger 1999. 59 Maiuri 1928, 14-29; Sestieri FA 12, 1956, nr. 2174; s. jetzt auch Vecchio 2012, 616-621 zu den Arbeiten von Mauri und Sestieri. 60 Mertens 1996, 261; Krinzinger 1999, 31-32; Greco 2006, 327-329; Mertens 2006, 355-356, vgl. auch Barletta 1996, 64-65, die kampanischen Einfluss annimmt. 61 Krinzinger 1999, 29-31. 62 Cicala & Fiammenghi & Maffettone & Vecchio 1999, 47-50, Periode II-1B und C.

Die urbanistische Entwicklung von Elea in Großgriechenland 433

Das 5. Jh. v. Chr. sieht auch den Beginn eines weiteren Heiligtums, das einen prominenten Platz auf dem Höhenrücken einnimmt (Kultplatz 8, Abb. 14).63 Auf der breiten Geländeschulter, die sich östlich des Frittolotals über der Ost-stadt erhebt, entstand um die Mitte des 5. Jh. v. Chr. ein Kultplatz, der nach Aussage einer Inschrift dem Zeus Ourios geweiht gewesen sein könnte (Abb. 15). Wo und in welcher Weise die drei aus paläographischen Gründen um die Mitte des 5. Jh. v. Chr. datierten Stelen mit Inschriften für Zeus Ourios, Pompaios und Olympios Kairos aufgestellt waren, entzieht sich unserer Kennt-nis, denn aufgrund der tiefgreifenden Neugestaltungen in hellenistischer Zeit müssen sie damals in jedem Fall neu aufgestellt worden sein.64 Möglicherweise sind hier ursprünglich auch die ebenfalls ins 5. Jh. v. Chr. datierenden Stelen für Zeus Alastoros und Zeus Hypatos Athenaios zu lokalisieren.65 In hellenistischer Zeit wurde dieser Platz zu einer monumentalen Terrasse mit Maßen von 91 x 95 m umgestaltet und dabei ältere Anlagen fast vollständig zerstört.66 Die For-schungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass im gesamten Bereich aus dem anstehenden Sandstein Steinblöcke gebrochen wurden, wobei diese Aktivitäten nach den erkennbaren Maßen der Blöcke am ehesten mit dem Neubau der Stadtmauer am Anfang des 4. Jh. v. Chr. in Verbindung zu bringen sind.67 Au-ßerdem ließ sich hier an mehreren Stellen im Fels die Rinnen einer Wasserlei-tung erkennen, die ihren Ausgang beim Castelluccio hatte und vermutlich in verschiedene Teile der Stadt führte. Auch sie kann möglicherweise in das 4. Jh. v. Chr. datiert werden.68 Die erste Stadtbefestigung Waren die Grenzen der Stadt der Gründungszeit nur sehr allgemein zu definie-ren, so wurde im Laufe des 5. Jh. v. Chr. ein großes Gebiet, das schon weitge-hend dem späteren Stadtgebiet entsprach, mit einer einfachen Mauer umfasst (Abb. 5). Es handelte sich um eine Lehmziegelmauer mit einer Breite von 1,80 m, die auf einem niedrigen Sockel aus kleineren, polygonal gefügten Sandstei-

63 Die bisher in Velia erforschten Heiligtümer konzentrieren sich fast alle auf dem Höhenrü-cken. Zu den bisher erforschten 9 Kultplätzen vgl. zuletzt zusammenfassend Gassner & Ladurner & Svoboda 2009; Gassner &Svoboda & Trapichler 2009. 64 Vgl. zu den Inschriften Vecchio 2003, 36-46, n. 2-4; Vecchio 2006, 366-380. 65 Vecchio 2003, 46-50, n. 5-6. Die erste wurde im Bereich der Porta Rosa gefunden, der Fundort der zweiten ist unbekannt. 66 Zur Zeusterrasse vgl. zuletzt Gassner &Svoboda & Trapichler 2009, 130-134. 67 Gassner 2012. Allerdings kann auch ein früherer Beginn des Steinbruchs schon mit der ers-ten Errichtung der Stadtmauer nicht ausgeschlossen werden. Die Forschungen auf der Zeusterrasse 2011-2013 wurden durch ein Projekt des österreichischen FWF finanziert. 68 Sokolicek 2006b; zur Wasserversorgung von Velia vgl. allgemein, wenngleich in der Datie-rung nicht unumstritten, De Magistris 2008.

