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Essays zur Filmphilosophie

Date post: 10-Dec-2023
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LORENZ ENGELL · OLIVER FAHLE VINZENZ HEDIGER · CHRISTIANE VOSS ESSAYS ZUR FILM-PHILOSOPHIE F5535-Engell.indd 1 F5535-Engell.indd 1 25.03.15 07:17 25.03.15 07:17 Urheberrechtlich geschütztes Material. © 2015 Wilhelm Fink, Paderborn
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LORENZ ENGELL · OLIVER FAHLEVINZENZ HEDIGER · CHRISTIANE VOSS

ESSAYS ZUR FILM-PHILOSOPHIE

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Urheberrechtlich geschütztes Material. © 2015 Wilhelm Fink, Paderborn

Diese Publikation ist im Rahmen des Internationalen Kollegs für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie der Bauhaus-Universität Weimar entstanden und wurde mit Mi eln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert.

Schriften desInternationalen Kollegs fürKulturtechnikforschung und Medienphilosophie

Band 24

Eine Liste der bisher erschienenen Bände findet sich unter.ikkm-weimar.de/schri en

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FILM DENKEN

herausgegeben von

LOR ENZ ENGELLOLIVER FAHLE

VINZENZ HEDIGERCHRISTIANE VOSS

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LOR ENZ ENGELL · OLIVER FAHLEV INZENZ HEDIGER · CHR ISTI A NE VOSS

ESSAYS ZUR FILM-PHILOSOPHIE

WILHELM FINK

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Bauhaus-Universität Weimar, der Ruhr-Universität Bochum sowie der Goethe-Universität Frankfurt am Main

Bibliografi sche Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografi e; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betriff t auch die Verviel-fältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder

durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG

ausdrücklich gestatten.

© 2015 Wilhelm Fink, Paderborn(Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)

Internet: www.fi nk.de

Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, MünchenPrinted in Germany

Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn

ISBN 978-3-7705-5535-2

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Inhalt

LORENZ ENGELL, OLIVER FAHLE, VINZENZ HEDIGER UND CHRISTIANE VOSS

Einleitung. Was ist Filmphilosophie?Ein Versuch in vier Experimenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

LORENZ ENGELL

Agentur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

CHRISTIANE VOSS Aff ektAff ektverkehr des Filmischen aus medienphilosophischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

OLIVER FAHLE

Das Außen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

VINZENZ HEDIGER

AufhebungGeschichte im Zeitalter des Films . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

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EinleitungWas ist Filmphilosophie?

Ein Versuch in vier Experimenten

Philosophie, so pfl egte der Philosoph Hermann Lübbe in seinen Semi-naren zu sagen, ist alles, was unter diesem Namen auftritt. Dies gilt, so könnte man hinzufügen, auch für die Filmphilosophie.

Da die Zugehörigkeit der Filmphilosophie zum weiteren Feld der Philosophie damit gesichert ist, lässt sich die weiterführende Frage, was denn genau unter diesem Namen auftritt, unter Rückgriff auf Verfah-ren klären, die in der Philosophie, wie sie unter diesem Namen als Fach auftritt, gängig sind.

Mit Wittgenstein könnte man sich auf die Kraft des Beispiels stüt-zen und sagen, dass die hier versammelten Texte auf eine jeweils eigene und durchaus programmatische Weise, die nicht ohne Rest unter eine große Oberkategorie subsumiert werden kann, exemplifi zieren, was ‚Filmphilosophie‘ ist. Die vier Beiträge wären demnach vier verschiede-ne Gesten des Zeigens: „Das ist Filmphilosophie. So wird es gemacht.“ Um die Beruhigung im Transzendentalen, die von großen Oberkatego-rien immer ausgeht, wäre es damit aber vorerst einmal geschehen.

Will man hingegen den alten Ehrgeiz der Philosophie nicht so ohne weiteres preisgeben, den Dingen an den Erscheinungen vorbei auf den Grund und damit nachträglich vorauszugehen, dann lässt sich die Fra-ge nach dem ‚Was‘ der Filmphilosophie auch schulmäßig beantworten: Indem man den Begriff zunächst einmal in historischer und systemati-scher Perspektive erläutert.

Die historische Perspektive sei zuerst angeführt: Filmtheorie ist heu-te – neben der Filmgeschichte und der Filmanalyse – eines von drei Teilgebieten eines Fachs mit dem Namen Filmwissenschaft, das sich stets über zweierlei Dinge auszeichnete: Neben seiner Internationalität auch über seine Interdisziplinarität. Während sich die Filmgeschichte

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10 EINLEITUNG

aus der Kunst-, sowie im Zeichen der ‚new fi lm history‘ auch aus der Wirtschafts-, Technik- und Sozialgeschichte ableitet und sich neuer-dings unter dem Titel Medienarchäologie auch zur Mediengeschichte weitet, greift die Filmanalyse auf Einsichten aus den Ingenieurwissen-schaften, der Chemie, der Optik und der Akustik zurück und fragt danach, wie Formgebungsprozesse des Mediums Film ihrer techni-schen und perzeptuellen Eigenlogik gemäß zu analysieren sind. Die Filmtheorie schließlich besteht mittlerweile aus einem Korpus kanoni-scher Texte und hat eine eigene Geschichte – es gibt ‚klassische‘ und ‚moderne‘ Filmtheorie und Forschungsverbünde, die sich mit ihrer Entwicklung befassen. Am Anfangspunkt dieser Geschichte steht aber die Philosophie: Was sich später zur Filmtheorie verfestigt, beginnt dort, wo das neue Medium Film die Aufmerksamkeit von Philosophen und philosophisch geschulten Psychologen erregt.

Die Fragen, die der Film für die Philosophie aufwirft, fangen bei der Ästhetik an, betreff en aber bald auch Erkenntnistheorie und Metaphy-sik:

Was ist das eigentlich, der Film, und wo und wie passt dieses neue Ding ins System der Künste? fragt z.B. sinngemäß Georg Lukàcs 1911 in ei-nem Aufsatz, der nach dem Vorbild von Lessings Laokoon die Spezifi k des Films durch einen Vergleich mit dem Th eater bestimmt.

Was ist Kunst überhaupt noch und was bleibt vom System der Künste übrig, wenn es erst einmal den Film gibt? lautet die ungleich radikalere Frage, die Walter Benjamin in seinem Kunstwerkaufsatz aufwirft und mit der er die Frage nach dem Wesen der Kunst zur Frage nach den konstitutiven Wirkungen der Medientechnik umformuliert.

Wie kann die Philosophie die emanzipationshindernden Subjektivie-rungs eff ekte der kulturindustriellen Maschinerie Kino kontern, und welche Philosophie brauchen wir dafür? lautet das Anliegen, das Adorno und die Sozialphilosophie der Frankfurter Schule im Horizont eines in Freud verankerten Neomarxismus formulieren, der dann von der Film-theorie der 1970er Jahre unter Beimengung von Althusser (zu Marx) und Lacan (zu Freud) noch verschärft und vertieft wird.

Und schließlich, in Weiterführung der Frage, welche Philosophie dem Film angemessen ist: Kann der Film nicht nur Gegenstand, sondern auch Medium der Kritik sein? Genau im Vertrauen darauf nehmen Stanley Cavell, Gilles Deleuze und Etienne Souriau einige der großen Probleme der neuzeitlichen Philosophie am Leitfaden des Films neu in Angriff . Cavell entwickelt vom Film ausgehend seine Kritik des Skep-tizismus, Deleuze will im und am Kino die Überwindung des Cartesi-anismus vollenden und Souriau führt an so vermeintlich einfachen

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11WAS IST FILMPHILOSOPHIE?

Setzungen wie der Unterscheidung zwischen profi lmisch und afi lmisch sowie dem Begriff des fi lmischen Universums vor, wie etablierte meta-physische Dichotomien des Typs ‚Realität vs Fiktion‘ unterlaufen wer-den und die Seinslehre der traditionellen Metaphysik einer graduellen Ontologie weicht, die Seinsweisen, Aspekte und Intensitäten von Exis-tenz – „modes d’existence“ – unterscheidet.

Was also Filmtheorie heißt, ist historisch gesehen eine Abfolge von gegenseitigen Herausforderungen der Philosophie durch den Film und des Films durch die Philosophie. Aus dem Verzeichnis dieser Heraus-forderungen ergibt sich zugleich ein Umriss des Feldes der Filmphilo-sophie in systematischer Hinsicht. Wenn wir noch die Ethik hinzuneh-men und das Kino als moralisches Laboratorium betrachten und seine Werke als fortgesetzte Kasuistik der Lebensführungsprobleme der Mo-derne, und ferner auch noch die politische Th eorie hinzunehmen  – etwa mit Jacques Rancière, der die Politik an die Ästhetik knüpft und das Kino zu einem Paradigma der politischen Ästhetik in der Moderne erhebt –, dann gibt es keinen Teilbereich der Philosophie, in dem der Film nicht neue Fragen aufwirft, wie es auch keinen Aspekt des Films zu geben scheint, der nicht im Licht und Zeichen einer philosophi-schen Fragestellung verstanden werden kann. Filmphilosophie hat es in diesem Sinn immer schon gegeben. Allerdings interessiert sich dieser Band – wie auch die Reihe, die er inhaltlich inauguriert – nur am Ran-de für den Aspekt des ‚immer schon‘.

Filmphilosophie nämlich meint hier zunächst und zumeist: den Raum der gegenseitigen Herausforderung des Denkens durch den Film und des Films durch das Denken off en zu halten. Oder, anders gesagt, Filmphilosophie will hier das anspielen, was man den ursprüng-lichen Moment der Filmtheorie nennen könnte: vor allen disziplinären Routinen die Öff nung des Denkens hin auf den Film.

Ganz im Sinne eines solchen Verständnisses von Filmphilosophie hat das vorliegende Buch experimentellen Charakter. Anstatt sich auf eine gemeinsame Doktrin festzulegen, aus der hervorgeht, was unter „Film Denken“ und unter Filmphilosophie generell zu verstehen ist, haben sich die Autorin und die Autoren, die zugleich Herausgeberin und Her-ausgeber der Reihe sind, auf ein Experiment verabredet: Alle vier schrei-ben einen Text, in dessen Zentrum jeweils ein Schlüsselbegriff steht, nämlich: Agentur, Aff ekt, Außen und Aufhebung das des Kinos. Dabei beziehen sich alle vier Texte unter diesen unterschiedlichen Aspekten auf Christian Marclays Installation THE CLOCK von 2011. Diese Instal-lation besteht aus einer vierundzwanzigstündigen Abfolge von Filmaus-schnitten, in denen Uhren vorkommen und die in ihrem Ablauf die

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12 EINLEITUNG

Zeitanzeige eines ganzen Tages ergeben. Damit verpfl ichten sich die vier Autoren auf einen gemeinsamen Einsatz, der nicht der vergleichenden Bewertung dient als vielmehr dem Abmessen möglicher Territorien der Filmphilosophie von einem geteilten Messpunkt aus.

Ungeachtet der Off enheit der Versuchsanordnung und ungeachtet der Tatsache, dass die vier Beiträge im Ergebnis unweigerlich vier von-einander einigermaßen unabhängige Gesten des Zeigens dessen sind, was Filmphilosophie vermag, stoßen die Autoren rasch auf Th emen und Anliegen, die sie teilen.

So fi ndet quer durch die Beiträge eine Auseinandersetzung mit dem statt, was man die spezifi sche Handlungsmacht des fi lmischen Bildes nennen könnte. Mehr als nur Abbild oder Zeichen, ist das Bild hier immer auch als Akteur verstanden. Wo der Film in den Ansätzen der Frankfurter Schule und der Apparatus-Th eorie noch die Subjektivität des Zuschauers formte und den Zuschauer dabei zugleich in einen nur ideologiekritisch zu dekonstruierenden Bann schlug, gehen die Beiträ-ge in diesem Buch von einer anderen Annahme aus: Für sie verfügt das Filmbild selbst über eine spezifi sche Kraft, die auf den Begriff zu brin-gen eine Aufgabe der Filmphilosophie im hier vertretenen Sinne ist, und die es zu begreifen gilt, bevor noch die Frage nach der möglichen Emanzipation des Zuschauers gestellt werden kann.

Das zweite große Th ema betriff t die Frage nach dem Wissen – nicht so sehr im Sinne eines Sach- und Gegenstandswissens über den Film oder eines Weltwissens, das wir durch den Film erwerben, als vielmehr eines Wissen des Films selbst. Dass der Film, wie alle Kunstformen, ein Medium der Refl exion sein kann, ist eine Annahme, die auf die roman-tische Kunsttheorie zurückgeht und sich als modernistisches Kunstide-al verfestigt hat. Insofern Kunst ein Modus der Erkenntnis qua Selbst-refl exion ist, müssten Filme, die auf ihre eigene mediale Struktur refl ektieren, einen höheren Kunstwert haben als solche, die das ver-meintlich nicht tun. Von Alexander Kluge und Jean-Luc Godard wäre demnach mehr zu lernen als z.B. von Michael Bay. Diese Position wird bis hinein in die heutige Filmkritik häufi g vertreten. Demgegenüber vertraut Stanley Cavell gerade auf das klassische Hollywood-Kino, um Aufklärung über die großen Fragen der Philosophie zu bekommen, während er den ostentativen Refl exionsgesten des nachklassischen Ki-nos, etwa bei Godard, eher misstraut. Zunächst ganz unter Absehung von diesem Konfl ikt darüber, welcher fi lmische Stil nun den höheren Erkenntnisertrag einfährt, verlagern die folgenden Beiträge den Fokus der Untersuchung auf eine medienphilosophische Ebene. Demnach ist die Leitfrage nicht so sehr „Was können wir über oder durch den Film

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wissen?“ sondern: Wie organisiert und artikuliert der Film sein Wis-sen? Welches Wissen bringt der Film kraft seiner medialen Struktur hervor, wie trägt sich dieses Wissen in bestehende Wissensordnungen ein, und wie verändert es diese? Dass Kritik im Sinne eines „Experi-ments am Werk“, wie es Novalis genannt hat, gleichwohl zu den Auf-gaben der Filmphilosophie im hier vertretenen Sinne gehört, zeigen die Autoren allerdings an verschiedenen Orten in ihren Texten auch: In der Auseinandersetzung mit Beispielen und natürlich vor allem mit Marclays THE CLOCK, einer Arbeit, die ihrerseits ein großangelegtes Experiment an der Werkgeschichte des Kinos ist, deren Rahmen sie gleichwohl selbst performativ überschreitet.

Im Einzelnen legen die Autoren ihre Versuche zur Filmphilosophie wie folgt an:

Lorenz Engell greift ein klassisches Problem der Dramaturgie auf und erweitert, von den spezifi schen Potentialen des Films dazu herausgefor-dert, die Frage nach der Handlung zu einer Untersuchung des fi lmi-schen Bildes als Agentur. In der Auseinandersetzung mit einem Medi-um, in dem sich ein Genre herausbilden konnte, das den Namen ‚action‘ trägt und damit immer schon mehr als nur das Handeln der dramatis personae meint, kommt man, wie Engell zeigt, nicht umhin sich einen Begriff nicht nur von der ‚Handlung‘ zu machen, sondern auch vom Handeln der Dinge und vom Handeln des Bildes selbst. Engell geht in seiner Untersuchung von einer doppelten medienphilo-sophischen Annahme aus: erstens davon, dass Medien relationale und operative Größen sind, die spezifi sche Materialien (Zelluloid, Glas, Luft, Papier, …) und materiale Dinge und Anordnungen (Projektions-apparaturen, Gebäude, Sicht- und Meßgeräte) so zueinander in Bezie-hung setzen, dass sie, die selbst nicht sinnhaft sind, Erfahrungen, Sinn-gebungs- und Refl exionsleistungen ermöglichen; und zweitens davon, dass der Film privilegierter Träger eines impliziten Wissens um das Verhältnis von Materialität und Operativität ist, das Medien ausmacht und auszeichnet. Engells Vorhaben ist es, dieses Wissen freizulegen. Dabei entwickelt er ausgehend von den Begriff en des Dispositivs und des Akteursnetzwerks, aber auch in bewusster Überschreitung dieser Konzeptionen, ein Modell, das es erlauben soll, den Komplex der Handlungsmacht speziell für das bewegte Bild aufzuschlüsseln.

Auf diese Ableitung eines technisch erweiterten Handlungsmodells aus dem Material und der Relationalität des montierten Filmgeschehens

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reagiert Christiane Voss, indem sie dessen ästhetische Wirkpotenziale und Kräfte als Unterformen fi lmischen Agierens in den Blick nimmt. So rückt die Frage nach der aff ektiv-kognitiven Verstrickung des Zu-schauers mit dem audiovisuellen Filmgeschehen ins Zentrum. Aufbau-end auf ihre eigene philosophische Th eorie zur Illusionsästhetik des Leihkörpers, arbeitet sie sodann vier grundlegende und mit dem Aff ek-tiven spezifi sch verbundene Eigenlogiken und Operationsweisen her-aus. Diese vier aff ektiven Grundoperationen entscheiden ihrer Position zufolge über die Art und Weise, in der Elemente und Qualitäten des Films zwischen Zuschauer und Leinwandgeschehen überhaupt zur Erscheinung gelangen und verteilt werden. Dabei buchstabiert sie im Einzelnen durch, wie die aff ektiven Operationen je für sich und in ihrer wechselseitigen Überlagerung zum eigentlichen Medium der Verschrän-kung von Leinwandgeschehen und Zuschauerkörper werden. Mit die-sen Überlegungen zur medientechnischen Verfertigung von Aff ekten im Kino und der aff ektiven Transformation desselben, grenzt Voss ihren Ansatz von anderen philosophischen Aff ekttheorien ab und zwar speziell von deren anthropozentrischer Ausrichtung. Stattdessen hebt sie in ei-nem dezidiert medien- und technikphilosophischen Sinne die ‚anthro-pomediale Verschränkung‘ von Organischem und Technischem in der Filmerfahrung hervor. Die Frage nach dem Wissen des Films erweist sich in diesem Zugriff als eine Funktion aff ektsteuernder Mediali-tät, wobei der Aff ektbegriff als verbindendes Glied zwischen einer Philosophie der Gefühle und einer Phänomenologie der fi lmischen Er-fahrungskonstitution fungiert. In ihrer Analyse von Marclays THE CLOCK werden sodann ganz konkret die unterschiedlichen Schichten der fi lmspezifi schen Zurichtung des aff ektiven Erlebens freigelegt.

Oliver Fahle wiederum interessiert sich in seiner Erkundung des Ter-rains der Filmphilosophie für die Verschränkungspotenziale von Film und Philosophie jenseits der Präsenz-betonenden Aff ektsteuerung und stärker in Bezug auf die genuine Historizität. Er geht von der Annahme aus, dass das Wissen des Films eine Geschichte hat und sich kumulativ entwickelt. Durchaus in Fortführung eines Gedankens von Godard, der für sich und seine Generation von Filmemachern in Anspruch nahm, dass sie die ersten gewesen seien, die wirklich gewusst hätten wer Griffi th war – also die ersten, die Filme im Bewusstsein einer Ge-schichte des Films als Kunstform gedreht hätten – stellt Fahle die Th e-se auf, dass Filme der Gegenwart mit Th eorie und Philosophie auf -ge laden sind, weil die Geschichte des Films und seiner Refl exion un-weigerlich in sie mit eingeht. Gleichzeitig aber rückt Fahle dezidiert

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von etablierten Ordnungskategorien der Filmwissenschaft wie Autor, Oeuvre, Genre und Nation ab und argumentiert, dass die Denkopera-tionen, an denen sich die Modernisierungsbewegungen des Films be-obachten lassen, als Eigenbewegungen des Films aufzufassen sind und damit auch als Entfaltungen einer Handlungsmacht des fi lmischen Bildes. Während Selbstbestimmungen des Films in der Fachliteratur in der Regel mit dem Konzept der Selbstrefl exivität bezeichnet werden, die letztlich immer an die Instanz des Autors zurückgebunden wird, schließt Fahle den Begriff des „Außen“ bei Maurice Blanchot und Mi-chel Foucault an, um das ständige Herausrücken des Films aus seinen audiovisuellen Bestimmungen und sein Verweisen auf sein eigenes, für ihn konstitutives Anderes in den Blick zu nehmen. In augenfälliger Weise zeigt Fahle das Aufkommen des Außen unter anderem anhand einer Analyse von Godards Kurzfi lm LETTRE À FREDDY BUACHE auf, einem fi lmischen Porträt der Stadt Lausanne, das von der Stadt be-wusst kein Bild gibt, sondern sie im Außen belässt und stattdessen von der Bewegung der Überschreitung der inhärenten Grenzen des Films in der Montage, der Bildkomposition und des Tonschnitts handelt.

Die Frage nach der Historizität des Wissens des Films stellt Vinzenz Hediger schließlich in seinem Beitrag noch einmal umgekehrt und treibt die Untersuchung der Handlungsmacht des Films ins Feld der Geschichte ein. In einer Paraphrase von Benjamins Frage, was denn vom System der Künste noch übrig bleibt, wenn es erst einmal den Film gibt, fragt Hediger danach, was Geschichte und historische Er-fahrung sind, wenn es den Film gibt. Den Ausgangspunkt seiner Un-tersuchung bildet eine Auseinandersetzung mit einem bekannten rhe-torischen Muster der Filmkritik: Der Evaluation der Faktentreue von Historienfi lmen. Hediger beschreibt dieses Muster, in Abwandlung von Agambens Begriff der „anthropologischen Maschine“, als „histo-ristische Maschine“, als diskursive Vorrichtung, die mit unvermeidba-rer Insistenz den Film an den Kriterien geschichtswissenschaftlicher Verifi kationsverfahren misst. Hediger liest das Wirken der historisti-schen Maschine symptomatisch, als Ausdruck der Ahnung, dass der Film über eine autonome Handlungsmacht verfügt, die möglicherwei-se genau jenes Terrain der Erfahrung zu transformieren vermag, das die Geschichtswissenschaft als das angestammte Feld ihres eigenen Wir-kens versteht. Im Sinne von Kracauers Diktum, demgemäß der Film, „dieses Geschöpf der Gegenwart“, immer als Fremdling in die Vergan-genheit eintritt, schlägt Hediger vor, diese Autonomie des Films mit dem hegelschen Begriff der Aufhebung zu fassen: Aufhebung im Sinne

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der Feststellung und zugleich der Negation jenes Abstandes zwischen Vergangenheit und Gegenwart, der überhaupt erst das ermöglicht, was wir historische Erfahrung nennen. Den Enthusiasmus, mit dem das Publikum in der Regel den Clipmontagen von Christian Marclay be-gegnete, liest Hediger in seiner Analyse schließlich ganz in diesem Sin-ne als Aff ekt im Angesicht einer Revolution der Geschichte durch die Kunst und der Kunst durch den Film.

Versuchsanordnungen, so wissen wir aus der neueren Wissenschafts-forschung, dürfen dann als produktiv gelten, wenn sie nicht nur die ursprünglich gestellten Fragen beantworten helfen, sondern auch neue Fragen aufwerfen, auf die man vor dem Versuch noch gar nicht gekom-men wäre. In diesem Sinne ist auch die in diesem Band entwickelte Versuchsanordnung nur ein Anfang, und ihre Produktivität wird sich danach bemessen, wie viele Fragen sich nach der Lektüre stellen, die vor dem Öff nen des Buches noch nicht im Raum standen. Denn Film-philosophie im hier vertretenen Sinne wird sich auf lange Sicht eben nicht durch ein kanonfähiges ‚immer schon‘ rechtfertigen, sondern durch ihr produktives ‚immer wieder, und immer wieder anders.‘

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LORENZ ENGELL

Agentur

I

1.

Zur Kontur der Medienphilosophie, wie sie sich bislang entwickelt hat, gehören neben der unausgesetzten Arbeit an Begriff sbestimmungen des Medialen und der Medialität insbesondere zwei Hauptanliegen. Das eine richtet sich auf die Materialität und das Material der Medien, auf spezifi sche Materialien – Glas, Luft, Zelluloid, Papier, Silizium – und materieller Dinge und Anordnungen  – Projektionsapparaturen, Gebäude, Sicht- und Messgeräte, Schreib- und Werkzeuge. Sie sind selbst nicht sinnförmig, haben aber Anteil an den Erfahrungen, an den Sinngebungs- und Refl exionsleistungen, die durch Medien ermöglicht und erbracht werden. Das interessiert die Medienphilosophie. Das an-dere Anliegen dagegen gilt der Erfassung von Medien als relationale und operativ wirksame Größen: Medien sind relativ, sie sind in Bezie-hungsgefüge eingelassen und zudem selbst nur als Beziehungsgefüge adressierbar; sie stellen Beziehungen her und ermöglichen oder ver-wirklichen Eingriff e in bestehende Verhältnisse und sind daher über die Bezugnahmen und Veränderungen ausgewiesen, die sie vorneh-men.1

Die materielle Anordnung einerseits, die relationale und operative Leistung andererseits, die Medien aufstellen und erbringen und selbst sind, können aber nicht nur begriffl ich gefasst und beschrieben wer-den. Sie werden vielmehr ihrerseits auch von und in Medien verkör-

1 Für den Eingriffscharakter des Films S. Pier Paolo Pasolini, „La lingua scritta della realtà“, in: ders., Empirismo eretico, Milano, 1972. S. zur Relationalität des Me-dialen beispielhaft Joseph Vogl, „Medien-Werden: Galileis Fernrohr“, in: Lorenz Engell, Joseph Vogl (Hrsg.), Mediale Historiographien, Weimar, 2001, S. 115–124 (hier S. 121 f ).

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pert, beobachtet und dargestellt.2 Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass dies markant im Film geschieht.3 Der Film hegt ein mindestens implizites Wissen um das Verhältnis von Materialität und Operativität, auch um den Umschlag vom einen ins andere, das Medi-en  – auf je verschiedene Weise  – ausmacht und auszeichnet. Dieses Wissen des Films soll hier wenigstens ansatzweise freigelegt werden. Die Th ese, die die folgenden Überlegungen einlegen, lautet dabei, dass aus der Sicht des Films nicht nur bloße Operativität, sondern im en-geren Sinne sogar Handlungsfähigkeit und Handlungsvollzug in Rede stehen. Von bloßer Operation unterscheidet sich die Handlung min-destens und spätestens dann, wenn ihr Absicht unterstellt werden kann. Ob und wann bestimmte Operationen auch schon unterhalb dieser Schwelle, beispielsweise durch bloße Ausrichtung, bereits als Handlun-gen aufzufassen sind, wird hier zunächst nicht thematisiert.4 Wo Ope-rationen aus  – wie auch immer über vielfältige Relationen komplex verteilten, multiplen – Verursachungsverhältnissen hervorgehen, oder auch bloß kontingent als Eff ekte eben materieller und medialer Anord-nungen beschreibbar sind, da qualifi zieren sich Handlungen mindes-tens dadurch, dass ihnen eine wie auch immer verteilte Urheberschaft unterstellbar ist. Sie haben daher, so setzen wir hier zunächst voraus, den Charakter des Vorhabens – verwirklichter oder stecken bleibender, wirksamer oder folgenloser, scheiternder oder gelingender, abbrechen-der oder vollständiger oder beständig wechselnder Projekte. Bei der Untersuchung des Umschlags von Operation in Handlung wird es also darum gehen festzustellen, unter welchen Bedingungen den materiell wirksamen Operationen Absichtlichkeit attestierbar ist.

Die Absichten, die den Handlungen unterstellt werden und sie be-gründen, werden dabei mindestens ebenso verteilt, komplex und rela-tional verschränkt sein wie die Ursachen der Operationen. Aber im Bereich der Handlungen haben wir es z.B. mit der Annahme instru-

2 Der Begriff der ‚Darstellung‘ wird hier und im Folgenden in der ganzen Bedeu-tungsbreite benutzt, den er im deutschen Sprachgebrauch annehmen kann: Im Sinne der Repräsentation (etwa der bildlichen oder szenischen Darstellung eines Geschehens), im Sinne der Freilegung (in dem Sinne, in dem ein Anatom ein Kör-perorgan freilegt) und im Sinne der Herstellung oder Bereitstellung (wenn etwa der Haushälter eine benötigte Summe ‚darstellt‘).

3 Der Terminus ‚Film‘ wird hier nicht speziell für das Zelluloidbild benutzt, sondern trifft – medienwissenschaftlich zweifellos inkonsequent – hier vereinfacht unter-schiedslos alle bewegten Bilder, unbeschadet der Frage nach ihrem Träger.

4 Christiane Voss führt dafür den Begriff der „Taxis“ ein: dies., „Auf dem Weg zu einer Medienphilosophie anthropomedialer Relationen“, in: Zeitschrift für Medi-en- und Kulturforschung, 2, 2010, S. 169–184 (hier: S. 176 ff ).

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menteller Zwecke zu tun, mit – auch taktischen oder strategischen – Zielen und eben auch mit Sinnsetzungen. Dies darf nicht mit den line-aren und einsinnigen Zuschreibungen verwechselt werden, die häufi g für den Bereich des Instrumentellen und mitunter auch des Sinnhaften ausgemacht werden5. Auch Absichten, Zwecke und Sinnvorgaben sind wie immer verteilt, multipliziert, relationiert, verfehlt, unerreichbar, ge-kreuzt, verschränkt, bedingt, gebrochen und gestört. Genau dafür bil-det, so wird zu zeigen sein, das Medium Film ein Modell aus, das im Folgenden unter dem Begriff der ‚Agentur‘ entfaltet werden soll. Kurz, der folgende Beitrag bemüht sich darum, in die medienphilosophische Szene, auf der heute Materialität und Operativität interagieren, zusätz-lich, und zwar mit dem Film und mit dem Begriff der ‚Agentur‘, das Moment der Handlung und damit der Intentionalität einzutragen. Genau dies nämlich scheint die Position speziell des Films zu sein. Film beobachtet und beschreibt das Verhältnis speziell materieller, dingli-cher Anordnungen einerseits und als absichtlich unterstellter Hand-lungen – etwa als Figurenhandeln – andererseits, sowie den steten Um-schlag beider ineinander. Er geht im Übrigen, das können wir hier nicht vertiefen, auch selbst aus eben einem solchen Wechselspiel, einer ‚Agentur‘ – in der Filmproduktion, im Studio etwa – hervor und in ein solches – in der Auff ührung des Films in Agenturen wie dem Kino oder dem Fernsehen oder der Kunstinstallation – wieder ein und darin auf6. Durch die Nachzeichnung der Leistung des Films zur Darstellung komplexer Handlungsverhältnisse und zum Verständnis des Entste-hungszusammenhangs von Handlung in der ‚Agentur‘ soll zugleich ein Beitrag, den der Film zum Wissen von den Medien beisteuert, explizit gemacht und auch eine weitere medienphilosophische Ausleuchtung des Films als Medium vorgenommen werden.

Das bedeutet keinesfalls, daß nun der Film – oder irgend ein ande-res Medium – auf seine Beobachtung von Handlungsbedingungen und Handlungsvollzügen und den Umschlag beider ineinander beschränkt und festgelegt werden soll. Selbstverständlich hat Handlung auch für

5 Vgl. dazu Lorenz Engell, „Ausfahrt nach Babylon“, in: ders., Ausfahrt nach Baby-lon. Essais und Vorträge zur Kritik der Medienkultur, Weimar, 2000, S. 263–303 (hier S. 269 ff ).

6 Vgl. dazu Lorenz Engell, „Kinematographische Agenturen“, in: Lorenz Engell, Jiri Bystricky, Katerina Krtilova (Hrsg.), Medien denken. Von der Bewegung des Begriffs zu bewegten Bildern, Bielefeld, 2010, S. 137–156; Lorenz Engell, „Eyes Wide Shut. Die Agentur des Lichts – Szenen kinematographisch verteilter Handlungsmacht“, in: Ilka Becker, Michael Cuntz, Astrid Kusser (Hrsg.), Unmenge. Wie verteilt sich Handlungsmacht?, München, 2008, S. 75–92.

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den Film eine Außenseite. Sie ruht etwa auf Voraussetzungen und auf Relationierungen auf, die ihrerseits keineswegs immer schon hand-lungsförmig sind. Das naheliegendste Beispiel dafür wäre im Fall des Films womöglich die Wahrnehmung. Wahrnehmungen und Handlun-gen mögen aufeinander bezogen sein und ineinander umschlagen, aber sie sind nicht identisch. Gerade die Wahrnehmungsgebundenheit des fi lmischen Handlungsuniversums macht eines seiner Spezifi ka aus. Auch das – fi lmische, also das dargestellte wie das im Kino verwirklich-te – Erleben kann als Komplement des Handelns ausgemacht werden: Veränderungen, denen eine (Mit-)Verursachung außerhalb des sich verändernden Feldes, etwa einer Person, zugeschrieben wird, werden als Erleben gefasst, solche dagegen, die die zugeschriebene Urheber-schaft in sich selbst tragen, als Handlung.7 Eine weitere Außengrenze der Handlung ist in ihrem Verhältnis zur Refl exion zu vermuten; und ganz wie bei der Wahrnehmung gibt es dabei dennoch vielfältige Kopplungen und Übergänge zwischen beiden.

2.

Die gesamte hier vorgetragene Überlegung situiert sich dabei natürlich in einem bestimmten theoretischen Rahmen. Fragen nach der Hand-lungsmacht, ihrer Herkunft, ihrer Entstehung und ihrer Verteilung zwischen Subjekten und Objekten, sind seit längerem in den Fokus von Soziologie, Anthropologie und Wissenschaftsforschung gerückt. Sie sind zudem medienhistorisch und in Sonderheit medienphiloso-phisch gewendet worden. Diese letztere Wendung ergibt sich daraus, daß der Status von Medien in diesem Zusammenhang diskutiert wer-den muss: Medien sind selbst im Zwischenraum zwischen dem Han-deln und dem Erdulden oder dem Erleben, auch zwischen dem Sub-jektiven und dem Objektiven angesiedelt und operieren dort. So sind sie etwa von dinglichen, objektiven Sachverhalten, etwa technischen Apparaturen und anderen, auch ästhetischen Materialitäten nicht ab-lösbar. Zugleich wird ihnen medientheoretisch eine Mitwirkung etwa an kognitiven Leistungen zugeschrieben, an Erkenntnis-, Wahrneh-mungs- und allgemein Bewusstseinsleistungen, aber auch an Aff ektla-gen und Emotionsproduktionen. Die Mitarbeit der Medien gilt nicht nur, wie bei den Schreibzeugen Friedrich Nietzsches und schon früher

7 Zur Differenz von Handeln und Erleben Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Frank-furt am Main, 1984, S. 159–162.

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der Arbeitsstube Georg Christoph Lichtenbergs,8 unseren Gedanken, sondern auch unseren Handlungen in allen Bereichen der Verrichtung. Diese Mittlerfunktion der Medien, ihre mittlere Lage zwischen ande-rem, wird bei einzelnen Autoren sogar als Urheberschaft nicht nur an den Beziehungen zwischen Subjekten und zwischen Subjekten und Objekten gelesen, sondern an den aneinander vermittelten Instanzen selbst9. Die Unterscheidung von Subjekt und Objekt, von handlungs-mächtigen und behandelten Größen, wäre dann selbst Produkt eines Mediums. In anderer Perspektive jedoch sind Medien beschreibbar als Werkzeuge, durch die Subjekte auf Objekte (oder andere Subjekte) einwirken, als Instrumente eines  – kommunikativen, epistemischen, ästhetischen oder politischen – Handelns. Durch sie hindurch und mit ihrer Hilfe werden Wirkungen und Eff ekte erzielt oder Intentionen verwirklicht. Zugleich jedoch tragen sie sich in einer noch zu klären-den Weise selbst mit eigenen Handlungs- und Wirkungsbeiträgen, mit Eigeneff ekten und, in aller Vorsicht, möglicherweise mit so etwas wie Eigenintentionen, in das, was sie leisten und bewirken, ein.

Innerhalb der Medientheorie sind daher selbstverständlich bereits prominente Konzepte etabliert, die eben diesen Problemhorizont auf-spannen, indem sie die Verhältnisse materieller Anordnungen und operativer Veränderungen etwa im Gefüge von Machtausübung oder den Prozessen der Wissensgenerierung zu fassen versuchen. Dazu zäh-len neben dem Systembegriff etwa das Modell des Dispositivs oder jüngst dasjenige des Akteursnetzwerks. Allesamt nicht medientheoreti-scher Herkunft, sondern soziologischer und wissens- bzw. wissen-schaftshistorischer Forschung verdankt, haben sie dennoch der Me-dientheorie entscheidende, ja tragende Impulse verliehen. Entsprechend sind sie auch herangezogen worden, um die Funktion und Funktions-weise des Mediums Film zu erhellen. Dies wurde besonders da frucht-bar und wichtig, wo es, in der wichtigen Abhebung eines medienwis-senschaftlichen Verständnisses von traditioneller Filminterpretation, darum ging, Film, und besonders Spielfi lm, jenseits konventioneller Handlungskategorien, in Sonderheit derjenigen des Figurenhandelns, zu fassen und Filmhandeln zunächst einmal medientheoretisch eben auf bloßes intentionsfreies Operieren zurückzuführen.10

8 Vgl. Georg Christoph Lichtenberg, Aphorismen, Zürich, 1958, S. 102. 9 Vgl. Dieter Mersch, „Meta/Dia. Zwei unterschiedliche Zugänge zum Medialen“,

in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, 2, 2010, S. 185–208. 10 Zum Systembegriff folge ich Niklas Luhmann, Soziale Systeme, a.a.O.; zum Begriff

des Dispositivs Gilles Deleuze, „Was ist ein Dispositiv?“, in: Francois Ewald, Bern-hard Waldenfels (Hrsg.), Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt

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Diese Versuche haben jedoch ihre Grenzen und können, wo es um die (Rück)Gewinnung eines medien- und speziell fi lmphilosophisch grundierten Modells der Handlung und der Handlungsträgerschaft geht, die Überlegung nur in Teilen anleiten. Der Systembegriff etwa, so wie er namentlich von der soziologischen Systemtheorie in hoher Komplexität zur Verfügung gestellt wird, ist zwar ausdrücklich an Operationen und Relationen – nämlich an Kommunikationsakten – interessiert, nicht aber an den medienphilosophisch relevanten materi-ellen Vorauss etzungen, Substraten und der Dinggebundenheit solcher Operationen11. Der ebenfalls hervorragend ausgearbeitete und diff eren-zierte Dispositivbegriff beschreibt zwar die dominante Mitwirkung materieller, objekthafter Anordnungen an immateriellen Symbol- und Verhaltensordnungen, etwa in Herrschaftsverhältnissen oder psychi-schen Zusammenhängen. Dabei kommt den Faktoren der Verferti-gung, der Einrichtung und der Kontrolle des Verhaltens der Subjekte besonderes Gewicht zu. Das Modell des Dispositivs stellt aber gerade nicht die Handlung im Sinne der Urheberschaft, der zuschreibbaren Handlungsmacht und intentionaler Relation zur Debatte. Vielmehr wird eben die Reduktion von Handlung auf Operativität mithilfe des Dispositivmodells fassbar gemacht. Nicht die Handlungsspielräume, Absichten und Vorhaben der relationierten und verfertigten Subjekte und Objekte werden im Dispositiv beobachtbar, sondern deren wech-selseitige Einhegung, Kontrolle und Reduktion.

Das Modell des Akteursnetzwerks schließlich entwickelt dasjenige des Dispositivs fort. Es kommt dem hier verfolgten Interesse eindeutig am nächsten, so dass die hier vorgeschlagene ‚Agentur‘ des Films leicht als eine Modifi kation des Akteursnetzwerks zu lesen ist. Es ist hoch geeignet, die vielfältigen Ramifi zierungen und Rekursionen zu be-schreiben, durch die die operative Verfertigung materieller wie imma-terieller Objekte – etwa: Wissensbestände – verläuft. Aber auch hier ist Intentionalität nur schwach thematisiert und damit intentionsgesteu-erte Handlung, trotz des Bestehens auf dem Akteursbegriff , schwer

am Main, 1991, S. 153–162; zur Theorie der Akteurnetzwerke S. Andrea Belliger, David J. Krieger, ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielfeld, 2006.

11 Dies zeigt sich z.B. in Luhmanns Umstellung der Differenz von „Ding“ und „Medium“ bei Fritz Heider auf diejenige von „Form“ und „Medium“, vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main, 1997, S. 190–202; allerdings unterzieht Luhmann die Beziehungen zwischen technischen Bedingun-gen und kommunizierter Information in seinem späten Aufriss einer genaueren Betrachtung und definiert sie als „strukturelle Kopplung“: vgl. ebd., S. 302.

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konturierbar. Zudem ist, anders als in den Modellen des Systems und des Dispositivs, die Abgrenzung eines Netzwerks nach Außen, sein Verhältnis zu anderen Netzwerken etwa, nicht fokussiert, wie sie ande-rerseits für die ‚Agentur‘, die der Film darstellt, immer auszumachen ist; die Konnotation der ‚Agentur‘ als Institution weist darauf ebenso hin wie die notwendige Begrenztheit in Raum und Zeit, die (ein) Film als Produkt und als Wahrnehmungsobjekt materiell aufweist. Der Be-griff des Netzwerks konnotiert zudem stets eine Strukturgebung über je gebündelte, aber identifi zierbare, adressierungsförmige oder vektori-elle Einzelrelationen und Einzeloperationen. Diff usere Anordnungen, die von feldartig aufgespannten Potentialen, von Bindungskräften und Verhältnissen loser Kopplungen geprägt sind, können in Netzwerkbe-griff en und -bildern dagegen nur schwer sichtbar gemacht werden. Speziell für ästhetische Verhältnisse und ästhetisch kodierte Hand-lungsfelder jedoch, mit denen wir es hier beim Film zu tun haben, sind derlei Felder wichtig und kennzeichnend. Nicht zuletzt handelt es sich beim Filmbild selbst materiell nicht um ein Netzwerk, sondern um ein – wenn auch charakteristischerweise beweglich – umgrenztes visu-elles Feld und einen mit ihm  – auch gegenstrebig  – verschränkten Klangraum. Hier zeigt sich, dass das Modell des Akteursnetzwerks ebenso wenig wie dasjenige des Dispositivs für ästhetische, sondern für kognitive, epistemische bzw. für politische Konfi gurationen entwickelt wurde.

Das hier vorgeschlagene Modell der Agentur nun will den Komplex der Handlungsmacht speziell für das bewegte Bild aufschlüsseln. Dabei geht es nicht nur um einen Versuch zur Bestimmung des bewegten Bildes als ein spezifi sches Medium mit spezifi sch konfi gurierter und konfi gurierender Handlungsmacht. Vielmehr geht es darum, dass das bewegte Bild ein hervorragendes Instrument oder Medium ist, das die-sen gesamten Problemhorizont des verteilten Handelns und der medi-alen Konfi guration von Handlungsmacht wiederum sichtbar macht, thematisiert und refl ektiert. Das bewegte Bild selbst wirft Fragen nach der Handlungsmacht, ihrer Verteilung und ihrer Organisation – einge-schlossen die jeweils eigene, kinematographische – auf und ventiliert sie; es führt Debatten und erprobt mögliche Antworten, um deren Freilegung und Diskussion es hier in fi lmphilosophischem Zugriff ge-hen soll.

Wir gehen also von der Hypothese aus, dass das bewegte Bild es – nicht nur, aber in bezeichnender Weise – mit unterstellten, operativen Absichten und mithin Handlungen zu tun hat, dass es Handlungen der verschiedensten Art aufzeichnen, darstellen, zeigen oder vermitteln,

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weitertragen und auslösen kann. Nicht zuletzt geht es selbst aus kom-plizierten Handlungsanordnungen hervor. Dabei, so weiter die Annah-me, entwirft es ein spezifi sches Bild der Handlung und der Handlungs-verhältnisse, nämlich eben das der ‚Agentur‘, in dem Handlung aus materiellen Anordnungen entsteht oder im Verein mit ihnen möglich wird; damit ist schon gesagt, dass darin Handlung auf Relationen ers-tens aufruht und sie zweitens durch Relationierung auch hervorbringt, reproduziert und plastisch transformiert. Dabei, so die nochmals wei-ter gehende Behauptung, entwirft und repräsentiert sich das bewegte Bild zugleich selbst als ‚Agentur‘, als eine komplex binnenrelationierte und binnenoperative, schließlich aber zumindest mit-handelnde Ins-tanz, als handlungsbeteiligte Größe eigenen Rechts und Zuschnitts. Kurz: Es handelt auch.

Diese Auff assung des Films vom Handeln der ‚Agentur‘ könnte von großer Relevanz sein, so wäre schließlich zu spekulieren. Sie könnte in genau dem Maße ausgreifen, in dem das bewegte Bild in allerlei For-men und über vielfältige technische und institutionelle Wege immer weiter in relevante Bereiche des Alltagshandelns, des Wissenschafts- und des Kunstgeschehens vordringt, von den Kinoleinwänden und den Fernsehbildschirmen ausgehend und sie hinter sich lassend. Eine Freile-gung dieses dem bewegten Bild eingeschriebenen, in es eingefalteten und von ihm erarbeiteten Wissens wie auch die eigene Praxis des Films als Handlungsfeld würden dann einen wichtigen medienphilosophi-schen Ort einnehmen. Sie würde möglicherweise unsere Auff assungen von medial produzierten Handlungen, Handlungsverläufen und -eff ek-ten, von Handlungsmacht und Handlungsorten, von Handlungsträ-gern, von Urhebern, ihren Absichten, Instrumenten und Aufträgen und schließlich von der Beschaff enheit dessen, was, jenseits bloßer Eff ekte, mit ‚Absicht‘ und ‚Intention‘ beschrieben werden kann, überhaupt be-reichern. Das könnte mindestens da angebracht sein, wo wir es in zu-nehmendem Maße mit Dynamiken bewegter Bilder in zahlreichen Fel-dern der Praxis, auch außerhalb des Kinos, zu tun haben.

Ein besonderes Gewicht legen die folgenden Überlegungen auf den Aspekt der Zeit. Dies hat zwei Gründe. Zum einen kann die Zeit neben der Sichtbarkeit als ein besonders zentrales Bestimmungsstück des be-wegten Bildes angenommen werden. Die Ermöglichung und Organisa-tion kinematographischen Handelns durch Zeit, die Produktion von Zeit durch kinematographisches Handeln und schließlich die diesem Handeln implizite Refl exion auf Zeit und Zeitigung bilden deshalb, so der Vorschlag, einen Kernbereich, in dem die aufgeworfenen Fragen virulent werden können. Zum zweiten aber kann als eine Minimalvor-

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aussetzung für das Vorliegen von Absichten und Intentionen, wie sie für unsere Fragestellung nach der Handlung zentral sind, angenommen werden, dass sie an die Unterscheidung von Soll-Zustand und Ist-Zu-stand geknüpft sind, also eines zukünftigen von einem gegenwärtigen Zeitpunkt. Das schließt natürlich auch den Umkehrfall ein, etwa in der absichtlichen Gefahrenabwehr.12 Ein zweites Schwergewicht liegt dann auf der Untersuchung der Eigenlogik oder des Eigengewichts des be-wegten Bildes im Kontext der zahlreichen Handlungszusammenhänge, in die es eingelassen ist. Es geht dabei also um die eigenen Absichten des Filmbildes im Kontext derjenigen seiner Macher und seiner Rezipien-ten; und dies durchaus da, wo das Filmbild, die Filmerzählung diese Absichten selbst artikulieren oder ablesbar machen, genauer: wo sie eine Zuschreibung solcher Eigenabsichten veranlassen. Zu vermuten ist, dass eine Absicht da in besonderem Maße ables- oder zuschreibbar wird, wo sie – so wie die von ihr getragene Handlung – durchkreuzt oder aber, durchaus noch im Verlauf der Handlung oder der Vorgänge, verschoben und abgeändert werden kann.

Dabei können wir – es geht um Film – ganz deskriptiv und einfach beim Naheliegenden und Ausdrücklichen beginnen. Die spezifi sche Fassung, die das bewegte Bild dem Problem der Handlungsmacht ver-leiht, verdichtet es unter nämlich anderem in einer einschlägig gefass-ten Figur, einem Figuren- und Figurationstyp sogar, der ein ganzes Genre prägt, so die Th ese der folgenden Darlegungen. Es handelt sich dabei um eine regelrechte und wiederkehrende Leinwand- und Bild-schirmfi gur, eine menschliche noch dazu: um die Figur des Agenten, beispielsweise des Geheimagenten, und um die Versammlung solcher Agenten zu Agenturen.

3.

In der Auff assung dessen, was ein Agent sei und was den Agenten als auf spezifi sche Weise handlungsmächtige Figur auszeichne, orientieren wir uns zunächst an dem höchst instruktiven Modell des Anthropolo-gen Alfred Gell.13 Es hat für unser Anliegen den großen Vorteil, ganz

12 Vgl. dazu Elena Esposito, „Die offene Zukunft der Sorgekultur“, in: Lorenz Engell, Bernhard Siegert, Joseph Vogl (Hrsg.), Gefahrensinn, München, 2009, S. 107–114; vgl. a. Joseph Vogl, „Der Angriff der Zukunft auf die übrige Zeit“, ebd., S. 101–106.

13 Hierzu und zum Folgenden Alfred Gell, Art and Agency. An anthropological Theory, Ox-ford, 1998; Alfred Gell, The Art of Anthropology. Essays and Diagrams, London, 2006.

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ausdrücklich Bilder und ihre Handlungsmacht in das Modell zu integ-rieren, ja sogar umgekehrt, entlang von Bildern und anderen Spezial-objekten, von magischen Gegenständen bis hin zu Kunstwerken, zu entfalten, was verteilte Handlungsmacht sei, statt dies, wie üblich, im-mer schon ausgehend von Subjekten und menschlichen Personen zu tun. Begriff und Figur des „Agenten“ entwickelt Gell in der Polarität zu Begriff und Figur des „Patienten“.14 Beides sind für Gell nicht einfach gegebene, sondern je attribuierte, im Verfahren der Zuschreibung gel-tend gemachte Qualitäten. Bilder und Objekte, denen zugeschrieben wird, Sitz eigener Intention und Wirkmacht zu sein, sind demnach „Agenten“. Werden sie dagegen als Eff ekt oder Instrument fremder In-tention und Wirkmacht thematisiert, handelt es sich um „Patienten“. Hier kehrt also die vorhin schon erwähnte Unterscheidung des Han-delns vom Erleben oder, in traditioneller Terminologie, der „actio“ von der „passio“ wieder. Freilich achtet Gell darauf, neben der Unterschei-dung auch die unentrinnbare Relationiertheit beider Größen, die ein-ander erfordern und produzieren, ausdrücklich mitzuführen.

In beiden Fällen qualifi ziert Gell solche Bilder oder Objekte mit ei-nem traditionsreichen, aber hier eigenwillig eingesetzten Begriff der Zeichentheorie als „Index“.15 Insofern der „Index“, also das Bild oder das beispielsweise magische Objekt, von jemandem hervorgerufen oder bewirkt worden ist, handelt es sich um einen „Patienten“, so Gell. Insofern es dem „Index“ aber möglich ist, auf jemanden – beispielswei-se einen Betrachter oder Benutzer – einzuwirken, handelt es sich um einen „Agenten“. Ein solcher „Index“ verschränkt also, nimmt man Gells Ansatz genau, „Agenten“- und „Patienten“-Status auf komplexe Weise. In seiner Funktion als Agent veranlasst er zunächst einen Be-trachter, anzunehmen, er sei von jemand oder etwas anderem jenseits des Index auf irgend eine Weise verursacht, sei also Patient. Sowohl Objekte wie Subjekte, sowohl Dinge wie Personen können „Agenten“ und „Patienten“ sein, können Wirkung ausüben wie empfangen. Mit der Kontrastierung von „Agent“ und „Patient“ hoff t Gell die tradierte (westliche) Dichotomie von Subjekt und Objekt zu ersetzen, mindes-tens aber zu unterlaufen. Dabei sind die tatsächlichen Verursachungs-verhältnisse völlig irrelevant. Wichtig ist allein, worauf sich das Bild oder das Objekt, der „Index“, in den Augen des Betrachters beruft. Die Berufung auf eine Ursache ist die herausragende Funktion des Index. Dies gilt keineswegs für alle tatsächlich verursachten Objekte, sondern

14 Gell, Art and Agency, a.a.O., S. 32 ff. 15 Ebd., S. 33 f.

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eben nur für den Index, das magische oder künstlerische Objekt. Ins-besondere, so Gell, wird in dem Index nicht nur eine kausale Folge etwa naturgesetzlicher Art gesehen, sondern die Folge einer Absicht, eines Willensaktes, einer Intention, einer Entscheidung, einer Befähi-gung.16 Bei Charles Sanders Peirce, auf den der Begriff des Index zu-rückgeht, fi ndet sich bereits diese Aufspannung des Index zwischen naturgesetzlicher Kausalität einerseits und intentionaler Absicht ande-rerseits.17 Der Index, das Bildwerk oder magische Objekt, wird vom Betrachter als weder determiniert noch als zufällig begriff en. Dies ist aber erneut eine reine Zuschreibung, die im Übrigen nicht nur mensch-liche Personen, sondern auch andere Größen treff en kann, andere Ob-jekte, Götter und Geister oder Geschichte und Gesellschaft. Sie alle können als Verursacher, als „Agenten“ nämlich in Haft genommen werden, aber auch als ihrerseits verursacht, als Eff ekt komplexer Verur-sachungsverhältnisse, als „Patienten“. 

Der Gell’sche „Index“ ist also nicht nur als „Patient“ hervorgebracht, sondern seinerseits auch Verursacher. Es handelt sich schließlich um ein Objekt, das, auf welchen Wegen auch immer, den Betrachter veran-lasst anzunehmen, es zeitige Folgen, es löse z.B. ein Verhalten aus, ziehe Reaktionen und Handlungen nach sich oder verändere den Zustand der Dinge auf andere Weise. Auch dies fi ndet sich in der Doppelstruk-tur des Index bereits bei Peirce, für den der Index aus zwei miteinander verschränkten Relationen besteht: einer Kausalbeziehung und einer weiteren, zeigenden oder anzeigenden Geste, die auf die Kausalbezie-hung hinweist und die ihrerseits eine intentionale Form ist.18 „Patient“, gleichsam Zielobjekt dieser dem Index attribuierten Wirkung können nun nach Gell unterschiedslos die Betrachter und Benutzer selbst oder auch andere Objekte sein. Wiederum sind die tatsächlichen Verursa-chungsverhältnisse völlig irrelevant. Es genügt, so Gell mit einem wei-teren Begriff Peirces, die Abduktion, also die Hypothese oder bloße Annahme einer solchen Wirkung.19 Die dem Index hypothetisch zuge-schriebene erzielte Wirkung kann dann in einer Art Durchschlussver-

16 Vgl. Alfred Gell, „Vogel’s Net: Traps as Artworks and Artworks as Traps“, in: ders., The Art of Anthropology, a.a.O., S. 187–214.

17 Zur Semiotik des Index bei Peirce im Überblick: Charles Sanders Peirce, Phäno-men und Logik der Zeichen, Frankfurt am Main, 1983, S. 67–73. Zur Verbindung des Indexikalischen mit der Annahme einer Willenskraft Charles Sanders Peirce, „On Josiah Royce’s ‚Religious Aspects of Philosophy‘“, CP, 8.39–8.54.

18 Vgl. Charles Sanders Peirce, „Lowell Lecture No. 3“, 1903, CP, 5.66–5.92. 19 Vgl. Gell, Art and Agency, a.a.O., S. 14 ff.

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fahren mit der dem angenommenen Urheber unterstellten Absicht identisch sein, muss es aber in keiner Weise.

Die beiden angenommenen Bewirkungsverhältnisse, vom Urheber-„agenten“ zum Index-„patienten“ und vom Index-„agenten“ zum Be-trachter-„patienten“, sind, so Gell weiter, auch beide gleichermaßen umkehrbar.20 Der Betrachter kann, etwa als Auftraggeber, an einem Kunstwerk oder Zauber sich selbst eine Urheberschaft zuschreiben und damit „Agenten“-status erlangen. Das gilt z.B. auch für einen Kunden, den ein Produkt veranlasst anzunehmen, es sei nach seinen Wünschen und Erwartungen angefertigt worden. Und weiter kann dem Index auch Macht über seinen Urheber zugeschrieben werden. Das Werk kann sich wie der Zauberbesen gegen den Urheber wenden. Die Eigen-logik eines Kunstwerks kann den Künstler zwingen, es anders als in der ursprünglich geplanten Weise zu vollenden, oder der kommerzielle Er-folg, immer noch mehr Werke der gleichen Art zu produzieren. Mit Gells Worten: Aus dem „Agenten“ ist dann ein „Patient“ geworden. 

Neben Urheber, Betrachter und Objekt (oder Index) spielt eine vier-te Größe für Gell eine Rolle. Sie markiert einen Spezialfall, nämlich den Fall der fi gurativen Bildwerke oder Bilder im landläufi gen Sinne, der Objekte also, die, wie es auch Filmbilder tun, etwas darstellen.21 Gell schlägt sich nicht lange mit dem Problem der Repräsentation he-rum. Er streift kurz – gegen Nelson Goodman – die Peircesche Kon-zeption der Ikonizität als Ähnlichkeit. Hauptsächlich aber geht er da-von aus, daß fi gurative Bilder ihre Betrachter veranlassen, in ihnen die Anwesenheit abwesender Objekte anzunehmen. Das derart anwesend-abwesende Objekt nennt Gell „Prototype“. Auch dieser Terminus ver-weist in indirekter, aber interessanter Weise auf den Umkreis der Peir-ceschen Semiotik.  Wichtig ist aber, dass auch der „Prototyp“, der im Bild dargestellte oder sonstwie als im Bild anwesend angenommene Gegenstand seinerseits in das indexikalische Spiel der Verursachungen miteingreift. Auch der „Prototyp“ kann z.B. „Agent“ sein, kann – in der Zuschreibung – das Bild bewirkt haben oder als „Patient“ vom Bild als dessen Eff ekt erst hervorgerufen oder bewirkt worden sein. Der „Prototyp“ – also der Bildgegenstand etwa – kann Wirkung auf den Betrachter ausüben; oder das Bildwerk kann dem Betrachter oder Be-nutzer gestatten, wie bei der Voodoo-Puppe, Wirkung auf den „Proto-typen“ auszuüben. So viel zunächst zu Gells Grundmodell magischer und künstlerischer Objekte und ihre Einbettung in einen komplexen

20 Vgl. Ebd., S. 28–48. 21 Vgl. Ebd., S. 25 f; S. 47 f.

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Zusammenhang, eine Konstellation, die wir hier in einem ersten Zu-griff als ‚Agentur‘ bezeichnen wollen.

II

4.

Wie konfi guriert sich nun die Agentenfi gur des bewegten Bildes im Rahmen dieses Th eoriesettings oder im Vergleich zu Gells Modell? Be-ginnen wir abduktiv mit einem speziellen Fall, nämlich der in ihrer Zeit (zwischen 1967 und 1973) höchst erfolgreichen Agentenserie MISSION: IMPOSSIBLE.22 Und verfahren wir dabei einmal ganz und gar inhaltistisch, also mit dem, was in dieser Serie als Figur des Agenten dargestellt wird, was dann nach Gell der „Prototyp“ des untersuchten Bildobjekts wäre. Jede einzelne Folge der Serie beginnt mit einem in-zwischen legendären Eröff nungsritual. Jemand – nach einiger Routine wissen wir: es ist ein Mitglied, meist der Kopf einer Truppe von Ge-heimagenten – fi ndet oder erhält unter konspirativen Umständen ein Tonband oder gleich ein Tonbandgerät sowie eine Akte. Beim Abspie-len des Bandes ertönt eine Stimme, die dem Agenten einen Auftrag erteilt, dazu kurz einige Erläuterungen gibt und darauf hinweist, daß der Auftrag auch abgelehnt werden kann. Wird er jedoch angenom-men, hat es ihn nie gegeben: der Auftraggeber hat keine Identität und alle Institutionen, die für eine solche Auftragserteilung in Frage kom-men, werden sie ableugnen. Ist die Botschaft abgespielt, löst sich das Band, off enbar selbsttätig, in einer Stichfl amme auf, so dass die Auf-tragserteilung spurlos gelöscht ist. In der zweiten Sequenz der Folge dann sehen wir den Auftragnehmer, wie er aus einem Stapel von Perso-nalakten, in die wir über seine Schulter auch hineinsehen können, ei-nige auswählt und so ein Team zusammenstellt, mit dem er dann den Auftrag ausführen wird. Wir erfahren dabei, dass all diese Agenten in mehr oder weniger konventionellen Berufen tätig sind und neben ih-rem Agentendasein off enbar ein einigermaßen normales Leben führen. Welches Leben hier Haupt- und welches Nebensache ist, bleibt unauf-geklärt. Die dritte Sequenz wird dann eine Planungsbesprechung die-ses Teams zeigen, der Rest der Folge der Durchführung des Auftrags gewidmet sein. Über die Motivation der Agentengruppe haben wir

22 Vgl. Patrick J. White, The Complete Mission: Impossible Dossier, New York, 1991.

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keinerlei Aufschluss. Honorare oder Entlohnungen kommen nicht vor, Drohungen oder Einschüchterungen auch nicht; ebensowenig sind die Mitglieder zur Durchführung des Auftrags irgendwie erpressbar. Die Agenten sind eigenwillig, allenfalls eine gewisse Lust am Spiel und auch am Risiko wird bisweilen erkennbar.

Die Durchführung des Auftrags – dazu gehören etwa Gefangenenbe-freiungen, die Herbeischaff ung verloren gegangener Gegenstände, die Unterdrückung von Beweismaterial, die Verhinderung von Anschlägen und die Störung der Aktionen missliebiger Regime; all dies überwie-gend in ungenannten oder fi ktiven Ländern außerhalb der USA – erfor-dert dann insbesondere vier Fertigkeiten. Dies ist erstens die Erzeugung einer Illusion. Das Illusionspotential des Agenten in Film und Serie beginnt bei seiner Fähigkeit, überhaupt erst einmal sich selbst darzustel-len, zur Erscheinung zu bringen, mit einem Auftreten, einer Markie-rung zu versehen. Das gilt für die Figur der Cinnamon Carter in MISSI-ON: IMPOSSIBLE nicht weniger als für Jason King in DEPARTMENT S. und allen voran natürlich auch für James Bond. Es führt aber hin zu der Fähigkeit zu einer perfekten Tarnung und Täuschung, meist als Verklei-dung, Maskierung und Rollenspiel der Agenten selbst, oft sogar in wechselnden oder gar überlagernden Doppelrollen.

Zweitens ist eine absolut perfekte Abstimmung der einzelnen Akti-onen des meist verteilt agierenden Teams notwendig, diese Abstim-mung erfordert vor allen Dingen einen Zeitplan und in der Durchfüh-rung eine genaueste Synchronisierung der Einzelaktionen und ihre peinlich eingehaltene Sukzession. Dazu werden selbstverständlich im-mer wieder Uhren und Uhrenblicke benötigt.

Drittens sind zur Durchführung des Auftrags zahlreiche – zumin-dest im damaligen Zeithorizont der Serie – raffi nierte und oft denkbar unwahrscheinliche technische Hilfsmittel in Anspruch zu nehmen, de-ren Beherrschung absolut unabdingbar ist. Dies stellt auch hohe An-forderungen an die Körperbeherrschung und Fingerfertigkeit der Agenten. Wir können hier von einem gestischen Potential sprechen. Agenten besitzen nicht so sehr abstrakte Klugheit und reines Wissen als vielmehr Geschicklichkeit und Listenreichtum, verfügen also über also situative, kontext- und vernetzungsrelative Begabungen. Im Sinne Bruno Latours ist der Agent damit eine Figur vom Typ des Odysseus, eine listenreiche, „polymetische“ Figur.23 Und schließlich ist auch eine hoch entwickelte Fertigkeit vonnöten, vom ursprünglichen Skript der Gesamtaktion abzuweichen und zu improvisieren, wenn der ursprüng-

23 Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt am Main, 2002, S. 212.

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liche Plan aufgrund widriger Umstände oder anderer Unvorhersehbar-keiten geändert werden muss, wenn eben nicht alles wie am Schnür-chen abläuft. Eine Figur wie Mac Gyver aus der gleichnamigen Serie ist geradezu die Verkörperung der Improvisationsfähigkeit des Agenten. Die Herausforderung der Improvisation geschieht aber allfällig; und dabei auch immer wieder durch Dysfunktionalitäten der eingesetzten Geräte. In derlei Widersetzlichkeiten des Materials meldet sich der Ei-gensinn der Objekte an.

Die vier Fähigkeiten sind in auff älliger Weise an Relationen und Relationalität gebunden; und eben deshalb können sie auch gar nicht so sehr den einzelnen Agentenpersonen allein als vielmehr ihrem Zu-sammenspiel zugeschrieben werden, ohne dass allerdings dabei die Figur des Agenten zum ausschließlich fungiblen, automatischen Funk-tionär des Netzwerks herabgestuft würde. Die Agenten sind unterein-ander auch nicht einfach austauschbar. Vielmehr bringen sie jeweils Spezialstile und Spezialfertigkeiten mit in die Durchführung der Mis-sion, weswegen auch zu Beginn jeder Episode die geschilderte Selekti-on der Gruppe erfolgen muss.

Die Begabung zur Bezugnahme und die Fähigkeit, Relationen ein-zugehen, Abstimmungen vorzunehmen und die verschiedenen Relati-onen wiederum aufeinander zu beziehen und miteinander zu verweben durchzieht demnach das gesamte Feld des Agentenhandelns. Dabei umgreifen alle vier Fähigkeiten einander innerhalb der von ihnen ge-meinsam – und nur gemeinsam – aufgespannten Ebene der Mission oder der durchzuführenden Aktion, schreiben sich ineinander ein und überlagern miteinander. Die zeitliche Koordination in Abfolge und Gleichzeitigkeit, in Vorwegnahme und Erinnerung bestimmt nicht nur das Verhältnis der verschiedenen Fähigkeiten zueinander, sie aktu-alisiert sich vielmehr auch als Illusions- oder Geschicklichkeitsfaktor. Die Geschicklichkeit und das gestische Potential verwirklicht sich in hohem Maße in der Illusionsfähigkeit wie auch im Umgang mit den Techniken und Geräten der Koordination, und hier eben wiederum denjenigen der Zeitmessungen, wie etwa Uhren es sind. Die Illusion wiederum greift in das Verhältnis der Fähigkeiten da ein, wo etwa eine Abweichung vom Skript ausgegeben und ein eigentlich dysfunktiona-ler Zufall umgedeutet wird in indirekte und raffi niert getarnte oder auch schlicht willkürliche Intention, als ein angeblich genaues Befol-gen eines gar nicht vorhandenen Skripts oder Plans; oder wenn den Gegnern der Agenten von vornherein ein Plan mit Soll- und Ist-Diff e-renz vorgespiegelt wird, den es gar nicht gibt. Die Improvisation schließlich kann jederzeit in jedem der anderen Handlungsbereiche

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notwendig werden, beispielsweise in demjenigen der Geschicklichkeit, wenn ein technisches Gerät dysfunktional wird, oder in demjenigen der Illusion, wenn eine Tarnung aufgedeckt, oder in demjenigen des Timings, wenn ein Zeitpunkt verpasst wird – was seinerseits wiederum auf einem technischen Defekt beruhen kann oder darauf, dass eine notwendig gewordene Improvisation den Zeitplan und damit den Ab-lauf der gesamten Operation durcheinander bringt.

Dennoch zeichnet sich zugleich ab, dass das Gefüge der Potentiale, auch wenn sie einander vollkommen beigeordnet und nicht hierarchi-siert sind, asymmetrisch ausfällt, dass nämlich die Fähigkeit zum Ti-ming als Kernoperation der unabdingbaren Bezugnahme zwischen den Agenten letztlich in den anderen Potentialen nicht nur wiederkehrt, sondern sie wiederum untereinander koordiniert. Dies wäre auch eine konsequente Zentrierung, die sich aus der dominanten Zeitlichkeit des bewegten Bildes ergibt, wie sie sich in dem gewählten Beispiel nicht zuletzt ganz schlicht aus der relativ engen zeitlichen Begrenztheit einer Serienepisode heraus auch noch einmal als Zwang zur Endlichkeit und zur Finalisierung auch im Sinne der Zielerreichung, der Erfüllung der Mission steigert. Es ist daher im Sinne der Verdichtung nur konse-quent, dass auff ällig oft – bis hin zu den verwandten JAMES BOND-Fil-men – die tickende, rückwärts auf Null zulaufende Uhr eines Zeitzün-ders den Höhepunkt und Abschluss einer Serienepisode bildet.

Das Beispiel von MISSION: IMPOSSIBLE ist nicht völlig willkürlich gewählt; mindestens in derselben Zeit ist eine ganze Reihe von Serien um Umlauf, die einem solchen oder einem ähnlichen Schema folgen. Weitere Beispiele wären etwa – herausragend – THE AVENGERS, weiter DEPARTMENT S, JASON KING, THE MEN FROM U.N.C.L.E, THE PER-SUADERS und I SPY; auch das JAMES BOND-Schema der Spielfi lmserie ist zumindest in Teilen als eine weitere Fassung des hier beschriebenen Musters erkennbar.24 In deutlich abgeänderter, variierter und reduzier-ter Form, auch ironisiert, werden die Elemente des Schemas aber auch in den 8oer Jahren weitergeführt, so in MACGYVER, in HART TO HART, in MIAMI VICE, in MOONLIGHTING und in MAGNUM, P.I.. Noch TWIN PEAKS verhandelt über verblüff end weite Strecken und ebenso verblüf-fende Wendungen und Verwindungen das Th ema der Agentur und des Agenten im hier skizzierten Sinn; darunter off en institutionalisierte Fälle wie FBI und NASA, die in TWIN PEAKS jedoch gleichzeitig auf

24 Zur Übersicht vgl. Jon E. Lewis, Penny Stempel, Cult TV. The Essential Critical Guide, London, 1993; Christian Haderer, Wolfgang Bachschwöll, Kultserien im Fernsehen, München, 1996.

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kryptischem Gelände agieren und dort mit den völlig unbekannten Agenturen des ‚Guten‘ und vor allem des ‚Bösen‘ agieren. Bekanntlich nährt diese Verschiebung des Agentenschemas dann auch die Entwick-lung der ‚Mystery‘-Serie, deren bekanntester Vertreter in den 90er Jah-ren THE X-FILES ist.

5.

Die Agenten handeln in nahezu jedem dieser Fälle grundsätzlich in einer Zwischenzone zwischen Fremd- und Selbststeuerung bzw. -er-mächtigung. Sie sind zumeist nicht im eigenen, sondern in fremdem Auftrag unterwegs, der jedoch seinerseits – etwa aufgrund seiner Kon-tingenz: die Helden werden regelmäßig in etwas hineingezogen; oder aufgrund unklarer Kompetenzverteilungen; oder weil es sich um Auf-träge aus unsichtbaren Nebenwelten oder unbekanntem Jenseits han-delt – nicht zugeschrieben werden kann. Es ist dann ein Auftrag mit ab- oder ausgeblendetem oder überhaupt nicht vorhandenem, nicht dingfest zu machendem und nicht adressierbarem Auftraggeber. Die Agenten haben aber in der Annahme des Auftrags sowie in der Durch-führung der Aktion eigene Ermessens- und Improvisationsspielräume. Ihre eigene Motivation ist unklar, möglicherweise auch partiell spiele-rischer Art, aber sehr belastbar. Sie sind nur als Gruppe, gern auch in der Kernkonfi guration als Paar, handlungsfähig im Sinne des Auftrags; andererseits handelt jedes Mitglied der Gruppe streng eigenlogisch. Die Koordination der Teilaktionen zur Auftragserledigung geschieht insbesondere über die Relationierung und Verteilung von Zeit und dies wiederum meist durch Uhren. Vielfach werden dazu auch technische Kommunikationsmittel wie Funkgeräte, Überwachungsapparaturen, Videoblicke oder Telefone eingesetzt, die z.B. Gleichzeitigkeit erzeu-gen, aber auch vortäuschen können. Handlungsfähig sind die Agenten aber ohnehin nur im Zusammenschluss mit vielfältigen Geräten und Apparaturen, Fahrzeugen, Werkzeugen, Wahrnehmungs- und Bewe-gungsapparaturen, mit Karten und Gebäudegrundrissen. Ihre Hand-habung geht mit physischen Möglichkeiten, Geschicklichkeiten, aber auch Routinen und Erfahrungen der Körper der Agenten einher. Einen besonderen Stellenwert nehmen dabei wiederum Artefakte wie Klei-dungsstücke, etwa Uniformen, oder Accessoires ein; daneben allerlei Techniken – wie z.B. Stimmverzerrer – und schauspielerische Fähigkei-ten der Illusionierung und Täuschung. Wir können also festhalten, dass der typische Agent der Agentenserie als alleingestellter Handlungsträ-

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ger oder als klassischer Akteur nicht im Sinne des Auftrags handlungs-fähig ist, sondern dass dies erstens nur im fremden, wenngleich un-kenntlich gemachten Auftrag und zweitens nur auf das Kollektiv zutriff t. Zum Kollektiv gehören nun neben den Agentenpersonen auch technische Agenten, an die bestimmte Funktionen und insbesondere Absichten, und sei es im Sinne schwacher, abgeleiteter oder verschobe-ner Intentionen, übertragen worden sind, nämlich Geräte und Appara-turen. Sie wiederum unterliegen einer Eigenlogik, wahrnehmbar meist in der Widersetzlichkeit, aber auch eben in ihrer Fähigkeit, den Agen-ten bestimmte Fähigkeiten im Umgang mit ihnen abzuverlangen. Die Delegation der Handlungsfunktion geschieht also nicht reibungslos.25

Eine solche Zusammenstellung und Koordinierung in einem Zu-sammenspiel personaler und technischer Agenten und ihrer Operatio-nen, die in einer noch näher zu bestimmenden Weise in einem fremden Auftrag unterwegs ist, wollen wir hier endlich als ‚Agentur‘ bezeichnen, so wie sie oben einleitend in Aussicht gestellt und nunmehr von der Agentenserie aufgebaut wird. Wobei eine Agentur niemals allein vor-kommt: Auch die zu täuschende und auszuspielende Gegenseite ist in einer der beschriebenen ähnlichen Weise als Agentur organisiert, etwa als Verschwörung oder feindlicher Behördenapparat, und beide Agen-turen sind wiederum miteinander gekoppelt, und zwar sowohl auf der Ebene der einzelnen Agenten als auch auf der Ebene ihres komplexen Zusammenspiels im Ensemble. Diese Kopplung ist zunächst asymmet-risch, da die Agentur nicht nur der MISSION: IMPOSSIBLE-Agenten, son-dern auch in zahlreichen der anderen Vertreter des Genres, sich auf die Agentur der Gegenseite bezieht, um in ihren Handlungsbereich einzu-dringen, sie z.B. zu stören oder zu umgehen, ihr etwas zu entwen-den oder sie sogar zu zersetzen. Zu diesem Zweck trägt sich die eine Agentur in das Skript der anderen und namentlich in seine Zeitstruktur ein. Meist bemerkt die Gegenseite aber diesen Versuch im Lauf der Handlung und bezieht sich nun ihrerseits auf die Handlungsweise der Agenten. Diese Kopplungen zwischen den beiden Agenturen geschehen erneut durch Synchronisations- und Sukzessionsprozesse, durch Hand-habung, Geschicklichkeit und Manipulation mithilfe technischer Ob-jekte sowie durch Ausnutzung von Kontingenzen, von Dysfunk tio-n alitäten, von Entscheidungs- und Improvisationsspielräumen, und schließ lich, erst wenn alles andere nicht funktioniert, durch Gewalt. Dabei spielen auch Gegenmanipulationen eine gewisse Rolle, Sekun-därtäuschungen etwa, bei denen sich hinter der Maske genau das ver-

25 Vgl. Latour, Die Hoffnung der Pandora, a.a.O., S. 234.

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birgt, was die Maske vorspiegelt. Oder aber die technischen Arrange-ments der Gegenseite werden geortet und umfunktioniert  – etwa werden Uhren verstellt, die die Koordination der Agentur der Gegen-seite sicherstellen sollten –, oder sie werden außer Funktion gesetzt.

Ein wichtiges Merkmal des Agenten als Handlungsfi gur bleibt in MISSION: IMPOSSIBLE, obschon angelegt, letztlich unausgeführt. Dies ist seine Fähigkeit zum Verrat der Mission. Angelegt ist sie in den Entschei-dungsspielräumen der Agenten, aber auch im Doppelspiel. Die Agenten müssen sich zur Durchführung ihres Auftrags an das Zielmilieu oder die gegnerische Agentur assimilieren, in der Regel durch Täuschung. Dies beinhaltet die Möglichkeit des Aufgehens im Zielmilieu. In einer Folge MISSION: IMPOSSIBLE etwa soll die Agentin Cinnamon Carter einen geg-nerischen Agenten in die Falle locken, indem sie ihn in sich verliebt macht; der gegnerische Agent hat eben denselben Auftrag in Bezug auf sie. Beide verlieben sich aber tatsächlich – vorübergehend – ineinander. Hier besteht weitergehend die Möglichkeit, dass der Agent sich ganz oder teilweise der gegnerischen Agentur, mit der er ohnehin verkoppelt ist, einordnet. Alle Agenten sind also mindestens potentielle Doppel-, mitunter sogar Mehrfachagenten. Einzelne Agenten können von zwei oder mehreren Agenturen in Anspruch genommen werden.

Hinzu kommt, ganz wesentlich, dass Agenten keineswegs automati-sche, willenlose Werkzeuge in der Hand der Auftraggeber oder der Agenturen sind. Auch das wird hier nur angedeutet; die für die Agen-tenfi gur zentrale Möglichkeit, schließlich auf eigene Rechnung, aus eigenem Recht und zum eigenen z.B. fi nanziellen oder erotischen Vor-teil handeln zu können, unter Täuschung und Umgehung sowohl der eigenen Agentur wie der fremden, bleibt im Beispiel von MISSION: IMPOSSIBLE vage. Mindestens dies nun kann nicht nur für die persona-len, sondern auch für die materialen Agenten, die manipulierten Arte-fakte und Instrumente gelten, die beiden Agenturen zu Gebot zu ste-hen scheinen. Auch sie können zunächst Zwecksetzungen der einen Seite entwendet und solchen der anderen Seite zugeführt werden. Und die Hilfsmittel und Apparate entfalten zweitens immer wieder, eben durch eigensinnige Funktionsstörungen, die als Verweigerungen auch intentionsförmig adressierbar werden, und vielsinnige Umfunktionie-rungen, einen solchen Doppelstatus. Sie setzen dann dem Handeln der Agenten immer wieder etwas entgegen, das in der Tradition der Litera-tur oder des Slapsticks als „Tücke des Objekts“ oder als Eigensinn be-schreiben kann oder als Verschwörungszusammenhang der Dinge.26

26 Vgl. Friedrich Theodor Vischer, Auch Einer, Stuttgart, 1879.

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Genau in derlei Zuschreibung zeigt sich der potentielle Agentenstatus der Dinge. Diese Möglichkeit ist aber deshalb von enormer Wichtig-keit, weil genau sie den – technischen wie personalen – Agenten vom bloßen Boten unterscheidet, der die ihm anvertraute Botschaft brav und treu und zuverlässig und vor allem unverändert überbringt. In diesem Sinne wäre ein Agent – und wäre auch eine Agentur – weder treuer Bote noch willenloses Werkzeug noch transparentes Medium.

Diese Mischung verschieden übertragener und gebrochener Intenti-onalität der materialen Agenten ist auch deshalb entscheidend, weil sie den Punkt markiert, an dem wir die in der Agentenserie angetroff ene Konzeption des Agenten angesichts des Befundes in eine Relation zu unserem Leitmodell einrücken können, nämlich zu der oben referier-ten Fassung von Kunstwerken und magischen Objekten als Agenten und Patienten in Alfred Gells Kunstanthropologie. An der Zeichnung der Agentenfi gur der Agentenserie aber lässt sich diese Dichotomisie-rung nämlich off ensichtlich nicht bestätigen; jeder Agent in diesem Sinne ist vielmehr grundsätzlich immer schon Agent und Patient im Gellschen Sinne zugleich, in unaufl ösbarer Verstrickung: Nur im Um-gang mit dem Fremdauftrag und nur in Relation zu ihm kann der Agent seinen Selbstauftrag entwickeln. Daraus ergibt sich auch eine veränderte Fassung des Verhältnisses von Handeln und Erleben: Nur als zugleich, also immer schon synchronisiert Duldender ist der Agent überhaupt Handelnder – wobei natürlich die Art seines Erlebens, näm-lich Ziel einer Auftragserteilung zu sein, den Bereich möglichen Erle-bens keineswegs ausschöpft. Gell schreibt hier in veränderter Termino-logie die alte Unterscheidung von Akteur und bloßem Instrument oder von Subjekt und Objekt letztlich fort. Der in der Agentenserie in Rede stehende Agent jedoch ist eben nicht einerseits und zunächst als willen-loses Werkzeug und Empfänger fremder Intention adressierbar, ande-rerseits und in der Folge als aktiv handelnde, wirkungsvolle Instanz. Er zerfällt auch nicht in eine aktive, die Zuschreibung veranlassende Seite und eine qua solcher Zuschreibung verliehene passive Seite, auf der er als verursacht und bewirkt gilt. Der Agent der Agentenserie ist weder aktiv noch passiv noch beides zugleich, sondern vielmehr keines von beiden, mindestens insofern er das eine je nur durch das andere sein kann. Agenten – personale wie dingliche – sind eben keine Akteure, aber auch keine Instrumente. Sie müssen duldungsfähig sein, damit sie, etwa aufgrund ausgewählter Erlebnisse, handlungsfähig werden, und umgekehrt: Nur als unterstellt Handlungsfähige werden sie schließlich überhaupt unter eben die Beauftragung gestellt, die ihnen die Intentionalität überträgt.

