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Inverse Apologetik. Zur theologischen Verarbeitung des Atheismus

Date post: 12-Jan-2023
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1 Inverse Apologetik Zur theologischen Verarbeitung des Atheismus Hartmut von Sass für David Bethke I. Auftakt: Konturen des neuzeitlichen Atheismus und A-Theismus Für die Botschaft von Gottes heilsamer Gegenwart unter den Menschen ist das Zeitalter des Atheismus das allerangemessenste; denn im radikalen Sinne ist jede Zeit gleichermaßen gott- los. So jedenfalls stellt es Gerhard Ebeling in ganz kierkegaardscher Diktion fest. 1 Allerdings nicht ohne auf die Hintergründe dieser Thetik zu verweisen: Die Entgötterung der Welt als Implikat einer strengen Einübung der theologischen Grundunterscheidung zwischen Gott und Mensch sowie die Vergeschichtlichung eben dieser Differenz als Kommen Gottes zur Welt seien genuin christliche Lehrstücke. Der „Radikalität des christlichen Gottesglaubens“ ent- spreche daher, so Ebelings Fazit, „eine aus ihm abgeleitete Radikalität des Atheismus“ 2 . Was sich hier andeutet, ist die Behauptung einer theologischen Daueraktualität des Atheismus, die zwei miteinander verwandte Ausprägungen annimmt: einerseits die Vorstel- lung einer ideengeschichtlichen Kontinuität, wonach das Christentum den Atheismus wenn nicht verursacht, so doch entscheidend begünstigt habe; andererseits die begriffliche Annah- me, nach der zum „Wesen des Christentums“ eine atheistische Komponente gehöre. Beiden Vermutungen ist im Folgenden genauer nachzugehen, worin zugleich ein kritischer Hinweis darauf enthalten ist, was nicht Thema meiner Überlegungen werden wird. Die theologische Relevanz des Atheismus mit dem Verweis auf den „new atheism“ à la Dawkins & Co. zu be- gründen, halte ich für einen unergiebigen Holzweg. 3 Bei aller zum Teil berechtigten Religi- 1 Vgl. G. Ebeling, Die Botschaft von Gott an das Zeitalter des Atheismus [1963], in: ders., Wort und Glaube. Zweiter Band: Beiträge zur Fundamentaltheologie und zur Lehre von Gott, Tübingen 1969, 372-395: 373 und 380. 2 A.a.O., 384. 3 Zum ‚new atheism‘ siehe H. Schulz, Alter Wein in neuen Schläuchen. Zur Kritik des sog. Neuen Atheismus, in: Theologische Literaturzeitung 135:1 (2010), 1-19; ders., Patt. Bemerkungen zum Konflikt zwischen Naturalis- mus und Theologie, in: I. U. Dalferth / H. Schulz (Hg.), Religion und Konflikt. Grundlagen und Fallanalysen, Göttingen 2011, 185-205; ferner W. Klausnitzer / B. E. Koziel, Atheismus in neuer Gestalt?, Frankfurt a.M. u.a. 2012, Kap. 1.
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Inverse Apologetik

Zur theologischen Verarbeitung des Atheismus

Hartmut von Sass

für David Bethke

I. Auftakt: Konturen des neuzeitlichen Atheismus und A-Theismus

Für die Botschaft von Gottes heilsamer Gegenwart unter den Menschen ist das Zeitalter des

Atheismus das allerangemessenste; denn im radikalen Sinne ist jede Zeit gleichermaßen gott-

los. So jedenfalls stellt es Gerhard Ebeling in ganz kierkegaardscher Diktion fest.1 Allerdings

nicht ohne auf die Hintergründe dieser Thetik zu verweisen: Die Entgötterung der Welt als

Implikat einer strengen Einübung der theologischen Grundunterscheidung zwischen Gott und

Mensch sowie die Vergeschichtlichung eben dieser Differenz als Kommen Gottes zur Welt

seien genuin christliche Lehrstücke. Der „Radikalität des christlichen Gottesglaubens“ ent-

spreche daher, so Ebelings Fazit, „eine aus ihm abgeleitete Radikalität des Atheismus“2.

Was sich hier andeutet, ist die Behauptung einer theologischen Daueraktualität des

Atheismus, die zwei miteinander verwandte Ausprägungen annimmt: einerseits die Vorstel-

lung einer ideengeschichtlichen Kontinuität, wonach das Christentum den Atheismus wenn

nicht verursacht, so doch entscheidend begünstigt habe; andererseits die begriffliche Annah-

me, nach der zum „Wesen des Christentums“ eine atheistische Komponente gehöre. Beiden

Vermutungen ist im Folgenden genauer nachzugehen, worin zugleich ein kritischer Hinweis

darauf enthalten ist, was nicht Thema meiner Überlegungen werden wird. Die theologische

Relevanz des Atheismus mit dem Verweis auf den „new atheism“ à la Dawkins & Co. zu be-

gründen, halte ich für einen unergiebigen Holzweg.3 Bei aller zum Teil berechtigten Religi-

1 Vgl. G. Ebeling, Die Botschaft von Gott an das Zeitalter des Atheismus [1963], in: ders., Wort und Glaube.

Zweiter Band: Beiträge zur Fundamentaltheologie und zur Lehre von Gott, Tübingen 1969, 372-395: 373 und

380.

2 A.a.O., 384.

3 Zum ‚new atheism‘ siehe H. Schulz, Alter Wein in neuen Schläuchen. Zur Kritik des sog. Neuen Atheismus, in:

Theologische Literaturzeitung 135:1 (2010), 1-19; ders., Patt. Bemerkungen zum Konflikt zwischen Naturalis-

mus und Theologie, in: I. U. Dalferth / H. Schulz (Hg.), Religion und Konflikt. Grundlagen und Fallanalysen,

Göttingen 2011, 185-205; ferner W. Klausnitzer / B. E. Koziel, Atheismus – in neuer Gestalt?, Frankfurt a.M.

u.a. 2012, Kap. 1.

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onskritik fehlt es jenen Autoren an Umsicht, Kenntnis und dem Willen zu verstehen, worum

es einer vera religio – jenseits von Gewalt, Indoktrination und blinder Askese – eigentlich

gehen könnte. Ohnehin scheint der viel zu häufig gescholtene Zeitgeist auch diesen ‚neuen

Atheismus‘ schon wieder verstaubt hinter sich zu lassen, zumal die philosophischen Strömun-

gen der sog. Postmoderne kein gutes Pflaster für einen untheologischen Atheismus bilden.

Oder mit John Caputos Worten:

„So if modernity culminates in a decisive ‚death of God,‘ in ‚the end of an illusion,’

then postmodernists expose the ‘illusion of the end,’ the end of big stories about the

end, the death of the death of God.”4

Diese rasante Veralterung des ‚neuen Atheismus‘ mag auch damit zusammenhängen,

dass es dessen (Pro)Grammatik bislang nur unzulänglich gelungen ist, ein belastbares Voka-

bular für existentielle und moralische Fragen unserer Lebenswelt zur Verfügung zu stellen.5

Damit ist jedoch nicht bestritten, dass der Atheismus längst eine gesellschaftliche Realität des

Abendlandes darstellt, deren Konturen Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts greifbar

werden, sodass ‚Atheismus‘ rasch zu einem pejorativen Modewort promoviert wurde.6 Ge-

meint waren damit anfänglich nicht die mehr oder weniger ausdrücklichen Modi der Leug-

nung von Gottes Existenz. Vielmehr ging es zunächst um den sehr viel spezifischeren Kon-

flikt, der den Zuschnitt und die Relevanz konkreter Lehrstücke betraf. Entsprechend wurde

der Atheismusvorwurf nicht gegen externe Gegner erhoben, sondern gegen innerkonfessionel-

le Kryptohäretiker, insbesondere während der Auseinandersetzungen zwischen Pietismus und

Aufklärung.7

Doch dieser interne Atheismus wird dann doch zusehends radikalisiert, sodass der ge-

samte Rahmen der positiven Religion ins Wanken gerät und die dezidierte Distanz zur institu-

tionell verankerten Religionszugehörigkeit bzw. – mehr noch – zur gelebten Glaubenspraxis

eine immer ‚lebendigere Option‘ bildet. Die Gründe für diese überaus verzweigte Erosion

sind vielfältig und liegen zu nicht unerheblichen Teilen in der reformatorischen Tradition

4 J. D. Caputo, Atheism, A/theology, and the Postmodern Condition, in: The Cambridge Companion to Atheism.

Edited by M. Martin, Cambridge 2007, 267-282, 270.

5 So die Vermutung von A. MacIntyre in Die Debatte über Gott: Die Relevanz der Viktorianer und ihre heutige

Irrelevanz, in: ders. / P. Ricœur, Die religiöse Kraft des Atheismus. Aus dem Amerikanischen von R. Arsén,

Freiburg im Br. / München 2002, 11-62: 60.

6 Dazu H.-M. Barth, Atheismus und Orthodoxie. Analysen und Modelle christlicher Apologetik im 17. Jahrhun-

dert, Göttingen 1971, 68.

7 Vgl. a.a.O., 107 und 309; ferner H. J. Adriaanse, Nach dem Theismus, in: ders., Vom Christentum aus. Aufsät-

ze und Vorträge zur Religionsphilosophie, Kampen 1995, 237-264: 246.