434 Verena Gassner

nen auflag. Wir kennen aus dieser Phase weder Tore noch Türme.69 Ganz offen-sichtlich handelte es sich bei dieser ersten Befestigungsmauer um ein sehr einfa-ches System, das sich nicht mit den etwa gleichzeitigen Befestigungen von Neapolis oder von Kyme (Cuma) an der tyrrhenischen Küste Italiens verglei-chen lässt, die durch mächtige Steinsockel aus Quadern mit außen abgeschrägter Oberfläche charakterisiert werden.70 Ob dies mit den ökonomischen Möglichkei-ten im frühen Elea oder der spezifischen Situation der Mauer zusammenhängt, lässt sich nicht sagen.

Am besten bekannt ist der seit dem 19. Jahrhundert immer sichtbare Mauerzug A auf dem Höhenrücken, welcher die sog. Nordstadt vom südlichen Bereich der Stadt trennt (Abb. 16). Die östliche Begrenzung wird durch den Mauerzug C angegeben, während die Südbegrenzung unmittelbar am Hangfuß lag, wie die Entdeckung des Mauerzugs G in den Jahren 1998-1999 gezeigt hat (Abb. 17).71 Unklar bleibt dabei das Verhältnis der südöstlich, also meerseitig des Mauerzugs G liegenden Lehmziegelhäuser im Bereich der späteren Insula II. Entweder bog hier die frühe Stadtmauer scharf nach Süden um oder es handelte sich bei den genannten Häusern um ein extraurbanes Viertel, was allerdings an-gesichts des regelmäßigen Straßenrasters weniger wahrscheinlich scheint (s. infra). Ungelöst bleibt die Frage, ob auch die Nordstadt bereits im 5. Jh. v. Chr. entstanden ist. Diese Annahme beruht bisher alleine auf der Datierung der ersten Phase des die Nordstadt einschließenden Mauerzugs D in das 5. Jh. v. Chr., ohne dass diese als gesichert angesehen werden kann.72 Allerdings hat A. Sokolicek kürzlich gezeigt, dass der Mauerzug A nicht auf seine ganze Länge als einheit-lich durchgehendes Phänomen betrachtet werden kann, sondern dass sich sichere Zeugnisse dieser ersten Periode nur im Ostteil in den Sektoren IV und V finden, während sie im Westteil fehlen.73 Dies könnte auf eine zusammenhängende Ummauerung des gesamten Bereichs unter Einschluss der Nordstadt ohne tren-nende Mauer auf dem Höhenrücken hinweisen.74 In jedem Fall umfasst die erste Stadtmauer bereits ein Stadtgebiet von mindestens 46 ha (im Südteil), das mög-licherweise noch um 13 ha in der Nordstadt erweitert werden kann, sodass das

69 Zur Stadtmauer vgl. grundsätzlich Krinzinger 1986 (mit einer heute nicht mehr für gültig gehaltenen Frühdatierung); Krinzinger 2006; Sokolicek 2006a; Gassner & Krinzinger & Sokolicek & Trapichler 2009; zum Mauerzug A vgl. Gassner & Sokolicek & Trapichler 2009. 70 Giampaola & Fratta & Scarpati 1996; D’Agostino & Fratta & Malpede 2005; vgl. allge-mein Mertens 2006, 38; 343. 71 Gassner 2001. 72 Zum Mauerzug D vgl. zuletzt F. Krinzinger in Gassner & Krinzinger & Sokolicek & Trapichler 2009, 31. 73 Sokolicek 2006a, 197; vgl. auch Gassner & Sokolicek & Trapichler 2009. 74 Dieses Datum würde auch mit dem Vorkommen der ältesten Keramik in der Nordstadt kor-respondieren, die in das zweite Viertel des 5. Jh. v. Chr. datiert. Ich danke Maria Trapichler für die Informationen.

Die urbanistische Entwicklung von Elea in Großgriechenland 435

gesamte Stadtgebiet rund 60 ha betragen hätte. Dieses wäre aber – wie schon alleine die Geländesituation nahe legt – wohl kaum flächig bebaut gewesen.75