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Außerdem können wir die Agentenfunktion, so wie sie die Serienfi -gur aktualisiert, deutlicher und genauer über Qualitäten und Operati-onen beschreiben als dies auf dem Gellschen Abstraktionsniveau der Fall ist. Und genau dies weist auch schon darauf hin, dass selbst die Agenten innerhalb der Agentur als zusammengesetzte Einheiten, als relationierte Felder betrachtet werden müssen. Sie sind konfi guriert und bestehen mindestens aus einer je spezifi schen Bindung und Aus-führung der vier Begabungen und ihrer Interrelationen, die sie den-noch in einen materialen Körper und eine operative Einheit integrie-ren. Diese Einheit ist dynamisch, sie verändert sich fortlaufend, und konstituiert sich als Einheit aus der Sukzession ihrer Zustände, die ei-ner aus dem anderen hervorgehen. Es ist deshalb konsequent, dass die Agenten, nicht nur als Geheimagenten, sondern z.B. auch als Polizei-agenten oder Detektive, ein bevorzugter Gegenstand von Fernsehseri-en sind: Das serielle Format teilt mit ihnen genau diese dynamische serielle Einheit, die sich aus der Sukzession der Episoden ergibt und, besonders in späteren Formaten, daraus, dass jede Folge nicht nur ein-fach einer anderen, sondern zunehmend aus einer anderen folgt und eine weitere anfolgen läßt, ohne deshalb die Geschlossenheit als Episo-de gänzlich zu verlieren.27

Die vier Hauptfähigkeiten, nämlich Illusionserzeugung und Fikti-onsfähigkeit, Koordinations- und Abstimmungsfähigkeit mit Schwer-punkt auf dem Timing, Geschicklichkeit und gestisches Potential im Zusammenspiel sowie ein situatives Improvisationstalent in der Abwei-chung vom vorgesehenen Verlauf, sind nun, das macht ja eines der Charakteristika der Agentur aus, sowohl den personalen wie den mate-rialen Agenten zuschreibbar.

Die weitere Untersuchung soll sich nun auf zwei Hauptanliegen konzentrieren. Diese beiden Hauptanliegen resultieren aus den bis-herigen Überlegungen. Wir haben oben nämlich bereits andeutungs-weise bemerkt, dass die Fähigkeit zur Koordination in der Zeit und die Ak tualisierung dieser Fähigkeit in Operationen des Timings, z.B. in Suk zession und Simultaneität, in vorauslaufender Erwartung und zu -rück haltender Erinnerung, in linearen und multipel aufgefächerten Zeitschichten, für das Funktionieren (oder Nichtfunktionieren) der kinematographischen Agentur ein besonderes Gewicht annehmen. Des-halb sollen bei der näheren Betrachtung und Spezifi zierung der Agen-tur des bewegten Bildes Zeitigungsverfahren und Zeitgebungs- oder Zeitnehmungsoperationen im Zentrum stehen. Sie versprechen, in

27 Vgl. Gilles Deleuze, Logik des Sinns, Frankfurt am Main, 1993, S. 13 ff.

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ihrer Sonderfunktion ein besonderes Merkmal gerade des bewegten Bildes – im Unterschied zu anderen Agenturen – zu sein. Und zum zweiten soll es um die bereits mehrfach aufgerufene Eigensinnigkeit sowohl von Agenten wie ganzer Agenturen gehen. Wir sind ihr im Zusammenhang mit der Dysfunktionalität, der Trägheit, aber auch der Tücke technischer Apparaturen, aber auch mit dem Spielraum der Agenten, ihrer Fähigkeit zum Doppelspiel oder zur relativen Untreue gegenüber ihren Aufträgen mehrfach begegnet. Sie ist auch als bloße Widersetzlichkeit eine intentionale Form und daher unabdingbar, um überhaupt von Agenturen und Agenten sprechen zu können, statt von Boten oder willfährigen Werkzeugen.

Beide Schwerpunktsetzungen motivieren uns dazu, uns im Folgen-den in einem sehr viel näheren und spezifi schen Blick mit einem zu-nächst methodisch isolierten, materialen Agenten innerhalb des kine-matographischen Bildes zu befassen, der aber für das Funktionieren und die Funktionsweise des bewegten Bildes als spezifi sch handlungs-mächtige Agentur paradigmatische Bedeutung annimmt – und darin dennoch eben mit Eigensinn verfährt. Dieser Agent ist die Uhr.

III

6.

Um die Uhr im Film zu studieren ist es zunächst notwendig, Beispiel-fälle aufzusuchen, in denen sie auftritt. Christian Marclay hat uns diese Arbeit mit seinem Film THE CLOCK abgenommen.28 THE CLOCK gibt eine Art Übersicht über das Auftreten und die Funktionsweise der Uhr im Film: THE CLOCK besteht aus Tausenden von kurzen Filmsequen-zen und Einzeleinstellungen aus Hunderten von Spielfi lmen. Aller-dings ist ihre Anordnung keineswegs strukturoff en oder willkürlich. Vielmehr sind die Bilder so aneinander gereiht, dass, beginnend mit

28 Zu THE CLOCK vgl. u.a. Darian Leader, Christian Marclay, The Clock, London, 2010; David Velasco, „Borrowed Time. Christian Marclay’s ‚The Clock‘“, in: Artforum International, 8, 2, 2012; Daniel Zalewski, „The Hours. How Christian Marclay created the ultimate digital mosaic“, in: The New Yorker, http://www.newy-orker.com/magazine/2012/03/12/the-hours-2, zul. aufger. am 12.08.2014; vgl. a. Hartmut Böhme, „Wollen wir in einem posthumanen Zeitalter leben? Geschwin-digkeit und Verlangsamung in unserer Kultur“, in: Markus Brüderlin (Hrsg.), Die Kunst der Entschleunigung. Bewegung und Ruhe in der Kunst von Caspar David Friedrich bis Ai Weiwei, Wolfsburg, 2011, S. 2–8 (hier S. 5).

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null Uhr und endend um Mitternacht, im Prinzip jede Minute des Tagesablaufs von den im Film sichtbaren Uhren angezeigt wird, und zwar zum einen sukzessiv in ihrer kontinuierlich zählbaren Reihenfol-ge, zum anderen in einer Dauer, die dem Zeitablauf bis zum nächsten Uhrenbild einigermaßen genau entspricht und schließlich meist einge-fasst in mehreren aufeinanderfolgenden Einstellungen, die einen mini-malen diegetischen Kontext aus dem Ursprungsfi lm aufspannen. Nicht in allen Fällen wird die Zeitangabe durch Uhren verwirklicht, auch Zeitansagen oder Nennungen der Uhrzeit im Dialog kommen vor. Das Erscheinen der Uhren bzw. der Zeitnennung wird jedoch überwiegend nicht als Aneinanderreihung von Uhrenaufnahmen allein gestaltet, sondern eingelassen in einen wie immer reduzierten Kontext etwa ei-nes minimalen Ausschnitts aus einer Spielfi lmhandlung oder eine Montagesequenz mit eingeschnittener Großaufnahme oder einer aus-geführten Kamerageste.

Die Verbindung der Sequenzen und Einstellungen komplett hetero-gener Herkunft, die völlig aus ihrem Ursprungszusammenhang heraus-genommen wurden, zu einem neuen Zusammenhang geschieht also meist nicht durch bloße Aneinanderreihung von Uhr an Uhr, sondern von Passage an Passage, verbunden auf vielfältige Weise.29 Dazu gehö-ren etwa Voice- und Soundovers, bei denen der Ton aus einer Einstel-lung einer oder mehreren anderen Einstellungen unterlegt wird. Sie können auch Atmosphären oder Musik umfassen. Dazu gehören wei-ter Anschlußverfahren wie Schwenks oder Fahrten, die am Ende einer Einstellung ansetzen und am Beginn einer neuen Einstellung fortge-führt werden (auch wenn diese zweite Einstellung aus einem ganz an-deren Film stammt), oder gleichsam konstruierte Gegenschussaufnah-men. Auch Analogien in Blickkonstruktionen können die Übergänge motivieren, beispielsweise wenn eine Einstellung mit einem Blick aus einem Fenster endet, die nächste, damit ‚eigentlich‘ völlig unzusam-menhängende mit einem analogen Blick auf ein Bild beginnt. Häufi g gibt es auch motivische oder thematische Anschlüsse, die etwa Bahn-hof an Bahnhof oder Durchsuchung an Durchsuchung reihen. Diese komplexe Anreihung kinematographischer Zeitangaben nun wird so aufgeführt, dass die Projektion genau um Null Uhr beginnt und um Mitternacht endet. Was darauf hnausläuft, daß nicht nur die auf der

29 Insofern führt Darian Leaders Bildband (Leader: The Clock, a.a.O.) zu THE CLOCK völlig in die Irre, als er ausschließlich auf (frontale) Großaufnahmen der Uhren focussiert, die z.T. sogar durch Ausschnittvergrößerungen hergestellt zu sein scheinen.

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Leinwand dargestellten vierundzwanzig Stunden des Tages tatsächlich vierundzwanzig Stunden eines Tages entsprechen, sondern minutenge-nau mit der Zeit der Vorführung, der Außenzeit, synchronisiert wer-den. Der Blick eines Zuschauers auf die Filmuhr ist stets zugleich ein Blick auf seine eigene Uhr. In all dem ist THE CLOCK also nicht einfach eine Enzyklopädie der Uhr oder der Zeitangabe im Film, sondern zu-gleich eine komplexe Auseinandersetzung mit ihr, eine eigene, sehr spezifi sch kinematographische Ins-Werk-Setzung des Films als Agent der Zeittaktung, Zeitmessung und Zeitvergabe, oder kurz: des Films als Uhr.

Beginnen wir mit der Analyse erneut ganz inhaltistisch und schema-tisch, indem wir betrachten, ob und wie in THE CLOCK die Uhr als dinglicher Agent im oben entfalteten Sinne eingesetzt wird. Die Rede von der Uhr bzw. dem Uhrenbild als dinglichem Agenten rechtfertigt sich zunächst ganz einfach dadurch, daß die je angeblickte Uhr be-stimmte Handlungen der Filmfi guren veranlassen kann. Dabei steht sie unter einem generellen Auftrag – dies ist die Funktion von Uhren ganz allgemein – aber auch unter dem Auftrag des personalen Han-delnden selber, der sich eben durch das Anblicken der Uhr unter ihre Wirkmacht stellt, ihr seine eigene Intentionalität sogar überträgt. Das Beispiel des Weckers verdeutlicht das: An den Wecker übertrage ich meine Absicht, zu einem späteren Zeitpunkt geweckt zu werden; er bewahrt sie auf und vollzieht sie dann später sogar gegen meine dann gehegte Absicht, weiter zu schlafen. Dies ist bei den Uhrenblicken in Marclays Kompilation auch so: Der Blick auf die Uhr ertüchtigt die Uhr dazu, ein Verhalten auszulösen, dessen Urheberschaft nun nicht mehr in der handelnden Person, sondern in der Uhr, im Wege der Übertragung, gesehen wird. Darin lässt sich die komplexe Beabsichti-gungsstruktur des Agenten wiederfi nden: Der Betrachter delegiert sei-ne Intention an die Uhr und bezieht sie darin auf ihre temporale, z.B. vorwegnehmende Natur. Damit wird die Uhr zunächst Sitz fremder Intention, zugleich aber stellt sich der Betrachter der Uhr unter diese, derart verschobene, nunmehr als Zeigerstellung oder Zahl sichtbare oder als Geräusch hörbare Absicht. Ihr Agentenstatus ist damit zwar noch nicht erfüllt; dies setzt dann noch die Fähigkeit zur Abweichung vom Auftrag voraus, etwa dann, wenn die Uhr falsch oder ungenau geht; wir kommen auf diesen für Marclays Installation zentralen Punkt noch ausführlicher zurück.

Schließlich steht die Uhr im Film aber auch unter dem Auftrag der Erzählinstanz, die die Figuren zu einem bestimmten Handeln veranlas-sen will und zugleich die Zuschauer dazu bewegt, dem gezeigten Han-

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deln im Film Zeitstellen innerhalb der Fiktion zuzuweisen, die dann im Fall von THE CLOCK sogar mit Zeitstellen der Realzeit synchroni-siert werden. Dabei ist natürlich die Ebene des Marclay-Films selbst von derjenigen der angeordneten, dekontextualisierten Filmfragmente zu unterscheiden bzw. ihr Zusammenhang zu berücksichtigen. Es kann hier nur darum gehen, wie es in der Anordnung, die THE CLOCK den Uhren gibt, um ihre Funktion als Agenten sei es in den Ursprungsfi l-men, sei es in der Neukompilation, bestellt ist. Eine solche Zuschrei-bung erfordert bei den Agenten des bewegten Bildes, so haben wir oben dargelegt, zunächst die vier miteinander verwobenen Potentiale, die dann noch mit den spezifi schen Konfi gurationsbedingungen der Auftragsvergabe und des Außenverhältnisses der Agentur zusammen-hängen. Das erste dieser Potentiale ist die Fähigkeit zur Illusion, zur Täuschung, zur Fiktion oder auch schlicht zur Darstellung.

Dass Uhren in den von THE CLOCK arrangierten Fragmenten diese Fähigkeit besitzen, genauer: dass diese Fähigkeit in Anspruch genom-men wird, kann an einigen einfachen Beispielen abgelesen werden. Die Uhren in den von Marclay arrangierten Bildern stellen durchweg etwas dar, sie sind insofern an repräsentativen und performativen Handlun-gen beteiligt, die ohne sie nicht oder nicht so möglich wären und an denen sie daher Miturheberschaft beanspruchen dürfen. Eine Uhr kann z.B. im Gewand eines anderen Objekts, etwa in Eulengestalt als Wanduhr im Kinderzimmer fungieren. Häufi ger sind Metonymien, in denen andere Objekte in Funktionen oder Funktionsweisen der Uhr schlüpfen und dadurch zu ihrem Analogon werden, also die Uhr ihrer-seits dargestellt wird, etwa durch Aufziehspielzeug aus Blech, das im Takt hüpft, durch die rhythmisierte Kreisbewegung eines ausgestreck-ten Arms wie beim Abzählspiel der Kinder oder durch die kreisende Bewegung eines Körpers beim Treppensteigen, untermalt durch den Rhythmus der Schritte auf der Metalltreppe. Die auff ällige Vielzahl solcher Metonymien in THE CLOCK weist nicht nur auf die zentrale Wichtigkeit der Darstellungsbegabung der Uhr hin. Ebenso ist es die Verschiebungsbewegung selbst, die thematisiert wird und die ihrerseits eine Analogie zu der Transferbewegung darstellt, die wir bei der Über-tragung, Rückübertragung und Auslagerung der Intentionalität an-hand der Weckeruhr und des Uhrenblicks bereits beobachtet haben. Wie immer derlei Verschiebungen der Uhr in andere Erscheinungsfor-men in den Ursprungsfi lmen ausgebildet sein mag, durch die Anord-nung, so wie sie in THE CLOCK erfolgt, wird Figuren wie dem Aufzieh-spielzeug oder dem Kinderarm zugeschrieben, eine Deckfi gur der Uhr zu sein. In anderen Fällen übernimmt die Uhr eine dem entgegenge-

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setzte Darstellungsfunktion: Sie ruft den Anschein eines bestimmten Handlungsortes, einer bestimmten historischen Zeit, einer Situation oder eines Milieus hervor. Beginnend mit Big Ben, weitergehend mit altmodischen Taschen- und Perpendikeluhren, über Stechuhren, Tau-cheruhren, multifunktionale Chronometer, Wohnzimmerpendeluhren und mehr übernimmt die Uhr hier die Funktion einer raschen und verdichteten Charakterisierung einer Zeit oder eines Ortes. Dies kann in erzählender Absicht – und somit in fremdem Auftrag – geschehen oder einfach unwillkürlich indexikalischer Art sein, wenn wir nämlich ein bestimmtes Uhrendesign als Spur der (modischen) Zeit lesen, der der jeweilige Film selbst entspringt.

Dieser Punkt führt uns auf die wohl wichtigste und eigentlich nahe-liegendste Darstellungsfunktion der Uhr im Film, nämlich die Darstel-lung der innerdiegetischen Zeit. Uhren zeigen Zeitpunkte und den Ablauf der Zeit an und darin verfertigen sie zuallererst überhaupt Zeit, das genau ist ihr Auftrag. Zu diesem Zweck imitieren sie z.B. als analo-ge Ziff erblattuhren (und zu diesem Typ gehören die Uhren in Marclays Film in überragender Überzahl) in iconischer Weise den kreisförmigen Sonnenumlauf eines Tages; genauer: sie geben ein Icon des Sonnen-uhrstands, der wiederum als Schattenwurf ein Index des relativen Son-nenstands im Tagesverlauf ist.30 Auch wenn der Schattenwurf rein kau-sal – allerdings bereits direktional – ist, so ist doch die Aufstellung des Arte fakts der Sonnenuhr bereits in einen Intentionszusammenhang eingelassen. Sie ist Folge einer Absicht, die wiederum ohne den Fakt des Schattenwurfs nicht möglich ist, und sie hat erneut Wirkung auf die Absichten jener, die sie ablesen. Im Fall des fi lmischen Uhrenbildes gilt diese Abfolge verstärkt. Die Uhren stellen, möglicherweise in frem-dem Auftrag, der aber ungeklärt bleiben und gelöscht werden kann, vermittelt und vermittelnd, eine Relation her zwischen der jeweiligen Filmhandlung und der aus einem idealisierten und standardisierten Sonnenstand abstrahierten Tageszeit. Eben dies aber ist reine Fiktion: Zur Zeit der Filmaufnahme wie – normalerweise – zur Zeit des Film-abspielens herrschen völlig andere Zeitverhältnisse.

Marclays Film weist mehrfach durch Szenen, in denen Uhren ge-stellt oder verstellt werden auf die Manipulierbarkeit der Uhr zum Zweck oder mit der Folge der Vortäuschung einer bestimmten Zeit hin. Auf der Ebene des Films kann die Uhr zudem Gleichzeitigkeit zweier nacheinander gezeigter Handlungen oder Situationen fi ngieren oder, im Gegenzug, eine Sukzessionsbeziehung suggerieren, etwa, so

30 Vgl. Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen, a.a.O., S. 67–73.

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ein Ausschnitt in THE CLOCK, durch eine Zeitansage. Auf der Ebene von THE CLOCK selbst schließlich wird von dieser Illusion oder Sugges-tion ununterbrochen Gebrauch gemacht, denn die angereihten Film-szenen haben überhaupt nichts miteinander zu tun, sie folgen weder kausal noch historisch in irgendeiner Weise aufeinander. Dennoch werden sie, eben über den Agenten der Uhr, statt in einer Beiordnung, wie es eigentlich enzyklopädisch angemessen wäre, in eine vorgespie-gelte uhrzeitliche Abfolge zueinander gestellt. Dies schließlich weist uns auf einen weiteren Illusionszusammenhang hin: Ebenso wie die Sukzessivität der Filmfragmente Produkt einer Anordnung von Uhren, eine Fiktion ist, so ist auch die Synchronisierung der Filmzeit von THE CLOCK mit der Außenzeit ein Illusionseff ekt, der durch ikonisch-ana-logisierende Mittel (die angezeigte Uhrzeit im Filmbild ist analog un-serer Uhrzeit im Vorführraum) und durch indexikalische Mittel (die Anreihung der Minuten im Film wird mehr oder weniger genau vom Zeittakt einer realweltlichen Uhrzeit gesteuert) bewerkstelligt wird.

7.

Was nun das zweite Potential der Agentenfi gur angeht, die Koordinati-onsfähigkeit, deren Kern wiederum, wie gesehen, das Zeitigungsver-halten ist, so kann an der Eignung ausgerechnet der Uhr wenig Zweifel bestehen. Sie kann aber dieses Potential nur im Verein mit kinemato-graphischen Anordnungen und Operationen entfalten. Es kommt der Uhr also keineswegs als solcher immer schon zu, sondern es wächst ihr zu im Verein mit anderen Operationen und Agenten. Anders als oben zunächst angenommen, wäre im Fall der Uhr der Agentenstatus, also hier: das Koordinationspotential, an das Fungieren der Uhr in einem Netzwerk von Relationen und anderen Dingen, an das Eingebunden-sein der Uhr in eine komplexe Agentur gebunden. Schon in den Aus-gangssequenzen, die Marclay heranzieht, gibt es zahlreiche Beispiele dafür, wie Uhrenbilder und Uhrenblicke die Zeitordnung der Diegese über Einstellungswechsel aufstellen. Dabei spielt die Herstellung die-getischer Gleichzeitigkeit in zeitlich aufeinanderfolgenden Einstellun-gen durch den Agenten der Uhr eine Hauptrolle. Aber auch die zeitli-che Sukzession oder gar das Andauern eines Zustands über einen längeren Zeitraum hinweg, etwa in den Einstellungen, die einen Gefes-selten zeigen, der auf einem Speicher zunehmend angstvoll neben einer tickenden Bombe sitzt, wird durch eine Uhr hergestellt. Der zwischen den Einstellungen vergangenen angezeigten Zeit entsprechend fi nden

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sich die Szenen an den verschiedenen Zeit-Orten in Marclays Film eingestreut. Die Großaufnahmen der Uhr fi nden sich hier wie in zahl-losen anderen Beispielen durch eine Blickstruktur in Schuß und Ge-genschuss in das Ensemble der Bilder eingerückt und einbezogen. Die Subjekt-Objekt-Logik ersteht dabei in einem Zug mit der Zeitlogik; ein und dieselbe Operation bildet die Ordnung der Zeit und diejenige von Subjekt und Objekt aus, denn der zeitlich koordinierenden Funk-tion der Uhr entspricht in diesen Fällen auch eine Koordination der Blicke und Blickobjekte durch das Umschnittverfahren.

Die Uhr koordiniert jedoch nicht nur die Handlungen in der er-zählten Welt, sondern auch die Erzählhandlungen der Filme selbst. Dabei ist erneut das Umschnittverfahren nur eines unter zahlreichen möglichen. Ein anderes ist die über die diegetische Welt hinausgehen-de Großaufnahme der Uhr, in der der Nahblick auf die Uhr nur uns, den Zuschauern, gestattet wird, nicht aber den handelnden Figuren. Oft geschieht sie durch einen Schwenk oder eine Fahrt, die von der im Vordergrund groß sichtbaren Uhr allmählich wegführt und in die Sze-nerie des Handlungsortes hinein sich weitet. Um die Gleichzeitigkeits- oder Nachzeitigkeitsverhältnisse der dargestellten Handlungen zu wis-sen ist in diesen Fällen nicht für die Figuren und ihre Orientierung, sondern für die Zuschauer relevant. Die Uhr koordiniert nicht die Handlungen der Figuren im Film, sondern verbindet die Zuschauer mit dem Film. Erneut wird dabei im selben Zug eine Subjekt-Objekt-Logik etabliert, die jedoch diesmal nicht im Bild ihren Ort hat, son-dern zwischen Zuschauerblick und Leinwandbild unterscheidet. Ein weiteres Verfahren benutzt nicht den Nahblick der Kamera auf die Uhr, sondern beläßt es bei einem Hintergrundauftritt der Uhr als Teil eines szenischen Ausstattungsensembles. Dabei kann die Uhr auch gänzlich zurücktreten in den Kontext des Szenenbildes, etwa unscharf im Hintergrund an der Wand des Raumes verbleiben; dennoch erstellt sie dabei Gleichzeitigkeits- und Nachzeitigkeitsrelationen.

Die Koordinationsleistung erbringt die Uhr aber nicht nur im Ver-ein mit bildgebenden und -arrangierenden Operationen des Films und im Einklang mit einer Subjekt-Objekt-Logik, sondern auch im Zu-sammenspiel mit anderen Objekten. Auff ällig oft sind dies Telefone. Uhren erscheinen neben Telefonen, Uhrenaufnahmen werden in Tele-fonsequenzen eingeschnitten, Uhrenblicke werden vom Telefonklin-geln beendet usw. Die Anordnung und Beiordnung von Telefon und Uhr zieht beide zu einer Synchronisierungseinheit zusammen und dies erneut auf der Ebene der erzählten Welt und derjenigen der Erzählung selbst zugleich. An die Stelle des Telefons kann auch das Radio oder ein

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Funkgerät oder, in begrenztem Umfang, das Fernsehen treten. Ein be-sonders komplexes Beispiel für eine solche Koordinierungsleistung ist 3:05 pm anzutreff en: Ein im Auto am Straßenrand wartender Fahrer schaut auf seine Armbanduhr, die multifunktional und doppelagen-tisch außer der Zeitangabe auch die Pulsfrequenz des Trägers anzeigt, und trägt beide Meßwerte mit einem Stift in ein Notizbuch ein. Die Pulsfrequenz ist ohnehin schon als Zahl einer Koordination zweier Taktgebungen, nämlich der Uhrzeit und des Körpers mit seinem Herz-schlag, die hier durch die Uhr als doppelt funktionales Messgerät her-gestellt wird. Der Eintrag in das Notizbuch bindet den Wert zusätzlich an die innerdiegetische Uhrzeit und suggeriert die Entstehung einer weiteren Zeitreihe, nämlich derjenigen der Messwerte, über den Tag. Insofern kann diese Szene auch als Miniatur oder Metonymie von THE CLOCK im Ganzen gesehen werden: Zeitpunktangaben aus den Aus-gangsfi lmen werden mit der Position der Fragmente im Zusammen-hang koordiniert und an die vergehende Außenzeit eines Tagesumlaufs gekoppelt, und zu diesem Zweck wird die Uhr als Teil eines vielteiligen Agenturzusammenhangs in Anspruch genommen. Zugleich stellt die Uhr in ihrer Doppelfunktion als Taktgeber und als Sensor einen Zu-sammenhang her zwischen einer artifi ziellen, technisch generierten und nur als Repräsentation wirksamen Zeit einerseits und einer außer-halb ihrer liegenden Körperzeit andererseits. Auch dies ist lesbar als Metonymie einer Überlagerung zweier Rhythmen, eines Anzeige- oder Zeigerhythmus und eines Körperrhythmus, die bei der Filmvorfüh-rung in der Synchronisation von Leinwandgeschehen und Zuschauer stattfi ndet und hier wiederum als Teil eines Films genau das zeigt, was sie selber leistet, und genau dem Prozess selbst eingeschrieben ist, den sie darstellt. Dies gilt metonymisch in einer vielleicht etwas forcierten Volte auch auf einer weiteren, nämlich technikgeschichtlichen Ebene: Am Beginn zumindest eines wichtigen Strangs der Erfi ndungsge-schichte des Kinematographen steht Etienne Jules Mareys eigenartiger Puls-Schreiber, der Sphygmograph, der zur Messung von Bewegungs-abläufen eingesetzt werden konnte und mit dessen Hilfe die berühmte Hypothese vom Pferdegalopp erstmals formulierbar wurde, die später anhand der ersten Chronophotographien verifi ziert wurde.31

Damit ist längst die Koordinationsleistung angesprochen, die die Uhr im Hinblick nicht nur auf die Ursprungsfragmente und innerhalb der Herkunftsfi lme (bzw., nach THE CLOCK, im Film überhaupt), son-

31 Vgl. Marta Braun, Picturing Time. The Work Of Etienne-Jules Marey, Chicago, 2002.

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dern auf THE CLOCK selbst erbringt. Die Uhren sind es, die die Anord-nung der Fragmente in der Sukzession ihres Erscheinens auf der Lein-wand regeln, Minute nach Minute, innerhalb bestimmter Grenzen, auf die wir später noch zu sprechen kommen werden. Bezeichnenderweise ist diese Koordination jedoch nur eine von zweien, die das Verhältnis der Fragmente zueinander regieren. Die andere ist demgegenüber weit komplexer und vielfältiger in ihren Erscheinungsformen und bezieht sich, wie oben bereits dargelegt, auf alle möglichen fi lmischen An-schlußverfahren zwischen Einstellungen und zwischen Sequenzen. Da-bei spielen, wie bemerkt, semantische Übergänge eine Rolle, themati-sche etwa, die von einem Gesprächsthema oder einer Situation aus einem Fragment zu einem identischen oder ähnlichen Th ema oder Fragment aus dem nachfolgenden übergehen; sogar ganze Th emen-schwerpunkte für einzelne Stunden des Tages sind schon ausgemacht worden. Motivische Übergänge dagegen schneiden in Match Cuts Bahnhofsszene an Bahnhofsszene, Zigarettenrauch an Zigarettenrauch und Kinderzimmer an Kinderzimmer und dann auch gelegentlich direkt von Uhr zu Uhr. Aber auch qualitativ und formal ästhetische Operationen werden eingesetzt, um Übergänge zwischen den völlig heterogenen Fragmenten und Sequenzen zu etablieren, Farb- und Hellig keitswerte, die auf beiden Seiten des Schnitts übereinstimmen, oder identische Einstellungsgrößen, oder Bewegungsverläufe und -in-tensitäten, die in einer Sequenz beginnen und in der anschließenden, ihr völlig fremden Sequenz fortgeführt werden. Besonders letztere ha-ben gemeinsam, daß es sich hier um dynamische Qualitäten der ange-ordneten Fragmente handelt, wogegen die sichtbaren Uhren in ihrer Koordination in den meisten Fällen als statische Ziff ernangaben oder Zeigerstellungen auftreten. Die zahlreichen und hoch komplizierten Tonübergänge, die oft mehrere Fragmente durchziehen und den Über-gang zwischen ihnen als fl ießende, gleitende Bewegung erscheinen las-sen, tun ein Übriges, um THE CLOCK den Charakter eines durch die meist statischen Uhreinstellungen wie durch Interpunktion in Inter-valle gegliederten, ansonsten jedoch kontinuierlich abfl ießenden Bil-derstroms zu verleihen.

Die Uhrblicke fungieren so, eingelassen in ihre jeweiligen Sequen-zen und in einen künstlich herbeigeführten Fließkontext zwischen den Sequenzen integriert, als Feststellungen des jeweiligen Jetztzeitpunkts, oder, um eine aristotelische Formulierung aufzunehmen, als das Ge-zählte an der Bewegung.32 Genau darin verdoppelt sich also ihre zeitstif-

32 Vgl. Aristoteles, Physik, IV, 10–14, 219 b, 220 b.

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tende Funktion, sie markieren die Zeit gleich zweimal. Einmal zeigen sie sie an, als diegetische Zeit wie auch, durch die Kopplung mit der Zeit im Vorführraum, als Realzeit. Zum anderen aber erzeugen sie sie durch ihre Rekurrenz im fl ießend gemachten Kontinuum der Frag-mente. Die angesprochene Koordinationsleistung erbringt die Uhr also auch auf der Ebene der Kompilation nicht allein (eine Serie ausschließ-lich aus Uhrenbildern würde nicht funktionieren, würde jedenfalls die Uhr nicht als Agent einsetzen können), sondern wiederum in Koordi-nation mit einem bzw. mehreren anderen Koordinationsmodi, die für-einander überhaupt erst den dynamischen Raum öff nen, in dem dann die Koordinationsleistung des jeweils anderen Typs vonstatten gehen kann. Und schließlich triff t derselbe Befund auch auf die Koordination der Filmagentur mit derjenigen des Vorführraums zu. Auch hier be-zieht natürlich die Uhr eine zentrale Funktion; sie ist diejenige Instanz, die das fl ießende Filmerleben an eine realzeitliche und damit realwelt-lich rhythmisierte Zeit bindet, die die Filmbetrachtung in ihrem fl ie-ßenden Verlauf mit dem betrachteten Film über die angezeigten Zeit-punkte synchronisiert, und die in dieser Synchronisierung überhaupt erst eine Sukzession im Sinne des gegliederten Abfolgens defi nierbarer Momente oder Zeitstellen produziert.

8.

Ein weiteres Potenzial des Agenten besteht in seiner Geschicklichkeit, die oben auch in ihrem Charakter als gestisches Potenzial entfaltet wur-de. Das Anzeigen der Zeit, das die Uhr, insbesondere die traditionelle Zeiger- und Ziff erblattuhr, ausführt, ist schnell als eine gestische Hand-lung, als Zeigehandlung nämlich, erkennbar. Ziff erblatt- und Zeiger-uhren sind deiktische Automaten, sie deuten mit ihren Zeigern auf Ziff ern. Die Deixis als Zeigehandlung aber ist so etwas wie die Urform der Geste überhaupt, das Modell aller Gesten, eine Geste, die alle an-deren Gesten mitenthält.33 Insofern ist besonders die Uhr ein Spezial-agent, der gestisches Potenzial nicht nur besitzt, sondern in einer selbst-

33 Wir folgen hier im Prinzip dem Verständnis der Geste bei Vilém Flusser: „Eine Weise der Definition von ‚Geste‘ besteht darin, die als eine Bewegung des Körpers oder eines mit ihm verbundenen Werkzeugs aufzufassen, für die es keine befriedi-gende Kausalerlärung gibt“, Vilém Flusser, Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Frankfurt am Main, 1994, S. 10. Anders als Flusser sehen wir die Lücke in der Kausalität der Geste jedoch als Ansatzpunkt für die Zuschreibung von Intentiona-lität.

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bezüglichen Wendung auf das gestische Potenzial selbst deiktisch hin-weist und es zugleich verkörpert. Darauf, auf die Geste des Anzeigens selbst, wird unsere Aufmerksamkeit in besonderer Weise in der Groß-aufnahme einer seltsamen Uhr gelenkt, die mehrere Kreisskalen und Zeiger aufweist, von denen eine nicht im Uhrzeigersinn, sondern ihm entgegen verläuft: Allein der Umlauf dieses Zeigers in verkehrter Rich-tung ist eine ‚falsche‘ Geste, deren Zeitangabe für uns völlig undurch-schaubar bleibt und die deshalb nicht den Zeitpunkt, sondern eben die reine Geste seiner Aufzeigung anspricht.

In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die Ziff er-blatt- und Zeigeruhr noch in einer weiteren Hinsicht einen Modell-charakter besitzt, in der ihr gestisches Potential von grundlegender Bedeutung ist. Die Großaufnahme der Uhr ist nämlich für Gilles De-leuze der Idealfall dessen, was mit Béla Balázs das „Gesicht der Dinge“ genannt werden kann.34 Wie das menschliche Gesicht, diene, so De-leuze, das Uhrenfeld einmal als eine Einschreibfl äche, auf der etwas jenseits der Fläche selbst sich eintragen kann – das wäre das reine Zif-ferblatt ohne die Zeiger – einmal als Ausdruckspotenzial, in dem etwas diesseits der Fläche oder hinter ihr Liegendes zur Anzeige gebracht werden kann, eben durch die Stellung der Zeiger. Ebenso sei das Ge-sicht zum einen der Ort, an dem Außenereignisse einen Refl ex erfahren können (das Erstaunen oder Erschrecken angesichts eines unerwarte-ten Vorkommnisses z.B. refl ektiert dieses Vorkommnis), zum anderen derjenige, an dem innere, etwa emotionale Zustände sich ablesbar ma-chen.35

Dies ist hier nicht nur wegen der Äquifunktionalität von Person und Ding im Film, wegen eben der Gesichtlichkeit des Dings im Film wichtig, die etwa Béla Balázs erlaubte, von der spezifi schen Beiordnung menschlicher und nicht-menschlicher Agenten zu sprechen. Insbeson-dere macht Deleuze an dieser Charakteristik den Grundzug des von ihm so genannten „Aff ektbildes“ fest, eines Bildes, das noch vor aller konkreten Einlassung in Ursache- und Wirkungszusammenhänge die bloße Möglichkeit, die „Potenzialqualität“ der doppelten Anzeige durch Einschreibung und Ausdruck anzeigt. In diesem Sinne fungieren auch die Uhrenbilder bei Marclay als „Aff ektbilder“, die uns entweder

34 Vgl. Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt am Main, 1989, S. 123–128; Béla Balázs, Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films (1924), Frankfurt am Main, 2001, S. 49–65.

35 Vgl. Deleuze, Das Bewegungs-Bild, a.a.O., S. 123 ff.; vgl. dazu auch Flusser, Gesten, a.a.O., S. 1 ff.

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gar keine konkrete oder ablesbare Zeit anzeigen oder ersichtlich nicht daraufhin angeordnet sind. Sie verweisen auf ihre Fähigkeit doppelter Anzeige, ohne irgend etwas anderes anzuzeigen als eben dies: ihr deik-tisches und mithin gestisches Potential als solches, noch vor jeder kon-kreten Indienstnahme im Handlungszusammenhang.

Im Aff ektbild Deleuzes zeigt das Bild an, dass es in eine Beziehung zu anderen Bildern einrückbar, von ihnen affi zierbar ist. Dies ist, auch bei Deleuze, eine Voraussetzung dafür, dass ein Bild der Handlung als Handlungsbild entstehen kann. Und eben diese Affi zierbarkeit des Bil-des durch andere Bilder öff net das Uhrenbild als Einschreib- und Aus-drucksfl äche anderer Bilder auf diese anderen Bilder hin  – vor und außerhalb der Handlung, als selbst nicht handlungsförmige, nicht schon intentionale notwendige Bedingung für Handlungszusammen-hänge.36 In einer noch off enen, ungerichteten Potentialität, in einer Art schwachen und verteilten Intentionalität, die sich noch an kein ausge-machtes Ziel gebunden hat, macht das Uhrenbild audrücklich und thematisch, was allen fester gefügten wechselseitigen Einwirkungen vorausgeht: ein Feld der Beziehungsbereitschaft, die die ‚Agenz‘ der Agentur (im Sinne der ‚agency‘ als Handlungsmacht oder Handlungs-möglichkeit) ausmacht und das Feld der Agentur als Institution und Träger abgrenzbarer, zuschreibungsfähiger Herrschaft im Sinne der Ur-heberschaft über aktuelle Handlungen bestimmt. Diese Potenzialqua-lität des Uhrenbildes in Marclays Kompilation ist es, die die grundsätz-liche Anschließbarkeit der verschiedensten Bilder aneinander, eben ihre Affi zierbarkeit durcheinander, sichert. Sie macht so das Kontinu-um der angeordneten Zeit möglich als auch eine Einheit aller dieser fragmentierten und angeordneten Bilder über sämtliche Heterogenitä-ten und Diff erenzen hinweg. Insofern unterbricht die Uhr als Agent den Handlungs- und Intentionszusammenhang, dem sie dennoch zu-gleich dient, und legt den Blick auf das reine Potential frei, auf dem Handlung aufruht, das aber selbst keine Handlungsform besitzt. Die Uhr ist also als Agent funktional im Veranlassungszusammenhang (so-wohl in den Ursprungsfi lmen wie in der Kompilation, da sie in beiden Fällen der jeweiligen Koordination dient) und dennoch gerade darin zugleich eigensinnig als Unterbrechung eben dieses Zusammenhangs, da sie den Blick auf die vor aller durchgestellten Intentionalität liegen-de Off enheit des Bezugsfeldes freigibt. Weder Subjekt noch Objekt,

36 Vgl. dazu Christiane Voss, „Affekt“ (in diesem Band). Interessanterweise grundiert auch Flusser die Geste in einer ihr vorausgehenden affektiven und ungerichteten Lage, die er „Stimmung“ nennt: Flusser, Gesten, a.a.O., S. 11 ff.

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weder Gell’scher Agent noch Patient, läßt ihre Agenz als Potential im-mer auch ihre Patienz durchscheinen und umgekehrt. Anders gesagt, die Uhr im Film trägt den ihr übertragenen Auftrag nicht zuverlässig aus, sondern unterbricht die Zweck-Mittel-Relation und die glatte Übertragung der Intentionalität, um sich in diese Unterbrechung selbst mit dem Hinweis auf die Voraussetzungen solcher Übertragbar-keit einzutragen. Sie bezieht damit im Intentionsfl uss, dem sie selbst angehört, eine eigene Stellung und gehört ihm darin in gewisser Weise auch nicht an. Und genau darin ist sie eigensinnig und veranlasst die Zuerkennung wie immer bedingter, begrenzter und umgebrochener, wie immer schwacher Form eigener Intention.

Damit aber haben wir eine wichtige Qualität freigelegt, die die Uhr bzw. das Uhrenbild in seiner Funktion als Agent einnehmen muß. Die Agenten der Agentenserie gehen, trotz ihrer unaufl öslichen Veranke-rung im Kraftfeld der Agentur und ihrer Ansprechbarkeit durch Ande-res, möglichst ungerührt und unberührt durch die wechselnden Fälle, Situationen und Anordnungen, in die ihre Aufträge sie hineinschicken. Sie bleiben charakteristischerweise cool und damit auch unveränder-lich. Diese Ausblendung der schwachen Relationiertheit, der Vorzone ihrer Intentionalität, bleibt für das Narrativ des Agentengenres die Norm (wenngleich nicht ohne Ausnahmen wie sie in den jüngeren JAMES-BOND-Filmen etwa auftreten). Hier dagegen, bei Marclay, ist für die Funktionstüchtigkeit der Uhr und des Uhrenbildes als Agent das Komplement dazu wichtig: die prinzipielle Berührbarkeit; die Fä-higkeit des Agenten, etwas auf sich wirken und etwas zum Austrag bringen zu können und off en, in gewisser Weise reizbar, irritabel und reaktionsfähig sowie kopplungsbereit und ausdrücklich zu sein, noch vor und außerhalb aller konkreten Intention oder gar Handlung. Da-bei bleibt mehr oder weniger irrelevant, worin die konkrete Reaktion, worin der konkrete Reiz im Einzelfall besteht. Marclays Uhren zeigen diese variable Anschlußfähigkeit als bloßes Potential ja gerade dadurch an, daß sie in wechselnden Kontexten zugleich fungieren und verschie-dene Gesten – der Anzeige, der Kopplung, der Vermittlung – auf ver-schiedenen Ebenen zugleich ausführen, wie wir gleich noch genauer sehen werden.

Was nun die wichtigste Geste der Uhr angeht, diejenige des Zeitan-zeigens, so kann sie mehr oder weniger geschickt ausgeführt werden von den verschiedenen Uhren. Nicht wenige Uhren im Film sind schwer ablesbar, etwa wenn die Zeiger keine zugespitzte Form haben, sondern Rechteckform, oder in Fällen, wo die Gliederung des Ziff erblatts nur ganz grob oder gar nicht vorgenommen wurde. Schlecht beleuchtete

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Uhren sind ein weiteres Problem oder solche, die zu viele Skalen auf-weisen, als daß sie schnell und genau ablesbar wären. Die oben schon beschriebene Pulsuhr bleibt beim ersten Sehen völlig unlesbar, weil man in der Kürze des Fragments nicht verstehen kann, was sie eigentlich anzeigt und daher den dreistelligen Zahlenwert nicht auf die Pulsfre-quenz bezieht. Diese eher ungeschickten Uhren lassen das Moment der Geschicklichkeit genau da hervortreten, wo es fehlt oder verweigert wird und eine glatte Einbindung zwischen der Uhr als Agent und dem Agenturnetzwerk, in das sie eingelassen ist, unterbleibt. Dabei ist noch einmal zu beachten, daß in allen betrachteten Fällen die diegetischen Figuren keine Schwierigkeiten mit der Lesbarkeit der Uhr bzw. ihrer Ungeschicklichkeit haben, die Zuschauer hingegen sehr wohl. Von der mehr oder weniger großen Geschicklichkeit des Uhr-Agenten wird also sofort zu derjenigen der Zuschauer hinübergelenkt und deren Unge-schicklichkeit als dessen Unvermögen ausgegeben. In zahlreichen Ein-stellungen zeigen die Fragmente aus THE CLOCK dann auch Gesten des Uhrablesens, das typische Vorstrecken und Drehen des Handgelenks etwa oder die ebenfalls standardisierte Drehung der Figur über die Schulter zur hinten an der Wand stehenden Pendeluhr oder den Blick hinauf zur Turmuhr. Nicht in allen Fällen jedoch zeigt uns dann ein Gegenschnitt auch die angezeigte wahrgenommene Uhrzeit. Das, was eigentlich im Zentrum der Anordnung steht, die Uhr als Zeitanzeiger, wird hier gerade ausgespart und läßt deshalb das gestische Moment der Geschicklichkeit besonders hervortreten.

Natürlich erhöhen derlei Einstellungen, in denen das Uhrhandeln zwar thematisch wird, eine genaue Zeitangabe jedoch ausgespart bleibt, die Flexibilität der Konstruktion Marclays, denn sie lassen sich an jeder Stelle des Films einfügen und können dadurch ebenfalls die kontinui-sierenden Übergänge zwischen heterogenen Elementen herstellen hel-fen. Im Bezug auf die Uhr zeigt sich dabei jedoch vor allem die grund-legende Doppelcharakteristik gestischer Geschicklichkeit, die nämlich eine prinzipiell zweiseitige ist, eine der wechselseitigen Einpassung und Anschmiegsamkeit des Gestischen zwischen den beiden miteinander in der Geste verbundenen Agenten. Denn geschickt ist nicht nur derjeni-ge meist menschliche Agent, der eine Uhr einsetzt und handhabt, son-dern mehr oder weniger geschickt ist auch die Uhr selbst in ihrer zu-nächst vorgreifenden oder vorweggenommenen Anpassung an derlei Gesten; sie ist z.B. geschickt gemacht. Die An- und Einpassung perso-naler und materialer Agenten in der Geste ist eine wechelseitige. Dar-über hinaus zeigen Marclays Uhren aber noch mehr an als die Zeit und sie sind auch darin mehr oder weniger geschickt. Sie verweisen auf

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historische oder modische Zeitstellen, etwa in ihrem Design. Wir kön-nen den fi lmhistorischen Ort der jeweiligen Fragmente auch anhand der Uhren einigermaßen eingrenzen. Die Uhren sind aber auch Teil einer Milieuschilderung oder einer verdinglichten Personencharakte-ristik. Darin fügen sie sich einem weiteren Kontext einer Dingwelt von Ausstattungszusammenhängen und Requisiten mehr oder weniger funktional oder dysfunktional ein. Schließlich ist die geschickte Nen-nung nicht nur des Zeitpunkts, sondern auch des Handlungsortes durch die Uhr möglich, wofür vermutlich die Uhr von Big Ben das Paradebeispiel ist, die Dutzende von Malen in Marclays Film auftritt. Geschicklichkeit bestimmt demnach nicht nur das Verhältnis der Uh-ren zu den personalen Agenten, mit denen sie verbunden sind, sondern auch zu einer Vielzahl anderer materialer Agenten. Dieses Moment wird endlich thematisch ins Bild geholt in den Fällen, in denen z.B. eine ordinäre Weckeruhr, zweckentfremdet und neu eingepasst und sich einpassend, zum Zeitauslöser einer Bombe wird.

Von entscheidender Bedeutung für die Geschicklichkeit der Uhren in THE CLOCK ist aber schließlich, von der Ebene der Fragmente zu derjenigen ihrer Anordnung hinüberwechselnd, ihre Fähigkeit, zur Etablierung des neuen Kontexts beizutragen. So fungieren gerade die erwähnten anzeigefreien Einstellungen, in denen die Geste nur bei den Figuren liegt, die zeitanzeigende Geste der Uhr jedoch ausgesetzt wird, in äußerst geschickter Weise auf zwei Ebenen zugleich: Th ematisch sind sie Teil des Uhren- und Uhrzeitzusammenhangs und haben inso-fern an der Zeitpunktbestimmung, an der Zählung im Kontinuum, Anteil. Indem sie jedoch zugleich als Aff ektbilder im oben entfalteten Sinne kontextoff en sind, an jeder Stelle des Films einsetzbar, operieren sie zugleich auf der Ebene, auf der das fl ießende Kontinuum erst her-beigeführt wird, das die Uhrzeitangaben dann interpunktieren und in diskrete Einheiten umformen. Durch Wiederholung bzw. Wiederauf-tauchen bestimmter eben dazu geeigneter oder geschickter Uhren quer zu allen Fragmenten (also nicht einfach als wieder aufgenommene Be-rücksichtigung desselben Films oder gar derselben Sequenz an einer anderen Zeitstelle in Marclays Kompilation) – erneut sei dafür Big Ben als Beispiel aufgeführt – tragen manche der Uhren drittens auch zur Verdichtung und Verklammerung des artifi ziellen Kontinuums bei und spannen so eine zusätzliche Linie noch einmal jenseits des bloßen kontinuierlichen Abfl usses der Zeit und seiner Gliederung durch Mess-punkte auf. Dies ist eine überaus wichtige Funktion, denn sie markiert zusätzlich zum Zeitfl uß und zum Zeitpunkt die über alle Gliederung und alles Verfl ießen hinweg geltende Einheit der Zeit.

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IV

9.

Die für die Uhrenbilder Marclays vielleicht abwegigste, zugleich aber völlig unentbehrliche Agentenqualität schließlich ist das Improvisati-onstalent, das den Agenten auszeichnet. Wir hatten es oben entfaltet als Fähigkeit, von einem Skript oder einem Programm abzuweichen, dabei möglicherweise das ursprüngliche Operationsziel in mehr oder weniger strikter Weise beizubehalten, es aber möglicherweise auch an die Handlungsmöglichkeiten neu anzupassen. Es ist in klarer Weise mit der Unterscheidung von Gegenwart und Zukunft verbunden und erfordert daher eine Bestimmung der Diff erenz beider. Uhren ermögli-chen dies und Uhrenbilder leisten, besonders in Agentenfi lmen, genau diese Unterscheidung, etwa in den notorisch rückwärtslaufenden Zeit-bombenuhren. Natürlich läßt sich in einem ersten Zugriff sagen, daß das Einsatzziel der Uhren in den Herkunftsfragmenten in THE CLOCK eben genau nicht beibehalten wird: die zeitliche Koordination zwischen keineswegs beliebigen, sondern defi nierten und bestimmten verschie-denen Orten, zwischen verschiedenen, aber unterscheidbaren Hand-lungen oder als diese und jene adressierbaren Personen, zwischen ver-schiedenen, aber bezeichneten Situationen und Szenen in einem fi lmischen Zusammenhang herzustellen. Die Fragmentierung des Ur-sprungskontextes durch Marclay führt nämlich in den meisten Fällen dazu, dass die jeweils in Relation genommene andere Situation, Person oder Handlung nicht mehr sichtbar ist und durch eine andere aus ei-nem ganz anderen Film ersetzt wird. Die Illusions- und Koordinations-leistung, die geschickt zu erbringen ist, wird damit unspezifi sch. Es fi ndet keine Abweichung vom Skript statt, sondern eine komplette Aufgabe des ursprünglichen Skripts, das ja dem Herkunftsfi lm ent-stammt. Der Agent, die Uhr, fi ndet sich eingestellt in ein neues Skript, aber dieses neue Skript ist keine Variation des alten und hat ein völlig verschiedenes Operationsziel. Von Improvisation zu sprechen scheint ohnehin nur Sinn zu machen, wenn das abweichende Skript erstens als eine Hervorbringung des Agenten angesehen werden kann und zwei-tens und bezeichnenderweise in dem Moment erst geschrieben wird, in dem es auch befolgt wird. Die Handlungsanweisung erfolgt in der Im-provisation in einem Zug mit ihrer Befolgung und instantan durch sie.

Eine Seitenbetrachtung kann aber ein möglicherweise interessantes Licht auf den Zusammenhang zwischen der Improvisation und der Uhr als Agent scheinen lassen. Sie bezieht sich auf einen spezifi schen

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Handlungstypus, der als experimentelles Handeln gekennzeichnet werden kann. Jean Francois Lyotard hat diesem Typus einen promi-nenten Essay gewidmet und ihn als Kern speziell künstlerischer und philosophischer Verfahren ausgemacht.37 Experimentelles Handeln, wie es in Kunst und Philosophie praktiziert wird, ist demnach ein ästheti-sches oder diskursives Handeln, das keiner feststehenden Regel folgt, sondern das auf der Suche nach den Regeln ist, nach denen es auf eben dieser Suche verfährt. Inwiefern diese Charakteristik auf das Arbeiten und die Arbeitsweise des Künstlers Christian Marclay zutriff t, kann hier, da es um die Uhr und die Uhrenbilder geht, off en bleiben. Ande-res jedoch gilt für das Zuschauerhandeln. Die Betrachter von THE CLOCK werden von der Installation sehr wohl motiviert, nach den Re-geln des Prozesses zu suchen, an dem sie selbst Anteil haben. Zunächst geschieht dies fremdreferentiell; es geht um die Erkundung eines ver-muteten festen Skripts, nach dem die Kompilation funktioniert und zu lesen sei. So dürften viele Betrachter zunächst einen narrativen oder semantischen Zusammenhang zwischen den Fragmenten vermuten.

In einem weiteren Suchschritt werden dann die Uhren bemerkt. Zugleich lassen sich die Betrachter auf die Suche nach Wiedererken-nungsmerkmalen schicken. Dies geschieht vertikal bei der Orientie-rung etwa nach dem Auftritt bekannter Schauspieler, und nach der Herkunft der Fragmente aus einzelnen Filmen der Filmgeschichte und der je persönlichen Enzyklopädie, als wäre die Installation eine Quiz Show und die Regel der Kompilation möglicherweise in einer be-stimmten kanonischen Filmauswahl begründet. Es geschieht nach ei-niger Zeit des Betrachtens jedoch auch horizontal nach dem wieder-holten Auftreten verschiedener Fragmente desselben Films an anderen Stellen der Kompilation. Schließlich wird die minutengenaue An-schließbarkeit der Fragmente untereinander bemerkt, fällt die Echt-zeitdauer des Filmminutentakts ins Auge und wird endlich in einer Überraschungseinsicht die Synchronisiertheit der Projektion mit der eigenen Realzeit der Zuschauer bemerkt. Als ein spezieller Fall von Im-provisation und von agentischem Handeln kann das experimentelle Handeln jedoch durchaus begriff en werden. Denn das experimentelle Handeln zeitigt Folgen und Ergebnisse, die erstens wiederum als Be-dingungen und Ausgangssituationen für weiteres Anschlusshandeln dienen – insofern ist es rekursiv –, und die zweitens unvorhersehbar

37 Vgl. Jean Francois Lyotard, „Regeln und Paradoxa“, in: ders., Philosophie und Ma-lerei im Zeitalter ihres Experimentierens, Berlin, 1978, S. 97–109, sowie „Philoso-phie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens“ im selben Werk, S. 51–78.

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und überraschend sind. Umgekehrt formuliert erzeugt das experimen-telle Handeln die Abweichungen vom Skript, auf die es dann mit Im-provisation reagieren muß, eigens selbst. Auf einer zusätzlichen Ebene dann, die wir beim Agentenhandeln bisher nicht bemerkt haben, zeichnet sich das experimentelle Handeln durch ein selbstbezügliches Operationsziel aus, nämlich die Anweisung, im Zuge des Verfahrens und durch das Verfahren herauszufi nden, was die Regeln des Verfah-rens sind; es ist also refl exiv, mindestens jedoch selbstbeobachtend.

10.

Auf mindestens zwei verschiedenen Ebenen sind wir nun der zentralen Uneindeutigkeit der Uhr als Agentenbild begegnet: Sie wird zum einen von mindestens zwei verschiedenen Agenturen, derjenigen der Aus-gangsfi lme wie von der Agentur der Kompilation, in Anspruch genom-men. Dabei kann sich eine doppelte Inanspruchnahme auch innerhalb der Ausgangsfi lme bereits eingestellt haben. Zum anderen jedoch ver-körpert sie immer wieder, statt als Instrument einer vollzogenen, inten-tionshaften Relationierung zu fungieren, eine Unterbrechung eben der Kette ablaufender zeitlicher Koordination, wie wir oben gesehen ha-ben, und verweist damit auf ein außerintentionales Feld vage verteilter Relationierbarkeit. Diesen beiden Ungenauigkeiten ist nun abschlie-ßend eine sehr wichtige dritte hinzuzufügen. Denn bei Licht besehen ist die Taktung, die Marclay augenscheinlich vornimmt, keineswegs wirklich genau oder unerbittlich.38 Die Ungenauigkeiten der Zeitsuk-zession mögen minimal, nämlich unterhalb der Minutenschwelle ver-harren, aber sie sind dennoch markant und bemerkbar. Nicht jeder Umschnitt, um damit zu beginnen, schaff t tatsächlich voranschreiten-de Taktzeit. So wird ganz markant die exakte Mittagszeit, 12:00 Uhr, auf zahlreiche, wenngleich kurze, Uhreneinstellungen verteilt und dau-ert dabei länger als die Sekunde, die angezeigt wird: Das Vorrücken des Zeigers auf 12 wird exakt 12 mal gezeigt; diese 12 Anzeigen aber durchbrechen damit das Prinzip der unbedingten Sukzession, sie sind simultan. Der Glockenschlag ‚Punkt‘ 12 wird ebenfalls 12 mal wieder-gegeben.

Ein anderes Beispiel für derlei Ungenauigkeiten fi ndet sich in der Minute 15:29: Die Zeitangabe „15:29:35“ liegt genau fünfzig Realzeit-

38 Anders als Böhme, Wollen wir in einem posthumanen Zeitalter leben?, a.a.O., an-nimmt, der von einer mechanisch präzisen Zeittaktung bei Marclay ausgeht.

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sekunden vor dem Umspringen des Zeigers auf „15:30“, und genau acht Realzeitsekunden später springt erneut eine Uhr auf „15:30“ um. Von der ersten bis zur letzten Angabe dauert die Filmzeit „15:30“ real-zeitlich 70 Sekunden, die nachfolgende Minute entsprechend deutlich kürzer. Eine Stunde später, „16:30“, wird die Angabe der exakten Uhr-zeit, also das Umspringen auf genau halb fünf, ebenfalls drei Mal im Abstand von 40 Sekunden vorgenommen, und sogar gut zwei Minuten später heißt es erneut: „It‘s four thirty“. Zahlreich sind zudem, darauf sind wir bereits gestoßen, analoge Uhren, die sich nicht einmal minu-tengenau diskret ablesen lassen und deshalb als Filmeinstellungen nicht nur an einer ganz bestimmten Stelle, sondern verteilt über eine gewisse Strecke des Films einschneiden lassen, um die gewünschte Laufzeitgleichheit zwischen fi lmisch indizierter Zeit und Realzeit zu erzielen. Es kommen, wie gesehen, überraschend viele Bilder vor, die zwar Uhren zeigen, auch Uhrenblicke der Filmfi guren, aber den Zu-schauern die Uhrzeit keineswegs eröff nen. Auch sie sind also zeitneu-tral überall einsetzbar. Ein herausragendes Beispiel dafür ist auch die Filmstelle aus M, die den Kinderabzählvers zeigt: Der Arm des ab-zählenden Mädchens rotiert in Schritten über die im Kreis stehenden Kinder wie ein Uhrzeiger über die Ziff ern – aber es gibt weder eine Uhrzeitangabe, noch ist die visuelle Metonymie wirklich genau durch-geführt, denn es stehen keineswegs zwölf Kinder im Kreis.

Natürlich kann es hier nicht darum gehen, Marclays Installation Unsauberkeit vorzuhalten. Ganz im Gegenteil: Diese makroskopisch gut bemerkbaren Überlappungen, Verzögerungen und Beschleunigun-gen, Verdichtungen und Dilatierungen und sogar kurzzeitige Umkeh-rungen der mechanischen Taktzeit haben eine eigene Methode, und zwar ganz unabhängig davon, ob dies Marclay als Urheber unterlaufen ist oder von ihm beabsichtigt war. In all dem können wir zunächst einmal leicht die vier Grundpotentiale der Agentur und damit der Handlungsfähigkeit von Agenten ein letztes Mal auffi nden und aufei-nander beziehen. Das Gestische der Zeitpunktsetzung, ohne das sie nicht möglich wäre, wurde gerade bereits genannt. Insofern jeder Ges-te ein indexikalisches Moment innewohnt, ist sie immer schon in inten-tionale Zusammenhänge eingebunden, wie oben anhand des Peirce-schen Indexbegriff s bereits bemerkt.39 Entscheidendes Moment min-destens fi lmischer Handlungsmacht wäre zudem einmal mehr die Illu-sionsfähigkeit, die Funktionstüchtigkeit der Uhr als (Mit-)Träger re-präsentativer oder performativer Akte. Sie betriff t THE CLOCK im Kern

39 S. Anm. 17, 18, 30.

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und in Sonderheit in zeitlicher Hinsicht. Sie geht nämlich immer mit der Fähigkeit des Films (und seiner Agenten) einher, verschiedene Zei-ten auseinandertreten zu lassen, etwa die erzählte Zeit und die Er-zählzeit, oder hier eine realzeitliche und eine innerfi lmische Ebene aufzuspannen (wobei die innerfi lmische wiederum aus zahlreichen ver-schiedenen Binnenspannungen zwischen verschiedenen Zeiten resul-tiert) und dann zu koordinieren. Ihr Auseinandertreten und ihre Koor-dination sind dabei nicht aufeinanderfolgende Phasen eines zweiteiligen Prozesses, sondern erneut ein- und dieselbe Operation, lediglich in zwei verschiedenen Kopplungszuständen.40 Die Koordinationsfähig-keit haben wir bereits früh als ein hauptsächlich temporal strukturier-tes Vermögen erkannt. Die Improvisationsfähigkeit schließlich, die wir als Begabung zur Abweichung vom Skript und als wichtigen Anlaß zur zuschreibenden Übertragung von Intention aufgefasst haben, ist eine Form der Unterscheidung von Gegenwart und Zukunft, von Ist- und Soll-Zustand (oder zu vermeidendem Zustand in der Zukunft). Sie setzt aber zudem in klarer Weise genau die Zeit voraus, die als Gegen-wart andauert und als diejenige Zeit zu bezeichnen ist, die eine Opera-tion (etwa die Durchführung einer Geste) in Anspruch nimmt oder als diejenige, in der ein Zustand sich ändern oder eine Handlung – und nur dann ist von ‚Handlung‘ zu sprechen – einen anderen als den er-warteten oder vorhergesehenen Verlauf nehmen kann.

Selbst wenn die Installation in allen Übergängen in sich minutenge-nau und ebenso präzise mit der Realzeit koordiniert wäre, selbst wenn dies sogar im Sekundentakt geschähe, dann bliebe doch, dass es stets einen Zeitverlauf zwischen zwei Meßpunkten gäbe, der nicht inter-punktiert ist und in dem die Zeit, metrisch genommen, unbeobachtet bleibt. Die Gegenwart als punktgenaues Zusammentreff en des Ver-schiedenen und als reine, ausdehnungs- und körperlose Diff erenz zwi-schen Vergangenheit und Zukunft (wie im fi lmischen Umschnitt) wird stets eine zweite Gegenwart erfordern, die je nachdem als Koextension des Verschiedenen, als Andauern eines Prozesses oder einer Operation oder als derjenige Zeitraum begriff en werden kann, in dem ein Zu-stand sich (noch) ändern, ein Verlauf oder eine Handlung ausgeführt und darin noch eine je andere Richtung annehmen kann.41 Im Film

40 Vgl. Fritz Heider, Ding und Medium (1926), Berlin, 2005; Luhmann, Die Gesell-schaft der Gesellschaft, a.a.O., S. 190–202.

41 Vgl. Henri Bergson, Materie und Gedächtnis (1896), Berlin/Wien, 1982, S. 131–135; Henri Bergson, Zeit und Freiheit (1920), Frankfurt am Main, 1989, S. 60–106; dagegen eine rein differenzlogische Auffassung der Gegenwart bei Luhmann, Soziale Systeme, a.a.O., S. 254 et passim.

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wäre dies die je andauernde, fl ießende Einstellung. Das Besondere in Marclays Installation nun ist, daß sich diese Polarität eben nicht in der Spannung zwischen fl ießender Binnenzeit der Einstellung und ausdeh-nungsloser Punktzeit im Sinne der Zeit als Zahl, nämlich als Maß der Bewegung erschöpft. Diese Polarisierung würde agenturtheoretisch da-rauf hinauslaufen, die auftragsgemäße Koordinationsfunktion des Uhr-agenten-Bildes im Film mit seiner nicht fremdgesteuerten Eigensinnig-keit ebenfalls zu polarisieren. Hier aber ist das eben nicht so. Denn die Zeitpunktbestimmung bei Marclay ist eben in sich nie genau, sie be-stimmt nie einen formalen Zeitpunkt, sondern immer schon einen ge-wissen leeren oder erfüllten Zeitablauf. Es gibt hier also nicht gleich-sam durch die diversen, kompilierten Abläufe hindurchschießende Exaktzeitpunkte, die dann alles synchronisierten bzw. in anschlussge-naue Sukzession fügten. Vielmehr handelt es sich bei den Zeitangaben grundsätzlich um einander durchkreuzende, durchquerende Zeitdau-ern, um Überlagerungen und Überlappungen. Eine Minute bei Mar-clay ist demnach kein Zahlenwert und kein Zeitpunkt, sondern allen-falls  – und noch nicht einmal zwingend  – mit einem Zahlenwert versehene oder abgegrenzte Dauer, in der etwas veränderbar ist.

Die Ungenauigkeiten zeigen sogar, dass selbst die Umschnitte zwi-schen den Uhrenbildern ihrerseits Zeitdauern aufmachen, also einen Verlauf und Veränderung generierenden, gestisch-handlungsartigen, Handlung mindestens ermöglichenden Charakter haben. Sie zeigen nämlich, dass bei Marclay selbst das Anzeigen der Zeit eine apparativ-mechanische oder menschliche Geste ist, die ihrerseits Zeit in An-spruch nimmt, und keine zeitfreie Operation. Jenseits dieses nun schon mehrfach angetroff enen Zusammenhangs von Intention, Indexikalität, Deixis und Zeit gilt aber auch, dass ohne die Zeitpunktbestimmung, also ohne temporale Interpunktion, sich die so verstandene Gegenwart als Geste wie auch als Übertragung überhaupt nicht artikulieren kann. Ohne die Zeitmeßpunkte in Marclays Installation wären die Verstöße gegen den strengen Takt unmerklich, ja unmöglich und hätte schließ-lich die Gegenwart keine Anhaltspunkte, zwischen denen sie sich auf-spannen könnte und Veränderungen oder Richtungswechsel im Sinne der Abweichung von Skripten ermöglichen. Die Operation der exak-ten, verdichteten Zeitmessung und Zeitangabe in THE CLOCK erzeugt durch ihren Agenten, die Uhr, genau jene ausgedehnte, als Ungenauig-keit bemerkbare Off enheit, derer es bedarf, um eben dieselbe Operati-on der Zeitgebung, sei es als Operation im Film oder als Operation des Films, in der Zuschreibung mit Unvorhersehbarkeit und der komple-xen, gebrochenen Form agentischer Intentionalität auszustatten und

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mithin als fi lmische Handlung zu qualifi zieren und zu adressieren. Über den Agenten der Uhrenbilder aus den Ursprungsfi lmen immer schon gesetzte und durch die Kompilation immer neu gesetzte Zeit-punkte und Zeitindices einerseits und qualitatives Andauern der Ge-genwart als Voraussetzung für eben dieses Agentenhandeln des Films und im Film andererseits sind dabei nicht grundverschieden, denn sie lassen sich ineinander kontinuierlich übertragen und übersetzen. Wie in den scheinbaren Fehlern der Marclay‘schen Anordnung ist der Zeit-punkt zugleich immer Verdichtungsform einer ausgedehnten und ver-fl ießenden Gegenwart, diese jedoch Dilatationsform einer mehr oder weniger dichten Kette indexikalischer Synchronisationspunkte. Zeit wird damit in Marclays Arbeit (und durch sie) zu einem wohl unent-behrlichen Medium der Agentur einerseits, zum Produkt eben dersel-ben Agentur andererseits. Der Film als Agentur, so läßt sich die impli-zite Th ese von THE CLOCK beschreiben, schaff t durch sein Zeitregime die Voraussetzungen dafür, dass seine Operationen als Handlungen adressierbar werden, daß seine Figuren und Objekte zu personalen und dinglichen Agenten und damit er selbst zu eben der Agentur werden kann, die er am Ende darstellt. Diese Autopoiesis der Zeit im Film macht THE CLOCK sichtbar, spätestens immer dann, wenn sie sich ih-rerseits verändert, etwa beschleunigt oder verdichtet und wieder verzö-gert oder entspannt. Sie ist es schließlich, die, so jedenfalls will es THE CLOCK, im fi lmischen Handeln thematisch wird, ja fi lmisches Han-deln in seiner spezifi schen Form zusammengesetzter oder verteilter, umgebrochener und gelöschter, delegierter und zugeschriebener Inten-tion überhaupt erst ausmacht.

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CHRISTIANE VOSS

Aff ektAff ektverkehr des Filmischen

aus medienphilosophischer Sicht

Die folgenden Überlegungen stehen im Zeichen einer medienphiloso-phischen Refl exion auf die Modi und Eff ekte aff ektiver Verschränkun-gen von Organischem und Technischem, wie sie in kinematogra-phischen Settings beobachtbar sind. Das Kino ermöglicht Formen ästhetischer Erfahrung und damit einhergehend Subjektfomationen, die in sich hybrid ausfallen. Für die theoretische Beschreibung dieser hybriden Phänomene gilt, dass die biologisch-organischen und fl im-technischen Anteile aus denen sie zusammengesetzt sind, nicht vonei-nander abtrennbar sind. Dass eine klare Abgrenzung von biologischen und technischen, vermeintlich natürlichen versus artifi ziellen, Konsti-tuenten für die theoretische Beschreibung menschlicher Seinsweisen generell problematisch ist, ist eine der Grundintuitionen technik- und medienphilosophischer Überlegungen, die hier implizit mitgeführt wird.1 Hybride Entitäten, wie sie u.a. im ästhetischen Erfahrungsraum des Kinos konfi guriert werden, lassen sich auch mit einem Neologis-mus als ‚Anthropomedialitäten‘ oder ‚anthropotechnische Relationen‘ bezeichnen und damit von allzu technik- und medienvergessenen Vo-kabularien der (Film-)Ästhetiken und (implizit) anthropozentrischen Anthropologien abheben.2 Die Terme ‚Medialität‘ und ‚Relation‘ ver-

1 Als Gründungstext der Technikphilosophie im deutschsprachigen Raum gilt Ernst Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik: Zur Entstehungsgeschichte der Kul-tur aus neuen Gesichtspunkten, Braunschweig, 1877. Vgl. hierzu auch Hans Poser, „Perspektiven einer Philosophie der Technik“, in: Allgemeine Zeitschrift für Philoso-phie, 25, Berlin, 2000, S. 99–118, sowie den Überblicksband über zeitgenössische kulturwissenschaftliche Anthropologien von Henrietta Moore, Tod Sanders (Hg.), Anthropolgy in Theory. Issues in Epistemology, West-Sussex, 2014.

2 Zur Einführung dieser Begrifflichkeit vgl. Christiane Voss, „Auf dem Weg zu einer Medienphilosophie anthropomedialer Relationen“, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, 2, 2010, S. 169–185.

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weisen dabei bereits auf einen grundlegend prozessontologisch gefass-ten Seinsmodus, der einem unbewegt substanzialistisch gedachten Seinsmodus entgegengestellt ist. Was immer wir im Kino erleben und werden und andererseits dort auch an bestimmten Seinsmodalitäten vorübergehend einbüßen, bildet durchaus eine eigene Wirklichkeit und ist Resultat der wechselseitigen Anpassung und Einformung von technischem Projektionsgeschehen, Diskurs- und Raumanordnung und leiblichen Verhaltensweisen der Rezipienten. Je nachdem unter welche regionale Milieu-Bedingungen etwas Bewegungs- und Ent-wicklungsfähiges versetzt wird, so lässt sich allgemein sagen, gelangen verschiedene Formen von gleichermaßen regional gebundenen wie zeitlich ephemeren Entitäten zur Existenz.3 Das sind nicht immer an-thropomediale Entitäten. Technik-Technik-Verschaltungen oder rein biologische Verkoppelungen bevölkern ebenfalls variantenreich das Universum mit Entitäten, ohne dass immer organische oder humane Wesen darin eingreifen oder darin eine relevante Rolle spielten. Das Kino jedoch ist ein Umfeld, das als ein besonderes Milieu auch davon lebt, kinematographische Anthropomedialitäten hervorzubringen.4 Die kinematographischen Relationierungen umfassen, wie gesagt, die wechselseitigen Einfl üsse und Transformationen von Kinodiskurs, raum-technischen Anordnungen, Leinwandgeschehen und Rezipien-tenkörper.5

An spezifi sch aff ektiven Operationen hängen, so lautet die hier zu vertretende Th ese, die zentralen Verschränkungspotenziale, die im und durch das Kino möglich sind.6 Um diese Th ese zu plausibilisieren, wird in einem ersten Teil des Aufsatzes (Kap. 1 – 1f ) ein Umweg über die aff ekttheoretischen Ansätze aus den Feldern der Psychologie, Lebens-wissenschaften und Philosophie genommen. Diese Aff ekttheorien wer-

3 Vgl. dazu aus mediensoziologischer Sicht Andreas Ziemann, Medienkultur und Gesellschaftsstruktur. Soziologische Analysen, Wiesbaden, 2011.

4 Jean Louis Schefer beschreibt in seinem Buch Der gewöhnliche Mensch des Kinos, München, 2013, S. 130 u.a. eine Erfahrung von Hybridwerdung im Kino folgen-dermaßen: „[…] ich bin nie kraft meines Atems über den Amazonasurwald geflo-gen, nie als glühender Komet über den Himmel gezogen – und doch erzeugt der Beginn dieser Bewegungen plötzlich das Gemisch aus Körper und Bildbewusst-sein, dank dessen ich die ganze Neuheit dieser Empfindung werde.“

5 Zu Emergenzphänomenen und ihrem Status in der Ästhetik und der Geschich-te der Ästhetik vgl. die postum von Alexander Schmitz herausgegebene Aufsatz-sammlung von Wolfgang Iser, Emergenz, Konstanz, 2013.

6 Damit schließe ich u.a. an Überlegungen zur Kinophilosophie des ‚Leihkörpers‘ an, die detaillierter in meiner Monographie entfaltet sind: Der Leihkörper. Er-kenntnis und Ästhetik der Illusion, München: Fink, 2013.

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den kursorisch hier aufgerufen, weil ihre begriffl ichen Bestimmungen versprechen, ein strapazierbares Grundverständnis des Aff ektiven zu konturieren. Für diese Th eorien gilt allerdings die Einschränkung, dass sie nicht von sich aus auf die Modulierung und Konstruktion von Af-fekten durch (ästhetische) Medien bezogen sind. Sie behandeln die Frage nach der Bestimmung der ‚Natur‘ von Gefühlen bzw. Aff ekten vielmehr ausschließlich unter dem Gesichtspunkt ihrer evolutionär und kulturell orientierungsleitenden Funktionalität für menschliche Organismen, Verbünde und Interaktionen.

Eine Aufgabe der vorliegenden Abhandlung besteht daher darin, die berücksichtigten Th eorien und Th esenbildungen zu aff ektiven Formen und Wirkungstypen für Fragen der anthropomedialen Relationierung des Kinematographischen im engeren Sinne produktiv zu machen. Da-für werden in teilweiser Ablösung von der anthropozentrischen und technikvergessenen Fokussierung der herkömmlichen Aff ekttheorien in einem zweiten Teil (Kap. 2–2e) die ihnen analytisch abgerungenen Parameter zum aff ektlogischen Register auf fi lmische Verfahren über-tragen.7 Diese Übertragung ist möglich, weil Aff ekte hier nicht als angeborene, exklusiv natürliche Eigenschaften menschlicher und orga-nischer Existenzen gefasst werden, sondern als funktionale Operations-modi in den Blick geraten, die bestimmte Aufgaben der Übertragung, Vermittlung, Ver- und Entkoppelung etc. zwischen unterschiedlichen Körpern und materiellen Instanzen übernehmen. Dass z.B. auch von Dingen und Räumen – auch von fi lmischen – sinnvoll ausgesagt wer-den kann, sie hätten eine aff ektive Ausstrahlung, sie würden z.B. anzie-hend wirken oder abstoßend, mit Spannung aufgeladen sein oder eine Bedrohung ausdrücken, ist nicht nur in einem metaphorischen Sinne, sondern wörtlich zu verstehen. Die aff ektlogische Perspektivierung fi l-mischer Verfahren (wie z.B. Schnitte, Überblendungen, Stills, Zeitlu-pen, Zooms, Großaufnahmen, Musikeinsätze, Farbwechsel etc.) wird anhand von ausgewählten Sequenzen der vierundzwanzigstündigen Film-Installation THE CLOCK von Christian Marclay durchgeführt. Die Installation wird exemplarisch daraufhin beleuchtet, wie und wel-che aff ektiven Operationen und Logiken sie nutzt, um jene organisch-technischen Verschränkungen zu bewirken, die zu den hier interessie-renden hybriden Eff ekten zählen. In methodischer Hinsicht zielt der Argumentationsgang u.a. auf eine medientheoretische Erweiterung des

7 Die Differenzen zwischen den Trägermedien und Kontexten der Filme führen nach der hier zu vertretenden Auffassung zwar zu graduellen, aber nicht zu katego-rialen Unterschieden ihrer anthropomedialen Effekte.

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Bedeutungsumfangs des Aff ektbegriff s. Schließlich – und das ist der medienphilosophischen Herangehensweise geschuldet  – geht es dar-um, die Terme ‚Aff ekte‘ sowie ‚Affi zierungen‘ als Überbegriff e für Phä-nomene in Anspruch nehmen zu können, die sowohl Gegenstände ei-ner Philosophie der Gefühle sein können, als auch Referenzphänomene für eine Phänomenologie fi lmästhetischer Erfahrungskonstitution und medienphilosophischer Anthropologien. Eine Medienphilosophie des (fi lmischen) Aff ekts und Aff ektiven, wie sie hier verstanden wird, ist selbst bereits eine Medienanthropologie und erfordert von sich aus einen interdisziplinären Ansatz.8 Während es zu Gilles Deleuzes nicht-anthropologischem Begriff des „Aff ektbildes“ in der Medien- und Film-philosophie mehr als genügend Auseinandersetzungen gibt, ist die phi-losophische Aff ektforschung kaum Th ema in diesen Kontexten. Dass aber produktive Überschneidungen mit dieser sowie medienanthropo-logische Anknüpfungen daran möglich sind, ist ein Gedanke, der diese Überlegungen hier maßgeblich motiviert hat.

1. Aktivität und Passivität des Aff ektiven

Der aus dem Lateinischen stammende Begriff ‚Aff ekt‘ wird im Folgen-den durchgehend mit dem deutschen Begriff ‚Gefühl‘ und beide Terme mit dem der ‚Leidenschaft‘ synonym verwendet. Der letztgenannte Term kann allerdings vernachlässigt werden, da er im heutigen alltag-sprachlichen Gebrauch eher für die romantischen oder extremen Ge-fühlslagen reserviert ist. Die anderen beiden Terme (Gefühle und Af-

8 Affekt- bzw. Emotionsforschung ist aus sich heraus zudem bereits ein transdiszip-linäres Feld. So schreiben Oliver Grau und Andreas Keil (Hg.) in Mediale Emotio-nen. Zur Lenkung von Gefühlen durch Bild und Sound, Frankfurt am Main, 2005, S. 8: „Gefühle werden zentral durch Medien und Kunst beeinflusst, dies scheint immer schon klar gewesen zu sein. Neu ist die Erkenntnis, dass Bildmedien und Emotionen eine Geschichte eng verknüpfter Wechselwirkungen besitzen, die sich nunmehr interdisziplinär erzählen lässt.“ Für Keil und Grau sind besonders (mehr-)dimensionale oder Netzwerkmodelle affektiven Erlebens aus der kogniti-ven Psychologie geeignet, die unterschiedlichen kultur- und naturwissenschaftli-chen Fragestellungen zusammenzuführen. Der Mehrheit dieser Ansätze zufolge sind speziell die Emotionen bestimmt als: „[…] phasische Reaktion des Organis-mus auf diskrete Reize mit spezifischen Korrelaten auf behaviouraler, physiologi-scher und subjektiver Erlebnisebene, die von charakteristischer Mimik begleitet ist […]“, zitiert aus Andreas Keil, „Eintauchen in Lenis Welt: Plädoyer für eine multivariante Emotionspsychologie in der affektiven Medienanalyse.“, in: ebd., S. 135. Zu diesen Affekt auslösenden ‚Reizen‘ zählen eben auch unterschiedliche Medien.

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fekte) fungieren hier als Überbegriff e für das gesamte Spektrum der unterschiedlichen aff ektiven Phänomene, zu denen Atmosphären, Stimmungen, körperlich lokalisierbare und umfassende Erregungszu-stände, Lust- und Unlustgefühle sowie Emotionen und ihre je beson-deren Funktionsweisen zählen. Wie diese aff ektiven Phänomene und Subklassen genauer zu diff erenzieren sind und was ihnen als Aff ekten dennoch gemeinsam ist, wird noch Th ema sein.9

Wenn von Gefühlen bzw. Aff ekten die Rede ist, stellt sich schnell die Assoziation ein, dass wir es dabei mit passiven Phänomenen des Erleidens zu tun haben. Als passive Phänomene scheinen Aff ekte sich per se von anderen Prozessen wie Willensregungen oder kognitiven Er-kenntnisoperationen zu unterscheiden, wobei nur letzteren gemeinhin zugestanden wird, aktive und freie Formen des Mentalen zu sein. So jedenfalls hat es nicht nur Platon gesehen, sondern viel später noch die einfl ussreiche vermögenspsychologische Tradition des Geistes inner-halb der Philosophie, Psychologie und philosophischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts, die dies variantenreich, u.a. mit Vertretern wie Mo-ses Mendelssohn, Gottlieb Baumgarten und Immanuel Kant, ausbuch-stabiert hat. Tradiert ist durch sie die Unterscheidung von sogenannten oberen, deutlichen und unteren, diff usen Seelenkräften, wobei die obe-ren den aktiven Kognitionen und Volitionen entsprechen und die pas-siven Gefühle den unteren.10 Doch diese Spaltung des Mentalen in aktive und passive Seiten legt die Operativität von Gefühlen einseitig auf eine Form von Reaktivität fest, die ihre Komplexität und ihre akti-ven, wirklichkeitskonstitutiven Funktionen tendenziell überdeckt. Be-reits mit Bezug auf die Etymologie ist demgegenüber darauf hinzuwei-sen, dass ‚Aff ekt‘ das Verbum ‚affi cere‘ enthält, was so viel bedeutet wie: ‚anregen‘, ‚hinzutun‘, ‚einwirken‘ und mithin einen aktiv eingrei fenden und wirkungsvollen Moment an Aff ekten hervorhebt und nicht nur ihren empfangenden Aspekt. Desweiteren geht auch ‚facere‘ in das Ver-balabstraktum ‚Aff ekt‘ ein und besagt wörtlich: ‚machen‘, ‚tun‘, ‚hinzu-

9 Die hier gewählte terminologische Verwendung des Affektbegriffs entspricht da-mit nicht der alltagssprachlich üblichen. Dieser zufolge spricht man von ‚Affek-ten‘, wenn es sich z.B. um rasende Eifersucht oder blinde Wut handelt, die auch im juridischen Sprachgebrauch als Motive für unzurechenbare Affekthandlungen gelten.

10 Vgl. Gottlieb Baumgarten, Ästhetik. Lateinisch-deutsch, übersetzt, mit einer Ein-führung, Anmerkungen und Registern hrg. von Dagmar Mirbach, 2 Bände, Ham-burg, 2007; Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: ders., Werkausgabe, Band X, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main, 1974; Moses Mendelssohn, „Rhapsodie, oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen“, in: Ästhetische Schriften [1777], Hamburg, 2005.

