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Führung und Demokratie im Europa der Zwischenkriegszeit

Date post: 08-May-2023
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176 Philipp MUiier

auszudehnen.47 René-Paul Duchemin war aufgrund von Kollabora­ tionsvorwürfen nach 1945 in der Fortsetzung seiner früheren Tätig­ keit eingeschränkt, verteidigte aber dennoch öffentlich die Politik der wirtschaftlichen Absprachen der 193oer Jahre vehement gegen Vorwürfe, dabei habe man nicht im Sinne des öffentlichen Wohls, sondern des französischen Malthusianismus gehandelt.w Hermann Bücher hatte aufgrund eines langwierigen Entnazifizierungsverfah­ rens Gelegenheit, die entstehende Parteienlandschaft der westlichen Besatzungszonen zu beobachten. Aus seinem Missfallen über die aus seiner Sicht parteipolitisch motivierten Auseinandersetzungen machte er keinen Hehl, hoffte jedoch, class seine Ansichten in der Sozialdemokratie eine Stimme finden könnten, die aus seiner Sicht die politischen Verhältnisse in Deutschland in Zukunft bestimmen würde. »Politisch bin ich der Ansicht, class die CDU eine Samm­ lung aller derer darstellt, die sich noch eines Besitzes erfreuen und deshalb nicht zahlen wollen. Gedanklich stehe ich deshalb der SPD näher, die ich überhaupt so wie die Verhältnisse sich entwickeln, für die zukünftige deutsche Volkspartei halte.«49

Wenn diskutiert wird, ob der gegenwärtig abnehmende Einfluss intermediärer wirtschaftlicher Organisationen mit einem die De­ mokratie auflösenden Kapitalismus einhergeht.w kann auch die Frage nach einer demokratischen Dimension in der Kritik wirt­ schaftlicher Interessenvertreter am Parlamentarismus der 192oer und frühen 193oer Jahre neu gestellt werden. Die Geschichte der Demokratie wird dann weniger im Sinne einer Kette von Erfolgen und Rückschritten und vielmehr als eine Abfolge von Anpassungen an sich ständig wandelnde gesellschaftliche Verhältnisse fassbar.

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47 Siehe das Protokoll der Aufsichtsratssitzung vom 2r. Februar r947, Schering Archiv Bo-373.

48 René P. Duchemin, »Les problèmes économiques actuels. Sur les conditions de la Jutte de l'industrie française«, in: Cent cinquantième anniversaire de la société d'encouragement pour l'industrie nationale et problèmes actuels de l'economie française, Paris r95 r, S. r49.

49 Hermann Bücher, An Hans von Raumer, r2. 3. r947. Allgemeine Korrespon­ denz Hermann Bücher, Firmenarchiv AEG-Telefunken, r.2060A 5099.

50 Vgl. Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokrati­ schen Kapitalismus, Berlin aorj.

/ Moritz Föllmer

Führung und üernokratle in Europa1

Der vorliegende Beitrag argumentiert gegen ein verbreitetes Bild vom Zusammenhang zwischen der Krise der Demokratie und dem Ruf nach Führung im Europa der Zwischenkriegszeit. Demzufolge setzten sich autoritäre, faschistische und kommunistische Diktato­ ren nicht bloB innenpolitisch durch, sondern genossen erhebliches Prestige auch über die Grenzen ihres jeweils eigenen Landes hinaus. Dass die Demokratie derartig unter Legitimationsdruck geriet, lag nicht zuletzt daran, class die Zeitgenossen Erwartungen an ihre »Führer« richteten, die in pluralistischen Systemen letztlich uner­ füllbar waren. Charismatische Persönlichkeiten, rasche und weit­ reichende Entscheidungen und ein rücksichtsloser Umgang mit Gegnern wurden nicht nur goutiert, sondern gehörten zum Anfor­ derungsprofil für Politiker. Dem Leitbild des »Führertums« wohnte eine mythische Dimension inne, der kein von parlamentarischen Konstellationen abhängiger Regierungschef gerecht werden konnte und der allein der Modus der propagandistischen Selbstinszenie­ rung entsprach. Wie es der Politologe Marco Tarchi formuliert hat: »The cult of the political leader was perhaps the most specific fea­ ture of fascist movements, and directly opposed to a democratic mentality.«2

Für die kritische Lektüre des Textes danke ich Rüdiger Graf, für Errnunte­ rung und nützliche Hinweise Tim B. Müller.

2 Marco Tarchi, » The Role of Fascist Movements«, in: Dirk Berg-Schlosser/ Jeremy Mitchell (Hg.), Authoritarianism and Democracy in Europe, r9r8-r939. Comparative Analyses, Basingstoke 2002, S. ror-r28, hier: S. no.

178 Moritz Föllmer

Diese Sicht erscheint zwar auf den ersten Blick plausibel, ist je­ doch zu einseitig, um der politischen Geschichte Europas in der Zwischenkriegszeit gerecht werden zu können. Deshalb wird hier die These vertreten, class die zeitgenössische Erwartung personifi­ zierter Führung mit der Demokratie nicht unvereinbar war. Eine solche partielle Revision ergibt sich aus einer Reihe neuerer Studien zu verschiedenen demokratischen Politikern, die diese zunehmend aus ihrem historischen Kontext heraus begreifen, statt sie durch die Brille ihrer zeitgenössischen Gegner zu sehen oder an wie auch im­ mer gearteten heutigen Maflstäben zu messen. Sie wird ferner von einigen aktuellen Analysen von Führung als übergreifendem Phä­ nomen nahegelegt. Yves Cohen, ursprünglich Unternehmenshisto­ riker, hat vor Kurzem die Suche nach dem »chef«, »vozdh«, »leader« oder »Fûhrer« in Frankreich, Russland bzw. der Sowjetunion, den Vereinigten Staaten und Deutschland vom späten 19.Jahrhundert bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs untersucht. Seine so breite wie subtile, Wirtschaft und Politik, Diskurse wie Praktiken einschlieliende Studie geht von der Überlegung aus, class man den historischen Blick nicht von vornherein auf den Personenkult um die bekannten Diktatoren beschränken solle. Vielmehr habe sich der Ruf nach Führung aus einer paneuropäischen-amerikanischen Problematisierung formaler Organisation gespeist, die die Frage nach der Zukunft des herausgehobenen Individuums in rationali­ sierten Unternehmen und groBräumigen politischen Systemen auf­ geworfen habe. Diktatorische Herrschaft sei nur eine der mögli­ chen Konsequenzen gewesen, die sich daraus hätten ziehen lassen.3 Insofern stimmt Cohens Interpretation mit der Studie des Politik­ historikers Henk te Velde zu Führungsstilen und Images niederlän-

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Vgl auch Mark Mazower, Der dunk.le Kontinent, Europa im 20. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 17-67, oder die vergleichenden Bemerkungen bei Thomas Mergel, »Dictatorship and Democracy, 1918-1939«, in: Helmut Walser Smith (Hg.), The Oxford Handbook of Modern German History, Oxford zcr r, S. 423-452, hier: S. 436f. Als klassische Fallstudie Ian Kershaw, Der Hitler-Mythos. Führerkult und Volksmeinung [1980], Stuttgart 2002.