Diese erste Mauer wurde von der älteren Forschung in die Gründungsjah-re der Stadt datiert. Die zeitliche Einordnung beruhte dabei ausschließlich auf der als polygonal angesprochenen Mauertechnik des Steinsockels, denn auf-grund der kontinuierlichen Erosion, aber auch durch Steinraub hatte sich im Be-reich der Mauerzüge auf dem Höhenrücken keine verlässliche Stratigraphie er-halten.76 Erst die Entdeckung des Mauerzugs G in der Unterstadt ermöglichte eine bessere chronologische Einordnung dieser Befestigung, wobei auch hier die Straten relativ fundarm waren. Sie machen jedoch eine Datierung in das zweite Viertel oder kurz vor der Mitte des 5. Jh. v. Chr. wahrscheinlich.77 Dieser in der Unterstadt erarbeitete chronologische Ansatz wurde durch Analogieschluss auch auf die anderen Teile der Befestigung übertragen. Damit hätte Elea, wie die meisten großgriechischen Städte, erst ein halbes Jahrhundert nach seiner Grün-dung die ökonomischen Möglichkeiten erreicht, um ein aufwändiges Bauvorha-ben wie eine mehrere Kilometer lange Stadtmauer zu verwirklichen. Die urbanistischen Entwicklung der Stadt in der ersten Hälfte des 5. Jh. v. Chr. Unsere Vorstellungen von der urbanistischen Entwicklung der Stadt sind auch für das 5. Jh. v. Chr. noch sehr eingeschränkt. Am besten erforscht ist die soge-nannte Unterstadt am Ausgang des Frittolo-Tals im Bereich der späteren Insula II sowie entlang der Stadtmauer zwischen den Türmen B3 und B4, während un-sere Kenntnisse der Ost- und der Weststadt wesentlich schlechter sind. Beide Bereiche wurden vor allem in den 1960er-1980er Jahren untersucht, ohne dass diese Grabungen umfassend vorgelegt wurden. Die archäologischen Grabungen der Unterstadt wurden in den 1990er Jahren durch geo-archäologische Bohrun-gen ergänzt.78

Obwohl die folgenden Überlegungen zur Rekonstruktion der antiken Ge-ländesituation noch sehr hypothetisch sind, lässt sich aus den bisherigen Unter-suchungen ableiten, dass der als Stadtgebiet nutzbare Bereich im 6., aber auch im 5. Jh. v. Chr. noch wesentlich kleiner war als später und dass das Meer bis fast an den Beginn der Abhänge heranreichte (vgl. Abb. 5). Die Besiedlung be-schränkte sich daher vermutlich auf einen schmalen Landstreifen entlang einer

75 Die Größe von 60 ha hätte etwa jener von Megara Hyblaia entsprochen (60-70 ha), wäh-rend bedeutende Siedlungen wie etwa Kroton bis zu 620 ha erreichen konnten (Mertens 2006, 53), vgl. dazu auch Sokolicek 2006a, 195. 76 Krinzinger 1994, 228-30. 77 Gassner & Sokolicek & Trapichler 2009, 37-39. 78 Ortolani 1999; Sauer 1999.

436 Verena Gassner

kleinen Bucht, in welche der Wasserlauf aus dem Frittolo-Tal mündete. Der westliche Teil dieser Bucht unterhalb des Hügels von Sektor II könnte dabei durch eine Sanddüne oder möglicherweise sogar einige Felsklippen eingeschlos-sen gewesen sein, die später für die Errichtung des Mauerzugs B-West 1 ver-wendet wurden, doch sind hier aufgrund der tiefgreifenden Transformationen bei der Errichtung des Eisenbahntunnels im späten 19. Jahrhundert zuverlässige Aussagen kaum mehr zu treffen.79

Ab dem zweiten Viertel des 5. Jh. v. Chr. lässt sich eine großräumige Be-bauung der Unterstadt mit Häusern eindeutig durch die Lehmziegelhäuser im Bereich der späteren Insula II nachweisen (Abb. 18). Auch sie folgen wie die Häuser auf der Akropolis bereits einer Art von regelmäßigem Straßensystem, das bis jetzt allerdings nur in Teilbereichen erforscht ist.80 Von besonderem Inte-resse ist die Tatsache, dass sich der Eingang von Haus 1 nach Nordwesten öff-net, wo wir auch Hinweise auf eine Pflasterung aus Flyschsteinen gefunden ha-ben, während der Eingang in Haus 2 von Nordosten erfolgte. Wir können daher annehmen, dass beide Häuser von unterschiedlichen Straßen zugänglich waren und an einer Straßenkreuzung lagen. Bei den Grabungen der 1980er und 1990er Jahre ließen sich sowohl für die Häuser unter der späteren Insula II als auch für die Kontexte unter der sog. Thermenstraße im Nordosten der Insula II zwei Pha-sen nachweisen, die im zweiten Viertel des 5. Jh. v. Chr. rasch aufeinander fol-gen und durch eine Zerstörung der Häuser der ersten Phase durch eine vom Hang beziehungsweise aus dem Frittolotal kommende Mure bedingt waren. Die Bebauung der zweiten Phase fiel hingegen einer großen Meeresflut zum Opfer, welche den gesamten Bereich mit einer meterhohen Sandschicht bedeckte.