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tun‘, was ebenfalls alles Aktivitätsverben sind.11 Nimmt man die Ety-mologie des deutschen ‚Gefühl‘ noch hinzu, das aus dem Mit tel hoch-deutschen des 9. Jahrhunderts als Abstraktum von ‚fühlen‘ (vüelen, fuolen) überliefert ist und so viel heißt wie ‚tappen‘, ‚tasten‘, so stellt sich der etwas andere Eindruck ein, dass ‚Aff ekte/Gefühle‘ sich zu-nächst neutral gegenüber den Aktiv/Passiv-Unterscheidungen verhal-ten und gleichermaßen Dinge, Wesen und Zustände in Bewegung zu versetzen vermögen, wie im Kontakt mit anderem bewegt zu werden. Auf die taktilen Funktionsweisen von Gefühlen verweisen jedenfalls die Bedeutungen von ‚tasten‘, ‚tappen‘, die eine durch vorsichtige Be-rührung hervorgerufene, (selbst)wahrnehmbare und suchende Bewe-gung umschreiben.

Die wahrnehmungsbezogene, aisthetische Dimension der Gefühle führte den emotionstheoretischen Pionier William James dazu, sie zu dem – von der Physiologie des 19. Jahrhunderts noch theoretisch ver-nachlässigten –, „ästhetischen Bereich des Geistes“ zu zählen.12 In sei-nem Aufsatz „What ist an Emotion?“, der die Gefühlsforschung in der Philosophie, Psychologie und Physiologie maßgeblich angetrieben hat, identifi ziert James Gefühle generell mit physiologischen Veränderungs-mustern, die über organisch-chemische Feedback-Prozesse gesteuert seien und distinktiv erlebt würden. Wo keinerlei spürbare Erregung und Selbstwahrnehmung vorliegt, liegt James zufolge auch kein Aff ekt vor. Aff ekte sind für ihn also Formen von Wahrnehmungen, die spezi-ell mit Selbstwahrnehmungen einhergehen. Eine materielle, nämlich (neuro)physiologische Reduktion aff ektiver Wahrnehmung nimmt James in einem nächsten Schritt vor:

„Das Ziel der vorliegenden Seiten ist es, zu zeigen, dass […] die emoti-onalen Gehirnprozesse nicht nur den gewöhnlichen sensorischen Ge-hirnprozessen ähneln, sondern in Wirklichkeit nichts anderes sind, als solche Prozesse [Hervorhebung im Original, C.V.].“13

Während die Standardintuition besagt, dass Gefühle gewissermaßen als innere mentale Gemütszustände entstehen und sich erst dann in

11 Vgl. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin/New York, 1999, S. 17.

12 William James, „What is an Emotion?“, in: Mind 19 (1884), S. 188–204, hier zi-tiert aus der deutschen Übersetzung „Was sind Emotionen?“, von Sabine Heil und Andreas Keil, in: Grau, Keil (Hg.), Mediale Emotionen, S.20.

13 William James, a.a.O., S. 21.

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körperlichen und verhaltensartigen Ausdrucksformen manifestieren, vertritt James dazu eine Gegenthese:

„Meine Gegenthese lautet, dass die körperlichen Veränderungen direkt auf die Wahrnehmung der erregenden Tatsache folgen und dass unser Gefühl dieser selben Veränderungen die Emotion ist. […] Die rationa-lere Aussage lautet daher: dass wir uns traurig fühlen, weil wir weinen, wütend sind, weil wir zuschlagen, ängstlich sind, weil wir zittern, und nicht, dass wir weinen, zuschlagen oder zittern, weil wir etwa traurig, wütend oder furchtsam sind. Ohne die körperlichen Zustände, die der Wahrnehmung folgen, wären letztere rein kognitive Zustände.“14

Das Nervensystem begreift James als ein sensibles Bündel von Disposi-tionen, die einen Organismus zu bestimmten Verhaltensweisen gegen-über bestimmten Merkmalen seiner Umgebung veranlassen. Dabei sind auch Emotionen ihm zufolge adaptive Dispositionen, deren Ei-genart nur darin bestehen soll, gewissermaßen direkt durch die Wahr-nehmung bestimmter Inputs ausgelöst werden zu können. Das Kreis-laufsystem fungiert dafür als eine Art beweglicher Resonanzboden und zwar auch in Fällen schwacher Erregung durch Impulse. Wo aufgrund schwacher Erregung keine manifesten Verhaltensveränderungen beob-achtbar sind, sind James zufolge immerhin noch subliminale muskulä-re Tonus- und Spannungsunterschiede messbar, die zu Affi zierungen gehören. Von daher ist kaum ein lebendiger Zustand eines Organismus mit Zentralnervensystem denkbar, der nicht, wie minimal auch immer, durch Affi zierung mitgesteuert würde. Aff ektive Erregungen grundie-ren und beeinfl ussen James zufolge nahezu sämtliche Körperreak-tionen – auch die neuronalen und hormonellen, die den kognitiven Funktionen zugrunde liegen.

James’ Betonung der Unmittelbarkeit, mit der aff ektiv erregende Reize auf das Empfi ndungssystem einwirken können sollen, legt es nahe, ihm einen emotionalen Determinismus zu unterstellen. Doch einem solchen tritt James mit folgendem Argument entgegen: Eine be-stimmte Tendenz zur aff ektiven Nervenentladung könne ab dem Zeit-punkt, an dem diese Tendenz erlernt sei, daraufhin dann durch alle möglichen Objekte ausgelöst werden. Zwar gibt es James zufolge ein aff ektives Gedächtnis und diesem verdanken wir, dass wir überhaupt Erfahrungen akkumulieren, zuordnen und zurückweisen können, also kurz gesagt: dass wir lernen können. Doch das emotionale Gedächtnis soll unsere Aff ektreaktionen weder auf einzelne Objekte und Reize

14 William James, a.a.O., S. 22–23.

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festlegen, noch auf den aff ektgenerierenden Einfl uss von Außenreizen einschränken. Zu den möglichen Auslösern für Gefühle können nach James ebenso innere Vorstellungen und Phantasmen gehören und so-gar Vorstellungen von emotionalen Symptomen, wie in solchen Lagen, in denen wir z.B. Angst vor der Angst empfi nden.

Eine aff ektive Wahrnehmung der Sorte ‚Angst‘, so ist James zu er-gänzen, haben wir allerdings nicht nur direkt und funktionalerweise angesichts einer faktischen Bedrohung für Leib und Seele oder deren Antizipation. Angst erleben wir z.B. auch angesichts fi ktionaler Gebil-de, wie im Kino, wo wir zwar vermeintlich geschützt sind, wir jedoch in dargestellten Szenarien die emotionalen Muster wiedererkennend erle-ben, die strukturell bereits als Angstauslöser gespeichert sind. Die un-mittelbare Wirkungspotenzialität, die James den Aff ekten zuschreibt, bedeutet auch im Kinosetting, dass Angstauslöser instantan als Angstre-aktionen abgebildet werden, obwohl wir zugleich wissen, dass wir im Kino geschützt sind. Die angstspezifi sche Erregung fällt im Kino quasi nur schwächer aus, als in einer tatsächlich bedrohlichen Lage. Das sen-somotorische System wird dann eben nur latent zur Flucht angeregt, während das subjektive Erleben der dabei gleichwohl statthabenden, physiologischen Veränderungen der angstspezifi schen Sorte noch deut-lich genug ausfällt. Die Verhaltens- und Erlebniskomponenten aff ekti-ver Regungen verhalten sich in James’ Ansatz nicht wie abtrennbare Außen- und Innenseiten eines Reaktionsmusters zueinander. Sie sind im Gegenteil immer schon über die organischen und (neuro-)physiolo-gischen Regelkreisfunktionen aufeinander abgebildet.

Die Erlebnisqualität der Gefühle lässt sich, wie von James zu lernen ist, aufgrund der Rückkoppelungseff ekte auch durch bloße Verhaltens-simulation manipulieren. Durch das bloße Auff ühren emotionsspezifi -scher Verhaltensmerkmale (wie Grinsen, Tonfallerhöhung, Einnehmen entsprechend leichtfüßiger Körperhaltungen, die z.B. Merkmale der Freude sind) kann es zu spürbaren Umstimmungen kommen. Das lau-te Pfeifen im Wald hilft z.B. dann, um die Angst zu verjagen oder das aufrechte Gehen, Glätten der Augenbrauen und Erhellen der Augen können dazu führen, eine Niedergeschlagenheit zu vertreiben und in Fröhlichkeit zu verwandeln. Die Feedbackprozesse innerhalb des Ner-ven- und Kreislaufsystems koordinieren die entsprechende Resonanz in all diesen Fällen und dienen James insgesamt als Beleg für den Vor-rang körperlicher Symptome an gefühlten Emotionen.

Die Kritik, die sich an James’ Ansatz entzündet hat und die zum Teil seine introspektive Methode betriff t und zu anderen Teilen seine Ver-absolutierung der Körpersymptomatik gegenüber den von ihm ver-

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nachlässigten kognitiven und psychologischen Dimensionen der Emo-tionen, soll hier zurückgestellt bleiben.15 Interessant ist an James’ Ge-fühlstheorie für unsere Überlegungen gleich mehreres: Zum einen hängen Aff ekte/Gefühle in seiner Defi nition nicht unverbunden mit dem sonstigen Körpermilieu sozusagen in der Luft. Sie werden ihrer-seits als materielle Formierungen von wahrnehmbarer Bewegung fass-bar, wobei aff ektive Bewegungsauslöser und aff ektive Wirkungen nur analytisch zu trennen sein sollen. Im Medium ihres Erlebens sind Ur-sache und Wirkung von Aff ekten in dem von James entworfenen Th e-orierahmen immer schon aufeinander abgebildet. Die von ihm zudem hervorgehobene Salienz der physiologischen Signatur gefühlsartiger Erregungen bringt es mit sich, Gefühle nicht ausschließlich so zu den-ken, als seien sie nur aus der Perspektive erster Personen, als rein priva-te Zustände sozusagen, zugänglich. Gefühle werden vielmehr als Bewe-gungsphänomene konstruiert, die auch aus der Perspektive zweiter und dritter Personen identifi zier- und messbar sind, wie im Zusammen-hang mit den Tonus- und Muskelspannungsbemessungen selbst noch der schwächeren Erregungen hervorgehoben wurde. Es handelt sich bei Gefühlen/Aff ekten James zufolge immer schon um zugleich sub-jektiv fühlbare und objektiv messbare, physisch-physiologische Verän-derungen. Auf Gefühle bezogen, vertritt er einen Behaviourismus auf physiologischer Ebene. Damit stellt James rein subjektivistisch-intros-pektionistische Gefühlstheorien in Frage, die ebenfalls die gefühlsmä-ßige Selbstwahrnehmung zentral stellen und auf Rene Descartes zu-rückgehen. Letzterem zufolge sind Gefühle jedoch gänzlich private, vorsemantische und ‚innere‘ Zustände von vermeintlich isolierbaren Subjekten, die obendrein ausschließlich und fehlerfrei aus der Perspek-tive erster Personen introspektiv zugänglich sein sollen.16 Diese strikt subjektivistische und introspektionistische Position vertritt heutzutage allerdings niemand mehr in der Emotions- und Aff ektforschung und kann hier ebenfalls zurückgestellt bleiben.

15 Vgl. dazu Jean Paul Sartre, „Skizze einer Theorie der Emotionen“, in: Gesammelte Werke, Philosophische Schriften. 1. Die Transzendenz des Ego, Philosophische Essays. 1931–1939, Reinbek, 1994, S.255–323, besonders S. 269–282.

16 Vgl. Rene Descartes, „Ueber die Leidenschaften der Seele“, [1647], ins Deutsche übersetzt von J. H. v. Kirchmann, Berlin, 1870.

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1.1 Zur biokybernetischen Verschaltung von Subjekt und Objekt im Aff ekt

Ein anderer Aspekt an James’ Konzept ist noch hervorzuheben, der wichtig wird, wenn es um die Charakterisierung der epistemologischen Dimensionen von Aff ekten geht. Aff ektive Operationen gewinnen in sei nem Konzept eine Art medialer Funktion bzw. genauer eine Übersetz - ungskraft, sofern sie nämlich Regungen und Wahrnehmungen der In-nen- und/oder Außenwelt (Körperveränderungen und/oder Außenreize) in die Form einer distinktionsfähigen, sensorischen Resonanz überfüh-ren. Im Prozess dieser aff ektiven Übersetzung ist impliziert, dass die so-genannten Auslösereize der Gefühle aff ektiv perspektiviert sind bzw. ad hoc im Modus aff ektiver Wahrnehmung umqualifi ziert werden und so erst mit aff ektiver Bedeutung aufgeladen werden. Dieser Gesichtspunkt der aff ektiven Qualifi zierung von Erscheinungshaftem kommt nicht zu-letzt in James’ Umdeutung der Standardauff assung von Emotionen zum Tragen, die er u.a. an folgendem Fallkonstrukt erläutert: Wenn wir uns auf freier Wildbahn bewegen und uns plötzlich ein Bär begegnen würde, so sei dieser nicht deshalb Angst einfl ößend, weil er an und für sich die Eigenschaft ‚bedrohlich‘ aufweisen würde. Vielmehr sei der Bär umge-kehrt deshalb als ‚gefährlich‘ zu qualifi zieren, weil wir angstvoll auf ihn reagieren. Und so soll es sich James zufolge auch mit anderen Gefühls-lagen und gefühlsartigen Wahrnehmungen von Objekten verhalten. Wir fürchten uns nicht, weil etwas bedrohlich ist; sondern sind umgekehrt ängstlich, weil wir fl iehen; so lautet seine Idee von aff ektiver Kausalität.

Mit Rückbezug auf James’ Feedback- oder Resonanztheorie und die etymologischen Hinweise auf die Bedeutungen von ‚Aff ekt/Gefühl‘ ist an dieser Stelle Folgendes festzuhalten: Wo aff ektive Veränderungen bzw. Wahrnehmungen von Veränderungen vorliegen, haben wir es mit spezi-fi sch eingefärbten Welt- und Objektwahrnehmungen zu tun, die je nach Aff ekttyp – also je nachdem, ob Emotionen, Erregungen, Stimmungen oder Atmosphären vorliegen und welche –, auch mit unterschiedlichen Empfi ndungsqualitäten und Wertperspektiven korrelieren. Über die phy-siologischen Feedback-Mechanismen kommt es zu einer biokyberneti-schen Verschaltung von Subjekt und Objekt in aff ektiven Zugangsweisen zur Welt. Speziell dieser Befund der Subjekt-Objekt-Verschaltung durch Aff ekte wird uns auch noch auf das Filmische bezogen beschäftigen.17 An

17 Der Bildtheoretiker und -anthropologe W.J.T. Mitchell verwendet den Ausdruck der ‚biokybernetischen Reproduzierbarkeit‘, um die zunehmend posthumane Transformation zu beschreiben, die durch die vielseitigen Versuche zustande kä-

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dieser Stelle der Argumentation ist von James wegführend noch etwas detaillierter auf das Phänomenspektrum der Aff ekte einzugehen.

1.2 Aff ekte zwischen Intentionalität und Kausalität

Aff ekte sind nicht gleich Aff ekte. Die aff ektiven Phänomene weisen untereinander Diff erenzen in ihren Verlaufsformen, Wirkungen und immanenten Logiken auf. Phänomene, die zur Klasse der Emotionen zählen, wie Ärger, Freude, Schuldgefühle, Scham, Stolz, Neugierde, Neid, Eifersucht, Dankbarkeit oder Verliebtheit usw. zeichnet es aus, objektgerichtet bzw. intentional-urteilsförmig strukturierte Aff ekte zu sein. Die intentionale Urteilsförmigkeit von Emotionen artikuliert si ch z.B. in einem Fall von Ärger daran, dass er in seinem Verlauf auf etwas, etwa auf eine beleidigende Geste bezogen ist oder an einem Fall der Freude daran, dass sie in ihrem Verlauf z.B. auf ein überraschendes Geschenk bezogen ist. Die beleidigende Geste spezifi ziert im ersten Beispielfall den Ärger als dessen Objekt; das Geschenk spezifi ziert im zweiten Beispielfall die Freude als deren Objekt. In solchen implizier-ten Objektbezügen und Urteilen liefern Emotionen zudem Motive und Gründe für Handlungen. Der Ärger über die beleidigende Geste kann beispielsweise zu einer Anschlusshandlung eines rachevollen Aus-gleichs veranlassen und die Freude über ein Geschenk mag zu einer Dankesreaktion motivieren. Es gehört außerdem zu den intentionalen Emotionen hinzu, in ihrem Zustandekommen und Abfl auen eine Art dramaturgischer Phasenentwicklungsstruktur zu durchlaufen, insofern an ihnen typischerweise Aufbau-, Höhepunkt- und Abbauphasen zu unterscheiden sind. Deshalb weisen Emotionen sowohl auf semanti-scher wie performativer Ebene eine narrative Struktur auf, die sich auch entsprechend in erzählerischen Formen ausdrücken und nicht zuletzt (gegen-)erzählerisch bearbeiten, kommunizieren und beeinfl us-sen lassen.18 Emotionen bilden sich desweiteren kulturspezifi sch und in Abhängigkeit von der sprachlichen Sozialisation unterschiedlich dif-ferenziert aus. Die regionalen, sozialen, individuellen, historischen und

me, Körper durch Codes und Bilder durch Sprache zu kontrollieren, wie sie in Wissenschaft, Technik und Kunst um sich greifen würden; vgl. ders., Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur, München, 2008, S.191–225.

18 Diese Position ist detailliert entfaltet in der Monographie von Christiane Voss, Narrative Emotionen. Möglichkeiten und Grenzen philosophischer Emotionstheorien, Berlin, 2003.

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kulturellen Unterschiede sowie Vergleichbarkeiten von Scham- und Schuldbesetzungen sind u.a. exemplarische Belege dafür.

Gegenüber dieser aff ektiven Unterklasse der urteilsförmigen und narrativ verfassten Emotionen gehören aff ektive Phänomene der Er-regungen wie Lust-/Unlustgefühle, Hunger, Nervenkitzel und Gän-sehautbildung z.B. zum Typus der mehr oder weniger körperlich lo-kalisierbaren Veränderungsformen. Diese rein körperlich gebundenen Aff ekt typen sind nicht intentional und entsprechen eher Signalwir-kungen als repräsentationsförmigen Affi zierungen. Hunger zeigt z.B. ein Nahrungsbedürfnis an, Nervenkitzel kann eine angespannte Kon-zentrations- und Aktivitätsbereitschaft anzeigen, Gänsehaut kann Käl-te signalisieren oder auch die Begleiterregung starker Rührung oder des Erschauerns sein.

Bestimmte körperliche Erregungen liegen zudem  – in Form von Lust- und Unlustmarkierungen – allen anderen aff ektiven Phänome-nen zugrunde und begleiten sie. Diesen sogenannten hedonischen Markierungen (d.h. Lust- und Unlustmarkierungen) verdanken alle Aff ekte ihre empfi ndungsförmige Valenz und zwar unabhängig davon, ob es sich nun um Atmosphären, Stimmungen, Emotionen oder um lokale Körperempfi ndungen wie Bauchschmerzen handelt.

Die aff ektive Subklasse der Stimmungen ist wiederum von den beiden genannten Aff ektklassen der ‚Emotionen‘ und ‚Erregungen‘ ab-zugrenzen. Stimmungsphänomene wie Euphorie, Melancholie, Lange-weile, Aggression usw. sind umfassendere psycho-physische Ver änder-ungen als Emotionen. Und im Unterschied zu den Erregungen sind Stimmungen nicht deutlich physisch lokalisierbar. Zudem erstrecken sich Stimmungen wie z.B. Langeweile zeitlich meist länger als Vor-kommnisse von Erregungen oder Emotionen. Während sie anders als Erregungen durchaus intentional ausrichtend wirken können, sind Stimmungen doch im Unterschied zu den ebenfalls intentionalen Emotionen ihren Bezügen nach eher diff us bzw. global ausrichtend. Letzteres bedeutet, dass man je nach konkreter Stimmungslage in ne-gativer oder positiver Färbung geradezu auf ‚alles und nichts‘ bezogen sein kann. In ihrer Tendenz zur universalisierenden Einfärbung bün-deln Stimmungen Perspektiven auf Welt insgesamt und unterziehen jene einer gemeinsamen, positiven oder negativen Qualitätsbestim-mung. Aus Langeweile heraus erscheint dann alles gleichermaßen un-interessant und zäh; aus der Euphorie heraus erscheint hingegen die ganze Welt rosig und frei.

Atmosphären bilden eine eigene vierte Subklasse der Aff ekte. Sie sind im Vergleich zu den ihnen verwandten Stimmungen weniger

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deutlich perspektivverändernd und noch diff user als jene. Auch sind Atmosphären stärker als die aspektualisierenden Emotionen raum-greifend und -bestimmend in ihren Wirkungen.19 Atmosphären sind mehr als alle anderen aff ektiven Phänomene zentrifugale Ausstrahlungs-phänomene. Eben darin fungieren sie situationsbildend und sind in der Lage fühlbare Rahmungen zu verbreiten: Die Verbreitung einer Atmosphäre kann je nachdem streng, angespannt, steif oder gelöst, in-spirierend, erotisch oder bedrohlich sein. Typischerweise wirken Atmo-sphären auf die in sie Eintretenden unmittelbar ein und sind selbst-übertragend. So unterschiedliche Faktoren wie Tonfälle, Musik, Licht und/oder Texturen, aber auch der Rhythmus von Verhaltensformen, Sprechakten oder gar Raumanordnungen u.v.m. können für die Aus-breitung von Atmosphären sorgen. Ihr Ursprung ist nie eindeutig aus-zumachen, auch wenn ihre hedonische Valenz, d.h. ihre negative oder positive Gefühlsfärbung, sehr wohl deutlich wahrnehmbar ist. Un-heimlichkeit ist ebenso ein Beispiel für eine atmosphärische Qualität wie z.B. Leichtigkeit und beide atmosphärischen Qualitäten können von sehr unterschiedlichen Entitäten, z.B. von Menschen, Räumen, Gegenständen, Situationen, Bildern und Tönen, ausgehen. Die hedo-nischen Wertmarkierungen machen auch im Falle der Atmosphären deren wahrnehmbare Positiv-Negativ-Valenz aus. Nicht zuletzt diese spürbare Valenz macht auch Atmosphären zu aff ektiven Phänomenen, wenn auch zu solchen ohne Zentrum.

In Bezug auf die skizzierte Unterscheidbarkeit verschiedener Aff ekt-typen und -klassen, von denen hier nur vier angeführt sind und womit kein Anspruch auf Vollständigkeit verbunden ist, lässt sich nun wieder-um Folgendes festhalten: Das aff ektive Phänomenspektrum reicht off en-bar von dem Pol nicht-repräsentationaler Erregungen, Atmosphären und hedonischer Gefühle (Lust/Unlust) über die quasiintentionalen Stim-mungen bis zum Pol der strikt intentional strukturierten Emotionen. Als Aff ekte/Gefühle eint sie jedoch – darin ist hier James zu folgen –, dass sie distinktiv spürbare Zustandsveränderungen hervorrufen und sind, die zudem einen aktionssteuernden Charakter mit einem erlebnisför-migen Widerfahrnischarakter dieser Veränderungen in sich verbinden. Empirisch gehen die verschiedenen Gefühls- und Aff ektlagen häufi g ineinander über und verstärken oder neutralisieren sich wechselseitig. Das ist etwa dann der Fall, wenn eine traurige Regung zu einer ohne-hin schon vorhandenen depressiven Stimmung hinzutritt, die dann

19 Vgl. Elisabeth Blum, Atmosphäre. Hypothesen zum Prozess räumlicher Wahrneh-mung, Baden, 2010.

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erstere noch verstärkt oder wenn eine freudige Nachricht eine bedroh-liche Stimmung in ihrer gefühlsartigen Wertigkeit neutralisiert. Spezi-ell die Möglichkeit sich auch wechselseitig zu affi zieren und zu modifi -zieren, was die Aff ekte in den Modi der Überlagerung, Verstärkung, Abschwächung oder Substitution realisieren können, gehört zu den Besonderheiten aff ektiver Operationen. Diese werden auch in fi lmi-schen Kontexten noch eine Rolle spielen, auf die später zu kommen sein wird.

Einzelne Aff ekte treten zudem nie isoliert auf, sondern heben sich stets vor dem Hintergrund eines bereits diff us oder konkret gestimm-ten Horizonts als solche ab. Auch dies ist jedoch kein Privileg eines psychischen oder mentalen Holismus oder Zusammenhangs. Ein af-fektiv gefärbter Horizonthintergrund bzw. Rahmen kann auch in Be-zug auf ein Leinwandgeschehen relevant sein, wenn etwa der atmo-sphärische Grundton eines Films ein melancholischer ist, der die darin weiter vorkommenden Ereignisse untermalt, die sich vor seinem Hin-tergrund erst abzeichnen.

Die minutenlange Anfangssequenz des Films DAS TURINER PFERD (2011) von Béla Tarr bietet ein Beispiel dafür, wie sehr ein ganzes Film-geschehen durch einzelne, atmosphärisch aufgeladene Szenen getragen und dominiert werden kann, ohne dass in ihnen etwas geschehen wür-de, das nach narrativen Anschlüssen verlangte. Man sieht in der langen Anfangssequenz dieses Films bildfüllend und von der Seite gefi lmt ei-nen älteren bärtigen Mann stark nach vorne gebeugt auf einem einfa-chen Pferde-Holzwagen sitzen, der gegen einen off enbar starken Sturm mit allen Kräften mühsam vorwärts zu treiben versucht. Die schwerfäl-lig und wuchtig sich immer wieder aufbäumende Körperlichkeit des Mannes und der dichte Regensturm, der diese Haltung scheinbar ver-ursacht und der das Bildgeschehen auch insgesamt optisch und akus-tisch dominiert, als wäre das Bild selbst verregnet, vermitteln zusam-mengenommen atmosphärisch (und nicht sprachlich oder mimisch oder musikalisch), dass es hier und jetzt und für die verbleibende Zeit dieses Films um Kräfte geht, die im physischen Sinne gegeneinander kämpfen und einander erschöpfen (werden). Weshalb sonst sollte eine fi lmische Anfangssequenz minutenlang nichts anderes zeigen, als den großen Kraftaufwand, mit dem ein erschöpfter Mann und ein mit ihm über Zügel verbundenes, erschöpft wirkendes Pferd gegen einen grau-en, eisigen Sturm antreiben? Diese Eingangssequenz erzählt nicht. Sie stimmt eher ein, in den Grenzzustand eines körperlich-bewegten Ver-bundes aus menschlichen (Mann), technischen (Kutsche) und ani-malischen (Pferd) Elementen, der sich in einem unwirtlich bis lebens-

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feindlichen Umraum (Sturm) behaupten muss. Diese Eingangssequenz macht den Lastcharakter dieser Existenz spürbar, indem er den Zu-schauer darin einschließt. Die darauf folgenden Geschehnisse wirken dann so, als seien sie nur die linear-narrativ ausgefalteten Konkretisie-rungen der atmosphärisch so enorm verdichteten Anfangssequenz, in der sie schon sämtlich enthalten waren. Insofern geht der Film voran, ohne sich doch vom Fleck zu bewegen. Vor dem fi nsteren Hintergrund der Eingangssequenz hebt sich dann die Konstellation zwischen Vater, Tochter, Landschaft und Tier für eine Zeit fi gurativ ab, die jedoch am Ende des Films buchstäblich in diesen Anfangsgrund und d.h. in die Dunkelheit zurückgeführt und ausgelöscht wird. Der Film scheint am Ende mitsamt seinem Personal zu sterben. Die audiovisuelle Konstruk-tion dieser so kargen wie lebensfeindlichen Weltlichkeit gelingt bei Tarr durch eine Kombination von Mitteln aus einer ausgesprochen fahlen, dunklen Farbigkeit des Szenenbildes, ärmlich ausgestatteter, karger Räume und Kleider der Protagonisten, dem Schweigen der Men-schen und ihrer minimalistischen Bewegungen im Bild sowie dem Ein-satz des alles gleichmachenden Geräuschs des nicht enden wollenden Sturms, der das Gesamtgeschehen durchgehend und unheimlich grun-diert. In ihren Verdichtungen ruft der Film eine aff ektiv durchsetzte Raum-Zeit ins Leben, einen aff ektiven Wirklichkeitseff ekt, der un-durchdringlich bleibt und zugleich fesselt. Der Vorgriff auf fi lmische Formen der Aff ektregulierung in Form des kursorischen Bezugs auf Béla Tarrs Film hat an dieser Stelle der Argumentation die Funktion, die Kraft atmosphärischer Konfi gurationen und Qualitäten nachvoll-ziehbar zu machen und damit zugleich aufzurufen, wie derartige Af-fektqualitäten im Kino materialisiert und nachvollziehbar im Wortsin-ne gemacht werden.

1.3 Antidualistische Aff ekttheorien und Aff ektlogik

Die Tendenz zur (Selbst-)Übertragung und entgrenzenden Selbstver-breitung aff ektiver Kräfte und Qualitäten wird auch im Rahmen heu-tiger Aff ektforschung, etwa in der Neurowissenschaft, aufgenommen und dort allerdings in Bezug auf das Verhältnis hirnphysiologischer und neuronaler Funktionsbereiche neu diskutiert. Gefühlsartige Ver-änderungen werden nicht mehr isoliert von anderen mentalen Funkti-onen des Gehirns betrachtet. Sie wirken vielmehr auf das periphere und vegetative Nervensystem ein und affi zieren diese Regionen und die darin ablaufenden kognitiven und volitiven Funktionen. Die zugestan-

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dene Ausweitung von Affi zierungen auf unterschiedliche Hirnregionen und -funktionen zieht die Einsicht nach sich, dass selbst die kognitiven und volitiven Zustände, die z.B. von James noch ganz traditionell eige-nen, isolierbaren Hirnregionen zugeordnet wurden, ihrerseits als aff ek-tiv moduliert zu denken sind.20 Das bedeutet aber auch den Gedanken zulassen zu müssen, dass auch epistemische Operationen und Wahr-nehmungen sowie die Formierung von Wunsch- und Willensbestre-bungen generell aff ektiv beeinfl usst werden.

Dass wir anders und anderes denken und wünschen, wenn wir emo-tional erregt oder engagiert sind, im Vergleich zu einer Situation, in der wir ruhig oder indiff erent sind, ist auch als Alltagserfahrung bekannt. Eben diese aff ektive Einfl ussmöglichkeit hat nicht zuletzt die stoisch-platonische Aff ektkritik auf den Plan gerufen, die auf eine rationale Kontrolle und Reglementierung der aff ektiven Einfl üsse zielt. Ihre pe-jorative Dichotomisierung von vermeintlich allein rationalitätsfähiger Kognition und vermeintlich gänzlich a-rationaler Aff ektivität ist bis heute die dominierende Auff assung philosophischer Erkenntnistheori-en geblieben. Doch wenn die Annahme einer Aff ektgrundierung sämt-licher neuronaler Tätigkeiten zutreff end ist, dann können Kognitionen nicht länger als das ganz Andere zu den Aff ekten gedacht werden. Der neuerlich hervorgehobene fundamentale Überschneidungs- und Be-gründungszusammenhang von Aff ekt und Kognition machen inner-halb der psychologischen Forschung zur Psychosomatik sowie in neu-rowissenschaftlichen und philosophischen Th eorien des Geistes eine Revision dualistischer Ansätze nötig. Intelligentes Verhalten erweist sich demnach als ein Produkt der untrennbaren Verschaltung kogniti-ver und aff ektiver Prozesse.21 So sprechen z.B. die Kognitionspsycholo-gen Matthew M. Hurley, Reginald B. Adams und der Philosoph Dani-el C. Dennett in gemeinsamer Abgrenzung von Modellen des Geistes aus der KI-Forschung auch von „emotionalen Algorithmen“, welche die Bereitschaft zur kognitiven Datenverarbeitung und -bewertung ebenso steuern würden, wie Kombinations- und Berechnungsoperatio-

20 Vgl. Antonio Damasio, Descartes’ Error: Emotion, Reason and the Human Brain, New York, 1994.

21 Vgl. dazu neben Antonio Damasio auch Joseph Le Doux, The Emotional Brain, New York, 1998; und Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, Frankfurt am Main, 2001. Hier ist allerdings anzufügen, dass David Hume bereits den cartesianischen Dualismus kritisiert hat und seiner-seits die vermeintlich rein kognitiven Ideen, Urteile und Vorstellungen sowie ihre Verknüpfungen für Derivate von Gefühlen hielt. Vgl. dazu die Rekonstruktion von Humes Affekttheorie in Voss, a.a.O., 2003.

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nen sowie Operationen der Problemlösung unter Bedingungen logi-schen Kohärenzdenkens.

„Rather, we envisage an architecture for cognition in which the functio-nal implementations of emotions are the computational substrate from which reason emerges by way of motivating the manipulation of data in various ways that engender, among other activities, data-gathering (cu-riosity, boredom) recombinant thought (discovery), contradiction avo-idance (confusion), and […] mistake recovery (mirth). Here we would distinguish the underlying ‚logical‘ competence that automatically ge-nerates implications from the reasoning that must emerge from, and be guided by, the interplay of epistemic emotional algorithms.“22

Darüber hinaus ist hier daran zu erinnern, dass manche Formen von Aff ekten ja selbst bereits kognitiv strukturiert sind, wie es für die ur-teilsförmigen Emotionen spezifi sch ist. Die gängige Intuition, derzu-folge wir es immer dann, wenn wir es mit gefühls- oder aff ektgesteuer-ten Lagen und Verfahrensweisen zu tun haben, automatisch mit vorepistemischen und a- und irrationalen Lagen und Verfahrensweisen zu tun hätten, entlarven gegenwärtige Ansätze der Aff ektforschung als unhaltbares Vorurteil.23

Dieser Befund ist nun auch für ästhetische und medienanthropologi-sche Kontexte interessant. Denn vor dem Hintergrund eines kom plexer gefassten Aff ektbegriff s können auch mediale Aff ektmodu lierungen in kognitiver Hinsicht komplexer gefasst werden. Aff ektmodulierungen sind dann nicht länger ausschließlich blinde Reizungen und Regungen oder nurmehr für das Ungreifbare, Unbestimmte, Unaussagbare zu re-servieren. Vielmehr können auch medial geformte und dargestellte Af-fekte und Affi zierungen z.T. epistemische Gehalte und Funktionen zu-geordnet werden und sie ihrerseits als mediale Formen des Denkens aufgefasst werden.

Innerhalb der Schizophrenieforschung hat Luc Compi unter dem Titel „Aff ektlogik“ eine Th eorie des menschlichen Geistes verfolgt, in deren Rahmen er einer eigenständigen Aff ektlogik einen fundierenden Status zuspricht, die sich zu logischen Operationen im engeren Sinne

22 Matthew M. Hurley, Daniel C. Dennett, Reginald B. Adams, Inside Jokes. Using Humor to Revise-Engineer the Mind, Cambridge/Massachusetts/London, 2011, S. 86–87.

23 Vgl. dazu Barbara Merker, Leben mit Gefühlen. Emotionen, Werte und ihre Kritik, Paderborn, 2009; sowie meine Rekonstruktion der Geschichte philosophischer Emotionstheorien in Voss, a.a.O., 2003.

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analog verhalten soll.24 Seinem Ansatz, der problematischerweise dem traditionellen Dualismus von Kognition und Aff ekt nur unter Verkeh-rung der Vorzeichen zugunsten der Aufwertung der Aff ekte verhaftet bleibt, können wir für unsere Zwecke hier dennoch weitere positive Bestimmungen der Aff ekte und ihrer Mechanismen entnehmen. Com-pi stellt nämlich heraus, dass das (menschliche) Aff ektsystem vor allem durch die Polarität von positiven und negativen Gefühlen strukturiert sei. Diese polare Struktur würde die evolutionär überlebenswichtige Funktion übernehmen, dem organischem System anzuzeigen, welcher Kontakt womit für ihn nützlich oder schädlich ist.25 In Gefühlen wird uns demnach also angezeigt, was uns schadet/nützt, gefällt/missfällt, anzieht/abstößt, interessiert/langweilt, wichtig/unwichtig ist. Dabei sollen diese aff ektiven Beurteilungen maßstäblich an einen verkörper-ten Subjektstandpunkt zurückgebunden sein bzw. sie konstituieren diesen Standpunkt geradezu erst. Man ist, was man fühlt. Inwieweit diese immanente Verwiesenheit von biologischen (menschlichen) Af-fekten auf einen zentrierenden Subjektstandpunkt in Bezug auf die Modulierung von Aff ekten durch fi lmische Operationen eine Grenze der konzeptionellen Übertragbarkeit darstellt oder nicht, wird noch zu problematisieren sein. Doch bleiben wir hier noch bei der Aff ekttheo-rie Compis.

Dieser geht, wie schon James vor ihm und davor David Hume, da-von aus, dass selbst die vermeintlich rein intellektuellen Operationen des Geistes lust- und unlustgrundiert sind, auch wenn sie ohne be-wusst wahrnehmbare aff ektive Markierungen auftreten. Wichtig ist nun für Compi der weiterführende Gedanke, dass die polare Struktur des Aff ektsystems sowohl extreme Ausschläge als auch eine Dynamik der Relativierung der Extreme ermöglichen soll. Aus der Spannung zwischen den Polen negativer und positiver Bewertungen würden jene diff erenzierenden Prozesse allererst hervorgehen, die für die Dynamik allen gefühlsgesteuerten Handelns und Denkens verantwortlich sind.26

24 Luc Compi, Affektlogik. Über die Struktur der Psyche und ihrer Entwicklung. Ein Beitrag zur Schizophrenieforschung, Stuttgart, 1982.

25 Diese Signal- und Bewertungsfunktion von Affekten wird von den unterschiedli-chen Affekttheorien durchgehend bestätigt, wenn auch in unterschiedlichem Ma-ße ins Zentrum gerückt. Unter dem Label der ‚Bewertungstheorien‘ lassen sich alle diejenigen Ansätze zusammenfassen, die ebendiese Wertfunktion für den zen-tralen Beitrag der Affekte zur Rationalität und Verhaltenssteuerung halten. Vgl. paradigmatisch für diese Ansätze Magda Arnold, Emotion and Personality, New York, 1960.

26 Vgl. ähnlich und weiterführend die Ausführungen von Matthew M. Hurley, Da-niel Dennett und Reginald B. Adams, die in ihrer gemeinsam verfassten, evolu-

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Im Durchgang durch verschiedene Entwicklungsstadien – so knüpft Compi mit seiner Aff ektlogik an Kernbergs und Piagets entwicklungs-psychologische Forschungen an –, hätten sich mehr oder weniger inva-riante Aff ektmuster im Zuge der menschlichen Gattungsgeschichte ausgebildet, die zu grundlegenden Deutungsmustern in der Wahrneh-mung von Wirklichkeit verfestigt werden. Von einem derart gefassten aff ektlogischen Standpunkt aus gilt daher: Die Welt ist für uns nicht nur alles, was der Fall ist. Vielmehr schematisieren wir Welt und Wirk-lichkeit auf Basis von aff ektiv durchmusterten Erfahrungen und das heißt nach Maßgabe von Ähnlichkeitsrelationen und Wiederholungs-erwartungen, wobei die jeweils andrängende Umgebung als eine im-mer schon werthafte erscheint: Denn sie ist aff ektiv positiv oder nega-tiv markiert. Dieser im Prinzip werthaft transformatorische Eff ekt aff ektiver Verarbeitungsweisen wird in folgendem Zitat nochmal deut-licher angesprochen:

„Die äquilibrierten affektiv-kognitiven Schemata können als typische […] Systeme […] aufgefasst werden; sie stellen zugleich affektlogische Bezugssysteme dar, die einerseits aus dem Umgang mit der begegnen-den Wirklichkeit entstanden sind und andererseits den Umgang mit ihr konditionieren. Die ganze Psyche besteht offenbar aus einem hierarchi-schen Gefüge von derartigen Bezugssystemen. Manches spricht dafür, daß ihre Struktur letztlich polar-binären Charakter hat.“27

Ohne hier seinen psychologischen und psychiatrischen Fragestellun-gen weiter folgen zu können, lässt sich Compis Ansatz dennoch etwas für unsere Fragestellung entnehmen. Wo Aff ektlogiken greifen, wer-den Zustandsveränderungen hinsichtlich verschiedener Intensitätsgra-de variiert, die im mehr oder weniger lust- oder unlustvollen Modus eine aff ektive Valenz einer Situation, eines Sachverhaltes oder Objektes abbilden. Eine repräsentationale Dimension der Aff ekte kommt bei

tionstheoretisch ausgerichteten Studie über Humor und Emotionen zu einem ähnlichen Schluss über die Macht der Gefühle wie Compi gelangen, nur dass sie James’ Ansatz zusätzlich einbeziehen und selbständig auf die kognitive Sphäre aus-dehnen: „We see knowledge maintenance, reasoning, process, and comprehension as richly embodied processes that cannot be disengaged from the emotions that play out in varieties of bodily sensation. Not only are the concepts that make up our thoughts derived from embodied interaction with the world […], but the me-thod for manipulating these concepts, rather than being somehow purely abstract and disinterested rule-following, are also richly entangled with bodily feedback. We feel whether something makes sense or whether something strikes us as true; and we feel our way through problem-solving episodes – in the same way as we feel stomachache or a cool breathe.“, in: dies., a.a.O., S. 91–92.

27 Compi, a.a.O., S. 121–122.

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Compi durch die Einführung des Begriff s „mehr oder weniger invari-anter Aff ektschemata“ hinein. Genauer diff erenziert Compi die Logik des Aff ektiven nicht aus, sondern scheint diese für evident zu halten. Wenn Compi zuzugestehen ist, dass Aff ektschemata im Umgang mit begegnender Wirklichkeit (fi ktionaler oder empirischer) entstehen und andererseits den Umgang mit ihr konditionieren, so scheint hier erneut eine reversible oder zumindest dynamische Ursache-Wirkungsrelation vorzuliegen. Ähnliches klang auch bei James an, wenn er darauf hin-weist, dass die aff ektiven Qualitäten von vermeintlichen Aff ektauslö-sern erst in der Aktualisierung einer aff ektiven Perspektive auf sie zu-stande kommen würden. Doch wenn Affi zierungen spezifi sche Formen der Verarbeitung von Wirklichkeit sind und im gleichen Zuge ihrer-seits auf spezifi sche Weise Wirklichkeit konstituieren, so müssen sie sich gleichwohl von nicht-aff ektiven Formen der Verarbeitung und des epistemischen Zugangs funktional unterscheiden lassen. Selbst wenn allen Denk- und Wahrnehmungsvorgängen irgendeine Form der Affi -zierung zugrunde liegen sollte, leisten z.B. rein kognitiv-symbolische Bezugnahmen auf Welt normalerweise etwas anderes als die aff ektiven Erregungen und Amalgamierungen von Körpern, Zuständen und Ob-jektbezügen. Kognitive Repräsentationen übernehmen primär die Funk-tion einer stellvertretenden Vergegenwärtigung von Abwesendem so-wie die Vergegenständlichung und zeichenhafte Objektivierung von Wahrgenommenem und Imaginiertem. Während aff ektive Schemati-sierungen Subjekt mit Objekt, Ursache mit Wirkung, Zeichen mit Be-zeichnetem tendenziell ineinander überblenden, tragen nicht-aff ektive Zugangsformen zur Welt zwischen Zeichen und Bezeichnetem eine ontologische und erkenntnistheoretische Kluft ein. Diese repräsentati-onsspezifi sche Kluft oder Diff erenz, welche die nicht-aff ektiven, kogni-tiven Operationen in die Wirklichkeit eintragen und als reale verhan-deln, ist im aff ektiven Modus des Bezugs auf Etwas eingezogen. In aff ektiven Zugängen zur Welt, und sei diese auch eine rein fi ktionale Welt, wie im Kino, wird das, was dabei begegnet, in die präsentische Positivität des Hedonisch-Somatischen transponiert. Kognitiv-symbo-lische Zugangsweisen und Gehalte können natürlich ihrerseits einen aff ektiven Wert erhalten. Doch dann wirken sie sich zugleich auch physisch spürbar aus und werden darin ihrerseits hedonisch-werthaft transformiert. Diese werthafte Transformation, so viel ist Compi zu entnehmen, ist eine Grundfunktion aff ektiver Modi.

Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten lässt sich das auch epis-temologisch Spezifi sche des Aff ektlogischen so konkretisieren: Was sich als und im Aff ekt niederschlägt, bringt auf amalgamierende und

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eher metonymisch als symbolisierend verfahrende Weise eine werthafte Transformation von Wirklichkeit zur Gegenwart, die als solche qua Selbstübertragung des Aff ektiven mitteilbar ist. Was hier als ‚amalga-mierende Funktion‘ aff ektiver Zugriff e und Wirkungen gekennzeich-net wird, also die biokybernetische Verkopplung von Subjekt und Ob-jekt, kann zudem mehr oder weniger stark oder schwach ausfallen, je nachdem welche Aff ektvariante vorliegt. Aff ektive Wirklichkeit ist so-wohl in fi ktionalen wie in realen Wirklichkeitssphären immer eine gra-dierbare.

1.4 Vier Modi aff ektiver Operationen

Versucht man nun einzelne Modi aff ektiver Operationen und deren Transformationsleistungen zu benennen, so sind meines Erachtens vier hervorzuheben, die sich weder gegenseitig ausschließen, noch erschöp-fend sämtliche Formen von Aff ektoperationen abdecken: 1) Der ky-bernetisch-amalgamierende Modus aff ektiver Operationen, 2) Der kontagiöse Modus bzw. die (selbst-)mitteilende Ansteckungskraft von Aff ekten, 3) Der haptisch-taktile Modus der Affi zierungen und 4) der evaluativ-präsentistische Modus aff ektiver Schematisierungen.

Führt der aff ektive Modus der biokybernetischen Durchdringung und Amalgamierung zu Vermischungen von Zuständen und bildet neue Qualitäten und Zustände aus (und zwar sowohl innerhalb von Körpern wie zwischen unterschiedlichen Körpern und Objekten sowie zwischen denen und unterschiedlichen Milieus), so vermögen Aff ekte hinsichtlich ihres kontagiösen Modus sprungartig ihre Träger zu wech-seln und/oder diese gegebenenfalls temporär begrenzt in eine geteilte Stimmungslage oder Atmosphäre hinein zu synchronisieren.

Mit dem taktilen Modus geraten diejenigen aff ektiven Wirkungspo-tenziale in den Fokus, die sich in der räumlichen Anordnung und/oder Berührung von aufeinanderfolgenden Dingen oder Zuständen entfal-ten. So können z.B. unmittelbar aufeinander folgende Bilder innerhalb einer fi lmischen Montagesequenz sich wechselseitig in ihrem aff ektiven Gehalt oder Ton beeinfl ussen, wobei sie darin, je nachdem, aufeinander ausbalancierend, irritierend, verstärkend oder auch ‚kommentierend‘ wirken können. Dieser Eff ekt ist deutlich im Kuleshov-Experiment vor-geführt worden. Auch so etwas wie gesteigerte Spannungserwartung oder Schockeff ekte, die durch eine kontrastreiche Montage von Bildern in Filmen hervorgerufen werden, können als Beispiele für die taktile Affi zierbarkeit des Filmischen aufgerufen werden. Auf Gemälde oder

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Architektur bezogen, kann zum Beispiel die räumlich nachbarschaftli-che Anordnung einer rauhen Oberfl äche neben einer samtenen eine aff ektiv-taktile Wirkung zeitigen, wobei ihre jeweiligen haptischen Qua litäten durch ihren Kontrast zueinander verstärkt werden. So ‚kom-mentiert‘ die rauhe Oberfl äche die samtene und vice versa. Und nicht zuletzt können sogar Gefühle auf andere Gefühle taktil einwirken, wenn sie z.B. in zeitlich-räumlicher Nähe zueinander auftreten. Eine sanfte Stimmung mag besonders fragil im Kontrast zu einer direkt auf die folgenden aggressiven Stimmungslage wirken, wobei allein durch ihr zeitnahes Auftreten fühlbare Vergleiche zwischen ihnen evoziert werden. Von solchen ‚Berührungseff ekten‘ leben speziell in ästhetischen Kontexten viele materielle Anordnungen.

Der evaluativ-präsentische Modus aff ektiver Zugangsweisen und Operationen schließlich ermöglicht die hedonisch-werthafte Transfor-mation von Wahrgenommenem und Imaginiertem, wie es u.a. von James und Compi beschrieben wurde. Für sämtliche aff ektiven Zu-gangsweisen und Schematisierungen gilt demzufolge auch, dass sie selbst eine hedonische Signatur tragen und d.h. im Prinzip selbstwahr-nehmend sind.

Affi zierungen sind und organisieren in all den genannten Operati-onsmodi Bewegungen von und zwischen materiellen, physischen Enti-täten, Körpern und Zuständen auf der Mikro- und Makroebene (so z.B. innerhalb menschlicher Körper zwischen den organischen, endo-krinen, peripheren, kognitiven etc. Funktionsbereichen oder auf der Ebene künstlerischer Darstellung, z.B. zwischen ihren (multi-)media-len Elementen), mit wirklichkeitsbildenden Eff ekten. Aff ekte sind und verursachen Zustandswechsel, wobei sie in unterschiedlichen Modi agieren, nämlich in intentionalen und nicht-intentionalen, die alle-samt wertend und (selbst)wahrnehmbar sind. Eben weil Aff ekte und die von ihnen ausgehenden Wirkungen materiell gebunden sind, las-sen sie sich auch an materiell-darstellerischen Medien ablesen, in und mit ihnen inszenieren sowie mit und an ihnen kommunizieren.

1.5 Mitteilbarkeit und Rationalität der Aff ekte

Dem expressiven und kommunikativen Charakter von Aff ekten haben unter anderem die biologischen Verhaltensforscher Charles Darwin und Paul Ekman große Aufmerksamkeit geschenkt. Beide gehen davon aus, dass es universell verbreitete Emotionen gibt, wie Furcht, Angst, Ekel und Freude, die überdies mit bestimmten körperlichen Ausdrucks- und

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Verhaltensmustern gleichzusetzen sein sollen.28 Aff ektive Zustandswech-sel seien überhaupt nur deshalb erkennbar, weil sie sich in typischen Ges-ten, Mimiken, Blicken, Tonfällen, Hautveränderungen (Erröten, Verblas-sen) sowie sprachlichen und nicht-sprachlichen Verhaltensweisen (Flucht, Abwehr- oder Anziehungsbewegungen etc.) ausdrücken würden. Die Körperoberfl äche erscheint dabei als ein kulturinvarianter Ort der trans-parenten Lesbarkeit aff ektiver Regungen und Erregungen. Auch wenn man nicht, wie Ekman und Darwin, von universellen Emotionen aus-geht, die noch dazu kultur- und geschichtsübergreifend invariant sein sollen, so ist immerhin klar, dass es ein kulturell je standardisiertes aff ek-tives Verhaltensvokabular gibt, das aff ektive Interaktionen und Kommu-nikationsformen erleichtert und ermöglicht.

Von der kontrollier- und lesbaren Ausdrucks- und Mitteilungsmög-lichkeit der Gefühle lebt nicht zuletzt die Kunst der Schauspielerei. Schauspieler müssen bekanntlich nicht die Gefühle selbst durchleben, um sie überzeugend vorspielen können. Das ist aber nur möglich, wenn wir von verlässlichen Verhaltensanzeichen für die Zuschreibung von Gefühlen ausgehen können. Eine Kritik an Gefühlen vorzuneh-men, etwa hinsichtlich ihrer Intensität, situativen Passung oder Au-thentizität, bedeutet u.a. ihrem Ausdruck nicht zu trauen oder diesen für unangemessen zu halten und damit einhergehend die mit ihnen verbundenen werthaften Wirklichkeitskonstrukte zu problematisieren. Auch das Fehlen aff ektiver Anzeichen kann situativ empören und zur Kritik führen.29 Die Rationalität von Emotionen ist insgesamt eine Funktion ihrer Situationsangemessenheit, die normativer Natur ist und sowohl historisch wie kulturell und, so wäre zu ergänzen, auch medial variiert. In paradigmatischen Szenarien, so hat es der Philosoph

28 Vgl. Charles Darwin, The Expression oft the Emotions in Man and Animals [1872], New York, 1965; und Paul Ekman, Emotions Revealed, New York, 2003. Dabei ist die Tendenz zu einem behavioristischen Reduktionismus durchaus ein Problem dieser und aller solchen Ansätze, die Affekte mit Verhaltensmustern gleichzusetzen versuchen, weil dabei sowohl die qualitativen Empfindungskomponenten, wie die kognitiven und kulturvariablen Dimensionen unterbestimmt bleiben.

29 Seit der psychoanalytischen Entdeckung des sog. ‚Unbewussten‘ sind wir es ge-wohnt, emotionale Selbsttäuschungen bei uns und anderen normal und sogar erwartbar zu finden. Emotionale Selbsttäuschungen zeigen sich auf Personen be-zogen nicht selten an der Diskrepanz zwischen einem emotionalem Verhalten und der expliziten Selbstbeschreibung der betreffenden Person. Manche Gefühle zu haben oder auch nicht zu haben, kann uns zum Beispiel peinlich sein oder ihre Ab- bzw. Anwesenheit nicht mit dem Selbstbild vereinbar sein (wie dann, wenn wir uns schuldig machen, aber keine Reue empfinden) oder situativ unangemessen sein, sodass Außenstehende sicherer als die betroffene Person selbst feststellen kön-nen, dass und welche Emotionen diese gerade tangieren oder ihr abgehen.

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Ronald De Sousa ausgeführt, erwerben wir durch Nachahmung und Sanktionen das einschlägige konzeptuelle Wissen davon, welche Ge-fühle in welchen Situationstypen kulturell angebracht sind und welche nicht.30 Worüber wir uns heute schämen oder schuldig fühlen (sollen), ist anders codiert, als etwa vor hundert Jahren. Dem ist hinzuzufügen, dass auch das Kino und andere Medien Schulen des Fühlens sind, de-nen wir sogar auf nachhaltige Weise Skripte – etwa solche der roman-tischen Liebe oder des (Anti)Heldentums – entnehmen.

Hier soll nun nicht weiter die Frage vertieft werden, welche sozialen, ethischen oder gar politischen Funktionen die mehr oder weniger be-wusst steuerbare Entäußerung, auch Camoufl ierung, Vortäuschung oder Leugnung von Gefühlen übernehmen können. Vielmehr interes-sieren an dieser Stelle des Rückbezugs auf aff ekttheoretische Konzepte aus der Biologie die dort hervorgehobenen Veräußerungsmöglichkei-ten und Kommunizierbarkeiten als strukturelle Merkmale von Aff ek-ten. Nicht erst im Ästhetischen, so ließe sich schließen, verlangen Ge-fühle von sich aus nach materieller Darstellung und Ausdruck.

Innerhalb der Philosophie der Gefühle wird mit besonderem Nach-druck die Frage erörtert, inwieweit der Erwerb des Wissens um die Unterscheidung und Zuschreibungsmöglichkeit von Aff ekten strikt sprachabhängig ist.31 Schuldgefühle z.B. erwerben wir zusammen mit einem Wissen von geltenden Regeln, Geboten und Normen. Gerade Schuldgefühlen und ihren Deckemotionen kommen in Gesprächsthe-rapien und Psychoanalysen ein Großteil der Bearbeitung zu, weil sie selbst komplexe Urteile und Konzepte z.B. von Verantwortung voraus-setzen, die sprachlich-kognitiv bearbeitbar sind. Die Fixierung auf die Frage nach der Sprachabhängigkeit im Rahmen der Philosophie der

30 Vgl. Ronald de Sousa, The Rationality of Emotions, Cambridge, 1991. Speziell die Klasse der Emotionen, zu denen u.a. Phänomene wie Freude, Verliebtheit, Furcht, Neid, Schuld, Angst, Stolz, Scham, Peinlichkeit u.v.m. zählen, zeichnet sich kog-nitivistischen Gefühlstheorien zufolge darüber aus, über die mit ihnen einherge-henden, höherstufigen, kognitiven Urteilsanteile, Meinungen oder propositiona-len Situationsbezüge, die als Skripte zu verstehen sind, individuiert zu sein. Scham ist von sich aus, d.h. ihrem Skript gemäß, z.B. thematisch stets auf Situationen bezogen, in denen die betroffene Person einen (vermeintlichen) Selbstwertverlust erfährt; Schuld ist wiederum ihrem Skript nach darauf formal bezogen, dass gel-tende und anerkannte Normen in den Augen der davon betroffenen Instanz ver-meintlich unrechtmäßig im eigenen Handeln oder Unterlassen überschritten wur-den; Stolz ist demgegenüber seinem Skript nach spezifisch auf die Erhebung des Selbstwertgefühls über selbst-zuschreibbare Leistungen oder Besitztümer bezogen usw. So lassen sich die formalen Objektbezüge und Themenfoki für die einzelnen Emotionstypen ausdifferenzieren.

31 Vgl. Voss, a.a.O., 2003.

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Gefühle lässt sich aus medienphilosophischer Sicht jedoch als zu ein-seitig kritisieren, müsste sie doch um die Einbeziehung anderer Medi-en ergänzt werden, im Umgang mit denen Menschen ebenfalls ihr konzeptuelles Verständnis von der Angemessenheit und Natur von Ge-fühlen und ihrer Zuschreibungsbedingungen lernen und ausdiff eren-zieren. Rollen- und Th eaterspiele gehören ebenso zu den medialen Formaten, in denen wir etwas über die Logik und den Charakter von gefühlsartigen Reaktionen lernen, wie Bilderbücher, Musikstücke und Filme. Szenische und bildnerische Darstellungen sowie spielerische Reenactments von belastenden Situationen gehören zunehmend auch zu den therapeutischen Interventionen, mit denen eine Korrektur und/oder ein systematisches Verlernen musterhafter Aff ektreaktionen und -erwartungen realisiert werden soll. Szenische Darstellungen können deshalb zu ‚Schulen des Gefühls‘ werden, weil sie ihrerseits mit den physisch bewegenden Materialitäten operieren, die aff ektiven Bewe-gungsvorgängen zugrunde liegen.

Für die sprachlich schwer fassbaren Atmosphären und Stimmungen gilt ohnehin, dass sie zu diff usen Rahmungen ganzer Handlungszu-sammenhänge sowie von Dingen, Orten und Darstellungen werden können. Traurigkeit, Erhabenheit, Fröhlichkeit, Melancholie können auch vom Anblick einer Stadt, dem Lichtspiel einer Landschaft, der Konfi guration eines abstrakten Gemäldes, einer fi lmischen Inszenie-rung oder vom Rhythmus eines musikalischen Arrangements ausge-hen. Das ist möglich, weil Atmosphären und Stimmungen generell eher räumlich sich ausdehnende oder zusammenziehende Bewegungs-ausrichtungen sind und metaphorisch greifbare Qualitäten aufweisen, die sich zum Teil nur synästhetisch erfahren lassen. Doch selbst die at-mosphärischen und stimmungsartigen Qualitäten lassen sich z.T. kriti-sieren, nämlich in ästhetischer Hinsicht. Ihre drückende Wirkung oder Fadheit stehen dann zur Disposition, ebenso ihre Motiviertheit und Ausgewogenheit innerhalb einer Situation. ‚Kitsch‘ ist z.B. eine ästhe-tische Kategorie der Kritik, die in pejorativer Weise ein Zuviel an Pa-thos im Verhältnis zur Sinndimension an einem Darstellungsformat feststellt.

1.6 Die Medialität des Aff ektiven zwischen Mensch und Medium

Die aff ektiven Operationsmodi – egal welchen materiellen Beschaff en-heiten, Ensembles und Körpern sie zugehören, sind, wie wir hörten, schematisierender, verbindender/trennender und generell transforma-

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torischer Art. Aff ekte durchziehen nicht zuletzt ästhetische Räume un-terschiedlicher Ausprägungen, die sie allererst zu Erfahrungsräumen machen. Mit Bezug auf ihre Migrations- und Distributionsmöglich-keiten lassen sich Aff ekte ihrerseits als mediale Phänomene begreifen. Sie weisen sogar die traditionell mediale Funktionen auf, sich und an-deres zu übertragen. Darüberhinaus bringen Aff ekte Bewegungen in und von Körpern zustande, die je nachdem, entweder eher richtungs-los oder eher objektorientiert sind. Die Orientierung von Bewegung durch Affi zierung hängt in Bezug auf organische Körper daran, dass Aff ekte Wertungen enthalten und entsprechend von Abschreckendem wegführen oder zu Anziehendem hinleiten. Aff ekte konstellieren mit-hin die Elemente, die sie wahlweise sympathetisch und amalgamierend verbinden oder antipathisch voneinander ablösen, kontrastieren, iso-lieren und abtrennen. Alle diese Funktionen (Ablösung, Kontrastie-rung, Isolierung, Trennung, Verbindung, Übertragung etc.) qualifi zie-ren Aff ekte als Medien, Boten und Akteure.

Aff ekte evozieren dort, wo sie wahrnehmbar werden, mimetische Verhaltensweisen, da sie vollständig nur auf nachgefühlte Weise zu-gänglich sind und damit stets bereits minimal kontagiös wirken. Die angemessene Wahrnehmung von aff ektiven Qualitäten, sei es an Men-schen oder an Dingen oder Filmen, ist selbst also immer schon affi zier-te Wahrnehmung. Aff ektive Qualitäten werden in resonanter Einfüh-lung perzipiert. Sich einer melancholischen Melodie, einem traurigen Th eaterstück oder einem melodramatischen Film auszusetzen, bewirkt beim Betrachter normalerweise eine Art spiegelnder Mitfühlung eben dieser Qualitäten. Doch zugleich wird in jeder mimetischen Reaktion auf eine aff ektive Darstellung dieser im Rückwirkungseff ekt etwas Neues hinzugefügt. Melancholische Bild-Darstellungen werden z.B. im Verlaufe ihres Nachvollzugs mit einer lebendigen Innenseite ausge-stattet. Sobald die kinästhetische Nachempfi ndung eines Dargestellten zur Grundlage der Projektion eines kinästhetischen Innen darauf führt, ist das Dargestellte, wie es u.a. Sartre in seiner Abhandlung über das Imaginäre ausdrückt, aff ektiv transformiert.32 Innerhalb des aff ektiven Nachvollzugs, der zumindest eine partielle Aff ektübertragung und -verteilung mit sich führt, sind die Grenzen zwischen Innen und Au-ßen, Subjekt und Objekt, Ursache und Wirkung in eine unbestimmte Schwebe versetzt. In der affi ziert-affi zierenden Begegnung zwischen Mensch und Mensch sowie zwischen Mensch und Medium ist somit

32 Vgl. Jean Paul Sartre, Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbil-dungskraft [1940], Reinbek, 1994.

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eine eindeutige Unterscheidungsmöglichkeit zwischen eigentlichem Trägersubjekt des Aff ekts und seinem Außen, zwischen Input und Out-put, unterlaufen.

Immersive Formen der Rezeption ästhetischer Gebilde und speziell der von Filmen unterlaufen deshalb die Souveränität eines vermeint-lich außenstehenden Betrachters und machen letzteren stattdessen zum Implikat des fi lmischen Gebildes. In der Tradition der Einfüh-lungstheorie hat Th eodor Lipps dies als den Eff ekt der ästhetischen Verlebendigung beschrieben.33 Was wir über Einfühlung beantworten und dergestalt mit Gefühlsqualitäten ausstatten, erscheint uns im Er-gebnis dieser Prozedur entsprechend lebendig.34

In seiner akustischen Bewegtbildlichkeit  – und Bewegung ist der Motor und Grundmodus aller aff ektiven Operationen –, vermag spezi-ell das Filmmedium eine gesteigerte Form von Lebendigkeit hervorzu-bringen. Der lebendige Realitätseindruck des Filmischen hängt maß-geblich davon ab, dass seine aff ektiven Qualitäten auch auf aff ektiv wirkende Weise aktualisiert werden. Das eigentlich mimetische Poten-zial des Filmischen liegt von daher weniger auf der Ebene der repräsen-tationalen Darstellung und Anähnelung der Erzählung (story und plot) an eine außerfi lmische Geschichtlichkeit und Wirklichkeit, als vielmehr, dem gegenüber vorgängig, in der Kraft zur Affi zierung und aff ektiven Transformation. In der Vermittlung und wechselseitigen Übersetzung von Bewegtbildlichkeit und Aff ektivität besteht dann die magische sowie realistisch wirkende Animationskraft des Filmischen. Animationskraft ist aus dieser Perspektive nicht allein ein kennzeich-nendes Merkmal von Zeichentrickfi lmen. Animation meint seiner Wortbedeutung nach Belebung, Beseelung und wörtlich sogar Beat-mung (lat.: animus/anima = Seele, Atem, Leben) und ist eine Funktion sowohl der fi lmtechnischen Anordnung von Ton und Bild wie auch der fi lmischen Rezeptionsakte.

Eine Einschränkung ist jedoch an dieser Stelle vonnöten, welche die bisherigen Ausführungen in ihrer Gültigkeit auf den Typus des spezi-fi sch ästhetischen Umgangs mit Film einschränkt. Es gibt schließlich unterschiedliche Rezeptionstypen, die unterschiedliche Eff ekte mit sich führen. Ein Filmtheoretiker oder -kritiker wählt z.B. in einer Ana-

33 Vgl. Theodor Lipps, Leitfaden der Psychologie, Leipzig, 1903. 34 Kinästhesien sind in der Psychologie und Medizin bestimmt als „[…] Empfindun-

gen der Bewegung des Körpers als Qualität der Tiefensensibilität“, in: Psychrembel Klinisches Wörterbuch, 257. Auflage, Berlin, 1994, S.  778. Synästhesien werden dort bestimmt als „[…] Mitempfindung in einem Sinnesorgan bei Reizung eines anderen; z.B. Farbempfindung bei bestehender Hörempfindung.“, ebd., S. 1494.

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lyse des Films einen anderen methodischen Zugang, als jemand, der einen Film nebenbei im Fernsehen sieht und beide wiederum unter-scheiden sich im Zugang zum Filmischen von der Form konzentrierter Zuwendung über die ganze Laufzeit des Films im Kino oder auch auf dem Bildschirm zu Hause. Nur die zuletzt genannte, konzentrierte Form der Zuwendung zum Filmgeschehen ermöglicht überhaupt so etwas wie eine dezidiert ästhetische Erfahrung. Und nur in dieser Hal-tung stellt sich der fi lmspezifi sche Lebendigkeitseff ekt mit seinen viel-fachen Wirkmöglichkeiten ein. Analytische Operationen, die auf die Zergliederung des Films in seine narrativen und fi lmsprachlichen Ele-mente zielen, folgen einer Logik der Fragmentierung und einer Her-meneutik des pars pro toto. Im Rahmen ästhetischer Erfahrungen von Filmen jedoch wird das fi lmische Material geradewegs umgekehrt zu einem aff ektiv besetzten Amalgam zusammengezogen. Tragen analyti-sche Operationen eine logische Subjekt-Objekt-Trennung in die Bezie-hung von theoretischer Beobachterperspektive und technischem Film-geschehen ein sowie nochmals zwischen den Teilsequenzen des Films selbst, die den Analysierenden in die Position der Distanz gegenüber dem Geschehen versetzen, so verlaufen ästhetische Rezeptionsweisen über aff ektive Berührungen mit dem Film, die diesen zu einem hybri-den Ganzen verdichten. Das Ästhetische, so hat es bereits im anderen Kontext Nietzsche schon in Bezug auf Wagner ausgeführt:

„[…] zeigt sich darin, dass es in sichtbaren und fühlbaren Vorgängen, nicht in Begriffen denkt, das heißt, dass es mythisch denkt. [..] Dem Mythus liegt nicht ein Gedanke zu Grunde, wie die Kinder einer ver-künstelten Cultur vermeinen, sondern er selber ist ein Denken; er theilt eine Vorstellung von der Welt mit, aber in der Abfolge von Vorgängen, Handlungen und Leiden. Der Ring des Nibelungen ist ein ungeheures Gedankensystem ohne die begriffliche Form des Gedankens.“35

Aff ektive Übertragungskraft, wie sie Filmen eignet und in diese zu-rückläuft, ist nichts Esoterisches. Wir kennen aff ektive Übertragungs-mechanismen auch aus anderen Bereichen als denen des Kinos: So übertragen sich Lachkrämpfe z.B. häufi g unmittelbar auf ihre Zeugen, die dafür nicht einmal wissen müssen, was der Grund oder Auslöser für sie ist. Die Erhabenheit und zur Demut aufrufende Atmosphäre eines Gebäudes, wie sie sich in manchen Kirchen fi ndet, können sich auf

35 Friedrich Nietzsche, „Richard Wagner in Bayreuth“, in: Giorgio Colle und Maz-zino Montinari (Hg.), Kritische Studienausgabe. Nachgelassene Schriften, Berlin, 1982, S. 485.

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ihre Besucher ebenfalls instantan übertragen. Zustände der Begeiste-rung oder auch der Panik und Wut übertragen sich außerdem zügig auf die Vielen in Stadions und Konzerten. Und die gemeinsam gesteigerte Empörung ist ein häufi g zu fi ndender Grundzug vieler politischer De-monstrationszüge. Massenformationen lassen sich geradezu nicht ohne ansteckende Aff ektübertragung denken.

Das hat nicht zuletzt Gustave Le Bon in seiner Abhandlung über die Massenpsychologie zu der skeptischen wie faszinierten Diagnose geführt, in den unbewussten und vor allem aff ektiven Kräften die ra tionalitäts- wie aufklärungsresistenten Faktoren von Kulturbildung schlecht hin zu erblicken. So schreibt er:

„Unter den Massen übertragen sich Ideen, Gefühle, Erregungen, Glau-benslehren mit ebenso starker Ansteckungskraft wie Mikroben. Diese Erscheinung beobachtet man auch bei Tieren, wenn sie in Scharen zu-sammen sind.“36

Ansteckungen sind in ihrem Ausmaß, wie alle Affi zierungen, hinsicht-lich ihrer Intensität skalierbar. Ein gewisses Maß an Synchronisierung von Aff ekten fi ndet in Kinos ebenso statt wie letztlich in jeder Situati-on, in der Einfühlung vorkommt. Das bis zur rauschhaften Massen-hysterie sich steigern könnende Affi zierungspotenzial synchronisierter Einstimmungen von Massen stellt nur eine spezifi sche Färbung mögli-cher Aff ektübertragungen dar. Deren gezielte Hervortreibung ist nicht zuletzt von den griechischen Dionysosfesten überliefert und grundiert bis heute auch noch die exzessiven Auswüchse der Karnevals dieser Welt sowie manche popkulturellen Großveranstaltungen (z.B. der Love Parade). In Rauschzuständen der Massen zeigt sich auf pointierte Weise die entgrenzende und mitreißende Kraft des Aff ektiven. Rausch-zustände können dosiert genießbar sein, in gesteigerter Form wieder-um leidvoll oder sogar anästhesierend wirken, sodass ihnen exzessive Gewalt- oder Sexexzesse entspringen können, an die sich später keiner mehr erinnern kann oder will.

Dem Rauschhaften hat Nietzsche deshalb in seiner Abhandlung über die griechische Tragödie, die den im 4. Jh. v. Chr. in Griechenland zwei Mal jährlich stattfi ndenden Dionysosfesten entsprungen ist, das begrenzende Individuierungsprinzip des Apollinischen entgegenge-

36 Gustave Le Bon, Psychologie der Massen, Stuttgart, 1938, S. 106. Ein überhisto-risch angeblich nachweisbares wie aufklärungsresistentes Kulturphänomen, das diese Kräfte unter anderem auch belegt, ist für ihn u.a. der Aberglaube.

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stellt.37 Als ästhetisches Genussprinzip reicht der dionysische Rausch Nietzsche zufolge nicht aus, weil Rauschzustände letztlich in zuneh-mend entdiff erenzierender Form abtöten, woran sie sich zunächst lust-voll aufbauen. Um etwa eine Tragödiendarstellung ästhetisch rezi pieren zu können, braucht es Nietzsche zufolge beides: die partiell entgren-zende, rauschhafte Involvierung in das künstlerische Geschehen zum einen und eine dazu gegenläufi ge, diff erenzierende Abgrenzung davon zum anderen. Erst wenn dionysische und apollinische Bestrebungen wechselwirken und sich einander aufheben, so Nietzsche, kommt es zur eigentlichen ästhetischen Erfahrung von etwas.

Auf das Filmische bezogen ist es interessant, sich zu überlegen, in-wieweit immersive mit anderen, diff erenzierenden Formen der Aff ekt-modulierung abwechseln müssen, um ästhetisch goutierbar zu bleiben. Gemeinhin ist die Intuition die, dass immersiven Verstrickungen eine anästhesierende Kraft entgegenzuarbeiten hätte, um die Rezeption ei-nes Films aus einer bloßen Unterhaltungslogik hinaus und in ein eher refl exives Format einer nicht-determinierenden Sorte hinein zu führen. Die Freiheit im Umgang mit Filmen soll gewahrt bleiben, wo er nicht ein bloßes Manipulationsmedium sein will.

Das aff ektive Phänomenspektrum, das von globalen Stimmungen über Atmosphären, hedonischen Erregungszuständen und Kinästhesi-en bis hin zu gegenstands- und sachverhaltsbezogenen Emotionen reicht, wird in Filmen stets zugleich darstellerisch wie medial aufgeru-fen und moduliert. Für das fi lmische Medium ist die Doppelung von Modulierung und darstellerischer Verhandlung von Aff ekten charakte-ristisch und basal. Einerseits sind aff ektive Qualitäten an den innerdie-getischen Figurationen und Handlungsabläufen ablesbar. Sie entfalten sich andererseits zugleich in der Berührung des Betrachters mit dem audiovisuellen Setting, der Rhythmisierung und der Akustik des Films im Ganzen. Dass Aff ekte ihre Positionen verlassen und physische Grenzen überspringen können, etwa indem sie von einer Person auf andere Personen innerhalb einer fi lmischen Handlung überspringen oder auch von Szene zu Szene, von Einstellung zu Einstellung, von Schnitt zu Schnitt atmosphärisch übergehen können oder auch von Leinwand zum Rezipientenkörper und vice versa, entspricht der Anste-ckungslogik des Aff ektiven (d.h. ihrem kontagiösen Modus). Ohne deren aktive Operativität bliebe ein Film als Film tot. Die Eigenbewe-

37 Vgl. Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, Stutt-gart, 2006.

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gung des Filmischen hängt an seinen aff ektiven Operationen und de-ren Verläufen.

Alle Filme nehmen zudem auch eine eigene charakteristische aff ek-tive Tönung an, selbst wenn diese vielleicht im Einzelfall schwer zu beschreiben ist. Besonders deutlich ist das bei Filmen, die eine Auto-renhandschrift tragen. Denkt man an Filme von Hitchcock, Truff ault, Bergmann, von Trier oder Sophie Coppola u.v.a.m. so ist ihre Werk-verbindende Signatur primär eine gesamtatmosphärische, die über alle einzelnen Filme superveniert. Aff ektübertragung verläuft in dieser Hinsicht als vereinheitlichende Tönung der unterschiedlichen Filme eines Regisseurs/einer Regisseurin, manchmal, wie z.B. in der Berliner Schule, sogar zwischen unterschiedlichen Werken unterschiedlicher Regisseure und/oder wie im Falle von Béla Tarr zwischen den Sequen-zen eines Films.

Wenn wir wiederum den drastischen Sarkasmus einer Serie wie BREAKING BAD über ihre Episoden hinweg als ihren gemeinsamen Ton vergegenwärtigen, um diese hier nur aus Anschaulichkeitsgründen auf eine Aff ektqualität zu reduzieren, so haben wir damit ebenfalls eine Logik der Ansteckung bzw. der Aff ektübertragung aufgerufen, die zwi-schen den Folgen und Episoden der Serie vermittelt. Die sarkastische Aff ekttönung von Breaking Bad verlässt den Rahmen des Bildschirms und wandert über dessen Schwelle hinaus ins Publikum, wo sie aller-erst zur aktuellen Erscheinung kommen kann. Dass Aff ekte in diesem Sinne zwischen ontologisch eigentlich unüberbrückbar scheinenden Raum-Zeitordnungen hin und her vaszieren können, ermöglicht es ih-nen, die Vermittlungs- und Überbrückungsleistung zu erbringen, die darin besteht, unterschiedliche Medien und Körper in ein lebendiges gemeinsames Habitat zu versetzen.

Bereits der klassischen Kunstbetrachtung, wie wir sie etwa in der Poetik des Aristoteles fi nden, lässt sich entnehmen, wie anhand von darstellerischen Formaten (wie der Tragödie und Komödie) genrespezi-fi sche Aff ekte innerhalb eines ästhetischen Handlungs- und Auff üh-rungsrahmens konfi guriert werden, die dann auch die Übertragungs- und Rückübertragungsleistungen des Publikums animieren. Diese aff ektive Medialität des Ästhetischen (und ästhetische Aff ektivität des (Film-)Medialen) fungiert im Fall der Tragödie speziell als die katharti-sche Involvierung des mitleidenden Betrachters; im Falle der Komödie ist es die Affi zierung einer lustvollen Refl exivität angesichts ihrer Ver-strickungen und Verdrehungen, in der das Genre zu sich kommt. So oder so ist es nicht eine rein distanzierte Identifi zierung der dargestell-ten Aff ekte, die ästhetisch wirkt und auch nicht die im rein Psycholo-

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gischen verbleibende Wiedererkennung eigener Aff ekte, welche die gewünschten Wirkungen erzielen. Erst im Durchleben von Aff ekten zweiter Ordnung, also solcher Aff ekte, die die zur Darstellung gebrach-ten Gefühlslagen, Emotionen und Atmosphären erster Ordnung als Ursache oder Objekte in sich aufnehmen (wie immer kommentierend, verstärkend, neutralisierend sie dies auch tun) und werthaft transfor-mieren, kommen ästhetische Aff ekte in den unterschiedlichen Genre-Registern zustande.

Im Kino ist die ästhetische Konfi guration und Animierung von Af-fi zierungen zweiter Ordnung nicht auf genrespezifi sche Aff ekttransfor-mationen wie Katharsis, Vergnügen, Mitgefühl etc. eingeschränkt. Die medial konfi gurierten Affi zierungsströme, die jeden Filmfl uss als sol-chen antreiben und auch zwischen Leinwandgeschehen und Rezipien-tenkörper verlaufen, sind heterogen und gehören noch vor aller Genre-diff erenzierung zu den kinematographischen Grundoperationen.

Den räumlichen aus- und übergreifenden Affi zierungen der Kinofi l-me eignet immer auch eine zeitorganisierende und zeitsomatisierende Dimension. Das Tempo und der narrative Rhythmus, in denen eine audiovisuelle Erzählung voranschreitet, sind von zentraler Bedeutung für ihre Gesamtausstrahlung. Ob ein Film oder auch nur einzelne fi l-mische Sequenzen statisch wirken oder dynamisch, heiter oder melan-cholisch, angsteinfl ößend oder verführerisch, ist nicht zuletzt maßgeb-lich von der empfundenen Langsamkeit oder Schnelligkeit abhängig, mit dem sich ein Filmfl uss bzw. seine Elemente in die Wahrnehmung einlagern. Filmisches Tempo ist nicht nur eine technische Frage der messbaren Schnittgeschwindigkeit, sondern auch abhängig von den aff ektiven Stimmungsqualitäten des Lichts, Sounds und der Mise-en-Scene sowie von dem Typus dargestellter Emotionen. Werden etwa in der Ausstattung, Sprache und Musik eines Films Qualitäten des Schril-len bevorzugt, so wird auch dessen Zeitlichkeit auf spitze und punk-tierte Weise erlebt werden. Und wo wir schwerfälligen Bewegungen von Körpern in Bildern folgen müssen, wie bei Béla Tarr z.B., erleben wir auch die fi lmische Zeit insgesamt eher als eine zerdehnte. Und in Bezug auf Szenenfolgen, die, wie in Western üblich, den Kontrast zwi-schen Ruhe und Explosionen nutzen, erleben wir die Erzählzeit als eine atemlos-spannungsvolle usw.. Auch vereinzelte Elemente eines fi lmi-schen Ensembles können zeitsomatisierende Wirkungen haben. So si-gnalisiert zum Beispiel allein die Stimme von Woody Allen per se ihre Zugehörigkeit zu einem komischen Register, weil sie in brüchiger Ton-lage eine stakkatoartige Lautfolge produziert, die unabhängig vom In-halt dessen, was sie sagt, eine ständige Aufregung anzeigt und erzeugt.

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Diese stimmlich-rhythmisch vermittelte Grundaufgeregtheit fungiert als ein aff ektives Element erster Ordnung innerhalb von Woody Allen Filmen, als eine Art eigenständiger aff ektiver Taktgeber, der jeglichen ästhetischen und refl ektierten Mitvollzug (Verstehen zweiter Ordnung) der fi lmischen Komik insgesamt grundiert.

Von der aff ektspezifi schen Amalgamierung und Rhythmisierung seiner Elemente und seines Zeitfl usses hängt die Fluidität oder eben auch die Brüchigkeit des Filmischen in der Wahrnehmung ab. Das Fluide des Filmischen muss sich zumindest zu einer greifbaren Atmo-sphäre verdichten können, wenn das Ergebnis (das gilt auch für Serien und Installationen) nicht gänzlich konturenlos sein will.38 Wo die at-mosphärische Signatur einer künstlerischen Arbeit spürbar aufscheint, kann sie sich im entsprechend raumgreifenden Modus übertragen. In fi lmästhetischen Aff ektübertragungen überlagern sich jeweils die hori-zontalen (oder syntagmatischen) Affi zierungen, die zwischen den Bil-dern und Tönen des bewegtbildlichen Stroms verlaufen, mit der tan-gentialen (oder pragmatischen) Vektorialität der aff ektiven Ausstrahlung des Leinwandgeschehens in den Zuschauerraum hinein. Aus dieser insgesamt aff ektiv aufgeladenen Interaktion von Technikgeschehen und den darin immersiv eingespeisten organischem Körperfunktionen bildet sich ein gemeinsames Drittes aus: die ästhetische Fiktion der kinematographischen Installation. Oder um es in unserer Begriffl ich-keit auszudrücken: Die emergierende ästhetische Wirklichkeit des Fil-mischen (d.h. ihre Fiktion) ist eine Funktion ihrer anthropotechni-schen Relationierungen im Medium der Affi zierung. Eine solche anthropomediale Verschränkung, die in Bezug auf das Filmische pri-mär im Medium von Affi zierung prozessiert wird, lässt sich besonders deutlich dort fassen, wo ihre Verfertigung sichtbar gemacht und von der Arbeit selbst refl ektiert wird. Das führt zum zweiten Teil des Auf-satzes und damit zur Analyse von Th e Clock.