3

selbst.8 Doch zentraler und in seinem kritischen Potenzial nachhaltiger scheint die Herauf-

kunft der modernen Wissenschaften zu sein, wodurch das Problem des Atheismus theologisch

vornehmlich als Resultat einer verlorenen Schlacht zwischen Glauben und Wissen, zwischen

Spekulation und Aufklärung, zwischen Hinterweltshoffnungen und Weltbejahung erscheinen

musste.9

Genau an jenem Punkt, an dem die Theologie beginnt, diese für sie ruinöse Frontstel-

lung aufzugeben und sich produktiv auf die neue Lage einzustellen, transformiert sich auch

die Bedeutung des Atheismus. Worin diese Transformation besteht, ist genauer erkennbar,

sobald man die Beziehung zwischen Atheismus und Theismus unter die Lupe nimmt. Das

traditionelle Bild geht davon aus, dass die Erosion des christlichen Glaubens mit dem Zu-

sammenbruch des Theismus gleichzusetzen sei, sodass der Atheismus als A-Theismus die

religionskritische Konsequenz jener Prozesse darstellen würde. Doch der Theismus ist seiner-

seits ein Kunstprodukt, mit welchem unter dem Eindruck des sich formierenden naturwissen-

schaftlichen Paradigmas (als nur eines Moments aufgeklärter Gesinnung) auf den bereits real

existierenden Atheismus reagiert wird. Der Theismus geht demnach seiner atheistischen Be-

drohung gerade nicht voran, sondern ist als diejenige Antwort auf den sich schleichend etab-

lierenden Atheismus zu verstehen, die die Vernunftreligion aufklärungstheologisch nahegelegt

hatte.10

Dadurch ist eine traurig-komische Situation entstanden, insofern diejenigen, die die

Religion theistisch verteidigten, ihr genau in diesem Versuch mehr Schaden als Gutes zuge-

fügt haben – friendly fire, wie es der Religionsphilosoph D.Z. Phillips ganz treffend genannt

hat.11

Denn dem Theismus waren von Beginn an weitreichende Probleme in die Wiege gelegt,

die schon von Humes Dialogues Concerning Natural Religion (1779) in aller wünschenswer-

ten Klarheit vorgeführt werden und die ihre Relevanz für die neueren Versionen des klassi-

schen Theismus – dem open theism, seinen prozesstheologischen Ablegern oder der probabi-

listischen Variante – keineswegs eingebüßt haben. Zudem krankt der Theismus an der ernst-

8 Dazu C. Taylor, Ein säkulares Zeitalter. Aus dem Englischen von J. Schulte, Frankfurt a.M. 2009, bes. 273f.

9 Diese Entwicklungen sind sensibel und ausführlich nachgezeichnet von M. J. Buckley, At the Origins of Mo-

dern Atheism, New Haven, CT 1990, Kap. 2 und 3.

10 Dazu auch I. U. Dalferth, Aufstieg und Fall des philosophischen Theismus, in: ders., Die Wirklichkeit des

Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie, Tübingen 2003, 257-335; R. Amesbury, Atheism, „Friendly

Fire“, and Contemplative Philosophy, in: I. U. Dalferth / H. von Sass (eds.), The Contemplative Spirit. Dewi Z.

Phillips on Religion and the Limits of Philosophy, Tübingen 2010, 267-291: 269.

11 Siehe D. Z. Phillips, Religion and Friendly Fire. Examining Assumptions in Contemporary Philosophy of

Religion, Aldershot 2004, 2f.

4

haften Schwierigkeit, kaum zu einem lebendigen Gott der ebenso lebendigen praxis pietatis

vorzudringen, sodass es beim Abstraktum einer reinen causa sui bleiben muss.12

Worauf es hier ankommt, ist jedoch keine Widerlegung des Theismus, sondern viel-

mehr die Einsicht in seine ideengeschichtliche Stellung. Wenn der Theismus selbst der Ver-

such ist, den Atheismus theoretisch zu überwinden, kehren wir mit seinem Scheitern zu den

atheistischen Prämissen zurück – und dies ist nun wirklich kein Schaden, sondern eine ‚gute

Nachricht‘. Die obige Vermutung, wonach Christentum und Atheismus eine ideengeschichtli-

che Kontinuität sowie eine begriffliche Relation zueinander unterhalten, könnte nun mit der

Erwartung verbunden werden, dass eine Theologie, die sich des neuzeitlichen Atheismus an-

nimmt, davon nicht unberührt bleibt, sondern sich in dieser Begegnung selbst transformieren

lässt. Dass dies tatsächlich der Fall ist und was das konkret heißt, ist Thema der nun folgen-

den Überlegungen.

II. Drei Beispiele inverser Apologetik

Bevor wir im nächsten Abschnitt direkt zu den An- und Aussichten einer genuin atheistischen

Theologie kommen, widmen wir uns zunächst jener Dynamik, die der Titel dieser Studie an-

kündigt. Unter ‚inverser Apologetik‘ sei eine für die nachaufklärerische Theologie typische

Strategie verstanden, welche religionsaverse Entwicklungen gezielt in die Struktur des Glau-

bens eingemeindet. Die scheinbar externe Bedrohung der fides wird entsprechend in deren

eigene Grammatik eingezeichnet, sodass der Charakter der Bedrohung nun gerade der theolo-

gischen Näherbestimmung des eigentlich Bedrohten weicht. Um eine ‚Apologetik‘ handelt es

sich insofern, als diese Transformationen bewusste Umbauarbeiten an der dogmatischen

Grundstruktur erfordern, die in genau jene Zeit fallen, in der eine konstruktive Verarbeitung

dringlich wird, statt sich in zunehmend anachronistischen Abgrenzungen eines latent konser-

vativen Gestus aufzureiben. Hier gilt nicht der Angriff als die beste Verteidigung, sondern die

geschickte Integration. Eben dieses Geschick ist der ‚inverse‘ Zug an jener Verteidigung, da

das zunächst konträre Verhältnis gleichsam auf den Kopf gestellt wird. Aus einer genuin reli-

gionskritischen Dynamik wird somit ein wesentliches Modul der Selbstkritik der Religion.

Und dennoch muss die Integration der Gegenkraft in einer notwendigen Ambivalenz

verbleiben, sodass die positive Rezeption flankiert wird durch eine kritische Reserve, um in

12

Zu diesem Komplex siehe H. von Sass, Jenseits von Hume: Demea. Eine Rehabilitierung in systematischer

Absicht, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 52:4 (2010), 413-439; ders.,

Gott als Ereignis des Seins. Versuch einer hermeneutischen Onto-Theologie, Tübingen 2013, 27-34.

5

jener Gegenkraft eine wertende Unterscheidung einzuziehen. Anhand von drei wirkmächtigen

Beispielen wird nun erläutert, welche Form diese Ambivalenz konkret annimmt: Es sind Sä-

kularisierung, Gott-ist-tot-Theologie und – Atheismus; denn alle drei Module werden zur

Qualifizierung der durch sie ‚eigentlich‘ bedrohten fides herangezogen, indem sie jeweils in

zwei Arten differenziert werden: eine die – rückläufig konstruiert oder historisch korrekt –

konstruktiv aufgenommen werden kann; und eine, die – als Tribut an die dann doch kaum zu

nivellierende Unvereinbarkeit – einer theologischen Kritik unterzogen werden muss. Schauen

wir uns dies etwas genauer an.

II.1. Gogarten und die Zweideutigkeit der Säkularisierung

An welchen gesellschaftlichen Dynamiken lässt sich die Säkularisierung am verlässlichsten

ablesen? Nach José Casanova ist diese Frage mit Verweis auf drei miteinander verwandte

Gegebenheiten zu beantworten: die abnehmende Bedeutung der Religion im individuellen

Lebensvollzug; der Rückzug der Religion aus dem öffentlichen Raum; sowie die Freisetzung

sozialer Systeme (wie Wirtschaft, Politik, Kunst) aus der kirchlich-religiösen Kontrolle.13

Einerseits hat dieser Befund seinen berechtigten Kern; denn die komplexen Erosionsprozesse

des Religiösen wären unterschätzt, wollte man sie als reine Transformationen in neue Formen

der Spiritualität bzw. einer esoterikaffinen Nachkirchlichkeit verbuchen. Andererseits ist un-

übersehbar, dass die klassische Säkularisierungsthese, die einen Kausalnexus zwischen Mo-

derne und den erwähnten Symptomen herstellt, im Blick auf den überaus heterogenen Befund

schon für die europäischen Staaten mehr als brüchig geworden ist: Modernität geht nicht un-

bedingt mit Säkularisierung einher und auch Säkularisierungen sind nicht immer Resultate der

Modernität.14

Zur Frage, ob wir vor der Verabschiedung der traditionellen Säkularisierungsthese

stehen,15

gesellt sich die andere Frage, ob die Dynamik der Säkularisierung wirklich erfasst

ist, wenn sie nach dem Paradigma der Enteignung konzipiert wird. Eben dies wird von Auto-

ren wie Hans Blumenberg verneint: Auch das Christentum habe lediglich eine Leerstelle vor-

13

Vgl. J. Casanova, Public Religions in the Modern World, Chicago 1994, Kap. 1.

14 Siehe H. Joas, Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg im Br. 2012, bes. 42.

15 So E. Gräb-Schmidt, Abschied von der Säkularisierungsthese. Herausforderung für die protestantische Theo-

logie der Gegenwart im Anschluss an Friedrich Schleiermacher und Karl Barth, in: Zeitschrift für Theologie und

Kirche 110:1 (2013), 74-108: 84.

6

gefunden, die es jetzt wiederum verliere, um nun dem „Abbau funktional inadäquater Abso-

lutheitsprätentionen“16

weithin wehrlos zusehen zu müssen.

Geht es in der einen Frage um die empirische und soziologische Angemessenheit der

Säkularisierungsthese, geht es in der anderen Frage um deren Kontextualisierung innerhalb

der Geschichte des Christentums. Beide Konstellationen leben jedoch von einem Bild der

Konfrontation zwischen Säkularisierung und christlichem Glauben. Es ist genau dieses Bild,

das Gegenstand der kritischen Überlegungen Friedrich Gogartens ist, um die Säkularisierung

als ein genuin theologisches Problem zu verhandeln. Dabei dringt der Begriff der Säkularisie-

rung erst in den 1920er Jahren in den dogmatischen Begriffshaushalt ein,17

wobei es Gogarten

ist, der ihm eine theologisch offene Konnotation zuschreibt, und dies etwa 30 Jahre später,

d.h. unter dem Eindruck fatalen menschlichen Scheiterns, aber auch in der Gewissheit, die

dialektisch-theologische Reserve gegenüber gesellschaftlichen Prozessen nicht mehr beibehal-

ten zu können.18

Daraus ergibt sich für Gogarten nun gerade keine Neuauflage einer ohnehin

belasteten „Politischen Theologie“,19

sondern die konstruktive Hinwendung zum Phänomen

der Säkularisierung – und zwar im Modus inverser Apologetik.