Wesentlich schlechter sind unsere Kenntnisse von der Besiedlung des 5. Jh. v. Chr. in der Ost- und der Weststadt. Bei der Weststadt ist trotz der wenigen erhaltenen Zeugnisse davon auszugehen, dass dieser zentrale Bereich der Stadt mit großer Wahrscheinlichkeit zu den frühen Siedlungsräumen zählt, die Fund-lücke also forschungsgeschichtlich bedingt ist. Frühe Kontexte wurden bei den Grabungen in der casa degli affreschi angeschnitten.81 Als weiterer Hinweis können einige ionische Schalen gelten, die in einem Schnitt auf der natürlichen 79 Die Annahme von Klippen beruht auf der Beobachtung Mario Napolis, dass die Fundamen-te des Rundturms B6 auf einem „Felsen” standen: Napoli 1970, 229. Kleine, felsige Inseln lassen sich auch heute noch am Südende der Bucht von Ascea bei den sog. Scoglie beobach-ten, während die Lokalisierung der – vermutlich größeren, historisch überlieferten – Inseln Pontia und Isacia, auch als Oenotrides bezeichnet, noch in Diskussion ist, vgl. dazu zuletzt De Magistris 2012. Die Annahme Ortolanis (Ortolani 1999, 132, fig. 11-13), dass die älteste Küstenlinie im Bereich der Eisenbahntrasse verlaufen ist, kann heute nicht mehr aufrecht ge-halten werden. 80 Krinzinger 1992/93, 31, Plan 1; Krinzinger 1994; Ertel 1994; Cicala 2002, 193-194; Gass-ner 2003, 158-168. 81 Cicala 2002, 60-64; Cicala 2006a, 210.

Die urbanistische Entwicklung von Elea in Großgriechenland 437

Terrasse unmittelbar westlich der römischen Thermen gefunden wurden.82 Im Bereich der Oststadt wurde eine Mauer in Polygonaltechnik freigelegt, die viel-leicht als Terrassenmauer zu interpretieren und aufgrund der Bautechnik mögli-cherweise in die Zeit des 5. Jh. v. Chr. zu setzen ist. Eine eher geringe Zahl von Funden aus dem frühen 5. Jh. v. Chr. weist auch auf eine Nutzung des Bereichs hin, ohne dass wir von einer flächigen Besiedlung ausgehen können.83 Ähnlich ist die Situation in der weitgehend unerforschten „Nordstadt“.84

Für die Gesamtentwicklung der Stadt wurden in den letzten Jahren ver-schiedene Modelle vorgeschlagen. G. Greco geht für die Frühzeit von mehreren Siedlungskernen aus, die sie auf dem Höhenrücken, aber auch in der West-, Ost- und Nordstadt ebenso wie in der Unterstadt annimmt. Die Stadt hätte damit von Anfang an Anspruch auf eine große Fläche erhoben, die dann im Laufe der Zeit auch bebaut worden wäre.85 Dieses Modell muss bei genauer Überprüfung der vorhandenen Evidenzen zumindest mit Vorsicht gesehen werden. H. Tréziny hat hingegen in Analogie zur Entwicklung von Massalia eine lineare Stadtentwick-lung vorgeschlagen, die vom ältesten Nukleus auf der Akropolis und dem an-schließenden Hügel des Sektors II ausgeht und die Siedlungsbereiche an den Abhängen und in der Unterstadt um einige Jahrzehnte später datiert.86 Auch die-ses Modell kann angesichts der großen Forschungslücken nur als vorläufig be-zeichnet werden. Die Stadtentwicklung in der zweiten Hälfte des 5. Jh. v. Chr. Um die Mitte des 5. Jh. v. Chr. wurde die Unterstadt von einer Meeresflut heim-gesucht, welche die Häuser unter der späteren Insula II unter einer mächtigen Sandschicht begrub. Vermutlich zur gleichen Zeit stürzte auch die Kurtine des Mauerzugs G ein und wurde aufgegeben. Die Gründe dafür konnten nicht mit Sicherheit bestimmt werden: Sie können in einer Naturkatastrophe, etwa einer massiven Hangrutschung, aber auch in einer kriegerischen Auseinandersetzung zu suchen sein.87 Die folgende Entwicklung der Unterstadt kann nur bruchstück-

82 Gassner & Sokolicek & Trapichler 2003, 67-69. 83 Zur Auffindung im Jahr 1935 vgl. Vecchio 2012, 618-619; zu den späteren Grabungen Krinzinger 1987; Otto 1988; Krinzinger 1994, 33-37. Die heute fassbaren architektonischen Überreste mit dem rechtwinkeligen Straßensystem der Oststadt sind nicht vor dem 4. Jh. v. Chr. anzusetzen, vgl. Krinzinger et al. 1999, doch konnte durch eine neuerliche Analyse der Altfunde im Rahmen einer Diplomarbeit an der Universität Wien durch A. von Miller eine flächige Besiedlung für die zweite Hälfte des 5. Jh. v. Chr. wahrscheinlich gemacht werden. 84 Zur Erforschung der Nordstadt von Velia vgl. zuletzt Vecchio 2012, 617-618. 85 Cicala 2002, 76-77; Greco 2003, 30; Greco 2005a, 161-163; Cicala 2006, 208. 86 Tréziny 2006, 516-523. 87 Zu einer möglichen kriegerischen Ursache vgl. etwa die bei Strabon 6,1.1. überlieferte Nachricht von Auseinandersetzungen zwischen Elea und Poseidonia, die jedoch zeitlich nicht genauer eingegrenzt werden können.