38 Man denke nur an die unverwechselbaren Atmosphären der Filme von Rainer Werner Fassbinder oder der Musikvideos und Fotos von Anton Corbijn oder auch von Jim Jarmusch oder Wong Kar-Wei, um nur beliebige Beispiele zusätzlich zu den bereits genannten anzuführen.

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2. Th e Clock

Bei der künstlerischen Arbeit THE CLOCK (2010) von Christian Mar-clay handelt es sich um eine vierundzwanzigstündige Filminstallation, für die Marclay aus Tausenden von Filmen, quer über die Genres und siebzig Jahre Filmgeschichte hinweg, ausschließlich solche Sequenzen miteinander verknüpft hat, in denen dezidiert Uhren vorkommen. Die Zeitmaschinen sind in allen möglichen Formaten, Designs und Grö-ßen zu sehen oder werden teilweise nur in Dialogen aufgerufen, etwa wenn jemand die Uhrzeit erfragt oder nennt. Manchmal wird das durchlaufende Motiv der Zeitmaschinerie auch nur auf der Soundebe-ne als Weckerklingeln, Ticken der Sekundenzeiger oder als Glocken-schlag vernehmlich. Das Besondere an der rund-um-die-Uhr dauern-den und sich drehenden Installation ist neben ihrer beeindruckenden kaleidoskopartigen Sammlung fi lmischer Uhrszenen etwas Performati-ves. Die Installation zeigt nicht nur in Bild und Ton an, wovon sie handelt. Sie ist auch selbst das, wovon sie handelt, nämlich ein chrono-metrisches Gebilde oder kurz: eine Uhr. Ob die Installation in New York (Paula Cooper Gallery), Paris (Centre Georges Pompidou) oder Venedig (Biennale 2011) gezeigt wird: Ihr Vierundzwanzig-Stunden-Rhythmus wird jeweils passgenau mit der lokalen Zeit ihres Präsenta-tionsortes synchronisiert, sodass die fi lmisch präsentierten Uhrzeiten, Minuten- und Sekundenwechsel tatsächlich auch die reale Zeit des Betrachters vor Ort anzeigen. Die Installation THE CLOCK gilt es im Folgenden daraufhin zu befragen, auf welchen Ebenen sie ihre bewegt-bildliche Zeitlichkeit in affi zierende Bewegung übersetzt, mit welchen konkreten Aff ektevokationen sie operiert und wie sie dabei ihre ganz spezifi schen anthropomedialen Verschränkungen vornimmt.

2.1 Epistemische Affi zierung: Überraschung und Irritation als Lenkungsprinzipien

Wer nicht vorinformiert die fi lmische Installation THE CLOCK betritt, die jeweils in einem kinematographischen Setting auf einer großen Leinwand vor frontal davor aufgebauten Stühlen in den Galerien und Museen gezeigt wird, realisiert ihren performativen Clou meist nicht sofort. Zunächst hält man die irgendwann auff allende Koinzidenz von angezeigter Uhrzeit in den Filmausschnitten und der eigenen Uhrzeit für zufällig. Das ist schon deshalb naheliegend, weil wir aus der Praxis des Umgangs mit fi ktionalen Gebilden gelernt haben, diesen eine ab-

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geleitete Quasi-Wirklichkeit zuzuschreiben, die von unserer empiri-schen ontologisch abgetrennt ist. Bald jedoch wiederholt sich die Be-obachtung der Übereinstimmung von ablesbarer Uhrzeit on-screen mit der Uhrzeit off -screen und man überprüft nun systematischer die merkwürdige Stimmigkeit der Zeiten und die Genauigkeit der fi lmisch präsentierten Uhrzeiten durch wiederholte Zeitvergleiche. Man be-ginnt sich allmählich so zu verhalten, wie man es zu tun pfl egt, wenn man eine Uhr stellen will. Währenddessen gelangt man schließlich zu der Folgerung, dass die Uhrzeiten in THE CLOCK ‚richtig‘ sind. Dieses Heureka-Erlebnis ist geradezu ein schockartiges.

Während der erste Blick auf die Film-Installation sie als einen mehr oder weniger assoziativ zusammenhängenden Bilderreigen zur Filmge-schichte deutet, erhält die fi lmische Installation ab dem Moment der Entdeckung ihres eigenen chronometrischen Charakters einen neuen inneren Zusammenhang. Das Gesetz der Zeit, wie es in chronometri-scher Technik zur Bemessung und Darstellung kommt, überführt die Montage der Filmausschnitte in einen strikt getakteten Zusammenhang sowie in den Wiederholungsrhythmus ihres vierundzwanzigstündigen Ablaufs. Dass man nicht sofort darauf kommt, die eigene Uhrzeit mit der auf der Leinwand über viele Uhren verteilten Zeitangaben ins Ver-hältnis zu setzen, liegt neben dem bereits genannten Grund auch daran, dass die Montage der Filminstallation nicht einfach additiv verfährt und etwa, wie es der Biennale-Katalog zur Installation tut, ein Bild, in dem eine Uhr vorkommt, an das nächste reiht. Vielmehr geht Marclay in die Handlungsstränge und Dialoge der montierten Filmszenen und Einstellungen hinein, verfolgt eine Zeit lang ihre narrativen Stränge, sodass der Betrachter den Uhren, die immer irgendwann im Bildraum erscheinen, zunächst keine spezielle Aufmerksamkeit schenkt.

Sind Uhren normalerweise in Filmen bloße Requisiten, so werden sie in THE CLOCK zum zentralen dinglichen Zeichen ab dem Moment, ab dem man die Uhr als tertium comparationis aller Filmausschnitte begreift. Ab dann beginnt jede einzelne fi lmisch präsentierte Szene mit Uhr auf die nächste Uhr(-szene) zu verweisen, wobei dieser Verwei-sungszusammenhang eine Art roten Faden der Installation bildet. Das Ganze wird damit zu einer Art bewegtem Wimmelbild, das ab der Ent-deckung des Uhrcharakters der Installation zunehmend nur noch nach weiteren Uhrmotiven durchforscht wird. Im Zuge dieser neuen Fokus-sierung auf das Sammeln und Herausfi nden von Uhrbildern in der Installation stellt sich so etwas ein, wie die platonische Idee von einer Uhr ‚an sich‘, die in Abstraktion von ihren je konkret präsentierten Varianten, allen diesen singulären Motiven der Filmcollage zugrunde-

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liegt. Auch diese abstrakte bis sinnlose Idee einer ‚Uhr an sich‘ lässt sich als ein Emergenzphänomen fassen, das der Beschäftigung mit der Ins-tallation entspringen kann. Und wo sie es tut, wirkt eine solche plato-nische Idee auch auf die ästhetische Wahrnehmung der Installation zurück. Aus einem Requisit, nämlich aus dieser und jener konkreten Uhr, die jeweils in den wechselnden Bildern zur Erscheinung kommt, wird vermittelt über die aff ektive Transformation, die während der Re-zeption vonstatten geht, gleich dreierlei: Die Uhr wird in THE CLOCK 1) zur abstrakten Idee und 2) zugleich zu einem dinglichen Meta-Zei-chen und 3) rückt die titelgebende Uhr geradezu in die Position eines polymorphen Filmstars. Zwischen diesen im Prinzip auseinanderfal-lenden Deutungen und Herangehensweisen an die Uhren in der Film-collage besteht kein anderer Zusammenhang und Kitt als die Affi zie-rungen, die von ihnen ausgehen und eben in Form dieser Deutungen in die Bilder zurücklaufen.

Speziell die Aufwertung eines fi lmischen Dings oder Elements wie der Uhr zum Star führt zu einem neuen hierarchischen Verhältnis der fi lmischen Elemente insgesamt. Eine solche Umordnung, die THE CLOCK an seinem Material vollzieht, entspricht einer geradezu ins Ab-surde gesteigerten Form der Brecht‘schen Aufwertung der Dinge ge-genüber der Handlungslogik und dem Personal, die er als Verfrem-dungs-Eff ekt für das Th eater ausformulierte. Diese Umwertung und Re-Hierarchisierung zwischen Personen und Dingen auf der Darstel-lungsebene wird in THE CLOCK besonders dadurch markant, dass Mar-clay bevorzugt Film-Ausschnitte aus kanonischen Hollywoodfi lmen der 60er, 70er und 80er Jahre wählt, die ihren eigenen Fokus gerade nicht auf die Dinge im Film, als vielmehr auf anthropozentrische Er-zählhandlungen sowie auf eine glaubwürdige Psychologie legen. An-ders also als es Marclays installative Rahmung der Spielfi lmausschnitte tut, verweisen die darin an- und aufgeführten Filmausschnitte auf das traditionelle Erzählprinzip der Unterordnung der Dinge unter die Funktionalität und Transparenz narrativer Dramaturgie (Story und Plot). Doch was immer die innerhalb der zitierten Filme zu sehenden Uhren ursprünglich für eine diegetische Funktion hatten, sie verlieren diese in der neuen Anordnung in THE CLOCK. So bürstet Marclay das montierte Material gegen den Strich und entreißt dergestalt das Kino dem Kino und zwar im Format der fi lmischen Installation. Das alles geschieht jedoch innerhalb eines traditionell wirkenden, kinematogra-phischen Settings, das durch die frontal vor dem Zuschauerraum auf-gebaute Leinwand, den abgedunkelten Saal etc. als Präsentationsrah-men der Installation simulierend beibehalten wird.

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Die irgendwann schockartig einsetzende Überraschung und dann anhaltend irritierte Faszination über die Uhrfunktion der Installation selbst sind die spezifi schen Aff ektnuancen, die die Aufmerksamkeit des Betrachters an den unwahrscheinlichen Fortlauf der Installation bin-den. In dieser Hinsicht übernehmen Aff ekte, die von der Installation aufgerufen werden, ihre ureigene motivationale Aufgabe für die Rezep-tion: Schock und Überraschung motivieren die wie immer irritierte Zuwendung der Aufmerksamkeit zum installativ angeordneten Mate-rial und Geschehen. Das eben ermöglicht erst ihre ästhetische Erfah-rung und Verlebendigung.

2.2 Ästhetischer Genuss der Zeit- und Selbstüberschreitung

Überraschung und Faszination betreff en bald jedoch nicht mehr bloß die Entdeckung der performativen Pointe der Arbeit. Eine einmal ver-standene Pointe verpuff t bekanntlich so schnell wie eine Punchline und hätte nicht die aufmerksamkeitsbindende Kraft, die THE CLOCK aber hat. Die ästhetische Kraft der Installation basiert auf einem jedoch eng mit ihrer Pointe verbundenem, gleichwohl tiefer reichenden As-pekt, der zugleich ein anti-fi lmisches Moment einführt: Die Installati-on begnügt sich nämlich nicht damit, in ihrer Bild-Tonkonfi guration einen irrealen Möglichkeitsraum zu konstruieren und diesen gegen ei-nen Raum der außerfi lmischen Wirklichkeit spielerisch abzugrenzen. In dieser Hinsicht grenzt sich die Installation vom herkömmlichen Er-zählkino ab, mit dem sie gleichwohl zitierend arbeitet. Vielmehr als eine erzählerische Illusion aufzubauen, ermöglicht die Installation in einem wörtlichen Sinne eine eigentlich unmögliche Transgression von Zeit. Sie überschreitet im technischen Gewand der Uhrzeit die ontolo-gische Schwelle zwischen dem Leinwandgeschehen und dem Zuschau-erraum, den sie gewissermaßen kolonialisiert.

Während Zeit in der Installation einerseits als ein Operationsmodus der Bemessung der Ungleichzeitigkeit unterschiedlicher fi lmischer Ereig-nisse aufgerufen wird, erhält sie zum anderen in der Dinglichkeit wieder-holt vorkommender Uhren eine wahrnehmbare Gestalt und Präsenz. Zeit, so könnte man kurzschließen, wird demnach nicht wie in der Kantischen Auff assung als eine Form der Anschauung verstanden. Sie erscheint viel-mehr als ein historisierbares Produkt einer technischen Erfi ndung.39

39 Vgl. Peter Galison, Einsteins Uhren, Poncarés Karten. Die Arbeit an der Ordnung der Zeit, Frankfurt am Main, 2002.

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Doch der Zusammenhang zwischen einem kantischen Zeitverständ-nis, wonach Zeit als Auff assungsform begriff en wird und einem sol-chen, das die technische Bedingtheit und Konstruktion von Zeitmess-geräten hervorstellt, ist in Wirklichkeit vielleicht enger, als man auf den ersten Blick meint. Denn was Kant unter dem inneren Sinn, d.h. dem Zeitsinn, versteht, ist ja nichts anderes, als die Unterscheidungsopera-tion, die ein Vorher von einem Gleichzeitig-mit und Nachher abtrennt. Auf diese temporale Phasendiff erenzierung werden Kant zufolge sämt-liche (an sich ungeordneten) Wahrnehmungseindrücke und Vorstel-lungen strukturbildend zurückbezogen und damit erst in ein über-schaubares Ordnungsverhältnis versetzt. Ein so verstandener innerer Sinn, der genauer ein Sinn für Diff erenzierung und Unterscheidung sowie für Anordnung ist (und ‚Zeit‘ genannt wird), kann nun natürlich auch technisch unterstützt und ausdiff erenziert werden. Dies ist es ja, was Uhrwerke mit ihrer sekundenteilenden Feingliederung der Zeit tun. Die Funktionstüchtigkeit der Uhr besteht für den inneren Ord-nungssinn genau darin, die von diesem Sinn gesuchte Raum-Zeit-Ori-entierung mit technisch-konventionellen Mitteln zu erleichtern. Der vermeintlich innere Sinn wird in der Uhr ein äußerer und exterritoria-lisiert sich damit.

Doch gegenüber dieser erwartbaren Orientierungsfunktion von Uhren und dem Zeitsinn führt die spezifi sch synchronisierende Ver-bindung von On- und Off screen-Geschehen im gemeinsamen Takt eines Zahlen- und Ziff ernblatt-Rhythmus im Fall von THE CLOCK im Gegenteil nur dazu, jedwede eindeutige Orientierung im Hier und Jetzt zu verlieren. Der Kantische ‚innere Sinn‘ wird durch die Uhrfunk-tion der fi lmischen Arbeit nicht nur nicht erleichtert. Im Gegenteil: Der Zeitsinn wird tief verstört. Denn nun steht die Frage im Raum: In welchem Koordinatensystem befi nden wir uns, wenn unsere Lebens-zeit auf der Leinwand abläuft und umgekehrt? Hier wird, mit Heide-ggers Worten formuliert, nicht nur eine ontische, sondern geradewegs eine ontologische Verunsicherung gestiftet.

Wo normalerweise raumzeitliche Orientierungen irritiert werden, folgen Bemühungen um Reorientierungen im Hier und Jetzt. Und Orientierung zu liefern wurde ja auch im ersten Teil dieses Aufsatzes, etwa in Bezug auf die Aff ekttheorien von Darwin, Ekman und Compi, als eine sogar primäre evolutionäre Funktion von Aff ekten hervorgeho-ben. Die aff ektive Erfassung einer Störung vermittelt sich normaler-weise instantan ans Handlungssystem, sodass Lösungs- und Anpas-sungsstrategien durchgemustert werden. Die Installation spielt mit dieser funktionalen Aff ektlogik, insofern sie jeden Aufl ösungsversuch

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der raum-zeitlichen Verunsicherung, die sie selbst verursacht, verun-möglicht.

Während die Synchronisation zweier Geschehnisse an verschiede-nen Orten durch einen Betrachter mit Uhr vorgenommen werden kann, sofern jene Geschehnisse innerhalb eines logischen und ontolo-gischen Raums platziert sind, bleibt die Synchronisierung des fi lmi-schen und außer-fi lmischen Geschehens durch THE CLOCK in seiner wahrnehmbaren Faktizität inkommensurabel. Die Installation führt zu einer Erschütterung der raumzeitlichen (Selbst-)Verortung des Be-trachters und ihrer selbst. Der so eröff nete Schwellenzustand, in den die Installation sich und ihren impliziten Rezipienten versetzt, kann sich in seinem Erregungspotenzial dann entweder nur von selbst er-schöpfen oder perpetuieren, da er, wie gesagt, gerade nicht in einem problemlösenden Verhalten abgeführt werden kann. Die normale Handlungsfunktionalität von Affi zierungen wird somit in THE CLOCK ästhetisch evoziert und zugleich ausgesetzt.

Während die Verhinderung von aff ektiven Abfuhrmöglichkeiten und Problemlösungshandlungen im empirischen Alltagszusammen-hang dysfunktional bis bedrohlich wäre, ist es dies im ästhetischen Kontext nicht. Im ästhetischen Kontext ist der alltagsweltliche Ernst des Anpassungsdrucks ausgesetzt. Gleichwohl ist die motivationale Kraft von Aff ekten auch in ästhetischen Kontexten nicht einfach nivel-liert. Sie beschränkt sich dort nur auf die Lenkung und Modulierung der Aufmerksamkeit der Rezipienten und schlägt nicht, wie viele au-ßer-ästhetische Aff ekte, auf das senso-motorische System durch. Die ästhetisch modulierten und evozierten Aff ekte, so lässt sich auch ange-sichts von THE CLOCK festhalten, verbleiben deshalb handlungsarm, weil ihre epistemischen Prämissen und Schlussfolgerungen prinzipiell unter dem Vorzeichen eines ‚Als-ob‘ stehen.

Unter ästhetische Bedingungen gesetzt fallen Affi zierungen zugleich schwächer und stärker aus, als in nicht-ästhetischen Kontexten. Schwä-cher fallen sie aus, weil in Zuständen ästhetischer Affi zierung der affi -zierte menschliche Körper weniger bis gar nicht um sein persönliches Wohlergehen und dessen Orientierung besorgt sein muss. Eben die-se normalerweise aff ektspezifi sche Einschränkung der Perspektive auf die Bewertung eines Mileus oder Sachverhalts nach Maßgabe seiner Schädlichkeit oder Nützlichkeit für ein Subjektzentrum ist angesichts ästhetisch gerahmter Aff ekte suspendiert. Was ästhetisch affi ziert, kann deshalb an und für sich selbst, als Wertgröße und bloße Intensität, wahrgenommen werden, ohne auf ein Personenzentrum und seine Belange zurückzuweisen. Kant nennt diese Abkoppelung der ästheti-

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schen Lust vom instrumentellen Selbstbezug auch „das interesselose Wohlgefallen“ am Ästhetischen. Insofern nun die ästhetische Lust an der Verunsicherung durch THE CLOCK, wie beschrieben, nicht nur die Rezipienten in Aufruhr versetzt, sondern damit zugleich auch die Ins-tallation ontologisch und epistemisch ungreifbar werden lässt, gerät die Installation Marclays insgesamt ins Irrisieren. Es fi ndet eine Art aff ek-tiven Refl uxes statt, der vom Leinwandgeschehen zum irritieren Wahr-nehmungsakt verläuft und von diesem ausgehend wieder in ersteres zurück. Diese Refl ux-Bewegung ist dem Aff ektmodus der schematisie-rend-werthaften Transformation zuzuordnen, wie er eingangs als die vierte Form aff ektlogischer Grundoperationen angeführt wurde.

Die phänomenal zwischen lustvollen und unlustvollen Momenten changierende Irritation, die THE CLOCK in ihrer paradoxen Doppel-existenz als reales Uhrwerk und fi ktionales Gebilde hervorruft und wachhält, fungiert zwar auch, jedoch nicht nur als Inititialmoment für die Konzentration auf ihren Fortgang. Der Modus der Irritation bleibt auch bei längerer Betrachtung der Filmcollage beherrschend, und die Beschäftigung mit dem Geschehen damit im Prinzip unabschließ-bar.

2.3 Affi zierung zweiter Ordnung

Was wir in aff ektiven Modi nur passiv wahrzunehmen vermeinen, so rekonstruierten wir mit James und Compi das Aff ektlogische, erscheint in Wirklichkeit bereits nach Maßgabe der Schemata emotionaler Skripte und Wertbezüge. Eine Überblendung von aff ektivem Wertbezug in der Wahrnehmung mit der Objektqualität des Wahrgenommenen fi ndet auch bei THE CLOCK statt und zwar sogar mehrfach. Nur dass es in der ästhetischen Erfahrung der Installation, anders als es z.B. in zwischen-menschlicher Kommunikation der Fall wäre, eine fi lm- bzw. projekti-onstechnische Anordnung von Filmszenen ist, die mit einer psychophy-sischen Reizbarkeit interagiert und mit dieser techno-biokybernetisch überblendet wird. Aus dem aff ektiv hergestellten Kontakt von Technik-geschehen und fühlendem Betrachterkörper emergiert, in der geteilten Bewegung wechselseitiger Irritation, der ephemere Raum der ästheti-schen Erfahrung von THE CLOCK. Diesem ästhetischen Erfahrungsraum ist insofern eine Meta-Ebene des einfühlenden Verstehens eingeschrie-ben, als es die Zirkulationen der Affi zierungen selbst sind, die lustvoll darin genossen werden. Die immer schon aff ektiv transformierten fi lmi-schen Eindrücke, Ton- und Bildfolgen sowie die technisch informierten

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leiblichen Regungen bilden zusammengenommen das Material der äs-thetischen Lust zweiter Ordnung.

Die aff ektive Überblendung und Überlagerung von Darstellung und Rezeptionsakten vollziehen sich im Fall von THE CLOCK zusätz-lich noch dadurch, dass die Filmausschnitte in sich ebenfalls mannig-fache Affi zierungspotenziale enthalten. Diese Wirkpotenziale sind teils der Stimmung und Ausstrahlung ihrer Erscheinungsoberfl ächen, teils ihrer grundierenden Atmosphären zu verdanken, aber häufi g auch ih-rem narrativen Aufbau. In einem Ausschnitt z.B., in dem die Hauptfi -gur der Szene die Uhrzeit 15:27 Uhr explizit angibt, ist davon inner-diegetisch die Rede, dass von nun an ein weltbewegendes Ultimatum ablaufe: In exakt 33 min., so die vernehmbare Stimme, würden sämtli-che Bösen dieser Welt, Tyrannen und Sünder minimiert werden. Jedes Ultimatum setzt einen Zeitdruck für das Handeln, das gegen die Zeit zu laufen beginnt und in Actionfi lmen und Th rillern ein beliebtes Mit-tel der Spannungssteigerung ist. Dieser Eff ekt bleibt auch angesichts dieser Szene nicht aus.

Mimetische Aff ektübertragungen lassen sich auch an vielen anderen Szenenfolgen der Installation nachvollziehbar machen. So sehen wir in manchen Montagesequenzen unterschiedliche Filmausschnitte mit Szenen von Menschen, die auf Bahnhöfen, Straßen, Bars oder in einer Landschaft stehen oder sitzen und wartend auf eine Uhr schauen. Auch ohne zu wissen oder erklärt zu bekommen, worauf sie jeweils warten, übertragen sich allein aufgrund der Bilder der Wartenden Stimmungen des Stresses, der Ungeduld und gespannten Erwartung von etwas, das noch nicht eingetreten zu sein scheint. Die additive Kombination die-ser Wartebilder könnte man versucht sein, als eine bildliche Einheit in sich zu deuten, die eine gemeinsame Aff ektsignatur und Zeiterfahrung des modernen Lebens sichtbar machen. Doch diese Deutung trägt ei-gentlich schon zu viel an Homogenität und Bedeutungskohärenz in die Szenenfolgen ein, mehr als diese wirklich hergeben. Denn die durch die einzelnen Filmsequenzen innerdiegetisch aufgerufenen, af-fektiven Zeiterfahrungen des Wartens, Harrens, Zauderns, Hoff ens etc. bleiben am Ende doch eher isoliert nebeneinander stehen und wer-den nicht, wie in Erzählfi lmen ansonsten üblich, in einen homogenen diegetischen Zusammenhang gestellt.

Hört man dann zwischenzeitlich auf Zusammenhänge zu suchen, so versucht man alternativ dazu einen Ko-Rhythmus zu fi nden, der es erlaubt, mit dem fl ow der Installation mitzugehen. Eine solche Form der ästhetischen Affi zierung zweiter Ordnung ist ebenfalls keine blinde Sensation, sondern eine Form des zuständlichen Erfassens, was eine

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epistemische Operation ist, wenn auch eine, die nicht kognitiv redu-zierbar ist. In diesem besonderen Fall erfassen wir mit refl ektierter Wachsamkeit den ständigen Wechsel von Filmen, Bildern und Tönen, zwischen denen und mit denen Momente der Überraschung, der Irri-tation, der Freude und des Amüsements, der Erotisierung, Melancho-lie, der Neugierde, des Schrecks und der Langeweile zwar verhandelt und unzusammenhängend evoziert werden, doch ohne deshalb eine Geschichte, einen Sinn anzubieten, in den hinein dies alles auslaufen könnte.

Bernd Waldenfels spricht, alternativ zu der von mir hier gewählten Formulierung einer ästhetikspezifi schen Affi zierung zweiter Ordnung, auch von einer sogenannten „aff ektiven Epoché“, um die ästhetischen von nicht-ästhetischen Formen von Wahrnehmung und des Zugangs zur Welt zu unterscheiden.40 Damit variiert er den Husserl‘schen Begriff der kognitiven Epoché für die ästhetische Wahrnehmung. Kognitive Epoché meint bei Husserl die Einklammerung von epistemischen und perzeptiven Vorurteilen zugunsten einer neutralen Zuwendung zu den Sachen selbst. In aff ektiver Epoché treten wir jedoch nicht nur zurück von kognitiven Vorurteilen gegenüber der Verfasstheit einer vermeint-lich außerhalb unserer immer schon vorhandenen Wirklichkeit. In af-fektiver Epoché treten wir auch von uns selbst als (egologischen) Zen-tren sämtlicher Wertwahrnehmungsbezüge zurück. Das heißt wir treten in der aff ektiven Epoché von der gewohnten, funktionalen Af-fektlogik zurück, die, wie gesagt, primär in der Auswertung von Nütz-lichem und Schädlichem für unseren leibseelischen Organismus be-steht sowie in der daran geknüpften Handlungsfunktionalität. Auf Basis der Einklammerung von egologischen und anthropozentrischen Selbst- und Weltbezügen wird es erst möglich, Affi zierbarkeit in den Dienst der ästhetischen Erfahrung und der Refl uxivität zu stellen.

2.4 Ästhetischer Refl ux als fi lmische Form von Refl exivität oder: Von Aff ektwechsel und Einspeisung

Auf die Installation THE CLOCK bezogen kann man sagen, dass sie eine Form von ästhetischer Freiheit ermöglicht, die darin besteht, sich dem Prozess eines unabschließbaren Aff ektwechsels zu überlassen. Dieser wird durch die vielschichtige Montage der Installation animiert, unter-

40 Bernd Waldenfels, Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung, Frankfurt am Main, 2010.

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brochen und wieder animiert, wobei die einzelnen aff ektiven Erlebnis-se nicht einheitlich synthetisiert werden. Sind die Aff ekte erst einmal ihrer lebensweltlichen Orientierungsfunktion und fi xierten Intentio-nalität ästhetisch entkleidet, können sie in ihrer genuin organisch und geistig bewegenden Wirkkraft unmittelbar selbst zu den materiellen Faktoren des fi lminstallativen Verlaufs werden. In ästhetischer Zuwen-dung schaut man nicht unbeteiligt auf eine zweidimensionale Schicht des Bewegtbildgeschehen der Installation, sondern wird intermittie-rend in dieses hineingezogen und von ihm abgestoßen. Eben diese Af-fektwechsel können zweckfrei durchgespielt und zur Quelle eines äs-thetischen Vergnügens werden.

In ihren refl uxartigen Verläufen verändern die Aff ektwechsel auch die Nuancierungen und wahrnehmbaren Tönungen der fi lmischen Zeit. Im Blick auf THE CLOCK kann man solchen Bewegungen und Zeitfi gurationen gleich auf mehreren Ebenen bei der Arbeit zusehen. Die unfi lmische chronometrische Zeit, die die Installation in Anspruch nimmt und mitverhandelt, ist eine zuverlässig getaktete, neutrale Zeit, die unberührt von allen diegetisch gesteuerten aff ektiven Wechseln durchläuft und gleichwohl ihre eigenen schockierenden und irritieren-den Eff ekte zeitigt (vgl. weiter oben den Absatz Punkt 4) Th e Clock). Doch die fi lmische Zeitlichkeit, die THE CLOCK u.a. in ihren Filmaus-schnitten und narrativen Sequenzbildungen aufruft, ist eine demge-genüber ins Szenische übersetzte und darin emotional und atmosphä-risch gebundene Temporalität. So zeigen manche Filmausschnitte sehr wohl eine in sich geschlossene Handlung, in der bestimmte emotiona-le Nuancen, z.B. Bedrohung oder Glück, ausbuchstabiert werden, die sich gegen den insgesamt heterogenen Fluss der Installation abheben. So folgen wir zum Beispiel in einer durchlaufenden Sequenz um 15:30 Uhr (der Biennale Venedig-Ausschnitte) einer Musical-Szene mit Jack Nicholson, der singend in vampirartiger Aufmachung eine Frau erlegt, die ihre Hingabe demonstrativ direkt zur Kamera hin spielt, während sie in Nicholsons Armen theatral verstirbt oder zumindest in Ohn-macht fällt. Das genrebildende Pathos, mit dem hier die Motive von Eros und Th anatos verknüpft werden, wird in dieser kurzen Sequenz zur Farce stilisiert und aufgrund ihrer operettenhaften Übertriebenheit lachend distanzierbar. Das potenzielle Lachen bestätigt der beschriebe-nen Sequenz eine komische Wertigkeit, was aus ihr, innerhalb der Ins-tallation, eine Art Nummer aus einer Nummernrevue macht (die THE CLOCK jedoch nicht ist).

Narrative Sinnlogiken werden über die vielen Filmzitate der Instal-lation dauernd aufgerufen und neu konstelliert. So sehen wir z.B. in

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der Szenenabfolge um 14:15 Uhr Folgendes: Innerhalb eines Gerichts-saals sind zwei Männer in halbtotaler Einstellung frontal zu sehen, wo-bei einer von beiden auf seine Uhr schaut und gegenüber seinem Nachbarn feststellt, dass es ein Problem gäbe, weil eine weitere Figur im Saal fehle. Daraufhin ist ein lautes Weckerklingeln zu hören und zwar scheinbar ein innerdiegetisches. Die beiden Figuren drehen sich auf ihren Sitzen im Gerichtssaal zeitgleich um, so als würden sie das Weckerklingen hören und die Tonquelle dafür innerhalb ihres Bildrau-mes oder zumindest innerhalb ihrer diegetischen Welt suchen. Der nächste Schnitt jedoch führt uns in einen gänzlich anderen Schwarz-weißfi lm, hin zu einem schlafenden Mann, an dessen Bettseite ein We-cker steht, der den besagten Klingelton off ensichtlich erzeugt. Der schrillende Weckerton der vorherigen Szene wird so einem konkreten Ding in der folgenden Szenerie bildlich zugeordnet und damit eine vermeintlich selbsterklärende, narrative Einheit von Ton und Bild her-gestellt, die jedoch ihre eigene Unmöglichkeit zugleich mitauff ührt, da es sich erneut und sichtbar um zwei unabhängige Filme handelt. Die für jede Filmillusion konstitutive Suspension von Zweifel an ihrer Wirklichkeit wird in dieser Operation verunmöglicht, doch ohne die Illusion der beobachteten Wirklichkeit brechen zu können. Darin ver-weist THE CLOCK auf die aisthetische Eigenlogik alles Filmischen, das als ein Aff ektmedium präsentische Evidenz entfaltet. Was uns anrührt und bewegt, ist real, weil es so wirkt, auch dann, wenn wir wissen, dass es illusionär ist.

Affi zierend auf nochmals andere Weise wirken sich auch jene Mo-mente der Installation aus, die im unsichtbaren Raum zwischen den Einstellungen der montierten Sequenzen liegen. Wo z.B. die Großauf-nahme eines Gesichts in der folgenden Einstellung auf die eines ande-ren Gesichts umspringt, lesen wir diesen Schnitt als Gegenschuss. Bei-de Gesichter werden über ihre direkte Aufeinanderfolge im Schnitt in einen gemeinsamen szenischen und logischen Raum imaginär zusam-mengeführt, der rein virtuell ist. Diese imaginäre Einfügung eines vir-tuellen logischen Raums ist jedoch nicht von der Art einer abstrakten Deduktion, als vielmehr von der einer instantanen Sinn- und Aff ektzu-schreibung in der Wahrnehmung. Die sprunghafte Montage Marclays bringt häufi g auch belustigende Kontrastwirkungen hervor oder sie enttäuscht eine aufgebaute narrative Erwartung, weil eine antizipierte Einstellung gerade ausbleibt. Doch auch im Falle enttäuschter narrati-ver Erwartung wird imaginär ein Raum aufgerufen, in dem sich das Antizipierte einlagern kann. Die aff ektive Auff üllung von Sprüngen und Auslassungen zwischen den Bildern und Tönen – seien sie im Mo-

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dus der Belustigung oder Enttäuschung vorgenommen – belassen es nicht bei der faktischen Negativität der Sprünge und Auslassungen, sondern positivieren diese. Die aff ektive Verknüpfung von Sichtbarem und Nicht-Sichtbarem, Hörbarem und Nicht-Hörbarem wird somit zum missing link einer unbestimmten Zeitlichkeit zwischen den Schnitten und füllt den Filmfl uss THE CLOCK mit sich selbst an. Diese Operation ist eine der aff ektiven Suture (Vernähung).41

Eine im engeren Sinne humorvolle Atmosphäre kreiert die Installa-tion immer wieder an Stellen, wo sie Bildsequenzen miteinander ver-quickt, die ganz off ensichtlich nicht einer gemeinsamen fi lmischen Quelle entsprungen sind, weil z.B. die einen einem Schwarz-Weiß-Film und die anderen einem Farbfi lm zugehören. Während die derge-stalt montierten Szenen ihre Fremdheit untereinander auf visueller Ebene off en freilegen (weil sie z.B. auch durch Starbesetzung, Setting und Zeit- sowie Genrehinweise identifi zierbar sind), sind es oft diesel-ben, denen Marclay gleichwohl eine gemeinsame akustische Spur un-terlegt. Die durchlaufende Ton- und Musikspur erzwingt es geradezu, die einander eigentlich fremden Bilder doch einem gemeinsamen Ort zuzuordnen. Das versetzt nur umso mehr die Ton- und Bildebene die-ser Sequenzen in Spannung zueinander und weist den Ton außerdem als unzuverlässige Erzählinstanz aus. Diese installationseigene Konst-ruktion einer humorvollen Atmosphäre hängt an ihrem Spiel mit der Berechenbarkeit fi lmischer Erzählmuster und -instanzen, was in THE CLOCK eben durch übertriebene Wiederholung oder auch durch Ab-weichung von Erwartbarem variantenreich betrieben wird.

So sehen wir z.B. in einem Ausschnitt, der mit 12:05 Uhr korreliert, einen Mann mit Hut ein Haus verlassen, während die begleitende Mu-

41 Zur Einbeziehung des von Lacan her stammenden Begriffs der „Suture“ in die Filmtheorie vgl. Franziska Heller, Filmästhetik des Fluiden. Strömungen des Erzäh-lens von Vigo bis Tarkowskij, von Huston bis Cameron, München, 2010, S.36–43: Bei Lacan leistet die Vernähung eine Überbrückung zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen. Dass Lücken in den Wirklichkeitskonstruktionen von Erzählungen oder auch in visuellen Darstellungen von Erscheinungen imaginär ergänzt und geschlossen werden (müssen), ist auch ein stehender Topos philoso-phischer Wahrnehmungstheorien und Ästhetiken. U.a. Jean Paul Sartre vertritt einen auch für unsere affekttheoretischen Interessen hier speziell anschlussfähigen Begriff des ‚Imaginären‘, insofern er dem Imaginieren als Vorstellungstätigkeit eine kinästhetische Grundierung zuschreibt. Diese lebendig-organische Mitemp-findung werde im Prozess des Vorstellens als Qualität auf das darin Vorgestellte übertragen. Diesen Gedanken der Übertragung kinästhetischer Qualitäten beim Vorstellen findet man in den meisten Bezügen auf Sartres Konzept des Imaginären merkwürdigerweise unerwähnt. Vgl. Sartre, a.a.O., 1940/1994.

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sik dramatisch ansteigt und der Protagonist der Szene plötzlich durch Hundegebell auf einen versteckten Leichnam aufmerksam gemacht wird, der wiederum dem Betrachter in Großaufnahme mit aufgerisse-nen Augen gezeigt wird. Die außerdiegetische Musik läuft weiter und überlappt in die Anschlussszene, die eigentlich gar keine Anschlussszene ist, da sie aus einem off enbar ganz anderen Film stammt. War die vor-herige Szenerie in Schwarz-Weiß, so sehen wir nun in Farbe eine Frau auf ein Fenster zugehen, was jedoch in einem völlig neuen Szenario si-tuiert ist. Sie öff net ein Fenster und schaut heraus, was wir aus einer Untersicht-Perspektive von außerhalb des Hauses beobachten. In die-sem Moment geschieht das, was Husserl eine „retentionale Synthesis“ nennt. Die unmittelbar aufeinander folgenden Einstellungen werden nun nicht nur raumzeitlich, sondern auch kausal miteinander in der Wahrnehmung des Betrachters verknüpft. Denn die in dieser Sequenz von der Kamera gar nicht gezeigte Ansicht, die sich dem Blick der Frau aus dem Fenster aber bieten müßte, wird in der Wahrnehmung des Betrachters mit dem Anblick der Leiche gefüllt, die zuvor in der Szene präsentiert wurde. Sofort wirkt der zunächst uneindeutige mimische Ausdruck der Frau am Fenster verdächtig vieldeutig und wird also af-fektiv umgedeutet. Denn jetzt unterstellen wir, dass die Frau angesichts der Leiche unangemessen reglos bleibt, anstatt zu schreien oder um Hil-fe zu rufen. Weil wir nun ihrem Blick diesen dramatischen Objektbezug eintragen, wird ihr Blick selbst mit den Ausdruckqualitäten des Ver-dächtigen, Schuldigen, Verschwörerischen aufgeladen. Was wir also im Register des Schaurigen wahrnehmen, wie wir schon bei James hörten, wird dadurch erst schaurig. Durch die aff ektive Vernähung wird nicht nur das Element des Frauengesichts, sondern die fi lmische Sequenz ins-gesamt ihrer Stimmung nach transformiert. Ihrer Neutralität beraubt, wird sie im Medium des Aff ekts ins Schreckens- und Th riller-Register überführt und darüber hinaus auch der gesamte, nicht gesehene Film-kontext, dem die Szene ursprünglich angehört, untergründig ebenfalls genremäßig entsprechend reidentifi ziert.

Abgesehen von der Macht der Konvention der Kontinuitätsmonta-ge und des Genrewissens, das wir durch das Kino selbst erworben ha-ben und auf Filme automatisch anwenden, ist es in diesem besagten Fall speziell die Tonbearbeitung, die einen inneren Zusammenhang der montieren Bilder suggeriert. Marclays akustische Zusammenziehung der unterschiedlichen Szenen auf einer durchlaufenden Tonspur stiftet einen quasi-logischen Zusammenhang.

Mit dem Kürzel ‚Atmo‘ (Atmosphäre) bezeichnet man beim Drehen eines Films den Raumton eines Drehortes. Jeder Ort hat seine eigene

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atmosphärische Tonqualität, die extra aufgenommen werden muss, wenn eine darin gefi lmte Handlung abgeschlossen ist, um später, ohne Tonsprünge zu riskieren, montiert werden zu können. Würde die Raum-atmosphäre eines Settings nicht aufgenommen und dem Visuellen un-terlegt, bliebe sowohl seine Akustik wie auch Visualität später im Schnitt fl ächig und abstrakt. Die technische Variation einer Raumat-mosphäre (etwa das Hinzufügen von Vogel- oder Autogeräuschen z.B.) bestimmt maßgeblich und subliminal die leibliche Raumverortung fi l-mischer Settings, Dinge und Personen und damit auch die des Rezipi-enten, der seine Aff ekte in den Film einspeist und diesem entnimmt. Auf die Bearbeitung der Tonebene bezogen gelingt in der beschriebenen Sequenz (und nicht nur dort) eine wechselseitig zwischen den montier-ten Einstellungen selbst verlaufende, ‚physische Durchdringung‘ von Aff ektqualitäten (hier des Th rillerartigen), die bereits mehrfach als einer der vier dominierenden Aff ektmodi (evaluative Amalgamierung und Durchdringung) angeführt wurde. Während die kinematographischen Illusionsbildungen in den widerspenstigen Montagesequenzen, wie ge-rade beschrieben, ironisch ausgestellt werden, bleiben andere Formen der Illusionsbildung in der Installation hintergründiger wirksam.

Eine eher unmittelbar körperlich affi zierende Wirkung geht z.B. von der direkt vor der beschriebenen Th riller-Sequenz zu sehenden Szene aus. In dieser sehen wir, wie der junge Schauspieler Richard Gere in einem Schlafzimmer halb bekleidet vor einem Wecker steht, den er ausmacht, um sich dann mit routinierter Geste einer, sich auf einem Spiegel direkt vor der Uhr befi ndlichen, Kokslinie zu bedienen. Auf dem Weg zu einem Kleiderschrank voller Hemden beobachten wir ihn dann dabei, wie er (innerdiegetisch) einem Popsong aus dem Radio zuhört, der auf der Tonspur (außerdiegetisch) für uns Rezipienten zu-nehmend lauter wird und den der Protagonist bald beschwingt mitzu-singen beginnt. So wie die Leinwandfi gur durch die Musik hinsichtlich seiner Mimik und Körperhaltung in Bewegung versetzt und animiert wird, werden wir es, vermittelt über die körperlich sichtbar Affi zierung der Figur und zusätzlich direkt affi ziert vom lauten Rhythmus der Mu-sik, ebenfalls. Die beschwingt-erotische Aufl adung der Szene und Leinwandfi gur überträgt sich mimetisch-kinästhetisch und lässt auch die Suche nach der Uhr im Bild, die direkt am Anfang der Sequenz als digitaler Wecker gezeigt wird, in den Hintergrund treten. Aus der Kombination der Bewegungen von Richard Gere zur Musik, dem Rhythmus des Stücks, dem Licht- und Schattenspiel der Muskel- und Hautbewegungen seines nackten Oberkörpers und der gleitenden Be-wegung der Kamera, die ihm nah folgt, ist der beschwingt-erotische

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Tonus der Sequenz insgesamt zusammengesetzt. Diese fi lmtechnisch konstruierte Gefühlsqualität wird über die Ko-Affi zierung des Rezipi-enten laufend mitkonstituiert. Ästhetische Affi zierung ist aufgrund ih-rer Verteilung über verschiedene Elemente und Träger – hier sind es fi lmtechnische und organische  – im Grunde subjektlos. Sie ist eine Erfahrung ohne Eigentümer.

Wo immer sich ästhetische Affi zierungen wie diese einstellen, ist eine empfi ndungsfähige Innenseite mit einer beobachtbaren Außensei-te untrennbar verbunden. Diese Beobachtung fanden wir schon bei James ausbuchstabiert, der von den physischen Resonanz- und Feed-back-Prozessen spricht, die dafür verantwortlich sind. Sie wird auch von Einfühlungstheorien bestätigt. So vermag auch der Film im Kon-takt mit organischen Rezipientenkörpern eine Art Interface zu bilden, so dass beides füreinander zur Innenseite einer Außenseite wird. Ge-fühle übernehmen die Funktion von Transformatoren und Resonanz-böden in diesem Kontakt. Das macht sie zu medialen Funktionen. Worauf Aff ekte ausgreifen, wird von ihnen zugleich mit Empfi ndungs-qualitäten ausgestattet. Wenn wir etwa die besagte Szene mit Richard Gere hinsichtlich ihrer aff ektiven Aufl adung betrachten, so ist die Fi-gur und der Star Richard Gere nicht abzulösen von der Musik, so we-nig wie letztere von diesem und beides nicht vom Kamerarhythmus, welche erst zusammengenommen die fi lmisch konstruierte Gefühls-qualität dieser Szene bedingen. An solcherart Amalgamierung von Sicht- und Hörbarem mit Fühlbarem hängt der magische und trans-formatorische Eff ekt fi lmästhetischer Interventionen.

Der einerseits homogen durchlaufende Uhrenrhythmus und ande-rerseits zugleich heterogen montierte Zeitfl uss von THE CLOCK wird mithilfe solcher narrativ verdichtenden Sequenzen unterbrochen und um weitere Zeitdimensionen angereichert. Die erzählerischen Sequen-zen unterbrechen die Logik der bloßen Addition, Aufl istung und Wie-derholung, in der andere Montagesequenzen angeordnet zu sein schei-nen. Die Sprünge zwischen eher homogenen, dann wieder additiven und widerspenstigen Montagesequenzen führen dazu, den fi lmischen Zeitfl uss a-rhythmisch zwischen Kontraktion und Dilatation hin und her zu verschieben. Es entsteht so eine Pulsbewegung zwischen den Einstellungswechseln, montierten Bildern und Tönen der Installation.

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2.5 Zur Vision und Revision von Zeit und Zeitlichkeit in Th e Clock

Im ersten Teil dieses Aufsatzes wurden den Aff ekten vier Operations-weisen zugeschrieben, die miteinander verfl ochten sind und von denen die aff ektlogischen Wirklichkeitskonstruktionen außerhalb des Ästhe-tischen sowie die Fiktionskonstruktionen innerhalb des Ästhetischen maßgeblich abhängen.42 Diese waren:

1) Der Modus physischer Durchdringung (Amalgamierung von Subjekt und Objekt bzw. von Technikgeschehen und organi-schem Körper im Aff ekt),

2) Der Modus der mitteilenden Ansteckung und Verteilung aff ekti-ver Qualitäten über verschiedene Träger (zum Beispiel von Emo-tionen über Leinwandgeschehen, Zuschauerraum und -körper),

3) Der Modus der Berührung (auch zwischen Bildern und Tönen auf der horizontalen Ebene der fi lmischen Montage sowie tan-gential in Richtung Betrachterleib) und

4) Der Modus der Wertung (der ein wahrnehmbares Geschehen mit aff ektiven Wertqualitäten belegt).

THE CLOCK nimmt sie alle in Anspruch, ohne einem Modus den Vor-rang einzuräumen. Mit der Affi zierung der technisch montierten Ein-stellungen, Bilder und Töne auf der horizontalen Ebene des Filmfl usses geht auch die tangentiale Übertragung derselben in den leiblichen Be-trachterraum einher. Filmästhetische Affi zierungen, die wir eine ‚Affi -zierung zweiter Ordnung‘ nannten und die eine aff ektive Epoché im-plizieren, sind trotz ihres refl exiven impacts nicht identisch mit rein refl exiver Distanznahme. Ästhetische Refl exivität ist in Bezug auf das Filmische, wie wir an der Installation zeigen konnten, aff ektive Refl uxi-vität und damit eine epistemische Operationsform, die in das Verhält-nis von Technik und Organismus eine partizipatorische Logik einträgt. Was vom (installativen) Filmgeschehen ausgeht, ist bereits in es einge-speist. Und was umgekehrt von Seiten des Rezipienten in die Wahr-nehmung eines Filmfl usses investiert wird, ist bereits fi lmtechnisch durch diesen vorgeprägt. In der Immanenz dieses Refl uxes erst werden die fi lmischen Gestaltungen lebendig. Diese aff ektive Konfi guration und Transformation des fi lmischen und leiblichen Materials verdichtet

42 Die ästhetische Differenz besteht darin, wie ausgeführt, dass nur im Ästhetischen der Rückbezug der evozierten Affekte auf ein egologisches Subjektzentrum einge-klammert ist.

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auch THE CLOCK zu einem lebendigen, anthropomedialen Leinwand-geschehen.

Von den aff ektiven Grundoperationen ausgehend, ließ sich THE CLOCK in Bezug auf ihre Aufspaltung von Zeitwahrnehmungsebenen refl ektieren. Der systematischen Vervielfältigung und Überkreuzung von unterschiedlichen Zeitebenen und -logiken in THE CLOCK eignet eine Unbestimmtheit, die in einer vielschichtigen Affi zierung mündet, die man tentativ als eine ‚revisionistische Stimmung‘ umschreiben könn-te. In THE CLOCK treten, wie in Bezug auf die Schockwirkung über ih-ren eigenen Uhrencharakter eingangs ausgeführt, Koordinaten- bzw. Zeitsysteme miteinander in Verbindung, die sich wechselseitig relativie-ren und in Frage stellen. Proportional zu dem Ausmaß, in dem die Zeit-zonenüberschreitung von THE CLOCK eine Orientierung zwischen Fik-tion und Realität verunsichert, beginnt das Leinwandgeschehen nur umso stärker seine schier unbegrenzten und paradoxen Facetten freizu-spielen, die den Rezeptionsakt in einen Strudel sich verwirrender Deu-tungsschlaufen und Irritationen hineintreibt, die eine immersive Ratlo-sigkeit erzeugen.

So erweist sich nicht zuletzt die chronometrische Synchronisierung von Film- und Realzeit in ihrer vermeintlich schlichten, technischen Überprüfbarkeit ihrerseits als eine Absurdität. Denn in der Synchroni-sierung von Film- und Lebenszeit wird gerade nicht die Gleichzeitig-keit, sondern vielmehr die Ungleichzeitigkeit des miteinander tempo-ral Relationierten deutlich. Was wir auf der Leinwand sehen und hören, sind ja inszenierte Sequenzen aus bekannten und weniger be-kannten Spielfi lmen vergangener Zeiten, die ihrem angestammten Kontext entrissen sind und nun als Spuren oder Scherben einer dop-pelten Vergangenheit fungieren: Ihnen ist in Farbe, schauspielerischer Besetzung, Ton und Requisite das Zeitkolorit einer ästhetisch vergan-genen Filmepoche ebenso eingeschrieben, wie die faktische Vergäng-lichkeit und Uneinholbarkeit ihrer Produktionszeit und Rezeption. Längst verstorbene Stars, zerstörte Orte, vergangene Moden und ver-gessene Bilderlogiken werden in THE CLOCK reanimiert. Diese fi lmisch bruchstückhaft konstruierte Vergangenheit zeigt sich in einer lebendi-gen Gegenwärtigkeit des Filmischen, die uns gleichermaßen in sich hineinzieht, wie sie uns von ihr abtrennt. THE CLOCK schickt uns der-gestalt auf eine Zeitreise sich überlagernder, nicht-linear verlaufender Zeitreihen und -folgen, zwischen die der affi zierte Rezipient richtungs-los ein- und auseinandergespannt wird. Nach vierundzwanzig Stun-den, die vermutlich niemand de facto gesehen hat, kehren bei THE CLOCK dieselben Abläufe identisch wieder. Das Ereignishafte, Uner-

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wartbare in der Wahrnehmung des heterogenen Filmfl usses von THE CLOCK schlägt ab Stunde Null ihrer Projektion und damit auf techni-scher Ebene in die Homogenität desselben um.

Was innerhalb der vierundzwanzig Stunden Filmzeit in vielfach affi -zierende Bewegung versetzt, sind Spielfi lmszenen, die ursprünglich un-terschiedlich narrativ eingebunden waren.43 Die aus dem Kinoarchiv des kollektiven und individuellen Wissens aufgerufenen Film-Erinne-rungen lagern sich angesichts der teilweise rapiden Szenen- und Gen-rewechsel in THE CLOCK an den Filmfl uss an, auch wenn sie diesen nicht narrativ überformen können. Jede auf eine Erinnerungsspur fol-gende, neue Verweisszene ruft ein weiteres historisches Filmnarrativ in der Erinnerung des Rezipienten auf, das die vorangegangene Erinne-rungsspur überlagert. Gegenüber der mnemotechnischen Tendenz von THE CLOCK, Erinnerungen an vergangene Film- und Weltzeiten wach-zurufen, inhäriert der Installation andererseits auch eine direkt dazu gegenläufi ge Tendenz. Es ist die Tendenz zum Löschen und Vergessen-Machen distinkter Filmerinnerungen, durch die massierte Überlage-rung der fi lmischen Zitate und Verweise. Vermittelt, nicht versöhnt, werden beide Tendenzen, die mnemotechnische und die vergessen-machende, darüber, dass es zur rezeptionsseitigen ‚Andickung‘ des Filmgeschehens durch eingetragene Erinnerung, Fehlerinnerung und ihrem Remix kommt. In diesen Eintragungen objektiviert sich eine analytisch und begriffl ich uneinholbare Dichte des Filmgeschehens von THE CLOCK, die im Hin und Her zwischen Vision und Revision zu jener revisionistischen Grundgestimmtheit führt, die das Unzu-gängliche an ihr immerhin noch zuständlich vergegenwärtigbar macht. Was sich palimpsestartig in THE CLOCK aufschichtet, sind denn auch weniger die distinkten Narrative der aufgerufenen Filme, als vielmehr die überschüssigen Atmosphären, die jedem fragmenthaft aufgerufe-nem Film seine eigene Identität teilweise zurückgeben. In den Interval-len zwischen den Erinnerungen, dann auch abschweifenden Assoziati-onen und dem Wieder-Einsteigen in den tranceartigen Montagetakt des Tag und Nacht vorwärtsschreitenden Filmfl usses, versetzt uns THE CLOCK insgesamt in eine Art aff ektiven Zeitenkampf.

Dass THE CLOCK eine Uhr ist, bleibt immer wieder neu zu entde-cken und zu erinnern, während wir von ihrem Filmfl uss in unvorher-

43 Zu den in der Theorie der Filmnarratologie gängigen Unterscheidungen unter-schiedlicher Zeitebenen vgl. die Aufsätze in Montage/AV, Heft „Diegese“, 16/2, 2007.

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sehbare Assoziationsverkettungen, Zeitebenen- und Aff ektwechsel ver-setzt werden, die eigentlich nur eines teilen: dass sie dauernd abbrechen.

Statt uns also einer bestimmten, sei es technischen oder subjektiv-erfahrungshaften oder auch historischen Chronokratie zu unterwerfen oder wenigstens einem genremäßig konfi gurierten Aff ektregime, wie dem eines Melodramas oder einer Komödie, dynamisiert THE CLOCK eine zeit- und ortlose Vorläufi gkeit und Brüchigkeit, die weder in ein-deutigen Emotionen und Genres, noch in Th emenfokussierungen still-stellbar wären. In ihrem richtungslosen Voranschreiten vermag die In-stallation selbst noch am ehesten so etwas wie ein blindes Lebensprinzip aufzuführen, wäre da nicht die technische Wiederholbarkeit derselben, die auch diese fi lmische Installation vom Leben unterscheidet.44

In aff ektiver Epoché, das heißt unter der Bedingung der Einklam-merung egologischer und lebensweltlich musterhaft ausgeprägter Af-fektbindungen und -erwartungen, lässt sich die hybride Konstruktion von Zeitlichkeit und deren Aufsplitterung über mehrere temporale Ebenen innerhalb der Installation hinweg gleichwohl durchdringend emotional und sensuell erfassen. Was sich in THE CLOCK der aff ektiven Wahrnehmung bietet, indem es sich ihr wiederum immer wieder neu entzieht, passt in das Aff ektregister ästhetischer Erhabenheit. Die Erha-benheitswirkung von THE CLOCK  – wenn man sie denn so nennen wollte –, ergibt sich aus der von ihr ausgehenden, systematischen Überforderung der affi zierten Wahrnehmung, die sich aktiv dauernd selbst überschreiten muss, um dem audiovisuell montierten Filmfl uss folgen zu können. THE CLOCK realisiert sich schließlich ästhetisch, im Medium einer selbstwahrnehmenden Affi zierung angesichts auseinan-derdriftender Zeitlichkeiten, die sich weder allein der technischen Montage der Installation, noch einer reinen (anthropozentrischen) Projektionsleistung des Rezipienten verdankt. Es emergiert vielmehr eine Drittheit, die sich auf keine ihrer Komponenten reduzieren lässt. Die ästhetische Erfahrung dieser komplexen Installation ist der Zu-gangsmodus dazu und damit der Zugangsmodus zu eben jenen aff ekt-logischen Amalgamierungen der beschriebenen horizontalen und tan-

44 Hartmut Böhme verfolgt diese Frage in seinem Aufsatz „Wollen wir in einem post-humanen Zeitalter leben? Geschwindigkeit und Verlangsamung in unserer Kul-tur“, in: Die Kunst der Entschleunigung, Bewegung und Ruhe in der Kunst von Cas-par David Friedrich bis Ai Weiwei, Markus Brüderlein (Hg.), Ostfildern, 2012. Er vertritt dort auf Marclays Arbeit bezogen die These, diese würde die unerbittliche Mechanik des Zeitlichen ins Zentrum rücken. Das halte ich aus den angeführten Gründen für eine zu einseitige oder zumindest zu unterkomplexe Lesart der in sich vielfach zeitreflexiven Installation.

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gentialen Ausbreitungen der Installation. Im Sinne der auf mehreren Ebenen sich vollziehenden, aff ektlogischen Überblendungen und Trans-formationen von Technikapparat (projizierte Filmcollage), organi-schem Apparat (Betrachterleib) und Dispositiv (installative und muse-ale Ausstellungspräsentation von THE CLOCK) werden diese Faktoren in ein hybrides anthropomediales Aff ektmuster von Bewegung und Stillstand verschränkt, in das wir als Teilgrößen für den Zeitraum un-serer Einlassungen auf THE CLOCK eingewoben sind.

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OLIVER FAHLE

Das Außen

1. Modernisierung

Dieser Beitrag geht davon aus, dass fi lmisches Denken im Laufe der Filmgeschichte an Komplexität zugenommen hat. Besonders die Mo-dernisierungsströmungen des Films, ob man sie nun in den Avantgar-den der 1920er Jahre ansetzt, im italienischen Neorealismus, im refl ek-tierten Aktionsbild Hollywoods, in den Neuen Wellen des europäischen Kinos ab den späten 1950er Jahren, in den außereuropäischen Filmbe-wegungen in Indien, China, Japan und Brasilien der 1960er Jahre oder im afrikanischen und asiatischen Kino der Gegenwart: Die modernen, post- und nachpostmodernen Facetten des Bewegungsbildes, oft unter Einschließung des Fernsehens, des Videos und digitaler Audio-Visuali-täten, entrollen den Film nicht nur als Medium der Unterhaltung, son-dern als Wahrnehmungserfahrung, als ästhetische Operationen und als Erkenntnisleistung. Filmisches Denken besteht dabei in der gegenseiti-gen Übertragung von Th eorie ins Bild und umgekehrt. Filme der Ge-genwart sind im Normalfall selbst schon mit Th eorie und Philosophie aufgeladen, da ein enormes Maß an Geschichte und Refl exion in sie eingebunden ist. Und zugleich setzt das fi lmische Denken auch immer wieder bei ganz einfachen Bildbewegungen an. Jedes Bild, jede Einstel-lung auf der Leinwand oder auf einem Monitor stellt eine Beobach-tung dar, die Eröff nung einer Welt, die zunächst auf grundlegenden Unterscheidungen beruht, welche die Denkbewegungen erst hervor-bringen.

Um eine dieser einfachen Wendungen, die jeder, der einen Film sieht, versteht, die aber zugleich fähig ist, äußerst komplexe Denkbe-wegungen aufzurufen, die nur im Rahmen des Bewegungsbildes arti-kulierbar sind, soll es hier gehen. In Rede steht das Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtbarem. Nicht erst Filme basieren auf der Eta-blierung dieses Verhältnisses, sondern bereits stehende Bilder können nur als solche verstanden werden, wenn sie etwas sichtbar machen, un-

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ter Ausschließung von etwas anderem, was ins Nicht-Sichtbare oder Unsichtbare geschoben wird. Das Unsichtbare und das Nicht-Sichtba-re bezeichnen dabei nicht das Gleiche. Das Unsichtbare ist das, was eigentlich sichtbar sein könnte und durch eine Wendung des Bildes ins Sichtbare eintreten würde, also etwa eine Fotografi e vom Reichstag, die ganz bewusst das Brandenburger Tor nicht ins Bild aufnimmt, obwohl es sichtbar sein könnte. Das Nicht-Sichtbare hingegen ist das, was gleichsam konstitutiv im Nicht-Sichtbaren verbleiben muss, was sich also der Sichtbarmachung grundsätzlich entzieht. Hier bereits beginnt das Denken des Bildes, denn ob etwas als unsichtbar oder nicht-sicht-bar bezeichnet werden kann, obliegt der jeweiligen ästhetischen Anlage des Bildes und kann nicht ‚an sich‘ bestimmt werden. Es ist nur im Rahmen der Denkoperationen der Bilder bestimmbar. Modernisie-rungsbewegungen des Films zu beobachten, bedeutet daher an dieser Stelle, diese Denkoperationen als Eigenbewegungen des Films zu be-greifen, die sich über die gewohnten fi lmhistorischen und -theoreti-schen Kategorien von Autor, Œuvre, Genre, Nation und sonstigen historischen Umgebungen, die dennoch eine notwendige Orientierung bilden, hinaus bewegen.

Das Sichtbare und das Unsichtbare bzw. Nicht-Sichtbare können das an Modernisierungsschübe geknüpfte Denken des Films daher auf doppelte Weise bestimmen. Konkret als tatsächlich sich verändernde Bildkonstellation, die das Außerhalb des Sichtbaren als fi lmische Kate-gorie immer wieder verschiebt und neu justiert. Aber auch allgemein als ständiges Herausrücken des Films aus seinen eigenen audio-visuel-len Bestimmungen und als ein Verweisen auf sein eigenes, konstitutives Außen, von dem aus er sich begreift. Dieser Blick von außen auf sich selbst ist bislang vor allem als Selbstrefl exivität verstanden worden, etwa in Bezug auf den europäischen Film der 1960er Jahre, dessen äs-thetische Operationen den Film als Mittel der Herstellung von (visuel-len und auditiven) Wahrnehmungen und Welten thematisieren. Inter-essant – und bislang weniger systematisch beobachtet – ist jedoch auch, dass er dies in Auseinandersetzung mit anderen Medien – Fern-sehen, Comic, Schrift, Werbung, Fotografi e – tut. In Konfrontation mit diesen Medien – aus dem Außen des Films – verschieben sich auch die konkreten Verhältnisse und Konstruktionen von Sichtbarem und Unsichtbarem und damit die auf bildästhetische Weise gewonnenen Erkenntnisse des Films. Dies wiederum ist über verschiedene Autoren und nationale und kontinentale Filmbewegungen hinweg beobacht-bar. Die Umwälzung des fi lmischen Denkens kann also nicht nur durch klassische fi lmhistorische Kontexte eingeholt werden. Es handelt

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sich um eine genuin fi lmästhetische Betrachtung, die dem Herausrü-cken der Ästhetik aus dem Zentrum der Filmwissenschaft, wie es etwa die New Film History ab den 1980er Jahren formuliert hat, entgegen-steht.1 Diese ästhetisch inspirierte Neuordnung des Denkens durch den Film, die in verschiedenen Filmkulturen beobachtbar ist, bezeichne ich demnach als Modernisierungsschub, eine Eröff nung neuer Denk-räume, eine Erschließung neuer Möglichkeiten, mithin eine Art Verrü-ckung dessen, was man bislang unter Film verstehen konnte. Die da-mit verbundene Zunahme an Komplexität bezieht sich auf die sich stets weitenden Möglichkeitsräume, die dem Film allein schon durch historische Rückbezüge, aber auch durch die zunehmende Auseinan-dersetzung mit den Bildwelten der anderen Medien zur V erfügung ste-hen (und keineswegs auf einen aus der Aufklärung herrührenden klas-sischen Modernisierungsbegriff des teleologischen Fortschritts, der den Film näher an seine vermeintlichen Bestimmungen heranführen könnte). Modernisierungsschübe sind also mehr als historische Verän-derungen, erfüllen aber kein Programm, das irgendwo angelegt wäre. Vielmehr richten sie ihren Fokus auf die Schnittstellen ästhetischer Umbrüche, die sich auch nicht mehr nur beim Kinofi lm aufhalten – obwohl dieser hier noch der Fluchtpunkt der Betrachtung ist –, son-dern darüber hinaus reichen müssen. Es geht also im Folgenden dar-um, die Arbeit des Films an sich selbst mittels der Unterscheidung von Sichtbarem und Unsichtbarem, die zu einer zunehmenden Bedeutung des Begriff s des Außen führt, entlang verschiedener herausgehobener Momente ästhetischer Re- und Neuorientierungen zu beschreiben, die als Modernisierungsschübe bezeichnet werden können.

Dabei bietet sich ein Fokus auf die von verschiedenden Autoren immer wieder hervorgehobenen Modernisierungsschübe des Films an, der hinsichtlich des westlichen Films (aus dessen Perspektive der Autor argumentiert, woher sonst?) etwa die 1920er Jahre (Avantgarde), die 1960er Jahre (moderner Film) sowie die 1980er Jahre (Postmoderne sowie, wenn man möchte, der postklassische Film) besonders in den Blick nimmt. Der Fluchtpunkt ist die Gegenwart, die naturgemäß am schwierigsten zu fassen ist, obwohl einige Filmwissenschaftler bereits mit Erfolg versucht haben, Rahmenbestimmungen für den aktuellen Film vorzunehmen. Hervorzuheben ist sicherlich in Umfang und the-

1 Zur Kritik an der New Film History vgl.: Oliver Fahle, „Das Material des Films“, in: Gudrun Sommer/Vinzenz Hediger/Oliver Fahle (Hg.), Orte filmischen Wissens. Filmkultur und Filmvermittlung im Zeitalter digitaler Netzwerke, Marburg, 2011, S. 294.

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oretischer Präzision Th omas Elsaessers Sichtung wesentlicher Tenden-zen des Gegenwartsfi lms in der Begriff sprägung der ‚mind-game mo-vies‘, die eine komplexe Neuausrichtung des Films, in die zahlreiche fi lmische und außerfi lmische Vorgänge einfl ießen, beobachtbar macht.2 Zentral ist dabei nicht die Kanonisierung fi lmästhetischer Modernisie-rung, sondern das Auffi nden von Denkbewegungen, die den ästheti-schen Erfahrungsraum der Bewegungsbilder erweitern und gegebe-nenfalls neu begründen. Unter anderem in Auseinandersetzung mit Elsaesser argumentiere ich in diesem Beitrag für die Th ese, dass es in der Tat Modernisierungsschübe zwischen den 1960er Jahren und der Gegenwart gibt, möchte diese aber, anders als Elsaesser, vor allem mit der zunehmenden Ausdiff erenzierung der Begriff e des Sichtbaren und des Unsichtbaren analytisch und theoretisch begründen.

Der Terminus, der diese Bewegungen zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren leitet, ist, wie schon angedeutet, der des Außen (de-hors). Dieses muss vom Außerhalb (extérieur) unterschieden werden, welches das konkrete Unsichtbare des Bildes bezeichnet. Das Außen hingegen verweist auf die Übergangsbewegung zwischen dem Inner-halb und Außerhalb des Bildes, zwischen dem Sichtbaren und dem Un-sichtbaren, aber auch, wie zu sehen sein wird, dem Nicht-Sichtbaren. Das Außen ist also nicht das Unsichtbare, sondern betriff t die Verhält-nisse und die Relationierungsbedingungen zwischen dem Sichtbaren und dem, was nicht sichtbar ist, und die, so möchte ich behaupten, ab dem Aufkommen des modernen Films der 1960er Jahre für die Filmäs-thetik besonders an Bedeutung gewinnen. Bevor dieser Begriff für den Film genauer erschlossen wird, soll er zunächst aus der französischen Th eorietradition hergeleitet werden, denn der spezifi sch moderne As-pekt der Selbstüberschreitung, den das bildmediale Außen kennzeich-net, wird zunächst in der Literaturwissenschaft und der Philosophie vorgezeichnet, bevor er in die Filmwissenschaft einwandert.

2. Bestimmungen des Außen

Der Begriff des Außen kann in drei Entwicklungsschritten eingeholt werden. Zunächst wird er durch den französischen Schriftsteller und Essayisten Maurice Blanchot geprägt. Dann wird er durch Gilles De-

2 Vgl. Thomas Elsaesser, Hollywood heute. Geschichte, Gender und Nation im post-klassischen Kino, Berlin, 2009, S. 237–263. Siehe auch: Thomas Elsaesser, Malte Hagener, Filmtheorie zur Einführung, Hamburg, 2007, S. 189–215.

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leuzes Lektüre von Michel Foucault in eine bereits medientheoretische Ordnung gebracht, die Foucault durch die Etablierung der bildmedia-len Dimension in seinen Schriften zur Malerei bereits aufgeworfen hat. Deleuze schließlich beobachtet den modernen Film als fi lmphilosophi-sche Anordnung des Außen, die uns dann in die Gegenwart des Films, des Begriff s, der Bildmedien und der ästhetischen Philosophie leiten wird.

2.1 Das Außen bei Maurice Blanchot

Maurice Blanchot hat den Begriff des Außen zu einer zentralen Kate-gorie seiner Literaturanalyse gemacht.3 Er setzt bei der Repräsentati-onsfunktion der Sprache an. Repräsentation heißt, dass Sprache auf etwas außer ihr Liegendes verweist, dass sie ihren Zweck darin sieht, die Außenwelt zu bezeichnen und zu beschreiben. Die moderne Lite-ratur drängt diese Funktionen zurück, um durch die Sprache nicht mehr das Andere, sondern sich selbst zu äußern. Beschreibungs- und Bezeichnungsfunktion sind also nicht einfach ausgelöscht, sondern bleiben im Schreiben erhalten. Dieser Prozess der Zurückdrängung der Außenwelt geschieht wiederum nur durch die Sprache selbst. Das heißt, die Sprache überschreitet sich selbst. Sie geht über sich selbst hinaus, um aber dort draußen, im Außerhalb der Beschreibung und Bezeichnung, sich selbst vorzufi nden. Diese Selbstüberschreitung ist eine nicht endende Bewegung und Suche. Blanchot selbst bezeichnet die Überschreitung wie folgt:

„Die Literatur handelt nicht, sie senkt sich in jenen Grund der Existenz, der weder Sein noch Nichts ist, und wo die Hoffnung zu handeln unwi-derruflich erlischt. Sie ist nicht Erklärung, auch nicht reines Begreifen: in ihr stellt sich das Unbegreifliche dar. Sie ist ausdrucksloser Ausdruck, ihre Sprache überlässt sich jenem Raunen, das anhebt, wenn das Wort gebricht (...) Der Schriftsteller, der ein Werk schreibt, hebt in diesem Werk sich auf und affirmiert sich zugleich.“4

3 Einige der Ausführungen zum Außen in der französischen Theorie stützen sich auf meinen Text: „Das Außen. Ein mediales Konzept der Moderne“, in: Dirk Nagu-schewski, Sabine Schrader (Hg.), Kontakte, Kovergenzen, Konkurrenzen. Film und Literatur in Frankreich und frankophonen Ländern, Marburg, 2009, S. 49–60. Ei-nige Wiederholungen lassen sich nicht vermeiden, um die Gesamtargumentation der vorliegenden Ausführungen zu verdeutlichen.

4 Maurice Blanchot, Die Literatur und das Recht auf den Tod, Berlin, 1982, S. 129.

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Blanchot bezieht sich auf Franz Kafka und Stéphane Mallarmé, doch reicht die Begriffl ichkeit über die Literatur hinaus. Anders als man vermuten könnte, wird der Repräsentation nicht einfach das Nicht-Repräsentierte entgegen gesetzt, sondern der Prozess der Über-schreitung tritt ins Zentrum. Die Selbstüberschreitung der Sprache führt also in ein unbestimmbares Außen, das Außen der Sprache selbst. Da sich aber Sprache in diesem Außen erst selbst (er)fi ndet, indem sie vom Bezeichnen und Beschreiben abrückt, ist das Außen auch ein In-nen, nämlich das Innen der Sprache. Diese jedoch ist nicht Substanz oder Sein – eher schon Existenz –, sondern ein unbekannt bleibender Raum, der stets von dieser Selbstüberschreitung gezeichnet ist, von der Verdopplung der Sprache, die durch sich selbst ins Außen vordringt.

„Unter diesem Druck entsteht jenseits des Buches das Projekt des in seiner Vollendung selbst immer noch zukünftigen Werkes, ohne Inhalt, weil immer das überschreitend, was es zu enthalten scheint, und nichts anderes als sein eigenes Außen behauptend, das heißt sich selbst nicht als volle Anwesenheit, sondern in Beziehung zu seiner Abwesenheit, die Abwesenheit des Werkes oder das Nicht-mehr-am-Werk-sein.“5

Das Außen ist demnach kein Raum, der außerhalb des konkreten Spre-chens liegt, so als gäbe es ein Innen der Sprache, das in den Repräsen-tationsfunktionen liegt, und ein Außen, das diese vollständig hinter sich gelassen hat. Es ist vielmehr die Räumlichkeit der Überschreit-ung selbst, Grenzübertretung, die auf ein Außerhalb der sprachlichen Funk tionalisierung und damit die Sprache auf sich selbst verweist. Die Sprache wird als Medium sichtbar, doch nicht einfach in dem Sinne, dass ihre ‚Gestaltungsmittel‘ off enbar und mitkommuniziert werden; nicht als Form, die nicht mehr selbstverständlich in Inhalt übergeht. Bei Blanchot bleibt die Sprache in dieser Überschreitung selbst opak: Zum einen, weil sie selbst nicht zu fassen, also prozessual ist. Zum zweiten, weil sie sich nicht völlig von den Bezeichnungs- und Beschrei-bungsfunktionen zu lösen vermag. Sie bleibt durch den nicht vollends zu vollziehenden Akt der Überschreitung immer an diesen zurückge-bunden und kann daher keine ‚reine‘ Form ausbilden. Zum dritten, weil sie selbst zur Oberfl äche wird. Die Sprache hat kein ‚Wesen‘, kein ‚Subjekt‘. Wenn sie sich von den Dingen der Repräsentation ablöst, dann ist sie Oberfl äche. Blanchot verdeutlicht dies in folgendem Satz: „Mais quand tout a disparu dans la nuit, ‚tout a disparu‘ apparaît.“

5 Maurice Blanchot, Das Unzerstörbare, München/Wien, 1991, S. 261.

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(„Aber wenn in der Nacht alles verschwunden ist, erscheint ‚alles ver-schwunden‘“, Übersetzung von OF).6

Hier wird der Prozess der Überschreitung unmittelbar deutlich. Ge-hört der erste Teil des Satzes noch in den Bereich des Vorstellbaren, der Repräsentation einer Außenwelt, so verweist der zweite Teil auf die sprachliche Äußerung selbst, die gleichsam zurückbleibt, ohne dass sie den Kontakt zur ersten Ebene verloren hat. Zwischen „tout a disparu“ und „‚tout a disparu‘“ hat tatsächlich eine Veräußerlichungsbewegung stattgefunden, die in einen topologischen Raum ohne Ort, ohne Mar-kierung, ohne persönliche, historische oder diskursive Begrenzung hi-neinführt. Die brasilianische Literaturwissenschaftlerin Tatiana Salem Levy bemerkt in Hinblick auf die Position des Außen die doppelte Bewegung der Sprache, die Ausfaltung, Teilung, Abspaltung (desdob-ramento) ist, während sie sich entzieht (se desobrar).7

Das Außen ist also in eine Reihe von Ambiguitäten hinsichtlich der modernen Sprache eingebunden, die den einfachen Ausweg der Entge-gensetzung von Repräsentation und ihrer Verweigerung unterläuft. Das Außen handelt vom Eindringen des Medialen in den Raum der Repräsentation, das von der Aufspaltung des Bezeichneten in Sichtba-res und Nicht-Sichtbares, bei gleichzeitiger Demarkierung, ausgeht. Der Begriff des Außen bezeichnet beides: Das Unmarkierte, aber auch die Bewegung zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, das Auftauchen der Repräsentation (tout a disparu) und ihr Verschwinden (‚tout a disparu‘) im Sichtbarwerden eines Anderen. Hier scheint die oben gesetzte Unterscheidung von Sichtbarem und Unsichtbarem (die Gleitbewegung) zum einen und Nicht-Sichtbarem (das Unmarkierte) zum anderen bereits auf.

2.2 Das Außen bei Michel Foucault

Michel Foucault hat sich ebenso wie Gilles Deleuze in vielen seiner Schriften auf Blanchot bezogen, besonders in den Texten „Was ist ein Autor“8 und „Das Denken des Außen“9. Den Autor bezeichnet Fou-

6 Maurice Blanchot, L’espace littéraire, Paris, 1955, S. 213. 7 Vgl. Tatiana Salem Levy, A Experiência do Fora. Blanchot, Foucault, Deleuze, Rio de

Janeiro, 2003, S. 22. 8 Michel Foucault, „Was ist ein Autor“, in: ders., Jan Engelmann (Hrsg.), Botschaf-

ten der Macht. Reader Diskurs und Medien, Stuttgart, 1999, S. 30–48. 9 Michel Foucault, „Das Denken des Außen“, in: ders., Von der Subversion des Wis-

sens, Frankfurt am Main, 1996, S. 46–68.

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cault als eine Erfi ndung des 18. Jahrhunderts. Er ist eine Sinninstanz (ähnlich wie das Werk), dem man eine eigenständige literarische Pro-duktivität beimisst. Der Autor ist Teil eines Regelwerks, das die schrei-bende Produktion ordnet. Bedeutung, Originalität, Identität können auf diese Weise einem Subjekt zugeschrieben und in einen Diskurs des Willens zum Wissen und zur Wahrheit eingeordnet werden.

„Autor ist derjenige, durch den gewisse Ereignisse in einem Werk ebenso wie deren Transformationen erklärt werden können, deren Deformati-onen, deren verschiedene Motivationen (und dies durch die Autobio-graphie, die Suche nach der individuellen Sichtweise, die Analyse seiner sozialen Zugehörigkeit oder seiner Klassenlage, die Entdeckung seines Grundentwurfs).“10

Foucault geht davon aus, dass der Autor genau dann eine rezentrieren-de Instanz wird, wenn das Wissen sich im 18. Jahrhundert autonomi-siert und anonymisiert. Wissenschaftliche Texte werden um ihrer selbst willen gelesen, Autoren spielen eine untergeordnete Rolle. Rätsel der Autorschaft sollen aber nicht hingenommen, Autoren literarischer Schriften müssen klar benannt und Werken zugeordnet werden. Der Autor stellt die Instanz dar, welche die zunehmende Verrätselung der Literatur aufl ösen kann. Die Literatur erhält dadurch ihre Gesetzmä-ßigkeit, ordnet sich dem Willen zum Wissen unter. Sie ist eine Dis-kursanordnung, in der die Funktion des Autors vor allem darin be-steht, die Entbindung der Sprache und des Schreibens ins Außen zu bändigen. Sprachliche Verfertigung fi ndet ihren Sinn nicht im Treiben ins Außen, sondern in der Versammlung im Subjekt. Die Hervortrei-bung des Außen hat also viel damit zu tun, dass das Wissen sich selbst gegenüber anonym oder gar intransparent wird, eine Bewegung, die den modernen Film ab den 1960er Jahren in besonderer Weise kenn-zeichnen wird.

Zunächst jedoch zurück zu Foucault, der selbst zwei ganz wichtige Schritte über Blanchot hinaus macht. Der erste liegt darin, dass er den Begriff des Außen in das Medium der Bilder überträgt, der zweite be-hauptet eine nicht nur ästhetische, sondern vor allem epistemische Di-mension, die das Denken des Außen mit sich bringt. Foucault hat sich immer wieder der Malerei zugewandt, um in seinen Schriften zu Ray-mond Roussel11, Edouard Manet12 und René Magritte13 zu zeigen, wie

10 Foucault, „Was ist ein Autor“, a.a.O., S. 42. 11 Michel Foucault, Raymond Roussel, Frankfurt am Main, 1988. 12 Michel Foucault, Die Malerei von Manet, Berlin, 1999. 13 Michel Foucault, Ceci n’est pas une pipe, Wien, 1987.

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gerade die modernen Bilder ins Außen streben und einen irreduziblen Raum zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren aufspannen. Dies wird besonders in seinen kurzen brillanten Analysen der Gemälde Ma-nets deutlich. Bilder wie etwa LA GARE SAINT-LAZARE (1873), LA SER-VEUSE DE BOCKS (1878) oder UN BAR AUX FOLIES-BERGÈRE (1881) stiften eine in der Moderne völlig neuartige dreifache Relation von Sichtbarem und Unsichtbarem, die im Bild selbst angelegt ist und nur als Operation der (in der Malerei unmöglichen) Selbstüberschreitung des Visuellen gelesen werden muss. Erstens ist das Bild angeschnitten und verweist auf den bereits fotografi sch geprägten Lebensraum außer-halb der visuellen Markierung des zeitgenössischen Paris: keine Fest-schreibung mehr im mythischen, historischen oder landschaftlichen Moment, sondern Szenen direkt aus der Dynamik des industriellen Lebens gegriff en. Zweitens richten sich die Blicke der Figuren im Bild ins Außerhalb und ins Innerhalb des Bildes, die jeweils für sich unsichtbar bleiben. Das Außerhalb bleibt draußen, aber auch das In-nerhalb ist durch den vorbeiziehenden Dampf einer off enbar starten-den Eisenbahn, durch Spiegel oder Bühnen augenblickshaft verstellt. Und drittens schachtelt sich das Bild, etwa durch das Gitter in LA GARE SAINT-LAZARE, das ins Bild eingezogen ist, in ein zwei- und ein dreidi-mensionales Feld, die füreinander opak bleiben und zugleich auf eine Grenze der Malerei selbst hinweisen. Das Bild ist Selbstüberschreitung des Visuellen, die auf eine Beweglichkeit des Bildes hindeutet, welche die Malerei noch nicht einholen kann.14

In LA TRAHISON DES IMAGES (1928/29) von René Magritte wird das Außen nun bereits intermedial markiert. Auf doppelte Weise kann der Schriftzug „Ceci n’est pas une pipe“ gedeutet werden, so Foucault: Dies ist keine Pfeife, weil es nur das Bild einer Pfeife ist. Dies ist aber auch deshalb keine Pfeife, weil es nur eine graphische Zusammenstel-lung ist, die nach phonetischer Lesart die Worte „Ceci n’est pas une pipe“ ergeben. Die Wörter werden also hier ganz im Sinne Blanchots als Oberfl ächen gelesen und dennoch macht dieser Satz nur Sinn im Bezug und in der gleichzeitigen Distanz zum Bild der Pfeife, das erst die Hinführung zu Abspaltung und Entzug von der Repräsentation ist, welche die Wörter eben auch sind.15 Gilles Deleuze hat gerade in der Ausbuchstabierung dieser Diff erenz zwischen dem Sichtbaren und dem Sagbaren eine der entscheidenden theoretischen Lebensaufgaben Foucaults gesehen. In seinem Buch über Foucault beschreibt er die

14 Vgl. Foucault 1999. 15 Vgl. Foucault 1987, S. 36.

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philosophischen und epistemischen Dimensionen, die bereits den Analysen zu Magritte innewohnen:

„Sobald man jedoch die Wörter und die Dinge öffnet, sobald man die Aussagen und die Sichtbarkeiten entdeckt, erheben sich das Sprechen und das Sehen zu einem höheren ‚apriorischen‘ Unterfangen, so dass beide ihre eigene Grenze erreichen, die sie vom anderen trennt, ein Sichtbares, das nur gesehen werden kann, ein Sagbares, das nur gesagt werden kann. Und dennoch, die Grenze, die beide trennt, ist auch eine gemeinsame Grenze, die das eine mit der anderen in Beziehung setzt und die zwei asymmetrische Gesichter trägt, blinde Rede und stummer Blick. Foucault ist dem zeitgenössischen Kino außerordentlich nahe.“16

Bevor Deleuze die Nähe zum Kino explizit herausstellt, hat er jedoch Foucaults Ansatz nicht nur im Rahmen der Ästhetik, sondern auch als epistemische Konstellation medial, nämlich als Oszillation zwischen dem Sichtbaren und dem Sagbaren, charakterisiert. In Überwachen und Strafen beschreibt Foucault die Praktiken der Macht anhand der Entwicklungen des Strafrechts und des Gefängnisses. Obwohl beide Ebenen eine gemeinsame Ordnung ausbilden, sind sie doch nicht hie-rarchisch oder kausal aufeinander zu beziehen. Das Strafrecht ist Teil eines Diskurses und äußert sich auf der Ebene des Sagbaren. Das Ge-fängnis ist eine Praxis und äußert sich auf der Ebene des Sichtbaren. Beide Schichten kommunizieren miteinander. Es geht Foucault dar-um, zu zeigen, wie sich im Rahmen der Disziplinargesellschaft Straf-recht und Gefängnis innerhalb eines Macht/Wissens-Komplexes zur Abrichtung von Körpern zusammenfi nden. „Es formiert sich ein Wis-sen, das Techniken und ‚wissenschaftliche‘ Diskurse einschließt und sich mit der Praxis der Strafgewalt verfl icht.“17 Es geht Foucault also zum einen um die Verwissenschaftlichung des Strafens, die das Subjekt ‚optimieren‘ soll, zum anderen um die Praktiken des Einschließens, die einen ‚humanen‘ Vollzug der Strafe mit den Aussichten auf ‚Verbesse-rung‘ des Subjekts darstellen. Diese beiden Formen greifen ineinander, auch wenn sie eigenen medieninduzierten Ausgestaltungen folgen, die nicht einfach aufeinander reduzierbar sind.