Gogarten beginnt seine 1953 unter dem Titel Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit20

veröffentlichte Diagnose mit der Vermutung, die Säkularisierung sei dem Glauben nicht äu-

ßerlich, sondern gehöre dem Wesen der fides selbst an (so 11). Neben diesem attributiven

Verständnis (Säkularisierung als Eigenschaft des Glaubens) deutet Gogarten jedoch auch ein

kausales an (Säkularisierung als Folge des Christentums; vgl. 8 und 12). Gogarten wird diese

Spannung nicht auflösen, wohl auch deshalb nicht, weil er primär keine soziologisch konkre-

ten Relationen im Sinn hat (wie Casanova; s.o.), sondern unter ‚Säkularisierung‘ eine umgrei-

fende Transformation des menschlichen In-der-Welt-Seins versteht. Zwar benennt auch Go-

garten religionshistorisch greifbare Entwicklungen wie die monotheistische Ablösung der

Vielgötterei (89), die dadurch bedingte Verweltlichung der Welt (99) sowie die Vergeschicht-

16

U. Barth, Säkularisierung und Moderne. Die soziokulturelle Transformation der Religion, in: ders., Religion

in der Moderne, Tübingen 2003, 127-165: 133. – Von H. Blumenberg vgl. Verspätung der Aufklärung und Be-

schleunigung ihres Verfahrens, in: ders., Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a.M. 2001, 218-242.

17 Vgl. U. Barth, Säkularisierung, 129 mit Anm. 4 und 5; auch M. Schmidt, Art. Atheismus I/2: Atheismus in der

Geschichte des Abendlandes, in: TRE Bd. IV, 351-364: 362.

18 Siehe noch F. Gogarten, Die Krisis der Kultur [1920], in: Anfänge der dialektischen Theologie. Teil 1: Karl

Barth – Heinrich Barth – Emil Brunner, hrsg. von J. Moltmann, München 1966, 101-121.

19 Wie es bei der Gogarten-Schülerin D. Sölle der Fall ist; siehe Politische Theologie. Auseinandersetzung mit

Rudolf Bultmann [1971], Stuttgart, erweiterte Neuauflage 1982, bes. Kap. 5.

20 F. Gogarten, Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit. Die Säkularisierung als theologisches Problem, Stuttgart

1953; die in Klammern stehenden Seitenzahlen beziehen sich bis zum Ende des Abschnitts II.1. auf diesen Text.

7

lichung der individuellen Existenz (102).21

Doch sind dies letztlich Spurenelemente der sie

(be)gründenden Erlangung menschlicher Freiheit gegenüber der Welt im Dual von neuer

Macht und Verantwortung sowie der alten Gefahr der Selbstherrlichkeit und Hybris (vgl. 7

und 142).22

Beides – Gewinn und Gefahr – sei als Produkt der Säkularisierung zugleich legitime

Folge des Christentums. Mit dieser These zeichnet sich nun der invers-apologetische Zug in

Gogartens Überlegungen ab, wobei drei zentrale Momente unterschieden werden können.

Zum einen stellt Gogarten, wie angedeutet, die Säkularisierung in einer bestimmten Ausprä-

gung als Folge des Christentums selbst dar. Mehr noch, die gesamte Neuzeit gilt ihm als ei-

gentliche Wirkung des christlichen Glaubens (103). Dabei sei die neuzeitliche Säkularisierung

kein einmaliger und abschließbarer Akt, sondern als Gewinnung zu verantwortender Auto-

nomie und bedrohter Authentizität eine Aufgabe, die immer wieder von Neuem beginne (99).

Dieses erste Moment ist das der Eingemeindung, welches zwischen belastbarer Bestandsauf-

nahme und intellektueller Vereinnahmung latent schillert.

Das zweite Moment könnte das der Intentionalität genannt werden. Gemeint ist, dass

Gogartens dezidiert theologischer Zugang zur Säkularisierung ein bewusstes Manöver im

Sinn der Verteidigung des Glaubens unter erschwerten Bedingungen darstellt. Das Oszillieren

zwischen Bestandsaufnahme und Vereinnahmung wird dadurch tendenziell zugunsten des

zweiten aufgelöst, nicht jedoch ohne nach den Limitierungen dieser vom Glauben erforderten

Säkularisierung zu fragen. Denn auch für Gogarten stellt sich das Problem, inwiefern die fides

nicht zugleich Kriterium oder Grenze der Säkularisierung darstellt (104 und 139), um die

skizzierte Dynamik zu verschärfen, zumal von einer Selbstsäkularisierung des Glaubens aus-

zugehen sei (103 und 189).23

Gogarten belässt es lediglich bei Andeutungen, wie dieser Vor-

gang zu denken sei, gibt aber zumindest den interessanten Hinweis, dass die Säkularisierung

als Fortführung Bultmanns Entmythologisierungsprogramm verstanden werden könne (96,

Anm. 1). Genau wie der Mythos vor jeder Eliminierung im Sinne seiner „eigentlichen Intenti-

21

Siehe auch F. Gogarten, Entmythologisierung und Kirche, Stuttgart 31953, 30 und 54.

22 Daran schließt sich bei Gogarten eine radikale Individualismuskritik an; dazu F. W. Graf, Friedrich Gogartens

Deutung der Moderne. Ein theologiegeschichtlicher Rückblick, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 100 (1989),

169-230, bes. 173f. und 196.

23 Gogarten schränkt dies jedoch an anderer Stelle ein: „Meinte der Glaube, der Säkularisierung etwas von dem,

was sie ergriffen hat, vorenthalten zu müssen, so hörte er damit auf, Glaube zu sein. Und umgekehrt: machte sich

die Säkularisierung daran, das, was des Glaubens ist, für sich in Anspruch zu nehmen, so bliebe sie nicht in der

Säkularität, sondern würde zum Säkularismus.“ (139).

8

on“ existential interpretiert werde, hätte die Säkularisierung die Aufgabe, die Welt vor jeder

Profanierung24

im Sinne der Freiheit zur Freiheit zu verweltlichen.25

Als drittes Moment tritt die wertende Differenzierung hinzu. Bei aller Wertschätzung

für die glaubensgestiftete Säkularisierung muss auch Gogartens inverse Apologetik theore-

tisch verarbeiten, dass die Säkularisierung alles andere als glaubensstiftend wirkt.26

Um Wert-

schätzung und Kritik verbinden zu können, unterscheidet Gogarten daher bekanntlich zwi-

schen Säkularisierung und Säkularismus. Während Säkularisierung gezielt im Säkularen ver-

bleibe, die Welt nur Welt sein lasse und das Nichtwissen gerade nicht transzendiert werde,

halte der Säkularismus diese ignorantia nicht durch und überschreite teils nihilistisch, teils

ideologisch die Grenzen der reinen Vernunft (138f.). Der Säkularismus gleiche einer „Entar-

tung der Säkularisierung“ (139).

Für unsere Zwecke kann nun nicht die konkrete Auslegung der drei Momente – Ein-

gemeindung, Intentionalität und Differenzierung – im Vordergrund stehen, sondern die gene-

relle Einsicht in jene invers-apologetische Strategie, die sich in Gogartens Ansatz zeigt, näm-

lich eine der neuzeitlichen Hauptgegenkräfte des Glaubens in diesen als dessen Wesens-

merkmal bzw. legitime und notwendige Folge zu integrieren (209). Gogarten selbst resümiert

schließlich:

„Das Verhältnis zwischen dem Glauben und der Säkularisierung ist demnach so, daß

es den Glauben nicht gibt ohne die Säkularisierung des Verhältnisses des Glaubenden

zur Welt. Wohl aber gibt es die Säkularisierung, nachdem die ihr entsprechende Frei-

heit des Menschen der Welt gegenüber erschlossen ist, auch ohne den Glauben. Aller-

dings tritt dann an die Stelle des Glaubens und der von ihm ergriffenen göttlichen

Wirklichkeit des Heils eine andere Gestalt dieses Ganzen.“ (141)

II.2. Jüngel als Gott-ist-tot-Theologe

Hatte sich Gogarten noch auf eine säkular kodierte Transformation des Glaubensbegriffs kon-

zentriert, spitzt sich bei Eberhard Jüngel die Lage zu, da nun die brisanteste Konsequenz jener

24

Zum Unterschied von ‚Säkularisierung‘ und ‚Profanierung‘ siehe G. Agaben, Profanierungen. Aus dem Italie-

nischen von M. Schneider, Frankfurt a.M. 2005, 74.

25 Dazu R. Bultmann, Zum Problem der Entmythologisierung, in: Kerygma und Mythos II. Diskussion und

Stimmen des In- und Auslandes, hrsg. von Hans W. Bartsch, Hamburg 1952, 179-208, vor allem 184.

26 Vgl. H.-J. Höhn, Reflexive Säkularisierung. Eine Problemanzeige, in: Unerfüllte Moderne? Neue Perspektiven

auf das Werk von Charles Taylor, hrsg. von M. Kühlein und M. Lutz-Bachmann, Berlin 2011, 698-715: 704.