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haft, vor allem im Bereich der Grabungen entlang der Stadtmauer, rekonstruiert werden, zeigt aber, dass wir hier mit starken Veränderungen zu rechnen haben.

Die Kurtine G wurde nach ihrer Zerstörung nicht mehr aufgebaut, sondern von einer anderen Mauer (M1) mit deutlich geringerer Breite ersetzt.88 Auch für diese Mauer kann eine Zugehörigkeit zur Defensivarchitektur nicht völlig aus-geschlossen werden, doch scheint auch eine terrassierende Funktion, etwa für eine in diesem Bereich anzunehmende Straße, nicht unwahrscheinlich.89 Bemer-kenswert ist die Tatsache, dass diese Mauer eine in Hinblick auf Mauerzug G geänderte Orientierung aufwies (Richtung 3) und dass diese neue Richtung bis in die Kaiserzeit bestimmend für die urbanistische Organisation der Unterstadt von Elea bleiben sollte (vgl. Abb. 22). Auch diese Mauer M1 wurde relativ rasch, jedenfalls noch in der zweiten Hälfte des 5. Jh. v. Chr. zerstört. Da ihre Zerstörungsschicht immer wieder kleine Kiesel enthielt, die auf den Einfluss von Wasser hinweisen, kann als Ursache der Zerstörung möglicherweise eine weitere Mure aus dem Frittolo-Tal angenommen werden. Außerdem wurde be-reits unmittelbar südlich des Turmes B3 mariner Sand angetroffen, sodass auch ein Zusammenwirken mit einer Sturmflut nicht ausgeschlossen werden kann. Hinweise auf eine neuerliche Sturmflut in der zweiten Hälfte des 5. Jh. v. Chr. konnten auch in der Stratigraphie im Triporticushof der Insula II beobachtet werden.90

In der folgenden Zeit am Ende des 5. Jh. v. Chr. erfährt der Bereich eine weitere Veränderung, indem die bisher unverbaute Fläche unmittelbar südlich der Terrassierung M1 mit einer Reihe von Räumen unklarer Bestimmung ver-baut wird. Ob diese neuerliche Besiedlung ebenfalls von einer Stadtmauer ge-schützt wurde und wo sich diese befand, lässt sich derzeit nicht feststellen. Ihre Lebenszeit war ziemlich beschränkt, was auch mit ihrer exponierten Lage am Ausgang des Wassertals zusammenhängt. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass die Aufgabe der älteren Befestigung zeitlich mit dem literarisch überliefer-ten Ende der Tyrannis koinzidiert. Ob hier tatsächlich ein Bezug besteht, kann beim derzeitigen lückenhaften Kenntnisstand freilich nicht entschieden werden.

88 Sichtbar rechts im Bild von Abb. 17. 89 Ein Straßenkörper konnte im Bereich der Straßenkreuzung vor der Insula II von M. Trapichler im Rahmen ihrer Diplomarbeit an der Universität Wien rekonstruiert werden und könnte die Fortsetzung der angenommenen Straße darstellen. 90 Sauer 1999, 121.

Die urbanistische Entwicklung von Elea in Großgriechenland 439

Die Erbauung des Mauerzugs B am Anfang des 4. Jh. v. Chr. – das Diateichisma War die zweite Hälfte des 5. Jh. v. Chr. von der ständigen Auseinandersetzung mit natürlichen Gefahren – Muren und Überschwemmungen – geprägt, die von den Bewohnern Eleas ein ständiges Reagieren erforderten, aber kaum neue urbanistische Konzepte erkennen lassen, so änderte sich dies am Anfang des 4. Jh. v. Chr. grundlegend. Auch hier können wir nicht mit Sicherheit sagen, was der Auslöser für die Neuplanung war, doch spielte die unruhige Zeit der Forma-tion des Ethnos der Lukaner bei der Reorganisation der Befestigungsanlagen sicherlich eine wichtige Rolle. Gleichzeitig gelang es dabei zumindest teilweise, das Problem der Überschwemmungen besser in den Griff zu bekommen.