3 Yves Cohen, Le siècle des chefs. Une histoire transnationale du commande­ ment et de l'autorité (1890-1940), Paris 2013; ausführlich dazu Moritz Föll­ mer, »Leadership in Modern Times. Reflections on Yves Cohen's Le siècle des cbe]s«, in: History, Culture and Modernity 2 (2014), S. 65-81.

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Führung und Oemokratie in Europa 179

discher Ministerpräsidenten vom liberalen 19. J ahrhundert bis zu den sozialdemokratisch geprägten Nachkriegsjahrzehnten über­ ein."

Ferner hat der stark historisch arbeitende Politologe Archie Brown eine umfassende Analyse des »myth of the strong leader« vorgelegt, dessen Auswirkungen er ebenso in demokratischen wie in revolutionären und diktatorischen Kontexten verfolgt.5 Seine Kritik an der Erwartung des »strong leadership« bezieht sich dabei besonders auf GroBbritannien und die Vereinigten Staaten - neben Frankreich diejenigen Demokratien, in denen dezisionistische Füh­ rungsideale nach wie vor verbreitet sind und sich durch die Logik medialer Aufmerksamkeit womöglich noch verstärkt haben. Es gibt gute Gründe, Browns Präferenz für kooperativere Entscheidungs­ prozesse zu teilen.6 Doch in unserem Zusammenhang kommt es weniger darauf an, ob man die Nachfrage nach Führung durch her­ ausragende Individuen für sinnvoll oder für schädlich hält, sondern darauf, class sie ein zentraler Aspekt unterschiedlich verfasster und geprägter Demokratien war und bis heute ist. Man kann sie folglich nur um den Preis analytischer Einbufsen von vornherein als »unde­ mokratisch« abtun, wie man überhaupt vorsichtig damit sein sollte, die Politik der Zwischenkriegszeit durch die Brille des eigenen Ver­ ständnisses von Demokratie zu bewerten.7

4 Henk te Velde, Stijlen van leiderschap. Persoon en politiek van Thorbecke tot Den Uyl, Amsterdam 2002.

5 Archie Brown, The Myth of the Strong Leader. Political Leadership in Mo­ dern Politics, New York 2014.

6 Interessante publizistische Kritiken am dominanten Verständnis politischer Führung in den USA und GroBbritannien sind etwa: Lexington, »Call him Queen Bee. The Myth of an Omnipotent Presidency Makes it Harder to Get a Competent One«, The Economist vom 5. 7. 2014; Nick Duff ell, » Why Bo­ arding Schools Produce Bad Leaders«, The Guardian vom 9. 6. 2014, so­ wie untcr Verweis auf den deutschen Sieg bei der FuBballweltmeisterschaft Jochen Hung, »Germany - Winning with no Leaders«, The Guardian vom 14.7.2014.

7 Ein Beispiel hierfür ist Ira Katznelson, Fear Itself. The New Deal and the Origins of Our Time, New York 2013, der die Komprornisse des Präsidenten Franklin Delano Roosevelt rnit rassistischen Südstaatendemokraten sowie die autoritaren Züge des New Deal in das Zentrum seiner ausgezeichneten Darstellung rückt. Es erscheint jedoch zweifelhaft, ob man eine Politik, die so offenkundig den Präferenzen breiter Wählerschichten entsprach, rnit dcm

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Auf der Grundlage eines breiten und historisierenden Verstand­ nisses von Demokratie wird im Folgenden die politische Land­ schaft Europas erst in den 192oer und dann in den 193oer Jahren vermessen und eine lose Typologie demokratischer Führung entwi­ ckelt. Im Mittelpunkt stehen zum einen die ernphatische Personifi­ zierung der Demokratie und zum anderen die Demonstration von Starke und Entscheidungsfreudigkeit im demokratischen Rahmen; später kam noch ein konsensorientierter und gemäfügter Typ hinzu. Alle drei Typen von Führung sind als spezifische Antworten auf die Herausforderungen der Zwischenkriegszeit zu interpretieren und verweisen gleichzeitig bereits auf die westeuropäische Demokratie­ geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg.

Typen demokratischer Führung in den 192oer Jahren

Wie sich das Verhältnis von Führung und Dernokratie im Europa der Zwischenkriegszeit darstellt, hängt entscheidend davon ab, wel­ che historische und geografische Perspektive man einnimmt, Das Bild einer Unvereinbarkeit ergibt sich vor allem dort, wo die Er­ wartung persönlicher Entscheidungsstärke bereits vor 1918 ent­ täuscht wurde und dann mit sozialistischen Politikvorstellungen zusammenstieii. Das war besonders in Italien der Fall. Dort verkör­ perte zunächst Ministerpräsident Francesco Crispi das Leitbild der herausragenden Führerpersönlichkeit, das in der Zeit des Risorgi­ mento aufgekommen war und sich dann aus zunehmender Parla­ mentarismuskritik speiste. Doch drängten sich nach Crispis Tod 1901 weder der politisch wenig initiative König Viktor Emma­ nuel III. noch der machttaktisch agierende Liberale Giovanni Gio­ litti für èine ähnliche Rolle auf. Der linke Radikalismus der Nach­ kriegsjahre stand der Idee charismatischer Führung von vornherein distanziert gegenüber und nutzte daher die durchaus bestehende persönliche Verehrung gegenüber einzelnen Protagonisten nicht. So entstand ein Vakuum, das es Benito Mussolini ermöglichte, sich zunächst im Rahmen der bestehenden institutionellen Ordnung

Begriff »anti-democratic pathologies« (S. 48 5) charakterisieren soli te, statt von Ambivalenzen und Paradoxien der Demokratie zu sprechen.

Führung und Demokratie in Europa 181

zum Premierminister ernennen zu lassen. In den folgenden J ahren trat er zunehmend als charismatischer Duce auf und baute seine Machtstellung zur persönlichen Diktatur aus. 8

Ein ähnliches Bild ergibt sich auf den ersten Blick in Deutsch- / land, wo Wilhelm II. von manchen Zeitgenossen anfänglich als

Führungsfigur für eine demokratische Moderne gesehen wurde.9 Der Drang des Kaisers nach Einfluss und Popularität richtete sich jedoch gegen ihn selbst: Wilhelm II. verlief sich auf seine idiosyn­ kratischen Vorstellungen und persönlichen Beziehungen, statt die Komplexität des preufüschen und deutschen politischen Systems zu reflektieren. Der Preis dafür war, class er bald persönlich mit fehlge­ schlagenen Initiativen und Skandalen identifiziert wurde.'? Letzt­ endlich konnte er die zeitgenössischen Führererwartungen ebenso­ wenig erfüllen wie Viktor Emmanuel III., ohne class seine Auswahl von Reichskanzlern andere Führungspersönlichkeiten harte auf­ kommen lassen. Ferner waren die deutschen Sozialisten wie ihre italienischen Genossen nach Kriegsende zurückhaltend gegenüber der Idee persönlicher Machtausübung. Vielmehr verstanden sie Führung als kollektive Aufgabe. »Der Sozialdemokratie«, so for­ mulierte Friedrich Ebert im Februar 1919, »ist durch den Ausfall der Wahlen die Mission zugefallen, zu führen, nicht zu herrschen.«11

Seine radikale Antipodin Rosa Luxemburg hielt die sozialistische für die erste Revolution, die nicht »durch eine kleine Minderheit des Volkes« geleitet werde, sondern »durch die grofle Mehrheit der Arbeitenden allein zum Siege gelangen kann«: »Die Proletariermas-

8 Christopher Duggan, »Il culto dell'Uno dal Risorgimento al fascismo«, in: Passato e presente 83 (Mai-Juli zor r), S. 76-97; Carl Levy, »Errico Malatesta and Charismatic Leadership«, in: Jan Willem Stutje (Hg.), Charismatic Lead­ ership and Social Movements. The Revolutionary Power of Ordinary Men and Women, New York zcr a, S. 84-roo; Donald Sassoon, Mussolini and the Rise of Fascism, London 2007.