9

Prozesse in den Begriff Gottes eingezeichnet werden: sein eigener Tod. Die zunächst durch

amerikanische Autoren geprägte God-is-dead-theology ist eine schillernde Bewegung, häufig

als Modeerscheinung ohne längere Halbwertzeit abgetan, zuweilen aber auch in ihrem Anlie-

gen tatsächlich ernstgenommen. Wie man sich positioniert, hängt von der naheliegenden Fra-

ge ab, was mit ‚Gottes Tod‘ ausgesagt ist, und auch hier lassen sich unterschiedliche Varian-

ten auseinanderhalten:

Es kann, erstens, ein ganz wörtliches Verständnis gemeint sein, wonach schlicht das

Ableben oder gar – wie in Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft (§ 125) – die Tötung Gottes

verkündet wird. Meist geht es dann schon nicht mehr so sehr um den Tod, sondern um das

Sterben Gottes, sodass mit der vorangehenden Annahme seiner Existenz ein bloßes „Vorlau-

fen in den Tod“ ausgedrückt wäre und von Gott nur noch seine Apräsenz bliebe. Gott müsste

nicht einmal durch eine triumphale Rebellion zu Fall gekommen sein, sondern in einer viel

gefährlicheren Bewegung schleichender Relevanzlosigkeit, eines Abdriftens aus dem Leben

der Menschen. Gott verschwindet demnach …

„by each stage of apparently triumphant interpretation of a so-called Christian culture

making him an appendage of man’s cultural work and institutions.“27

Die zweite Version deutet sich in der Frage an, welcher Gott gestorben sei, wenn Gott

wirklich gestorben ist. Hier bezieht sich jene Rede vom Tod Gottes auf die Erosion eines be-

stimmten Gottesbildes, und zwar zumeist als Absage an den Gott der Metaphysik. Trotz der

umstrittenen Bedeutung der ‚Metaphysik‘ ist mit ihrer Kritik insbesondere die Verabschie-

dung letzter Bedingungen und ultimativer Prinzipien sowie deren Geschichtslosigkeit und

Invarianz gemeint, als deren Inbegriff ‚Gott‘ fungiere.28

Der Gedanke vom Tod des metaphy-

sischen Gottes könnte allerdings selbst ein metaphysischer Gedanke vom Tode Gottes sein,

wie Jüngel einräumt.29

Die dritte Version ist die exklusiv christologische, die vorsieht, dass sich eine Theolo-

gie nach dem Tode Gottes als eine Christologie – ohne Gott? – zu entwerfen hätte.30

Dorothee

27

G. Vahanian, The Death of God. The Culture of Our Post-Christian Era, New York 1960, xxv.

28 Dazu vor allem J.-L. Nancy, Noli me tangere. Aus dem Französischen von C. Dittrich, Zürich / Berlin 2008,

56; ferner auch ders., Philosophische Chroniken. Aus dem Französischen von C. Dittrich, Zürich / Berlin 2009,

10.

29 So E. Jüngel, Vom Tod des lebendigen Gottes. Ein Plakat, in: ders., Unterwegs zur Sache. Theologische Be-

merkungen, München 1972, 105–125: 122.

30 Zum Überblick W. Müller-Lauter, Art. Atheismus II: Systematische Darstellung, in: TRE Bd. IV, 378-436:

394.

10

Sölles Überlegungen zur doppelten Stellvertretung (derer Gottes durch Christus und mittelbar

in der Nachfolge durch den Menschen) deuten in diese Richtung.31

In Sölles eigenen Worten

einer engagierten Theologie heißt es:

„[Gott] will vertreten werden, er hat sich selber vertretbar gemacht, er hat sich bedingt,

er hat sich vorläufig gemacht, er ist abhängig geworden. Er vermittelte sich in die

Welt. Er wurde Mensch.“32

Jüngel stehen diese drei Versionen sehr genau vor Augen, als er mit seinem Haupt-

werk Gott als Geheimnis der Welt (1977) seine Reaktion zur zeitgenössischen Rede vom To-

de Gottes vorträgt. Auch er nimmt diese Redeweise theologisch konstruktiv auf (wenn auch

nicht im Sinn der ersten wörtlichen Version), auch er verbindet mit ihr eine dezidierte Kritik

der metaphysischen Tradition eines apathisch-passionslosen Gottes jenseits der Geschichte;

und auch er versucht, jener Aporie vom „Tod des lebendigen Gottes“ christologisch zu be-

gegnen.33

In diesem „Streit zwischen Theismus und Atheismus“ (so im Untertitel des Werkes)

bezieht Jüngel eine Position, die der nachgezeichneten Linie inverser Apologetik angehört.

Dabei gilt Jüngel die Rede vom Tod Gottes als Antwort auf die Frage, wo Gott sei. In

Anlehnung an Hegels Integration der Selbsterniedrigung und des Todes Gottes in Gott selbst

als Momente seines Wesens sowie Bonhoeffers Emphase der Schwachheit Gottes gegenüber

einer religionslosen, ihn hinausdrängenden Welt plädiert Jüngel für die theologisch gebotene

Verneinung der metaphysisch-theistischen Tradition. Nur so könne der Tod Gottes wahrhaft

verarbeitet werden, und zwar kreuzestheologisch.34

Nicht die Existenz des (mehr als) lebendigen Gottes stehe mit dem Tod Gottes zur

Disposition, sondern dessen Wesen.35

Dabei sei die Rede vom Tod Gottes ihrerseits christli-

chen Ursprungs und Integral dessen Wirkungsgeschichte.36

Der Tod Gottes sei daher in seiner

Bedeutung für Gott zur Geltung zu bringen, zumal Gott selbst den Tod erleide, sich dem

Fremden ganz und gar aussetze und auch die Auferstehung das „Wort vom Kreuz“ keines-

31

Vgl. D. Sölle, Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem ‚Tode Gottes‘, Stuttgart 1969, 149 und 163.

32 A.a.O., 169.

33 Vgl. E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwi-

schen Theismus und Atheismus, Tübingen 31978, 61-63.

34 Dazu a.a.O., bes. 73f., 82, 121f., 128.

35 So a.a.O., 132 und 134. – Wobei Jüngel auch die These vertreten kann, dass Existenz und Wesen in Gott iden-

tisch sind; siehe a.a.O., 183f. und 259; ferner E. Fuchs, Hermeneutik [1954], 3. Auflage (mit Ergänzungsheft),

Bad Cannstatt 1963, 251.

36 Vgl. Jüngel, Tod, 109f.

11

wegs rückgängig mache.37

Und auch umgekehrt müsste theologisch der Bedeutung des Todes

Gottes für den Tod nachgegangen werden, insofern sich Gott mit Christus derart identifiziert

habe, dass dieser als sein Sohn verkündigt werden könne; der Tod werde somit zu einem Got-

tesphänomen – ohne Tod kein Gott.38

Auch hier soll uns weniger beschäftigen, inwiefern es Jüngel wirklich gelungen ist, je-

ne Aporie zwischen Leben und Tod des Allmächtigen zu umgehen. Vielmehr ist auch in die-

sem Ansatz zu erkennen, wie jene Hegel-inspirierte Dynamik der Integration des Antagonis-

ten am Wirken ist. Die drei invers-apologetischen Momente der Eingemeindung, Intentionali-

tät und Differenzierung lassen sich auch in diesem Zusammenhang deutlich erkennen. Dass

zwischen dem Tod und Tod Gottes unbedingt unterschieden werden muss, ist ja gerade die

Aufgabe des christologischen (und trinitätstheologischen) Denkens; und dass dies ein ganz

absichtsvolles Manöver darstellt, ist ohne Zweifel ebenso der Fall. Was das erste Moment

anbelangt, legt Jüngel jedoch weit stärker als etwa Gogartens Säkularisierungsthese den Ak-

zent darauf, dass von einer ‚Eingemeindung‘ nur in Zurückhaltung gesprochen werden kann;

denn es ist bekanntlich einer der Pointen der theologia crucis, dass der Tod Gottes nicht erst

rekursiv theologisch integriert werden müsste, sondern recht verstanden derjenige Artikel ist,

mit dem der Glaube steht und fällt. Die Gott-ist-tot-Theologie und Jüngel als einer ihrer kriti-

schen Vertreter behaupteten demnach nichts Neues, aber immerhin das Alte ganz neu.

II.3. Die Wiedergewinnung des Atheismus bei Dorothee Sölle

Obgleich Dorothee Sölle mit ganz ähnlichen Fragestellungen kämpft, die schon Jüngel her-

ausgefordert haben, denkt sie doch in einer davon ganz verschiedenen intellektuellen Stim-

mung. An die Stelle einer akademischen Theologie, die sich der ihr vorausliegenden Tradition

versichert, tritt ein Denken, das die Theorie nicht ohne ihre Konsequenzen für die Praxis her-

anzieht.39

Eine im doppelten Sinn praktische Theologie ist das (dann universitär weithin mar-

ginalisierte) Resultat: als engagierte Theologie, die ihr Ziel verfehlte, wenn sie sich selbst

entpolitisierte oder intellektuell asozial bliebe;40

und als dezidiert anti-metaphysische Theolo-

37

Dazu a.a.O., 120f.

38 Vgl. a.a.O., 122f.

39 Nach Jürgen Habermas ist dies eine Grundtendenz eines Denkens, das sich auf nachmetaphysische Bedingun-

gen eingestellt hat; siehe Der Horizont der Moderne verschiebt sich, in: ders., Nachmetaphysisches Denken.

Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. 31989, 11-17: 14.

40 D. Sölle, Politische Theologie. Auseinandersetzung mit Rudolf Bultmann [1971], Stuttgart erweiterte Neuauf-

lage 1982, bes. 40f., 56, 64, 108.