In der Zeit um 400 v. Chr. wurde die gesamte Stadtmauer erneuert, wobei spätestens jetzt auch die Nordstadt von einer Befestigung umgeben wurde (vgl. Abb. 5).91 Die aus schönen Sandsteinquadern und einem Aufbau aus Lehmzie-geln errichtete Stadtmauer verfügte nun über Türme, die vor die Kurtine vor-sprangen und so auf die neuen Anforderungen der Poliorketik reagierten (Abb. 19). Auffälligste Neuerung war zweifellos die Errichtung einer Binnenmauer mit Türmen, eines sog. Diateichismas, durch welches die Weststadt besonders ge-schützt wurde, während das Wassertal des Frittolo im Osten gleichsam einen Befestigungsgraben bildete.92

Außerdem können wir annehmen, dass zur gleichen Zeit erste Maßnah-men ergriffen wurden, um den Hafen zu sichern, der für eine auf das Meer aus-gerichtete Stadt wie Elea von fundamentaler Bedeutung war. Wie die geo-archäologischen Bohrungen angedeutet haben, kann der Hafen beziehungsweise ein Hafenbecken mit großer Wahrscheinlichkeit im flachen Bereich nordwest-lich des Mauerzugs B vermutet werden. Diese Vermutung konnte durch die Grabungen am Mauerzug B (Abschnitt Turm B3 bis Turm B5) gestärkt werden, denn hier zeigte sich, dass der Mauerzug B ursprünglich knapp nach dem Turm B4 endete, während der Turm B5 isoliert und ohne verbindende Kurtine errich-tet wurde (Abb. 20). Ferner wurde im Südwesten im Bereich der vermuteten Sanddüne eine Mauer errichtet, die in ihrer Charakteristik den Stadtmauern ent-sprach (Mauerzug B-West 1, Abb. 21). Diese Mauern können – mit der gebote-nen Vorsicht – als Hinweis genommen werden, dass sie den Schutz eines Ha-fenbeckens bildeten, dessen Einfahrt zwischen den Türmen B4 und B5 bezie-hungsweise B5 und B6 zu suchen ist. Auf die weitere Entwicklung im 4. Jh. v. Chr. wird hier nicht mehr eingegangen.

91 Zur Entwicklung der Stadtmauer vgl. Krinzinger 1986; Gassner & Sokolicek 2000; Gassner & Sokolicek & Trapichler 2003; Sokolicek 2006a; Gassner & Krinzinger & Sokolicek & Trapichler 2009. 92 Zum Phänomen des Diateichismas vgl. Sokolicek 2009

440 Verena Gassner

Überlegungen zur urbanistischen Planung von Elea Obwohl unsere Kenntnisse der urbanistischen Organisation von Elea gerade für die ersten Jahrhunderte noch sehr beschränkt sind und wir grundlegende Fragen, wie etwa die Aufteilung von öffentlichem/sakralem Raum und Wohngebieten, nur eingeschränkt beantworten können, hat die Analyse der bekannten Kontexte neue Hinweise gebracht, dass bereits bei der Gründung der Stadt aktuelle Ideen und Tendenzen der Stadtplanung Beachtung fanden, obwohl Elea mit seinem steilen und durch große Höhenunterschiede geprägten Gelände keineswegs eine einfache Aufgabe für Stadtplaner war (Abb. 22). Auch wenn sich die räumliche Organisation in der ersten Periode der Stadt mit Sicherheit stark an den natürli-chen Gegebenheiten orientierte, zeigen die Befunde des ersten bekannten Wohnviertels auf der Akropolis und dem anschließenden Hügel des Sektors II, dass dabei ein übergeordnetes Vermessungssystem berücksichtigt wurde. Ob und in welcher Weise dies mit einer Aufteilung von Parzellen an einzelne Fami-lien zusammenhing, können wir nicht sagen. Für diese erste Periode können auf dem Höhenrücken drei Orientierungen beobachten werden. Auf der Akropolis (Sektor I) findet sich mit der Richtung 1a jene Orientierung, an der das früheste Heiligtum ausgerichtet war und die auch von den Häusern der Nordseite aufge-nommen wurde. Am Südhang der Akropolis konnte hingegen mit den Straßen Nr. 1 und Nr. 3 ein System von sich rechtwinkelig kreuzenden Straßen beobach-tet werden, das der Richtung 1b folgt. Die dritte Richtung (Richtung 1c) findet sich vor allem bei den Häusern an der Westseite des Hügels von Sektor II; sie wurde jedoch auch von der Straße Nr. 2 auf der Akropolis verwendet.