9 Klassisch: Friedrich Naumann, Dernokratie und Kaisertum. Ein Handbuch für innere Politik, Berlin-Schöneberg r900.

10 Christopher Clark, Kaiser Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers, Berlin 2009; Martin Kohlrausch, Der Monarch im Skandal. Die Lo­ gik der Massenmedien und die Transformation der wilhelminischen Monar­ chie, Berlin 2005.

11 »Die Eröffnung der Nationalversammlung. Begrüûungsrede Eberts«, Vor­ wärts vom 6. 2. r9r9.

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sen müssen lemen, aus toten Maschinen, die der Kapitalist an den Produktionsprozef stellt, zu denkenden, freien, selbsttätigen Len­ kern dieses Prozesses zu werden.«12 Die zwischen Ebert und Lu­ xemburg stehenden Unabhängigen Sozialdemokraten identifizier­ ten Führungspersönlichkeiten erst retrospektiv, wenn sie etwa den ermordeten Münchner Revolutionär Kurt Eisner als »Kraftquelle« bezeichneten, die die Massen mit »revolutionärem Geist« erfüllt hätte. Gleichzeitig setzten sie sich mit den Versäumnissen der »Revolutionsmänner« auseinander, die im entscheidenden Moment nicht entschlossen und effektiv vorgegangen waren.?

Lässt sich also sagen, class im Deutschland der 192oer Jahre eine mythische Führersehnsucht aufkam, wei! vorherige Erwartungen enttäuscht worden waren, insbesondere durch den am Ende ruhm­ los in die Niederlande flüchtenden Kaiser? Konnte diese Führer­ sehnsucht in ein Vakuum stoilen, wei! die Linke auf eine Personali­ sierung von Politik verzichtete bzw. sie erst ex post befürwortete? Eine solche Sichtweise griffe insofern zu kurz, als sie die zeitgenös­ sische Bedeutung gemäfügt-demokratischer Führungsvorstellun­ gen übersähe. In der frühen Weimarer Republik besetzten auch und gerade die Linksliberalen den Volksgemeinschaftstopos. Sie verban­ den dies rnit dem Versprechen, dem Prinzip der Persönlichkeit un­ ter neuen politischen Bedingungen Geltung zu verschaffen. Nur die Demokratie sei imstande, für eine sozial breite und verfahrensmä­ Big legitime Führerauslese zu sorgen - im Unterschied sowohl zur Privilegiengesellschaft des Kaiserreichs als auch zum Rechtradika­ lismus der Nachkriegszeit mit seinem Ruf nach dem »starken Mann«.14 Auch wenn die Suche nach Führertum in den folgenden

12 Rosa Luxemburg, » Was will der Spartakusbund?« (14. 12. 1918), in: dies., Gcsammelte Werke, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1983, Bd. 4: August 1914 bis Januar 1919, S. 440-449, hier: S.442£.

13 »Ein Märtyrer der Revolution. Kurt Eisner geboren den 14. Mai 1867 errnor­ det den z r.Februar 1919«, Die Freiheit vom 22.2.1919; F.[elix] St.[össinger], »Aus der Werkstatt der deutschen Revolution«, Die freie Welt 36 (August 1920).

14 Wolfgang Hard twig,» Volksgemeinschaft im Übergang. Von der Demokratie zum rassistischen Führerstaat«, in: Dedef Lehnert (Hg.), Gemeinschafts­ denken in Europa. Das Gesellschaftskonzept » Volksheim« im Vergleich

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Jahren nicht unbedingt linksliberalen Vorstellungen folgte, war sie doch keineswegs prinzipiell demokratiefeindlich. Aus vielen ÄuBe­ rungen spricht das Streben, Erkennbarkeit und Einfluss von Indivi­ duen auch unter den Bedingungen von moderner GroBorganisation und republikanischer Verfasstheit zu bewahren. Solche Hoffnun- gen richteten sich ebenso auf Joseph Wirth vom katholischen Zen­ trum wie auf den Sozialdemokraten Carl Severing, die jedoch beide für die Zeitgenossen zu sehr Parteipolitiker blieben und entschei­ dende Taten vermissen lieBen. Das unterschied sie sowohl vom konservativen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg als auch von Adolf Hitler, der am Ende von der breiten Nachfrage nach einem »Fûhrer« profitierte.15

Demnach scheint das Problem der Weimarer Republik nicht in prinzipiell demokratiefeindlichen Führungserwartungen gelegen zu haben, sondern darin, class es keine demokratischen Politiker gab, die diese Rolle wirklich annahmen - was angesichts knapper Mehrheitsverhältnisse zwischen Parteien, die in erster Linie sozial­ moralische Milieus repräsentierten und einen hohen Organisations­ grad hatten, zugegebenermaBen schwierig gewesen wäre. Das war jedoch in Frankreich anders, wo Édouard Herriot in den 192oer Jahren für republikanische Überzeugungen und - als der unteren Mittelschicht entstammender Literaturprofessor und Bürgermeis­ ter von Lyon - Mobilitätschancen stand. Er einigte und revitali­ sierte die lose strukturierte linksrepublikanische Radikale Partei und führte erfolgreich Wahlkämpfe. 1924/25 setzte er sich als Mi­ nisterpräsident für internationale Kooperation ein, scheiterte aber

1900-1938, Köln 2013, S. 227-253, hier: S. 246f. Vgl. demgegenüber die Ein­ ordnung der Führungsvorstellungen Max Webers in eine autoritäre Konti­ nuitätslinie bei Wolfgang J. Momrnsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, Tübingen 1974, S. 407-415.

15 Thomas Mergel, »Führer, Volksgemeinschaft und Maschine. Politische Er­ wartungsstrukturen in der Weimarer Republik und dem Nationalsozia­ lismus 1918-1936«, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Politische Kulrurgc­ schichte der Zwischcnkriegszeit 1918-1939, Göttingen 2005, S. 91-128, hier: S. 105-122. Dagegen betont Klaus Schreiner, »Politischer Messianismus, Führergedanke und Führererwartung in der Weimarer Republik«, in: Man­ fred Hettling u.a. (Hg.), Was ist Gesellschaftsgeschichte? Positionen, The­ men, Analysen, München 1991, S. 237-247, den unübcrbrückbaren Gegcn­ satz zwischen Führererwartung und parlamentarischer Demokratie.