12

gie, die Gott als ohnmächtigen und schwachen Gott denkt, sodass seine im Leiden solidari-

sche Wirklichkeit die Hoffnung ist, von der unser Handeln getragen wird.41

Wie Jüngel geht auch Sölle immer wieder auf die Kronzeugen der Gott-ist-tot-

Theologie zurück, insbes. auf Hegel und Nietzsche, die den Schmerz am Tode des Absoluten

fühlen, nicht ohne den absoluten Tod als letzte Konsequenz des christlichen Gottesgedankens

zu verarbeiten.42

Dass es Gott nicht (mehr) gibt, heißt nach Sölle, dass es ihn nicht in der Ein-

deutigkeit seiner Macht geben könne (73); entsprechend sei der Tod Gottes auf den Sohn und

den Vater zu beziehen, sodass die Gottverlassenheit am Kreuz als keine andere erscheine als

die unsrige. Gottes Geschichte gleicht demnach der Geschichte der Entäußerung Gottes an

und in die Geschichte (ebd.).

Anders aber als in Jüngels Trinitätstheologie, die den „Streit zwischen Theismus und

Atheismus“ kreuzestheologisch moderiert, vertritt Sölle eine eschatologisch orientierte Ethik

des Glaubens. Das meint einerseits, dass die Erfahrung der Transzendenz nicht mehr aus der

Metaphysik bezogen wird, sondern aus einer selbst zu gestaltenden Zukunft;43

und es meint

andererseits, dass die fides kein „Sammelsurium“ ideologischer Inhalte bilde, sondern eine

Art, das gesamte Leben zu führen, bezeichne (82).

Entsprechend geht Sölle immer wieder kritisch an jene theologischen Weichenstellun-

gen zurück, die für den Versuch stehen, jede Form der Relativierung, Historisierung und Ethi-

sierung des Glaubens loszuwerden. Es ist vor allem die Dialektische Theologie ihrer eigenen

Lehrer (insbes. Gogarten und indirekt auch Bultmann), die die Emphase der Geschichtlichkeit

menschlicher Existenz eigenständig aushöhlten, indem die gemeinsam geteilte Geschichte auf

das reine Jetzt des Augenblicks reduziert und die notwendig sozialen Lebensformen lediglich

vom Individuum her betrachtet würden (59 und 67). Das fatale Ergebnis ist die Verflüchti-

gung der Geschichte gerade in jenem Programm, das die Geschichtlichkeit des Daseins im

Gefolge von Kierkegaard und Heidegger sich herauszuarbeiten bemühte. Die spürbare Reser-

ve der Dialektischen (und leider auch der Hermeneutischen) Theologie, sich wirklich auf ge-

sellschaftliche, ökonomische und politische Fragen einzulassen, ist das Ergebnis, gegen das

Sölle kritisch anschreibt (71)44

. War es hingegen nicht gerade die Ausrichtung der Urgemein-

41

Vgl. Sölle, Stellvertretung, 150f.; dazu S. Hausammann, Atheistisch zu Gott beten? Eine Auseinandersetzung

mit D. Sölle, in: Evangelische Theologie 31 (1971), 414-436, bes. 422f. und 433.

42 D. Sölle, Atheistisch an Gott glauben. Beiträge zur Theologie, Olten / Freiburg im Br. 1968, 53 und 55; die in

Klammern stehenden Seitenzahlen beziehen sich bis zum Ende des Abschnitts II.3. auf diesen Text.

43 Ganz ähnlich J. Moltmann, Politische Theologie – politische Ethik, München / Mainz 1984, 154.

44 Vgl. Sölle, Politische Theologie, Kap. 3.

13

de, ganz auf die gesellschaftliche Praxis im Geist der agape einzuwirken, ohne in ihr voll-

kommen aufzugehen?, so fragt Sölle rhetorisch (79).

Den sich sogleich aufdrängenden Einwand, hier werde die Auflösung der Religion in

Moral betrieben, nimmt Sölle selbst vorweg – indem sie ihn bejaht. Doch werde schon seit

2000 Jahren diese Auflösung erprobt, ohne zu einem Ende zu gelangen; ‚Auflösung‘ be-

schreibt demnach kein Resultat, sondern einen unabgeschlossenen Prozess, eine Bewegung

der stets von Neuem einsetzenden Entsakralisierung, einer Profanisierung des Heiligen, die

„der christlichen Religion eingestiftet“ sei (86). Der Glaube verbleibe in dieser Bewegung, die

vom Zeugnis Christi selbst ausgehe, einen uneinholbaren Überschuss enthalte und deren le-

diglich negative Utopie darin bestehe, dass jener Exzess einmal aufgebraucht sei (93). Chris-

tologisch ist dieser praktisch werdende Glaube insofern, als die Nachfolge Christi sowohl als

Motiv wie auch als Orientierung fungiert; die imitatio begründet folglich unser Handeln und

gibt ihm zugleich eine Richtung, und zwar nicht entlang des moralischen Duals von Richtig

und Falsch, sondern im hermeneutischen Modus der Sensibilisierung und Empfindsamkeit für

das moralisch Signifikante (51).45

Dieses Amalgam aus politisch orientierter Theologie, eschatologischer Hoffnung und

christologischer Nachfolgeethik hat zur Frage geführt, ob die sich hier abzeichnende atheisti-

sche Theologie nicht lediglich für die Verneinung jeder Transzendenz stehe.46

Und in der Tat

drängt sich die Schwierigkeit auf, welche Funktion der Gotteslehre zukommen kann, wenn es

scheint, dass alles auf die Christologie konzentriert ist, während diese wiederum ihren Gegen-

stand ganz auf der Linie des exemplum, gerade nicht im Sinn des sacramentum verhandelt.47

Nun betont Sölle immer wieder zurecht, dass der theologisch entscheidende Gegen-

stand – Gott – gerade nicht vergegenständlicht werden darf (60); Gott zu substantiieren, gli-

che einer religiösen Erschleichung, zumal sie der Konfusion zuarbeiten würde, Gott als Sub-

jekt auf einen Bereich – das Sakrale oder den Kairos – lokal oder temporal zu beschränken

(72). All dies partizipiere noch an einer theistischen Metaphysik, die es gerade zu überwinden

gelte, indem die Inkarnation als Gottes unbedingte Entäußerung an und in die Welt auszule-

45

Um welche Alternative für die theologische Ethik es hier genau geht, hat vor allem Johannes Fischer heraus-

gearbeitet; Verstehen statt Begründen. Warum es in der Ethik um mehr als nur um Handlungen geht, Stuttgart

2012, Teil 1: „Ethik als rationale Begründung der Moral?“.

46 So U. Barth, Säkularisierung, 132.

47 Zu dieser Differenz siehe E. Jüngel, Das Opfer Jesu Christi als sacramentum et exemplum. Was bedeutet das

Opfer Christi für den Beitrag der Kirchen zur Lebensbewältigung und Lebensgestaltung?, in: ders., Wertlose

Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische Erörterungen III, 2. Auflage um

ein Register erweitert, Tübingen 2003 (1990), 261-282; dieser Text kann als mittelbare Kritik an einer

exemplum-Christologie gelesen werden, für die nach Jüngel auch Dorothee Sölle Patin steht.

14

gen sei. Und dies, so deutet Sölle zumindest an, bringt ein Dreifaches mit sich: Zum einen

könne die Theologie nicht mehr einem invarianten Wesen Gottes nachdenken, sondern nach

seiner gänzlichen Vergeschichtlichung nur noch seinen „Wandlungen“ (54). Zum anderen ist

mit der Einsicht in die am Kreuz bezeugte Schwachheit Gottes ernstzumachen, sodass dieser

Gott sein Heil gerade nicht im Modus der alles überbietenden Intervention, sondern der heil-

sam begleitenden Anteilnahme am Leid Wirklichkeit werden lässt (53). Und schließlich lebt

der an Gott Glaubende dann nicht mehr in der Hoffnung auf eine supranaturale Hinterwelt,

sondern ohne jede metaphysische Absicherung, nicht also im Vertrauen auf ein Überwesen,

sondern im Verzicht auf den angeblichen „metaphysischen Vorteil“ gegenüber dem Nicht-

glauben (79). Wie Gott in seinen „Wandlungen“ aufgeht, so wird auch der Glaube ganz zur

Praxis, die nicht dort noch etwas zu sehen behauptet, wo alle anderen nichts mehr zu sehen

vermögen, sondern die lehrt, „die eine Wirklichkeit anders [zu] sehen“, nämlich mit den „Au-

gen Gottes“, mithin des Mutes und der Liebe (83f.).

Nimmt man diese drei Momente zusammen, wird auch Sölles Plädoyer nicht mehr

überraschen, die überkommene Entgegensetzung von Theologie und Atheismus aufzugeben,

den alten Antagonisten ganz gezielt invers-apologetisch zu integrieren und folglich ernsthaft

der theologischen Möglichkeit nachzugehen, atheistisch an Gott zu glauben (74).48

III. Zur Wahrheit des Atheismus

Systemtheoretisch gesprochen kann ein System nur überleben, wenn es in einer Balance zwi-

schen notwendiger Bezogenheit und ebenso nötiger Abgrenzung gegenüber seiner Umwelt

verbleibt.49

Betrachtet man das Christentum als ein derartiges System, ist es geradezu erstaun-

lich, wie es an historisch entscheidenden Punkten gelungen ist, jenes Gleichgewicht von Of-

fenheit für die Umwelt und der Abwendung einer Synchronisation mit ihr zu erhalten. Das

dafür zweifelsohne prominenteste Beispiel ist die Begegnung des Christentums mit der helle-

nistischen Welt, welche in die folgenreiche ‚Symbolisierung‘ des Glaubens durch die ökume-

nischen Konzile des 4. und 5. Jahrhunderts mündete. Während zu jener Zeit geradezu ein

Spekulationsschub ausgelöst worden ist, führten die modernen Ausläufer der hier betrachteten

48

Vgl. auch H.-G. Geyer, Atheismus und Christentum [1970], in: ders., Andenken. Theologische Aufsätze, hrsg.

von H. T. Goebel u.a., Tübingen 2003, 91-111, bes. 94.

49 Dazu klassisch N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1987, 30-

70 und 242-269.