Im zweiten Viertel des 5. Jh. v. Chr. lassen sich sowohl auf der Akropolis und im Sektor II als auch in der Unterstadt neue Bauaktivitäten beobachten, die mit dem Aufkommen einer neuen Orientierung der Bauten einhergehen. Hervor-stechendes Beispiel ist die Tatsache, dass die Richtung der Terrasse I auf der Akropolis (Richtung 2) der Ausrichtung der ebenfalls in dieser Periode erbauten Häuser unter der späteren Insula II in der Unterstadt entsprach. Damit wurde die übergreifende urbanistische Planung von der Oberstadt auf das untere Stadtge-biet ausgedehnt.93

Richtung 2 wurde jedoch aufgegeben, als die Lehmziegelhäuser in der Unterstadt durch eine Flutwelle zerstört wurden. Der folgende Neubeginn in der Unterstadt ging mit einer geänderten Ausrichtung der neuen Bebauung einher

93 Die Abweichung von 1.5 Gon zwischen der Richtung auf der Akropolis und in der Unter-stadt kann auf eine Entfernung von fast 500 m und eine Höhendifferenz von 60 m als zu ver-nachlässigend angesehen werden. Die Tatsache, dass die Häuser in der Unterstadt relativ gut an den Anfang des zweiten Viertels des 5. Jh. v. Chr. datiert werden können, spricht auch da-für, die dem gleichen Richtungssystem angehörende Terrassenmauer I und damit den Beginn der Reorganisation der Akropolis in diese Zeit zu setzen.

Die urbanistische Entwicklung von Elea in Großgriechenland 441

(Richtung 3). Diese Richtung ist für uns für die zweite Hälfte des 5. Jh. v. Chr. am besten in der Mauer M1 im Bereich der Nordost-Seite des späteren Turmes B3 fassbar, doch bleibt sie auch für die weitere Entwicklung der Unterstadt das bestimmende Bezugssystem für ihren östlichen Bereich (Insulae I-III) und wur-de auch vom Mauerzug B beziehungsweise dem rechtwinkelig auf diesem ste-henden Mauerzug E berücksichtigt.94 In der westlichen Unterstadt zeichnete sich hingegen eine andere Orientierung ab (Richtung 4), die am besten in der Nord-west-Südost verlaufenden Mauer B-West 1 fassbar wird, welche ab dem Rundturm B6 die südwestliche Begrenzung des Stadtgebiets bildete. Sie wird aber auch noch im 3. Jh. v. Chr. von den damals neu errichteten Insulae A.I.-IV. verwendet. Richtung 4 weicht um 15° von jener des Mauerzugs B (Richtung 3) ab, was bisher als Anpassung an das natürliche Gelände und die mögliche Aus-nutzung einer Sanddüne erklärt wurde. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass diese Richtung 4 sich auch bei der Terrassenmauer II auf der Akropolis wiederfindet, was wieder auf ein übergeordnetes Vermessungssystem hinweist.95 Unglücklicherweise kann der Mauerzug B-West 1 in der hier interessierenden, älteren Phase zeitlich nicht näher eingegrenzt werden, und auch die Funde aus der Baugrube der Terrassenmauer II lassen nur eine sehr allgemein Datierung an das Ende des 5. Jh. v. Chr. zu.96 Möglicherweise ist für die zweite Hälfte des 5. Jh. v. Chr. von unterschiedlichen Systemen in der westlichen und in der östli-chen Unterstadt auszugehen.

Eine neuerliche Änderung kann dann im 4. Jh. v. Chr. sowohl in der West- als auch in der Oststadt beobachtet werden. In der Weststadt findet sich ein nicht vollständig rekonstruierbares Straßensystem (Richtung 5), das vor al-lem in den hellenistischen Häusern des sog. quartiere delle terrazze erkennbar ist. Ein davon abweichendes System wird in der Oststadt im sogenannten Vignale verwendet. Hier wurden in den 1980er Jahren große Teile des Straßen-systems erforscht, wobei die ursprünglich vorgeschlagene Datierung in das 5. Jh. v. Chr. ebenfalls korrigiert und um die Mitte des 4. Jh. v. Chr. angesetzt wer-den muss.97

Fassen wir diese Beobachtungen zusammen, so finden wir erstaunlicher-weise die ersten Hinweise auf ein geplantes urbanistisches System bereits in der

94 Aufgrund seiner Errichtung in mehreren Phasen scheint die Kurtine zwischen den Türmen B3 und B6 nicht gleichmäßig zu verlaufen, doch entspricht eine Achse, die jeweils durch die Mitte dieser Türme gelegt wird, genau dieser Richtung. Diese Problematik wurden von A. Sokolicek im Rahmen der Endpublikation (Velia-Studien IV) untersucht und wird von ihm dort ausführlich dargestellt werden. 95 Die Ungenauigkeit der Entsprechung beträgt wieder 1.5 Gon. 96 Vgl. dazu oben den Abschnitt „Die Monumentalisierung der Akropolis“ und besonders Anm. 57. 97 Krinzinger 1994, 33-37; Korrektur der Chronologie in Krinzinger et al. 1999.