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an der fragilen parlamentarischen Position und wirtschaftspoliti­ schen Inkohärenz des von ihm angeführten »Cartel des gauches«.16 Ein weiteres und spektakuläreres Beispiel liefert der tschechoslo­ wakische Staatspräsident Tornás Garrigue Masaryk. Masaryk hob seine bescheidene, mährisch-slowakische Herkunft hervor, seine Tapferkeit irn Ersten Weltkrieg sowie seinen Patriotismus. Gleich­ zeitig trat er als Personifizierung von Freiheit, Gerechtigkeit und Kosmopolitismus auf. Mithilfe eines ausgedehnten politischen und publizistischen Netzwerks schuf er einen regelrechten Führerkult, der sowohl nationale Kontinuitäten als auch die Gemeinsamkeiten mit den westeuropäischen Verbündeten betonte. Sein Porträt hing in Regierungsgebäuden, Schulen und Gemischtwarenläden. Viele einfache Leute wandten sich mit ihren Anliegen persönlich an ihn. Um seine Popularität zu erhöhen, scheute Masaryk keine Mühen: Er lieB sich verschiedentlich filmen oder von Hagiographen verewi­ gen und stand nicht weniger als 64 Malern Medell."

Es gab also im Europa der 192oer Jahre durchaus Politiker, die in einem emphatischen Sinne als demokratische Führungspersönlich­ keiten auftraten und damit keineswegs auf verlorenem Posten stan­ den. Andere demonstrierten Stärke und Entscheidungsfreudigkeit und blieben dabei der Demokratie verbunden. In Frankreich und GroBbritannien hatte der Erste Weltkrieg gezeigt, dass einzelne Per­ sönlichkeiten die Komplexität mobilisierter Gesellschaften beherr­ schen, inneren Konsens herstellen und Entscheidungsfähigkeit be­ weisen konnten - ohne deshalb die bestehende Regierungsform zu beseitigen oder dem Einfluss hoher Militärs zu opfern. Der franzö­ sische Präsident Raymond Poincaré und Georges Clemenceau, Mi­ nisterpräsident seit November 1917, strebten nach Erwei terung ihrer exekutiven Autorität und gingen hart gegen vermeintliche Defätisten vor, überschritten jedoch nie die vorgegebenen konstitutionellen Grenzen. Sie zeigten, dass die Dritte Republik allen Schwierigkeiten, Konflikten und Dekadenzbehauptungen zum Trotz am Ende sieg­ reich sein konnte. Damit trugen sie maûgeblich zur Stabilität der par-

16 Serge Berstein, Édouard Herriot ou la République en personne, Paris 1985, s. 75-15 I.

17 Andrea Orzoff, »The Husbandman. Tornás Masaryk's Leader Cult in Inter­ war Czechoslovakia«, in: Austrian History Yearbook 39 (2008), S. 121-137.

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lamentarischen Demokratie auch in den r çzoer Jahren bei, nicht zu­ letzt durch Poincarés Ministerpräsidentenschaft im Zeichen der »Union Nationale« (1926-1928).18 Ähnliches lässt sich von David Lloyd George in GroBbritannien sagen, der zunächst Munitions­ und Kriegsminister, dann ab Dezember 1916 Premierminister war. In diesen Funktionen reorganisierte er institutionelle Kompetenzen und Entscheidungsprozesse, um die Ö konomie für den totalen Krieg zu mobilisieren. Ob diese Bemühungen wirklich so kohärent und erfolgreich waren, wie es Lloyd Georges zeitgenössisches Image und retrospektive Selbststilisierung nahelegen, ist hier zweitrangig. Wichtig sind sein quasipräsidentielles Auftreten, sein »talent for in­ spirational leadership« sowie die Tatsache, class es einem liberalen Demokraten gelang, sich persönlich mit dem Sieg zu identifizieren und noch für vier wei tere Jahre an der Macht zu bleiben.19

Demokratische Führungstätigkeit bestand nicht nur in konkre­ ter Partei- und Regierungstätigkeit, sondern auch in Erinnerungs­ und Deutungspolitik, Reden und Memoiren verbanden die jewei­ lige Selbsterzählung mit dem Bild eines Weltkriegs, »der zum gro­ Ben Teil ein Kampf zwischen Demokratie und Autokratie war«." Die siegreiche Kampfanstrengung erschien als der beste Beweis, class demokratische Regime im Ernstfall zu nationaler Kohäsion und Dynamik fähig waren. Vom Kriegseintritt an babe es, so Lloyd George über GroBbritannien, »nur ein Volk, eine Demokratie, eine Einigkeit gegeben«, ohne class dies die Fähigkeit zur Selbstkorrek­ tur behindert habe: »Das ist der Vorteil der Demokratie, wir sind uns gegenseitig unserer Pehler bewufst. Wo immer ein Pehler ge-

18 John F. V. Keiger, »Poincaré, Clemenceau, and the Quest for Total Victory«, in: Roger Chickering/Stig Förster (Hg.), Great War, Total War. Combat and Mobilization on the Western Front 1914-1918, New York 2000, S. 247-263; dcrs., Raymond Poincaré, Cambridge 1997, S. 193-239, 319-339.

19 Keith Grieves, »Lloyd George and the Management of the British War Eco­ nomy«, in: Chickering/Förster, Great War, S. 369-387, hier: S. 385; Martin Pugh, Lloyd George, Harlow 1988, S. 81-157; Michael Graham Fry, And Fortune Fled. David Lloyd George, The First Democratic Statesman, 1916-1922, New York zot r.

20 David Lloyd George, »Rede in Philadelphia«, 30. 10. 1923, abgedruckt in: ders., Gedanken eines Staatsmannes, hrsg. von Philip Guedalla, Berlin 1929, S. 226-229, hier: S. 226.

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macht wird, erheben sich Millionen Stimmen, um ihn aufzudecken, und wo ein Pehler gemacht wird, erheben sich, wie ich sagen darf, Millionen Hände, um ihn wieder gut zu machen.«21 Herriot rief die Franzosen zu einer grollen Erneuerungsanstrengung auf, um ange­ sichts der latenten deutschen Bedrohung die bevölkerungspoliti­ schen, ökonomischen und technologischen Defizite des Landes zu korrigieren. Dies könne nur im Rahmen der Demokratie stattfin­ den. Denn diese allein erlaube die Verlängerung der »union natio­ nale« in die Nachkriegszeit und die Mobilisierung individueller wie kollektiver Energien. Selbstbewusst verteidigte er den generalisti­ schen Anspruch, sich zu allen relevanten Fragen äu6ern zu können: »Die Demokratie als optimistisches Regime beruht auf dem Postu­ lat, class der Gewählte ebenso universell ist wie der Wähler.«22

Diese kurze Zusammenschau hat zwei Typen politischer Fûh­ rung herausgearbeitet: die emphatische Personifizierung demokra­ tischer Leitbilder und die Demonstration von Entscheidungsstärke innerhalb eines demokratischen Rahmens. Zudem wurde gezeigt, wie sich die Selbststilisierung führender Politiker mit der öffentlich­ keitswirksamen Deutung von Krieg und Wiederaufbau als demo­ kratischen Projekten verband. Das hei6t natürlich nicht, class die Umsetzung unter den Bedingungen der parlamentarischen Systeme und Kulturen im Europa der 192oer Jahre unproblematisch gewe­ sen wäre. Ein entscheidungsstarker Umgang mit kontingenten Si­ tuationen lie6 sich leichter während des Ersten Weltkriegs beweisen als danach, wie etwa Lloyd George erfahren musste. Demokratische Leitbilder zu personifizieren, war in der Regierung schwieriger als in der Opposition, wie Herriots Beispiel zeigt - am einfachsten jedoch, wenn man wie Masaryk den Niederungen der alltäglichen Politik enthoben war oder sich zumindest so präsentieren konnte. Es konnte auch sein, dass wie in ltalien keiner der beiden Typen zur Entfaltung kommen konnte, sodass reichlich Raum für den »Duce« Mussolini blieb, oder wie in der Weimarer Republik sich entspre­ chende Erwartungen an demokratische Repräsentanten richteten,

21 Ebenda, S. 228. Vgl. ders., War Memoirs, 6 Bde., London 1933-1936; Ray­ mond Poincaré, Au service de la France. Neuf années de souvenirs, ro Bde., Paris 1926-1934.