15

Begegnung von neuzeitlichem Christentum und selbstkritisch werdender Aufklärung hinge-

gen zu einem Spekulationsabbau.50

Jene drei miteinander verwandten Exemplare inverser Apologetik gehören eben dieser

Abtragung an, woraus sich ihre klärungsbedürftige Reserve gegenüber der metaphysischen

Tradition herleitet. Dabei hat der durch das Christentum angestoßene bzw. geebnete Weg zur

Säkularisierung zunächst zur Konzentration auf den einen Gott geführt, wobei jener strikte

Monotheismus seiner theistischen Interpretation noch überaus offen gegenüber stehen könnte.

Erst in der Gott-ist-tot-Theologie und ihrem atheistischen Geschwister wird nun auch noch

diese Bastion angegriffen. Und zwar so, dass diese Attacke als Selbstbewegung des Christen-

tums betrachtet werden könnte. Womöglich ist es genau jenes invers-apologetische Manöver

gewesen, das die Bedingung der Möglichkeit war – und ist –, den Vertrag zwischen dem

‚System‘ des Christentums und seiner ‚entzauberten‘ Umwelt unter veränderten Bedingungen

erneut auszuhandeln. Worin also könnte die „Wahrheit des Atheismus“, die eine nicht „entar-

tete“ Säkularisierung in sich aufnimmt und den Tod längst erstorbener Götter annimmt, konk-

ret bestehen?

III.1. Reinigender Atheismus. Eine Andeutung

Die Varianz der Negation Gottes ist der Bibel wohl bekannt: dezidierte Gottesleugnung, un-

ausgesprochene Gottlosigkeit, leidvoll erlittene oder kaum mehr wahrgenommene Gottesab-

wesenheit (vgl. Dtn 5,7; Ps 14,1; 53,2). Insofern trifft es den Kern, wenn Gerhard Ebeling

folgende Definition vorschlägt:

„Denn ‚Atheismus‘, um auch hier mit einer vorläufigen Bestimmung zu beginnen,

meint die Haltung, die Gott nicht gelten läßt, die ihn leugnet, also von der Feststellung

seines Nichtseins und darum des eigenen Seins ohne Gott, vielleicht auch des Leidens

unter dem Mangel an Gott, ausgeht.“51

So treffend diese „vorläufige Bestimmung“ auch ist – genau um diesen Gestus der Vernei-

nung soll es, wie deutlich geworden sein mag, nicht gehen. Das heißt, die Formen von

Atheismen, die sich einem kämpferischen Naturalismus und Materialismus, einer anthropolo-

50

Siehe M. Horkheimer und T. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [1947], Frank-

furt a.M. 2003, 48f.

51 Ebeling, Botschaft, 377.

16

gischen Erbschaft religiöser Potenziale oder emanzipatorischer Rebellion verdanken,52

liegen

außerhalb unserer Betrachtung; ebenso aber auch jene grassierende Ignoranz gegenüber dem

Glauben an Gott, die nicht einmal mehr zu einer expliziten Verneinung, einem intellektuellen

oder existenziellen Aufbegehren durchdringt, sondern schon für die Frage nach Gott keinen

Ort und auch keine Sprache mehr findet.53

Entsprechend interessieren hier die Konturen eines theologischen Atheismus, der sei-

nerseits ein selbstkritisches und darin „reinigendes“ Modul der Theologie bilden könnte. Be-

reits bei Rudolf Bultmann zeichnet sich eine Suche nach einem derartigen Atheismus ab. Da-

zu stellt Bultmann fest, dass ein solcher Atheismus theologisch geboten sei, sofern Gott als

Seiendes verneint werde, ohne dessen Transzendenz preiszugeben.54

Weil stets die Gefahr

besteht, diesen schmalen Grat zur einen oder anderen Seite hin zu verlassen, die christliche

Theologie aber nicht darauf verzichten kann, auf ihm zu verbleiben, darf behauptet werden,

dass die Wurzeln des Atheismus genuin theologische sind.55

Wie ein reinigender Atheismus nicht in kritischer Verneinung stecken bleiben muss,

sondern sich zaghaft fortschreiben könnte zu einer konstruktiven Position, deutet der eingangs

erwähnte D.Z. Phillips an, der im Anschluss an Simone Weil einen „purifying atheism“ wie

folgt umschreibt:

“If my conclusions can be called a purifying atheism, this is not because their aim is to

advocate a worthy conception of the divine. If I have provided a proof of the non-

existence of a certain kind of God, it is a conceptual proof. It shows that certain ways

of talking, which seemed to make sense, in fact have no application: talk of God’s

covenant with his people in terms of a contract; talk of God as an agent among agents;

and talk of God as pure consciousness. Atheism with respect to a God, understood in

52

Zu dieser Aufzählung siehe W. Pannenberg, Typen des Atheismus und ihre theologische Bedeutung, in: ders.,

Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze [1], Göttingen 1967, 347-360: 348-354.

53 Dazu W. Krötke, Gottes Klarheiten. Eine Neuinterpretation der Lehre von Gottes „Eigenschaften“, Tübingen

2001, 148-159; ferner S. Glendinnind, Three cultures of atheism: on serious doubts about the existence of God,

in: International Journal for Philosophy of Religion 73:1 (2013), 39-55: 40.

54 So R. Bultmann, Die protestantische Theologie und der Atheismus [1971], in: Neues Testament und christliche

Existenz. Theologische Aufsätze. Ausgewählt, eingeleitet und herausgegeben von A. Lindenmann, Tübingen

2002, 294-298: 296.

55 Gavin Hyman hält entsprechend fest: „atheism did not so much provide en external challenge to theism, but

rather a revolution within theology itself is what gave rise to atheism. This is to claim that the origins of modern

atheism are ultimately the ological.” (Atheism in Modern History, in: The Cambridge Companion to Atheism.

Edited by M. Martin, Cambridge 2007, 27-46: 40).

17

these terms, is conceptually purifying. It is a prerequisite for appreciating other reli-

gious possibilities, other forms of religious belief.”56

Was Phillips hier zumindest nahelegt, ist ein theologischer Atheismus im Sinn eines

A-Theismus als begrifflicher Kritik am Theismus samt dessen Anthropomorphismus seiner

Bilder, der Vergegenständlichung seines Themas und der vorausgesetzten Dualität zwischen

Körperlichem und rein Geistigem. Ob es sich dabei tatsächlich stets um konzeptuelle Fragen

handelt, sei hier einmal vernachlässigt57

– zugunsten der bereits berührten Frage, wie aus je-

ner atheistischen Abtragung ein (re)konstruktiver Beitrag zur Gotteslehre gewonnen werden

könnte. Folglich haben wir es mit zwei Seiten einer atheistischen und insofern invers-

apologetischen Bewegung zu tun, denen wir uns nun zuwenden.

III.2. Grammatische und prozedurale ‚Reinigung‘

Beginnen wir mit der weitaus einfacheren Aufgabe, nämlich einer Skizze des theologischen

Atheismus als kritischem A-Theismus. Dazu können zwei grundsätzliche Formen jener um-

rissenen ‚Reinigung‘ unterschieden werden.

Die erste sei in Anlehnung an Phillips (und die Wittgensteinsche Tradition) die gram-

matische genannt. Als Beispiel mag Johann Gottlieb Fichtes Auseinandersetzung mit dem

gegen ihn erhobenen Atheismusvorwurf dienen (1798). Dieser kam bekanntlich auf, nachdem

Fichte seinen Schüler Friedrich Karl Forberg im Versuch verteidigt hatte, Religion als „prak-

tischen Glauben an eine moralische Weltregierung“ zu verstehen.58

Im Gefolge Kants wurde

der Glaube an Gott derart an das Ideal einer rein moralischen Praxis angenähert, dass rasch

der Eindruck entstand, hier werde unter der Hand der Gottesbegriff vollkommen obsolet.59

Dieser Vorwurf ist auch mit Blick auf Fichte verständlich, doch nicht selbstverständlich, so-

dass er sich mit Gründen, die gerade in unserem Zusammenhang interessant sind, währt.

56

D. Z. Phillips, The Problem of Evil and the Problem of God, London 2004, 158.

57 Dazu H. von Sass, Sprachspiele des Glaubens. Eine Studie zur kontemplativen Religionsphilosophie von Dewi

Z. Phillips mit ständiger Rücksicht auf Ludwig Wittgenstein, Tübingen 2010, 166-185.

58 Friedrich K. Forberg, Entwicklung des Begriffs der Religion [1798], in: Fichte. Ausgewählte Werk in sechs

Bänden, hrsg. von F. Medicus, Darmstadt 1962, Band III, 135-150: 137; im Orig. kursiv, leicht angepasst.

59 Vgl. zur (spinozistischen) Vorgeschichte des Atheismusstreits L. Dupré, On the Intellectual Sources of Mo-

dern Atheism, in: International Journal for Philosophy of Religion 45:1 (1999), 1-11.