442 Verena Gassner

Gründungsphase der Stadt auf den beiden westlichsten Hügeln des Höhenrü-ckens, der Akropolis und dem Sektor II, wobei hier jeweils die Berücksichti-gung der natürlichen Geländesituation noch gut erkennbar ist. Am Ende des ers-ten Viertels des 5. Jh. v. Chr. wird die neue Richtung 2 eingeführt, die auf der Akropolis bei der sogenannten Theaterterrasse, dem ersten wichtigen Bauwerk der großen Monumentalisierungsphase, und in der Unterstadt durch die Lehm-ziegelhäuser unter der späteren Insula II belegt ist. Die nächste Änderung findet in der zweiten Hälfte des 5. Jh. v. Chr. statt, als die neue, auf die große Meeres-flut folgende Bebauung der östlichen Unterstadt einer um 15° von Richtung 2 abweichenden Orientierung folgt (Richtung 3), die bis in die römische Zeit für diesen Bereich bestimmend bleiben sollte. Die westliche Unterstadt mit dem möglicherweise das Hafenbecken einschließenden Mauerzug B-West 1 sowie die vermutlich ebenfalls in dieser Zeit errichtete Terrassenmauer II auf der Ak-ropolis folgen hingegen einem anderen System (Richtung 4), dessen exakte zeit-liche Eingrenzung schwierig bleibt. Die beiden jeweils unterschiedlichen Stra-ßensysteme für die West- und die Oststadt (Richtungen 5 und 6) gehören dem 4. Jh. v. Chr. an und stellen die letzte Neuorientierung in der Stadt dar.

Zweifellos ist diese erstaunliche Vielfalt von Richtungen zu großen Teilen den städtebaulich schwierigen, stark strukturierten natürlichen Gegebenheiten des Stadtgebiets von Elea geschuldet, doch kann diese Erklärung das Phänomen von sich regelmäßig und über große Entfernungen wiederholenden Richtungen nicht vollständig erklären. Besonders auffällig ist die Tatsache, dass sich gleiche Richtungen sowohl auf der Akropolis als auch in der Unterstadt finden, sodass der Gedanke an eine übergreifende Vermessung naheliegt. Ob die jeweiligen Änderungen in diesem Messsystem den gewaltigen, im Grabungsbefund immer wieder festgestellten natürlichen Geländeveränderungen geschuldet sind oder als Ausdruck von wechselnden politischen Machtverhältnissen gewertet werden können, muss dabei offen bleiben. Alle Rechte: Velia-Archiv des Instituts für Klassische Archäologie der Universi-tät Wien. Die Bearbeitung der von G. Augustin (Innsbruck) erstellten Pläne Abb. 5 und 22 wird B. Grammer und D. Svoboda verdankt.

Die urbanistische Entwicklung von Elea in Großgriechenland 443

Abb. 1. Karte des Cilento mit den Territorien von Elea und Poseidonia (© Google-Maps, be-arbeitet von K. Klein)

Abb. 2. Indigene Keramik von der Akropolis

(Schnitt 2/96, Kontext des späten 6./frühen 5. Jh. v. Chr.)

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Abb. 7. Polygonalmauer auf der Akropolis

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Abb. 8. Antefix a palmetta pendula

von der Akropolis von Elea

Abb. 9. Spätarchaische Häuser auf der obersten Terrasse der Akropolis von Elea

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Abb. 11. Sog. Kybelerelief, in Sturzlage unterhalb des Kultplatzes 3 gefunden (2008)

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Die urbanistische Entwicklung von Elea in Großgriechenland 451

452 Verena Gassner

Abb. 13. Der Tempel auf der Akropolis von Westen. Im Vordergrund die hellenistische Stoa

und die polygonale Mauer

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454 Verena Gassner

Abb. 15. Stele des Zeus Ourios vom Kultplatz 8

Die urbanistische Entwicklung von Elea in Großgriechenland 455

Abb. 16. Mauerzug A, Phase in polygonaler Technik

(2. Viertel - Mitte 5. Jh. v. Chr.)

Abb. 17. Mauerzug G, von West nach Ost verlaufend. Rechts im Bild die Überbauung der

zweiten Hälfte des 5. Jh. v. Chr.

456 Verena Gassner

Abb. 18. Lehmziegelhaus 2 in der Unterstadt von Elea (2. Viertel des 5. Jh. v. Chr.)

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