22 Edouard Herriot, Créer, Bd. r, Paris 1919, S. 30, 35; Bd. 2, hier: S. 335.

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diese aber angesichts der bestehenden politischen Verhältnisse über­ forderten. Fest steht jedoch, class sich die Nachfrage nach politi­ scher Führung nicht notwendig gegen die Demokratie richtete oder antidemokratische Konsequenzen hatte. Doch inwieweit gilt dies auch für das Europa der 193oer Jahre, dessen Demokratien, soweit sie überhaupt noch bestanden, in anderem Ausmaf von ökonomi­ schen und politischen Krisen geschüttelt und durch Diktaturen he­ rausgefordert waren?

Demokratische Führung in den Krisen der 193oer Jahre

An der Stärke und Ausstrahlungskraft diktatorischer Herrschaft im Europa der 193oer Jahre kann zunächst kein Zweifel bestehen. Au­ toritäre Regime vornehmlich hoher Militärs safsen, wie in Josef Pil­ sudskis Polen oder Miklós Horthys Ungarn, fest im Sattel, während andere neu entstanden, wie António de Oliveira Salazars »Estado Novo« oder die Regierung von Francisco Franco, die nach der In­ vasion aus Marokko 1936 rasch weite Teile Spaniens kontrollierte. Hatte Mussolinis faschistische Herrschaft bereits in weiten Teilen der europäischen Öffentlichkeit Bewunderung hervorgerufen, kam nun Adolf Hitlers nationalsozialistische Diktatur hinzu, die von britischen Adligen, französischen Rechtsintellektuellen oder belgi­ schen Kleinbürgern als Vorbild für die jeweils eigene Gesellschaft gesehen wurde. Der Spanische Bürgerkrieg eröffnete die Perspek­ tive einer internationalen und sehr effektiven Kooperation zwi­ schen autoritären und faschistischen Strömungen und Regimen, der die Demokratien Frankreich und Gro6britannien keinen Wider­ stand entgegensetzen konnten und auch nicht wollten. Vor diesem Hintergrund sahen viele Linke in Stalins Sowjetunion ihren einzi­ gen verlässlichen Verbündeten. Diese bekannten und richtigen Feststellungen sollten jedoch nicht dazu führen, die Vielfalt demo­ kratischer Antworten auf die antidemokratische Herausforderung au6er Acht zu lassen.23 Wie im Folgenden mit Blick auf politische

23 Insoweit einseitig ist etwa der Abriss der politischen Entwicklung bei Ber­ nard Wasserstein, Barbarism and Civilization. A History of Europe in Our Time, Oxford 2007, S. 242-279.

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Führung argumentiert wird, lassen sich auch und gerade die euro­ päischen 193oer Jahre als eine »creative crisis of democracy« verste­ hen, aus der neue Lösungsversuche resultierten.24

Zunächst einmal gab es ebenso wie im vorangegangenen Jahr­ zehnt Beispiele für eine überzeugungsstarke Personifizierung der Demokratie, nunmehr als Reaktion auf den vonder radikalen Rech­ ten ausgeübten Druck und im Zeichen der »Volksfront«.25 So ver­ suchte Manuel Azaii.a als linksrepublikanischer Ministerpräsident Spaniens (1931-1933), den gesellschaftlichen Einfluss von Offi­ zierskorps und katholischer Kirche zurückzudrängen. Als die Re­ publik in den folgenden J ahren einen konservativen Kurs einschlug, arbeitete er erfolgreich auf eine Allianz rnit dem gemäfügten Flügel der Sozialisten hin. Eher ein bürgerlicher Intellektueller als ein Volkstribun, gewann Azafia an persönlicher Popularität, als er we­ gen angeblicher Beteiligung an einem Aufstand für mehrere Monate inhaftiert wurde. Im Zeichen dieses neuen »azafiisrno« fanden seine Redeauftritte nunmehr im Freien statt und zogen bis zu einer hal­ ben Million zum Teil zahlender und weit gereister Zuhörer an. Da­ mit trug er ma6geblich zum Wahlsieg der Volksfront im Februar 1936 bei und versuchte - schon bald unter den Extrembedingungen des Bürgerkriegs -, Kohäsion und Prestige der Republik als Prasi­ dent zu bewahren. 26

Léon Blum, Präsident der Section Française de !'Internationale Ouvrière und wie Azaii.a ursprünglich ein bürgerlicher Intellektu­ eller, veränderte seine Position im Zeichen der antifaschistischen Allianz: Er avancierte vom Bewahrer von Einheit und Doktrin der eigenen Partei zum weithin anerkannten (und angefeindeten) de­ mokratischen Protagonisten. Diesen Status verdankte er nicht zu­ letzt den Blessuren, die ihm eine hasserfüllte Menschenmenge bei

24 Vgl den treffenden Titel van Joris Gijsenbergh u. a. (Hg.), Creative Crises of Democracy, Brüssel 2012.

25 Die Kreativität des zeitgenössischen Antifaschismus betont auch Gerd-Rai­ ner Horn, European Socialists Respond to Fascism. Ideology, Activism, and Contingency in the 1930s, New York 1996.

26 Julián Casanova, The Spanish Republic and Civil War, Cambridge 2010, S. 37-42, 72, 76, 112ff., 123-128; Santos Juliá, Vida y tiempo de Manuel Azaiia, Madrid 2008, S. 344-443. Zu Spanien vgl. den Beitrag von Till Kössler in diesem Band.

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Ausschreitungen auf dem Boulevard Saint-Germain zugefügt hatte. Er setzte ihn um in einen Wahlsieg im April 1936, eine klug abge­ sicherte Regierungsbildung und den Anspruch, von seinen Genas- sen nunmehr als »chef« anerkannt zu werden. Blum genoss eine so

/ breite wie tiefe Popularität, die sich in zahlreichen Sympathiebe­ kundungen besonders von Arbeitern äu6erte und umgekehrt anti­ sernitischen Hass mobilisierte. Zwar wurde seine Volksfrontregie­ rung schon bald zwischen spontanen Streiks und bürgerlichen Ängsten, wirtschaftspolitischen Zwangslagen und au6enpolitischen Spannungen zerrieben. Doch blieb seine Person rnit einem ambitie­ nierten Projekt der gesellschaftlichen und kulturellen Erneuerung verbunden.27

Ferner wurden auch in den 193oer Jahren Stärke und Entschei­ dungsfreudigkeit im demokratischen Rahmen demonstriert und personifiziert. Das lässt sich als problematischer Autoritarismus, aber durchaus auch als konstruktiver Umgang mit der Herausfor­ derung durch ökonornische Depression und diktatorische Herr­ schaft interpretieren. So schuf sich Hendrik Colijn, konservati­ ver Politiker und fünfmaliger Premierminister der Niederlande (1925/26, 1933-1939) ein Image von Vertrauenswürdigkeit, Realis­ mus und administrativer Befähigung. Gleichzeitig betonte er seine ländliche Herkunft, seine militärische Vergangenheit in Nieder­ ländisch-Ostindien sowie seine vorpolitische Karriere als Direktor einer Ölfirma. Ein klassisches Bild des Staatsmannes als Schiffska­ pitän aktualisierend, präsentierte er sich als autonomer, sowohl männlich-dynamischer als auch beruhigend gelassener Führer, der in der Lage war, sein Land durch die schweren Stürme der Krise zu steuern. Getreu seinen wirtschaftspolitischen Grundüberzeugun­ gen setzte er Budgetkürzungen durch und hielt hartnäckig am Goldstandard fest.28

27 Julian Jackson, The Popular Front in France: Defending Democracy 1934-1938, Cambridge 1988, besonders S. 53-61, 149-154, 216ff.; Serge Ber­ stein, Léon Blum, Paris 2006, S. 385-560.