18

Fichte fragt formal danach, welche Eigenschaften Gott sinnvoll zugeschrieben werden

können, um sich material vor allem darauf zu konzentrieren, den Substanzbegriff in Bezie-

hung zur Idee Gottes kritisch zu diskutieren. Dazu stellt er fest, dass die Gegner seines moral-

affinen Religionsbegriffs die endgültige Moralisierung des Religiösen nur dadurch meinen

abwenden zu können, dass Gott als eigenständige Substanz verstanden werde. Dem hält Fich-

te entgegen, dass in der Substanzialisierung Gottes ein latenter Materialismus am Wirken sei,

der nicht davor zurückschrecke, Gott zu verendlichen; denn als Substanz müsste Gott in

Raum und Zeit existieren, wodurch der eigentliche Atheismusvorwurf nun genau an diejeni-

gen zurückgegeben werden kann, die ihn anfänglich erhoben hatten. Auf den Begriff Gottes

lasse sich also das Prädikat der Substanz nicht widerspruchsfrei anwenden.60

Dazu Fichte:

„Mir ist Gott ein von aller Sinnlichkeit und allem sinnlichen Zusatze gänzlich befreites

Wesen, welchem ich daher nicht einmal den mir allein möglichen sinnlichen Begriff

der Existenz zuschreiben kann. Mir ist Gott bloß und lediglich Regent der übersinnli-

chen Welt.“61

Diese „übersinnliche Welt“ steht nicht für eine Wiederbelebung einer metaphysischen

„Hinterwelt“, sondern für die „Ordnung einer moralischen Welt“62

in genau der Welt, in der

wir ‚diesseits von Gut und Böse‘ leben. Gott fungiert dann als Grund jener Ordnung, der kein

statisches Sein darstellt, sondern etwas Fließendes; Gott ist genau genommen nicht mehr

Schöpfer, Erhalter und Regierer, sondern der unbedingte Akt des Schaffens, Erhaltens und

Regierens.63

Gottes Sein ist notwendig unbestimmbar, sodass das eigentliche Thema der Got-

teslehre die Taten Gottes als seine Wirklichkeit sind. Oder noch einmal in Fichtes Worten:

„Der Begriff Gottes läßt sich überhaupt nicht durch Existentialsätze, sondern nur

durch Prädikate eines Handelns bestimmen.“64

60

Dazu J. G. Fichte, Appellation an das Publikum [1798], in: Fichte. Ausgewählte Werk in sechs Bänden, hrsg.

von F. Medicus, Darmstadt 1962, Band III, 151-198: 176f. und 179f.; ferner G. Ebeling, Existenz zwischen Gott

und Gott. Ein Beitrag zur Frage nach der Existenz Gottes [1965], in: ders., Wort und Glaube. Zweiter Band:

Beiträge zur Fundamentaltheologie und zur Lehre von Gott, Tübingen 1969, 257-286, bes. 274.

61 Fichte, Appellation, 180.

62 A.a.O., 168.

63 Vgl. J. G. Fichte, Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [1799], in: Fichte. Ausgewählte Werk in sechs Bän-

den, hrsg. von F. Medicus, Darmstadt 1962, Band III, 199-237: 230.

64 A.a.O., 235; dazu auch W. Pannenberg, Fichte und die Metaphysik des Unendlichen, in: Zeitschrift für philo-

sophische Forschung 46:3 (1992), 348-362: 353.

19

Womit Fichte hier beschäftigt ist, kann als grammatische Arbeit am Gottesbegriff be-

zeichnet werden, um mittels einer a-theistischen Klärung herauszuarbeiten, dass selbst ver-

traute Prädikate in Konfusionen münden, die es gerade abzutragen gilt. Auf den konstruktiven

Vorschlag, von Substanz- auf Vollzugsbegriffe umzustellen, ist gleich noch einmal zurückzu-

kommen. Schon hier aber kann die Vermutung geäußert werden, Fichtes ‚Atheismus‘ habe

sich bei Autoren wie Jüngel und Sölle zu einer inversen Apologetik fortgeschrieben, indem

sie die grammatischen Reinigungsarbeiten intensivieren.

Während bei Fichte (und vielen seiner Nachfolger) der A-Theismus als Resultat eines

Klärungsprozesses erscheint, wird in der zweiten Form der Reinigung der Atheismus auf

Dauer geschaltet. Damit kommen wir zur prozeduralen Version eines „purifying atheism“,

die sich an Überlegungen von Paul Ricœur knapp erläutern lässt. Im Anschluss an Nietzsches

und Freuds klassischer Religionskritik fragt Ricœur gezielt blasphemisch, welcher Gott es

überhaupt noch verdient hätte, eben jene Kritik zu überleben. Auch hier ist deutlich, dass der

Gott der Onto-Theologie – der Gott der Souveränität, der letzten Prinzipien, der verbindlichen

Moral in Anklage und Verurteilung – es nicht „verdient“ hat.65

Nach der brisant bleibenden

Trauerarbeit wandelten wir nun im Dunkel, vor einem Gott „ohne Vorsehung“, ohne den Wil-

len zu schützen – vor dem gekreuzigten Gott, der Gegenstand eines tragischen Glaubens sei,

wie wir ihn von Hiob kennen, so Ricœur.66

Ein Weg, der an einen Ort jenseits des gescheiterten moralischen Gottes führe, sei zu

beschreiten, ein Weg, der zu einem prä-ethischen Ort leite, wo nicht Verbot und Anklage,

sondern Trost vernehmbar sei. Nicht das Sehen, sondern das Hören wird nun zum Grundmo-

dus der fides promoviert, um in der Dichtung und Anrede das „Wort“ zu erfahren. Eine neue

Ordnung der Welt als neue Sicht auf sie werde so wirklich, wenn das Wort Ereignis werde

oder wenn das Wort-Werden des Seins der Modus des Trostes sei.67

Es ist spürbar, dass

Ricœur sich in diesen zaghaften Deutungen an den Duktus des späten Heidegger anlehnt, um

sich seiner quasi als Wort-Gottes-Theologe zu bedienen.

Was Ricœur hier einzuüben versucht, ist eine Bewegung, in der die „religiöse Bedeu-

tung des Atheismus“ zu finden sei, sodass die Religion nicht nur atheistisch zerstört werde,

65

P. Ricœur, Religion, Atheismus, Glaube [1969], in: ders., Hermeneutik und Psychoanalyse. Der Konflikt der

Interpretationen II, München 1974, 284-314: 289f.

66 A.a.O., 306f.

67 Vgl. a.a.O., 308.

20

sondern ein Horizont freigelegt werde für einen nach-religiösen Glauben, einen Glauben, wie

auch Bonhoeffer sagte, für ein nach-religiöses Zeitalter.68

Im Titel zu Ricœurs Aufsatz sind

demnach nicht nur die Schlagwörter unverbunden zusammengefasst, sondern eine Dynamik

angezeigt, die ‚Religion‘ mit dem ‚Glaube‘ atheistisch vermittelt. Und zwar nicht als Kom-

promiss oder Ausgleich, sondern als Transfer von längst toten Hoffnungen des Religiösen zu

einem durch das Wort getrösteten Glauben.

Ricœur belässt es bei dieser Skizze, die den Atheismus zwischen Religion und Glaube

lediglich umkreist, wodurch sich zahlreiche Fragen nach der präzisen Kontur dieser Bewe-

gung aufdrängen, aber auch nach Alternativen und insofern nicht-atheistischen Optionen, Re-

ligion und Glaube zu vermitteln. Für unseren Zusammenhang ist wichtig zu erkennen, dass

der Atheismus in dieser Version gerade kein Resultat bietet, um von nun an atheistisch an

Gott zu glauben; denn der Atheismus ist gemäß Ricœur zwar ein Modul des Christlichen, aber

eben kein Element des Glaubens selbst; vielmehr bezeichnet der Atheismus eine unabge-

schlossene Dynamik als immer wieder notwendiger Einspruch gegen die latenten Konfusio-

nen, denen die „Religion“ erliegt.69

III.3. Atheistische Theologie – ?

Diese Überschrift ist mit Bedacht gewählt: ‚Atheistische Theologie – Fragezeichen‘. Selbst

wenn es unbestritten wäre, dass die christliche Religion von einem „Atheismusvektor“ durch-

zogen ist,70

bleibt zunächst offen, ob aus dem erläuterten Gestus der Reinigung auch ein kon-

struktives Programm destilliert werden könnte, dessen Zuschnitt eigentümlich genug ist, um

sich von parallelen Ansätzen – liberale, politische, dialektische, hermeneutische Theologien –

sichtbar abgrenzen zu können. All diesen Programmen eignet eine notwendige Vagheit, weil

jeweils die Balance gefunden werden muss zwischen Öffnung und Konkretion, zwischen ei-

nem inhaltlichen Rudiment, das nicht allzu exklusiv erscheint, und einer Verbindlichkeit, die

68

A.a.O., 284.

69 Religion ist demnach nicht Glaube, sondern (analog zu Barth) Unglaube; siehe K. Barth, KD I/2, § 17.2 (324-

356). – Verwandt mit Ricœurs Bild von einer prozedural-atheistischen Reinigung sind Jean-Luc Nancys Überle-

gungen zur (Auto)Dekonstruktion des Christentums als nicht enden wollender Vorgang; siehe Dekonstruktion

des Christentums. Aus dem Französischen von E. von der Osten, Zürich / Berlin 2008, bes. 36 und 58; ders., Die

Anbetung. Dekonstruktion des Christentums 2. Aus dem Französischen von E. von der Osten, Zürich / Berlin

2012, u.a. 41 und 50f.

70 So Nancy, Anbetung, 47.

21

für eine theologische Identität sorgen kann. Umfassende Programme dürfen daher weder

prägnant, noch elitär sein und müssen dennoch unterscheidbar bleiben. Das mag sich wie das

pragmatische Rezept eines Parteiprogramms anhören, trifft aber mit wenigen Abstrichen auch

auf dogmatische Grundausrichtungen wie der atheistischen Theologie zu.

Um deren Konturen sichtbar zu machen, bieten sich zwei Wege an. Entweder benennt

man bestimmte Kriterien einer Theologie, die sich selbst als atheistisch präsentiert, um dann

ermitteln zu können, welche vorliegenden Entwürfe des Faches zu jenem Etikett passen. Oder

aber man widmet sich umgekehrt konkreten Debatten, die theologiegeschichtlich bzw. syste-

matisch-theologisch mit dem Atheismus in Verbindung gebracht worden sind, und versucht,

daraus die Merkmale einer atheistischen Theologie zu erheben. Während der erste Weg der

deduktive genannt werden könnte, der eine atheistische Theologie „von oben“ präsentiert,

steht der zweite Weg für einen induktiven Zugang und insofern für eine atheistische Theolo-

gie „von unten“. Obgleich sich beide Wege nicht ausschließen, werden wir uns an den zwei-

ten halten, und zwar aus einem einfachen Grund: Im Gegensatz zu den erwähnten Alternativ-

programmen ist das Label einer atheistischen Theologie kaum geläufig. ‚Liberale‘71

oder (die

„neuere“) ‚politische‘72

Theologie bilden Selbstbeschreibungen der Repräsentanten einer Kul-

tur- bzw. gesellschaftlich engagierten Theologie; ‚dialektische‘ Theologie ist immerhin eine

Fremdzuschreibung, die sich ihren Gegnern verdankt; und die ‚Hermeneutische‘ Theologie

wiederum stellt eine rekursive Bezeichnung dar, die auf die Folgegeneration ihrer Hauptver-

treter zurückgeht.73

Die atheistische Version der Theologie hingegen müsste erst einmal etab-

liert werden – und dies geht nur sinnvoll „von unten“.