Deleuze hebt diesen Aspekt der Unterscheidung zwischen den Prak-tiken des Sehens und Sagens bei Foucault nun besonders hervor. Die Unvereinbarkeit der beiden Äußerungsmodi gebiert in ihrem Zusam-mentreff en eine Diff erenz, die unvermeidbar, aber eben auch unauf-

16 Gilles Deleuze, Foucault, Frankfurt am Main, 1992, S. 94. 17 Ebd.: S. 33.

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hebbar bleibt. Das Gefängnis als optische Figur steht in einem kontras-tiven Zusammenhang mit der Rede der Strafj ustiz, sie stehen für die Untrennbarkeit von Macht (Gefängnis) und Wissen (Diskurs), ebenso wie für ihre Verfl echtung. Diese Bezugnahmen bezeugen erneut die Doppelgestalt des Außen: Einerseits das Außen als Raum, der sich den konkret bezeichneten Orten entzieht, sie aber gleichwohl mit kontu-riert, zum anderen als die in diesen Orten angelegten Kräfte, die den prozessualen Bezug zum Außen selbst bekunden. Foucault hat das in La trahison des images selbst umschrieben:

„Heimlich haben sich in einen Raum, in dem jedes Element allein dem Prinzip der figürlichen Darstellung und der Ähnlichkeit zu gehorchen scheint, die sprachlichen Zeichen eingeschlichen, die sich in weitem Ab-stand um das Bild herumtrieben und die die Willkürlichkeit der Titel für immer ausgeschaltet zu haben schienen; sie haben in die Festigkeit des Bildes, in seine sorgfältig gehütete Ähnlichkeit eine Unordnung ge-bracht – eine Ordnung, die nur ihnen eigen ist.“18

Foucault durchstreift die verschiedenen Disziplinen – die Ordnungen des Wissens sowie die medial-ästhetischen Konfi gurationen – um letzt-lich auf die modernen Erkenntnisbedingungen zu zielen, die er in die-sen Operationen, sei es das Gefängnis, seien es Bilder von Manet und Magritte, am Werk sieht. Diese sind, wie er am Ende von Les mots et les choses schlussfolgert, einerseits von dem Wunsch getragen, den in den empirischen Wissenschaften verlorenen Ursprung der Erkenntnisbe-dingungen wieder zu erlangen, sowie die Entfremdungen zurückzu-drängen, die aus den objektiven Lebensumständen und der Entde-ckung des Unbewussten hervorgehen. Andererseits ist die Konsequenz daraus, das Subjekt bzw. das Cogito endgültig als transzendentalen Ort der Erkenntnis aufzugeben und es immerhin in Form des Menschen als empirisch-transzendentale Dublette zu begreifen. „Der Mensch ist in der Analytik der Endlichkeit eine seltsame, empirisch-transzenden-tale Dublette, weil er ein solches Wesen ist, in dem man Kenntnis von dem nimmt, was jede Erkenntnis möglich macht.“19 Foucault selbst steht dieser Erkenntnis wiederum in ähnlich empirisch-transzendenta-ler Weise gegenüber. Einerseits ist diese Episteme eine, die sich den anderen – der Ähnlichkeit der Renaissance und den Taxonomien der Klassik – historisch nachordnet und von Foucault kühl analysiert wird. Andererseits fußt Foucaults Analytik selbst in dieser modernen Episte-

18 Foucault 1987, S. 36. 19 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main, 1993, S. 384.

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me. Er steht also der empirisch-transzendentalen Dublette selbst dub-lettenhaft gegenüber, ist gleichsam fasziniert von den transzendentalen Einkerbungen des Empirischen, die aber eben nicht mehr als das Tran-szendentale abgekoppelt von diesem begriff en werden können, son-dern selbst gleichsam empirisch gebrochen werden. Das Transzenden-tale ist mit dem Empirischen verfl ochten, aus diesem herausgedrängt und dennoch ständig anwesend, wie Foucault präzise feststellt:

„Der Mensch hat sich nicht als eine Konfiguration in der Episteme ab-zeichnen können, ohne dass sein Denken gleichzeitig, sowohl in sich und außerhalb seiner, an seinen Rändern, die aber ebenso mit seinem eigenen Raster verwoben sind, ein Stück Nacht, eine offensichtlich un-tätige Mächtigkeit, in die es verwickelt ist, ein Ungedachtes, das voll im Denken enthalten, in dem das Denken ebenso gefangen ist, entdeckt.“20

Alle Versuche, dieses Ungedachte einzuholen, das An-Sich mit dem Für-Sich zu versöhnen, haben sich an dieser Grenze abgearbeitet, um sie zugleich hervorzubringen. Es ist tief in den Positivitäten, also den empirischen Materialsammlungen, in den sich aufdrängenden Infor-mationen und dem positiven Wissen der Moderne, verankert. Wie Foucault in dem berühmten Text zum Außen darlegt:

„Dieses Denken hält sich aber gleichzeitig an der Schwelle jeder Positi-vität, nicht um deren Begründung oder Rechtfertigung zu leisten, son-dern um den Raum ihrer Entfaltung wieder zu finden, die Leere, in der sie sich aufhält und die Distanz, in der sie sich konstituiert und in der sich ihre unmittelbaren Gewissheiten verflüchtigen, sobald man seinen Blick auf sie lenkt. Dieses Denken bildet im Verhältnis zur Innerlichkeit unserer philosophischen Reflexion und im Verhältnis zur Positivität un-seres Wissens so etwas wie das ‚Denken des Außen‘“.21

Es ist also festzuhalten, dass die transzendentalen Bedingungen selbst aus dem empirisch verfertigten, positiven Wissen freigesetzt werden, dass sie dieses umkreisen und ihm angelagert sind. Zugleich bildet es keine gesicherte Grundlage, sondern trägt das positive Wissen gleich-sam von sich fort in eine Leere oder einen unmarkierten Raum. Schrift und Bild in La trahison des images verunsichern sich gegenseitig und führen in eine ungesicherte Episteme, die sie beide gleichsam reziprok hervorbringen, die aber zugleich ganz in das Innen der Denkoperatio-nen lenkt, die durch diese Überführung ins Außen gegeben ist. Das Außen ist also zugleich das Innen, wie die Selbstüberschreitung der

20 Ebd.: S. 394. 21 Foucault 1996, S. 49.

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Sprache bei Blanchot ins Außen aller Positivitäten, aber ins Innere der Äußerungsform führte. Repräsentation und Sprache (ir)realisieren sich gegenseitig, ohne jedoch diese Wechselseitigkeit in eine Richtung hin aufgeben zu können.

Deshalb hat Deleuze diesem Außen noch einmal eine folgerichtige, jedoch auf Blanchot und Foucault direkt aufbauende Wendung gege-ben, wenn er diesen Prozess der wechselseitigen Affi zierung als Kräfte-diagramm bezeichnet. Das Empirische und das Transzendentale, aber in der konkreten medialen Wendung auch das Sagbare und das Sicht-bare, stehen in einem Kräfteverhältnis miteinander, das Wandel und gegenseitige Hervorbringung impliziert. Das Außen ist dieser Wandel, der keine Fixpunkte kennt, sondern aus der Mitte heraus geschieht, keinen Anfang und keine feststehende Zukunft kennt. Deleuze fasst das auf folgende Weise:

„Aber das Außen betrifft die Kraft: wenn die Kraft stets in Beziehung zu anderen Kräften steht, verweisen die Kräfte notwendig auf ein irredu-zibles Außen, das nicht einmal mehr eine Form besitzt, das aus unzer-legbaren Zuständen besteht, über die eine Kraft eine andere beeinflusst oder von ihr beeinflusst wird. Eine Kraft überträgt sich stets von Außen auf andere Kräfte oder erfährt von diesen eine variable Einwirkung, die nur auf diese Entfernung oder innerhalb jenes Verhältnisses exisitiert. Es gibt folglich ein Werden der Kräfte, das nicht zu verwechseln ist mit der Geschichte der Formen, da es in anderen Dimensionen operiert. Ein Außen, entfernter als alle Äußerlichkeit und daher unendlich nä-her (...) Denken hängt nicht ab von einer schönen Innerlichkeit, die das Sichtbare und das Sagbare vereinte, sondern geschieht im Einbruch eines Außen, das das Intervall vertieft und das Innere aufsprengt und zersplittert.“22

Für diese Kräfte des Außen verwendet Deleuze auch den Begriff des Virtuellen. Das Aktuelle und Empirische werden bei Deleuze nicht durch festgelegte Regeln des Verstandes gewonnen, sondern durch das kontingente und wandelbare Zusammenwirken von Kräften.23 Ein ähnliches theoretisches Verhältnis sieht Deleuze in der Erkenntistheo-rie von Foucault am Werk. Dort aktualisiert sich das empirische Wis-sen im Sichtbaren und Sagbaren, in den von Foucault beschriebenen Positivitäten. Die Formen des Wissens werden jedoch von den virtuel-len Kraftlinien der Macht durchzogen, die vielfältig und verstreut

22 Deleuze 1992, S. 120 ff. 23 Vgl. dazu: Friedrich Balke, Gilles Deleuze, Frankfurt am Main/New York, 1998,

S. 45.

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agiert und Körper durchdringt, Lust verursacht und insgesamt als pro-duktive Instanz begriff en werden muss.24

Halten wir die entscheidenden Aspekte des Außen bis hierhin noch einmal fest. Das Außen bezeichnet eine spezifi sche Erkenntnissituation der Moderne, in welcher der Mensch zugleich Subjekt und Objekt der Erkenntnis ist. Das empirische und das transzendentale Wissen sind dynamisch aufeinander bezogen, wandelbar und rufen sich gegenseitig auf, ohne auf festem Grund zu stehen. Das Wissen reicht auf diese Weise immer schon von vorneherein über sich selbst hinaus, weshalb die Rede von der Selbstüberschreitung Sinn macht. In der Ästhetik von Sprache und Bild werden diese Formen der Selbstüberschreitung sinn-lich und konzeptionell erprobt und damit auf performative Weise sichtbar. Die Irrealisierungsprozesse bei Blanchot können dies verdeut-lichen. In den Bildmedien wird die Sebstüberschreitung räumlich er-fahrbar, weil das Außen direkt mit dem Unsichtbaren und Nicht-Sichtbaren des Bildes konfrontiert wird. Bilder haben also eine sinnlich evidente Beziehung zum Außen, die durch die Inkraftsetzung von Sichtbarem und Unsichtbarem erst markiert wird. Der Weg vom Sicht-baren zum Unsichtbaren/Nicht-Sichtbaren ist der Moment der De-markierung, wobei das Außen immer diese Doppelstellung behält: ei-nerseits die Verwiesenheit des Empirischen und Evidenten auf ihre Konstitutionsbedingungen mitzukommunizieren, andererseits die Austauschbeziehungen stets nur in Formaten der Wandelbarkeit zu ge-ben. Anders gesagt: Das Außen ist Fluchtbewegung und Virtuelles zu-gleich. Neben der erkenntnistheoretischen und ästhetischen Leistung gerät mit Foucault die damit verknüpfte mediale Dimension als eine dritte Ebene des Außen in den Blick. Zwar sind bereits die ersten bei-den Ebenen medial affi ziert, doch spielt die innermediale Konstellati-on, etwa im Beispiel von Magritte, eine entscheidende Rolle. Bild und Schrift, das Sichtbare und das Sagbare markieren eine Grenze, die bei-de als eigenständige mediale Äußerungen überhaupt erst in den Blick rückt und ineinander verschiebt. Die medialen Äußerungsformen drängen sich jeweils ins Außen des Anderen und damit auch ins Innen, sind sie doch ohne die andere mediale Dimension nicht zu denken. Sie greifen jeweils über sich hinaus (Fluchtbewegung) und sind doch nur als Interaktion greifbar (aktuell/virtuell).

24 Vgl. dazu: Michel Foucault, Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin, 1978, S. 35.

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3. Bestimmungen des Außen im Film

Die Beziehungen zum Film sind nun bereits an vielfältigen Stellen her-gestellt, sollen aber im Folgenden fundiert werden. Dazu sind vier Schritte nötig: Zunächst geht es darum, die bisherigen bildphilosophi-schen Ausführungen an konkrete fi lmtheoretische Begriff e zurückzu-binden, die sich mit dem Außerhalb und dem Außen des Films be-schäftigen, also mit dem hors-champ und dem hors-cadre. Zweitens sollen die wesentlichen Elemente der Th eorie des Außen bzw. des Zwi-schenraums, die Gilles Deleuze hinsichtlich des modernen Films ent-wickelt, dargelegt werden. Drittens geht es daran anschließend darum, das Projekt einer medialen Moderne des Films deutlicher zu konturie-ren. Bei Foucault schon angedeutet, besonders aber bei Deleuze gibt es ein Bewusstsein des Einfl usses der Medien auf die Modernität des Films. Die Entstehung des modernen Films aus der Unhintergehbar-keit des Einfl usses anderer Medien bedarf jedoch noch einer deutlichen Herausarbeitung. Dies wird besonders dann wichtig, wenn die Ent-wicklung des modernen Films bis in die Gegenwart hinein beschrieben wird. Denn gerade die medialen Einsätze verändern den Film, machen aus einem zunächst ästhetisch zu begreifenden Unternehmen ein epis-temisches, weshalb in einem vierten Schritt die Verschiebung einer me-dialen zu einer epistemischen Moderne im Film in den Blick genom-men werden soll, die in gewisser Weise als Fortsetzung des Projekts einer empirisch-transzendentalen Dublette im Medium der bewegten Bilder begriff en werden kann, wie sie Foucault als Programm der Mo-derne ausgerufen hatte.

3.1 Die inhärente Selbstüberschreitung des Films

Anders als die Malerei und die Fotografi e, verfügt der Film durch seine Bewegtheit über inhärente mediale Mittel der Selbstüberschreitung, die sich vor allem in den Formen des Sichtbaren und Nicht-Sichtbaren abspielen. Das Sichtbare ist immer auf das Nicht-Sichtbare bezogen und umgekehrt. Dabei sind nicht nur Bilder virtuell, also im Augen-blick nicht-sichtbar, sondern auch Töne. Die Begriff e, mit denen das Nicht-Sichtbare beschrieben wird, sind im Allgemeinen die des hors-champ und des hors-cadre. Sie werden meistens folgendermaßen un-terschieden: Hors-champ bezeichnet das Außerhalb des Bildes, das aber jederzeit sichtbar werden kann. Hors-cadre hingegen bezeichnet das Unsichtbare, das nicht sichtbar werden kann. Im Anschluss an

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Noël Burchs Untersuchungen gibt es sechs Formen des hors-champ. Darunter fallen die beiden Seiten rechts und links sowie ober- und unterhalb des Bildfeldes. Das fünfte und sechste hors-champ sind der Raum hinter den Kulissen und der Raum vor der Kamera.25 Dieses sechste hors-champ ist eigentlich ein hors-cadre, da es auf den Entste-hungsort des Kamerablicks verweist, der selbst nicht sichtbar werden kann, bestenfalls als Blick zweiter Ordnung, der wieder ein eigenes hors-cadre produziert.

Neben dem Paar champ/hors-champ ordnen sich ähnliche Begriff s-paare an, die zunächst auf das Gleiche abzielen. So bezeichnen David Bordwell und Kristin Th ompson champ/hors-champ auch als onscreen und off screen,26 Pascal Bonitzer hat neben cadre/hors-cadre auch scène/hors-scène in ähnlicher Bedeutung vorgeschlagen.27 Es gibt je-doch feine Diff erenzen zwischen diesen verschiedenen Begriff spaaren, die zwar grundsätzlich alle das Verhältnis des Sichtbaren zum Nicht-Sichtbaren und gegebenenfalls Unsichtbaren zum Inhalt haben, jedoch im Grunde verschiedene, wenn auch miteinander korrelierende Di-mensionen der Verschiebung zum Ausdruck bringen. In Bezug auf das Verhältnis des Sichtbaren zum (augenblicklich) Nicht-Sichtbaren bringt onscreen/off screen die narrative, champ/hors-champ die visuel-le, scène/hors-scène die inszenatorische und cadre/hors-cadre die me-diale Ebene dieser Beziehung zum Ausdruck. Diese mögen oftmals gleichzeitig auftreten, bringen jedoch auch ein spezifi sches Eigenge-wicht ein.

Konkret heißt das, onscreen/off screen würde sich vor allem mit der erzählenden Ebene des Verhältnisses von Sichtbarem und Nicht-Sicht-barem beschäftigen. Oft ist es hier so, dass alles was nicht von informa-tivem Wert hinsichtlich der Narration ist, in den off screen abgedrängt wird (der Ton spielt hier allerdings eine Sonderrolle). Beim Verhältnis champ/hors-champ spielt der visuelle Übergang zwischen dem Inner- und Außerhalb eine herausragende Rolle. Die langen Kamerafahrten von THE TOUCH OF EVIL (Orson Welles 1957), von WEEKEND (Jean-Luc Godard 1967) oder THE PLAYER (Robert Altman 1992) sind nicht nur aus narrativen Gründen interessant, sondern unter anderem, weil

25 Vgl. Noël Burch, Une praxis du cinéma, Paris, 1986. Hier zitiert nach der glänzen-den Aufarbeitung der verschiedenen Ebenen des hors-champ durch: Kayo Adachi-Rabe, Abwesenheit im Film. Zur Geschichte und Theorie des hors-champ, Frankfurt am Main, 2005.

26 Vgl. David Bordwell, Kristin Thompson, Film Art. An Introduction, New York, 2006.

27 Pascal Bonitzer, Le regard et la voix, Paris, 1976.

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eine visuelle Verkettung von Schauwerten, Farben, Landschaften, Per-sonen und Grenzen einen eigenen visuellen Rhythmus oder gar Sinn hervorbringt. Es geht hier also nicht nur um die narrative Information, sondern ebenso oder gar eher um die Flexibilisierung des (Kamera-)Blicks. Das Paar scène/hors-scène hingegen kann sich an einer Idee von Michel Chion orientieren, der sich fragt, warum das Bild im Film ei-gentlich dazu tendiert, eine Vorrangstellung gegenüber dem Ton einzu-nehmen. Seine Th ese ist, dass das Bild kadriert ist, also eine Rahmung erfährt, der Ton aber nicht.28 Das heißt auch, Bild und Kadrierung sind nicht das gleiche, sondern die Kadrierung lässt das Bild erst ent-stehen und kann sich in Grenzfällen auch über dieses hinweg bewegen. Hier sind Kamerabewegungen, die zum Beispiel aus einem Bild eine Mehrfachkadrierung machen oder auch Doppelbelichtungen und Überblendungen einschlägige Möglichkeiten. Auch wenn wir den Un-terschied von cadre und Bild normalerweise nicht zur Kenntnis neh-men, so liegt er doch dem In-Szene-setzen des Visuellen zu Grunde. Das hors-scène wird zum Beispiel dann sichtbar, wenn eine Kadrierung eine andere zurücklässt oder auch schon in der Kadrierung der Kadrie-rung. So verweist etwa der Beginn von REAR WINDOW (Alfred Hitch-cock 1954) vom kinematographischen Bild auf eine Bühne und von dieser auf ein Fenster und von diesem im Laufe des Films auf das Tele-objektiv. Hier liegt der Fokus nicht auf Information oder Blick, son-dern auf der Perspektive, die der Film gegenüber seinen eigenen Bil-dern einnehmen kann. Cadre/hors-cadre schließlich bezeichnet die mediale Dimension, die gleichsam außerhalb aller Kadrierungen tritt und in gewissem Sinne das radikale Außen des Films darstellt. Wäh-rend die ersten drei Ebenen noch auf das Innerhalb bezogen werden können, indem sie Übergänge ausloten und Grenzen verschieben, springt das hors-cadre ins Jenseits jenseits des Films (aber nicht jenseits des Filmischen, denn es markiert die äußerste Grenze des Films). Es nähert sich sicherlich am radikalsten der Idee des Unsichtbaren, etwa dem Vorschlag Kayo Adachi-Rabes, die im Anschluss an Deleuze eine Unterscheidung zwischen relativem und absolutem Off vorgeschlagen hat, wobei ersteres das vom Sichtbaren einholbare Außerhalb ist, letz-teres hingegen das konstitutiv Unsichtbare darstellt.29

Die beschriebenen vier Konstellationen haben also einerseits mit der medialen Grundkonstellation zu tun, da jeder Film ein Innerhalb und Außerhalb unterscheiden muss, das Außen also eine technisch-disposi-

28 Michel Chion, Le son, Paris, 1998, S. 204. 29 Vgl. Adachi-Rabe 2005.

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tive Bedingung darstellt. Andererseits sind diese Bedingungen wandel-bar, da sie ästhetisch aufgerufen werden müssen und damit auch einem Wandel unterliegen. Es geht in den Übergängen vom klassischen zum modernen Film und von der medialen zur epistemischen Moderne (letztere steht hier stärker im Zentrum) um die Beobachtung dieses Wandels, und mithin um die Behauptung, dass sich die Medialität des Films – also seine Auff assung, welche Wahrnehmungs- und Erkennt-nisbedingungen er jeweils aufwirft und behandelt – als historische Ent-wicklung seiner Ästhetik beschreiben lässt. Das Verhältnis von Sichtba-rem und Unsichtbarem, das durch die vier Begriff spaare aspektiert wird, spielt dabei nicht die einzige, aber doch eine wesentliche Rolle und führt zum Außen, das im modernen Film besonders hervortritt. Dabei kann festgehalten werden, dass hors-champ und off screen be-reits im klassischen Film gut ausformulierte ästhetische Strategien wa-ren. Im modernen Film geraten sie nun in eine Dynamik, da hors-scène und hors-cadre, an dem sie aber gleichsam partizipieren, stärker in den Blick geraten.

3.2 Das Aufkommen des Außen im Film

Folgt man Deleuze, so gewinnt das Außen als fi lmphilosophische (also den Film als Denkform fundierende) und fi lmtheoretische (diese Denkform in konkreten Formen formulierende) Dimension mit dem Aufkommen des modernen Films nach dem Zweiten Weltkrieg eine entscheidende Kontur, die mit dem Bruch der sensomotorischen Be-ziehungen, die das Aktionsbild fundiert hatten, einsetzt.30 Bilder setzen sich nun nicht mehr einfach in andere Bilder fort, die sie narrativ, das heißt körperlich, kausal, räumlich und zeitlich nach mehr oder weniger festen Regeln ordnen, sondern ihre Verknüpfung wird fragwürdig. Da-durch entstehen hinsichtlich des hors-champ zwei Veränderungen, die im Verhältnis von Innerhalb und Außerhalb des Bildes wichtig werden. Da zum einen das eine Bild nicht mehr gemäß einer gewohnten Auto-matik aus dem anderen folgt, stehen zwei Bilder in einem Verhältnis des Außen zueinander. Sie verketten sich eben nicht mehr nach schein-bar natürlichen (und medial naturalisierten) Vorgaben, sondern als Zusammenstoß. Zum anderen werden die Zwischenräume zwischen den Bildern wichtig, mit anderen Worten, der Verknüpfungsmodus, das relationale Glied, das im klassischen Film wahrnehmungsphysiolo-

30 Vgl. Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt am Main, 1991, S. 11 ff.

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gisch durch das Malteserkreuz und narrativ durch die klassische Mon-tage tatsächlich unsichtbar gehalten wurde. Dieses Unsichtbare des Zwischenraums tritt nun hervor und rückt zunehmend in den Fokus der miteinander montierten Bilder. Diese beiden Relationen des Au-ßen dehnen sich weiterhin auch auf die Beziehungen zwischen Bild und Ton aus, wie zahlreiche Studien gezeigt haben,31 und auch auf ganze Filme. Nur so können die Kreisläufe des Inkompatiblen entste-hen, die Deleuze in Bezug auf zahlreiche Filme, etwa als Kreisläufe von Wahrnehmung/Erinnerung, Gegenwart/Vergangenheit, Dokument/Fiktion oder Wahr/Falsch als Denkbewegungen charakterisiert.

Liegen hier die Beziehungen der Bilder untereinander im Blick-punkt, die sich jeweils im Außen des anderen, in Kreisläufen des Aktu-ellen und Virtuellen manifestieren, hebt Deleuze den Begriff des Au-ßen besonders hinsichtlich der Zwischenräume, die durch die Montage geschaff en werden, hervor. Montage, das ist nun der irrationale Schnitt, der Bilder zusammenfügt, dabei aber das Unverbindbare und Unter-scheidende in den Vordergrund bringt. Dadurch gibt es eine folgenrei-che Verschiebung vom Erzählbild zum Denkbild. Dieses Denkbild wird durch den Zwischenraum, den irrationalen Schnitt erst erzeugt, der aber bei Deleuze merkwürdigerweise selbst als Undenkbares zu ver-stehen ist. Hier kehrt der unmarkierte Raum oder die Leere zurück, die bereits Foucault als Aspekt des Außen charakterisiert hatte: das Raunen oder Gemurmel des Seins. Die Selbstüberschreitung erzeugt einen Raum und wird von ihm erzeugt, der selbst nicht einholbar ist und dennoch als Grenzverschiebung am Werke ist. Deleuze resümiert:

„So entwickelt das moderne Kino unter drei Gesichtspunkten neuartige Beziehungen zum Denken: unter dem Gesichtspunkt der Auslöschung des Ganzen oder der Totalisierung der Bilder zugunsten eines Außen, das sich zwischen sie einfügt: der Auslöschung des inneren Monologs als des Ganzen des Films zugunsten einer freien indirekten Rede und Sicht; der Auslöschung der Einheit des Menschen mit der Welt zuguns-ten eines Bruchs, die uns nicht mehr als den Glauben an eben diese Welt belässt.“32

31 Beispielhaft und aufbauend auf Michel Chion, Rick Altman und Gilles Deleuze zum Beispiel: Silke Martin, Die Sichtbarkeit des Tons im Film. Akustische Moderni-sierungen des Tons seit den 1920er Jahren, Marburg, 2010.

32 Deleuze 1991, S. 243. Zum irrationalen Schnitt vgl. auch die fundierte philoso-phische Auseinandersetzung mit Deleuze von Mirjam Schaub, Gilles Deleuze im Kino. Das Sichtbare und das Sagbare, München, 2006.

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Ein besonders überzeugendes Beispiel für diese ästhetisch-epistemische Neuordnung ist der kurze Film Jean-Luc Godards LETTRE À FREDDY BUACHE (1982), den Deleuze als Paradebeispiel für die indirekte Sicht des modernen Kinos begreift.33 Der Film gibt vor, ein Porträt der Stadt Lausanne zu sein. Doch statt repräsentative Gebäude und prägende historische Personen zu zeigen, statt Daten aus der Geschichte der Stadt aufzuzählen, statt auf kausale und linear-chronologische Verbin-dungen zu achten, beschreibt der Film Lausanne als eine Reihe von Grenzverschiebungen, etwa zwischen dem Wasser und dem Land (der Genfer See triff t ans Ufer), zwischen dem Oben und Unten der Stadt (die Berge, die Wiesen, der See) und zwischen den Farben (grün, grau und blau als die Farben von Hügel und Wiese, von Stadt und Ufer, vom Wasser). Diese scheinbaren Grenzziehungen werden jedoch kons-tant ineinander geblendet und verwischt. Godard nutzt rasche Schwenks, plötzliche Schnitte und auch Zeitlupen, um den Zwischen-räumen gleichsam einen Raum zu verschaff en, der dadurch nicht drei-dimensional, historisch und geographisch und damit topographisch verortbar ist, sondern eine eigene fi lmische Topologie ausbildet.34 Lau-sanne ist nicht grün, grau, blau, sondern konstituiert sich in den – auch videographisch erzeugten – irrationalen Schnitten und Übergän-gen. Anders gesagt: Lausanne als fi lmischer Ort bleibt im Außen, es gibt kein korrektes Bild, sondern nur die Überschreitung der inhären-ten Grenzen. Wenn man die Farben, Landschaften, Menschen und den geographischen Ort als das empirische Material bezeichnen möchte, so ist der Schnitt die transzendentale Ebene, die den Film zu dieser empi-risch-transzendentalen Dublette macht, wie sie von Foucault als Epis-teme der Moderne beschrieben wurde.

Allerdings gibt es hier noch weitere Ebenen, und zwar den Schnei-detisch und den Rhythmus der Schallplatte Bolero, an denen Godard immer wieder herumhantiert. Sie sind aber im Film nicht als Manipu-lationsinstrumente eingefügt, wie man das in einem konventionellen making of machen würde, in denen die Handwerker des Films gerne erzählen, wie sie einen bestimmten Eff ekt erzielen, sondern sie spielen sich auf der gleichen empirischen Ebene ab wie die Bilder von Lau-sanne. Demnach sind auch diese Bilder und Töne als scheinbar trans-zendentale Ebene bereits von vorneherein vom Empirischen durch-

33 Vgl. Deleuze 1991, S. 242/243. 34 Zur Unterscheidung von Topographie und Topologie und zur Ausdifferenzierung

letzterer, vgl. Laura Frahm, Jenseits des Raums. Zur filmischen Topologie des Urba-nen, Bielefeld, 2010.

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setzt, befi nden sich auf einem Niveau mit diesem. Deleuze bezeichnet diese permanenten Reperspektivierungen auch als freie indirekte Sicht des Films, die im modernen Film an Dominanz gewinnt. Dass Ganz-heitsvorstellungen im modernen Film – in der Moderne überhaupt – fragwürdig geworden sind, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Die freie indirekte Sicht zielt daher darauf, die Neuordnungen und Grenz-ziehungen, die von den Dingen weg auf die Grenzen und Zwischen-räume zielen, auch als intervenierende Einschnitte aufzuweisen und jede direkte Sicht als mediatisierte zu begreifen.

Diese freie indirekte Sicht, die im Zeit-Bild vor allem auch in der Fortschreibung von Michail M. Bachtins Polylingualismus angelegt ist,35 wird also deshalb wichtig, weil sie die bei Deleuze nur angedeute-te, aber nicht besonders erläuterte Ebene des Medialen zu beschreiben hilft, die daher im Folgenden noch ausgeführt werden muss. Deleuze deutet den Einfl uss der Massenmedien und der mit diesen aufkom-menden vielfältigen, verstreuten und jede ganzheitliche Organisation übersteigende Vielsprachigkeit immer wieder an. Der Film erfi ndet im Grunde zwei große Reaktionen darauf. Die erste liegt im Klischee, die zweite in der konstruktivistischen Serie. Die erste ist, nach Deleuze, eigentlich eine Sackgasse, weil der Film nur noch vorgeformte Bilder, Töne und Sprechweisen in eine parodierende und ironisierende Form bringen kann, der man auch die Gewaltexzesse, die das US-amerikani-sche Kino ab den 1970er Jahren vermehrt hervorbringt, zuordnen kann. Das Klischeebild wird dabei aufgesprengt und die vielfältigen Gewalt- und Explosionsszenen sind zugleich Implodierungen des Bil-des, das sich selbst nicht mehr erträgt.36 Hier ist Deleuze mit seiner Zurückweisung des New Hollywood sicherlich zu kurzsichtig und sein Denken wäre bis zum postklassischen Film und darüber hinaus fortzu-schreiben. Denn längst ist das gegenwärtige US-amerikanische Kino weit hinaus über einfache Parodien und Klischees und hat neue Aus-drucksmöglichkeiten gefunden, die neben den unten zu besprechen-den mind-game movies auch romantische Komödien neuen Stils her-vorgebracht haben, um nur einige der ästhetischen Entwicklungen anzudeuten.37 Die zweite Reaktion ist jedoch die des modernen Films, der eine ästhetische Neuordnung vornimmt und diese zugleich mit ei-nem neuen epistemischen Projekt verbindet, welches das Bild ernst

35 Vgl. Deleuze 1991, S. 243. 36 Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt am Main, 1989, S. 280 ff. 37 Vgl. Katja Hettich, Die melancholische Komödie. Hollywood außerhalb des Main-

streams, Marburg, 2008.

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nimmt und aus der Unterordnung der Erzählung befreit. Dabei geht es darum, die erschiedenen Aussageweisen in Serie zueinander zu setzen und sie wechselseitig miteinander zu konfrontieren, ähnlich wie Godard das in Bezug auf die Stadt Lausanne gemacht hat. Es ist zu betonen, dass sich diese Freisetzung der Bilder auf die klassische Erzählung bezieht, wie sie etwa David Bordwell beschreibt. Daneben und gleichzeitig hat sich die Erzähltheorie mit zahlreichen neuen Modellen des Erzählens beschäftigt, welche ihre zunehmende Komplexität unterstreichen.38

Serialisierung, Pluralisierung der Aussageweisen, Zerstückelung der Bilder, Neuorientierung des Verhältnisses von Bild und Ton sind je-doch Ausweisungen des modernen Films. Und doch fehlt in der Be-stimmung dieser Umwälzung der Filmästhetik ein entscheidender Baustein, wenn man sie nicht als Reaktion auf eine veränderte mediale Situation interpretiert. An verschiedenen Stellen habe ich die Th ese vertreten, dass der Film oftmals in Auseinandersetzung mit anderen Medien zu innovativen ästhetischen Neuorientierungen gelangt.39 Das war etwa in der klassischen Moderne der 1920er Jahre der Fall, als der Film sich endgültig als eigenständiges Medium gegenüber den klassi-schen Medien Th eater, Malerei, Literatur und Architektur platziert hat. Das gilt insbesondere aber auch für den modernen Film ab spätes-tens den frühen 1960er Jahren, der nun – anders als der Film der 1920er Jahre – mit dem klassischen Erzählfi lm eine repräsentative Form hat, von der er sich absetzen kann. Ab den 1960er Jahren bre-chen die anderen Medien, ausgehend vom Fernsehen, in den Film ein, etwa Fotografi e und Comic, und dann ab den 1980er Jahren auch Vi-deo und Werbeästhetik, die nun unhintergehbarer Teil der Filmästhe-tik werden. Sie erfordern eine Neubestimmung des Films über den Begriff des Außen. Dieser verbindet die medial-epistemische Situation des Films mit den bisherigen Bestimmungen, die darin bestanden, das Wechselverhältnis des Sichtbaren und Unsichtbaren mit den „hors“-Begriff en zu erweitern sowie eine Th eorie des Zwischenraums durch die Hervorhebung des irrationalen Schnitts zu entwerfen. Es ist also aus einer medientheoretischen Perspektive des Films wichtig, diese äs-thetischen und epistemischen Schritte des Films vor dem Hintergrund der unhintergehbaren Einbindung anderer Medien in den Film zu be-

38 Vgl. etwa: Fabienne Liptay und Yvonne Wolf (Hrsg.), Was stimmt denn jetzt? Un-zuverlässoges Erzählen in Literatur und Film, München, 2005; Markus Kuhn, Film-Narratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell, Berlin, 2013.

39 Vgl. Oliver Fahle, „Der Film der Zweiten Moderne oder Filmtheorie nach Deleu-ze“, in: Friedrich Balke, Marc Rölli (Hg.), Philosophie und Nicht-Philosophie. Gilles Deleuze. Aktuelle Diskussionen, Bielefeld, 2011, S. 115–129.

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trachten, die den modernen Film erst möglich machten, und sich den vielfältigen Entwicklungen des modernen Films seit etwa 1960 unter diesem Gesichtspunkt anzunähern. Denn das Eindringen der anderen Medien wandelt sich mit diesen und ihren medialen Umgebungen, mit denen der Film sich konfrontiert sieht.40

Dabei ist sogar das langsame Herausschieben des Films aus der Rol-le des Leitmediums im und durch den Film selbst beobachtbar und drängt ihn paradoxerweise doch wieder in eine essentielle Funktion, wenn es um die Beschreibung bildmedialer Konstellationen der Ge-genwart geht, die vor allem auch die digitalen Medien einbeziehen. Anders gesagt: Auch wenn die elektronischen und digitalen Medien vom Fernsehen bis YouTube den Film zunehmend aus der Rolle des möglichen Leitmedialen herausdrängen, so ist es doch der Film, der die ästhetisch-epistemischen Möglichkeiten der Bildmedien der Gegen-wart im Wesentlichen mitzubestimmen weiß. Es muss also zunächst noch einmal bestimmt werden, inwiefern sich die fi lmische Moderne der 1960er Jahre unter Einfl uss der anderen Medien ästhetisch heraus-gebildet hat und welche epistemischen Folgen dies hatte.

4. Die mediale Moderne des Films

Man kann in ganz verschiedene Filme der 1960er Jahre hineinblicken und wird oft das Vorkommen anderer Medien und die Auseinanderset-zung mit ihnen erkennen. Zwar entstehen die Filme der 1960er Jahre noch ganz im Geiste der Cinephilie, das heißt von der Vorstellung des Films als Leitmedium ästhetischer Innovation geprägt, doch sind die Anwesenheit anderer Medien und damit auch die Bedrohung dieser cine-ästhetischen Vorherrschaft bereits gut erkennbar. Schauen wir auf einen der wichtigsten Filme dieser Zeit: BLOW UP von Michelangelo Antonioni aus dem Jahr 1966.41 Dieser Film steht selbst in Antonionis Œuvre singulär, da er über den erkenntnistheoretischen Status des Films spekuliert und diesen radikal relativiert. Ein Fotograf beobachtet ein Verbrechen, wahrscheinlich einen Mord. Doch es ist nicht er, der

40 Eine Sonderstellung in der Entwicklung des modernen Films nehmen dennoch die Filme der 1920er Jahre ein, die sich vor und mit dem klassischen Erzählmodell des Films entwickeln. Der Stummfilm unterläuft zahlreiche Trennungen – etwa die zwischen klassischem und modernem, aber auch zwischen Erzähl- und Experi-mentalfilm – was einen gesonderten Blick erfordert.

41 Zu dem Film und zum Œuvre Antonionis vgl. neuerdings: Jörn Glasenapp (Hg.), Michelangelo Antonioni, München, 2012.

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dies sieht, sondern seine Kamera, die wiederum auch nicht den Mord beobachtet, sondern nur einen Toten im Park. Hier schon wird die Verschiebung der Wahrnehmbarkeit von Welt deutlich, die vom Men-schen an die technischen Medien übergeht. Aber von welchen Medien ist die Rede? Film und Fotografi e treten in BLOW UP in Konkurrenz zueinander oder arbeiten komplementär an der Aufklärung der Ge-schichte des Toten. Die Fotografi e kann das nur, indem immer weitere Vergrößerungen angefertigt werden, bis die Körnigkeit des Bildes das Figürliche selbst wieder an seine technischen Entstehungsbedingungen zurückverweist. Der Film wiederum hat das Narrativ anzubieten: eine geheimnisvolle Fremde, welche die Negative zurückhaben möchte, ein Fotograf, der sich wieder an den Tatort begibt, um weitere Spuren des Verbrechens aufzufi nden. Beide Medien bleiben erfolglos. Notwendi-gerweise, da die ‚Wahrheit‘ nun medial relativierbar geworden ist. Jedes Medium entfaltet seine spezifi schen Bedingungen der Sichtbarma-chung und verweist dabei in seinen blinden Flecken (Bewegungsbild versus Momentaufnahme) auf das andere und dieses wieder zurück. Da-Zwischen verschwinden das Verbrechen, die Motive und letztend-lich der Tote gleichsam in den medialen Passagenräumen.

Dies kulminiert in der Schlussszene, in der Pantomimen ein Tennis-spiel auff ühren. Ball und Schläger müssen hinzuimaginiert werden. Der Fotograf schaut sich das an. Der Ball fl iegt über den Zaun, die Darsteller bitten ihn diesen zurückzuwerfen. Nach kurzem Zögern nimmt er das Spiel an, wirft den Ball zurück. Im hors-champ geht das Spiel weiter, man hört das Ploppen des Balles. Dies ist eine akustische Kadrierung, denn der Ton tritt als eigene Dimension hervor, nach nar-rativen Gesichtspunkten dürfte es ihn gar nicht geben, da kein Ball im Spiel ist. Dennoch hat der Ton natürlich eine gewisse Logik, weil es sich ja um ein Tennisspiel handelt, aber er verweist auf das Außen im Sinne des hors-scène, eine Kadrierung, die gewissermaßen mit einem (logischen) Bein innerhalb, mit einem anderen außerhalb des narrati-ven Bildes steht. Ist der Ball eine Einbildung des Fotografen? Das wäre die simple Interpretation im Sinne des Aktionsbildes. Oder ist die Ein-bildung Teil der wirklichen Welt und der Film damit nicht mehr in der Subjektlogik des klassisch-narrativen Films zu begreifen? Das wäre der moderne Film, der über die narrative Logik hinausgeht und – im Fall von BLOW UP – auf verschiedene mediale Realisierungsweisen verweist, die Welten überhaupt erst herstellen. Diese Auff assung legt der Film nahe, da er das Auftauchen und Verschwinden im Rahmen der Medien ständig thematisiert. Denn letzlich schwingt sich die Kamera nach oben und je höher sie in der Luft ist, desto kleiner wird der Fotograf,

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bis er schließlich – off enbar durch einen Schnitt im Bild – ganz ver-schwindet. Dies ist noch einmal eine Refl exion auf die gesamte media-le und epistemische Problematik des Films. Die Informationen, welche die Medien liefern, sind unzureichend. Es bedarf der Interpretation (da ist ein Toter, also ein Mord; da simuliert man ein Tennisspiel, also hört man einen Ball). Kein Medium ist ausreichend, um die Realität zu beschreiben, sondern sie relativieren und kommentieren sich gegensei-tig, verweisen auf die Perspektivierung der anderen Medien. Damit wird eine erkenntnismäßige Krise des Films aufgezeigt, denn er ist nun nicht mehr alleiniger Zugang zur – immer noch fi lmisch artikulierten – Wahrheit, sondern er ist nur ein Medium unter anderen, nur eine Wahrnehmungsdimension unter mehreren. Damit lässt sich aber auch leicht ein weiterer Schritt vollziehen: Ein Medium agiert gleichsam im Unsichtbaren des anderen, und der Bezug zwischen den Sichtbarkeiten des einen und den Sichtbarkeiten des anderen ist nichts anderes als das Außen.

Denn die blinden Flecken sind – ähnlich wie in LETTRE À FREDDY BUACHE – nicht sauber abgezirkelt, sondern bestimmen sich in den Überschreitungsfeldern. Das liegt bei Film und Fotografi e nahe, sind sie doch auf Grund des Ausgangsmaterials verwandt. Das Schlussbild vereinigt gleichsam beide bildmedialen Formate, wenn sowohl die Ka-merabewegung als auch die Körnigkeit und das plötzliche Verschwin-den des Protagonisten auf beide Medien verweist. Auch zeigt die ent-zerrte und wenig stromlinienförmige narrative Struktur von BLOW UP einen atomisierten Blick, den die Fotografi e auf die Welt wirft – viel-leicht sogar die Fernsehstruktur des unzusammenhängenden Bildein-drucks? Die Malerei gerät ins Spiel, wenn der Fotograf das abstrakt gepunktete Gemälde eines Freundes betrachtet, dessen Geliebte ihm später mitteilt, dass es genau das sei, was dieser möge, diese Möglich-keit, dass sich im abstrakten Bild immer wieder neue Perspektiven von Figuren ergäben. Es ist dieser Spielraum der Möglichkeiten, den die Bildmedien Fotografi e, Malerei und Film, aber auch die Pantomime, jedes auf ihre Weise betonen, die in BLOW UP im Gegensatz zu dem rauen Fakt eines toten Körpers stehen. Versöhnung und Aufklärung gibt es nicht, nur Verschiebung, Perspektivierung, perzeptive Über-schreitung. In BLOW UP steht also die mediale Verfertigung der Welt durch die technischen Bildmedien im Zentrum und gerade nicht die narrative Dimension der Aufklärung des Mordes, die überhaupt keine Rolle spielt. Deshalb wäre es auch verfehlt, wenn man den Film so beschriebe, als bliebe das Ende off en. Dies wäre eine narrativ geprägte Lesart. Der moderne Film verlagert seinen Blick jedoch vom narrativen

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Geschehen zum perzeptiven und damit konsequenterweise zum medi-alen und epistemischen.

Diese doppelte Verschiebung des Films, einerseits vom narrativen zum ästhetisch-selbstrefl exiven, dann aber auch von diesem zum medi-alen Blick, ist eine entscheidende Entwicklung der Modernität des Films. Es reicht nicht, wie in der Filmwissenschaft lange geschehen, nur den künstlerischen Aspekt der Filme der 1960er Jahre in den Mit-telpunkt zu rücken. Im Ausgang von Alexandre Astrucs Begriff vom caméra-stylo und François Truff auts Forderung, der Regisseur sollte die künstlerische Originalität des Schriftstellers adaptieren, in den Debat-ten also, die in der für den modernen Film der 1960er Jahre so enorm einfl ussreichen nouvelle vague dominiert haben, stand der Anschluss des Films an die modernen Formen der Kunst im Zentrum. Tatsäch-lich jedoch setzt der moderne Film gerade dort ein, wo diese Auff as-sung des originellen Künstlerbildes durch neue mediale Produktions-bedingungen, die wiederum selbst unter anderem vom Film geschaff en werden, zurückgedrängt wird. Die nouvelle vague hat das selbst er-kannt und etwa, wie bereits gesehen, in den Filmen Jean-Luc Godards in Szene gesetzt. Es ist jedoch auch in anderen Medien erkennbar, am einfl ussreichsten sicherlich im Aufkommen der Pop Art bereits in den frühen 1960er Jahren, die das Bild nicht mehr nur als selbstrefl exive künstlerische Äußerung begreifen, sondern massiv den Medieneinsatz (besonders der Massenmedien) und damit die mediale Durchsetzung der scheinbar künstlerischen Bilder forcieren.

Die mediale Moderne – wie ich dies jetzt nennen möchte – fi ndet zwar in den 1960er Jahren ihren stärksten Ausdruck, doch nicht um-sonst wird der Beginn des modernen Films auch vordatiert, etwa auf das Aufkommen des italienischen Neorealismus oder auf Vorläufer wie Orson Welles. Der Neorealismus hat ja nur am Rande mit dem ‚Mehr an Realität‘ zu tun, unter dessen Siegel er mal angetreten war, sondern vielmehr mit einer medialen Umcodierung. Anders als der Studiofi lm sollte er aktuelle Ereignisse verhandeln, um somit direkt in eine gesell-schaftliche, das heißt eine in diesem historischen Augenblick außerfi l-misch relevante Situation mit off enem Ausgang einzugreifen. Dennoch geschieht genau dieser Zugriff auf die ‚Realität‘ durch den Filter medi-aler Zurichtung. Dies ist etwa in PAISÀ (1946) von Roberto Rossellini deutlich. Der Film behandelt insgesamt fünf Episoden, die, einsetzend mit der Landung der Amerikaner in Sizilien, mehr oder weniger das Vorrücken der alliierten Armee nach Italien ab 1942 beschreiben. Die Episoden werden jeweils durch einen Kommentar, der einer Wochen-schau entnommen sein könnte, eingeleitet. Der Zuschauer wird auf

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sachliche Weise über die Ereignisse seit dem Ende der letzten Episode informiert. Hinzu kommt die oft unpersönliche Form der Erzählung, die ebenfalls eher einer Wochenschau gleicht, in der sich anonyme Ak-teure, Partisanen und Soldaten, im Kampf befi nden. Die a-subjektive, faktenorientierte, fragmentierte und beobachtende Position der Kame-ra und des Erzählers weisen neben den auch immer fi lmisch dramati-sierten Szenen auf ein anderes Medium hin: das Fernsehen. Das heißt, bereits der Neorealismus stellt im Medium des Films die Beschreibung von Ereignissen durch zwei mediale Formate dar: dem Drama des Films und dem Nachrichtenformat der Wochenschau, das später im Fernsehen fortgesetzt wird.

Die neorealistische Ästhetik spaltet sich also von Beginn an in zwei Stränge auf: Zum einen in den Versuch einer Ästhetik der Unmittel-barkeit, die Bilder aus dem Geschehen in Form der Direktheit und der Erlebbarkeit entstehen lässt; zum anderen in die Vermittlung, in der sich die Realität in verschiedene mediale Ebenen einordnet. Beide For-men – Unmittelbarkeit und Vermittlung – stehen sich jedoch nicht gegenüber, sondern spielen sich auf verschiedene Weisen zu. Dies wird vor allem durch die Schauspieler bewirkt, die nun zunehmend zu Cha-rakteren werden, denen man auch außerhalb des Films begegnen könnte, die gleichsam zufällig in den Film geraten sind, in dem sie sich nun verhalten müssen. Gilles Deleuze hat auf diesen neuen Typus des Schauspielers, der im modernen Film konstruiert wird, hingewiesen:

„Eine neue Art von Figuren für ein neues Kino. Da das, was ihnen zu-stößt, sie nicht wirklich betrifft und sie nur zur Hälfte angeht, verstehen sie es, von dem Ereignis denjenigen Teil abzuziehen, der in dem Gesche-hen nicht aufgeht: nämlich den Teil der unerschöpflichen Möglichkeit, der das Unerträgliche, das Untragbare, nämlich das Visionäre ausmacht. Deswegen war ein neuer Schauspielertypus notwendig: es waren nicht allein die Laienschauspieler, mit denen sich der Neorealismus seinen Anfängen zugewandt hatte, sondern es bedurfte, wenn man so sagen kann, professioneller Laien: Schauspieler, die wie ‚Medien‘ eher zu se-hen und sichtbar zu machen wissen als zu agieren und die gelegentlich auch stumm bleiben oder eine endlose, beliebige Unterhaltung führen können, statt zu antworten und einem Dialog zu folgen (wie in Frank-reich Bulle Ogier oder Jean-Pierre Léaud).“42

Schauspieler gehorchen also nicht mehr dem Modus des Aktionsbil-des, in dem sie vor allem im Schema von Aktion und Reaktion wahr-genommen werden, sondern sind selbst Medien, wie Deleuze das

42 Deleuze 1991, S. 34.

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nennt. Medien sind eher Beobachter als Akteure, sie sehen und ma-chen zugleich sichtbar, sie sind Sehend-Sichtbare, wie im Anschluss an Maurice Merleau-Ponty zu formulieren wäre.43 Was Deleuze über die Schauspieler schreibt, gilt aber für das Bild des modernen Films über-haupt: Es macht nicht einfach mehr nur eine Aktion sichtbar, sondern zugleich den Blick, der an der Hervorbringung der Aktion beteiligt ist. Dies wiederum hat bereits André Bazin in Bezug auf den Neorealismus erkannt, indem er den späteren Rossellini gegen seine italienischen Kritiker zu verteidigen versuchte, als diese dem Regisseur vorwarfen, den direkten Stil des Neorealismus von ROMA CITTÁ ABERTA (1945), PAISÀ (1946) und GERMANIA ANNO ZERO (1948) zugunsten eines sub-jektiv geprägten Neorealismus in STROMBOLI (1950), EUROPA ’51 (1952) und VIAGGIO IN ITALIA (1954) aufgegeben zu haben. Tatsäch-lich, so Bazin, führte Rossellini den Neorealismus erst zur Reife, indem er zeigte, dass es den naiven, realistischen Blick gar nicht gebe, sondern Realität und der Blick, der darauf geworfen wird, einen „unteilbaren Block“ (wie Bazin es nennt) bilden.44 Damit will Bazin darauf hinwei-sen, dass Realität auch im neorealistischen Film nicht Unmittelbarkeit sein kann, sondern die Prozesse der Vermittlung immer Teil der Er-schaff ung von Realität sind. Der Film der 1960er und 1970er Jahre bringt dann diese Medialität des Films zur Entfaltung. Bevor diese Massierung einsetzt, gibt es zahlreiche Filme bereits ab den 1940er Jah-ren, die schon Teil der medialen Moderne sind. Zu denken ist beson-ders an Orson Welles’ CITIZEN KANE (1941) und an verschiedene Fil-me Alfred Hitchcocks, insbesondere REAR WINDOW (1954).

Das Verdienst CITIZEN KANES liegt vor allem darin, das Subjekt als entscheidende Instanz des narrativen Bildes aufzulösen. Besteht das Aktionsbild aus handelnden Charakteren, die psychologisch einiger-maßen fest umrissen sind und klare Ziele verfolgen, so führt die Zer-setzung des Aktionsbildes vor allem über die Aufl ösung des Subjekts, das – in Form der Protagonisten – zunehmend zum Medium wird. In CITIZEN KANE ist das insoweit vorgezeichnet, als der Protagonist am Anfang des Films stirbt und danach durch Erinnerungen rekonstruiert wird. Auch hier steht zu Beginn genau diese gescheiterte Rekonstrukti-

43 Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Rein-bek, 2003. Zur filmischen Relevanz Merleau-Pontys vgl.: Oliver Fahle, „Die Ästhetik der bewegten Bilder“, in: Antje Kapust, Bernhard Waldenfels (Hg.), Kunst.Bild.Wahrnehmung.Blick. Merleau-Ponty zum Hundertsten, München, 2010, S. 159–173.

44 Vgl. André Bazin, Was ist Film, Berlin, 2004, S. 396. Dazu auch: Lorenz Engell, Bilder des Wandels, Weimar, 2003, S. 67 ff.

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on des Subjekts im Mittelpunkt, denn der Wochenschauclip, mit dem der Film einsetzt, stellt das Leben von Charles Foster Kane vor, seine Herkunft, seine Erfolge und Niederlagen, sein illustres Leben, seinen einsamen Tod. Dieser Clip funktioniert ähnlich wie solche Zusam-menfassungen von Personen des öff entlichen Lebens, die heute noch in den Nachrichten des Fernsehens als Form des Nachrufs präsentiert werden: durch eine Mischung von zusammengestellten Fakten und dem Versuch, dem Ganzen eine vor allem chronologische Logik zu geben, weniger eine bedeutungs- und sinnhafte. Insofern liefert CITI-ZEN KANE, ähnlich wie schon bei PAISÀ beobachtet, eine Auseinander-setzung zweier Medien, nämlich des Films und des Fernsehens avant la lettre.

Dem Fernsehen oder, da es ja das Fernsehen als Massenmedium noch nicht gab, der Fernsehästhetik (allerdings vermittelt durch die Sicht des Films) ist die Kreation von Sinn und Bedeutung eher fremd, es gibt sich mit Informationen, die gleichsam neutralisiert und zweck-mäßig operationalisiert werden, zufrieden. Auf Grund dieser medialen Aushöhlung des Sinns durch das Fernsehen entsteht der Impuls der Redakteure, dem wahren Kane auf die Spur zu kommen und es begin-nen die Treff en mit verschiedenen Weggefährten und Ex-Frauen, die der Wahrheit Kanes näher kommen wollen. Doch die Erinnerungsbil-der, die dabei entstehen, sind nicht einheitlich, es entstehen facettierte, mitunter widersprüchliche Bilder von Kane (was nicht mit der Fakten- und Nachrichtenlogik des Fernsehens korrespondiert). Entscheidend ist dabei: Es entstehen Bilder von Kane. Die Bilder als fabrizierte En-sembles können nicht übereinstimmen. Sie sind Medien, das heißt, sie zeigen sich als Bilder, die sich einer möglichen Deckungsgleichheit hinsichtlich eines Th emas entziehen. Sie sind vielleicht nicht unbe-dingt widersprüchlich, sondern eher inkompatibel. Der Widerspruch entsteht, wenn eine Situation zwei unterschiedliche, nicht miteinander zu vereinende Positionen produziert. Inkompatibilität hingegen weist darauf hin, dass die Bilder selbst gar nicht deckungsgleich sind, weil bereits die Ausgangssituationen nicht übereinstimmen. Der Zugang zur Ausgangssituation wird durch Medien erst hergestellt. Die Bilder (der Erinnerung), die uns Kane näher bringen, defi nieren aber die Per-son Kane erst und lassen dabei teilweise völlig unterschiedliche Kanes entstehen, nicht einfach einen Kane, der sich widerprüchlich verhält.

Die Innovation von CITIZEN KANE scheint also nicht nur in dieser Aufl ösung des Aktionsbildes zu liegen, wie es Deleuze konzipiert hat,45

45 Vgl. Deleuze 1991, S. 141 ff.

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sondern auch in eine neue mediale Situation hineinzuführen, da das Aktionsbild gleichsam von der Wochenschau – verweisend auf das neue Medium Fernsehen – ‚objektiviert‘ wird und den Film in eine neue Lage versetzt, in der er seine eigenen Bilder als Medien begreift, die bestimmte Sichtweisen überhaupt erst schaff en. Auch hier agieren Medien wieder in dieser Doppelstellung des – im Anschluss an Fou-cault – Empirischen und Transzendentalen, indem sie bestimmte Sichtweisen an die Entstehung der Blicke zurückkoppeln. Die koper-nikanische Wende in der Geschichte des Films, die Youssef Ishaghpour für das Werk Orson Welles reklamiert,46 fi ndet darin durchaus seinen Grund, denn sie begreift die Wende des Films zur medialen Moderne, die ihn bis in die Gegenwart bestimmt. Damit kreiert der Film auch die ersten Bilder des Außen, denn die Bilder sind in ihrer Entstehung gleichsam außerhalb ihrer selbst, sind als Sichtbare zugleich Agenten des Unsichtbaren, denn sie verweisen darauf, dass es den wahren Kane im Medium der Bilder nicht geben kann, dass dieser ein stets zurück-weichender Horizont bleiben wird. Aber gerade dadurch stellt sich der Film neu auf und entwickelt eine Philosophie des eigenen Bildes, die sich von der Transparenz des Aktionsbildes und der Objektivität des Nachrichtenbildes, die beide letztendlich dem mimetischen Wissen des Bildes verbunden bleiben, absetzt.

Man kann die Filme der medialen Moderne der 1960er Jahre grob in zwei Richtungen einteilen. Auf der einen Seite die Filmemacher, die den Film mit steter expliziter Refl exion bearbeiten, jede fi lmische Aus-sage zu einem Statement über den Prozess der Bildherstellung und der medialen Bedingtheit des Films machen. Die Werke Jean-Luc Go-dards, Alexander Kluges, Glauber Rochas oder Chris Markers könnte man hier einordnen. Es sind Filme, die jederzeit die Fiktion, die von den Bildern und Tönen herbeigerufen wird, zum Th ema machen. Die Medialität dieser Filme ist off ensichtlich. Auf der anderen Seite stehen die nicht weniger medial refl ektierten Filme wie BLOW UP, JAHRGANG 45 (Jürgen Böttcher, 1966) oder ALICE IN DEN STÄDTEN (Wim Wenders 1974), die zunächst über eine narrative Exposition eröff nen, dann aber keine Aktionen mehr liefern, sondern die Bilder in optische und akus-tische Situationen aufl ösen, in denen die Möglichkeit der Wahrneh-mung und Wahrnehmbarkeit massiv in den Vordergrund rückt. In diesen Filmen wird die zunächst noch anwesende Narration nach und nach ausgehöhlt und die Konzentration auf das Perzeptionsfeld ge-lenkt, das diese Bilder überhaupt möglich macht. Dies geschieht etwa,

46 Youssef Ishaghpour, Orson Welles, Paris, 2005.

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indem die Einstellungen lang und länger werden, so dass Materialität und Textur des Visuellen in den Vordergrund treten oder indem sich die Bilder auf das reduzieren, was auf ihnen zu sehen ist, indem sie die Prozesse der Sichtbarwerdung ausspielen. Zugespitzt formuliert, kann die erste Form als Verlagerung des Bildes in den Vordergrund betrach-tet werden (sechstes hors-champ nach Noël Burch), während die zwei-te als Verschiebung des Bildes in sich selbst hinein gedacht werden kann (fünftes hors-champ nach Burch). Erstere zielt auf die Produkti-on, zweitere auf die Materialität, wobei es natürlich zwischen den Fil-men und Regisseuren zahlreiche Übergänge gibt. Beide thematisieren also auf eigene Weise das Vor- und Verrücken des Bildes ins Außen.

Könnte man LETTRE À FREDDY BUACHE als ein herausgehobenes Beispiel der ersten Form ansehen, so bietet sich ALICE IN DEN STÄDTEN (dem sicherlich BLOW UP als eine Art Vorlage diente) als exemplarisch für die zweite an. Es geht um den Fotografen Philip Winter, dem „Hö-ren und Sehen vergangen ist“, der eigentlich eine Fotoreportage in den Vereinigten Staaten abschließen soll, was ihm aber nicht gelingt. Er triff t die kleine Alice, der er auf der Suche nach ihrer Großmutter be-hilfl ich ist. Diese Suche wird für Winter zu einer Reise aus der Krise heraus. Der hier entscheidende Aspekt liegt in der ständigen Korrelati-on des Films mit anderen visuellen Medien, zuvorderst mit der Foto-grafi e, dann aber auch mit dem Teleskop, mit der Leuchtreklame, mit dem Fernseher. Dabei steht zum einen der Verlust des Erzählens im Mittelpunkt. Der Film hat die Zusammenhänge und Anschlüsse verlo-ren, die für das Erstellen einer Geschichte notwendig sind. Winter kann seine Fotos nicht zu einem Bild von Amerika synthetisieren und sein Auge nicht mit den Fotografi en („Es ist doch nie drauf, was man gesehen hat“). Vordergründig schiebt der Film das – ganz im Sinne des cineastischen Imperativs – auf die neuen Medien, auf Werbung und Fernseher. Tatsächlich scheint aber auch der hergebrachte fi lmische Zusammenhang der klassischen Narration keinen Ausweg zu bieten. Stattdessen setzt ALICE IN DEN STÄDTEN nicht auf den falschen, son-dern auf den überraschenden oder auch wundersamen Anschluss. Eine Kontinuität stellt sich nicht mehr durch das Erzählen her, sondern durch das Nicht-Planbare. Dies wird vor allem durch Alice bewirkt, die für die plötzlichen Einfälle sorgt. Überraschend sitzt sie im Auto, ob-wohl Winter sie bei der Polizei abgegeben hat. Wie im Wunderland zieht sie einen Geldschein aus ihrer Tasche, um ihm das Zugticket zu bezahlen. Zugleich ist Alice (wie alle Kinder) äußerst medienaffi n und liebt die neuen Blicke, vor denen Winter sich zurückzieht. Zusammen-hänge stiften in ALICE IN DEN STÄDTEN weder die gegenüber dem Film

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neueren Medien wie Leuchtreklamen und Fernsehen, aber auch nicht mehr der alte logische Erzählzusammenhang. Es ist das kontingente Ereignis, das einen Zusammenhang schaff t, der zunächst nur als Wahr-nehmung hervortritt, bevor er sich narrativ oder objektiv erschließt: Die Blicke auf dem Empire State Building durch das Fernrohr, das den Flug eines Vogels verfolgt und darin erst die zusammenhängende Be-wegung erfasst; das Schauen aus dem Zug; die sich langsam vor den Augen entwickelnde Polaroidfotografi e. Es ist ein Wahrnehmungszu-sammenhang, der sich zunächst auf nichts anderes gründen kann als auf eben diese perzeptive Situation, die aber stets medial induziert ist, was den Film als neuen Bildzusammenhang gründet. Wobei neben den verschiedenen Apparaten auch Alice für Winter als eine Art wundersa-mes Medium gelten kann, die ihn dieses Vertrauen auf das, was er ge-rade erblickt, lehrt. Besonders schön ist dabei etwa die erwähnte Szene, wenn sie nach dem Ausreißen vor der Polizei in seinen Wagen steigt. Zunächst sagt sie nichts, sie blickt nur. Dann erklärt sie kurz, warum sie da ist, doch Winter verschlägt es die Sprache. Angesichts dessen, was er vor sich sieht, drängt der Blick das Wort zurück.

Wir können also die verschiedenen Aspekte des Denkens des Außen im Film zusammenfassen: Der Einbruch des Medialen, das heißt, der Film thematisiert seinen Zugang zur Welt über die Bezugnahme auf andere Medien; das Sichtbare kann nur in Bezug auf das Unsichtbare begriff en werden; hors-scène und hors-cadre gewinnen gegenüber off -screen und hors-champ an Bedeutung; die ästhetische Zurichtung des Films stellt sich als epistemische Neuordnung dar, die den Weltzugang des Films als prozessuale empirisch-transzendentale Dublette im Medi-um des Sichtbaren begreift und damit auch an gängige Bildtheorien47 anknüpft.

In einem letzten Schritt gilt es nun, eine weitere Verschiebung zu beobachten. Die mediale Moderne hatte ihren Ausgangspunkt zwi-schen 1940 und 1970 mit der Entfaltung in den neuen Wellen ab etwa 1960. Er war eine Reaktion auf die Etablierung des klassischen Films, der seine Blütezeit in Hollywood zwischen 1930 und 1950 erlebte, so-wie auf neue bildmediale Konstellationen, vor allem auf das Aufkom-mens des Fernsehens, aber auch insgesamt veränderte gesellschaftliche Situationen, die zunehmend von Medien bedingt schienen. Die fol-genden Entwicklungen sind in der Filmwissenschaft oftmals mit den

47 Viele Bildtheorien der Gegenwart nehmen ihren Ausgang beim bereits erwähnten Maurice Merleau-Ponty. Herausgehoben sei Gottfried Böhm, Wie Bilder Sinn er-zeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin, 2008.

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Begriff en des Postmodernen und Postklassischen beschrieben worden. Über diese Begriff e hinaus ist die Debatte kaum geführt worden, ob-wohl seit etwa 10 Jahren erneut die Rede von medialen Umbrüchen in der Ästhetik des Films zunimmt. Der Film beginnt, die neuen media-len Bedingungen des Digitalen zu verarbeiten. Aus einer ästhetischen Perspektive baut er dabei auf der medialen Moderne auf. Postmoderne und postklassische Entwicklungen fl ießen dabei in den Film der Ge-genwart ein, den ich im Anschluss an die Entwicklungen der 1960er Jahre als Film der epistemischen Moderne bezeichnen möchte. Die epistemische Moderne bildet keinen vollständigen Bruch mit der me-dialen Moderne, sondern muss eher als Neusortierung begriff en wer-den. Im Folgenden sollen eine Reihe von Überlegungen angeführt wer-den, die Argumente für eine solche Neuordnung liefern. Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass diese Neuorientierung keinesfalls alle Filme betreff en kann, jedoch eine wichtige Entwicklung in der Ästhetik des Films darstellt, die man gegebenenfalls auch anders beschreiben, aber nicht ignorieren kann, wenn man sich für die Beschreibung des Films aus ästhetischer und philosophischer Perspektive interessiert.

5. Die epistemische Moderne

In einem Vortrag an der Ruhr-Universität im Juni 2012 beschäftigte sich der Filmwissenschaftler Th omas Elsaesser mit dem Werk von Rai-ner Fassbinder, zu dem er bereits verschiedene Texte publiziert hat.48 Dabei richtete er sein Augenmerk besonders auf den Film DIE DRITTE GENERATION aus dem Jahr 1979. Anhand verschiedender Bildanalysen wollte er zeigen, dass dieser Film als ein Übergangswerk betrachtet werden könne, nicht im Œuvre Fassbinders, sondern zwischen zwei fi lmästhetischen Epochen. Da DIE DRITTE GENERATION ein recht dif-fuses Klima der Bundesrepublik der späten 1970er Jahre zwischen Ter-rorismus, Staatsüberwachung und Unternehmerinteressen entwirft und dabei eine Reihe von Medien und Beobachtungssequenzen einbe-zieht, begreift Elsaesser ihn als ein Beispiel für den Übergang der Film-ästhetik von der voyeuristischen Phase in die Überwachungsphase. Die voyeuristische Phase ist die des visuellen Paradigmas, in der zwischen dem Voyeur (Zuschauer, Männer) und dem Angesehenen (Filmfi gu-ren, Frauen) klar unterschieden werden kann. Das Überwachungspara-

48 Vgl. vor allem Thomas Elsaesser, Rainer Werner Fassbinder, Berlin, 2012.

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digma hingegen schaff t eine Situation der gegenseitigen Kontrolle, in der keine klare Trennung mehr zwischen Beobachtendem und Beob-achteten vorgenommen werden kann, in der sich auch die mediale Si-tuation dahingehend verschoben hat, dass die Macht der Sehenden und derjenigen, die die Apparate des Schauens kontrollieren können, zugunsten einer allgemeinen apparativen und anonymen Vernetzung von Beobachtungs- und Kontrollstrukturen aufgelöst wurde. Für diese Beobachtung ließen sich viele gute Argumente anführen, die hier nicht vollständig entfaltet werden können. Wichtig ist vor allem, dass Elsaes-ser den Film als Refl ex auf eine neue mediale Situation begreift, für die der Film nicht mehr alleine einsteht, sondern die er in der Auseinan-dersetzung mit anderen Medien herausbildet. Elsaesser bezieht sich dabei auf eine beeindruckende Einstellung in der Mitte des Films, in der eine Drogentote aufgefunden wird. Die Einstellung ist komposito-risch vielschichtig. Die Tote liegt vertikal im Bild, wobei die Vertikali-tät vom Bildvorder- in den Bildhintergrund reicht. Die Nadel, mit der sie sich wohl den letzten Schuss gesetzt hat, steht hochaufgerichtet im Bild und erinnert zugleich an eine Antenne, welche auf die Kommuni-kationssituationen verweist, in denen sich die Protagonisten zumeist befi nden.

Ich möchte mich hingegen eher auf die Anfangseinstellung des Films konzentrieren. Der Film beginnt mit einer Einstellung von oben auf die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in Berlin und einige umlie-gende Gebäude. Langsam fährt die Kamera zurück, sie ist nun in ei-nem Raum, die Rahmung eines großen Panoramafensters ist zu erken-nen. Sie bewegt sich weiter in den Raum, vor dem Fenster steht ein Computermonitor und eine Tastatur, daneben, so wird in der Rück-fahrt sichtbar, ein Fernseher, an den ein Videorekorder angeschlossen ist. Davor ist ein Sessel, in dem eine Person sitzt, die nicht zu erkennen ist. Der Videofi lm endet, es handelt sich, wie im Abspann deutlich wird, um DER TEUFEL MÖGLICHERWEISE (LE DIABLE PROBABLEMENT, F 1977) von Robert Bresson.

Vier mediale Ebenen werden in der kurzen Sequenz zusammenge-spannt: Film (Panoramaaufnahme, Totale und Referenzmedium), Fernsehen, Video und Computer. Die Audioebene des Films ist zudem wichtig: Die Vorspanninformationen werden in einem elektronisch-pulsierenden Pochen rhythmisch ins Bild gesetzt, ähnlich einem aufge-regten Herzschlag. Zunächst tauchen Buchstaben in geordneter, dann in wilder alphabetischer Reihung vertikal auf, denen sich Namen zu-ordnen. Wie schon einmal in PIERROT LE FOU (1965) von Jean-Luc Godard erprobt, wird die sachliche Information (Regisseur, Produzent,

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Schauspieler) durch andere Aufschreibesysteme ergänzt. Bei Godard war es das Alphabet, das im Durchgang von A bis Z die Namen nach und nach entstehen ließ. Bei Fassbinder ist es das zunächst auch, dann aber wird die Reihenfolge von einer willkürlichen Ordnung abgelöst, ein klarer Verweis auf die Buchstabenfolge etwa einer Tastatur. Die grünen Buchstaben und Wörter erinnern an die frühen Computer, etwa das Minitel, das die Informationen vor schwarzem Hintergrund grün codierte. Schließlich erinnert der Rhythmus des elektrischen Herzschlags zunächst an die digitale Schaltung des Computers im Sin-ne eines An/Aus-Modus, dann aber auch zurück an das Malteserkreuz-Prinzip des Films mit seinem Wechsel von Sichtbarem und Unsichtba-rem.

In Kombination mit der von Elsaesser analysierten Sequenz und der Gesamtstruktur des Films, die in vielerlei Hinsicht diff us bleibt, was die Absichten der Charaktere, den Gang der Handlung, das Wissen der Protagonisten und die Ausgangssituation überhaupt betriff t, zugleich aber Klarheit darüber schaff t, dass die Personen innerhalb eines un-durchschaubaren medialen Ensembles agieren, liegt der Schluss nahe, diesen Film nicht allein als Übergang von der Voyeurs- zur Überwa-chungsgesellschaft zu sehen, sondern auch als Scharnier zwischen einer medialen Moderne, die Fassbinder als Autor selbst mit geprägt hat, zu einer epistemischen Moderne im Film. Diese würde sich zunächst da-durch charakterisieren, dass sie den Film aus dem Zentrum des fi lmi-schen Denkens herausnimmt und seine eigene Involviertheit und Ver-netzung in andere mediale Formate manifestiert. Denn auch wenn die Übergänge zwischen der medialen und der epistemischen Moderne fl ießend sind, so drängt sich doch diese erste Unterscheidung dadurch auf, dass die mediale Moderne die Bedrängnis durch die anderen Me-dien zwar zur Kenntnis nimmt und thematisiert, wie in BLOW UP und ALICE IN DEN STÄDTEN beispielhaft gezeigt, aber dennoch die cineasti-sche Grundhaltung beibehält, die den Film als eine Wahrnehmungspo-sition gegenüber anderen Medien begreift.

Implizit ist der Film der 1960er Jahre davon überzeugt, dass er selbst die Voraussetzungen dafür mitbringt, den anderen medialen Formaten überlegen zu sein. Die Stoßrichtung ist dabei eine doppelte: einerseits die narrativen Formatierungen des klassischen Hollywoodfi lms aufzu-brechen und die Zwischenräume der Bilder aufzusuchen und aufzude-cken, andererseits aber auch dem massenmedialen und damit öko-nomisierten Zugriff auf Bilder die Wahrnehmungsdispositionen des Kinematographischen entgegen zu setzen. Zwischen Narration und Information, die beide die Bilder zweckmäßig zurichten, schiebt sich

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die mediale Moderne des Films, um zum einen den phänomenologi-schen perzeptiven Zugang zur Welt zurückzuholen (Antonioni, Wen-ders), zum anderen die medienkritisch-archäologische und dekonst-ruktive Situation des Films vorzuführen (Godard, Rocha, Kluge). Doch genau diese Haltung einer philosophischen Überlegenheit des Films, die sich in Gilles Deleuzes Kinobüchern noch einmal manifestiert, be-ginnt sich zu ändern, wie an der innermedialen Verschiebung von DIE DRITTE GENERATION exemplarisch deutlich gemacht werden sollte. Dies führt zu einer paradoxen Situation, denn damit der Film weiter-hin seine philosophische Rolle als Bildmedium beibehalten, das heißt, relevante Aussagen durch (und damit über) Bilder und Töne treff en kann, muss er die anderen Bildmedien ernst nehmen und akzeptieren, dass sie den Film zunehmend aus dem Zentrum des Wissens drängen und dieses epistemische Feld mit ihm teilen.

Mit anderen Worten: Der Film muss noch einmal ein ganz neues Denken des Außen etablieren, das nun darin liegt, dass er selbst ins Außen verlagert wird, um gleichsam von dort das Zusammenspiel mit den anderen Medien zu perspektivieren. Salopp formuliert: Der Film ist „nicht mehr Herr im eigenen Haus“49, aber es ist noch sein Haus. DIE DRITTE GENERATION, das sind nach den nicht-technischen (Male-rei), nach den technisch-analogen (Fotografi e, Film) nun die elektroni-schen und digitalen Bilder. Die Th ese dieses Textes ist es nicht zuletzt, dass sich der Film der Gegenwart zunehmend mit dieser Aufgabe, die er aus der medialen Moderne geerbt hat, auseinandersetzt und an Lö-sungswegen arbeitet, um an den Bestimmungen, wie (bewegte) Bilder begriff en werden können, weiterhin beteiligt zu sein.

Auszeit: THE CLOCK

Wir unterbrechen unsere Refl exion zur Evolution der fi lmischen Mo-derne für einen Augenblick, um die Aufmerksamkeit auf einen umge-kehrten Zugang zum Th ema zu wenden. Bisher und auch weiterhin steht die Wandlung des Films durch das Zutun anderer Medien im Zentrum. Ein sehr berechtigter Zugang bleibt hier ausgeblendet, müss-te aber in einer umfassenden Aufarbeitung seinen Platz fi nden: Inwie-fern fokussieren andere Medien den Film und in welcher Weise üben sie damit Einfl uss auf die Ästhetik des Films aus, obwohl sie gewisser-

49 Diese Formulierung in diesem Zusammenhang verdanke ich der Diskussion mit Martin Schlesinger.

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maßen außerhalb des Films argumentieren. Hier bietet sich eine Un-terscheidung zwischen dem Film und dem Filmischen an. Der Film, das ist die immer noch zeitlich und werkhaft umgrenzte Einheit, die im Kino, auf der DVD, im Fernsehen oder per Stream zu sehen ist. Das Filmische hingegen ist das ohne den Film nicht Denkbare, was aber längst in andere Medien ausgewandert ist und dort einen eigenen Werdegang eingeschlagen hat, aktuell etwa beobachtbar an den US-amerikanischen Fernsehserien, die längst nicht mehr nur Fernsehen und Film sind und dennoch ohne die ästhetischen Voraussetzungen, die durch sie geschaff en wurden, nicht angemessen gedacht werden können.50 Auch hier geht es natürlich nicht darum, die Anteile jeweili-ger Medien fein säuberlich zu sezieren, sondern die Zersetzungsästhe-tiken oder Demarkierungen zu beobachten, die zwischen den Medien als Ereignisse angelegt werden. Von besonderem Interesse wären hier Ansätze, die nicht nur den Film als Außen des jeweiligen Mediums in den Blick bringen (also Film im Th eater, in der Literatur, in der Foto-grafi e, im Fernsehen), sondern die dispositiven und ästhetischen Bedingungen des Films in dieses zurückspiegeln oder sie ihm gar zu-rückgeben, sodass der Film seine medialen oder epistemischen Voraus-setzungen nur über den Umweg einer anderen, aber immer noch fi lmi-schen, medialen Formatierung wahrnehmen und erfahren kann.

In diesem Zusammenhang haben die visuellen Künste, insbesonde-re Fotografi e und Video, eine Sonderstellung, da sie gleichsam mit dem Material des Films agieren können. Fragmentierungen, Montierungen, Zwischenbilder, Verfremdungen, Hyperästhetiken sind dann auch die Verfahren, die besonders die Videokunst nutzt, um den Erfahrungs-raum – oft der großen narrativen Räume – zu unterbrechen und in andere, minoritäre und anders kontextuierte Erfahrungen zu transfor-mieren.51

Der Videoinstallation THE CLOCK von Christian Marclay kommt dabei jüngst eine besondere Stellung zu, die für ein Denken des Außen, also die zunehmende Verlagerung des Films aus seinen eigenen Bildern heraus, bedeutsam ist. THE CLOCK zeigt 24 Stunden Film durch die Montage von Filmausschnitten (und teilweise TV), die genau den Ab-lauf dieser 24 Stunden dokumentieren, indem in den Ausschnitten je-weils die vergehende Zeit durch im Bild stehende Uhren (Armbanduh-ren, Taschenuhren, Kirchturmuhren, Bahnhofsuhren, Wecker etc.)

50 Vgl. dazu die aktuellen Auseinandersetzungen in: Frank Kelleter (Hg.), Populäre Serialität, Bielefeld, 2012.

51 Vgl. dazu: Yvonne Spielmann, Video, Frankfurt am Main, 2005.

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dargestellt wird. Um das gesamte Werk zu sehen, muss man sich also einen ganzen Tag vor der Installation aufhalten. Doch es geht hier gar nicht darum, THE CLOCK in allen ästhetischen und philosophischen Dimensionen zu erfassen, dafür wäre eine längere Auseinandersetzung notwendig. Der Blick soll vielmehr darauf gelenkt werden, dass die Installation einerseits in höchstem Maße Film ist, andererseits nur durch völlige Absehung vom Film überhaupt entstehen kann. Film ist THE CLOCK, weil Marclay ausschließlich Filmausschnitte montiert und damit einen gigantischen Korpus der Filmgeschichte gewisserma-ßen als umfassendes Archiv aufruft. Film hat dabei auch jeden Ort verloren und ordnet sich nurmehr funktional nach den Möglichkeiten, den nächsten Augenblick zu bezeichnen. Die spezifi schen kulturellen Merkmale des einzelnen Films werden in ein anderes Format gebracht, das mit der jeweiligen Herkunft nur noch bedingt zu tun hat. Na-türlich erkennt man zahlreiche Filme wieder (HIGH NOON, Fred Zin-nemann, USA 1952; MIGHTY APRODITE, Woody Allen USA 1995; DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA, Heiner Carow, DDR 1973; THE AVENGERS, England 1961-69 u.a.) und dennoch werden sie unter eine völlig andere Signatur gestellt, nämlich nur momenthaft sortiert, bevor sie abgelöst werden. Die Filme werden sich selbst fremd gemacht und in eine neue Reihenfolge gebracht, die sie ihrer Eigenheit beraubt. Es ist kaum möglich, hier nicht auch an die Neuaneignung von Filmen durch die gegenwärtige digitale Bildkultur, wie sie sich etwa in YouTu-be wiederfi ndet, zu denken. Gerade weil die Zuschauer viele Szenen so gut wiedererkennen, tritt die Entfremdung durch diese radikale Neu-ordnung zu Tage. Man taucht in das Universum des Films ein, zurück bleibt jedoch das Filmische als eine Neuorganisation, die den Film als kulturelles Bezugsobjekt übersteigt und auf neue Bildanordnungen verweist. Das Filmische ist also weniger eine Überschreitung als eine Ausschreitung in andere mediale Konstellationen.