28 Te Velde, Stijlen van leiderschap, S. 107-15 2. Zurn Hintergrund und mit dem interessanten, von Karl Loewenstein übernommenen Begriff der »discipli­ ned dernocracy«: Joris Gijsenberg, »Crisis of Democracy or Creative Re­ form? Dutch Debates on the Repression of Parliamentary Representatives

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Ein weiteres einschlägiges Beispiel liefert Édouard Daladier, französischer Premierminister 1938/39, nachdem sich die Volks­ frontregierung aufgelöst hatte. Daladier stilisierte sich erfolgreich zur volksnahen, überparteilichen und durchsetzungsstarken Füh­ rungsfigur. Dazu nutzte er Radio und Wochenschau ebenso wie das neugegründete Commissariat general à l'information und eine Viel­ zahl technokratischer Berater. Er provozierte und besiegte einen Generalstreik, näherte sich der Katholischen Kirche an und regierte in der Verteidigungs-, Wirtschafts- und Immigrationspolitik rnit N otverordnungen. AuBenpolitisch nahm er eine konsequentere Haltung gegenüber Deutschland und ltalien ein. Damit entsprach Daladier als altgedientes Mitglied der Radikalen Partei - der wich­ tigsten Säule des politischen Systems und der politischen Kultur der Dritten Republik - der breiten Nachfrage nach einer dezisionisti­ scheren Form der Demokratie in Zeiten der Krise.29

Das Beispiel Juan Negrfns zeigt, class auch Sozialisten in der Lage sein konnten, entscheidungsfreudig und sogar im Modus des Ausnahmezustands zu agieren. Der polyglotte Medizinprofessor und Vertreter des gemäfügten Parteiflügels wurde im Mai 1937 von Präsident Azaiia zum Ministerpräsidenten des republikanischen Spaniens ernannt. In den folgenden zwei Jahren stand er vorder dramatisch schwierigen Aufgabe, die Kriegführung gegen die zu­ nehmende Übermacht des franquistischen Lagers effizienter zu or­ ganisieren, einen inneren Konsens herzustellen und Unterstützung im Ausland zu gewinnen. Dazu versuchte er, eine Brücke zwischen liberalem Konstitutionalismus und Konzessionen an die Kom­ munisten zu schlagen. Negrfn erschien allgemein als optimistischer und charakterstarker, in politischer, kulinarischer und (gerüchte­ weise) sexueller Hinsicht lebensfreudiger Führer. Seine Stärke lag weder in rhetorischen Hohenflügen noch in der Aktenbearbeitung, sondern im Treffen von Entscheidungen. Im Auftreten verbindlich,

and Political Parties 1933-1940«, in: ders.u.a, (Hg.), Creative Crises of De­ mocracy, S. 237-268.

29 Olivier Dard, Les années trente. Le choix impossible, Paris 1999, S. 213-36; Gilles Le Béguec, »L'évolution de la politique gouvernementale et les pro­ blèmes institutionncls«, in: René Rémond/Janine Bourdin (Hg.), Édouard Daladier chef de gouvernement Avril 1938-Septembre 1939, Paris 1977, s. 5 5-74.

Führung und Demokratie in Europa 191

war er durchaus imstande, seinen langjährigen Freund und Mit­ streiter Indalecio Prieto als Minister zu entlassen und Kabinett wie Präsident zugunsten eines informellen Beraterkreises zu übergehen. Auch zentralisierte er Staatswesen und Kriegsökonomie gegen den

/ Widerstand syndikalistischer Gewerkschaften und lokaler Autono­ miebewegungen. Die militärische Niederlage konnte Negrfn damit jedoch bloB aufschieben, letztendlich weil die erhoffte britische und französische Unterstützung ausblieb."

Diese drei Vertreter des entscheidungsstarken Führungstypus sind häufig kritisiert worden, sei es für wirtschaftspolitische Or­ thodoxie (Colijn), eine bereits auf das Vichy-Regime verweisende Abwehrhaltung gegenüber Einwanderern (Daladier) oder eine au­ toritar-zentralistische Organisation des republikanischen Lagers auf Kosten der Selbstregierung von unten (Negrfn). Es geht hier nicht darum, diese Vorwürfe durch eine positive Bewertung zu er­ setzen. Aber man muss darauf hinweisen, class Austeritätspolitik oder die Abwehr von Immigration historisch von breiten Wähler­ schichten in freien Wahlen unterstützt worden sind und noch heute unterstützt werden. Dass einem beides aus guten Gründen nicht behagen mag, rechtfertigt noch nicht, es aus dem Begriff der De­ mokratie herauszudefinieren. Mit ähnlicher Stoilrichtung hat der Politologe Giovanni Capoccia argumentiert, class es für »successful democratic leadership« zwischen den Kriegen ausschlaggebend ge­ wesen sei, ob die führenden Vertreter der politischen Mitte koordi­ niert und entschieden gegen die Feinde der Demokratie vorgingen oder nicht. Der belgische König Leopold III., der tschechoslowa­ kische Präsident Edvard Benes und dessen anfänglich durchaus de­ mokratieskeptischer finnischer Kollege Pehr Evind Svinhufvud hätten dieses Kriterium erfüllt. Sie hätten sich öffentlich wie hinter den Kulissen für die Bewahrung des bestehenden politischen Sys­ tems eingesetzt und damit den Einfluss rechtsextremer Kräfte zu-

30 Casanova, Spanish Republic and Civil War, S. 263-274; Helen Graham, » War, Modernity and Reform. The Premiership of Juan Negrin 1937-1939«, in: Paul Preston/ Ann L. Mackenzie (Hg.), The Republic Besieged. Civil War in Spain 1936-1939, Edinburgh 1996, S. 163-196; Gabriel Jackson, Juan Negrin. Médico, socialista y jefe del Gobierno de la Ile Repüblica Espanola, Barcelona 2008, S. 139-367.