Folgende Ansatzpunkte – zum einen formale, zum anderen materiale – haben wir für

eine konkretere Bestimmung bislang zusammengetragen; zur ersten Gruppe gehören:

(i) Apologetik: Ausgehend von dem religionssoziologischen Befund, nach dem der

Atheismus als in sich facettenreicher Inbegriff der Leugnung des Sinns von re-

ligiösem Glauben und Gott als dessen Gegenstand zu verstehen sei, stellt sich

71

Vgl. J. Lauster, Liberale Theologie. Eine Ermunterung, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und

Religionsphilosophie 50:3 (2007), 291-307.

72 Dazu Johann B. Metz, Zur Theologie der Welt, Mainz 1973, 16f. – in Abgrenzung zur traditionellen politi-

schen Theologie seit Carl Schmitt.

73 Dazu wiederum U. H.J. Körtner, Zur Einführung: Glauben und Verstehen. Perspektiven Hermeneutischer

Theologie im Anschluß an Rudolf Bultmann, in: ders. (Hg.), Glauben und Verstehen. Perspektiven hermeneuti-

scher Theologie, Neukirchen-Vluyn 2000, 1-18: 6; ders., Theologie des Wortes Gottes. Positionen – Probleme –

Perspektiven, Göttingen 2001, 238.

22

eine atheistische Theologie auf diese Negation so ein, dass sie diese Vernei-

nung in sich integriert. Der Atheismus wird ein genuin theologischer, indem er

invers-apologetisch verarbeitet wird.

(ii) Reinigung: Dabei tritt der Atheismus zunächst als A-Theismus, d.h. als Kritik

des expliziten oder latent bleibenden metaphysischen Theismus auf. Je klarer

ist, was der Theismus behauptet, umso deutlicher ist, was ein A-Theismus kri-

tisiert. Daraus erklärt sich die Reserve der atheistischen Theologie gegenüber

dem theologischen Personalismus, dem epistemischen Versuch der Letztbe-

gründung, dem relativismusaversen Ahistorismus und dem objektiven Wahr-

heitsbegriff der klassischen Metaphysik.

(iii) Modalisierung: Sofern der theologische Atheismus nicht im nur kritischen A-

Theismus verbleiben kann, nutzt er die theologische Negation, um von dort aus

zu konstruktiven Aussagen zu gelangen. Entsprechend fungiert der Atheismus

nicht als Bestreitung, sondern als Näherbestimmung von fides und Deus, so-

dass Gott nicht personalistisch, nicht letztbegründend, im Kommen und Wer-

den und als involvierende Wahrheit der Existenz zu denken ist – mit analogen

Folgen für einen Glaubensbegriff, für den Gott die unverfügbare Wirklichkeit

des Glaubens bezeichnet.

(iv) Empathie: Ein solcher Glaube ist sich bewusst, dass er sich als ein einmal er-

langter Zustand missverstehen würde, zumal jeder Glaubende aus dem Un-

glauben kommt und von diesem bleibend gefährdet ist. Eine atheistische Theo-

logie nimmt jene Latenz der Anfechtung als Modus des Glaubens selbst genau-

so ernst wie die externe Bestreitung des Glaubens als seine eigene potenzielle

Zukunft. Daher ist eine atheistische Theologie nicht nur Ausdruck der notwen-

digen Selbstkritik des Glaubens, sondern auch empathisch mit all jenen For-

men des Unglaubens, die zumindest den Sinn des Glaubens – und sei es in der

Bestreitung – ernstnehmen.

Die materialen Ansatzpunkte können einige der formalen konkretisieren; dazu zählen:

(v) Theo-Logie: Die atheistische Theologie ist tatsächlich eine atheistische Theo-

logie, d.h. ihr Gegenstand ist Gott – im Bewusstsein für die Verführbarkeit, ihn

durch Substitute zu verlieren. Analog zu Gogartens Unterscheidung zwischen

Säkularisierung und Säkularismus ist daher zwischen Wissen und Glauben und

– dem entsprechend – zwischen weltlichem Wissen und Gottesglauben strikt zu

23

trennen. Alle Versuche, beides als Verweltlichung Gottes oder als Vergöttli-

chung der Welt zu vermischen, müssen zur Kritik durch die atheistische Theo-

logie führen, in welcher Gogartens Dual fortwirkt.

(vi) Monismus: Aus diesem Dual folgt nun gerade kein Dualismus. Wie vor allem

Jüngel und Sölle auf je unterschiedliche Weise – hermeneutisch bzw. politisch-

theologisch – verdeutlicht haben, lebt der Christ nicht in der Hoffnung auf eine

die irdische Welt verdoppelnde „Hinterwelt“, sondern existiert in der einen

gemeinsam bewohnten Wirklichkeit, deren „Geheimnis“ Gott ist. Dies bedeu-

tet, dass der Christ „die eine Wirklichkeit anders [zu] sehen“ vermag, nämlich

mit den „Augen Gottes“, mithin des Mutes und der Liebe (so noch einmal Söl-

le; s.o.).

(vii) Pneumatik: Wird mit dem Atheismus als A-Theismus tatsächlich ernst ge-

macht, ist mit Fichte (und Phillips) zu überdenken, ob Attribute wie Substanz

oder das nach Kant nicht reale Prädikat des Seins als Existenz sinnvoll auf Gott

angewendet werden können oder nur seiner grammatisch legitimierten Verend-

lichung zuarbeiten. Stattdessen ist die Möglichkeit zu kontemplieren, Gott als

geistige Wirklichkeit, d.h. eine geistig am Menschen wirkende Realität zu ver-

stehen, oder mit Fichte: Gott nicht in „Existentialsätzen“ zu fassen, sondern

durch „Prädikate eines Handelns“ zu umschreiben.

(viii) Praxis: Dieses effektive Verständnis kann jedoch kein Handeln im Modus der

allmächtigen Intervention meinen, sondern es ist – christologisch recht ver-

standen – ein Handeln in Schwachheit. Nicht die Überbietung des Menschli-

chen steht im Zentrum, sondern das Kreuz als Inbegriff Gottes Passion in der

Dopplung des eigenen Leidens und des Mitleidens. Gottes Wirklichkeit als sein

Wirken an uns muss dann zu einem sich in der Praxis bewahrheitenden Glau-

ben werden. Eine atheistische Theologie denkt folglich einem Gott nach, des-

sen Wirklichkeit die von ihm getragene praxis pietatis ist.

Die Bedenken gegen diese Charakterisierung sind mir ganz bewusst. Die einen werden

meinen, die genannten Momente seien weder für sich, noch in ihrem Zusammenhang wirklich

deutlich. So können berechtigterweise notwendige Konkretionen insbesondere der materialen

Punkte (iv) bis (viii) gefordert werden; genauso drängt sich die Frage auf, ob alle acht Mo-

mente – bzw. wenn nicht alle, dann welche genau? – erfüllt sein müssen, um als eine atheisti-

sche Theologin durchgehen zu können. – Die andere Fraktion hingegen wird mokieren, die

24

genannten Ansätze seien zu konkret und schlössen selbst Ableger von Theologien aus, die

sich gut mit bestimmten der umrissenen Anliegen verbinden ließen. Diese Anfrage könnte

ihrerseits zum Zweifel daran verschärft werden, dass es überhaupt jemanden gebe, der diese

Kriterien erfüllt.

Ich möchte diese Bedenken nicht einfach wegwischen, sie aber auch nicht im Einzel-

nen diskutieren. Stattdessen behaupte ich nur, dass sie sich unvermeidlich einstellen; denn die

„atheistische Theologie“ fungiert als Etikett für ein mögliches Programm, dessen unhinter-

gehbare, d.h. genrebedingte Vagheit wir uns vor Augen geführt haben. Demnach hat auch

dieser Typus der Theologie die Balance von Öffnung und Konkretion aufzufinden, sodass

sich zahlreiche dogmatische Ausrichtungen mit der skizzierten Agenda verbinden mögen,

während andere mit einigen ihrer Aspekte kollidieren werden. Diese Vagheit ist kein Manko,

wohl aber für den, der sie invers-apologetisch verteidigt, durchaus entlastend.

Endlich

Was in den vorgehenden Erwägungen erprobt wurde, ist eine Bewegung „von unten“. Die

drei kleinen Studien zur inversen Apologetik dienten als Vermessung eines Terrains, von dem

aus zu untersuchen war, ob sich die pure Verteidigungshaltung – eine Art theologischer Not-

wehr – in einen offensiveren Gestus ummünzen ließe, ob also – altprotestantisch-orthodox

gesprochen – die Apologetik in eine Polemik übergehen könnte, die sich wiederum zu einer

programmatischen, aber je neu zu füllenden Rahmung verdichten könnte. Geht man dieser

Möglichkeit nach, bleibt die atheistische Theologie kein partikularer Bereich des Faches;

vielmehr wären nun alle theologischen Disziplinen atheistisch-theologisch zu betreiben. Ver-

wirklicht man darüber hinaus auch noch diese Möglichkeit, gilt mit Ernst Bloch, dass allein

der Atheist ein „guter Christ sein“ könne74

– wenn auch nicht umgekehrt.

74

E. Bloch, Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs, Frankfurt a.M. 1968, 24.


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