Dies wird durch eine zweite Ebene von THE CLOCK bestätigt, näm-lich die Linearität. Film ist nur linear rezipierbar, auch wenn er narrativ und ästhetisch zahlreiche Möglichkeiten ausgebildet hat, Sukzession zu transformieren oder außer Kraft zu setzen. Dennoch bestimmt Linea-rität den Film in besonderer Weise, denn auch wenn verschiedene Mo-delle des Simultanen ins Werk gesetzt werden, wie etwa in L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD (Alain Resnais 1961), um das bekannteste Beispiel zu nehmen, so sind diese doch immer auf die Sukzession bezo-gen, nicht zuletzt deshalb, weil sie im Film nur nacheinander ins Werk gesetzt werden. Der Film dauert eben 90 Minuten (oder 100 oder 120) und Minute Fünf der Filmrezeption kommt nach Minute Vier. THE

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CLOCK macht nun durch sein hyperlineares Verfahren, das sich an der Echtzeit orientiert, die dem Film eigentlich absolut äußerlich ist, auf diese Linearität aufmerksam. Er zwingt gewissermaßen dem Film sein eigenes Prinzip auf, das dieser aber im Allgemeinen durch seine eigen-ständige Zeitsetzung selbst ignoriert. Gerade die vermeintlichen ‚Echt-zeitfi lme‘ wie ROPE (Alfred Hitchcock 1948) zeigen das, abgesehen davon, dass der konkrete Zeit-Verlauf dort ja keine große Rolle spielt. Erneut werden wir also auf ein grundlegendes Prinzip des Films ver-wiesen, dass der Film eigentlich nicht wirklich realisiert, ohne das er aber nicht funktionieren könnte. Das Hyperlineare von THE CLOCK verweist auf das Filmische des Films, das den Filmen verborgen bleibt. Und auch damit verweist THE CLOCK auf die neuen Medien, die ganz andere Formen von ‚Reality‘ oder Echtzeit ausbilden können – aller-dings niemals ohne sich auf den Film als grundlegendes Medium des Bewegungsbildes implizit oder explizit zu beziehen. Ein Sonderblick auf eine Philosophie des Filmischen, die sich in anderen Bildmedien äußert, wäre dafür notwendig und würde die Auseinandersetzung mit dem Außen von einer anderen Seite beleuchten. Hier soll nun aber weiter die Entfaltung der epistemischen Moderne des Films im Zent-rum stehen.

Fortsetzung: Die epistemische Moderne

Th omas Elsaesser gehört, wie gesehen, zu den Filmwissenschaftlern, die sich off ensiv an eine Gegenwartsdiagnose des Films heranwagen und diese neuen Bestimmungen des Films über die Postmoderne – an der Debatten zum Film, die mit Moderne und Postmoderne überhaupt operieren, zumeist stehenbleiben – hinaus aufsuchen. Hier soll vor al-lem auf die sogenannten ‚mind-game movies‘ eingegangen werden. Mit dem Begriff zielt Elsaesser auf eine Reihe sehr bedeutsamer Filme seit Mitte/Ende der 1990er Jahre, die vor allem in Hollywood, aber auch in Europa auftaucht. Die mind-game movies können besonders durch drei Aspekte charakterisiert werden.52

Erstens: Die Filme spielen ein Spiel, sowohl mit den Protagonisten als auch mit den Zuschauern. Obwohl narrative Gerüste fast immer etabliert werden – es sich hier also nicht um Kunst- und Experimental-fi lme handelt – stehen diese Narrationen auf einer unsicheren Basis,

52 Zu den Ausführungen im Folgenden vgl. Elsaesser 2009.

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was das Wissen der Protagonisten in der diegetischen Welt und der Zuschauer über diese diegetischen Welten angeht.

Zweitens: Mentale und materiale Realitäten sind nicht klar getrennt. Oft sind die psychischen Zustände der Protagonisten nicht stabil. Was Einbildung und Vorstellung und was tatsächliches Erleben ist, kann meistens nicht klar getrennt werden. Interessant dabei ist jedoch vor allem, dass die Filme diese Welten meistens als plausibel, das heißt ir-gendwie diegetisch intakt, darstellen. Inkompatible Welten sind nicht unbedingt verwirrend, sondern normal.

Drittens: Die Filme bauen off enbar nicht mehr auf stabile, letztend-lich widerspruchsfreie Szenarien auf, sondern eröff nen Multiversen, in denen grundlegende Auff assungen von Zeit und Raum, Subjekt und Objekt, Ursache und Wirkung in Frage stehen. Sie gehen off enbar da-von aus, dass virtuelle Realitäten, Second Life und Fragmentierungen von Identitäten kein schockierendes Element mehr sind, sondern zwar paradoxe, aber eben doch zunehmend auch akzeptierte Erscheinungs-formen. „Das Ergebnis ist, dass den paranormalen Charakteristika nor-male Erklärungen gegeben und dass die Erzählungen auf ein ‚korrek-tes‘ Funktionieren zurückgeführt werden.“53

Elsaesser führt zahlreiche Gründe für das Entstehen der mind-game movies an, die allerdings eher als Interrelationen begriff en werden müs-sen, denn die mind-game movies bringen ihrerseits diese Begründun-gen durch ihre thematische und ästhetische Ausrichtung mit hervor. Wenn man diese Begründungen medienwissenschaftlich auff ächern wollte, dann ließe sich das im Anschluss an Elsaesser, aber auch darü-ber hinaus, verkürzt so fassen:

– narratologisch: Die Suche nach neuen Sortierungsformen jenseits des linearen Erzählens auch im Hollywoodfi lm, hin zu komple-xen und unzuverlässigen Erzählformen, wie sie allerdings schon länger, unter anderem in der Literaturwissenschaft, bekannt sind.

– technisch: Neue visuelle, aus den elektronischen Medien herrüh-rende Verfahren wie Faltung, Layering, mise-en-abyme, Bild-im-Bild-Strukturen legen auch neue Auff assungen über die Grenzen des Bildes als gerahmte und abgegrenzte Welt nahe, die in eine visuelle Unbestimmtheit einmünden.

– (inter)medial: Neben den erwähnten Einfl üssen der elektroni-schen Medien können besonders Computerspiele, inzwischen aber auch die Sozialen Medien als eine breit genutzte Erfahrungs-ebene begriff en werden, die den Nutzer mit Multiversen und in-

53 Elsaesser 2009, S. 246.

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kompatiblen Entwürfen verschiedener Welten konfrontieren und sie – anders als im Film – auch darin agieren lassen.

– wahrnehmungshistorisch: Elsaesser geht davon aus, dass die Neu-zeit und Moderne von den beiden großen Repräsentations formen des Visuell-mimetischen und Verbal-symbolischen bestimmt wa-ren und nun durch neue Formen der multiplen Lein wände, Mo-nitoren/Interfaces, der Diagramme, Graphiken und topologi-schen Repräsentationen neu konfi guriert werden. Hinzu kommt eine zunehmend haptische Dimension der Bildmedien, die vom Tastendruck bis zur Streichbewegung der Hand reicht.

Elsaessers Analysen beziehen vielfältige Perspektiven ein. Daran an-schließend möchte ich nun drei Verschiebungen beschreiben, die den Gegenwartsfi lm noch genauer in Hinblick auf eine mögliche epistemi-sche Moderne des Films in den Blick nehmen sollen; ästhetische Ver-änderungen, die vom Film hervorgebracht werden.

Erstens bezieht sich Elsaesser auf das Hollywoodkino, auf „Holly-wood heute“. Meines Erachtens macht es Sinn, den Hollywoodfi lm mit dem europäischen Film oder dem Autorenfi lm oder dem, was da-von geblieben ist, in gewissem Sinne konvergieren zu lassen. Dann könnte sich herausstellen, dass beide großen Filmströmungen, welche die westliche Kultur prägen, bestimmte Gemeinsamkeiten herausbil-den, die wiederum fi lmtheoretische Konsequenzen haben. Denn zwei-tens, so meine Th ese, setzen sich sowohl die Hollywood- als auch die Nicht-Hollywood-Filme, mit dem zunehmenden Einfl uss anderer, ins-besondere elektronischer Medien auseinander, wie es bereits in der Moderne der 1960er Jahre der Fall war. Damit sind auch die Holly-woodfi lme eine Konsequenz der medialen Moderne, wie sie sich in den 1960er Jahren durchsetzte, nur dass sie das narrative Schema, das Akti-onsbild und damit verbunden die Handlungsfähigkeit des Subjekts, weiterhin in bestimmtem Maße und mitunter ‚against all odds‘ auf-recht erhält. Drittens ergibt sich daraus eine fi lmtheoretisch überra-schende Konsequenz – und hier verlassen wir Elsaesser endgültig – weil der Film der Gegenwart nämlich eine aus der Filmphilosophie von Gilles Deleuze herrührende Lücke zu schließen versucht und zwar ge-rade dadurch, dass der amerikanische Erzählfi lm und der europäische Autorenfi lm in einer paradox anmutenden Vereinigung zusammenge-führt werden.

Um diese drei Punkte in einem Argumentationsgang zusammenzu-bringen: Ich folge Gilles Deleuze, der nur der prominenteste unter anderen Autoren in der Behauptung ist, dass sich zwischen dem klas-

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sischen narrativen und dem modernen Film ein Bruch in der Filmäs-thetik und letztendlich im Verständnis des Films überhaupt ereignet.54 Diesen Bruch beschreibt Deleuze als Klischeewerdung des Aktionsbil-des, die verhindert, dass dieser Bildtypus sich noch weiter entwickeln kann. Der Film wird daraufhin gewissermaßen noch einmal neu erfun-den: zunächst als Rückgang auf die optischen und akustischen Situati-onen, dann als neues Zeitgebilde, das die für die klassische Erzählung konstitutive Linearität der Zeitauff assung zugunsten einer paradox an-mutenden, simultanen Zeitvorstellung, in der die Gleichzeitigkeit nacheinander stattfi ndender Ereignisse ästhetisch reformuliert wird, in den Vordergrund stellt.55 Diese Entwicklung hatte ich, über Deleuze hinausgehend, als mediale Moderne bezeichnet, da die Modernität des Films vor allem damit zusammenhängt, dass er sich als ein Medium unter anderen begreift. Schließlich lässt er dabei das narrative Schema, das Aktionsbild, hinter sich, weil dieses die neuen Anforderungen im-mer nur über eine ohnehin schon gesetzte erzählerische Ebene oder narrative Instanz begreifl ich machen kann.

Die Folge ist, dass das Aktions- und das Zeitbild im Grunde inkom-patible Ästhetiken ausbilden. Anders gesagt: Sie können nicht zugleich vorkommen. Entweder gibt es ein narratives, das heißt diegetisches Universum, das die Realität der Fiktion aufrechterhält und damit eine klare Grenze zwischen der etablierten Fiktion und den äußeren Bedin-gungen, die diese Fiktion schaff en, zieht. Oder es gibt ein nicht-diege-tisches Universum, in dem die Herstellungsbedingungen des Films stets präsent sind. Zwar hat gerade der moderne Film auch Übergangs-fi guren geschaff en, wie etwa bei Antonioni oder Wenders gesehen, aber diese Filme bleiben in einer Art schwebender Balance zwischen immer schwächer werdender Narration und zunehmend im Vordergrund ste-hender medialer Refl exion. Anders gesagt: Sie konfrontieren den Film und den Zuschauer nicht mit dem Paradox, das entstehen müsste, wenn sich Aktions- und Zeitbild tatsächlich vermischen würden, ohne dass das eine seine eigenen Voraussetzungen aufgibt. Das bedeutet, an-schließend an die Begriff e von Deleuze, können sukzessive und simul-tane Zeitauff assungen logisch nicht zusammen vorkommen. Die eine schließt die andere aus. Oder: Sie setzt sie ins Außen.

Und genau diese paradoxe Situation entsteht nun in der epistemi-schen Moderne, das heißt im Gegenwartsfi lm. Und in gewissem Sinne fi ndet dort eine Konfrontation und paradoxe Reibung zwischen dem

54 Vgl. beispielhaft Youssef Ishaghpour, Le cinéma, Paris, 1993 und Engell 2003. 55 Vgl. Deleuze 1991, Kapitel 1–6.

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Deleuze- und dem Elsaesser-Universum statt. Deleuze begreift das New Hollywood nur als Verwalter des Scheiterns des Aktionsbildes. Elsaesser widerspricht hier – natürlich aus der Sicht des Hollywood heute, die Deleuze gar nicht haben konnte, und verortet, wie gesehen, eine Reihe moderner Entwicklungen im gegenwärtigen amerikani-schen Film. Das hat Elsaesser Deleuze voraus. Doch vernachlässigt El-saesser wiederum die Frage, was Hollywood aus dem Zeitbild tatsäch-lich mitgenommen hat. Sind nicht die mind-game movies Zeitbilder Hollywoods? Und fi ndet die Rekombination von Aktionsbild und Zeitbild nicht ebenso in vielen Filmen außerhalb Hollywoods statt?

Ich möchte behaupten, dass das, was Deleuze als klaff enden Gegen-satz stehen gelassen hat, nämlich das Aktions- und das Zeitbild, im Gegenwartsfi lm wieder zusammenfi nden. Dieser nämlich etabliert von Neuem das nun erweiterte Aktionsbild und konfrontiert es mit dem Zeitbild – das ich als Denkbild bezeichnen möchte, weil mir die Be-schränkung auf den Begriff der Zeit zu einseitig ist, um die verschiede-nen Facetten dieses modernen Bildes zu erfassen. Im gegenwärtigen Film, so also meine Behauptung, konnektieren sich Aktions- und Denkbild auf paradoxe Weise und fi nden dafür fi lmische Lösungen; Anordnungen, die also nur im Medium des Films oder der Bewegtbil-der gefunden werden können. Diese Bewegung korreliert mit einer zweiten, nämlich der paradoxen Verschränkung verschiedener Medien oder medialer Situationen und Umgebungen. Man braucht hier nicht immer nur an klassische Intermedialität im Sinne von Film und Th ea-ter oder Film und Literatur zu denken, sondern sollte das Installatori-sche, die Auff ührungsbedingungen oder auch verschiedene entfernte Formatierungen innerhalb eines Mediums (wie etwa Stummfi lm und Multiplex-Blockbuster) einbeziehen. Medien sind dann nicht mehr abgegrenzte Ensembles, sondern Verteilungen oder, im Anschluss an Bruno Latour, „Quasi-Medien“, wie ich das an anderer Stelle entwi-ckelt habe.56 Ähnlich wie das Zusammentreff en von Aktions- und Denkbild generiert die Verkettung verschiedener Medien eine nicht nur mediale, sondern auch epistemische Friktion, die den Erzählzu-sammenhang, die Welt, die im Film zusammengefügt wird, unterwan-dert, ohne aber selbst zu kohärenten Ansichten zu führen. Narration und Denken bleiben genau wie die Medien in einem gegenseitigen Außen, das unhintergehbar ist.

56 Fahle, „Das Material des Films“, 2011, S. 306.

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6. Anschauungen

Die paradoxe Verkettung von Aktions- und Denkbild sowie die Kon-frontation des Films mit anderen Medien wird in Filmen konstruiert. Es sind logische, ästhetische und epistemische Bedingungen, die von ihnen im Medium der Bilder und Töne hervorgebracht werden. Der Beitrag schließt daher mit der Besprechung von vier weiteren Bei-spielen, die das hier gezeichnete fi lmästhetische Feld der epistemischen Moderne konturieren. Es geht um Mikroanalysen, die anhand oft nur eines Bildes die paradoxe Konnexion von Aktions- und Denkbild so-wie den Medienwechsel in den Blick nehmen sollen. Alle Filme sind bekannte Beispiele und bereits Objekt verschiedender Besprechungen geworden, hier jedoch steht ihre Zusammenschau im Zentrum. Es handelt sich um die Filme SWIMMING POOL (François Ozon 2003) und CACHÉ (Michael Haneke 2005) sowie ADAPTATION (Spike Jonze 2002) und INCEPTION (Christopher Nolan 2010), nicht gerade zufällig zwei europäische und zwei US-amerikanische Werke.57

In SWIMMING POOL geht es um eine englische Schriftstellerin, die Detektivromane schreibt und sich zur Neuorientierung ihres Schaff ens in das Haus ihres Verlegers nach Südfrankreich zurückzieht. Dort triff t sie dessen Tochter, deren Aktionen nach und nach zu einem Teil des entstehenden Romans werden, ohne dass ganz deutlich wird, wann und wie sich die Realitäten von Roman und Film trennen lassen. Der Film unterscheidet dabei schon früh in Ebenen des Fiktiven und Ima-ginären auf der einen sowie in Ebenen der Realität auf der anderen Seite. Dabei spielt der Swimmingpool eine entscheidende Rolle, weil er sich nach und nach in unterschiedliche Facetten unterteilt. Zunächst ist er abgedeckt, dann off en, dann gibt es die Oberfl äche und die Kon-turen der Tauchenden, dann steht sein glitzerndes Blau im Kontrast zu den Steinfarben des Hauses. Nachdem die Protagonisten eingeführt sind und die Frage aufkommt, was Julie, die Tochter, und die Schrift-stellerin miteinander anfangen, greift nun die Ebene des Fiktiven/Ima-ginären auf die Realität über. Die Schriftstellerin hat off enbar eine Ro-manidee. Dies wird damit eingeleitet, dass das Blau des Notebooks die

57 Wenn man eines Tages eine Geschichte des Films der epistemischen Moderne schreibt, dann könnte man die Jahre 1998/99 als entscheidende betrachten, in dem mit LOLA RENNT (Tom Tykwer) und MATRIX (Wachowski-Geschwister) zwei wegweisende Filme entstanden sind, die das Aktions- und Denkbild jeweils aus dem eigenen Kontext heraus thematisieren. Es scheint kein Zufall, dass die Regis-seure in THE CLOUD ATLAS (2012) zu einem gemeinsamen Vorgehen zusammen-finden.

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gesamte Leinwand ausfüllt und ein Ordner mit dem Namen Julie er-stellt wird. Langsam gleiten die Finger von Sarah, der Schriftstellerin, auf die Tastatur und der Schreibprozess beginnt. An dieser Stelle des Films wird nun unklar, welche Ebene der Fiktion des Romans und welche der Realität angehört, beide klappen ineinander, ohne jedoch, dass die Erzählung irgendeine Art von Bruch erfährt.

Aktions- und Denkbild greifen also ineinander und werden durch einen mehrfachen Medienwechsel (Film-Computer-Roman) vollzo-gen, aber durch das Hinübergleiten der Farbe Blau auch visuell ver-bunden. Über den gesamten Film legt sich eine epistemische Unsicher-heit, also eine Unklarheit darüber, welches Medium Urheber oder Verursacher welchen Wissens ist, was aber wiederum den geordneten narrativen Verlauf des Gesamtfi lms nicht grundsätzlich in Frage stellt. Es ist so, als könnte einfach weiter erzählt werden, was doch ständig unterhöhlt oder in Frage gestellt wird.

In CACHÉ gibt es eine ähnliche Kombination aus narrativer Unge-wißheit und Wissen, die nun aber noch deutlicher als Medienunklar-keit defi niert wird. Der Film führt, ähnlich wie SWIMMING POOL, eine Reihe von Medienwechseln zwischen Film, Video (sowohl Überwa-chung als auch Videoband, also eher im Sinne von Videoformaten), Fernsehen und Buch durch und lässt dabei die entscheidende Frage der erzählten Geschichte – wer schickte die Videos? – off en. Diese Off en-heit ist jedoch keine narrativ off ene Frage; zu off ensichtlich ist das von den Medien hergestellte epistemisch Prekäre, also etwa die Frage, aus welchem Raum die Bilder überhaupt kommen, wie sie sich verteilen, wie sie die Geschichten formen, die aus ihnen entstehen. Die Ge-schichte handelt von Georges, einem französischen Fernsehmoderator, und Majid, einem in eher bescheidenen Verhältnissen lebenden Algeri-er, der einst als Pfl egekind in Georges’ Familie lebte, auf Grund einer Intrige von diesem in ein Heim abgeschoben wurde. Ein Schlüsselbild ist dabei sicherlich die letzte Einstellung: Auf der Treppe vor einer Schule treff en sich die beiden Söhne der Protagonisten, des Fernseh-moderators und des Algeriers. Die Einstellung bleibt starr wie ein Überwachungsbild, auf der Treppe herrscht Kommen und Gehen, die beiden besprechen kurz etwas und trennen sich dann wieder. Der Film dokumentiert hier noch einmal die von ihm selbst schon zu Beginn eingeführte Ununterscheidbarkeit von Film, Fernsehen und Video, denn aus der Einstellung heraus bleibt unklar, was der Film hier sein will: eine völlig neue Ebene der Narration durch Konspiration der Söh-ne oder ein Modus der Überwachung, der der Narration äußerlich bleibt. Sicher ist nur, dass dieses Bild aus einem Raum kommt, der

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durch den Film selbst nicht mehr eingeholt werden kann, obwohl es keineswegs im modernen Sinne selbstrefl exiv ist. Wie die gesamte Nar-ration, verweist es auf ein medial imprägniertes Außen, das aber eben nur innerhalb der Bilder und Erzählungen des Films auftauchen kann.

ADAPTATION ist ein treff endes Beispiel für die Konfrontation von Aktions- und Denkbild, denn schon auf der Ebene der Handlung wird diese durch die Zwillingsbrüder Charlie und Donald (Doppelrolle von Nicolas Cage) präsentiert. Charlie ist ein anspruchsvoller, jedoch von Selbstzweifeln geplagter Drehbuchautor, der ein Skript für die Verfi l-mung des Buches „Der Orchideendieb“ von Susan Orlean (Meryl Streep) verfassen soll. Sein Bruder Donald hingegen, eher unbedarft, möchte sich nun auch als Drehbuchschreiber ausprobieren und macht dies nach den Regeln des Drehbuchgurus Robert McKee, der Massen-seminare für erfolgreiches Schreiben abhält. Während Charlie an sei-nen Schreibhemmungen laboriert, schreibt Donald einen erfolgreichen Actionreißer, was Charlie schließlich auch dazu bewegt, ein Seminar von McKee zu besuchen. Dieser Besuch wird zur Schlüsselszene des Films, denn Charlie untersucht nun mit Donalds Unterstützung den Fall der Susan Orlean und stellt fest, dass sie ein Liebesverhältnis mit dem von ihr beschriebenen Orchideendieb, John Laroche, hat. Nach-dem sich der Film im ersten Teil im Wesentlichen um Charlies Proble-me mit Arbeit und Frau gedreht hat, entwickelt er sich im zweiten Teil zu einem actionreichen Verfolgungsfi lm, in welchem Donald bei der Auseinandersetzung mit Orlean und Laroche stirbt und Laroche von einem Krokodil aufgefressen wird. Mit diesen Ereignissen hat sich auch Charlie von seinen Selbstzweifeln befreit, er triff t seine ehemalige Freundin wieder und hat off enbar das Drehbuchproblem gelöst.

Während also der erste Teil eher dem Autorenfi lm und dem Denk-bild entspricht – mit den Selbstbefragungen Charlies; dem Bruch mit der diegetischen Welt, indem Cage als Charlie Kaufmann (tatsächlich ja der Drehbuchautor von BEING JOHN MALKOVICH (Spike Jonze 1999) und ADAPTATION) auf dem echten Set von Being John Malko-vich auftaucht; mit der Infragestellung des Subjekts (so in der Anfangs-szene, die einen Monolog Charlies im Schwarzbild darstellt) –, so folgt der zweite Teil eher dem Aktionsbild. Nicht zuletzt unter Donalds Mit-wirkung entsteht der Film, den Charlie nicht zu schreiben imstande ist, mit ihm selbst als Protagonist. Das Denkbild transformiert sich also gleichsam ins Aktionsbild, ohne dass ein Bruch in der Narration er-kennbar wäre und dennoch unter Widersprüchen. So ist etwa der Tod Donalds für Charlie keine Belastung, sondern Befreiung, was die schließlich kaum beantwortbare Frage aufwirft, inwiefern Charlie oh-

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nehin Donald selbst ist. Wenn man den Film künstlich trennen wollte, wäre die Antwort vielleicht: Im Rahmen des Denkbildes sind Donald und Charlie eine Person, nicht aber im Rahmen des Aktionsbildes – die Bildtypen verschränken sich, eines transformiert sich in das andere, ohne jedoch, dass das jeweils andere nicht mehr anwesend wäre. Die Dynamik des Films liegt darin, dass sie das Außen zueinander bilden, das aber zugleich drinnen ist.

Die Szene, in der McKee mit Charlie spricht, ist dafür entschei-dend. McKee ist ein autoritärer Vertreter des kommerziell erfolgrei-chen Films, der zuvor in den Seminarraum gebrüllt hat, dass es keine Protagonisten ohne Wünsche gebe und der auch Charlies Frage, was man denn tue, wenn man im Film die reale Welt abbilden wolle, in der eben ganz oft gar nichts passiere, wütend hat abblitzen lassen. In seiner Verzweifl ung wendet sich Charlie nach der Sitzung an ihn und überra-schenderweise geraten Hollywoodguru und anspruchsvoller Dreh-buchautor in ein vertrauensvolles Gespräch miteinander, an dessen Ende sie sich gerührt in den Armen liegen. McKee sagt Charlie, das Ende sei wichtig und er solle auf gar keinen Fall betrügen. Charlie nimmt daraufhin Donalds Hilfe an und mit dessen Hilfe entsteht der ‚unrealistische‘ Th riller, der den anspruchsvollen Drehbuchautor Char-lie Kaufman mit sich selbst versöhnt. Autorenfi lm und Aktionsbild, so könnte die Konsequenz lauten, sind auf unaufl ösliche Weise miteinan-der verschränkt, was aber nur um den Preis der Widersprüchlichkeit und des Bruches sichtbar werden kann, wenn es erzählt werden soll.

Im Zentrum von INCEPTION steht Dominic Cobb (Leonardo DiCa-prio), der in der Lage ist, in die Träume oder in das Unter- und Unbe-wussten anderer Personen einzudringen. Nicht nur Cobb kann das, sondern auch andere. Er ist jedoch off enbar dazu fähig, besonders tief in die unter- und unbewussten Schichten hineinzugehen und diese gar zu manipulieren. INCEPTION handelt nicht nur von der Möglichkeit, in Träume einzudringen, sondern in diesen auch aktiv zu handeln, sich dabei im Unter- und Unbewussten von anderen, aber auch im eigenen aufzuhalten. Man kann dabei verschiedene Traumlevels erreichen, die zugleich mit Erinnerungsebenen der Personen korrespondieren. Das alles wird noch weiter verwirrt, weil diese Traum- und Erinnerungsebe-nen mehr oder weniger bewusst geschaff en werden können, sodass Be-wusstsein, Unterbewusstsein, Unbewusstes, Träume, Erinnerungen von verschiedenen Personen ein ziemliches Gefl echt eingehen, das je-derzeit aus den Fugen geraten kann. Wird man etwa im Traum erschos-sen, dann wacht man auf, ist man jedoch in den Träumen eines ande-ren, läuft man Gefahr, nicht mehr so schnell aufzuwachen und im

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sogenannten Limbus, dem puren, reinen Unbewussten, jahrelang ver-schollen zu sein.

Diese Konzeption wird in INCEPTION in eine Story verpackt, in der es darum geht, dass Cobb und seine Männer in das Unterbewusste von Robert Fisher, einem Millionenerben, eintreten sollen, um sein Unter-bewusstes so zu manipulieren, dass er sein Erbe aufteilt. Cobb wieder-um soll dadurch die Möglichkeit bekommen, seine Kinder wiederzuse-hen, die in den Vereinigten Staaten leben, welche er nicht mehr betreten darf. Wo genau sich die Kinder eigentlich befi nden, nämlich tatsächlich im real existierenden Amerika oder eventuell in der Fanta-siewelt, die sich Cobb mit seiner Frau einmal gebaut hat, das bleibt bis zuletzt unklar. Er sieht seine Kinder am Ende wieder, aber in welcher Welt, das erklärt der Film nicht. Um sein Unterfangen zu realisieren, engagiert Cobb Ariadne (Ellen Page), eine Architektin, die ihm die Traumwelten gleichsam bauen soll, die dann als Grundlage für das Eindringen in das Unterbewusste von Fischer dienen. Das Gespräch zwischen Ariadne und Cobb fi ndet in Paris statt. Ohne dass Ariadne (und die Zuschauer) es merkt, befi nden sie sich im Traum Cobbs, wenn plötzlich Obst, Geschirr und Scheiben explodieren. Beim Fort-gang durch die Stadt rollen sich Häuser und Straßen wie Teppiche auf. Langsam gewinnt Ariadne Macht in Cobbs Traum, allerdings lauern dort auch Bedrohungen, die plötzlich auftauchen können.

Der Film erschaff t also verschiedene Welten, in denen sich die Pro-tagonisten bewusst bewegen können, die sich aber doch auch der Kon-trolle entziehen. Der kontrollierende Verstand und die kreative Schaf-fenskraft der Imagination stehen in einem Wechselverhältnis, ohne dass jederzeit klar wird, wer hier die Oberhand behält. So weiß etwa Ariadne nicht, dass sie sich gerade im Traum befi ndet, den sie selbst kreiert. Der Konfl ikt zwischen den Welten der Imagination und der mühsamen Kontrolle durch den Verstand ist ein herausragendes Th e-ma des Films der Gegenwart, wie etwa in den mind-game movies, doch die Konstellation in INCEPTION ist off ensichtlich paradox. Ariadne träumt im Unterbewussten Cobbs, der ebenfalls darin herumspaziert. Sie ist wach, aber schaff t off enbar intuitiv Welten, auf die wiederum das Unterbewusstsein von Cobb reagiert. Ähnlich, aber vielleicht noch expliziter – das heißt, eher dem Aktionsbild verpfl ichtet – als in SWIM-MING POOL, vermischen sich Realität und Imaginäres.

Wie kann man sich in vollem Bewusstsein, wie es Cobb und Ariad-ne hier tun, durch einen Traum bewegen, der sich ja per se durch Nicht-Kontrollierbarkeit defi niert? Cobb thematisiert das selbst: Nie-mand weiß, wann der Traum anfängt; Ariadne bemerkt zu Beginn

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nicht einmal, dass sie in einem Traum ist. Der Film spielt ständig mit dem kontrollierenden Bewusstsein und den unkontrollierbaren Wel-ten, in denen sich dieses Bewusstsein bewegen muss, was so weit geht, dass zum Ende hin völlig unklar ist, wer den Traum gerade kontrolliert. Die Zuschauer wissen daher nie, ob sich der Film im klassischen narra-tiven Modus des Aktionsbildes bewegt oder im modernen Bildtyp des Denkbildes, das die Grenzen zwischen den Bildtypen oder Bildwelten aufhebt. Entfaltet INCEPTION also nur einen Erzählraum, in dem die Möglichkeiten des Denkens erzählt werden (und nicht das Denken selbst) oder entfaltet er einen Denkraum, der sich den Erzählbedin-gungen entzieht und nur mehr als Überlagerung verschiedener audio-visueller Ebenen gleichsam denkend erfasst werden kann? Für INCEPTI-ON gilt, ähnlich wie für die anderen zuvor besprochenen Filme: Erzähl- und Denkraum sind hier nur als Überschreitungen in den je-weils anderen zu denken. Die Filme verhandeln also die Diff erenz, die der moderne Film mit seiner Absetzung vom Aktionsbild einst eröff net hatte, erweitern es, indem sie nicht eines ausschließen (Aktion oder Denken), sondern es im Rahmen audiovisueller Denkprozesse ebenso ein- wie ausschließen. Ästhetische und epistemische Problemlagen ver-mischen sich damit ebenfalls zu einem unentmischbaren Gefl echt, das höchstens noch an den Übergängen und Transformationsfl üssen des Bewegungsbildes markiert werden kann.

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VINZENZ HEDIGER

Aufhebung

Geschichte im Zeitalter des Films

„Die Geschichte ist über die Ufer der Traditi-on getreten und hat alle Grenzen überflutet. Die Omnipräsenz aller Gewalten unterwirft

durch die technische Kommunikation auf der unendlichen Oberfläche des Globus alles un-ter jedes und jedes unter alles. Zugleich wird

jenseits der geschichtlichen Räume und Zeiten der planetarische Raum erschlossen, und sei es auch nur, um die Menschheit in dem Prozess, den sie gegen sich selber angestrengt hat, mit

in die Luft zu jagen.“

– Reinhart Koselleck

„Ein Geschöpf der Gegenwart, tritt der Film als Fremdling in die Vergangenheit ein.“

– Siegfried Kracauer

I. Die historistische Maschine

Die Literatur zum Verhältnis von Film und Geschichte füllt eine klei-nere Bibliothek. Ungeachtet der Vielfalt ihrer Th emen und Gegenstän-de lässt sich dieses Schriftgut zu einem guten Teil der Gattung des Prozessberichts zurechnen. Der Film, eine Erfi ndung des 19. Jahrhun-derts, die, wie Godard einmal sagte, im 20. Jahrhundert zur Vollen-dung kommt, steht immer wieder aufs Neue vor dem Gericht der

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Geschichte, oder genauer: vor dem Gericht der quellenkritischen Ge-schichtsschreibung, die ihrerseits eine Erfi ndung des ausgehenden 18. Jahrhunderts ist. Mit einer Regelmäßigkeit, die fast schon mono-ton zu nennen ist, muss der Film sich für vermeintliche und tatsächli-che Verfehlungen vor dem Gesetz der historischen Faktentreue verant-worten, und mit derselben Regelmäßigkeit behält die Geschichte am Ende des Verfahrens Recht. Der Schuldvermutung bewusst, mit dem die Hüter der Geschichte dem Film entgegentreten, hatte dieser schon in seinen Anfängen die juridische Logik des Verfahrens internalisiert. Der erste eigentliche Langspielfi lm des amerikanischen Kinos zeugt schon davon. Mit Zwischentiteln, die Fußnoten glichen, sicherte Da-vid Wark Griffi th seine Darstellung der Ermordung Lincolns in BIRTH OF A NATION von 1914 ab: es handle sich um ein „historical facsimile“ des Ford’s Th eatre in Washington, in dem der Südstaaten-Loyalist John Wilkes Booth am 14. April 1865 den Präsidenten erschoss, heißt es etwa auf einem Zwischentitel, der die entsprechende Szene einführt. Seither hat es kaum ein Trailer für einen Hollywood-Historienfi lm un-terlassen, Zertifi kate für Faktentreue vorzulegen. Der Meister dieser Art von Selbstanzeige und Verteidigungsrede auf Vorschuß war Cecil B. DeMille, der Schöpfer großer Bibelepen, der in seinen Trailern Bü-cher wälzte und historische Artefakte herzeigte, um die Solidität seiner historischen Recherche unter Beweis zu stellen.1

Doch kein Betrag der freiwilligen Zuarbeit mag dem Verfahren Ein-halt zu gebieten. Noch fast einhundert Jahre nach Griffi ths Film, im Dezember 2012, lautet eine Überschrift auf der Titelseite New York Review of Books „,Lincoln‘ and the real Lincoln“, der auf eine Bespre-chung des Films durch David Bromwich verweist, ein Professor aller-dings nicht für Geschichte, sondern für englische Literatur an der Yale University.2 Der „Lincoln“ in Anführungszeichen ist der Film Lincoln von Steven Spielberg; der „real Lincoln“ ist die historische Figur, der Lincoln der Historiker, wobei Bromwich in seiner Rezension, die unter dem Titel „How close to Lincoln?“ steht, mehrere Schichten abträgt und Daniel Day-Lewis’ Lincoln zunächst mit dem vergleicht, den Henry Fonda in John Fords YOUNG MR. LINCOLN von 1939 verkör-pert. Dahinter aber steht als unhintergehbare Voraussetzung die histo-

1 Vgl. Vinzenz Hediger, „The Equivalent of an Important Star: Zur Rhetorik der Selbstpromotion in den Trailern von Cecil B. De Mille“, in: Montage AV, 13/2, 2004, S. 127–148.

2 Vgl. David Bromwich, „How Close to Lincoln?“, in: The New York Review of Books, http://www.nybooks.com/articles/archives/2013/jan/10/how-close-lincoln/, zul. auf-ger. am 12.08.2014.

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rische Figur Lincoln. Diese Figur hat ihren Auftritt in Bromwichs Text gleich zu Beginn, und sie spricht sogar, in verbürgten Zitaten, versteht sich. Die Figur hat überdies ein Innenleben, über welches, unter dem Vorbehalt der beschränkten Auskunftsfähigkeit der verfügbaren Fak-ten, auch spekuliert werden darf. So schreibt Bromwich über eine Ver-handlung, die Lincoln mit Vertretern der Südstaaten führt: „He is un-likely to have expected a better result“. Der historische Avatar, über den Bromwich hier im Tonfall der Vertrautheit spricht, der sich selbstver-ständlich nie ganz erschließt (die Geschichtsschreibung selbst käme sonst zum Stillstand), über den aber im Lichte einer kritisch gewichte-ten Quellenlage gesprochen werden darf, als würde man ihn kennen, bildet den Maßstab für alle fi lmischen Inkarnationen des 16. Präsiden-ten der Vereinigten Staaten und damit natürlich auch für die von Spiel-berg verantwortete. Einige kleinere Abweichungen vom historischen Lincoln lässt Bromwich Spielberg noch mit der gönnerhaften Formu-lierung „Th ese are small trespasses“ durchgehen, bevor er zu einer schwerwiegenderen Kritik ansetzt. „One moment of Spielberg’s Lin-coln, however, dips a good deal lower and tampers with the consistency of the character“, kritisiert Bromwich eine Szene, in der Spielbergs Lincoln gemessen an Bromwichs Lincoln unversehens als zu selbstge-wiss dasteht.

Ob dieser Vorwurf zutriff t, braucht uns im Folgenden nicht zu kümmern. Von Interesse ist hier vielmehr die Logik der Argumentati-on. Wir haben es mit einem paradigmatischen Fall eines Verfahrens vor dem Gerichtshof der Faktentreue zu tun: Erst wird das Beweismaterial präsentiert  – durchaus diff erenziert und mit allen quellenkritischen Vorbehalten –, dann wird Anklage geführt und dann geurteilt. Selbst Historiker, die als Apologeten des Kinos auftreten, wie der kaliforni-sche Historiker Robert Rosenstone, der zahlreiche Arbeiten zum Ver-hältnis von Kino und Geschichte vorgelegt hat, bedienen sich dieses Musters. Rosenstone gesteht dem Film zu, dass er unter bestimmten Bedingungen – nämlich dann, wenn er mit seinen Erfi ndungen und Dramatisierungen den „disourse of history“ respektiert – die „written history“ um eine „history as vision“ ergänzen könne, die weniger den Fakten als dem „emotional content“ der Geschichte verpfl ichtet sei.3 Der „emotional content“ bleibt aber selbstverständlich gebunden an die Fakten, und diese verwalten, wie es dem arbeitsteiligen Charakter moderner Gesellschaft und Wissenschaft entspricht, nicht die Filme-

3 Robert A. Rosenstone (Hg.), Revisioning History. Film and the Construction of a New Past, Princeton, 1995.

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macher, sondern die Historiker. Am Gerichtshof der Faktentreue agie-ren dabei Ankläger und Richter in Personalunion, und stets aufs Neue vollstreckt der Ankläger-Richter das Testament Leopold von Rankes: die entscheidende Frage ist, ob der Film zeigt, „wie es wirklich gewe-sen“. Ganz egal, wie vielfältig und diff erenziert die methodischen An-sätze sind, die sich in der Geschichtswissenschaft in den letzten beiden Jahrhunderten entwickelt haben: Wenn es um Film und Geschichte geht, gehört das erste und meistens auch das letzte Wort einem sponta-nen Historismus.

Man könnte die Logik dieser endlosen Debatte im Anschluß an Stu-art Halls Überlegungen zu kultureller Identität und fi lmischer Reprä-sentation in identitätspolitischen Begriff en zu fassen versuchen.4 Ge-schichte ist, wovon gleich noch die Rede sein soll, immer auch eine Frage nationaler und kultureller Identität, und Geschichtsdarstellun-gen sind Teil eines notwendigerweise off enen, nie abschließb aren Pro-zesses der Produktion von Bedeutung. Der Konfl ikt wäre demnach ein Streit um den Sinn von Bedeutungen, die sich, weil Bedeutung aus Diff erenz und Aufschub entsteht, nie ganz feststellen lassen und immer wieder neu verhandelt werden müssen. Eine solche Applikation des Derrida’schen Modells der diff érance aufs Kino und das Verhältnis von Film und Geschichte würde aber in verschiedener Hinsicht zu kurz greifen. Das fängt schon damit an, dass es ein letztlich aus der allgemei-nen Sprachwissenschaft abgeleitetes Modell der Bedeutungsprodukti-on wäre, mit dem man eine Konfl iktlogik zu erklären versuchen würde, die sich am technischen Bildmedium Film festmacht. So fruchtbar Halls Intuitition für das vorliegende Problem zu sein scheint, so sehr bedarf es doch eines anderen, medientheoretisch wie medienästhetisch diff erenzierteren Zugangs  – ohne dass deswegen die Notwendigkeit vernachlässigt würde, Akteure und Agenden beim Namen zu nennen.

Im Juridismus eines Denkens verankert, dem es in einem emphati-schen Sinne ums Urteilen zu tun ist, hat das Prozesswesen vor dem Gericht der Faktentreue den Charakter einer begriffl ichen Maschine im Sinne von Deleuze.5 Wenn die „anthropologische Maschine“, mit

4 Vgl. Stuart Hall, „Cultural Identity and Cinematic Representation“, in: Frame-work, 36, S. 68–81.

5 Es ist in diesem Zusammenhang durchaus bedeutsam, dass zu den Wegbereitern der modernen Historiographie zwei bedeutende Juristen gehören, Jean Bodin und Baudouin, die das Römische Corpus iuris einer historischen Kritik unterzogen und dessen Bestandteile nach Chronologie und Entstehungskontext neu ordneten. Die Verbindung mit der höher angesehenen Rechtswissenschaft verhalf der Ge-schichtsschreibung im 16. und 17. Jahrundert nicht zuletzt zu einem Zugewinn an

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der Giorgio Agamben sich befasst, die Funktion hat, die Frage nach der Diff erenz zwischen Mensch und Tier immer wieder aufs Neue aufzu-werfen und sicherzustellen, dass sie ein philosophisches Problem bleibt, weil der Mensch sich philosophisch nur über eine Abgrenzung von dem bestimmen kann, was er nicht ist, dann könnte man hier analog dazu von einer ‚faktographisch-quellenkritischen‘ oder ‚historistischen‘ Maschine sprechen: einer diskursiven Vorrichtung, welche die histori-schen Fakten gegen ihre fi lmische Darstellung verteidigt und auf diese Weise immer wieder festzustellen und zu stabilisieren versucht, was ‚Geschichte‘ ist. Die Geschichte muss auf jeden Fall vor dem Film kommen und diesem als Maßstab dienen, und es muss sie nach dem Film weiterhin geben. Keinesfalls darf der Film in die Autonomie ent-lassen werden: keinesfalls darf er ein selbstständiger Faktor oder gar ein Akteur werden, der mitbestimmt, was Geschichte ist.

Agamben stellt sich bekanntlich in seinem Buch Das Off ene. Mensch und Tier die Frage, wie die anthropologische Maschine zum Stillstand gebracht werden könnte, wie man also ihrem Defi nitionsmechanismus durch eine Öff nung auf ein philosophisches Jenseits der Anthropologie hin Einhalt gebieten könnte. Analog dazu könnte man die Frage stel-len, wie die historistische Maschine zum Stillstand gebracht werden könnte. Dass es jenseits des Wirkens dieser Maschine etwas geben könnte, erscheint zunächst einmal buchstäblich als undenkbar. Zu ge-schmiert funktioniert sie, zu schnell wird sie angeworfen, wenn es um die Frage von Film und Geschichte geht, zu bußfertig verteidigen die Macher historischer Filme, noch bevor die Anklageschrift überhaupt vorliegt, ihr Tun. Der „discourse of history“ (Rosenstone) ist eine macht-volle gesellschaftliche Institution, der niemand ernsthaft einen raschen Tod voraussagt, im Unterschied zum Kino, dem dieses Schicksal schon von seinem Erfi nder prophezeit wurde.

Man kann die historistische Maschine aber durchaus zerlegen. Man kann fragen, woher der spontane Historismus kommt, der sie antreibt und wogegen ihr Wirken sich richtet. Von der Klärung dieser Fragen darf man im günstigen Fall auch einen anderen Blick auf das Verhältnis von Film und Geschichte erwarten, oder zumindest so etwas wie eine Räumung des Terrains, das die historistische Maschine verteidigt. Was hier in Angriff genommen werden soll, ist demnach keine Historik des

Status und Legitimität. Vgl. dazu Anthony Grafton, What was history? The Art of History in Early Modern Europe, Cambridge, 2007.

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Films und der audiovisuellen Medien6 und auch keine Medienge-schichte, die der Rolle und den Wirkungen des Films in der Geschich-te an Fallstudien nachgeht, sondern eine solche Räumung: eine Vorstu-die zu einer Historik im Zeichen des Films.7

II. Ikonophobie und Isomorphie

Unter dem Verdacht der Unwahrheit oder der Wahrheitsverfälschung steht der Film zunächst deshalb, weil er mit Bildern arbeitet. Die pro-fessionelle Historiographie produziert Urteile über Quellen, rechnet mit Verifi zierbarkeit und stützt sich auf Argumente und Logik – auf Techniken also, die gebunden sind an Sprache und Schrift. Diesen Techniken aber entziehen sich Bilder zumindest so lange, wie ihr Ge-halt nicht durch eine Anstrengung der Ekphrasis in Sprache übersetzt wird.

Hinter dem wissenschaftslogischen Vorbehalt gegen Bildmedien wirkt allerdings möglicherweise ein anderes Motiv, dessen Ursprünge weit hinter den Anfang der modernen Historiographie zurückreichen. Man kann diesem Motiv zunächst an einem ganz unverdächtigen Ort nachgehen. Robert Rosenstone ist, wie bereits erwähnt, unter den namhaften Historikern, die sich mit dem Film befassen, sicherlich der-jenige, der dem Medium mit dem größten Wohlwollen begegnet. Man könnte auch sagen: der dem Film am nächsten steht, sogar räumlich. Rosenstone lehrte am California Institute of Technology in Pasadena, in unmittelbarer Nachbarschaft zu Burbank, Studio City und Holly-wood, den Produktionszentren der amerikanischen Filmindustrie. In einer seiner Apologien des historischen Films unterstellt Rosenstone seinen Kollegen, die dem Film mit Skepsis begegnen, nicht weniger als eine grundsätzliche Abneigung gegen Bildmedien: Sie leiden an „dis-like (or fear) of the visual media“. Mit einer Formulierung, die an den Anfangssatz von Luhmanns Realität der Massenmedien erinnert  – „Was wir wissen, wissen wir so, wie Plato über Atlantis Bescheid wuss-te: Vom Hörensagen“8 – wirft Rosenstone die rhetorische Frage auf,

6 Für eine einschlägige Studie zum Fernsehen als zentralem Medium der populären Geschichtsschreibung vgl. Judith Keilbach, Geschichtsbilder und Zeitzeugen. Zur Darstellung des Nationalsozialismus im bundesdeutschen Fernsehen, Münster, 2008.

7 Zu Begriff und Aufgaben der Historik vgl. Jörn Rüsen, Grundzüge einer Historik. 3 Bde. I. Historische Vernunft. Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen, 1983.

8 Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Opladen, 1995.

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woher seine Kollegen ihr Wissen über die Geschichte jenseits ihrer Spe-zialisierungsgebiete beziehen:

„How many professional historians, when it comes to fields outside of their areas of expertise, learn about the past from film? How many Americanists, for example, know the great Indian leader primarily from Gandhi?“9

Rosenstone qualifziert diese Frage selbst als „impolite question“: Es ist nicht höfl ich, die Kollegen an die Abhängigkeit ihres Wissens von der „history as vision“ zu erinnern. Zugleich allerdings ist Rosenstone nicht unhöfl ich genug, um von seiner Rede von der „history as vision“ als Supplement, als ‚Ergänzung‘ der „written history“ abzurücken. Der Film bleibt, in seiner Beziehung zur professionellen Historiographie betrachtet, ein bloßes Supplement. Das eigentliche, wenn auch nur als Ideal begreifbare historische Wissen, so die Implikation, besteht aus der Summe aller Formen des Spezialistenwissens.10

Nun ist das Konzept der Ergänzung bekanntlich nicht unproblema-tisch. Mit Derrida kann man beispielsweise davon ausgehen, dass das Supplement nicht bloß Beiwerk und Zugabe ist, nicht etwas, das zu etwas vorgängig Bestehendem einfach hinzukommt, sondern etwas, das in dem, was es ergänzt, als dessen Ergänzung immer schon enthal-ten ist: weil die Fülle, die es durch sein Hinzutreten herstellt, mit sei-nem vermeintlich nachgeordneten Status nicht kompatibel ist.11 Das würde im Fall der „written history“ und der „history as vision“ bedeu-ten, dass das Bild in der Schrift immer schon enthalten ist, zumal inso-fern, als das Bild immer auch schon Schrift ist, eine Inskription von Abwesendem. Die Rede von der Ergänzung der Schrift durch das Bild verdeckt in diesem Sinne eine tiefer liegende Verwandtschaft, die erst verdrängt und durch eine scheinbar evidente Diff erenz ersetzt werden muss, damit der Schrift ein epistemologischer Vorrang zukommen kann, die aber untergründig weiter besteht.

Die Intuition einer ursprünglichen Verwandtschaft, ja Identität von Bild und Schrift, fi ndet sich bekanntermaßen, wenn auch in kritischer Absicht entwickelt, in Platons Phaidros. Schrift und Bild verfügen glei-chermaßen über die Macht, die Präsenz und Unveränderlichkeit der

9 Robert A. Rosenstone, „The Historical Film as Real History“, in: Film-Historia, Vol. V, No. 1, S. 5–23.

10 Vgl. auch Robert A. Rosenstone, „History in images/History in words: Reflections on the possibility of really putting history onto film“, in: The American Historical Review, Vol. 93, No. 5, 1988, S. 1173–1185.

11 Vgl. Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt, 1983.

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Dinge zu suggerieren, obwohl diese gar nicht vorhanden sind, und es ist gerade diese Suggestion, mit der sie der Wahrheit das Fundament entziehen.12 Dass die Schrift von diesem Verdacht in der europäischen Tradition schließlich befreit wird und in den Genuss eines epistemi-schen Privilegs kommt, auf dem der Vorrang der „written history“ vor der „history as vision“ noch aufruht, verdankt sich einem anderen Tra-ditionsstrang, nämlich dem, was Jan Assmann – mit allerdings hoch problematischen Implikationen13  – die „mosaische Unterscheidung“ nennt: die Unterscheidung zwischen wahr und falsch in der Religion, die zuerst in den mosaischen Religionen eingeführt wird und zu der namentlich auch gehört, dass ein Kanon von heiligen Schriften zum privilegierten Medium der Wahrheit erhoben wird. Im christlichen Ri-tus kommt der Gemeinde in der Messe die Rolle von Zuschauern zu und die religiöse Malerei erfüllt unter anderem die Funktion, einem Zuschauer die dogmatisch relevanten Kerngehalte der kanonischen Schriften vor Augen zu führen, der des Lesens nicht mächtig ist. Die Akteure aber, denen die Gemeinde beim Vollzug des Ritus der Messe zuschaut, sind (zumeist) Schriftgelehrte, Priester, deren bildkritische,

12 Schrift und Bild sind beide gekennzeichnet durch die „immutabilité des choses éternelles et qui pourtant n’est qu’apparence, qui dit des choses vraies, mais der-rière quoi il n’y a que le vide, l’impossibilité de parler de elle manière qu’ici le vrai n’a rien pour le soutenir, apparaît sans fondement“, Maurice Blanchot, La bête de Lascaux, Paris, 1982, S. 16 f.

13 Vgl. Jan Assmann, Die mosaische Unterscheidung oder Der Preis des Monotheismus, München, 2003. Das Problematische an Assmanns These liegt darin, dass er die Unterscheidung von „wahrer“ und „falscher“ Religion und die damit einhergende „Erfindung“ des Heidentums in der mosaischen Tradition als Quelle einer reli-giös fundierten Form von Gewalt ansetzt, die sich im Unterschied zu der bloß politisch motivierten Gewalt nicht mehr einhegen ließ. Diese These trug ihm im angelsächsischen Raum den Vorwurf des Antisemitismus ein (vgl. dazu Slavet, „A Matter of Distinction“). Dass das Bilderverbot weder notwendigerweise in Gewalt münden oder Gewalt begründen und rechtfertigen muss, sondern in der europäi-schen Tradition bis hinein in die Moderne zum Ausgangspunkt einer differenzier-ten, fortgesetzten Reflexion über die ambige Macht des Bildes wird, legt Gertrud Koch in ihrer Kritik an Assmann deutlich dar (vgl. Gertrud Koch, „Bilderpolitik im Ausgang des monotheistischen Bilderverbots und die Begründung einer poli-tischen Ästhetik“, S. 139–148). Wie sehr umgekehrt zu den Konsequenzen der Institutionalisierung eines Kanons sogenannt heiliger Schriften auch antisemitisch motivierte Gewalt gehören kann, zeigt unter anderem die Geschichte der Inqui-sition, die einer These von Nathan Wachtel zufolge die Urszene des modernen europäischen Totalitarismus darstellt (ders., La logique des bûchers, Paris, 2009). Die Traditionslinie der vedischen Religionen wiederum legt nahe, dass die Insti-tutionalisierung eines Schriftkanons nicht notwendigerweise an ein Bilderverbot geknüpft sein muss. – Abgelöst von der Frage nach der inhärenten Gewalt des Bilderverbotes ist hier primär die Idee der kanonischen Schrift von Interesse.

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um nicht zu sagen ikonophobe Haltung – deren „dislike (or fear) of the visual media“ – der Augustiner Hugo de Fouilloy im Hochmittelalter so auf den Punkt bringt: „Man liest die Genesis im Buch und nicht an der Wand.“14 Er benennt damit einen Konfl ikt, der in der Moderne im Streit zwischen Ikonologen und Philologen neu entbrennt und bis ins 20. Jahrhundert hinein aktuell bleibt. Während etwa Aby Warburg das Bild in seiner medialen Eigenheit verteidigt, versucht Ernst Gombrich den Streit mit seinem Schlüsselsatz „Th e innocent eye is blind“ zu schlichten, der besagt, dass die Wahrnehmung eines Bildes nicht min-der eine komplexe kognitive Leistung erfordert als das Lesen von Schrift – um den Preis, dass er das Bild damit letztlich auf eine Form von Text reduziert.15 In schroff em Gegensatz dazu schreibt Ernst Ro-bert Curtius, ein Literaturwissenschaftler wie David Bromwich, in der Einleitung zu seinem Buch Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter von 1948: „Ein Buch ist um vieles realer als das Bild. Hier liegt ein Seinsverhältnis vor und eine reale Teilhabe an einem geistigen Sein“, um noch hinzuzufügen: „Eine ontologische Philosophie würde das vertiefen können.“16

Festzuhalten ist demnach, dass das „dislike (or fear) of the visual media“ der Geschichtswissenschaft sich in eine lange europäische Tra-dition der Ikonophobie und des Ikonoklasmus einträgt. Was die histo-

14 Zitiert bei Christiane Kruse, „Ein Angriff auf die Herrschaft des Logos. Zum Pa-ragone von Leonardo da Vinci“, in: Renate Lachmann, Stefan Rieger (Hg.), Text und Wissen. Technologische und anthropologische Aspekte, Tübingen, 2003, S. 75–90 (hier S. 76).

15 Vgl. Ernst H. Gombrich, Art and Illusion: A Study in the Psychology of Pictorial Representation, London, 1993. Für eine Untersuchung der Quellen und der Wir-kungsgeschichte von Gombrichs These und eine Revision im Anschluß an die neurowissenschaftliche Forschung seit den frühen 1990er Jahren vgl. Branko Mit-rovic, „Visuality After Gombrich: the Innocence of the Eye and Modern Research in the Philosophy and Psychology of Perception“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 76, 2013, S. 71–89. Es zählt zu den unabweisbaren Leistungen der Neurowissen-schaft und des sogenannten ‚Magnetic Resonance Imaging‘, der Hirn-Scans, dass sie den Nachweis erbracht haben, dass die Prozessierung sprachlicher und visueller Informationen in zwei von einander zu unterscheidenden Systemen im menschli-chen Gehirn erfolgt. Ansätze, die visuelle Wahrnehmung auf sprachlich-textuelle Modelle zu reduzieren versuchen (wozu unter anderem textzentrierte oder neo-se-miotische Ansätze zählen, die in der Filmwissenschaft an manchen Stellen weiter-leben), bewegen sich so gesehen nicht auf dem letzten Stand der Forschung, oder vielmehr nicht auf dem Stand der Forschung nach den späten 1990er Jahren. Vgl. dazu Branko Mitrovic, Visuality for Architects. Architectural Creativity and Modern Theories of Perception and Imagination, Charlottesville, 2013.

16 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern, 1948, S. 24.

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ristische Maschine in Gang hält, und gerade darin liegt der Sukkurs der von Curtius aufgerufenen „ontologischen Philosophie“, ist unter ande-rem das, was sich von der mosaischen Unterscheidung in dieser Tradi-tion erhält: eine Anstrengung des Urteilens, die das Bild und mit ihm die „history as vision“ immer wieder auf ein Neues in die nachrangige Position eines Supplements relegiert  – eines Supplements allerdings, das sich, wie der fortlaufende Betrieb der historistischen Maschine na-helegt, der Subordination entzieht und gefährlich bleibt.17

Mit der Antwort, dass das kulturelle Erbstück der Ikonophobie die historistische Maschine antreibt, kann man als Th eoretiker des Films allerdings noch nicht zufrieden sein. Sie ist zu ungenau, zumindest insofern, als sie einer möglichen Spezifi k des Bildmediums Film noch nicht Rechnung trägt. Historiker (und teilweise auch Kunsthistoriker) wie Peter Burke, Bernd Roeck oder Francis Haskell, die sich für die Frage interessieren, welchen Quellenstatus Bilder haben und ob sie als Medien der Historiographie taugen, pfl egen zwischen unterschiedli-chen Bildformen und -typen – Gemälde, Photographie, Film – keine Unterscheidungen zu treff en.18 Ihre Leitunterscheidung ist diejenige zwischen Bild und Schrift; Träger visueller Information fallen unter die Kategorie ‚Bild‘. Zugrunde gelegt wird dabei eine allgemeine Kategorie des Bildes, die in ihrer angezielten Reichweite in etwa dem Bildbegriff entspricht, mit dem die aus der Kunstgeschichte heraus gewachsene ‚Bildwissenschaft‘ operiert. Der Tatsache, dass die technischen Bildme-dien Photographie und Film von der Malerei zu unterscheiden wären, trägt unter den Historikern immerhin Hayden White mit seinem Neo-logismus „Historiophoty“ Rechnung, mit dem er  – in Analogie zur

17 Alain Besançon zeigt in seiner Lektüre von Kants Kritik der Urteilskraft auf, dass die ästhetische Erfahrung, wie sie von der Philosophie an der Schwelle zur Moder-ne konzipiert wird, ein Element der Bilderskepsis enthält, insofern Kant das Bild zwar als Anlass einer Erfahrung des Sublimen zulässt, letztlich aber für überflüssig erklärt. Was auch immer das ästhetische Objekt des Bildes an Erkenntnis anstößt, sie ist diesem demnach nicht inhärent. Bilderskepsis bis hin zur Ikonophobie ge-hören in der Folge auch zu den Registern der modernen Kunst, wovon die Bild-kritik des Suprematismus ebenso zeugt wie die religiös grundierten Abstraktionen eines Barnett Newmann. Vgl. Alain Besançon, L’image interdite. Une histoire intel-lectuelle de l’iconoclasme, Paris, 1994.

18 Vgl. Peter Burke, Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen, Berlin, 2003; Francis Haskell, Die Geschichte und ihre Bilder. Die Kunst und die Deutung der Vergangenheit. München, 1995; Bernd Roeck, „Visual turn? Kulturgeschichte und die Bilder“, in: Geschichte und Gesellschaft, Vol. 29, No. 2, S. 294–315; ders., Das historische Auge. Kunstwerke als Zeugen ihrer Zeit – von der Renaissance bis zur Revo-lution, Göttingen, 2004.

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„Historiography“  – Rosenstones Plädoyer für den Historienfi lm als „real history“ paraphrasiert.19

Es bleibt allerdings der Filmtheorie überlassen, die Frage zu stellen, ob sich mit der Erfi ndung der technischen Bildmedien Photographie und Film mit Blick auf den Quellenstatus des Bildes nicht eine neue Sachlage ergibt. In radikaler Weise stellt diese Frage André Bazin, der 1946 in einem Beitrag für die Zeitschrift Esprit die Th ese vertritt, dass sich mit der Erfi ndung der Photographie die Struktur der historischen Fakten selbst verändert:

„Jusqu’à la photographie le ‚fait historique‘ était reconstitué à partir de documents, l’esprit et le langage intérvenaient deux fois, dans la recon-stitution du fait même et dans la thèse ou il s’insérait. Avec le cinéma, nous pouvons citer les faits eux-mêmes, j’allais dire en chair et en os.“20

[Bevor es die Photographie gab, wurde die ‚historische Tatsache‘ aus-gehend von Dokumenten rekonstruiert. Der Geist und die Sprache kamen dabei zwei Mal zum Zug: Bei der Rekonstruktion der Tatsache selbst und bei der Formulierung der These, in die sie sich eingliederte. Mit dem Kino können wir die Tatsachen selbst zitieren, ich bin versucht zu sagen: In Fleisch und Blut.]

In seiner Zuversicht, dass es mit dem Kino möglich geworden sei, die historischen Fakten selbst zu zitieren, erinnert Bazin hier an D.W. Grif-fi th. In der Kontroverse um BIRTH OF A NATION von 1914 stellte dieser die Behauptung auf, dass die Bibliothek der Zukunft aus lauter Filmen bestehen werde, wobei sich kraft der Evidenz der auf Film festgehalte-nen historischen Tatsache jeder Meinungsstreit zwischen Historikern fortan erübrige.21 Bazins theoretisches Argument dient allerdings nicht der Verteidigung eines bestimmten Films, sondern hat einen sprach-philosphischen und medientheoretischen Hintergrund. Bazin formu-liert seine Th ese am Ende einer diff erenzierten Analyse der WHY WE FIGHT?-Schulungsfi lm-Reihe der amerikanischen Streitkräfte. Die Poin-te von Bazins Analyse lautet, dass die Neuheit dieser Filme darin beste-he, dass sie den Bildern die logische Struktur des sprachlichen Diskur-ses und dem sprachlichen Kommentar die Evidenz des Bildes verleihen,

19 Hayden White, „Historiography and Historiophoty“, in: The American Historical Review, Vol. 93, No. 5, S. 1193–1199.

20 André Bazin, „A propos de Pourquoi nous combattons. Histoire, documents et actualité“, in: Esprit, No. 6, 1. Juni 1946, S. 1022–1026 (hier S. 1026).

21 Vgl. Robert D. Lang (Hg.), The Birth of a Nation: David Wark Griffith, Director, New Brunswick, 1994, S. 88.

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also die Diff erenz von Bild und Schrift aufheben.22 Den Hintergrund von Bazins Überlegung bildet die Annahme, dass die Photographie – und mit ihr der Film – nicht einfach nur ein Zeichen für etwas Abwe-sendes ist, sondern eine Emanation, das Objekt selbst als Bild: Eine Transubstantiation des Dinges ins Bild, vollzogen kraft des Automatis-mus der Abbildung.23 Wenn Aby Warburg von einem Nachleben der Bilder spricht, das die Kategorien der historischen Zeit unterläuft, dann meint Bazin hier ein Fortdauern des Faktums im Bild, das sich in spezifi scher Weise der Technik der Photographie und des Films ver-dankt und für das er anderswo die Formulierung von der „Mummifi -zierung der Zeit“ verwendet.24

Bazins Intuition, dass mit der Photographie ein neues Verhältnis von Faktum und Bild in die Welt tritt, wird zwar gerade von denjeni-gen Historikern zumeist nicht geteilt, die sich mit Bildern in besonde-rer Weise befassen. Sie wird aber ex negativo dadurch validiert, dass der Film in ungleich stärkerem Maße vor das Gericht der Faktentreue ge-zerrt wird als andere Bildmedien.25 Robert Rosenstone gibt auf die Fra-

22 „Le principe de ce genre de documentaire consiste essentiellement à prêter aux images la structure logique du discours et au discours lui-même la crédibilité et l’évidence de l’image photographique.“ Bazin, a.a.O., S. 1025.

23 Vgl. Vinzenz Hediger, „Das Wunder des Realismus. Transsubstantiation als me-dientheoretische Kategorie bei André Bazin“, in: Montage AV, 18/1, 2009, S. 75–107. Der Gedanke, dass das Bild nicht ein Zeichen, sondern eine Emanation ist, findet sich etwa auch bei Hans-Georg Gadamer, der damit ausdrücklich an den Neoplatonismus anschließt: ders., Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philoso-phischen Hermeneutik (1960), Tübingen, 1990, S. 144.

24 Vgl. dazu auch Georges Didi-Huberman, L’image survivante. Histoire de l’art et temps des fantômes selon Aby Warburg, Paris, 2002, S. 83 ff.

25 Die neuere Historienmalerei liefert hierfür ein gutes Beispiel: Von den zahlreichen Künstlern, die seit 1972 vom Britischen „Imperial War Museum“ als „War artists“ beauftragt wurden, die militärischen Operationen des britischen Königreichs künstlerisch zu begleiten (also in diesem Zeitraum der Konflikt in Nordirland, der Falklandkrieg, die beiden Golfkriege, Bosnien und Afghanistan), hat einzig Steve McQueen je eine Kontroverse ausgelöst. Seine Arbeit „Queen and Country“ von 2006 zeigt die Gesichter aller im Irak gefallenen Briten auf Briefmarken. Der Einspruch gegen dieses Werk kam allerdings nicht von Historikern, sondern von der Royal Mail, die sich – vorgeblich aus Rücksichtnahme auf die Hinterbliebe-nen – weigerte, die Bilder als Briefmarkenserie herauszugeben. McQueen selbst hält das Werk für unvollendet, solange dies nicht geschehen ist und kann dabei auch auf Unterstützung von den Betroffenen zählen. Aus dem Kreis der Historiker hingegen regte sich kein Widerspruch. Vgl. Catherine Moriarity, Angela Weight, „The Legacy of Interaction: Artists at the Imperial War Museum 1981–2007“, in: Tate Papers, London, 2008; Mark Imber, Trudy Fraser, „From Flanders to Fallujah: Rethinking rememberance“, in: Journal of War & Culture Studies, Vol. 4, No. 3, S. 383–397.

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ge, weshalb der Film das Misstrauen der Historiker stärker auf sich zieht als andere Bildmedien, zwei Antworten, eine, die er als „overt“ oder off en, und eine, die er als „covert“, als versteckte, aber eigentlich die richtige Antwort bezeichnet:

„The Overt Answers: Films are inaccurate. They distort the past. They fictionalize, trivialize, and romanticize people, events, and movements. They falsify history.The Covert Answers: Film is out of the control of historians. Film shows we do not own the past. Film creates a historical world with which books cannot compete, at least for popularity. Film is a disturbing symbol of an increasingly postliterate world.“26

Der Film macht die Historiker demnach aus drei Gründen nervös: 1) weil er sich der Kontrolle der Historiker entzieht, was unter ande-rem auch heißt, dass die Filmemacher nicht dieselbe professionelle Ausbildung genossen haben wie Historiker und entsprechend nicht mit derselben, standesgemäßen Gewissenhaftigkeit zu Werke gehen; 2) weil Film und Geschichtsschreibung in einem Wettbewerb stehen, den die Historiographie aufgrund der größeren Popularität des Medi-ums Film nur verlieren kann, und 3) weil der Film ein Zeichen für die Heraufkunft einer „postliterate world“ ist, in der Techniker des Schrift-mediums wie die Historiker nichts mehr zu bestellen haben werden.

Der dritte Punkt erinnert natürlich an die Einleitung zu Béla Balázs’ Der sichtbare Mensch, die den Film als Medium feiert, das die sichtbare Welt von der Last des Satzbleis befreit, der nun schon mehrere Jahrhun-derte andauernden Vorherrschaft der Schrift ein Ende setzt und ein neu-es Zeitalter des Visuellen einläutet. Balázs’ Medieneuphorie kippt hier einfach in kulturkritische Medienphobie. So weit aber die „fear of the visual media“ der Historiker eine Angst vor einer „postliterate world“ ist, handelt es dabei um eine neurotische Angst und nicht um eine Real-angst. So wenig, wie die Krise der Musikindustrie in den Nuller-Jahren auf das Filesharing zurückzuführen war,27 so wenig kündet der Film von einem nach-alphabetischen Zeitalter. Im Gegenteil: In Zeiten des Inter-net werden mehr Bücher verkauft und gelesen als je zuvor, junge Leute lesen mehr als vor zwanzig Jahren, und in den USA gab es 2009 208.904.000 eingetragene Bibliotheksbenutzer, was 68% der Bevölke-rung entspricht, der höchste Prozentsatz, seit der Verbund der amerika-

26 Robert A. Rosenstone, Visions of the Past. The Challenge of Film to Our Idea of His-tory, Cambridge, MA, 1995.

27 Vgl. Felix Oberholzer-Gee, Koleman Strumpf, „The Effect of File Sharing on Re-cord Sales. An Empirical Analysis“, 2005.

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nischen Bibliotheken 1990 diese Statistik einführte.28 Da neurotische Ängste aber gegen die Belehrung durch Tatsachen gerade resistent sind, wird man Rosenstone zugestehen müssen, dass die kulturkritisch grun-dierte Angst vor dem Ende des Zeitalters der Schrift durchaus mit zu den Motiven zählt, welche die historistische Maschine antreiben.

Stärker begründet und damit einer Einstufung als Realängste näher sind die Regungen, die Rosenstone unter den Punkten 1 und 2 an-spricht. Dass der vermeintlich selbstevidente epistemologische Vorzug der Schrift vor dem Bild stets aufs Neue verteidigt werden muss, haben wir schon gesehen: Der Verdacht, dass das Supplement mit dem, zu dem es hinzukommt, zutiefst verwandt ist, lässt sich nie abschließend ausräumen. Dass Schrift und Bild, und Historiographie und Film, sich auf derselben Ebene und demselben Territorium bewegen, spricht Ro-senstone mit dem Begriff des Wettbewerbs aus. Der Besitzanspruch an der Vergangenheit, den die Historiker anmelden, macht ihnen der Film streitig („we do not own the past“). Mit dem Vorzug der größeren Popularität droht der Film den Vorsprung an gesicherter Wahrheit, den die professionelle Historiographie für sich reklamiert, zumindest aus-zugleichen, wenn nicht sogar zu überbieten.

Ob es sich bei dem Wettbewerb von Film und Geschichte tatsäch-lich um einen Konkurrenzkampf zwischen Popularität und Wahrheit handelt, sei fürs erste dahingestellt. Zutreff end scheint indes die An-nahme, dass Film und Geschichte eine Territorialstreitigkeit miteinan-der austragen, an deren Ursprung eine Vergleichbarkeit von Leistungen und Funktionen steht. In der Philosophie und der Medientheorie zu-mindest hat eine solche Intuition schon mehrfach Gestalt gewonnen.Film und Geschichtsschreibung, so schreibt etwa Lorenz Engell,

„sind keineswegs identisch; die Unterschiede sind vielleicht zahlreicher und auch bedeutsamer als die Übereinstimmungen, aber es handelt sich in der Entstehung um strukturisomorphe Medien und um parallellau-fende Unternehmungen.“29

Den Gedanken, dass die Photographie in spezifi scher Weise ist wie das Geschichtsverständnis des Historismus, insofern sie Vergangenes in allen Details und um der Vollständigkeit dieser Details willen aufzeich-

28 Vgl. McSweeney Editors, „Some Good News From the World of Books“, in: Ti-mothy McSweeney’s Internet Tendency, 2011.

29 Lorenz Engell, „Erzählung. Historiographische Technik und kinematographischer Geist“, in: Eva Hohenberger, Judith Keilbach (Hgs.), Die Gegenwart der Vergan-genheit. Dokumentarfilm, Fernsehen und Geschichte, Berlin, 2003, S. 247–275 (hier S. 269).

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net, formuliert Siegfried Kracauer erstmals in kritischer Absicht in seinem Photographie-Essay von 1927; dass der Film ist wie die Ge-schichte, ist eine Th ese, die er in Th e Last Th ings Before Last 1966 ver-tritt, in deutlich affi rmativerer Absicht. Nach Jacques Rancière wieder-um hat der Film

„eine innere Beziehung zu einer bestimmten Idee von Geschichte und zu einer bestimmten Geschichtlichkeit. … Der Film kommt aus ob-jektiven Gründen nicht einfach ‚nach‘ den anderen Künsten. Er gehört einer ganz bestimmten Zeit an, die von einer ganz bestimmten Idee der Geschichte als Kategorie eines gemeinsamen Schicksals geprägt ist.“30

In seiner Auseinandersetzung mit Godards HISTOIRE(S) DU CINÉMA schreibt er weiter:

„Die Geschichte ist jener gemeinsame Modus der Erfahrung, in dem sich die Erfahrungen gegenseitig entsprechen und in dem die Zeichen für jede beliebige Erfahrung in der Lage sind, alle anderen zum Aus-druck zu bringen.“31

Die Isomorphie von Film und Geschichte bestimmt Rancière in der Folge dadurch, dass der Film als „moderne Universalpoesie“ zumal durch die Montage genau diese Verknüpfungen und Ausdrucksbezie-hungen zur Darstellung bringen kann. Isomorphie von Film und Ge-schichte meint aber auch eine Zurichtung der Geschichte auf das Kino. Noch unter dem konkreten Eindruck des Zweiten Weltkriegs konsta-tiert etwa André Bazin 1946 eine gegenseitige Durchdringung von Kino, Krieg und Geschichte:

„Le goût de l’actualité, joint à celui du cinéma, n’est q’un aspect du be-soin de l’homme moderne d’assister à l’Histoire à laquelle l’évolution politique, aussi bien que les moyens techniques de communication et de destruction le mêlent irrémediablement. Au temps de la guerre totale répond fatalement celui de l’histoire totale.“32

30 Jacques Rancière, „Die Geschichtlichkeit des Films“, in: Eva Hohenberger, Judith Keilbach (Hgs.), Die Gegenwart der Vergangenheit. Dokumentarfilm, Fernsehen und Geschichte, Berlin, 2003, S. 230–246 (hier S. 230).

31 Jacques Rancière, „Eine Fabel ohne Moral: Godard, das Kino, die Geschichte“, in: Montage AV, 14/2, 2005, S. 158–177 (hier S. 166).

32 Bazin, a.a.O., S.  1023. Kriegsführung und Kino, so Bazin, sind mittlerweile ganz aufeinander ausgerichtet: „C’est ainsi que les nations en guerre ont prévu l’équipement proprement militaire. L’opérateur accompagnait le bombardier dans sa mission, le commando dans son débarquement. L’armement de l’avion de chasse comportait une caméra automatique entre les deux mitrailleuses. Le cameraman court autant de dangers que les soldats dont il est chargé de photographier la mort,

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[Der Geschmack, den der moderne Mensch an der aktuellen Bericht-erstattung findet und der sich mit dem fürs Kino verbindet, ist nur ein Aspekt seines Bedürfnisses, der Geschichte beizuwohnen, in das die technischen Mittel der Kommunikation und der Zerstörung ihn un-weigerlich hineinziehen. Dem Zeitalter des totalen Kriegs entspricht auf fatale Weise ein Zeitalter der totalen Geschichte.]

Geschichte und Kino lassen sich nicht mehr trennen; im Moment sei-nes Geschehens wird das historische Geschehen zum Film:

„Nous vivons de plus en plus dans un monde dépouillé par le cinéma. Un monde qui tend à faire la mue de sa propre image. Des centaines de milliers d’écrans nous font assister, à l’heure des actualités, à la formida-ble desquamation que secrètent chaque jour des dizaines de milliers de caméras. A peine formée la peau de l’histoire devient péllicule.“33

[Wir leben mehr und mehr in einer Welt, der vom Kino die Haut ab-gezogen wird. Eine Welt, die dazu tendiert, sich auf ihr eigenes Bild auszurichten. Hunderttausende von Leinwänden lassen uns, wenn die Aktualitäten gezeigt werden, der wundersamen Desquamation beiwoh-nen, die zehntausende von Kameras täglich absondern. Kaum hat sie sich gebildet, wird die Haut der Leinwand zum Filmstreifen.]

Soweit Bazins Th ese zutriff t, dass die „Haut der Geschichte im Mo-ment ihres Entstehens schon zum Filmstreifen wird“, lässt sich auf je-den Fall festhalten, dass dem Film mit dem Vorwurf, er sei bloß ein

fût-ce au péril de sa vie (mais qu’importe, si la pellicule est sauvée). La plupart des opérations militaires ont compris une minutieuse préparation cinématographique. Qui dira dans quelle mesure l’efficacité strictement militaire se distingue alors du spectacle qu’on en attend.“

[So haben die kriegsführenden Nationen die eigentlich militärische Ausrüstung vorgesehen: Der Kameramann begleitet den Bomberpiloten auf seiner Mission und die Landungstruppe bei der Landung. Die Bewaffnung des Jagdflugzeugs um-fasste eine automatische Kamera zwischen den beiden Maschinengewehren. Der Kameramann setzt sich ebenso großer Gefahr aus wie die Soldaten, deren Tod zu filmen sein Auftrag ist, und sei es unter Einsatz seines eigenen Lebens (aber was zählt das, wenn das Filmmaterial gerettet wird). Der größte Teil der militärischen Operationen umfasste eine genaue filmische Vorbereitung. Man darf sich fragen, inwiefern sich die militärische Wirksamkeit im engeren Sinn noch von dem Spek-takel unterscheidet, das erwartet wird.]

Bazin nimmt damit die Überlegungen zu Krieg und Kino und zur Logistik der Wahrnehmung vorweg, die ein knappes halbes Jahrhundert später von Paul Viri-lio und anderen entwickelt werden. Vgl. Paul Virilio, Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung, Frankfurt, 1989; Daniel Gethmann, Das Narvik Projekt. Krieg und Kino, Köln, 1998.

33 Bazin, a.a.O., idem.

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‚populäres‘ Medium und deshalb nicht wahrheitsfähig, nicht beizu-kommen sein wird.

Die medientheoretische Th ese von der Isomorphie von Film und Geschichte läuft in ihren unterschiedlichen Ausprägungen immer auch auf eine soziologische Pointe hinaus: dass nämlich Film und akademi-sche Geschichtswissenschaft in modernen Gesellschaften das gleiche Terrain der Erfahrung besetzen. Dass die historistische Maschine ein Terrain der Erfahrung verteidigt, über das die Geschichtswissenschaft einst allein die Diskurshoheit ausübte, scheint in der Tat für alle Gesell-schaften zu gelten, die über die Institution der Geschichtswissenschaft in einem modernen Sinn verfügen: also über die Institution einer mit den Methoden der Quellenkritik verfahrenden, an Universitäten be-triebenen Erforschung der Vergangenheit, wie sie von der Göttinger Schule am Ende des 18. Jahrhunderts etabliert wurde.34 Texte im Geist von Bromwichs Überprüfung von Spielbergs Film fi nden sich in gro-ßer Zahl auch auf Deutsch35 und etwas weniger zahlreich auf Französisch,36 was etwas mit der unstrittigen kulturellen Legitimität

34 Luigi Marino, Praeceptores Germaniae: Göttingen 1770-1820, Göttingen, 1995, S. 300 ff.

35 Herausgegriffen sei hier etwa Mischa Meier, Simone Slanicka, Antike und Mit-telalter im Film, Köln, 2006. Die Beiträge widmen sich mit einer Ausnahme an Fallbeispielen der Aufgabe der Überprüfung der Faktentreue der Filme. Dies unterscheidet sich etwa von den neueren Arbeiten zu Mittelalter und Film von Bettina Bildhauer, die Filme einerseits als Repräsentationen behandelt und unter das Gebot der Faktentreue stellt, zugleich aber den „Mittelalterfilm“ als Kritik an modernen Ideen des Fortschritts liest und überdies die These von Balázs aufgreift, derzufolge der Film die Rückkehr eines visuellen Zeitalters vor der neuzeitlichen (Druck-)Schriftkultur markiere, damit aber auch der Agent eines „neuen Mittelal-ters“ sei. Vgl. Bettina Bildhauer, Filming the Middle Ages, London, 2011.