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rückgedrängt oder zumindest begrenzt-im Unterschied zum aktiv au£ ein Ende der Demokratie hinarbeitenden Reichspräsidenten Hindenburg. 31

Neben der emphatischen Personifizierung der Demokratie und der Demonstration von Stärke und Entscheidungsfreudigkeit im demokratischen Rahmen lässt sich in den 193oer Jahren noch ein weiterer, eher konsensorientierter Führungstypus ausmachen. Da­ runter können vor allem die sozialdemokratischen Ministerprä­ sidenten Per Albin Hansson und - weniger markant - Johan Ny­ gaardsvold gefasst werden. Hansson und Nygaardsvold gingen in Schweden bzw. Norwegen Tolerierungsvereinbarungen oder Ko­ alitionen mit Bauernparteien ein. Damit beendenten sie nicht nur eine Phase der politischen Instabilität und Parlamentarismuskritik, sondern läuteten eine neue wohlfahrtsstaatliche Epoche ein.32 Aber auch Stanley Baldwin, einer der bedeutendsten konservativen Poli­ tiker seiner Zeit und dreimaliger Premierminister des Vereinigten Königreichs (1923/24, 1924-1929, 1935-1937), lässt sich als kon­ sensorientierte Führungsfigur interpretieren. Er befasste sich zwar nur wenig mit Gesetzgebung und konkreter Politikgestaltung. Aber er war in der Lage, seine Kabinette zu koordinieren, anste­ hende Fragen irn Gespräch zu klären und sich einen längerfristigen Blick zu bewahren. Dazu pflegte er persönliche Beziehungen zu den Parlamentariern, deren Stimmung er einzuschätzen und zuwei­ len zu beeinflussen vermochte. Die Wählerschaft erreichte Baldwin, indem er in Wochenschauen und Wahlkampffilmen auftauchte, sein Bild - mitsamt seiner Pfeife als Markenzeichen - durch Fotografien verbreiten lieB und sich in verständlicher und umgänglicher Form

31 Giovanni Capoccia, Defending Democracy. Reactions to Extremism in In­ terwar Europe, Baltimore 2005, S. 179-220, hier: S. 214 [Hervorhebung im Original]; vgl. auch Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Ho­ henzollern und Hitler, München 2007. Eine robustere Verteidigung der De­ mokratie wurde bereits zeitgenössisch empfohlen von Karl Loewenstein, »Authority versus Democracy in Contemporary Europe«, in: American Political Science Review 29 (1935), S. 571-593 und S. 755-784, hier: S. 593,

32 Francis Sejersted, The Age of Social Democracy. Norway and Sweden in the Twentieth Century, Princeton zo r r, S. 73, 84-87, 159-166; Sheri Berman, The Primacy of Politics. Social Democracy and the Making of Europe's Twen­ tieth Century, New York 2006, S. 173££.

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Führung und Demokratie in Europa 193

an die Hörer der BBC wand te. Zwar sah er die Welt seit Kriegsende als »strange and extraordinarily difficult« und die neuen Wahlbe­ rechtigten als »untrained and inexperienced«. Aber der Torypoliti- ker akzeptierte, dass die Demokratisierung unwiderruflich war und er sich an sie anpassen musste.33

Wie im vorangegangenen Abschnitt sind über die Wahlkampf­ und Regierungspraxis hinaus die inhaltlichen Positionen der ge­ nannten Politiker von Interesse. Das Spektrum reichte dabei von der emphatischen Identifikation mit Demokratie und Volksfront bis zur gemäfügt-konservativen Verteidigung einer durch Ord­ nungssinn und Verantwortungsgefühl kontrollierten Dernokratie. All diese Positionen verbanden sich mit eingängigen nationalen Selbstbildern. An eine der Revolutionsperiode entstammende Vor­ stellung des freiheitsliebenden und unkorrumpierbaren peuple an­ knüpfend versprach Blum, dass sich mit der Volksfrontregierung eine »neue Zukunft für die französische Demokratie« eröffne. Diese Zukunft basiere auf dem »doppelten Vertrauen des Parla­ ments und des Landes« und verlange nun nach einer konzertierten Umsetzung der eingegangenen Wahlversprechen.34 Negrin leitete die Autoritat der republikanischen Regierung aus ihrer Legitima­ tion durch Wahlen sowie aus dem historischen Unabhängigkeits­ streben der Spanier angesichts feindlicher Eroberungsversuche ab. Dass diese Regierung »mit der Mitarbeit und dem Vertrauen des Volkes rechnen« könne, erlaube ihr im Unterschied zum Franco­ Lager mit seiner selektiven Auûendarstellung eine off ene »Haltung, welche einem demokratischen Regime Ansehen verleiht«." Für Baldwin war die Demokratie die organische Weiterentwicklung eines jahrhundertealten englischen Strebens nach freier Selbstregie­ rung - im Unterschied zu denjenigen Ländern, in denen sie autori­ tar strukturierten Gesellschaften »aufgepropft« worden und folg­ lich »in Chaos« ausgeartet sei: »Von den Gegnern der Demokratie

33 Philip Williamson, Stanley Baldwin. Conservative Leadership and National Values, Cambridge 1999, besonders S. 61-87, Zitat: S. 144£.

34 Léon Blum, »La présentation devant le parlement (5. 6. 1936)«, in: L'Oeuvre de Léon Blum 1934-1937, Paris 1964, S. 271-289, hier: S. 272, 274.

35 Rede des spanischen MinisterpräsidentenJuan Negrin, gehalten in Barcelona am 26. Februar 1938, Paris ohne Datum, S. 3, 4.

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bei uns und besonders im Ausland wird heute oft gesagt, class das parlamentarische System versagt habe. Aber was immer man sagen mag: England ist - im Verein mit den Ländern [des britischen Em­ pire], aus denen unsere Kollegen gekommen sind - das einzige Land, in dem eine parlamentarische Regierung aus einem natür­ lichen Wachstum entstanden ist, in dem diese Regierungsform tra­ ditionell und vererbt ist, in dem sie Fleisch vom eigenen Fleisch und Bein vom eigenen Bein ist.«36

Die Positionen Blums, Negrins und Baldwins belegen einmal mehr die oft unterschätzte Innovationskraft demokratischer Politi­ ker in den 193oer Jahren. Im vorangegangenen Jahrzehnt war die emphatische Personifizierung der Demokratie vorhanden, aber we­ niger existenziell gewesen als nun bei Azafia und Blum, die beide durch Angriffe auf ihre physische Integrität an Glaubwürdigkeit gewannen. Entscheidungsfreudigkeit war zuvor eher retrospektiv mit Blick auf den Ersten Weltkrieg beansprucht als aktuell bewiesen worden. Doch änderte sich dies unter den Bedingungen von ökono­ mischer Depression, rechtsextremer Herausforderung und Spani­ schem Bürgerkrieg. Colijn, Daladier und Negrin übernahmen dabei autoritäre Elemente und testeten die Grenzen des demokratisch Vertretbaren aus, überschritten sie jedoch nicht. Man könnte sogar argumentieren, class sie damit gewollt oder ungewollt die Demo­ kratie gegen ihre Feinde verteidigten, wie es auch Giovanni Capoc­ cias These des »successful democratic leadership- in Belgien, Finn­ land und der Tschechoslowakei nahelegt. Ferner verweisen die Beispiele von Hansson, Nygaardsvold und Baldwin auf einen neuen Trend zur konsensorientierten Führung im gemäfügt sozial­ demokratischen oder konservativen Rahmen." Am Vorabend des

36 Stanley Baldwin, »Die Freiheit ist unser Element (6. 3. 1934)«, in: ders., Frei­ heit und Friede, Luzern 1936, S. 19-27, hier: S. 25; ders., »Die Fackel der Freiheit (4. 7. 193 5)«, in: ebenda, S. 7-10, hier: S. 9.