36 In Frankreich gibt es eine Reihe von Historikern wie etwa Marc Ferro, Michèle La-gny und Pierre Sorlin, die sich mit dem Film ebenfalls nicht nur unter dem Aspekt der Repräsentation vorgängig durch die Geschichtswissenschaft gesicherter Fakten befassen, sondern diesen auch als Modus und Medium der historischen Erfahrung und „Agenten der Geschichte“ (Marc Ferro, Histoire et cinéma, Paris, 1976) ana-lysieren. Sylvie Lindeperg wiederum suspendiert die Jurisdiktion des spontanen Historismus in ihren Arbeiten zu Film und Geschichte zugunsten einer „Mik-rogeschichte in Bewegung“, die Benjamins Aufforderung an die Historiker ernst nimmt, in der Analyse kleiner Einzelmomente den Zusammenhang des Ganzen freizulegen; exemplarisch darf für dieses Vorgehen ihr Buch zu Resnais NACHT UND NEBEL gelten (Sylvie Lindeperg, Nacht und Nebel. Ein Film in der Geschichte, Berlin, 2010). Der Historiker und Filmkritiker Antoine de Baecque schließlich folgt in seinen Arbeiten zu Film und Geschichte einer ähnlichen Intuition wie Rancière und vertritt die These, dass Film und Geschichte das selbe Terrain der Erfahrung bearbeiten und in einem „film de fiction“ mehr Geschichte stecke als in jeder Wochenschau (wobei letzteres wohl auch eine innerfranzösische Spitze gegen

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des Kinos in Frankreich zu tun haben mag.37 Was die historistische Maschine antreibt, wäre demnach eine Sprach- und Kulturgrenzen übergreifende ‚anxiety of dominance‘: Ein Wille zur Bewahrung der Diskurshoheit, ein Wille, die Kontrolle über das Feld der Erfahrung nicht zu verlieren, das der Film mitbestellt, und den Film, diesen gleich-ursprünglichen Emporkömmling, nicht in die Autonomie zu entlas-sen.

Man könnte nun einen Faden von Michel de Certeau aufgreifen, Wissenschaftssoziologie und -ethnographie und Psychoanalyse mitein-ander verknüpfen und die spezifi schen Orte und institutionellen Zu-sammenhänge aufsuchen und rekonstruieren, an denen die Beunruhi-gung über die Isomorphie von Film und Geschichte produktiv wird und die historistische Maschine in Gang bringt.38 Zunächst aber stellt sich die Frage, ob die Beunruhigung, die der Film in der Geschichtwis-senschaft auslöst, sich in der Tat vor allem auf eine ererbte Ikonophobie und auf diese Isomorphie zurückführen lässt, oder ob in dem, was ich die bedrohliche Autonomie des Films genannt habe, nicht noch etwas anderes aufscheint.

Um dem nachzugehen, möchte ich bei Walter Benjamin eine Frage entlehnen, die zunächst der Kunst gilt, und diese im Sinne einer Expe-rimentalanordnung auf Film und Geschichte übertragen. Diese Expe-rimentalanordnung sieht folgendermaßen aus:

Wenn man vor die Aufgabe gestellt würde, Walter Benjamins Kunst-werkaufsatz zu ‚pitchen‘, also nach den Formvorgaben eines Holly-

Marc Ferro und seine „histoire parallèle“ ist, ein Fernsehprogramm, in dem der Historiker zwischen 1989 und 2001 Einzelereignisse durch einen Ländervergleich von Wochenschaumaterial bearbeitet, zunächst für den Fernsehsender La Sept, dann ab 1992 für Arte). Vgl. dazu Antoine De Baecque, Histoire et cinéma, Paris, 2008.

37 Edgar Morin hat in den 1950er Jahren mit Blick auf die großen amerikanischen und englischen Studien zum vermeintlich schädlichen Einfluss des Kinos auf Kinder darauf hingewiesen, dass es im französischen bzw. romanischen Kultur-raum solche Studien nicht gibt. Er führt die Tatsache, dass das Kino offenbar als unbedenklich eingestuft wurde, unter anderem auf eine konfessionelle Differenz zurück. Es wäre durchaus interessant, im Hinblick auf die Freilegung solcher kul-tureller Differenzen ein umfangreiches, über verschiedene Kulturräume verteiltes Korpus von Literatur zu Film und Geschichte dem zu unterziehen, was Franco Moretti als „distant reading“ bezeichnet, d.h. als serielle Lektüre großer Literatur-bestände im Hinblick auf die Herausarbeitung rekursiver Muster. Vgl. Edgar Mo-rin, „Das Kino aus soziologischer Sicht“, in: Montage AV, Vol. 19, No. 2, S. 77–90; Franco Moretti, Maps, Graphs, Trees. Abstract Models for a Literary History, Lon-don, 2005.

38 Michel De Certeau, L’écriture de l’histoire, Paris, 1975.

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wood-Produktions-Meetings in 25 Wörtern oder weniger zusammen-zufassen, dann könnte man dies unter anderem so tun: Die Frage ist nicht, ob Film eine Kunst sein kann, die Frage ist, was Kunst über-haupt noch ist, wenn es erst einmal den Film gibt.39 Analog dazu könn-te man festhalten, dass die entscheidende Frage zum Verhältnis von Film und Geschichte nicht ist, ob der Film eine akzeptable Form der Historiographie darstellt, sondern was Geschichte und historische Er-fahrung überhaupt sind, wenn es erst einmal den Film gibt.

III. Benjamins Frage

Als Ricciotto Canudo in den frühen 1920er Jahren für den Film den Begriff von der „siebten Kunst“ prägte, ging er von einem etablierten „System der Künste“ aus.40 Eine neue Kunst war auf den Plan getreten und es ging nun für Canudo, wie vor ihm schon für Georg Lukács oder Vachel Lindsay darum, den Platz dieser neuen Kunst im System der Künste zu bestimmen. Canudo zog den Zählrahmen hervor und wies dem Film eine Nummer zu, zunächst die Sechs, dann die Acht und schließlich die Sieben.41 Als Walter Benjamin den Kunstwerkaufsatz schrieb, ging es ihm nicht um die Frage, inwiefern der Film das beste-hende System der Künste ergänzt und erweitert. Vielmehr ging er von der Feststellung aus, dass der Film – oder vielmehr die „mechanische Reproduzierbarkeit“, für die er in exemplarischer Weise stand – die tra-dierte Ordnung der Kunst umschichtete. Der Kunstwerkaufsatz ent-hält einen Abschnitt, der in der Regel wenig Beachtung fi ndet, in dem Benjamin einen Überblick über Positionen der Filmtheorie der 1920er Jahre gibt. Gemeinsam ist den entsprechenden Autoren eine Reihe von Fragen: ob Film Kunst sein kann, welche Merkmale ihn als Kunst von den anderen Künsten unterscheiden, und wie man einen Film machen muss, damit er als Kunstwerk gelten kann. Filmtheorie vor Benjamin, so der Nachweis, den die Passage erbringt, ist ein aristotelisches Unter-fangen der Bestimmung einer Essenz, aus der eine Norm abgeleitet wird, die zugleich Kriterium der Evaluation bereits vorhandener und

39 Vgl. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzier-barkeit, Stuttgart, 1989.

40 Ricciotto Canudo, „Réflexions sur le septième art“ [1923], in: L’Usine aux images, Paris, 1926, S. 29–47.

41 Vgl. Christian Quendler, „Musing by Numbers: Counting the Arts in the Age of Film“, in: Giulio Bursi, Pietro Bianchi, Simone Venturini (Hg.), Il Canone Cine-matografico – the Film Canon, Udine, 2011, S. 117–123.

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generatives Prinzip für noch kommende Filme ist. Für Benjamin hin-gegen ist Kunst nicht eine Frage der Essenz, sondern von Praxis und Perspektive. Die technische Reproduzierbarkeit macht Werke, die zu-vor selten und schwer zugänglich waren, zahlreich und leicht zugäng-lich; das Kunstwerk verliert seine Aura, eine besondere Spannung zwi-schen Ferne und Nähe, und an die Stelle einer andächtigen Versenkung ins Kunstwerk tritt bei den Betrachtern einer neuen, technikbasierten Kunst wie dem Film eine Haltung des zerstreuten Testens. Kunst ist historisch – nicht in dem von der Kunstgeschichte akzeptierten Sinne, demzufolge sich Kunst als Abfolge formaler Innovationen von vonein-ander beeinfl ussten Künstlern entwickelt, sondern in dem Sinne, dass die ‚Essenz‘ der Kunst sich mit den medialen Techniken der Produkti-on und Zirkulation ihrer Werke ändert.42

Benjamins Frage gehört noch in den Horizont der Ablösung der Me-taphysik durch die Geschichtsphilosophie und er ergänzt sie bekannt-lich durch einen eigenen Entwurf einer Philosophie der Geschichte, der in den posthum erschienen „Th esen zum Begriff der Geschichte“ nie-dergelegt ist. Wenn Benjamin in den Th esen der Vorstellung der Ver-gangenheit als homogener und leerer Zeit den Begriff der „Jetztzeit“ gegenüber stellt, welche die messianischen Splitter der Vergangenheit in sich enthält, dann ist es gerade im Sinne einer genaueren Bestimmung dieser Jetztzeit angezeigt, seine eigene Frage zur Kunst auch auf die Ge-schichte und ihren Begriff anzuwenden und nach dem Beitrag des Films zu einer Kritik der Geschichte zu fragen. In welchem Verhältnis steht demnach der Film zu ‚Geschichte‘, und wie wandelt sich ‚Geschichte‘ unter den Bedingungen und im Zeichen des Films?

Im Sinne einer Räumung des Terrains und der Zerlegung der histo-ristischen Maschine, wie sie hier angestrebt wird, richtet sich diese Fra-ge zunächst auf den Begriff von Geschichte, der sich als „Kollektivsin-gular“ im Sinne von Koselleck an der Schwelle des 19. Jahrhunderts ausgebildet hat und von dem die Geschichtswissenschaft mehr oder

42 Benjamin verwendet den Begriff des Mediums noch nicht in dem Sinne, wie er später mit Clement Greenbergs Frage nach der Medienspezifik der Kunst und vollends mit McLuhan geläufig wird. Benjamin unterscheidet noch zwischen „Medium“ und „Apparat“, wobei Medium eine mitunter auch ungreifbare Vor-aussetzung meint, ein Milieu, während etwa der Film unter die Rubrik „Apparat“ fällt. Der Medienbegriff der deutschsprachigen Medienwissenschaft ist ein Import aus einem nordamerikanischen Theoriezusammenhang. Vgl. dazu Antonio So-maini, „‚L’oggetto attualmente più importante dell’estetica‘. Benjamin, il cinema come Apparat, e il ‚Medium della percezione‘“, in: Fata Morgana, 2013.

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weniger explizit ausgeht.43 Die Frage betriff t demnach mehrere Ebe-nen:

– Die Ebene der Geschichte als Praxis oder der ‚Realgeschichte‘, wie sie von Historikern mitunter genannt wird, um innerhalb des Geschichtsbegriff s zwischen der Praxis historischen Handelns und der Praxis der Historiographie zu unterscheiden und das Faktische mit dem ontologisch schwerwiegenden Begriff des Re-alen von allen Diskursivierungen und Darstellungen, nicht nur den fi lmischen, abzugrenzen und freizuhalten;

– Die Ebene der Historiographie, die sich die Geschichte als Praxis zum Gegenstand macht, wobei die besagten Historiker mitunter, weil sie auf den Begriff des Realen setzen, auch davon ausgehen, dass die Historie, die Betrachtung der Geschichte, diese ‚entreali-siert‘ und zu einem Gegenstand der Th eorie macht;44

– Die Ebene der Geschichte als Erfahrung, d.h. als etwas, was ‚wir‘ ‚machen‘ können: eine von einer jeweiligen Gruppe geteilte Er-fahrung, die auf der Annahme einer gemeinsamen Vergangenheit basiert und auf eine gemeinsam, von jeder und jedem einzeln oder im Zusammengehen der Gruppe zu gestalten ist.

Zu dieser Trias ist zunächst anzumerken, dass die Vorstellung einer Realgeschichte, die jeder medialen Darstellung vorausgeht und zu der die Medien ihrer Darstellung nur hinzutreten, ihrerseits schon ein Teil des Instrumentariums der Historiographie ist. Damit es etwas gibt, was der Historiographie vorausgeht und ontologisch höherwertig ist, also ‚realer‘, muss es erst die Historiographie geben, die diese Zuschreibung vornimmt und auf diese Zuschreibung aufbaut, insofern es zu ihrem Selbstverständnis gehört, dass sie zu dem, was es vor ihr schon gibt, erst nachträglich hinzutritt. Oder anders gesagt: Realgeschichte gibt es, weil es eine Historiographie gibt, die von ihrer Existenz ausgeht. Bevor die Historiographie die Realgeschichte irrealisieren kann, muss sie die-se erst als solche realisieren. Die Realgeschichte, in deren Namen die historistische Maschine auftritt, ist das Produkt einer sprachlichen Operation jener Historiographie, deren Terrain sie verteidigt.45

43 Vgl. Reinhart Koselleck, „Wozu noch Historie?“, in: Historische Zeitschrift, Bd. 212, H. 1, 1971, S. 1–18.

44 Vgl. Detlef Junker, Peter Reisinger, „Was kann Objektivität in der Geschichtswis-senschaft heißen, und wie ist sie möglich?“ [1974], in: dies. (Hg.), Theorieprobleme der Geschichtswissenschaft, Darmstadt, 1977, S. 434 ff.

45 Mit dem Begriff der sprachlichen Operation oder „opération langagière“ beziehe ich mich hier auf Pierre Legendre: „Il faut rappeler comment opère le langage, mé-

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In einem produktiven Verhältnis steht die Historiographie aber auch zur Geschichte als Erfahrung. „Geschichte“, „Nation“, oder „Re-volution“ sind, wie Reinhart Koselleck schreibt, „Erfahrungsstiftungs-begriff e“, Begriff e, in deren Horizont das Geschehen, das sie benen-nen, überhaupt erst erfahrbar wird.46 Es sind aber zugleich auch Begriff e, mit denen die moderne Geschichtswissenschaft ihre Gegen-stände bestimmt und umreißt. Wichtig ist dabei, dass die Erfahrung, die durch diese Begriff e gestiftet wird, eine Kontinuität zwischen Ver-gangenheit, Gegenwart und Zukunft herstellt und zugleich eine radi-kale Diskontinuität voraussetzt, eine Diff erenz zwischen Vergangen-heit und Gegenwart. So vertritt der niederländische Historiker F.R. Ankersmit die Th ese, dass die Vergangenheit als mögliches Objekt des Wissens überhaupt erst aus der Erfahrung eines Bruchs von Gegenwart und Vergangenheit hervorgeht, also eine Diskontinuität voraussetzt, wie sie etwa auch im Begriff der Revolution benannt ist.47 Auf die kon-stituierende Rolle der Diskontinuität für die historische Erfahrung ver-weist auch Benjamin in seinen Th esen, wenn er darauf hinweist, dass Revolutionäre ihr historisches Tun jeweils damit markieren, dass sie neue Kalender einführen und damit eine neue Zeitrechnung beginnen lassen. Die Th ese der Diskontinuität auf die Spitze treibt der englische Philosoph Michael Oakeshott, wenn er im Sinne eines methodischen Prinzips die Gegenwart von der Geschichte abtrennt und die Behaup-tung aufstellt, dass sich die Aktivität des Historikers gerade dadurch kennzeichne, dass sie von jedem Bezug zur Gegenwart befreit sei, was unter anderem bedeutet, dass Geschichte und Politik ebenso wenig vereinbar wären wie Geschichte und Erfahrung.48 So sehr es aber aus methodischen Gründen sinnvoll, ja notwendig, sein mag, beim Schrei-ben von Geschichte von der politischen Lage der Gegenwart zunächst abzusehen, so sehr bleibt die Geschichtswissenschaft dennoch in einen solchen Zusammenhang eingebunden und die Erfahrung der Diskon-tinuität verbindet sich mit einer Erfahrung der Kontinuität zu dem,

diation entre l’homme et la matérialité du monde. Il n’y a pas les mots d’un côté , les choses de l’autre. … le rapport du mot et de la chose est intérieur au langage, de sorte qu’un objet extérieur n’existe que parce que sa condition d’existence matéri-elle se double de sa construction dans la représentation.“ Pierre Legendre, De la so-ciété comme texte. Linéaments d’une anthropologique dogmatique, Paris, 2001, S. 18.

46 Vgl. Reinhart Koselleck, „Die Geschichte der Begriffe und Begriffe der Geschich-te“, in: Begriffsgeschichten, Frankfurt, 2006, S. 56–76.

47 Vgl. F.R. Ankersmit, Sublime Historical Experience. Cultural Memory in the Present, Stanford, 2005.

48 Vgl. Michael Oakeshott, „The Activity of Being an Historian“, in: ders., Rationa-lism in Politics and other Essays, London, 1962, S. 151–183.

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was wir ‚historische Erfahrung‘ nennen. Diese doppelte Erfahrung ei-ner Kotinuität in der Diskontinuität ist dabei institutionell wie diskur-siv in einem hohen Maße an die moderne Form der Staatlichkeit ge-bunden. Die Aufgabe der Geschichtswissenschaft besteht, nachdem sie an den Universitäten erst einmal etabliert ist, nicht zuletzt darin, den modernen Nationalstaat mit einer Vergangenheit zu versehen, aus der sich seine möglichen Zukünfte eröff nen. Im Sinne der Doppelbedeu-tung des Darstellungsbegriff s rekonstruiert die Geschichtswissenschaft die Vergangenheit einer jeweiligen Gemeinschaft und sie produziert Vergangenheit, indem sie diese den Angehörigen der Gemeinschaft zu-gänglich macht – zunächst in Form von Texten, aber auch von Illustra-tionen, Monumenten und schließlich Filmen, die aus diesen Texten abgeleitet werden. Die Produktion von Vergangenheit und damit die Herstellung von historischer Erfahrung als Erfahrung einer Kontinui-tät verbunden mit Diskontinuität, geht mit dem einher, was Louis Al-thusser „Interpellation“ nennt, der Produktion von Subjektivität durch Adressierung, d.h. der Ansprache von jemandem als jemandem.49 Die Darstellungen der modernen Geschichtswissenschaft richten sich an ein Publikum, um dessen Vergangenheit es geht und das entsprechend vor dem Hintergrund dieser Vergangenheit im Horizont einer gemein-samen Zukunft handeln kann. Die historische Erfahrung als Erfah-rung der Kontinuität in der Diskontinuität kann man überdies auch als Spannungsverhältnis von Anwesenheit und Abwesenheit oder als produzierte Anwesenheit des Abwesenden charakterisieren; die moder-ne historische Erfahrung lässt sich so gesehen in Begriff en, die auch schon zur Beschreibung des Dispositivs des Kinos verwendet wurden, als Interpellation durch eine abwesende Anwesenheit beschreiben.50 Wer Geschichte schreibt, produziert historische Erfahrung und schreibt die Geschichte für solche, die Geschichte machen können, genauer: die an dieser Geschichte weitermachen können. Auch in diesem Sinne produziert die Historiographie Realgeschichte: Indem sie den Hori-zont von Geschichte als zukunftsoff ener gemeinsamer Praxis stiftet.

Nun hat die Medienwissenschaft in ihren Anfangsjahren große Er-folge erzielt, indem sie anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen den Nachweis ihrer Medienvergessenheit erbrachte. An die technisch-medialen Voraussetzungen und Bedingungen des eigenen Tuns, darauf

49 Vgl. Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate [1970], Hamburg, 2010.

50 Vgl. Christian Metz, Der imaginäre Signifikant, Münster, 2000.

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war Verlass, hatten die Kollegen in der Regel noch nicht gedacht.51 Auf die Geschichtswissenschaft triff t dies nur bedingt zu. Schon die Fach-systematik zeugt von einem akuten Medienbewusstsein oder zumin-dest einem Bewusstsein für die Rolle der Schrift als medialer Vorausset-zung jeder Historiographie. Das Feld der Ur- und Frühgeschichte heißt nicht von ungefähr auch ‚Vorgeschichte‘. Vorgeschichte ist all das, was vor der Schrift kam. Geschichte beginnt mit dem Auftritt der Schrift. Dass die moderne Geschichtswissenschaft, die eine westeuropäische Erfi ndung ist und sich in Europa und den USA im 19. Jahrhundert etablierte,52 ihre Konzeption von Geschichte, Geschichtsbewusstsein und geschichtlicher Erfahrung auf Bereiche und Zeiten projiziert, de-ren Praktiken sich solchen Begriff en mitunter entziehen – wofür die Sumerer, die Erfi nder der Schrift, das erste und beste Beispiel sind53 –, tut der Tatsache keinen Eintrag, dass der Zuständigkeitsanspruch der modernen Historiographie eine mediengeschichtliche Fundierung hat: Geschichtswissenschaft ist zuständig für alles, was im Zeitalter der Schrift passiert – und für alles, was davor kommt, natürlich auch, nur eben unter dem Titel ‚Vorgeschichte‘.

Es verwundert vor dem Hintergrund eines solchen Medienbewusst-seins, das schon in die Fachsystematik eingetragen ist, denn auch nicht, dass in der Geschichtswissenschaft schon in den 1970er Jahren diff e-renzierte Auseinandersetzungen über die epistemologischen Dimensio-nen der Informatisierung geführt wurden. Vierzig Jahre vor den gro-ßen Debatten über die ‚digital humanities‘ begannen die französischen Historiker der ‚Annales‘-Schule ihrem Ansatz entsprechend, compu-tergestützte Verfahren der quantifi zierenden Analyse von Datenreihen

51 Die Ur-Figur dieser Operation ist allerdings, wenn man so will, eine innerger-manistische und besteht in der Blickwendung, die Kittler mit seiner literaturwis-senschaftlichen Habilitationsschrift, den „Aufschreibesystemen“, vollzieht. Dass Kittlers Anamnese der vergessenen Medien nicht reibungslos verlief, sondern im Gegenteil das weckte, was man psychoanalytisch als Verdrängungswiderstand bezeichnen würde, lässt sich an den Schwierigkeiten von Kittlers Habilitations-verfahren erkennen, das die Zeitschrift für Medienwissenschaft in ihrer Ausgabe Nr. 6 durch den Abdruck der zahlreichen Gutachten dokumentierte, die zu dessen Durchführung notwendig wurden.

52 Vgl. dazu und zum Modellcharakter der Göttinger Schule in diesem Prozess Gab-riele Lingelbach, Klio macht Karriere. Die Institutionalisierung der Geschichtswissen-chaft in Frankreich und den USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Göttin-gen, 2003; und Peter Novick, The Noble Dream: ‚The Objectivity Question‘ and the American Historical Profession, Cambridge, 1988.

53 Vgl. J.J. Finkelstein, „Mesopotamian Historiography“, in: Proceedings of the Ame-rican Philosophical Society, Vol. 107, No. 6, S. 461–472.

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einzusetzen.54 François Furet gab dabei unter anderem zu bedenken, dass im Zeichen der Informatisierung die Gegenstände auf die Prozes-sierbarkeit von Daten hin zugeschnitten würden. Das hat, so Furet, unter anderem die Konsequenz, dass die Suche nach dem latenten Sinn hinter dem Manifesten, der die Auseinandersetzung mit historischen Phänomenen seit der Romantik prägte, durch eine Zugangsweise er-setzt wird, die das ‚konkrete Phänomen‘ durch einen Gegenstand setz-te, der seiner eigenen Defi nition entspringt.55 Damit ist man aber auch schon mit der genuin medienwissenschaftlichen Frage befasst, ob die Medientechnik nun ein a priori oder ein Supplement darstellt.

Von einem Konfl ikt zwischen Medienbewusstsein und Medienver-gessenheit, oder vielmehr Medienverdrängung, zeugt wiederum die Debatte, die Hayden White ebenfalls in den 1970er Jahren mit seinem Buch Metahistory auslöste. White unterzog die Werke einer Reihe von klassischen europäischen Historikern der 19. Jahrhunderts, von Jules Michelet bis Jacob Burckhardt, einer an strukturalistischen Textmodel-len orientierten, narratologischen Analyse.56 White zeigte auf, dass die-se Autoren narrative Strategien und Techniken verwendeten, die denje-nigen der erzählenden Literatur analog waren. Anstatt nur die ‚Fakten‘ zur Darstellung zu bringen, dramatisierten sie Geschichte und erklär-ten historische Prozesse in Erzählungen, die eine aff ektive Anteilnahme erlaubten – also im Grunde das anboten, was Robert Rosenstone zwan-zig Jahre später zur besonderen Leistung des „new history fi lm“ erklär-te. Obwohl White mit seinen detaillierten ‚close readings‘ nicht we-sentlich über das hinausging, was Ernst Robert Curtius in seinen Arbeiten zur Poetik der Geschichte auch schon gesagt hatte, wurde er von zahlreichen Kollegen scharf angegriff en. Der Verweis auf die litera-rische Form der Klassiker der Geschichtswissenschaft galt als Angriff auf das Ideal der Objektivität und die Geltung des Faktischen, als ‚postmoderne‘ Subversion der Disziplin. Das ist insofern bemerkens-wert, als White die Quellenkritik als Fundament der Geschichtswis-senschaft in keiner Weise in Frage stellt und noch nicht einmal so weit geht, die Realgeschichte zu einer methodischen Fiktion der Historio-graphie zu erklären. Die Kontroverse um sein Buch veranschaulicht vielmehr, dass der Jurisdiktion der historistischen Maschine auch die

54 Vgl. Jean-Philippe Genet, „Histoire, Informatique, Mesure“, in: Histoire & Mesu-re, 1986, Vol. 1, No. 1, S. 7–18.

55 Vgl. François Furet, „L’histoire quantitative et la construction du fait historique“, in: Jacques LeGoff, Pierre Nora (Hg.), Faire de l’histoire, Paris, 1974.

56 Vgl. Hayden White, Metahistory: The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore, 1973.

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Geschichtswissenschaft unterliegt: auch nur der Verdacht, dass jemand der Autonomie der Darstellung das Wort reden könnte, ruft schar-fen Widerspruch hervor. Gerade in diesem Widerspruch aber, schärft Whites Arbeit noch einmal das Medienbewusstsein, dass der Geschichts-wissenschaft konstitutiv eingeschrieben ist.

Auf Furet und White zurückzugreifen lohnt sich hier deshalb, weil sie genau die beiden Ebenen benennen, auf denen die bei Benjamin ent-lehnte Frage – was ist Geschichte unter den Bedingungen des Films – sich stellt: Die Ebene der Technik und die Ebene der Darstellung. Fu-ret fragt in seiner Auseinandersetzung mit einer – in dieser Form aller-dings schon wieder überholten – neuen Informationstechnologie nach der medientechnischen Zurüstung epistemischer Objekte in der Ge-schichtswissenschaft; White fragt nach dem Einsatz der Darstellung, die immer zugleich Re-Präsentation und Präsentation ist, also Produk-tion eines neuen Wahrnehmungs- und Wissensobjekts.

Ich will mich im Folgenden mit Blick auf den Film zunächst mit der Frage nach der Technik befassen, bevor ich mich der Frage nach der Darstellung zuwende.

IV. Technik als Unterbrechung des historischen Geschehens

In den Vorlesungen über Ästhetik bestimmt Hegel die „unsrige Zeit“ als eine Zeit nach der Kunst. Lässt die Kunst in ihren „Anfängen“ noch „Mysteriöses, ein geheimnisvolles Ahnen und eine Sehnsucht übrig, weil ihre Gebilde noch ihren vollen Gehalt nicht vollendet für die bild-liche Anschauung herausgestellt haben“, so hat die Kunst mittlerweile eine Stufe erreicht, auf der „der vollkommene Inhalt vollkommen in Kunstgestalten hervorgetreten“ ist, weshalb sich der „weitblickende Geist von dieser Objektivität in sein Inneres“ zurückwendet und die Kunst von sich „fort stösst“:

„Mögen wir die griechischen Götterbilder noch so vortrefflich finden und Gottvater, Christus, Maria noch so würdig und vollendet darge-stellt sehen – es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr.“57

Man könnte auch sagen: Die Aura ist verloren gegangen. Auf die Frage, wie es kommt, dass wir das Knie nicht mehr beugen, gibt Benjamin allerdings eine andere Antwort als Hegel: Nicht der „weitblickende

57 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Stuttgart, 1980.

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Geist“ ist es, der die Ordnung der Kunst verändert, sondern die Tech-nik, und die Veränderung geschieht nicht graduell, sondern irruptiv, als Umsturz, herbeigeführt durch die Emergenz einer neuen Medien-technik oder vielmehr der Techniken der mechanischen Reproduktion. Auch das ist an sich noch nicht neu. Es ist das Zusammenspiel von Kapital und Technik – der beiden Füße, auf welche Marx den Hegel-schen Geist stellt –, das die gesellschaftlichen Widersprüche hervor-treibt, die sich schließlich im dialektischen Drama des Klassenkampfes zuspitzen und am Ende des „Geschichtsprozesses“, wie Lukács es nennt, zur Aufl ösung kommen.58 Hinzu kommt als Akteur die Masse, bei Benjamin repräsentiert durch die jungen Fahrradboten, die über die Lenker ihrer Räder gebeugt sachkundig die neusten Filme und Sportergebnisse diskutieren, Experten einer Kultur, die sich jenseits der Wert- und Bedeutungshierarchie einer sakral verfassten Kunst oder ih-rer Ästhetisierung in der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts ent-faltet hat. So sehr sich Benjamin aber zu der Zeit, als er an dem Kunst-werkaufsatz arbeitet, bemüht ein ernsthafter Marxist zu sein, erschöpft sich seine Th ese doch nicht in einer Applikation (neo-)marxistischer Geschichtsphilosophie auf neue Medientechniken. Die „Aura“ ist nicht einfach Teil eines ideologischen Überbaus, deren fundamentale Unwahrheit durch eine dialektische Bewegung und den Umsturz der Gesellschaftsordnung, die sie stützt, freigelegt wird. Der Verlust der Aura ist in einem emphatischen Sinne ein Verlust. Sie markiert einen Bruch in einer Ordnung des Wissens, und es geht dabei etwas verloren. Sie geht aber auch einher mit der Etablierung einer neuen, demokrati-scheren Ordnung der Kunst, in der die Werke potentiell frei zugäng-lich sind und jeder ein Experte sein kann. Es ist aber eben bei Benja-min nicht in erster Linie die Bourgeoisie, die ja bekanntlich fortwährend alle Produktionsverhältnisse revolutioniert, die dafür haftbar gemacht werden kann, sondern in einem zunächst nicht weiter bestimmten Sinn die Medientechnik. Die Techniken der medialen Reproduktion sind in dem Umbruch, den Benjamin mit seiner Rede vom Verlust der Aura fassen will, der primäre Agent in der Trias von Kapital, Technik und Masse. Sich zur Technik ins richtige Verhältnis zu setzen, ist hier die Aufgabe einer Philosophie der Kunst.

Der Gedanke, dass die Techniken der medialen Reproduktion hin-ter unserem Rücken die ganze Ordnung der Kunst umstülpen, weist auch schon voraus auf Kittlers Schachzug, Hegel nicht nur vom Kopf auf die Füße zu stellen, sondern die Füße auch noch durch das Gestell

58 Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewusstsein, Darmstadt, 1988.

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der Technik zu ersetzen. Bei Kittler wird daraus eine neue Geschichts-philosophie der Technik, ein Techno-Hegelianismus, der will, dass der Computer das Medium ist, das alle anderen Medien darstellen kann – darunter auch und gerade den Film –, so wie die Philosophie Hegels alle vorherige Philosophie auf den Begriff und zur Darstellung brachte. Nun hat jede Technik ihre eigene Metaphysik, wie Bazin es einmal im Anschluß an Sartre formulierte, und die Metaphysik des Digitalen be-sagt, dass die Unterscheidung zwischen Null und Eins die einzige ist, auf die es ankommt. Was geschichtlich der Fall ist, erschließt sich im Techno-Hegelianismus jeweils aus dem letzten Stand der Technik und insofern mit dem Computer der letzte Stand der Technik erreicht ist, kommt die Geschichte damit als Mediengeschichte an ihr Ende.

Eine solche Engführung von Mediengeschichte und Geschichte hat den Reiz der Stimmigkeit und sie fi ndet eine tiefe Resonanz in einem Erbstück der europäischen Geistesgeschichte. In der Th ese, dass län-gerfristig alles im digitalen Code aufgeht, verbirgt sich ein eschatologi-sches Szenario. Der digitale Code ist der große Egalisator an der Schwelle zu einem Jenseits, in dem alle Unterschiede der kulturellen Bedeutung und sozialen Ordnung unerheblich, weil in der Leitunter-scheidung zwischen Null und Eins aufgehoben werden.

Hält man aber an der Th ese fest, dass das, was wir ‚Geschichte‘ nen-nen, ein genuin modernes Terrain der Erfahrung ist, das sich unter anderem dadurch kennzeichnet, dass Historiographie und Film sich darum streiten, kommt man mit Blick auf die Frage nach dem Verhält-nis von Geschichte und Technik mit einer neo-eschatologischen Wen-dung der Geschichtsphilosophie nicht weiter. Es gibt Unterschiede im Diesseits, auf die es ankommt.

Jacques Rancière triff t gewiss einen Punkt, wenn er anmerkt, dass Benjamin nicht von ungefähr für viele (französische) Philosophen den Übergang von Marx zu Heidegger ermöglicht hat:59 Benjamins Tech-nikbegriff ist der Vorstellung vom Wesen der Technik als Selbstentber-gung des Seins durchaus näher als einem klassischen instrumentellen Verständnis von Technik.60 Heidegger vertritt bekanntlich die Th ese, dass die moderne Technik nicht bloß eine Applikation von Wissen-schaft ist. Vielmehr hat die neuzeitliche Naturwissenschaft die Technik zur Voraussetzung; sie ist ihre „Wegbereiterin“:

59 Vgl. Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, Berlin, 2006. 60 Vgl. Martin Heidegger, Die Technik und die Kehre, Stuttgart, 1962.

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„[W]eil die Physik, und zwar schon als reine Theorie, die Natur darauf stellt, sich als einen vorausberechenbaren Zusammenhang von Kräften darzustellen, deshalb wird das Experiment bestellt, nämlich zur Befra-gung, ob sich die so gestellte Natur und wie sie sich meldet.“61

„Historisch gerechnet“ kommt zuerst die Wissenschaft, und dann die Technik; „geschichtlich gedacht“ hingegen, ist die Geschichte als Ge-schehen, als zeitliche Abfolge von vermeintlich kausal mit einander verbundenen Geschehnissen, etwas Sekundäres: „Wir stellen die Ge-schichte in den Bereich des Geschehens, statt die Geschichte nach ihrer Wesensherkunft aus dem Geschick zu denken“.62 Nun ist Heidegger gewiss nicht der Denker, von dem wir uns wichtige Aufschlüsse über das Wesen des Films erhoff en können, „wir, denen unter der Herr-schaft der Technik Hören und Sehen durch Funk und Film vergeht“, wie er selbst „uns“ charakterisiert.63 Haben wir ihn aber mit hermeneu-tischem Wohlwollen erst einmal von der Last seines kulturkritischen Wortspiels befreit, hindert uns nichts, auch die Medientechnik des Films zu jener Technik zu zählen, von der die Gefahr ausgeht, in der zugleich das Rettende liegt, wie Heidegger im Anschluß an Hölderlin sagt.

Konkret heißt dies, dass wir nicht nur die neo-eschatologische Les-art suspendieren, derzufolge der Film nur ein Zwischenspiel der Me-diengeschichte auf dem Weg ins digitale Jenseits ist. Es heißt vor allem auch, dass wir die historische Rechnung fürs erste in Klammern setzen, derzufolge es erst die Geschichte gibt und dann den Film, der zu dieser hinzukommt, als überfl üssiges Supplement und störender Fremdling, dem bestenfalls das Verdienst einer faktentreuen Nachschöpfung der Geschichte zukommen kann. Vielmehr gilt es gerade zu fragen, worin die Irritation besteht, welche die Medientechnik des Films ins Feld der Geschichte einträgt: also den Film als Produkt der Gegenwart behan-deln, der als Fremdling in der Vergangeheit ankommt und dort – als technisches Medium und Form der Darstellung – die Frage neu auf-wirft, was Vergangenheit und mit ihr historische Erfahrung überhaupt sind.

Die Technikgeschichte des Kinos ist eine Geschichte von Innovatio-nen im Schumpeterschen Sinn: also eine Geschichte von Erfi ndungen, die sich am Markt durchsetzen konnten. Durchgesetzt hat sich länger-fristig nur, was Umsatz und Gewinn steigen ließ, und was dem Kino

61 Heidegger, a.a.O., S. 21. 62 Heidegger, a.a.O., S. 38. 63 Heidegger, a.a.O., S. 46.

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erlaubte, sich in der Konkurrenz der Medien gegen Radio und Fernse-hen zu behaupten. Der Langspielfi lm mit seinen technischen Vorausset-zungen und die Auff ührung solcher Filme in opernhausähnlichen Kinos machten den Film von einer marginalen zu einer dominanten Kulturin-dustrie. Der Tonfi lm wurde in dem Moment eingeführt, in dem das Radio in den USA und in Europa einen Organisationsgrad erreicht hat-te, der die vollständige Abdeckung nationaler Märkte erlaubte: So fällt die Durchsetzung des Tons in den USA zusammen mit der Gründung der nationalen Radio-Networks CBS und NBC (beide gegründet 1928), während sie in Europa zeitlich auf die Gründung nationaler staatlicher Sendeanstalten wie der BBC folgt. Cinemascope, Cinerama und 3D stellen eine Reaktion auf die rasche Ausbreitung des Fernsehens dar, die Einführung von Dolby-Tonsystemen nach 1977 kann man im Zusam-menhang mit der Einführung des Videorecorders sehen. Die Einführungder digitalen Projektion und von digitalen Kameras ist in erster Linie eine große Sparmaßnahme: Allein die Herstellung und der Versand von Filmkopien kostete die amerikanische Filmindustrie rund 150 Mio. US-Dollar pro Jahr. So oder so aber handelt es sich bei diesen Innovationen um akzidentelle Erneuerungen, die am Grundprinzip des Kinos, der technischen Aufzeichnung, Speicherung und Wiedergabe von Zeit und sichtbarer Bewegung (sowie nach der Hinzufügung des Tons von Klang-ereignissen) nichts ändern. Will man im Sinne Gilbert Simondons Tech-nikphilosophie in Analogie zur philosophischen Ästhetik betreiben und die kulturelle Semantik von Technik auf den Begriff bringen, und will man sich aus einer solchen Warte mit dem Kino befassen, kann man bei dieser Leistung des Films und den technischen Vorrichtungen ansetzen, welche diese ermöglichen. Eine Innovation wie 3D mag kurzfristig die Gewinnperspektiven verbessern, sie verhält sich aber, um ein Beispiel von Simondon zu zitieren, so wie die Wasserkühlung zur Luftkühlung von Verbrennugnsmotoren: Sie wurde aus kommerziellen Motiven ein-geführt und verbessert die Leistung der Maschine nur um den Preis ei-ner Komplikation ihres Funktionierens.64

Die Frage, was Geschichte unter den Bedingungen des Films, für Benjamin die paradigmatische Technik der mechanischen Reprodukti-on, überhaupt (noch) ist, stellt sich so gesehen bei Benjamin selbst: Als Frage nach dem Verhältnis von Geschichte und Technik. Ausdrückli-cher als bei Benjamin wird sie aber früher schon bei einem anderen Th eoretiker gestellt, der sich in medientheoretischer Sicht an der mar-xistischen Geschichtsphilosophie abarbeitet: bei Siegfried Kracauer, in

64 Vgl. Gilbert Simondon, Die Existenzweise technischer Objekte, Zürich, 2012.

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seinem Essay über die Photographie, erstmas publiziert 1927 in der Frankfurter Zeitung.

Kracauer entfaltet hier zum ersten Mal die Überlegung zur Isomor-phie von photographischem Medium und Historiographie. Historisti-sche Biographien von Goethe, zum Beispiel, kennzeichnen sich durch eine besondere Detailversessenheit. Jedes noch so kleine Detail gilt als bewahrungswürdig, als könnte die Geschichte dieses Lebens nur er-zählt werden, wenn die Erzählung genauso umfassend und vollständig ist wie das Leben selbst. Kracauer weist darauf hin, dass dies der Art und Weise entspricht, in der die Photographie die Außenwelt aufzeich-net. Sie stellt ein vollständiges und umfassendes Register von allem her, was sich im Moment der Aufnahme vor der Kamera befi ndet. Die his-toristische Geschichtsschreibung zeichnet alles auf, was in der Zeit ge-schieht, die Photographie zeichnet alles auf, was in einem bestimmten Raum im Moment der Aufnahme vorhanden ist. Historiographie und Photographie gehören, im Sinne der historischen Epistemologie ge-sagt, derselben Ordnung des Wissens an.

In seinem Fragment gebliebenen letzten Buch vertieft Kracauer die Analogie von Photographie und Geschichtsschreibung, indem er Zita-te von Historikern zusammenträgt, die die Photographie als Metapher verwenden oder aber die Photographie benutzen, um in der Abgren-zung das Spezifi sche der Historiographie herauszusarbeiten. So schreibt etwa Lewis Namier, ein Zeitgenosse Kracauers:

„the function of the historian is akin to that of the painter and not of the photographic camera: to discover and set forth, to single out and stress that which is of the nature of the thing, and not reproduce indiscrimina-tely all that meets the eye.“65

Während Namier die Unterschiede von Photographie und Historio-graphie hervorhebt, weist Kracauer darauf hin, dass seine Behauptung nur vor dem Hintergrund einer wahrnehmbaren Affi nität von Photo-graphie und Historiographie überhaupt einleuchtet:

„Such references to the photographic medium would be entirely un-called for were not the historians making them alert to the possibility that history and photography have something to do with each other af-ter all.“66

65 Siegfried Kracauer, History: The Last Things Before the Last, Oxford, 1969, S. 51. Zu Kracauer und Namier vgl. auch Carlo Ginzburg, „Minutiae, Close-up, Micro-analysis“, in: Critical Inquiry, Vol. 34, No. 1, 2007, S. 174–189.

66 Kracauer, a.a.O., S. 51.

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Ungeachtet der Vorbehalte mancher der von ihm zitierten Historiker, vertieft Kracauer daraufhin die Analogie, indem er auf seine eigene Th eorie des Films zurückgreift. Die Aufgabe des Photographen und des Filmemachers besteht darin, die „realistische Tendenz“ des Me diums und die „künstlerische Tendenz“ des Gestaltungswillens des Künst lers in eine Balance zu bringen, was unter anderem bedeutet, dass bei der Gestaltung nur solche Entscheidungen getroff en werden, die auch im Sinne des Mediums sind:

„The thing that matters in both photography and history is obviously the right balance between the realistic and formative tendencies.“67

Damit ist die Analogie zwischen Photographie und Geschichtsschrei-bung wieder hergestellt und abgesichert. Photographie wie Historio-graphie haben eine ihnen innewohnende Tendenz zum Realismus der Darstellung; zugleich aber trägt die Darstellung die Spuren der „forma-tive tendencies“, des Gestaltungswillens des Photographen wie des Historikers, die allerdings in den materialen Bedingungen des Medi-ums ihre Grenzen fi nden.

Wirklich schlüssig und stimmig ist die Analogie aber dennoch nicht. Im Photographie-Essay von 1927, in dem Kracauer den Möglichkeiten und Eff ekten der Photographie noch viel skeptischer begegnet, stellt er unter anderem Übelegungen zum Verhältnis von Geschichte, Gedächt-nis und Photographie an. Dabei stellt er eine fundamentale Diff erenz zwischen Gedächtnis und Photographie heraus. Die moderne akade-mische Geschichtsschreibung verlässt sich bekanntlich hauptsächlich auf schriftliche Quellen und die Protokolle der Quellenkritik.68 Die meisten Quellen stehen in keiner Beziehung zum Gedächtnis des His-torikers. Sie werden zu Bestandteilen des Gedächtnisses des Historikers erst in dem Moment, in dem er ins Archiv geht und sie liest, und zum Bestandteil des Gedächtnisses der Leser erst unter der Bedingung, dass der Historiker die Quellen verwendet und in sein Argument einbaut. Photographien hingegen haben eine inhärente Beziehung zum Ge-dächtnis, zumindest insofern sie spezifi sche biographische Anlässe und Gegebenheiten zum Gegenstand haben, was überall dort der Fall ist, wo die Photographie als „technique de fête“, als Technik des Feierns eingesetzt wird.69 Mit der Zeit verlieren Photographien diese Bedeu-

67 Kracauer, a.a.O., 56. 68 Vgl. Friedrich Jaeger, Jörn Rüsen, Geschichte des Historismus. Eine Einführung,

München, 1992, S. 51 ff. 69 Vgl. Pierre Bourdieu, Un art moyen, Paris, 1965, S. 43 ff.

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tungsschicht. Die Erinnerung stirbt mit denen, die sie haben. Ge-schichte, so lautet die klassische Defi niton von Cicero, an der sich die Ars Historica der frühen Neuzeit noch abarbeitete, ist die Erinnerung an Ereignisse, die jenseits unserer eigenen Erinnerung liegen. Photo-graphien im Archiv sind an Erinnerungen geknüpft, so Kracauer, die nicht nur jenseits unserer Erinnerungen liegen, sondern sich überhaupt der Rekonstruktion entziehen. Viel stärker als jedes geschriebene Do-kument, beschwören Photographien die geisterhafte Gegenwart eines Lebens, das radikal vergangen ist. „Die Wahrheit des Originals stirbt mit dem Gegenstand“, so Kracauer.70 Die Photographie ist aber nicht nur Zeugnis eines Abstandes zur Vergangenheit, der nicht mehr über-brückt werden kann. Die Photographie hat auch eine korrosive Wir-kung, insofern sie gerade die zeitliche und räumliche Kohärenz unter-wandert, welche die Praktiken der Photographie und der Historiographie gleichermaßen voraussetzen. Ihrer spezifi schen Bedeutung beraubt, von dem Körper getrennt, den sie zeigt, stellt die Photographie nicht einen spezifi schen Ort dar, sondern einen Nicht-Ort, und statt eines spezifi schen Moments, den die Photographie festhielte, eine Nicht-Zeit, deren Markierungen mit dem Verschwinden des Gedächtnisses erlischen. Kracauer räumt ein, dass der Photographie ein Moment der unhintergehbaren Kontingenz eignet, vergleichbar dem, was Barthes mit dem „punctum“ meinte, und er würde zugleich auch nicht be-streiten,71 dass die indexikalische Beziehung zwischen dem materialen Objekt und seiner photographischen Wiedergabe ein starkes Band stif-tet.72 Gleichwohl führt die Photographie eine Unterbrechung, eine Diskontinuität in das Feld der Geschichte ein, einen Widerstand gegen die Überführung von Gedächtnis in Geschichte und gegen die Koppe-lung der Geschichte ans Gedächtnis. Zumindest beim Kracauer der 1920er Jahre eignet der Photographie etwas grundlegend a-histori-sches, um nicht zu sagen: anti-historisches. Bei aller off enkundigen Affi nität von Photographie und Historiographie, unterminieren die ort- und zeitlosen Dokumente der Photographie den Anspruch der Geschichtsschreibung, die Vergangenheit rekonstruieren zu können. Die Photographie unterbricht, auch und gerade durch ihre endlose Vervielfältigung, den mechanischen Charakter ihrer Produktion und

70 Kracauer, a.a.O. 71 Vgl. Meir Wigoder, „History Begins at Home: Photography and Memory in the

Writings of Siegfried Kracauer and Roland Barthes“, in: History & Memory, Vol. 13, No. 1, S. 19–59.

72 Vgl. Miriam Hansen, „Introduction“, in: Siegfried Kracauer, Theory of Film, Princeton, 1997, S. viii.

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Reproduktion, das diskontinuierliche Kontinuum der historischen Er-fahrung. Sie enthält einen Rest, der sich der Aufl ösung in die Erzählun-gen der Geschichte (denn Geschichte wird in Geschichten erzählt, wie Arthur Danto festhält), widersetzt.73 Kracauer entwirft schon am Ende des Photographie-Aufsatzes einen Weg, diesen Zusammenhang, das verlorene Ganze der Erfahrung, wiederherzustellen: Er führt über die Technik der Montage, die er im Photographie-Aufsatz noch als quasi-fi lmische Artikulation von photographischem Material entwirft und später zu seiner eigenen Technik des Schreibens macht, namentlich in Die Angestellten, der buchlangen Reportage, die im Modus der Mon-tage ein Gesamtbild einer Gesellschaft entwirft, deren Zusammenhang sich einer anderen Form der Darstellung entzieht.74

Es stellt sich aber zunächst die Frage, wie es sich mit der basalen A-Historizität der Photographie, dem a- oder anti-historischen Rest, im (zunächst noch) photographischen Medium Film verhält.

V. Der Film als Aufhebung der Geschichte

In einem kurzen Aufsatz, den er vor einiger Zeit für die Zeitschrift Montage AV schrieb, geht der französische Historiker Pierre Sorlin der Frage nach, ob es überhaupt möglich ist, eine Geschichte des Films zu schreiben.75 Mit Blick auf die bislang bekannten Ansätze der Filmge-schichtsschreibung hält Sorlin zwei Dinge fest: 1) Filmgeschichte ent-lehnt ihr methodisches Rüstzeug der Kunstgeschichte, der Sozialge-schichte und der Wirtschaftsgeschichte und wird nach wie vor und weiterhin als Untergattung dieser Felder praktiziert, wohin die Aufga-be einer Filmgeschichte im eigentlichen Sinn darin bestehen würde, das Kino als Ereignis zum Gegenstand zu machen; 2) Der hauptsächli-che Grund, weshalb es eine eigenständige Filmgeschichtsschreibung in diesem Sinn bislang nicht gibt, liegt darin, dass der Film ein a-histori-

73 Vgl. Arthur Coleman Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, Frankfurt am Main, 1980.

74 Der Photographie-Aufsatz entsteht im Übrigen im selben Jahr wie der Text zum Ornament der Masse, der eine der letzten Stellen enthält, an denen Kracauer den bei Lukács entlehnten Begriff des „Geschichtsprozesses“ verwendet. In den 1930er Jahren wendet sich Kracauer sukzessive von der neomarxistischen Geschichtsphi-losophie ab. Vgl. Inka Mülder-Bach, Siegfried Kracauer – Grenzgänger zwischen Theorie und Praxis, Stuttgart, 1985.

75 Vgl. Pierre Sorlin, „Ist es möglich, eine Geschichte des Films zu schreiben?“, in: Montage AV, Vol. 5, No. 1, S. 23–38.

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sches Objekt ist. Wenn wir davon ausgehen, dass der Film eine Projek-tionskunst ist, ein Medium, dessen kultureller und historischer Ort der Ort der Auff ührung ist, und ein Medium, das sich über die ephemere Praxis der Projektion konstituiert, dann wäre der Gegenstand der Film-geschichte die Geschichte der Zirkulation von Filmbildern. Dieser Ge-genstand entzieht sich allerdings gerade dem Zugriff der Geschichts-schreibung, weil das Ereignis der Auff ührung keine Spuren hinterlässt, keine Dokumente und andere möglichen Quellen, mit denen Histori-ker arbeiten könnten: Nicht auf der Leinwand, nicht auf dem Bild-schirm, nicht am Ort der Auff ührung. Die Schule der historischen Kino-Rezeptionsforschung, die in den 1990er Jahren unter anderem von Janet Staiger begründet wurde76 und derzeit in großen kollabora-tiven Forschungsprojekten wie dem HOMER-Netzwerk eine Fortset-zung fi ndet, hat die Anstrengung unternommen, diese Lücke mit der Untersuchung von Kinobesuchsstatistiken, Programmgeschichten und der Rekonstruktion von Rezeptionserfahrungen durch Dokumente wie Testvorführungs-Berichte oder Filmkritiken zu füllen.77 In dieselbe Richtung zielen die Versuche von Annette Kuhn und anderen, die his-torische Filmerfahrung durch retrospektive Ethnographien über Inter-views und die Sammlung von Filmtagebüchern etc. zu rekonstruie-ren.78 Gleichwohl entzieht sich der Gegenstand Film diesen Ansätzen weiterhin: Eine Programmnotiz ist nicht die Auff ührung und die meis-ten der Befragten erinnern sich an die Architektur des Kinos, den Ge-ruch des Saals, aber kaum je an einzelne Filme, mit wenigen prägenden Ausnahmen.79 Was diese Ansätze umkreisen, letztlich aber nicht zu fassen kriegen, ist ein a-historischer Kern des Films, hier in der Gestalt, dass die Auff ührung selbst nicht dokumentierbar ist.80

76 Vgl. Janet Staiger, Interpreting Films. Studies in the Historical Reception of American Cinema, Princeton, 1992.

77 Einschlägig sind hier vor allem Daniel Biltereyst, Richard Maltby, Philippe Meers (Hrsg.), Explorations in New Cinema History. Approaches and Case Studies, London, 2011; dies. (Hrsg.), Cinema, Audiences and Modernity: New Perspectives on Euro-pean Cinema History, London, 2012.

78 Vgl. Annette Kuhn, An Everyday Magic. Cinema and Cultural Memory, London, 1992; Annette Kuhn, „Was tun mit der Kinoerinnerung?“, in: Montage AV, 19/1, 2010.

79 Annette Kuhn zitiert etwa den Fall einer Frau, die SCHNEEWITTCHEN als trauma-tisches Erlebnis in Erinnerung hat. Vgl. Annette Kuhn, „Snow White in Groß-britannien (1938)“, in: Gudrun Sommer, Vinzenz Hediger, Oliver Fahle (Hrsg.), Orte filmischen Wissens. Filmkultur und Filmvermittlung unter digitalen Netzwerk-bedingungen, Marburg, 2011, S. 367–384.

80 Die Theaterwissenschaft hat nur vermeintlich dasselbe Problem. Zumal unter den Bedingungen der Verfügbarkeit von Video lassen sich jeweilige Aufführungen in

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Man kann diese Th ese aber auch für den Film als materiales Objekt und Archivalium vertreten. Der Ehrenkodex der FIAF, der Féderation Internationale des Archives de Film, der eine Reihe von Regeln für Filmrestaurierungen umfasst, enthält unter anderem eine Regel der Re-versibilität. Diese Regel besagt, dass man bei der Restaurierung eines Films unter keinen Umständen irgendetwas tun darf, was sich nicht mehr rückgängig machen lässt. Filmrestauratoren stehen mit anderen Worten in der Pfl icht, das Material in der Filmbüchse in dem Zustand zu lassen, in dem es vorgefunden wurde, und die Restaurierung an Kopien des Materials vorzunehmen, um die ursprüngliche Materialba-sis intakt zu lassen.81 Dahinter steht der Gedanke, dass es keine Origi-nale von Filmen gibt. Restaurierungen sind neue Versionen eines Films, von dem es nie ein Original gab.82 Der kontingente Materialzu-stand einer Kopie wird als die Bezugsfassung angesetzt, von der bei der Restaurierung auszugehen sein wird.83 Letztlich besagt die Regel der Reversibilität, dass der Film als historisches Objekt nicht greifbar ist. Soweit ein Film überliefert ist, ist er zumeist in Spuren, Fragmenten und bestenfalls in ganzen Kopien erhalten. Kopiernegative sind prak-tisch nie erhalten, weil sie sich bei der Herstellung der Kopien abnut-zen, und sie wären ohnehin auch nicht das ‚Original‘, sondern eben die Matrix, von der die Kopien gezogen werden, die in der Auff ührung verwendet werden. Stanley Cavell hat das Kino nicht von ungefähr ein „Medium ohne Geschichte genannt“.84 Der Film projiziert eine Welt

dieser spezifischen Form dokumentieren, und Aufführungsgeschichten können sich zumindest für die letzten einhundert Jahre auch auf Photographien stützen. Beim Film ist die Praxis des Abfilmens von Aufführungen vor allem aus der Vi-deopiraterie bekannt. Auf Schwarzmärkten im Mittelmeer-Raum konnte man in den 1980er und 1990er Jahren die meisten Kinofilme als VHS-Abfilmungen we-nige Tage nach dem Erscheinen des Films kaufen. Zweck dieser Abfilmungen war aber natürlich nicht die Dokumentation der Aufführung, sondern die Herstellung einer Kopie. Die Digitalisierung der Datenträger hat dieser Praxis ein Ende ge-setzt. – In der Theaterwissenschaft gibt es mittlerweile auch eine gut ausgebaute Publikums- und Aufführungsforschung, die Zeitperioden vor 1900 abdeckt. Na-mentlich die Aufführungspraxis des 18. Jahrhunderts in Paris ist gut erforscht.

81 Siehe im Besonderen Punkte 1.4 und 1.5 des FIAF Ethikreglements. http://www.fiafnet.org/uk/members/ethics.html, zul. aufger. am 12.08.2014.

82 Vgl. auch Vinzenz Hediger, „The Original is Always Lost. Copyright Industries and the Problem of Reconstruction“, in: Malte Hagener, Marijke De Valck (Hg.), Cinephilia. Movies, Love, and Memory, Amsterdam, 2005, S. 133–147.

83 Das erinnert an die Gattungsbestimmungspraxis der Botanik. Vgl. Lorraine Da-ston, „Type Specimens and Scientific Memory“, in: Critical Inquiry, Vol. 31, No. 41, S.153–182.

84 Stanley Cavell, The World Viewed. Reflections on the Ontology of Film, Cambridge, MA, 1979.

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und als Medium der Weltprojektion ist der Film zugleich durch und durch zeitlich und grundlegend a-historisch: Es ereignet sich in Projek-tionen, die keine Spuren hinterlassen (abgesehen von den Kratzern auf der Kopie, die mit der Digitalisierung der Projektion aber hinfällig ge-worden sind, so wie mit der Einführung von Flachbildschirmen das Rauschen des Röhrenbildschirms beim Fernseher), die auf die Verwen-dung von Kopien angewiesen sind, die kein Original kennen, und die sich zwar Wiederholen lassen, aber nur so, dass jede erneute Projektion eine neue Projektion ist, so dass die Frage nach der eigentlichen, ur-sprünglichen Projektion überhaupt keinen Sinn hat.

Auf diesen Aspekt der Wiederholung kommt es im Hinblick auf die Frage nach dem a-historischen Kern des Films in besonderer Weise an. André Bazin hat, durchaus in Analogie zu Kracauer, immer wieder da-rauf hingewiesen, dass der Film dem photographierten Objekt seine raumzeitliche Bestimmung nimmt. Film ist eine „Mumie der Zeit“, eine Befreiung des Gegenstandes von seiner Kontingenz. Neben die-sem quasi-eschatologischen gibt es noch einen basaleren Aspekt der Suspension der raumzeitlichen Bestimmung des fi lmischen Objekts. Filme sind, um einen Begriff zu verwenden, den Edmund Husserl ur-sprünglich für die musikalische Melodie geprägt hat, Zeitobjekte, also Gegenstände, die ihre Wahrnehmbarkeit nur in einer zeitlichen Abfol-ge und als Abfolge von sukzessiven Elementen gewinnen. Wie Tonauf-nahmen haben Filme die Eigenschaft, dass sie beliebig oft wiederholt werden können, zumindest solange das Trägermedium vorhanden ist, und dass die Wiederholungen strukturell identisch sind, zumindest in-sofern dieselbe Kopie verwendet wird.85 Dass Filme technisch produ-zierte und reproduzierbare Zeitobjekte sind, die Zeit speichern und verfügbar machen, liegt auf der Hand. Das bedeutet aber auch, dass der Film als Objekt der Erfahrung eine Struktur hat, die vor dem Film – und vor dem Grammophon – in dieser Form nicht existierte. Das Auftreten von potentiell unbeschränkt reproduzierbaren Zeitob-jekten markiert einen grundlegenden Bruch im Feld der möglichen Gegenstände der Erfahrung. Was aber verändert sich an der histori-schen Erfahrung mit der technischen Verfügbarkeit von fi lmischen Zeitobjekten? Wie trägt sich der a-historische Rest der fi lmischen Pro-jektion in die diskontinuierliche Kontinuität von Vergangenheit und Gegenwart ein?

85 Vgl. Bernard Stiegler, La technique et le temps. Tome 3: Le temps du cinéma et la question du mal-être, Paris, 2001.

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Geschichte wird, wie bereits gesagt, in Geschichten erzählt. Vor al-lem in der kognitiven Filmtheorie ist die Th ese weit verbreitet, dass Filme immer schon narrativ sind. Edward Branigan etwa defi niert Nar-ration rein formal als Abgleich von Wissensständen zwischen Narrati-on und Publikum, eine Minimaldefi nition, mit der jede Informations-vergabe sogleich als Akt der Narration gewertet werden kann.86 Etwas weniger minimalistsch ist David Bordwells Defi nition von fi lmischer Narration als Prozess, in dem die Parameter der fi lmischen Darstellung (der style) eine Anordnung dramaturgischer Elemente (das syuzhet, oder auch der Plot) so ineinander greifen, dass der Zuschauer daraus eine fi ktionale Welt konstruieren kann (die fabula).87 Zugrunde liegt solchen Ansätzen die Annahme, dass das Telos der Erzählung die Be-antwortung aller Fragen sei, die sich zu einer fi ktionalen Welt stellen können, also die Produktion kohärenter Narrative und schlüssig orga-nisierter, kausal kohärenter Welten, zu deren Schlüssigkeit unter ande-rem eine klare, letztlich immer lineare Zeitstruktur gehört. Soweit in diesen Th eorien der Narration so etwas wie ein Rest vorkommt, der sich der Aufl ösung ins Narrativ widersetzt, trägt er den Namen des ‚Exzesses‘. Filmtheoretiker wie Raymond Bellour und Gertrud Koch haben an solchen Ansätzen zu Recht moniert, dass sie die ästhetische Dimension des Films ausblenden und den Bildcharakter des Mediums in der theoretischen Modellierung einem normativen Konzept von Narration opfern.88 In einer detaillierten Analyse des Anfangs von Bu-ñuels ENSAYO DE UN CRIMEN (DAS VERBRECHERISCHE LEBEN DES AR-CHIBALDO CRUZ, Mexico 1955) hat Gertrud Koch dargelegt, wie leicht sich das, was wir als fi lmische Narration bezeichnen, der Einordnung in ein solches normatives Modell entzieht  – mit Konsequenzen für Historiographie und Geschichte. Der Film handelt von einem Mann, der sich einer Reihe von Morden an Frauen bezichtigt, die er nach Ansicht der Polizei gar nicht begangen haben kann. Der Film beginnt mit einer Rückblende, die den kleinen Jungen zeigt, der ein Märchen erzählt bekommt. In einer kunstvollen Vermischung der verschiedenen Ebenen der Erzählung stellt der Film, wie Koch es formuliert, die „Be-hauptung einer ständigen Präsenz aller Zeitebenen auf einer simulta-nen Fläche des Imaginären“ auf. Der Eff ekt ist einer der „Aufl ösung

86 Vgl. Edward Branigan, Narration and the Fiction Film, London, 1992. 87 Vgl. David Bordwell, Narration in the Fiction Film, London, 1985. 88 Vgl. etwa Bellours brillianten, nach dem literarischen Vorbild Diderots entwickel-

ten Selbstdialog zur kognitiven Filmtheorie in Raymond Bellour, Le corps du ciné-ma. Hypnose, émotions, animalités, Paris, 2009.

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jedes historischen Sinns, den sie als narrativen Eff ekt bloßstellt, der keine hermeneutische Rekonstruktion mehr zulässt.“89 Koch spricht in diesem Zusammenhang von einer „Aufhebung des historischen Sinns im Kino“. Buñuel hat für sie den Charakter eines Paradigmas, insofern „das Kino auch da, wo es sich vom Motiv her als historisch behaupten möchte, eher an der Aufl ösung von Sinn beteiligt ist, den es allenfalls als Ideologie schaff en kann.“ Der Exzess ist das eigentliche: Nicht Ab-fall und Ausschuss, sondern der Rest, der der Herstellung von Sinn durch Erzählung immer wieder Grenzen setzt.

Dass das Kino „auch da, wo es sich vom Sinn her als historisch be-haupten möchte“ vielmehr an der „Aufl ösung von Sinn beteiligt“ ist, zeigt unter anderem Oliver Stones JFK von 1991, einer der kontrovers-ten Historienfi lme der letzten Jahrzehnte. Stone erzählt die Geschichte von Kennedys Ermordung als Gerichtsdrama, das sich schließlich als eine Variation auf Shakespeares Hamlet herausstellt. Der Staatsanwalt Jim Garrison, gespielt von Kevin Costner, präsentiert in dem Gerichts-verfahren gegen einen vermeintlichen Verschwörer eine Version der Geschichte, derzufolge Lyndon Johnson in der Rolle des Claudius den König (Kennedy) ermordet und das Haus Dänemark (die USA, die gerade vor der Entscheidung einer möglichen Eskalation des Vietnam-kriegs stehen) ins Verderben stürzt; die Generation Stones fi ndet sich in der Rolle Hamlets wieder, und Garrison, der Staatsanwalt – und mit ihm Stone, der Regisseur  – veranstaltet seinen Prozess als „play in which to catch the conscience of the King“, also als eine Art Schaupro-zess, der die Verschwörer dazu bringen soll, sich zu verraten.90 Einer der wichtigsten Kritikpunkte betraf Stones Montage-Technik, die Ar-chivmaterial mit nachgestellten und teilweise erfundenen Szenen mischte und so den Eindruck einer Gleichwertigkeit erweckte. Ganz im Geist der modernen Ikonophobie beklagten die Kritiker des Films die überwältigende Suggestionskraft der Montage. Es blieb den Film-wissenschaftlern überlassen, die Frage zu stellen, ob und inwiefern die-ser Montagetyp der historischen Erfahrung entspricht, von der Stone in dem Film handelt. Robert Stam etwa schlug vor, Stones Montage als visuelle Allegorie der gesellschaftlichen Fragmentierung zu lesen, in welche die USA in den 1960er Jahren geraten waren. Eine andere Les-

89 Gertrud Koch, „Nachstellungen – Film und historischer Moment“, in: Eva Ho-henberger, Judith Keilbach (Hgs.), Die Gegenwart der Vergangenheit. Dokumentar-film, Fernsehen und Geschichte, Berlin, 2003, S. 216–229 (hier S. 222).

90 Für eine umfassende Dokumentation der Kontroverse vgl. Oliver Stone, Zachary Sklar, JFK. The Book of the Film, New York, 1994.

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art lautet, dass die Montage von JFK das objektive Korrelat der Erfah-rung des historischen Traumas darstellt. Der Slogan des Films lautete „Th e story that won’t go away“. Eine mögliche Paraphrase davon könn-te lauten: ‚Th e story that can’t go away because it cannot be told‘. Ge-schichten können nur von ihrem Ende her erzählt werden. Was erzählt werden soll, muss vom Punkt der Erzählung aus in der Vergagenheit liegen, und es muss genügend bekannt sein, um in eine schlüssige Er-zählung überführt werden zu können. JFK handelt von einem Ereig-nis, in dessen Zeichen die Gegenwart des Erzählens immer noch steht, und von einem Ereignis, das gerade unter dem Verdacht steht, sich anders zugetragen zu haben, als dies bekannt ist. JFK wäre demnach ein Film, der zwar eine konventionelle dramaturgische Struktur auf-weist, im Grunde aber ohne Ende bleibt. Die Erzählung ist in einem traumatischen Loop gefangen, einem Zwang zum Kreisen um den Mo-ment des Traumas, der einen Überschuß an Bildern produziert, von denen keines das historische Faktum zu fassen vermag, und die in keine narrative Ordnung führen, die einen vertrauenswürdigen historischen Sinn produzieren würde.91 JFK macht das historische Trauma und die aus diesem folgende Unmöglichkeit, das Ereignis in die Form einer Geschichte zu bringen, zum Th ema der fi lmschen Erfahrung – ein His-torienfi lm, der ausdrücklich und im Modus der Anklage eine ästheti-sche Aufhebung historischen Sinns betreibt.

Die Aufhebung von Geschichte durch das Kino beschränkt sich in-des nicht auf die narrative Ebene und die Zersetzung des historischen Sinns, wie er durch Erzählungen hervorgebracht wird. Der a-histori-sche Rest der fi lmischen Projektion macht sich auch im Bild geltend, bisweilen sogar im Modus der Projektion. DIE MAUER von Jürgen Böttcher ist der letzte Dokumentarfi lm der DEFA. In unkommentier-ten langen Plansequenzen dokumentiert dieser abendfüllende Film den Abbau der Mauer, zunächst durch die ‚Mauerspechte‘ und dann durch die Bauequipen. Der Film zeigt das Niemandsland jenseits der Mauer und die Menschen, die mit Hammer und Meißel Stücke aus der Mauer brechen. Eine besonders einprägsame Sequenz zu Beginn des Films ist einer Begehung der U-Bahn Potsdamer Platz gewidmet, die im Zuge des Mauerbaus geschlossen wurde, aber der Westberliner U-Bahn immer noch als Durchfahrt diente. Der Film schränkt sich ein auf das Mauerstück zwischen Gropiusbau und Brandenburger Tor. Das zentrale Motiv ist das Brandenburger Tor und an diesem die verschie-

91 Vgl. Vinzenz Hediger, „Montage der nachträglichen Angst. Vom Schreiben und Umschreiben der Geschichte im Kino“, in: Cinema 43, Zürich, 1998, S. 47–61.

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denen Formen seiner Durchquerung, vor allem das Flanieren und das Defi lieren. An einer Stelle früh im Film sehen wir ausländische TV-Re-porter, die vom Brandenburger Tor über den Beginn der Abrissarbeiten berichten. Der CNN-Reporter Richard Blystone spricht seine Abmo-deration in die Kamera, in vier verschiedenen Varianten, zur Auswahl für die Redaktion. Er beginnt seine Moderation mit einem Bild: Noch auf absehbare Zeit wird es keine Paraden mehr geben, die durch das Tor ziehen werden. Dieses Bild greift der Film später in einer Reihe von Szenen auf, die mit historischem Filmmaterial arbeiten und die Ge-schichte des Brandenburger Tores als Geschichte des Flanierens und Defi lierens erzählen: von den Défi lés aus der Kaiserzeit über die Mär-sche der Nazis und die Auff ahrt der russischen Panzer beim Fall von Berlin bis hin zu den Paraden der NVA, die unter dem wachsamen Blick Erich Honeckers ablaufen (wenn sie auch nicht durchs Branden-burger Tor führen: sie reihen sich in eine Tradition ein). Zwischen dem Défi lé und dem Film besteht eine „Affi nität“, um noch einmal Sieg-fried Kracauers heuristische Kategorie für die Auffi ndung genuin fi lmi-scher Gegenstände aufzurufen.92 Serge Daney hat diese Affi nität auf die Formel „Du défi lement au défi lé“ gebracht und eine Verbindung hergestellt zwischen dem Durchlaufen der Bilder durch den Projektor und dem Vorbeilaufen der Paradierenden in der Parade; eine englische Übersetzung von Daneys Titel lautet denn auch „from projector to parade“.93

Die Affi nität von Projektor und Parade, von „défi lement“ und „dé-fi lé“, bringt Böttcher geradezu ostentativ zur Entfaltung, indem er die Bilder nicht einfach nur in den Film einmontiert, sondern sie mit ei-nem portablen Projektor auf die noch bestehenden Fragmente der Mauer projiziert, „auf die Haut des Drachen“, wie er es in einem Inter-view formuliert: Ein Verfahren, das der Regisseur selbst zugleich als Brecht’sche Geste und als seine „Erfi ndung“ beschreibt.94

Der Film zeigt erst das Dispositiv der Projektion und das Publikum. Dann sind nur noch die projizierten Bilder zu sehen, zunächst noch gerahmt durch die unbeleuchtete Umgebung der Mauer, dann in einer Einstellungsgröße, die das auf die Mauer projizierte Bild die ganze Leinwand ausfüllen lässt. Im Unterschied zu einer herkömmlichen

92 Vgl. Siegfried Kracauer, Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt, 1985 [1960].

93 Christa Blümlinger hat den Titel in ihrer deutschen Ausgabe von Daneys Text un-übersetzt gelassen. Serge Daney, „Vom ‚défilement‘ zum ‚défilé“, in: ders., Von der Welt ins Bild, Hg. Christa Blümlinger, Berlin, 2001 [1989], S. 267–274.

94 Vgl. Jürgen Böttcher im Gespräch mit Andy Michaelis, Berlin, 2013.

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Leinwand bleibt die Mauer hier in ihrer Materialität sichtbar oder viel-mehr verleiht die rauhe Oberfl äche der Mauer dem Bild eine eigene Materialität. Dieser Eff ekt spitzt sich zu in der Sequenz, die das vom Krieg zerstörte Berlin zeigt. Erst sehen wir einen Schwenk nach rechts: Eine alte Frau schleppt sich durch die Trümmer. Dann eine Bewegung nach links: Russische Panzer fahren ein. Diese Bewegung setzt sich fort in einen langen, langsamen Schwenk, der den leergeräumten Potsda-mer Platz zeigt. Unversehens stellt sich ein optischer Eff ekt ein: Nicht nur ist die Materialität der Projektionsfl äche Teil des Bildes, wenn das historische Bildmaterial auf die Mauer projiziert wird, es ist die Mauer selbst, die auf die Welt projiziert wird. Die Projektion produziert so eine Kippfi gur: Das fi lmische Bild immaterialisiert die Mauer und löst ihre Substanz auf in die Bewegung der historischen Figuren. Oder an-ders gesagt: Das Bild der Bewegung negiert und bewahrt zugleich die Substanz der Mauer, deren Sinn gerade darin bestand, die Bewegung, das freie „défi lement“, zu unterbinden.

Die Projektion der Bilder auf die Mauer wiederholt und vollendet so gesehen die Geste der Mauerspechte. Das Meißeln der Mauerspech-te war eine Geste der Aufhebung einer bestehenden Ordnung, die es insofern verdient revolutionär genannt zu werden, als sie sich spontan einstellte und demokratisch war: Alle schienen sich zu beteiligen, und niemand wartete darauf, dass die für den Abbruch offi ziell zuständigen Stellen das historische Faktum des Mauerfalls an der baulichen Subs-tanz vollzogen. Es handelte sich aber auch um eine Aufhebung, inso-fern die Geste darin bestand, die Mauer zugleich abzuräumen und aufzubewahren. Noch heute können Touristen in Berlin Mauerfrag-mente als Souvenirs erwerben (mit Echtheitszertifi kat; der Vorrat dürf-te noch eine Weile ausreichen). Aus Paris bringt man ein Modell des Eiff elturms mit, aus Rom eine Replika des Kollosseums, aus Berlin ein Stück der Mauer, einer Sehenswürdigkeit, die nicht mehr zu sehen ist und an deren unaufhörlicher Zerstörung man teilnimmt, indem man ein Stück davon als Erinnerungsfragment mit nach Hause nimmt. In Böttchers DIE MAUER gewinnt diese Fügung von Zerstörung und Er-haltung, von Negation und Bewahrung, als fi lmische Projektion vor Publikum Gestalt: als demokratische Geste der Aufhebung des histori-schen Faktums durch das fi lmische Bild.

Das westdeutsche Kino der 1960er bis 1980er Jahre lässt sich unter anderem als Anstrengung der Erinnerung und der oppositionellen Ge-schichtsschreibung beschreiben. Es richtet sich gegen das Vergessen der Vätergeneration, die an ihre Verantwortung für das Nazi-Regime lieber nicht erinnert werden wollte, aber auch gegen die hegemoniale Deu-

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tung der deutschen Geschichte durch die amerikanische Kulturindust-rie. In Edgar Reitz’ HEIMAT drückt sich diese doppelte Tendenz beson-ders deutlich aus: Angelegt als direkte Reaktion auf die ABC-Miniserie HOLOCAUST, die zu Beginn der 1980er Jahre im deutschen Fernsehen gezeigt wurde, erzählt Reitz 56 Stunden lange Chronik Deutschlands eine Mikrogeschichte des 20. Jahrhunderts, vom Leben eines Dorfes im Hunsrück (wobei das Werk mittlerweile auch noch ein ‚prequel‘ erhalten hat, das im 18. Jahrhundert angesiedelt ist).95 Reitz’ Projekt ist in seinem Ansatz insofern dialektisch, als es um Widerrede, Kritik und die Herstellung einer Gegenöff entlichkeit im Kino geht (und im Fern-sehen, denn ohne das Fernsehen wäre das neue deutsche Kino nicht möglich gewesen).96 Mit seiner tendenziell infi niten Fortschreibung nach vorne und nach hinten fällt das Projekt allerdings bald der schlechten Unendlichkeit eines additiven Historismus anheim. Es kommt bei der Geschichte eben auch darauf an, dass man mit ihr fertig wird und sie an ihre Enden bringt, auch und gerade im Kino, das sich dafür, wie Böttchers installative Projektion, sein „défi lement“ der „dé-fi lés“ auf dem Grund der Mauer, zeigt, in besonderer Weise eignet.

Ausgehend von dieser Lesart der Aufhebung des historischen Fak-tums durch das fi lmische Bild lässt sich Kochs medienästhetisch-narra-tologische Th ese von der „ästhetischen Aufhebung des historischen Sinns im Kino“ auf einer medientheoretischen Ebene erweitern und vertiefen.

Die Realgeschichte, von der die Historiographie ausgeht, so hatte ich weiter oben behauptet, ist eine Setzung und eine Produktion der Historiographie: Damit die Historiographie die Realgeschichte ‚irreali-sieren‘ kann, muss sie diese erst realisieren, d.h. sie als Gegebenes vor-aussetzen, damit sie sich ihr als hinzukommender Diskurs widmen kann. In ähnlicher Weise kann man vom Film sagen, dass er ein Para-dox der Historiographie aufdeckt. Der Film, verstanden als technische Speicherung von Zeit und unbeschränkt wiederholbares Zeitobjekt, realisiert eine Phantasie, die unter anderem in den historiographischen Praktiken des Historismus zum Ausdruck kommt, von denen Kracauer in seiner Auseinandersetzung mit der Photographie ausging.

Welches Interesse kann man daran haben, auch noch das kleinste Detail aus dem Leben einer historischen Figur aufzubewahren und für

95 Vgl. Thomas Elsaesser, „Edgar Reitz’ HEIMAT“, in: ders., European Cinema: Face to Face with Hollywood, Amsterdam, 2005, S. 384–395.

96 Vgl. Sheila Johnston, „The Radical Film Funding of ZDF. An Interview with Eck-art Stein“, in: Screen, Vol. 23, No. 1, S. 60–73.

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die Nachwelt zugänglich zu machen? Doch wohl das Interesse, sich dieses Leben so zu vergegenwärtigen, als wäre man Zeuge seiner Ge-genwart. Dass Geschichte ein lebhaftes visuelles Schauspiel sein soll, zu dem sich der Leser eines Textes wie ein Zuschauer verhält, gehört schon zu den Postulaten der antiken Historiographie. François Châtelet etwa zeichnet die Geburt von Geschichte und Geschichtsbewusstein aus dem Geist der attischen Tragödie nach (wobei die Sophisten und die attische Komödie sich schon als erste Formen der „anti-histoire“ darstellen),97 während bei Lukian der Begriff der ‚Enargeia‘ genau die Leistung eines Textes meint eine lebendige visuelle Präsenz des Gesche-hens zu schaff en.98 In der frühen Neuzeit tritt die Figur der Geschichte als Spektakel etwa bei Baudouin wieder auf, dem zeitweiligen Sekretär von Calvin, späteren Rechtsprofessor in Heidelberg und einem der Wegbereiter der modernen Historiographie.99

Aber woher rührt das Interesse an der Vergegenwärtigung, an der Wiederherstellung des Vergangenen im Modus der Augenzeugen-schaft – um den Begriff , den Burke zur Beschreibung von Geschichts-bildern verwendet, auf das ganze Feld der Historiographie auszudeh-nen?

Eine mögliche Antwort liegt wiederum in der basalen Struktur his-torischer Erfahrung. Zu den Voraussetzungen der historischen Erfah-rung gehört die Annahme, dass man von einer Vergangenheit abge-trennt ist, die dennoch, oder gerade deshalb, von besonderer Bedeutung für die Gegenwart ist. Michael Oakeshott mag noch so sehr darauf beharren, dass der Historiker bei der Arbeit aus Prinzip die Vergangen-heit von jedem Anliegen der Gegenwart fernhalten muss: Seine Tätig-keit ist legitim und von Interesse nur, weil die Wiederherstellung der Vergangenheit einen Sinn in der Gegenwart stiftet. Die verschiedenen Typen der Historie, die Nietzsche in seiner Schrift über den „Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ unterscheidet, haben alle diese Beziehung zur Voraussetzung – auch noch die antiquarische His-torie, die das, was Nietzsche Leben nennt, ganz in der Bewahrung und Rekonstruktion des Vergangenen – vermeintlich – um seiner selbst Wil-

97 Vgl. François Châtelet, La naissance de l’histoire, 2 Bde., Paris, 1962. 98 Vgl. Andrew D. Walker, „Enargeia and the Spectator in Greek Historiography“,

in: Transactions of the American Philological Association, Vol. 123, S. 353–377. 99 „Again and again, Baudouin evoked with impressive eloquence a vision of history

as a kind of world theater – a spectacle that had lasted for centuries, and that every modern Christian must strive as hard to watch as ancient Christians had striven to avoid the Roman theater.“ Grafton, a.a.O., S. 76 f.

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len aufgehen lässt.100 Noch JFK, diese bewusst aufdringliche fi lmische Dramatisierung des historischen Traumas, bestätigt dieses Verhältnis: Stone verleiht mit seinem Film einer Vergangenheit Form, die den Ab-stand zur Gegenwart nicht wahrt.

Wie nicht zuletzt dieses Beispiel nahelegt, besteht die eigentliche Konkurrenz zwischen Film und Historiographie möglicherweise darin, dass der Film die Abtrennung der Vergangenheit, die für die historische Erfahrung konstitutiv ist, mit industrieller Effi zienz – man könnte sa-gen: mit maschineller Enargeia – aufhebt. Die Phantasie, die der Film realisiert, ist durchaus die, der Vergangenheit beiwohnen zu können, als wäre sie Gegenwart. Darunter verbirgt sich ein basales, wenn auch paradoxes Anliegen: die Vergangenheit in der Rekonstruktion verfüg-bar zu machen und sie damit zugleich als Vergangenheit abzuschaff en, also die Diskontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu suspendieren und durch eine Kontinuität zu ersetzen, und sei es durch eine imaginäre.

Der Film zeichnet historische Ereignisse demnach nicht nur auf, er macht das Ereignis in der Zeit verfügbar und damit auch über den je-weiligen Zeitpunkt hinaus. Der Film ist das Faktum selbst, von den Restriktionen seiner spezifi schen historischen Zeit befreit, formuliert André Bazin mit einer Emphase, die ex negativo einen Nachhall in dem Bilderverbot fi ndet, das Claude Lanzmann sich (und allen ande-ren) im Zusammenhang mit der Darstellung des Holocaust auferlegt. Wenn Lanzmann fordert, dass allfällige fi lmische Dokumente der Gas-kammern vernichtet werden müssen, dann deshalb, weil er im fi lmi-schen Bild das Faktum selbst als Wiederholung sieht. Die fi lmische Rekonstruktion zerstört die Singularität des historischen Ereignisses. Man braucht den bildtheoretischen Voraussetzungen von Lanzmanns Argument nicht vorbehaltlos beizupfl ichten.101 In der französischen Debatte um Shoah, die Jean-Luc Godard mit einem berühmten Fern-sehinterview mit Marguerite Duras 1987 anstieß und die in Etappen bis heute andauert, wird Lanzmanns Bilderverbot gerne mit Adornos

100 Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Stuttgart, 2003.

101 Vgl. zu den entsprechenden Positionsbezügen von Lanzmann insbesondere auch Georges Didi-Huberman, Bilder trotz allem. Aus dem Französischen von Peter Ge-imer, München, 2007. Didi-Huberman leistet in seiner differenzierten Auseinan-dersetzung mit den vier Photographien der Gaskammern von Auschwitz, die von polnischen Widerstandskämpfern aus dem Lager geschmuggelt wurden, eine aus-führliche Rekonstruktion des bildtheoretischen Modells, das Lanzmanns Dekret zugrunde liegt.

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Aussage über die Dichtung nach Ausschwitz verknüpft, wobei Godard die Partei des Bildes ergreift und Lanzmann als „Zensor“ bezeichnet.102 Symptomatisch gelesen gehört dieses aber in den Horizont einer Faszi-nationsgeschichte dessen, was ich weiter oben den a-historischen oder anti-historischen Kern des Films genannt habe. Die Enargeia des Films ist von vornherein auch eine zersetzende Kraft; Film ist mehr als nur eine ästhetische Aufhebung des historischen Sinns: eine Aufhebung der Geschichte als Erfahrung. Der Film, der das gleiche Terrain der Erfah-rung bestellt wie die Historiographie und als photographisches Medi-um mit dieser nahezu gleichursprünglich ist, ist im Moment seines Auftretens eines der vielen Enden der Geschichte, die zu dieser seit ihren eschatologischen Ursprüngen und dann wieder seit ihren moder-nen Anfängen unweigerlich gehören.

Nun gibt es Debatten über das Verhältnis von historischer Wahrheit und Medien der Darstsellung schon in der frühen Neuzeit. So entfacht Francesco Patrizi 1560 eine Kontroverse um die rhetorische Form der historischen Darstellung, indem er insbesondere die gängige Praxis, Reden von historischen Akteuren in direkter Rede wiederzugeben, für unzulässig erklärte.103 Die Bauteile der historistischen Maschine liegen schon bereit, bevor der Historismus diese zusammenbauen kann. Gleichwohl gehört der Film in eine andere Ordnung des Wissens. Der Film, so könnte man auch sagen, ist ein Medium, das in besonderer Weise dem entspricht, was man die geschichtsphilosophische Bedin-gung der Moderne nennen könnte. François Furet beschreibt diese „nouvelle condition de l’homme social à l’ère moderne“ in knappen Worten so:

„Dans un monde où aucune place n’est plus marquée d’avance, ni acqui-se pour toujours, la passion inquiète de l’avenir agite tous les coeurs, et trouve nulle part d’apaisement durable.“104

[In einer Welt, in der keine Position mehr von vornherein oder auf Dauer als gesichert gelten darf, bewegt die unruhige Leidenschaft für die Zukunft alle Herzen und findet nirgendwo etwas, das sie beruhigen könnte.]

102 Vgl. dazu Gerhard Scheit, „Claude Lanzmann und die Kritik der politischen Ge-walt“, in: sans phrase, Heft 2, Frühjahr 2013, S. 3–18; Christoph Hesse, „Lanz-mann ici et Godard ailleurs“, in: sans phrase, Heft 2, Frühjahr 2013, S. 37–49.

103 Vgl. Grafton, a.a.O., S. 39 ff.104 François Furet, „La passion révolutionnaire au XXe siècle. Essai sur le déclin du

communisme“, in: La révolution française, Paris, 2007 [1995], S. 940.

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So wie auch die literarische Form des Romans stellen die geschichts-philosophischen Entwürfe des 19. Jahrhunderts unter anderem eine Antwort auf diese Bedingung dar, von Adams Smiths Th eorie der „commercial society“ über Tocquevilles Th ese von der Unausweich-lichkeit der Demokratie bis hin zu Hegels Rede vom Ende der Ge-schichte; erst recht gilt dies natürlich für die marxistischen und neo-marxistischen Konzeptionen der Geschichte als Prozess, der mit wissenschaftlich rekonstruierbarer Notwendigkeit auf das Ziel einer neuen, von der konstanten Unruhe der Moderne befreiten klassenlosen Gesellschaft zuführt.

Es ist aber nicht in erster Linie die romanhafte Form der fi lmischen Erzählung, die den Film in diesen Zusammenhang stellt, sondern zu-nächst das, was ihn als Technik ausmacht: Die technische Aufzeich-nung, Speicherung und Wiedergabe von Zeit. Damit ist der Film ei-nerseits eben die Enargeia par excellence, eine effi ziente technische Vorrichtung der Vergegenwärtigung des Vergangenen und der Herstel-lung von Augenzeugenschaft. Andererseits realisiert der Film ein Anlie-gen, das seine Ursprünge in der christlichen Eschatologie haben mag, in seiner moderenen Form aber erst zusammen mit der Praxis der mo-dernen Geschichtsschreibung auftritt und in der Geschichtsphiloso-phie ihren symbolischen Ausdruck fi ndet: das Anliegen, mit der Ge-schichte fertig zu werden, ihr eine Grenze zu setzen und an ihr Ende zu kommen. Der Film verleiht diesem Anliegen eine imaginäre Konkreti-on, indem er die Vergangenheit projiziert und damit als Vergangenheit abschaff t. Jede neue Projektion erneuert das Versprechen des Films, uns von der beunruhigenden Last der Geschichte zu befreien. „History is a nightmare from which I am trying to awake“, schreibt Joyce im Ulysses, und vom Ende eines Albtraums träumte auch Griffi th, als er seinen vermeintlich so naiven Satz sprach, dass der Film sämtliche Streitigkeiten unter Historikern beilegen würde.

Dass der Film dem Anliegen, mit der Geschichte fertig zu werden, eine imaginäre Konkretion verleiht, heißt allerdings nicht, dass er we-niger real ist als die Realgeschichte. Er ist, falls überhaupt, ein Faktum dessen, was die Historiographie als Realgeschichte bezeichnet. Die Konsequenzen dieser Gegebenheit gilt es zu bedenken.

Film als Aufhebung der Geschichte meint, dass der Film historische Erfahrung zugleich produziert und suspendiert. Diese Aufhebung ist aber weder der Anfang noch das Ende einer Dialektik, sondern eine Spannung im Feld der Erfahrung, die vorerst unaufl ösbar scheint.

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VI. Die Autonomie des Films und die Unzuverlässigkeit des Zuschauers

In seinen Th esen zum Historienfi lm, die er in einem kürzeren Text von 1940 aufstellt, kommt Kracauer auf die Frage des Verhältnisses von His-torismus und photographischem Medium zurück, die er 1927 im Pho-tographie-Essay erstmals stellte. Hebt der Photographie-Essay noch auf die Isomorphie von Photographie und historistischer Geschichtskon-zeption ab, so vertritt Kracauer in dem Text von 1940 die Th ese, dass der Film als Produkt der Gegenwart in besonderer Weise ungeeignet ist, um der historistischen Konzeption von Geschichte und historischer Er-fahrung gerecht zu werden. Wo der Historismus von der Kontinuität eines Weltganzen ausgeht, entstammt der Film einer Epoche, die durch Fragmentierung, Spaltung und Zerrissenheit gekennzeichnet ist. Sein Gestaltungsprinzip, die Montage, trägt dieser Zerrissenheit einerseits Rechnung, schaff t aber andererseits durch die Verknüpfung der Einzel-bilder und Fragmente auch ein neues Ganzes, ein Substitut für das ver-lorene Ganze, das der realistische Roman des 19. Jahrhunderts noch zur Darstellung zu bringen vermochte und dessen Verlust Lukács in seiner auch für Kracauer wichtigen Studie zum Roman zu Beginn der 1920er Jahre konstatierte.105 Genau in diesem Sinne kommt der Film in der Vergangenheit als Fremdling an: Sein Konstruktionsprinzip steht im Konfl ikt mit der Konzeption der historischen Zeit, welche der historis-tischen Geschichtsschreibung zugrunde liegt.

Damit stellt sich die Frage, ob das nun Pech für den Historismus ist oder der Fehler des Films. In dem bereits zitierten Essay entscheidet sich Getrud Koch für die zweite Variante: Der Film kann, zumindest in der geläufi gen Gestalt des Historienfi lms, der Geschichte nicht gerecht werden. Der Film, der in den Händen eines Buñuel das Potential der „ästhetischen Aufhebung des historischen Sinns“ hat, büßt als Histori-enfi lm sein kritisches Potential ein. Vielmehr schaff t er, wie Koch es mit einem Schlüsselbegriff der kritischen Th eorie formuliert, eine zweite Natur:

105 Die Pointe von Kracauers Caligari-Buch besteht nicht zuletzt in der Annahme, dass im Kino der Weimarer Zeit eine Darstellung des gesellschaftlichen Ganzen zu finden ist, wie sie die Literatur zumindest in Deutschland nicht mehr zu leisten in der Lage ist; die Aufgabe des Kritikers besteht darin, diesen Gesamtzusammen-hang herauszuarbeiten und zur Darstellung zu bringen. Geschieht diese Rekons-truktion im Angestelltenbuch noch durch Montage, so versteht sich das Caliga-ri-Buch als Psychoanalyse einer Kollektivseele, als deren Symptombildungen die Filme der Weimarer Zeit zu verstehen sind.

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„Eine Welt, die ganz und gar durch Zeichen konstituiert wird, ist eine mythische Welt, und so produzieren die meisten Filme, die mit konkre-tistischem Illusionsnaturalismus Geschichte nachzuschöpfen versuchen, mythische Geschichtsbilder, die auf die Evidenzerlebnisse der Illusion setzen.“106

Vor diesem Hintergrund, so Koch, wird „doch einleuchtend, warum Filme, die tatsächlich über Geschichte etwas herausfi nden oder sagen wollen, in die Form des intellektuell geprägten Essay-Films gehen, wie etwa die Filme von Alexander Kluge oder Jean-Marie Straub“.107

Koch bewegt sich damit innerhalb einer Dichotomie zwischen kriti-scher Refl exion und Mythenproduktion, die bei Kracauer vorgebahnt ist, die sie aber in einem Adorno’schen Sinne auslegt, indem sie die Montage mit der Idee der autonomen Kunst assoziiert: Derweil der His-torienfi lm ein falsches Ganzes produziert, das den Verlust des wahren Ganzen der Geschichte kaschiert, hat die Montage das Potential, in der fragmentarischen De- und Rekonstruktion des Ganzen dessen unwie-derbringlichen Verlust (negativ) dialektisch zur Darstellung zu bringen. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist aber, dass Koch den onto-logischen Vorrang der Geschichte vor ihren „Nachschöpfungen“ bekräf-tigt, die sie mit dem Verdacht der Mythenbildungen belegt. Koch lässt mit anderen Worten die historistische Maschine laufen, im doppelten Wortsinn – weiter laufen und ungeschoren davon kommen. Das Verfah-ren vor dem Gerichtshof der Faktentreue geht weiter: die Mythenbil-dungen des konkretistischen Illusionsnaturalismus stehen unter Ankla-ge; zur Entlastung des Films an sich werden aber immerhin die Beispiele aus dem Bereich des intellektuell geprägten Essay-Films ins Feld geführt.

Leitend ist dabei eine Unterscheidung zwischen zwei Arten der Auto-nomie, einer guten, sicheren und einer gefährlichen. Die sichere Auto-nomie ist diejenige der autonomen Kunst, die einen Raum der Refl exion schaff t, in dem die institutionellen Zwänge der Gesellschaft suspendiert sind und die avancierte Kunst kraft ihrer von den konventionellen Re-geln der Darstellung befreiten Form in kritischer Absicht gesellschaftli-che Pathologien freilegen kann. Dafür ist auch der Essayfi lm ein Bei-spiel, der durchaus im Sinn und Geist von Adornos Studie über den Essay als Form institutionell abgestützte Redeweisen unterläuft und sich

106 Koch, a.a.O., S. 226.107 Koch, a.a.O., S. 228. Koch verwendet hier im Wesentlichen dieselben Kategorien

und Beispiele wie Rosenstone, der die Filme Kluges oder Minh-ha, als „experimen-tal films“ charakterisiert, um sie von herkömmlichen Historienfilmen zu unter-scheiden.

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von den Genreregeln des Historienfi lms befreit.108 Die gefährliche Auto-nomie ist die Autonomie eines Films, der seine Wirkung ohne jede Re-gulierung und Hegung durch die diskursiven Instanzen des spontanen Historismus entfalten kann. Gefährlich ist diese Autonomie, weil der Film, wenn er sie ergreift, mit einem Publikum ins Einvernehmen tritt, das unter dem Verdacht steht, ohne Anleitung durch die Instanzen der Kritik nicht in der Lage zu sein, die Mythenbildungen und den konkre-tistischen Illusionismus des Historienfi lms zu durchschauen.109 Vor dem Gerichtshof der Faktentreue, der den Film für seine bereits begangenen Vergehen gegen die Faktenlage zur Veranwortung zieht, aber immer auch präventiv tagt, kommt dem Film die Rolle des Täters und dem Zuschauer die des potentiellen Opfers, aber auch des möglichen Kom-plizen zu. Der Film, der sich selbst und dem Zuschauer überlassen bleibt, ist deshalb gefährlich, weil dem Zuschauer zugleich alles und nichts zuzutrauen ist: ein refl ektierter, kritischer Umgang mit dem Dar-gestellten ebenso wie eine unrefl ektierte, passive Haltung, die der Mani-pulation, dieser zentralen Strategie der Massenmedien Tür und Tor öff -net. Und insofern der Zuschauer auch Akteur der Geschichte in ihrem weiteren Verlauf werden kann, ist ihm ein refl ektiertes Handeln ebenso zuzutrauen wie ein Handeln im Zeichen des Mythos und der zweiten Natur. Die gefährliche Autonomie des Films fi ndet ihre Entsprechung in einer supponierten Anomie des Zuschauers.

Ohne den Zuschauer kommt die Geschichte allerdings nicht aus. Schon die Geschichte als Enargeia bei Lukian und als Welttheater bei Baudouin ist auf die Zuschauer verwiesen und angewiesen. Geschichte wird gemacht, von historischen Akteuren, und geschaut, von Zuschau-ern, an die sich die Darstellung von Geschichte richtet. An der Schwel-le zur Moderne und im Zeichen des welthistorischen Ereignisses der französischen Revolution, also genau in dem Moment, in dem die quel-lenkritische Geschichtsschreibung sich als akademischer Standard etab-liert und Geschichte als „Kollektivsingular“ seine moderne Bedeutung

108 Vgl. Theodor W. Adorno, „Der Essay als Form“, in: Noten zur Literatur, Frankfurt am Main, 1981, S. 9–33.

109 Gertrud Koch hat in den letzten Jahren eine differenzierte, philosophisch fun-dierte Theorie der filmischen Illusion entwickelt, teilweise auch im Dialog und in Zusammenarbeit mit Christiane Voss, und in Abgrenzung von einer Ästhetik des Erscheins, wie sie etwa von Martin Seel entwickelt wird. An dieser Stelle aber ist mit dem Begriff der Illusion nicht in erster Linie die Struktur des Wahrnehmungs-objekts Film gemeint; vielmehr bezeichnet „Illusion“ hier noch ein Blendwerk der Täuschung, das es mit den Instrumenten der Kritik, genauer: der Ideologiekritik, zu zerstören gilt.

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erhält, verfestigt und konkretisiert sich dieses Zuschauermodell weiter. In paradigmatischer Weise lässt sich dies an den Schriften von Burke und Kant zur französischen Revolution aufzeigen. Burke und Kant un-terscheiden sich in ihrer Einschätzung der französischen Revolution grundlegend, sie sind sich aber darin einig, dass die Revolution am bes-ten mit der Metapher des Th eaters und einem Modell von Zuschauer-schaft auf den Begriff bringen lässt. In den Refl ections on the Revoluti-on in France bezeichnet Burke diese immer wieder als „spectacle“ und appeliert ohne Unterlass an die Aff ekte eines supponierten Zuschauers, den die Geschehnisse in Frankreich mit Abscheu und Empörung erfül-len müssen. „Th e fresh ruins of France which shock our feelings where-ver we turn our eyes“110: Das Spektakel der Revolution hat für Burke eine eminent erzieherische Funktion, „because we are so made as to be aff ected at such spectacles with melancholy sentiments upon the unsta-ble condition of moral prosperity, and the tremendous uncertainty of human greatness“. Burke erhebt das Th eater ausdrücklich zum Modell des Spektakels der Geschichte und beruft sich dabei auf Aristoteles: „In events like these our passions instruct our reason … We are alarmed into refl exion; our minds … are purifi ed by terror and pity.“111

Kant wiederum erhebt in der Schrift zum Streit der Fakultäten ebenfalls eine Zuschaueremotion zum Aufhänger seiner Deutung des revolutionären Geschehens, wenn auch nicht „shock“ und „melancho-ly sentiments“, sondern den Enthusiasmus:

„Die Revolution eines geistreichen Volks, die wir in unseren Tagen ha-ben vorgehen sehen … findet doch in den Gemütern aller Zuschau-er (die nicht selbst in diesem Spiele verwickelt sind) eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasmus grenzt, und deren Äu-ßerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere, als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann.“112

Die Revolution als „Spiel“, das die Zuschauer in einer „Teilnehmung dem Wunsche nach“ hinreißt: Das historische Ereignis versteht sich auch hier als Spektakel, die Geschichte als Welttheater. Für Kant ist der

110 Edmund Burke, Reflections on the Revolution in France [1790], London, 1968, S. 125.111 Burke, op. cit, S. 175. Auf die Theatralität des politischen Handelns in der franzö-

sischen Revolution ist vielfach hingewiesen worden; in epistemologischer Hinsicht bewegen sich Burke und seine politischen Gegner so gesehen auf Augenhöhe. Vgl. dazu Friedland, Political Actors.

112 Immanuel Kant, „Der Streit der Fakultäten“, in: Werke in Zwölf Bänden, Band XI: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Frankfurt, 1964, S. 358.

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Enthusiasmus der Zuschauer dabei genau so sehr ein moralisches Ge-fühl wie der Schock und die Abscheu für Burke – nicht, weil es an sich moralisch wäre, sich über eine gewalttätige Revolution zu freuen, son-dern weil der Enthusiasmus die Zuschauer, die ihn äußern, ihrerseits der Gefahr der politischen Repression aussetzt. Wenn nichts anderes, garantiert doch der Preis, den sie für ihren Enthusiasmus zu bezahlen bereit sind, den moralischen Charakter ihrer Aff ektion.

Burke, der Konservative, und Kant, der Aufklärer, sind sich mithin darin einig, dass ein Schlüssel, wenn nicht der Schlüssel, zur Deutung des historischen Sinns der Revolution in der Aff ektnatur eines idealen Zuschauers zu fi nden ist. Burke wie Kant lösen damit unter der Hand zugleich ein Postulat der französischen Revolution und der Aufklärung ein. Zuschauerschaft fassen sie als universelles Prinzip auf. Jeder kann Zuschauer sein, genauer: jeder vernünftige Mensch, also jeder, der aus den Regungen seiner Aff ektnatur die richtigen Schlüsse zu ziehen und das Spektakel der Geschichte richtig zu bewerten vermag. Der Stand-punkt des Zuschauers ist universell – für jedes mit Vernunft ausgestat-tete Subjekt, das bereit ist, sich von seinen Aff ekten belehren zu lassen, zugänglich – und die Haltung des Zuschauers ist auf Universalisierung hin angelegt – darauf hin, dass die jeweiligen, individuellen Bewertun-gen des historischen Geschehens schließlich miteinander in Einklang stehen. Burkes und Kant argumentieren beide anthropologisch: Wir reagieren so „because it is natural“ schreibt Burke, während Kant von einer „moralischen Anlage im Menschengeschlecht“ spricht. Bedeut-sam ist nun allerdings, dass Kant und Burke sich in der Frage, welche Aff ekte diesen Schlüssel bilden, überhaupt nicht einig sind. Während Burke es für selbstverständlich hält, dass der Aff ekt, den die Revolution hervorruft, negativ sein wird, von der ursprünglichen Abscheu bis zur schließlichen Empörung, mündet bei Kant der anfängliche Schrecken über die Gewaltsamkeit des Geschehens in einen positiven Aff ekt, den Enthusiasmus. Rechnen Burke und Kant beide noch voller Zuversicht mit den natürlichen Anlagen des Menschengeschlechts, mit seiner Erziehbarkeit und seiner Selbstverbesserungstendenz, stellt schon die politische Divergenz ihrer Wertungen die anthropologischen Voraus-setzungen ihres Arguments in Frage. Im Zeichen der Dialektik der Auf-klärung, einer Aufklärung, die ihrer „eigenen Mystifi kation“ er liegt,113

113 Vgl. Reinhart Koselleck, Kritik und Krise: eine Studie zur Pathogenese der bürgerli-chen Welt, Frankfurt am Main, 2006, S. 156. Es sei daran erinnert, dass Koselleck sein Buch zunächst „Dialektik der Aufklärung“ nennen wollte; die Publikation der Studie von Horkheimer und Adorno durchkreuzte diesen Plan.

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erweist sich der Zuschauer, wie er in diesem Modell der Geschichte als Spektakel am Anfang der Moderne auftritt, in doppelter Hinsicht als instabile, unzuverlässige Figur: Nicht nur steht seine Vernünftigkeit in Frage, seine Vernunft ist gleich schon am Anfang eine geteilte, eine, die in unterschiedliche, mitunter  – wie im Fall von Burke und Kant  – in einander diametral entgegengesetzte Haltungen auseinanderfallen kann. Das ganze Modell rechnet mit dem emanzipierten Zuschauer, um es mit Rancière zu sagen, aber zu dem Modell gehört immer auch schon, dass man dem Zuschauer, dem man alles zutraut, sogar die Eman-zipation, zugleich nichts zutraut. Aus dem Zuschauer des 18. Jahrhun-derts, der mit einer kognitiv und moralisch belastbaren Aff ektnatur ausgestattet ist, wird im Zeichen der Entfaltung der doppelten Instabi-lität der Zuschauerfi gur im 19. und im 20. Jahrhundert das Subjekt der Masse, ein anonymer und anomischer Partikel, der ruder- und schutz-los der Manipulation durch jene Medien erliegt, die in seinem Namen den Titel ‚Massenmedien‘ tragen, eine Figur, die mitunter auch wider besseres Wissen in ein Spektakel verstrickt bleibt, das ihn keineswegs mehr aus sich selbst heraus mit dem Schock versieht, der zur Refl exion veranlasst; vielmehr begibt dieses Subjekt der Masse sich weiter in die selbstverschuldete Unmündigkeit hinein, wie etwa der Kinobesucher, als den Adorno sich in den Minima Moralia beschreibt, der „jedes Mal dümmer und schlechter“ aus dem Kino herauskommt und off enbar doch immer wieder hineingeht. Dass die Entfaltung der doppelten In-stabilität des Zuschauers mit der Emergenz der technischen Medien im 19. und 20. Jahrhundert einhergeht, ist dabei nicht trivial. Nicht nur ist es so, dass das pädagogische Projekt der Aufklärung und die Institu-tionalisierung der Volksschulbildung auch noch aus dem letzten Idio-ten ein Individuum machte, wie Friedrich Kittler es einmal formulier-te; die technischen Kommunikationsmedien stellten auch bald sicher, dass auch der letzte Idiot noch erreicht werden konnte.

Wie diese Stränge – die Entfaltung der doppelten Instabilität der Zuschauerfi gur, die Emergenz der technischen Medien und die päda-gogischen Diskurse und Institutionen nach dem 18. Jahrhundert – ge-nau zusammenhängen und ineinandergreifen, muss den Stoff einer anderen Untersuchung abgeben. Außer Frage steht aber, dass das Zu-schauermodell der Geschichte des ausgehenden 18. Jahrhunderts eine epistemologische Urszene der Moderne darstellt. Es ist ein Modell, das mit dem, was ich weiter oben die geschichtsphilosophische Bedingung der Moderne genannt habe, insofern im genauen Einklang steht, als in ihm keine Position auf Dauer als gesichert gelten kann. Nicht nur gilt dies für den Zuschauer, der vom Träger eines moralischen, belastbaren

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Aff ekts zum Anlaß eines fundamentalen Verdachts wird, ja schließlich zum Angelpunkt der Selbstbezichtigung, ja des Selbsthasses, wie er etwa in Adornos Ausführungen in den Minima Moralia durch-scheint.114 Ungesichert ist immer auch die Geschichte, als Gegenstand und als Darstellung. Als Gegenstand, als Realgeschichte, muss sie im-mer erst hervorgebracht werden, als Darstellung unterliegt sie dem un-abweisbaren Zweifel an ihrer Angemessenheit an die Fakten der Real-geschichte.

Die Besorgnis der historistischen Maschine geht so gesehen immer in zwei Richtungen: auf den anomischen Zuschauer und den ungesi-cherten Bestand der Geschichte. Ihre Kritik gilt dem Film und der Hegung der korrosiven Kraft seiner Enargeia, aber sie will immer auch eine Bestimmung des Zuschauers liefern, indem sie für dessen Haltung eine Norm ausgibt, und sie will eine Bestimmung der Geschichte leis-ten, indem sie die Faktenlage für gesichert und diese zum Ausgangs-punkt jeder weiteren Diskussion erklärt. Das Ansinnen, den Zuschauer mit dem Mittel der Kritik von der mythenbildenden Macht des Films zu emanzipieren, bewegt sich genau in diesem Horizont: Sie verbindet eine Kritik des Films mit einer Normsetzung für den Zuschauer und nimmt eine Setzung der Geschichte als Bestand als ihren Ausgangs- und Angelpunkt. Nur so, indem man sie immer wieder gegen ihre Zer-setzung und Aufhebung absichert, kann die Geschichte weitergehen.

VII. Vom spukhaften Unleben des größten Monstrums der Geschichte

Weil das anthropologisch fundierte Vertrauen, dass das Spektakel der Geschichte von selbst jenen Schock der Gefühle bereiten würde, dem die Refl exion entspringt, bald dahin war, bauten die Avantgarden des 20. Jahrhunderts ihre Werke so, dass sie ihren Adressaten zu einer Hal-

114 Man kann in Adornos Selbstbezichtigungen einen Ausläufer jenes Hasses auf die Bourgeoisie sehen, den Furet als eine der Folgegestalten beschreibt, die der revo-lutionäre Affekt des Enthusiasmus im 19. Jahrhundert annimmt, und der sich schließlich gegen das in die Welt der Bourgeoisie verstrickte Subjekt selbst richtet. Vgl. Furet, a.a.O., S. 944 ff. Zu einer Geschichte der post-revolutionären Affekte gehört zugleich auch, dass die Reaktion und der Faschismus ihre politische Pro-grammatik auf den Affekt der Liebe gründen: „L’Action française enracine ses thé-ories dans l’amour,“ lautet ein berühmter Satz von Charles Maurras: „… l’amour de la patrie, l’amour de la religion, l’amour de l’ordre matériel, l’amour de l’ordre moral.“ Ders., La démocratie réligieuse, Paris, 1921, S. VI.

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tung der kritischen Refl exion keine Alternative lassen sollten. Von Brechts epischem Th eater über Eisensteins intellektuelle Montage und Vertovs Einbettung des Kamerablicks in den Film und Straub-Huillets Geschichtsunterricht bis hin zum medienkritischen Didaktizismus ei-nes Haneke reichen die Bestrebungen, den Zwang des zwanglosen, weil aff ektbasierten Denkanreizes aus der Struktur der Werke hervor-gehen zu lassen. Zumal bei Brecht und Eisenstein waren es vorzugswei-se historische Stoff e, die den Ausgangspunkt der Bemühungen bilde-ten, die zweifelhaft gewordene Verbindlichkeit der Vernunft durch die Verbindlichkeit der Form zu substituieren. Der Erziehung des Zu-schauers durch die Form entspricht auf der anderen Seite das Projekt, den Zuschauer von einer „Teilnehmung dem Wunsche nach“ zu einer Teilnehmung dem Handeln nach übergehen zu lassen. Das meint nun nicht so sehr, dass jeder zum Akteur auf der Bühne der Geschichte werden kann. Die Billigung dieses Anspruchs ist ohnehin Bestandteil des modernen Geschichtsbegriff s und die Darstellung von Geschichte in der Moderne richtet sich – ob implizit oder explizit – immer an ein Publikum, das diese Geschichte als eine betrachten soll, die sie betriff t, so sehr dieses Publikum durch die Struktur der historischen Erfahrung von dem dargestellten Geschehen zeitlich und räumlich auch abge-trennt sein mag. Das Gegenstück zur Erziehung durch die Form ist vielmehr das Projekt, die fi lmischen Mittel der Produktion von Ge-schichte in die Hände der Zuschauer zu legen: das Projekt des enga-gierten, militanten Films, das in den Filmkollektiven der 1960er und 1970er Jahre seinen sichtbarsten Ausdruck fand und dessen Nach- und Weiterleben Nicole Brenez in ihren Arbeiten zum politischen Under-ground-Kino bis in seine kapillaren Verästelungen in die Gegenwart hinein nachzeichnet.115 Die Erwartung eines Übergangs von einer „Teilnahme dem Wunsche nach“ zu einer Teilnahme mit der Kamera in der Hand knüpfte sich dabei immer in besonderem Maße an neue Technologien der Aufzeichnung und der Distribution von fi lmischen Bildern, welche die Kosten der Produktion gegen Null tendieren zu lassen versprachen, von den analogen Schmalfi lmformaten über das elektronische Medium Video bis zur Digicam und neuerdings den Smartphones mit eingebauter Kamera. Schon in den 1960er Jahren gehörte zur Vision eines demokratisierten Zugangs zum technischen Medium Film auch die Vorstellung eines entsprechenden Netzwerks der Distribution. So imaginierte der Ethnologe und Filmemacher Sol Worth 1968, also genau zu der Zeit, als sich das ARPANET im Aufbau

115 Vgl. Nicole Brenez, Cinémas d’avant-garde, Paris, 2006.

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befand, in seinem Entwurf einer demokratisierten Ethnographie, in der die untersuchten Subjekte selbst sprechen, eine „world where sym-bolic forms created by one inhabitant are instantaneously available to all other inhabitants“.116 Wenn diese Vision in Videoplattformen wie vimeo und YouTube mittlerweile reale Gestalt gewonnen hat, so ist dies gewiss nicht im Zeichen des Projekts einer demokratisierten Eth-nographie geschehen. Die digitalen Netzwerke schließen ein solches Vorhaben aber nicht aus, und die Idee der instantanen Verfügbarkeit niederschwellig produzierter symbolischer Formen ist fraglos Tatsache geworden.

Gleichwohl bewegen sich die Projekte einer Erziehung durch die Form und der Teilnahme an der Praxis der Geschichtsschreibung mit der Kamera in der Hand noch weitgehend im Horizont des Kinos als Massenmedium in dem Sinne, den dieser Begriff im 20. Jahrhundert hatte: Beide Projekte verstehen sich als programmatische Modifi katio-nen von Praktiken der monodirektionalen Massenkommunikation. Miriam Hansen hat allerdings schon 1993 darauf hingewiesen, dass die klassischen Begriff e von Massenkommunikation, Öff entlichkeit und Publikum dem Kino unter den neuen technischen Medienbedingun-gen längerfristig nicht mehr gerecht werden können.117 Der Kurator und Kritiker Alexander Horwath hat vor einigen Jahren für den neuen Aggregatzustand des Films den Begriff der „post-kinematographischen Bedingung“ vorgeschlagen, Francesco Casetti wiederum spricht von einer „Explosion des Kinos“. Das Kino hat durchaus weiterhin Be-stand, als Ort und Institution, vor allem aber als Referenzrahmen in einer zusehends digitalisierten Medienkultur. Wenn eine Werbung für ein Smartphone dieses neben einer Hand voll Popcorn zeigt, mit dem Slogan „Kann alles außer Popcorn“, dann ist damit gemeint, dass die Fähigkeit, ‚Kino zu können‘ das entscheidende Merkmal ist, welches das Smartphone zur universellen Kommunikationsplattform macht.118 Das Kino hat sich, so könnte man sagen, im Zuge seiner „Explosion“ von sich selbst gelöst. Es ist weder in Trümmer gegangen noch gestor-ben, sondern zum semantischen Rahmen geworden, der unabhängig

116 Sol Worth, „Towards and Anthropological Politics of Symbolic Form“ [1968], in: Larry Gross (Hg.), Studying Visual Communication, Philadelphia, 1981, S. 85–107 (hier S. 85).

117 Vgl. Miriam Hansen, „Early Cinema, Late Cinema: Permutations of the Public Sphere“, in: Screen, Vol. 34, 1993, No. 3, S. 197–210.

118 Für das Beispiel und eine ausführliche Diskussion vgl. Alexandra Schneider, „The iPhone as an Object of Knowledge“, in: Pelle Snickars, Patrick Vonderau (Hg.), Moving Data: The iPhone and the Future of Media, New York, 2012, S. 49–60.

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vom räumlichen Ort und der kulturellen Institution Kino andere kul-turelle Praktiken kenntlich macht und gleichsam als Kunst über den Künsten schwebt.119

Im Zuge der Entfaltung der digitalen Netzwerkkommunikation und im Zeichen der „post-kinematographische[n] Bedingung“ der „Explosion des Kinos“, stellt sich entsprechend die Frage, ob sich hier nicht auch die Ökologie von Geschichte und Film verändert.

Am Beispiel von Oliver Hirschbiegels Historienfi lm DER UNTER-GANG von 2004 und seiner Fortschreibungen lassen sich zumindest die Umrisse einer Antwort auf diese Frage entwickeln. Mit seiner (mut-maßlich) vorbildgetreuen Rekonstruktion des Führerbunkers und Bru-no Ganz’ hypernaturalistischer Darstellung des Diktators ist Hirsch-biegels Film über Hitlers letzte Tage ein gutes Beispiel für das, was Gertrud Koch als „konkretistischen Illusionsnaturalismus“ des Histori-enfi lms bezeichnet. Nicht von ungefähr wurde dem Film vor dem Ge-richtshof der Faktentreue der Prozess gemacht, und zwar in Deutsch-land ebenso wie in Frankreich und teilweise auch in den USA. Das Verfahren verlief allerdings nicht ganz in den gewohnten Bahnen. Als DER UNTERGANG ins Kino kam, beeilte sich ausgerechnet die Frank-furter Allgemeine Zeitung Hirschbiegels Film mit einer Reihe von Ar-tikeln eine Unbedenklichkeitserklärung auszustellen. Der Chef des Feuilletons mutierte zum Filmkritiker und warf sich persönlich für den vom erfolgreichsten deutschen Produzenten seit Arthur Brauner, Bernd Eichinger, produzierten Film ins Zeug; weitere Texte verwiesen auf die Genauigkeit der historischen Rekonstruktion. Überraschen konnte diese Unterstützung, die sich am Rande des Kampagnenjournalismus bewegte, allerdings schon deshalb nur bedingt, weil das Drehbuch auf einem Buch basierte, das von dem Journalisten und Historiker Joachim Fest stammte, Feuilletonredakteur der FAZ von 1973 bis 1993. Der apo-logetische Präventivschlag der FAZ zeigte Wirkung: In der Debatte, die der Film auslöste, war der Vorwurf des Verstoßes gegen das Gesetz der Faktentreue kaum je zu hören. Nicht neutralisieren konnte die FAZ al-lerdings den anderen Teil der historistischen Maschine, die ikonophobe Skepsis gegenüber der Suggestionskraft des Bildmediums Film, gegen-über der korrosiven Kraft der fi lmischen Enargeia. Während die meisten Kritiker die Darstellung von Bruno Ganz lobten, machten viele dem Regisseur und dem Produzenten zum Vorwurf, dass sie den Träger des Ifl and-Ringes und damit den nominell bedeutendsten lebenden Schau-

119 Vinzenz Hediger, „Kino nach dem Kino. Zur gesellschaftlichen Lage des Films“, in: Westend, Vol. 8, No. 2, S. 19–42.

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spieler deutscher Sprache einsetzten, um „Hitler als Mensch zu zeigen“. Die Übertretung bestand bei näherer Betrachtung konkret darin, dass der Film dem schrecklichen Diktator komplexe Emotionen zubilligte und die Zuschauer zugleich einlud, Empathie mit dem Massenmörder zu entwickeln, etwa durch das Heranfahren der Kamera auf Ganz’/Hitlers Gesicht in Großaufnahme im Moment großer emotionaler Er-regung. Aus Anlaß der französischen Premiere des Films zitierte France-Soir Claude Lanzmann mit der Einschätzung, der Film sei „pervers und gefährlich“, während der Historiker Norbert Frei, ein deutscher Professor und Spezialist für die Erforschung des Dritten Reichs, in ei-nem Artikel für die führende Pariser Qualitätszeitung Le Monde den Standpunkt vertrat, der Film sei gefährlich und schädlich, weil der Re-gisseur es unterlasse, die notwendige kritische Distanz des Zuschauers zur Figur aufzubauen. Konkretistischer Illusionsnaturalismus statt Er-ziehung durch die Form, lautete mit anderen Worten der Vorwurf, for-muliert mit Blick auf den unzuverlässigen Zuschauer. Die FAZ hielt derweil an ihrer Verteidigung des Films fest und referierte diese Positi-onsbezüge in einem Artikel mit dem Titel „Im Geschichtsprozess“, der zum einen in präziser Weise auf die Mechanik der historistischen Ma-schine verwies und zum anderen den Schlüsselbegriff der (neo-)marxis-tischen Geschichtsphilosophie ins Spiel brachte, durchaus in der Ab-sicht, den Kritikern des Films eine entsprechende Gesinnung zu unterstellen.120 Schließlich überließ es die FAZ ihrem langjährigen Li-teraturkritiker Marcel Reich-Ranicki, einem Veteranen des Warschauer Ghetto-Aufstandes, zum Vorwurf, der Film zeige Hitler „als Men-schen“ abschließend Stellung zu beziehen. Natürlich zeige der Film Hitler als Menschen, so Reich-Ranicki. Als was solle er ihn denn sonst zeigen? Etwa als Elephanten?

Bald kam die Kontroverse zum Erliegen; Abendland, Demokratie und westliche Zivilisation hatten die Gefahr des Empathisierens mit dem fi lmischen Avatar des größten Monstrums der Geschichte weitge-hend unbeschadet überstanden.

Knapp fünf Jahre später allerdings wurde DER UNTERGANG zum Gegenstand einer weiteren Kontroverse. Der Produzent des Films und seine Firma, die Constantin Film, erwirkten vor Gericht eine einstwei-lige Verfügung gegen YouTube und eine Reihe von Benutzern der In-ternet-Plattform, um die weitere Verbreitung einer Reihe von Videos zu verhindern, die auf Ausschnitten aus dem Film basierten. Die Videos folgten alle demselben Prinzip. Sie bestanden aus der Szene in DER

120 Vgl. „Im Geschichtsprozeß“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. Januar 2005.

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UNTERGANG, in der Bruno Ganz als Hitler erfährt, dass die letzte Ver-teidigungslinie vor Berlin gefallen ist. Hitler, der realisiert, dass er über keine weiteren militärischen Handlungsmöglichkeiten mehr verfügt, schickt die weniger wichtigen Mitglieder seiner Entourage aus dem Raum und staucht danach seine Generäle in einem großen Wutaus-bruch zusammen. Diese Szene hatten zumeist anonyme YouTube-Nut-zer genommen und die deutsche Originalfassung mit englischen Un-tertiteln versehen, die Hitlers Wutausbruch jeweils einen neuen Anlaß und Sinn verliehen. In einem der Videos etwa tobt Hitler, als er erfährt, dass Barack Obama die amerikanische Präsidentschaftswahl gewonnen hat, in einem anderen lässt ihn die Nachricht vom Tod Michael Jack-sons die Fassung verlieren, und so weiter. Das erste solche Downfall-Video tauchte auf YouTube 2006 auf; zum populären Phänomen ent-wickelten sich die Videos drei Jahre später. Die Constantin Film erkannte in diesen Videos schließlich eine Verletzung ihres Urheber-rechts und erwirkte ihre Entfernung. Wenige Stunden nach der Um-setzung des Gerichtsbeschlusses tauchte die nächste Fassung auf You-Tube auf: ein Video, in dem Hitler seine Generäle zusammenstaucht, als er von dem Gerichtsverfahren und dem Urteil erfährt.

Die Downfall-Videos sind ein Beispiel für das, was Richard Dawkins in seinem Buch Th e Selfi sh Gene in Analogie zum Konzept des Gens als „meme“ bezeichnet: eine kulturelle Einheit, die sich in kulturellen Milieus selbst reproduziert und dabei einem Selektionsdruck wider-steht.121 Gemeinsam mit Richard Hofstadter entwickelte Dawkins „memetics“ oder Memetik als eine Th eorie der Produktion und Repro-duktion mentaler Inhalte, die auf einer Ausdehnung der Prinizipen der Darwin’schen Evolutionstheorie auf den Bereich der Kultur basierte und von Autoren wie Susan Blackmore und Richard Brodie zu einer Kul turtheorie erweitert wurde.122 Der Memetik zufolge entstehen Meme auf der Grundlage von Prozesssen wie der „informational selection“, der Selektion kultureller Inhalte auf der Grundlage einer Evaluation ihres Wahrheitswerts und ihrer moralischen Relevanz, oder der „emo-tional selection“, der Selektion auf der Grundlage der Eignung einer kulturellen Einheit starke Emotionen hervorzurufen, wobei starke ne-gative Gefühle wie Angst, Zorn und Ekel als der Selektion zuträglicher

121 Vgl. Richard Dawkins, The Selfish Gene, Oxford, 1976. 122 Vgl. Susan Blackmore, The Meme Machine, Oxford, 2000; Richard Brodie, Virus

of the Mind. The New Science of the Meme, Carlsbad, 2009.

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eingestuft werden als positive.123 Hitler ist zum Meme geradezu präde-stiniert: Wenige historische Figuren sind so bekannt und so leicht zu erkennen wie Hitler, und wenige lösen so starke emotionale Reaktionen aus. So große Mühe sich Bruno Ganz mit seiner naturalistischen Dar-stellung der Hitler-Figur auch gab: Hitler kann im Grunde jeder Spie-len. Es reicht, das Haar zur Seite zu scheiteln, den Schnurrbart anzutö-nen und herumzuschreien  – schon ist klar, mit wem wir es zu tun haben. Die Chancen der Hitler-Figur, sich im Prozess der informatio-nellen und der emotionalen Selektion zu bewähren, stehen demnach äußerst gut. Das Internet hat sich überdies als besonders vorteilhaftes Milieu für das kulturelle Leben der Memes erwiesen. Das Downfall-Meme ist insofern typisch, als viele Internet-Memes auf der Umnut-zung und dem Re-Mix von urheberrechtsgeschütztem Material basie-ren. Gleichwohl stellt sich die Frage, was es mit dem Downfall-Meme und der historischen Figur des Diktators, der sich kraft der enargeia des Films zu allen Belangen der Gegenwart äußert, auf sich hat.

Piraterie, so eine Th ese von Adrian Johns, ist eine „business force“, weniger eine Bedrohung denn ein Innovationsfaktor der Medienöko-nomie.124 Man könnte diese Th ese erweitern und die Funktion von Co-pyright und Urheberrecht im Hinblick auf eine mediale Ökologie der Kulturentwicklung untersuchen. Dass die einstweilige Verfügung ge-gen die Downfall-Videos deren Produktion und Verbreitung verstärkt hat und nicht beendigt, zeigt an, dass das Gesetz hier, um es mit Geor-ges Bataille zu sagen, seine Übertretung auf produktive Weise impli-ziert. Jenseits der legalen Ebene des Urheberrechts besteht diese Über-tretung in einer insistenten Wiederkehr des Unverdrängten: in der Produktion einer zeitenthobenen Allgegenwart des größten Monst-rums der Geschichte, jener Figur, die niemals wiederkehren darf und auch gerade deshalb immer wieder auftaucht.

Dabei ist aber zunächst festzuhalten, dass die Logik der Verdoppe-lung und des Doppelgängertums der Figur Hitlers von Anfang an ei-gen war. Der Komiker Mel Brooks fand in seinem Regiedebüt THE PRODUCERS, einer schwarzen Komödie über zwei betrügerische Broad-way-Produzenten, die mit einem Hitler-Musical einen unverhoff ten Erfolg feiern, eine arithmetische Antwort auf die Frage, wie man mit dem absolut Bösen umgeht. In einer Szene des Films geht es um die

123 Vgl. Chris Bell, Emily Sternberg, „Emotional Selection in Memes: The Case of Urban Legends“, in: Journal of Personality and Social Psychology, Vol. 81, No. 6, 2001, S. 1028–1041.

124 Vgl. Adrian Johns, „Piracy as a business force“, in: Culture Machine, Vol. 10, 2009.

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Besetzung der Hauptrolle des Musicals „Springtime for Hitler“; es gibt die Rolle des „singenden Hitler“ und die des „tanzenden Hitler“ zu besetzen. Wie am Broadway üblich, kommen Hunderte von Anwär-tern zu der Anhörung, alle perfekt eingekleidet in Uniform, mit Schnurrbart und Hut, und während sie warten, üben sie noch einmal schnell den Hitlergruß und knallen die Hacken zusammen. Schließlich besteigt der Casting-Direktor die Bühne und sagt: „Would the singing Hitlers please wait in the aisle, we’re only seeing dancing Hitlers now“ [Würden die singenden Hitler bitte kurz im Foyer warten, wir sehen uns erst die tanzenden Hitler an], woraufhin die Hälfte der Diktato-ren-Avatare den Saal verlässt. Man geht mit dem absolut Bösen um, indem man es vervielfältigt und dann durch zwei teilt.

Damit aber treibt Brooks nur eine Logik auf die Spitze, die bereits in den klassischen Darstellungen Hitlers bei Charlie Chaplin und Ernst Lubitsch zu fi nden sind. Sowohl THE GREAT DICTATOR von 1940 und TO BE OR NOT TO BE handeln von Hitler-Doppelgängern. Lubitsch lässt seinen Film mit einem Auftritt Hitlers in der Warschauer Innen-stadt beginnen: der Schauspieler Joseph Tura, gespielt von Jack Benny, wirbt für sein neues Stück, eine anti-faschistische Farce, und spaziert dafür im Hitler-Kostüm durch das noch unbesetzte Warschau, zum Ent-setzen seiner Bewohner. Seine Darstellung Hitlers täuscht aber im weite-ren Verlauf des Films selbst hohe Gestapo-Kader. In THE GREAT DICTA-TOR wiederum nimmt der jüdische Frisör schließlich den Platz des Diktators Hynkel ein und beendet damit zugleich dessen Herrschaft. In diesen Verdoppelungen verbirgt sich mehr als nur ein dramaturgischer Kunstgriff . Sie verweisen auf eine tieferliegende Koppelung oder Rück-koppelung zwischen der historischen Figur Hitler und dem Kino. André Bazin beschreibt in einem Text für die Zeitschrift Esprit 1945, THE GREAT DICTATOR als Rache Chaplins dafür, dass Hitler seine Figur, den Tramp, kopiert und damit Karriere gemacht hat. Zwischen Kino und Hitler gibt es eine Dialektik, die um den Schnauz kreist:

„La dialéctique est subtile mais irréfutable, la stratégie invincible. Premi-ère passe: Hitler prend à Charlot sa moustache. Deuxième round: Char-lot reprend sa moustache, mais cette moustache n’est plus seulement une moustache à la Charlot, elle est devenue, entretemps, une mousta-che à la Hitler. En la reprenant Charlot possède donc une hypothèque sur l’existence même de Hitler. Il entraîne avec elle cette existence, il en dispose à sa guise.“125

125 André Bazin, „Sur le ‚Dictateur‘. Pastiche ou postiche ou Le néant pour une moustache“, in: Esprit, No. 12, S. 812–815 (hier S. 813).

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[Die Dialektik ist subtil, aber unwiderlegbar, die Strategie unbesieg-bar. Erster Schritt: Hitler klaut Charlie seinen Schnauz. Zweite Runde: Charlie nimmt den Schnauz zurück, aber dieser Schnauz ist nicht mehr nur ein Chaplin-Schnauz, er ist jetzt auch ein Hitler-Schnauz. Indem er den Schnauz sich wieder aneignet, besitzt er eine Hypothek auf die Existenz selbst von Hitler. Mit dem Schnauz übernimmt er die Existenz und verfährt damit auf seine Weise.]

Chaplins Rache gelingt, so Bazin, weil die Kunst des Films uns von der Last der Geschichte befreit, um nicht zu sagen erlöst:

„Hinkel, c’est la catharsis idéale de Hitler. Charlot ne tue pas son ad-versaire par le ridicule – dans la mesure ou il s’y essaie il est vrai que le film est manqué – il l’anéantit en récréant en face de lui un ‚Dictateur‘ parfait, absolu, nécessaire et qui nous laisse libre de tout engagement historique et politique.“126

[Hinkel, das ist die ideale Katharsis für Hitler. Charlie bringt seinen Feind nicht um, indem er ihn der Lächerlichkeit preisgibt – in dem Ma-ße, in dem er dies versucht, stimmt es in der Tat, dass der Film misslun-gen ist –, er vernichtet ihn, indem er vor seinem Angesicht einen ‚Dikta-tor‘ erschafft, der perfekt ist, absolut, und notwendig, und der uns von jedem historischen oder politischen Engagement befreit.]

Chaplins Hynkel ist eine Kunstfi gur wie Phädra, Alceste oder Sieg-fried, eine Figur, die kein Gott mehr aus der Welt schaff en kann, aber Hynkel bleibt mit Hitler auf eine Weise verbunden, so Bazin, die in der ganzen Geschichte der Kunst kein Vorbild kennt:

„Hinkel, à la limite, pourrait exister sans Hitler puisqu’il est né de Char-lot, mais Hitler, lui, ne peut plus faire qu’Hinkel n’existe sur tous les écrans du monde. C’est lui qui devient l’être accidentel, contingent, ali-éné pour tout dire d’une existence dont l’autre s’est nourri sans pourtant la lui devoir et qu’il anéantit en l’absorbant.“127

[Hinkel könnte letztlich auch ohne Hitler existieren, weil er aus Chap-lin heraus geboren wurde, aber Hitler kann nicht mehr erreichen, dass Hinkel nicht mehr auf allen Leinwänden der Welt existiert. Er ist es, der zum akzidentellen, kontingenten und entfremdeten Wesen wird, um al-les über eine Existenz zu sagen, aus der sich die andere speist, ohne die-ser ihr Sein zu schulden, und die sie vernichtet, indem sie sie absorbiert.]

126 Bazin, a.a.O., idem.127 Bazin, a.a.O., idem.

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Mit dieser Vernichtung durch Absorption, die Bazin als „cambriolage ontologique“ beschreibt, als ontologischen Einbruchsdiebstahl, rächt sich das Kino Chaplins an der historischen Figur Hitler. Die Argumen-tation erinnert an Bazins Text zur Ontologie des photographischen Bil-des, der zur selben Zeit entsteht, und weist Verbindungslinien zu seiner kritischen Apotheose des Neorealismus auf. So, wie das photographische Bild als Mumifi zierung der Zeit das Ding ins Bild überträgt und so die Markierungen seiner Endlichkeit löscht, befreit uns die Kunstfi gur Hynkel von der Last eines historischen und politischen Engagements mit der Figur, indem sie diese absorbiert und vernichtet. Katharsis der Figur, Katharsis des Zuschauers, beides gedacht als Erlösung von der Last der Geschichte: Bazin entwirft hier eine Aufhebung der Geschich-te als eschatologisches Szenario, als Heilsgeschichte und Szenario der Erlösung einer versehrten Welt durch die Kunst des Films, mit einer Emphase, die  – vielleicht paradoxerweise  – der spezifi schen histori-schen Situation der Nachkriegszeit, des Neuanfangs nach dem Krieg, geschuldet ist.

Der Hitler der Downfall-Videos nun macht auf Anhieb einen von der Geschichte gänzlich unerlösten Eindruck. Er verkörpert, im Mo-dus des Erleidens, geradezu die Macht dessen, was weiter oben die In-terpellation der Geschichte genannt wurde: Alles geht ihn an, er regt sich buchstäblich über alles auf, was sich im Feld der Erfahrung, das wir Geschichte nennen, zuträgt, als eine Art Blogger-Avatar, der im sozialen Netzwerk der digitalen Videoplattform zu allem seinen Kom-mentar abgibt. Seine Freiheit zum schrankenlosen Engagement hat dabei eine weitere Spaltung zur Voraussetzung: Die Aufteilung seiner Rede in gesprochenes und geschriebenes Wort. Die Downfall-Videos bedienen sich einer Technik der schriftlichen Bauchrednerei und attri-buieren Hitlers Reden einen wechselnden Sinn. Er sagt immer dassel-be, aber meint, kraft der Untertitel, stets etwas anderes.

Nun gehört die Ahnung, dass es auf den genauen Wortlaut der sprachlichen Äußerung nicht ankommt, schon zur Wahrnehmung der historischen Figur Hitler. Hitler war weniger dafür bekannt, dass er seine Ideologeme in eine brillante rhetorische Gestalt goß – es gibt bei Hitler kein oratorisches Äquivalent zur „Gettysburg Address“ –, als vielmehr für seine körperliche Erscheinung und Performance. Chap-lins THE GREAT DICTATOR spielt schon mit dieser Wahrnehmung: Wann immer Hynkel zur Rede ansetzt, wechselt er in eine unverständ-liche Parodie des Deutschen. Dieses Spiel setzte unter anderem Hel-mut Dietls mit seinem Film über die Hitler-Tagebücher von 1992 fort. Der Titel des Films, SCHTONK!, ist eines der Kunstworte, die Hynkel in

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Chaplins Film verwendet; indem er es zum Titel des Films macht, sug-geriert Dietl, dass es für all diejenigen, die glauben wollten, dass die Hitler-Tagebücher echt waren, gar keine Rolle spielt, was Hitler sagt (oder schreibt), so lange es nur der Führer ist, der spricht. Mit dem Abstand von Rede und Sinn spielt aber auch ein Beispiel, das fast zeit-gleich mit den ersten Downfall-Videos 2006 auftauchte, ein YouTube-Video des damaligen Bremer Filmstudenten Florian Wittmann, das eine Filmaufnahme einer Hitler-Rede lippensynchron mit der Ton-aufnahme eines Sketchs unterlegt, in dem der Komiker Gerhard Polt eine Figur über die Gemeinheiten eines Leasing-Vertrags sinnieren lässt.128

Andererseits ist es gerade die Belanglosigkeit ihrer Rede, die es der Hitler-Figur erlaubt, sich in alle möglichen Zusammenhänge einzutra-gen. Weil es im Grunde nichts zu übersetzen gibt, passt sie mit ihren Wutausbrüchen überall hinein. So folgen die Downfall-Videos dersel-ben Logik wie die Doppelgängerfi guren vor ihnen: Es gibt einen Hitler für jeden Anlaß.

Die Downfall-Videos stellen zugleich eine gebrochene Fortschrei-bung eines Schlüsselements dessen dar, was Ian Kershaw als den „Hit-ler-Mythos“ bezeichnet.129 „Wenn das der Führer wüßte“ war ein Satz, mit dem die Getreuen des Diktators die Evidenz von Unrecht und Korruption mit ihrem festen Glauben an Hitler als Kraft des Guten zu versöhnen versuchten. „Wenn das der Führer wüßte“, dann würde der und der Missstand gleich ein Ende haben, so die Logik des Satzes, der Hitler bemerkenswerterweise die göttlichen Attribute der Allgüte und der Allmacht zu-, das Attribut der Allwissenheit aber abspricht. Die Downfall-Videos handeln davon, was passiert, wenn der Führer end-lich erfährt, was der Fall ist. Bei dem vermeintlich so gottähnlichen Diktator, dem allerdings schon das Attribut der Allwissensheit fehlt, steht es auch um die Allmacht nicht zum Besten. Ohnmächtige Wut ist das einzige Register, das dem Diktator im Bunker zu Gebote steht – ohnmächtige Wut über den ausgebliebenen Gegenangriff in Hirsch-biegels Film, ohnmächtige Wut über alles, was ihm sonst noch berich-tet wird in den Downfall-Videos.

Es würde allerdings zu kurz greifen, diesen Gestus, den Bruno Ganz so plastisch darstellt, nur als Ausdruck der Ausweglosigkeit der Situati-on im Bunker am Ende des Krieges zu deuten. Tatsächlich kennzeich-

128 Vgl. http://youtu.be/9-Wd0qLfJPY, zul. aufger. am 12.08.2014.129 Ian Kershaw, The ‚Hitler Myth‘. Image and Reality in the Third Reich, Oxford,

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net der Gestus der ohnmächtigen Wut die Figur Hitlers schon auf dem Höhepunkt der Macht. Viktor Klemperer hält in seinen Tagebüchern mit Eintrag vom 20. Juli 1933 folgende Beobachtung fest:

„Eine Tonfilm-Aufnahme Hitlers, wenige Sätze vor großer Versamm-lung – geballte Faust, verzerrtes Gesicht, wildes Schreien – ‚am 30. Ja-nuar haben sie noch über mich gelacht, es soll ihnen vergehen, das La-chen…‘ Es scheint, vielleicht ist er im Augenblick allmächtig – das aber war Ton und Gebärde ohnmächtiger Wut. Zweifel an seiner Allmacht? Spricht man immerfort von Jahrtausenddauer und vernichteten Geg-nern, wenn man dieser Dauer und Vernichtung sicher ist?“130

Der Hitler auf dem Höhepunkt seiner Macht spricht gar nicht an-ders als der Hitler im Bunker. Der Zweifel an der Allmacht, der im Bunker in die ausweglose Einsicht in die faktische Ohnmacht des „größten Feldherren aller Zeiten“ mündet, gehört zum Gestus der Fi-gur immer schon dazu. Klemperer scheint schon den Hitler aus den Downfall-Videos zu beschreiben, aber nicht nur, weil er genau erkennt, dass die ohnmächtige Wut den Kern der Hitler-Figur ausmacht. Be-merkenswert ist auch, dass Klemperer einen fi lmischen Avatar be-schreibt, ein Stück Propagandafi lm, das den Hitler zeigt, den dieser selbst auf allen Leinwänden der Welt sehen wollte. Was die Downfall-Videos als den Sinn der Hitler-Figur freilegen, war nicht nur immer schon off enkundig. Was Hirschbiegel und Ganz fein säuberlich anti-quarisch rekonstruieren, sorgsam darauf bedacht, dass ihre fi lmische Darstellung mit der ‚Realgeschichte‘ nicht in Konfl ikt gerät, war im-mer schon eine Figur des Kinos, ihrer Genese nach, die Bazin spekula-tiv nachzeichnet, aber auch ihrer Struktur nach, die Klemperer ins Auge fällt, sobald er Hitler als Figur auf der Leinwand dingfest machen kann. Was die Downfall–Videos praktizieren, ist weniger ein Miss-brauch von Historienfi lmen als eine Weiterverwendung einer Figur, die immer schon den Zuschnitt eines fi lmischen Avatars ohnmächtiger Wut hatte. Eine Weiterverwendung welcher Art aber, und wozu?

In künstlerischen Kategorien lassen sich die Downfall-Videos am ehesten als ‚appropriation art‘ beschreiben und sie ließen sich vor Ge-richt sicherlich auch mit den Argumenten verteidigen, die amerikani-sche Juristen zum Schutz der Praktiken von Appropriations-Künstlern entwickelt haben.131 „Getting the hand out of art and putting the brain

130 Viktor Klemperer, Tagebücher 1933-1945, Berlin, 1995, S. 42–43.131 Vgl. dazu insbesondere William M. Landes, „Copyright, Borrowed Images and

Appropriation Art: An Economic Approach“,

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in“, lautet eine Defi nition für ‚appropriation art‘, und auf das Leasing-Video von Florian Wittmann triff t dies sicherlich zu. Die Arbeit basiert zwar auf einer virtuosen fi lmtechnischen Leistung; die Hand ist also noch im Spiel. Das Wesentliche aber ist die Idee der Neuverschaltung von Bild und Ton und die Tatsache, dass der Urheber des Videos iden-tifziert werden konnte, es also einen Künstler gibt. Man könnte das Leasing-Video auch dem ‚found footage‘-Film zuordnen, einer Unter-gattung des Experimentalfi lms. Die Downfall-Videos hingegen sind zwar oft auch virtuos gemacht, stammen aber größtenteils von anony-men Urhebern, die wohl auch als Künstler identifi ziert werden wollen, darin vergleichbar den meisten Graffi ti-Künstlern. Im Feld der ‚street art‘ gibt es mittlerweile einen kanonisch gewordenen Künstler, den Engländer Banksy. Bei diesem handelt es sich möglicherweise um ein Phantom oder um einen Sammelnamen, den mehrere Künstler und Aktivisten gemeinsam benutzen. Seine Werke weisen aber einen iden-tifi zierbaren Stil auf und werden gehandelt, in Gallerien und Auktio-nen, womit ihr Status als Werke und derjenige von Banksy als Künstler zumindest ökonomisch als abgesichert gelten darf. Die Downfall-Vi-deos hingegen bewegen sich unzweifelhaft außerhalb der institutionel-len Logik der Kunst, aber auch außerhalb des Feldes des Experimental-fi lms, der ja mittlerweile auch weitgehend zum Kunstbereich zu zählen ist.132

Wenn es ihrem Gestus der Appropriation an Kunstwert fehlt, schei-nen die Downfall-Videos auch nicht als Kandidaten für eine ‚Vernich-tung durch Absorption‘ und für eine Aufhebung der Geschichte durch die Kunst des Films im Sinne Bazins in Frage zu kommen: Es gibt keinen Autor, dessen künstlerische Tat die Aufhebung der Geschichte und des historischen Sinns wäre. Zugleich steht außer Frage, dass sie die historiographische Sinnstruktur aufl ösen, die Hirschbiegel mit sei-nem Film so sorgsam aufzubauen versucht. An die Stelle der Erziehung durch die Form setzen die Downfall-Videos die Umerziehung der Form: Von der ganzen Erzählung vom Dikator im Bunker bleibt nur ein Clip übrig, der laufend an ganz andere Sinnzusammenhänge ange-

http://www.law.uchicago.edu/files/files/113.WML_.Copyright.pdf, zul. aufger. am 12.08.2014.

132 Dieses Argument gilt im Übrigen auch für das „Leasing“-Video. Es ist aufschluss-reich, dass Florian Wittmann, der sich mittlerweile an der Filmakademie Ludwigs-burg zum Animationsfilm-Spezialisten ausbilden ließ, das Video in seiner Filmogra-phie nicht aufführt. Vgl. http://www.filmakademie.de/aktuelles-veranstaltungen/veranstaltungen/porsche-award/shortlist-vitas/florian-wittmann/, zul. aufger. am 12.08.2014.

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koppelt wird. Zugleich sind die Downfall-Videos das Ergebnis einer medialen Praxis, die viel mit der Utopie eines Kinos gemeinsam hat, das aus dem Übergang einer „Teilnahme dem Wunsche nach“ zu einer Teilnahme mit der Kamera in der Hand hervorgeht. Die Schwelle zur Produktion eines Downfall-Videos ist sehr niedrig; es reichen ein Computer mit Internetanschluß und zwei Programme, eine Software zur Bereitstellung des Clips und eine Software zur Untertitelung. Da-mit aber handelt es sich auch um eine mediale Praxis, die mit dem, was wir in einem modernen Sinn Geschichte nennen, insofern eine Iso-morphie aufweist, als jeder sich an dieser Praxis beteiligen kann. Darin liegt, wenn man so will, der historische Sinn des Anonymats der Her-steller der Videos: Es benennt in der Absenz des Eigennamens die Ge-gebenheit, dass es sich um eine Praxis der Historiographie handelt, die jedem off ensteht.

Allerdings handelt es sich im Unterschied zu dem Film, den die Videos appropriieren, nicht um eine Form der Historiographie, die aus der Sicht der professionellen Historiographie ernst genommen, ge-schweige denn als Konkurrenz wahrgenommen würde. Wenn schon nicht um ‚appropriation art‘ in einem strengen Sinne, handelt es sich bei diesen Videos doch immerhin um satirische Kommentare. Um die Komödie in ihren verschiedenen Spielarten allerdings hat sich die his-toristische Maschine noch nie gekümmert. Kein Geschichtsprofessor hat je Mel Brooks’ Arithmetik der tanzenden und singenden Hitler-Figuren als „pervers und gefährlich“ bezeichnet. Im Falle von DER UN-TERGANG traf dieses Verdikt wohl Hirschbiegels Film; an einer Neuauf-nahme der Kontroverse aus Anlaß des Constantin-Prozesses gegen YouTube scheint aber keiner der Protagonisten des anfänglichen Skan-dals ein Interesse gehabt zu haben.

Das zeigt entweder an, dass diese Videos völlig harmlos sind, oder aber dass die historistische Maschine nicht mitbekommt, was hier vor sich geht: Dass also die Gegenstandsbestimmung, von der sie in ihrer doppelten, auf den Zuschauer und die Geschichte gerichteten Sorge ausgeht, den post-kinematographischen Bedingungen des Films nicht mehr angemessen ist.

Mein Vorschlag wäre es, von letzerem auszugehen. Zur Zirkulation der Hitler-Figur gehört ihre Ubiquität, die Tatsache, dass sie überall auftaucht und in den Downfall-Videos zu allem etwas zu sagen hat. Zu dieser Zirkulation gehört aber auch, dass die Hitler-Figur immer schon eine fi lmische Figur war, ein ‚realgeschichtlicher Akteur‘, zu dessen Ge-stalt die fi lmische Form immer schon gehörte, und nicht zunächst ein ‚realgeschichtlicher‘ Akteur, der danach auch noch in Filmen zu sehen

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war. Ihre Genese und Struktur alleine machen die Hitler-Figur zu ei-nem Testfall für die Epistemologie der historistischen Maschine. We-der die Frage nach der Faktentreue noch die Th ese der Gefährlichkeit einer allzu menschlichen Darstellung des Diktators kommen einer Fi-gur bei, die immer schon auch fi lmische Gestalt hatte. Vollends ent-zieht sich ihrem Zugriff , was ein Phänomen wie das Downfall-Meme über den Wandel der Struktur der historischen Erfahrung und den Begriff der Geschichte aussagt.

In einem neueren Aufsatz über den Exzess animierter Körper geht Christian McCrea von der Beobachtung aus, dass die Körper der Figu-ren in Animationsfi lmen physischer Gewalt gegenüber unempfi ndlich scheinen.133 Die Physik animierter Körper folgt spätestens seit Disney dem sogenannten „squash and stretch“-Prinzip: Die Körper sind ohne Verletzungsfolge beliebig dehn- und formbar, so lange die Masse kons-tant bleibt. Animation ist so gesehen Morphologie in Aktion: Ein Durchdeklinieren möglicher Körperformen an einem konstanten Kör-pervolumen. Entsprechend erweisen sich die Helden der Animation als grenzenlos regenerationsfähig. Ganz egal, wie tief der Canyon ist, in den Wile E. Coyote bei seinen stets erfolglosen Versuchen, den Road-runner einzufangen, jeweils fällt, ganz egal, wie groß die Felsen sind, die auf seinem Kopf landen, wenn mal wieder eine Falle über ihrem Erbauer zuschnappt anstatt über dessen potentieller Beute, stets kehrt der nicht ganz so listige Wolf unversehrt wieder zurück und heckt ei-nen neuen Plan aus, der allerdings genauso zum Scheitern verurteilt ist wie der letzte.

Walter Benjamin hat in einem kurzen Text über Disney und Mickey Mouse diese Plastizität der Körper als Vorzeichen einer post-humanen Ordnung gelesen:

„In diesen Filmen bereitet sich die Menschheit darauf vor, die Zivili-sation zu überleben. Die Micky-Maus stellt dar, daß die Kreatur noch bestehen bleibt auch wenn sie alles Menschenähnliche von sich abgelegt hat. Sie durchbricht die auf den Menschen hin konzipierte Hierarchie der Kreaturen.“134

133 Vgl. Cristian McCrea, „Explosive, Expulsive, Extraordinary: The Excess of Anima-ted Bodies“, in: Animation, Vol. 3, No. 1, 2008, S. 9–24.

134 Walter Benjamin, „Zu Micky-Maus“, in: Gesammelte Schriften, Frankfurt, 1985, S.  144–145. Adorno wiederum erkannte in solchen Körperdarstellungen gar Wegbereiter des Faschismus, wobei sich natürlich die Frage stellt, weshalb Ani-mationsfilme dieses Zuschnitts in der faschistischen Filmproduktion keine Rolle spielten. Zu der Auseinandersetzung zwischen Benjamin und Adorno vgl. Antonio

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Die Figuren der Animation weisen demnach in der Jetztzeit schon vo-raus auf eine andere Ordnung des Wissens und der Erfahrung. McCrea schlägt vor, die ewige Wiederkehr von Wile E. Coyote nicht in psycho-analytischen Begriff en als Symbolisierung des Todestriebs zu beschrei-ben oder den Wolf als einen Untoten. Vielmehr schlägt er für die Un-versehrbarkeit der Cartoon-Figuren den Begriff des „haunted unlife“ vor, des spukhaften Unlebens. Cartoon-Figuren spuken durch ihre Welt, sie sterben nie, aber richtig am Leben sind sie auch nicht. In ei-nem anderen Aufsatz über Animation wies Sean Cubitt jüngst darauf hin, dass die Idee der Animation135 im Sinn einer Attribution von In-tentionalität, Willen und lebensförmiger Selbstorganisation an unbe-lebte Objekte und technische Geräte historisch gesehen relativ jung ist.136 Die Idee der Animation tritt ungefähr zur selben Zeit auf wie die moderne biologische Konzeption des Lebens, damit aber auch zur sel-ben Zeit wie die moderne Konzeption der Geschichte, an der Schwelle zum 19. Jahrhundert. Animation ist etwas anderes als die Attribution menschlicher Züge an Tiere in den Fabeln des 18. Jahrhunderts, und auch kein Atavismus, ein Nachleben des Animismus unter modernen Bedingungen, sondern ein genuin modernes Phänomen: eine Aus-dehnung der Idee des selbstorganisierenden Organismus auf die Ding-welt. Diese Ausdehnung geht einher mit einer Verkehrung und Ver-weigerung. Wenn die Biologie, wie Wolfgang Lefèvre festhält, eine historische Wissenschaft ist,137 dann zählt die Animation zu ihren Ge-genformationen. Auf das Leben als historischen Prozess, als Verwandt-schaftsfolge von auseinander hervorgehenden Organismen, antwortet die Animation mit dem Unleben ihrer Figuren, die sich weigern mor-phologisch stabil und sterblich zu sein. Ohne von ihrer medientechni-schen Realisierung her eine animierte Figur zu sein, gehört die Hitler-Figur der Downfall-Videos dieser Gegenordnung an. Indem sie auf die

Somaini, „‚Collective laughter‘ as ‚a theurapeutic release of unconscious energies‘“, Vortragsmanuskript, NECS-Tagung Prag, Juni 2013.

135 Der Begriff des Animationsfilms stammt wahrscheinlich vom französischen Kri-tiker André Martin und taucht um 1953 zum ersten Mal auf. Cubitts Wortge-brauch projiziert einen Sachverhalt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf das frühe 19. Jahrhundert zurück. Vgl. Hervé Joubert-Laurencin, „Du bon usage des primitifs: Émile Cohl dans les écrits d’André Martin“, in: 1895, No. 53, 2007, S. 226–239.

136 Vgl. Sean Cubitt, „Observations on the History and Uses of Animation Occasi-oned by the Exhibition Eyes, Lies and Illusions Selected from Works in the Werner Nekes Collection“, in: Animation, Vol. 3, No. 1, S. 49–65.

137 Wolfgang Lefèvre, Die Entstehung der biologischen Evolutionstheorie, Frankfurt am Main, 1984.

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Interpellation der Geschichte mit einer ebenso unerschöpfl ichen wie ohnmächtigen Wut antwortet, die sich an jedem Anlaß entzünden kann, gleicht der Hitler der Downfall-Videos nicht zuletzt Wile E. Co-yote, der nie zum Ziel kommt, aber auch nie aufgibt. Sie führt das spukhafte Unleben einer historischen Figur, die sich weigert ein Fak-tum der Vergangenheit zu sein und den Weg alles Geschichtlichen zu gehen und sie greift die Struktur der historischen Erfahrung an, indem sie aus dem Kino heraus das ganze Feld dieser Erfahrung zu ihrem Anliegen macht, aber auch, indem sie auf die Interpellation der Ge-schichte im Übermaß reagiert und damit deren Mechanik off enlegt. Die Frage, die sie aufwirft, ist in der Tat nicht die, ob hier ein Film die Fakten der Vergangenheit adäquat repräsentiert. Die Frage ist vielmehr, wie das realgeschichtliche Faktum des medialen Unlebens solcher his-torischer Figuren verändert, was Geschichte ist und wie sie erfahren wird.

Epilog: Die Montage ist das Ganze

„Freie Sicht aufs Mittelmeer: Junge Schweizer Kunst mit Gästen“ war der Titel einer von Bice Curiger kuratierten Retrospektive im Zürcher Kunsthaus im Sommer 1998. Malerei und Plastik dominierten die Auswahl, aber eine Arbeit, die auf einem Videobildschirm zu sehen war, sorgte für besonderes Aufsehen. Näherte man sich dem Raum, in dem der Bildschirm stand, war schon aus einiger Distanz zu spüren, dass diese Arbeit große Aufregung auslöste. Sie zog die meisten Besu-cher an, band diese länger als alle anderen Exponate und war der Aus-löser intensiver, wenn auch sotto voce geführter Gespräche. Es war unverkennbar, dass die Arbeit die Besucher aus der Andacht ihrer er-lernten Kunstbetrachtungshaltung herausriss und den Modus der An-mutung durch die künstlerische Qualität des Werks durch etwas ande-res, off enbar Aufregenderes ersetzte. Die Arbeit war das Videoband TELEPHONES des in Genf aufgewachsenen Amerikaners Christian Mar-clay von 1995, ein siebeneinhalb Minuten langer Zusammenschnitt von Clips aus Hollywood-Filmen, die bekannte Stars im Umgang mit Telefonen zeigte: Beim Abheben, Wählen, Sprechen, Aufl egen. Mar-clays Arbeit folgte einem Prinzip, das Matthias Müller 1990 in HOME STORIES verwendete, einem sechsminütigen Zusammenschnitt von Szenen aus Hollywood-Filmen, in denen weibliche Stars sehnsuchts-voll aus dem Fenster schauen, sich erschreckt umdrehen, als jemand den Raum betritt oder erschöpft und geschlagen in einen Sessel oder

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auf ein Bett sinken. Während Müllers Film mittlerweile zu den Klassi-kern des Experimentalfi lms zählt und auf Festivals für schwullesbische Filme eine Weltkarriere absolviert hat, reiht sich Marclays Arbeit im Museum unter Werke der bildenden Kunst ein. Müllers HOME STO-RIES IST ein ‚found footage‘-Film, Marclays Arbeit ein Werk der ‚appro-priation art‘. Die Aufregung, die Marclays Arbeit bei den Besuchern im Züricher Kunsthaus auslöst, hat mit Erinnerung und Wiedererkennen zu tun. Während man vor einem Gemälde oder einer Plastik steht und sich fragt, welche Einfl üsse hier auszumachen sind, wie der Künstler diese so verarbeitet hat, dass etwas genuin Neues entstanden ist, und welchen verborgenen Sinn sein Werk transportiert, den wir durch eine hermeneutische Anstrengung auszulegen aufgefordert sind, wirft die Arbeit von Marclay ganz andere Fragen auf: Wer ist der Schauspieler? Wie heißt der Film? Habe ich ihn gesehen? Kann ich den Film oder den Schauspieler erkennen, ohne den Film gesehen zu haben? Vom Modus der refl ektierten Kunstbetrachtung wechselt das Publikum in den des Trivial Pursuit-Spiels, des Quiz. Ob es nun die Freude über die Abwechslung ist oder die Erleichterung darüber, auf einer Ebene des Wissens angesprochen zu werden, die einem ohnehin und ohne beson-dere Bildungsanstrengung zugänglich ist: Es herrscht Heiterkeit vor dem Monitor, der Marclays Arbeit zeigt.

Fünfzehn Jahre später zeigt Marclay in der White Cube Gallery in London eine neue Arbeit, die nach demselben Prinzip funktioniert wie TELEPHONES, dieses aber radikalisiert. THE CLOCK ist eine 24-stündige Montage von tausenden Filmausschnitten, die Uhren zeigen, und die zusammen den Ablauf eines ganzen Tages ergeben. Kenner des Experi-mentalfi lms erinnert die Arbeit nicht zuletzt an 60 Seconds, eine Arbeit von Christoph Girardet aus dem Jahr 2002, einem häufi gen Partner von Matthias Müller, die nur eine Minute lang ist, aber vergleichbar aufgebaut. THE CLOCK wird von Bice Curiger, die sich für die Ausgabe 2011 verantwortlich zeichnet, an die Biennale nach Venedig eingela-den. Die Arbeit gewinnt den Hauptpreis und geht danach auf Tournee durch die großen Museen der Welt. Auf einer globalen Bühne wieder-holt sich nun der Eff ekt, den TELEPHONES im Züricher Kunsthaus hat-te. Die Kritik ist enthusiastisch, das Publikum strömt in die Museen und Gallerien rund um die Welt, um die Arbeit zu sehen. Große Aus-stellungen gehen mitunter auf Tournee, aber mit THE CLOCK be-kommt erstmals in der Geschichte der zeitgenössischen Kunst ein ein-zelnes Werk seinen eigenen Tourneeplan. Man ist versucht, THE CLOCK in Abwandlung eines alten Filmwerbeslogans als „the most ea-gerly awaited event in contemporary art history“ zu bezeichnen. In ei-

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ner der begeisterten Kritiken erklärt die Schriftstellerin Zadie Smith THE CLOCK in der New York Review of Books zur Quintessenz des Kinos. THE CLOCK, schreibt Smith,

„is neither bad nor good, but sublime, maybe the greatest film you have ever seen, and you will need to come back in the morning, the evening, and late at night, abandoning everything else, packing a sleeping bag…“138

Marclays Kunstwerk THE CLOCK, so Smith, ist „the greatest fi lm you have ever seen“, wohl auch deshalb, weil es die Macht des Kinos zur Absorption unseres ganzen Lebens ausspielt: Man muss sich das ganze Werk anschauen, vom Morgen bis am Abend, und alles andere dafür aufgeben. Was mit einem Museumsbesucher passiert, wenn er sich Douglas Gordons 24 HOUR PSYCHO, die auf einen Tag zerdehnte Pro-jektion von Hitchcocks Film, in voller Länge anschaut, hat Don DeLi-llo jüngst in seinem Roman Point Omega erkundet: Er verwandelt sich in Norman Bates. Hier scheint sich die Faszination parzellieren zu las-sen, aber das Aufgehen im Werk scheint auch hier der angemessene Modus der Rezeption zu sein. Christophe Girardet stellt zwar in einem Interview zu THE CLOCK den Vorrang der Kunst vor dem Film, von dem Zadie Smith wie selbstverständlich ausgeht  – es bleibt einem Werk der ‚appropriation art‘ vorbehalten, „the greatest fi lm you have ever seen“ zu sein – verweist aber ebenfalls auf die Übereinstimmung der fi lmischen Zeit mit der Lebenszeit hin, um die Faszination des Werks zu erklären:

„[Die Wirkmacht] des klassischen Kinos ist oft stärker als die der Kunst. … Und Marclays Arbeit bleibt vor allem Kino, sortiert nach Uhrzeit. Das Magische ist hier die Koppelung der Filmzeit an die Realzeit. Le-benszeit vergeht, während wir Filme betrachten.“139

Für Smith off enbart THE CLOCK in der Feinstruktur, dass die Filmzeit ein Modus der Realzeit ist, wobei die unterschiedlichen Modi der fi l-mischen Zeit den Schlüssel zu dieser Einsicht bilden:

„THE CLOCK makes you realize how finely attuned you are to the rhythms of commercial (usually) American film. Each foreign clip is

138 Zadie Smith, „Killing Orson Welles at Midnight“, in: The New York Review of Books, http://www.nybooks.com/articles/archives/2011/apr/28/killing-orson-wel-les-midnight/, zul. aufger. am 12.08.2014.

139 Christoph Girardet, Interview mit Jens Hinrichsen, in: Monopol, http://www.monopol-magazin.de/artikel/20104023/marclay-the-clock-Christoph-Girardet-interview.html, zul. aufger. am 12.08.2014.

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spotted at once, long before the actor opens his mouth. And it’s not the film stock or even the mustaches that give the game away, it’s the vari-ant manipulation of time, primarly its slowness, although of course this ‚slowness‘ is only the pace of real time.“140

In die große Dichotomie von fi lmischer Zeit und realer Zeit trägt Smith die kleinere Dichotomie von amerikanischem Kino und „for-eign fi lm“ ein. Den „foreign clips“ schreibt sie eine Qualität der Lang-samkeit zu, die „only the pace of real time“ sei, also der Realzeit ent-spreche. Der paradoxe Eff ekt dieser Langsamkeit ist nun allerdings, dass sie uns begreifen lässt, wie sehr wir auf den schnelleren Rhythmus des kommerziellen Kinos eingestellt sind. Dass die fi lmische Zeit des kommerziellen Kinos nicht die Realzeit ist, erfahren wir aber erst durch den Kontrast der Montage. Man könnte auch sagen: Der Eff ekt dieser Montage besteht darin, eine Zeiterfahrung zu irrealisieren, die zuvor als real, um nicht zu sagen natürlich, empfunden wurde. Die Geschich-te des Films, verstreut und neu geordnet in einer Abfolge von Tausen-den von Clips, erweist sich so als Modell und Modus der Erfahrung geschichtlicher Zeit.

So oder so hat die Koppelung von fi lmischer Zeit und Lebenszeit in einer Montage, die einen ganzen Tag abdeckt und damit einen grund-legenden Kreis der Lebenszeit schließt, etwas Elektrisierendes. Es scheint fast, als hätte Marclay mit THE CLOCK das Vesprechen einge-löst, das Kracauer der Montage zuschrieb, nämlich die, ein verlorenes Ganzes im Modus der kritischen Artikulation wieder herzustellen. Möglicherweise gilt der Enthusiasmus der Zuschauer auch hier einer Revolution, die durchaus auch das Zeug zur Quelle des Erschreckens hat: einer Revolution, die an einem Ort stattfi ndet, der nicht unter die Jurisdiktion der historistischen Maschine fällt, und die sich vollzieht durch die Subversion der Geschichte durch die Kunst und der Kunst durch den Film.

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