37 Marginal war dieser Trend zur Annäherung an eine neue politische Mitte nicht, vgl. Josef Mooser, »Die -Geistige Landesverteidigung- in den 193oer Jahren. Profile und Kontexte eines vielschichtigen Phänomens der schweize­ rischen politischen Kultur in der Zwischenkriegszeit«, in: Schweizerische Zeitscbrift für Geschichte 47 (1997), S. 685-708; Bernard Rulof, »Selling So­ cial Democracy in the Netherlands. Activism and its Sources of Inspiration during the 1930s«, in: Contemporary European History 18 (2009), S. 475-497.

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Führung und Demokratie in Europa 195

Zweiten Weltkriegs war die Demokratie unbestreitbar bedroht - aber das Spektrum an demokratischen Führungstypen hatte sich ge­ rade dadurch erhalten und sogar erweitert.

Fazit

Nach 1918 etablierte sich die Demokratie als wichtigste Form poli­ tischer Repräsentation in Europa. Gleichzeitig war sie enormen Herausforderungen ausgesetzt, die sich nach einer ruhigeren Phase in den 193oer Jahren wieder zuspitzen sollten. Vor diesem Hinter­ grund agierten ihre Repräsentanten - die nebenbei bemerkt den viel behandel ten zeitgenössischen Jugendlichkeits- und Virilitätsidealen meist nicht entsprachen - flexibler und kreativer, als dies oft zuge­ standen wird. Demokratische Politiker kamen verbreiteten Erwar­ tungen entgegen, formulierten ihre Vorstellungen in eingängiger Weise und entwickelten neue Wahlkampf- und Regierungsstile. Die gemischte Bilanz dieser Bestrebungen ist noch kein Grund, sie zu ignorieren oder in einer Erzählung des Scheiterns und Versagens verschwinden zu lassen. Sofern man überhaupt Erfolg zum histori­ schen BewertungsmaBstab erheben will, muss auch auf rechte Miss­ erfolge hingewiesen werden: Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs waren rechtsextreme »Führer« wie Oswald Mosley, der Colonel de La Rocque, Anton Mussert oder Léon Degrelle im Wesentlichen gescheitert, während sich der frühere französische Ministerpra­ sident André Tardieu durch seine Wandlung vom liberalkonserva­ tiven Reformer zum rechten Systemgegner ins politische Abseits manövriert hatte.38 Als sich der deutsche Staatsrechtler Karl Loe­ wenstein aus dem amerikanischen Exil 1938 optimistischer über die Perspektiven der Demokratie in Europa äuBerte als drei Jahre zu­ vor, war er keineswegs naiv.39 Die Situation von 1940 sollte nicht unbesehen auf die 193oer Jahre zurückprojiziert werden - umso weniger, als sie erst durch den militärischen Sieg Nazideutschlands über Frankreich mit seinen kontingenten Ursachen und die ebenso-

38 François Monnet, Refaire la République. André Tardieu, une dérive réacti­ onnaire (1876-1945), Paris 1993, S. 367-469.

39 Zit. nach Gijsenbergh, Creative Crises, S. 239.

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wenig prädestinierte Selbstauflösung der Dritten Republik zu­ stande karn."?

In erweiterter Perspektive lassen sich die hier herausgearbeite­ ten Typen demokratischer Führung als Reaktionen auf eine Periode verstehen, die gleichzeitig von Nationalisierung und von lndividua­ lisierung geprägt war.41 Vor diesem Hintergrund wurde von Politi­ kern erwartet, einerseits persönlich erkennbar und wirksam zu sein und andererseits komplexe Gemeinwesen zu integrieren. Dieser N achf rage kamen auch führende Demokraten entgegen, ind em sie ihr Publikum durch groBe öffentliche Auftritte, regelmäfüge Radio­ ansprachen und massenhaft produzierte Bilder adressierten. Ferner stellten sie ideell und rhetorisch, durch markante Entscheidungen oder die Suche nach konsensfähigen Lösungen Bezüge zwischen der Demokratie und ihrer jeweiligen Nation her. Léon Blum, Stan­ ley Baldwin oder Per Albin Hansson verstanden sich dezidiert als französische, britische bzw. schwedische Politiker -was auch erklä­ ren kann, warum sich die Kooperation zwischen europäischen De­ mokratien so schwierig gestaltete.

SchlieBlich verweisen die drei Typen politischer Führung, so­ sehr sie in die Zwischenkriegszeit passen, in vieler Hinsicht auf die Jahrzehnte nach 1945. Das ist im Falle konsensorientierter und ge­ mäfügter Führungspersönlichkeiten wie Baldwin oder Hansson of­ fensichtlich, denen in den 195oer Jahren unter anderem die bewusst durchschnittlichen Ministerpräsidenten Willem Drees in den Nie­ derlanden und Antoine Pinay in Frankreich folgten. Aber seit den späten 196oer Jahren kam erneut eine Nachfrage nach Politikern auf, die wie Willy Brandt, Joop den Uyl oder François Mitterrand eine demokratische Aufbruchsstimmung in der Nachfolge Blums oder Azafias personifizieren konnten. Daneben erlebte der Typus des entscheidungsfreudigen Krisenpolitikers, den in den 196oer

40 Julian Jackson, The Fall of France. The Nazi Invasion of 1940, Oxford 2003, besonders S. 185-227; Ivan Ermakoff, »Strukturelle Zwänge und zufällige Geschehnisse. Die Selbstauflösung der französischen Republik in Vichy am ro. Juli 1940«, in: Manfred Herrling/ Andreas Suter (Hg.), Struktur und Er­ eignis, Göttingen 2001, S. 224-256.

41 Vgl. Moritz Föllmer, »Nationalisrnus, Konsum und politische Kultur im Eu­ ropa der Zwischenkriegszeit«, in: Neue Politische Literatur 56 (acr r), s. 427-453.

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Führung und Oemokratie in Europa 197

Jahren blof noch der in der Ausnahmesituation des Algerienkriegs an die Macht zurückgekehrte Charles de Gaulle repräsentiert hatte, wenig später ein überraschendes Comeback, wenn man an Marga- ret Thatcher oder Helmut Schmidt angesichts der terroristischen Herausforderung im Herbst 1977 denkt.

Alle drei Erwartungsprofile sind gegenwärtig präsent, werden medial verstärkt und überschneiden sich zum Teil, wenngleich wohl nur dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama übel genom­ men wird, nicht demokratische Lichtgestalt, Konsenshersteller und entscheidungsfreudiger Krisenpolitiker zugleich zu sein. Im Ge­ gensatz dazu beruht der Erfolg anderer demokratischer Reprä­ sentanten gerade darauf, für einen Führungstypus zu optieren und sich den anderen zu verweigern. Wie es die notorisch konsensorien­ tierte Bundeskanzlerin Angela Merkel ausdrückt: » Wie oft habe ich gehört, wenn du jetzt nicht entscheidest[,] passiert etwas ganz Schlimmes. 1st aber nichts passiert.«42

42 Zit. nach: »Jetzt gucken Sie entnervt, wei! ich so viel sage«, Süddeutsche Zei­ tung vom 27.8.2014.

/ Tim B. Müller I Adam Tooze (Hg.)

Normalität und Fragilität Demol<ratie nach dem Ersten Weltl<rieg

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