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Lectora activa oder Vom tätigen Lesen

Date post: 14-May-2023
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Lectora activa oder V om tatigen Lesen MARTIN KLEBES Hannah Arendt war eine Theoretikerin, die sich in ihrem Werk ein- gehend mit dem Verhaltnis von Theorie und Praxis, von Denken und Handeln auseinandergesetzt hat. Sie befasste sich zugleich, was durch zahlreiche Veroffentlichungen der letzten Jahre immer deut- licher ins breitere Bewusstsein geriickt ist, jahrzehntelang intensiv mit Literatur. Eine Literaturtheoretikerin jedoch war sie nicht. Dies. mag erklaren, warum sie Hans-Georg Gadamer, der immerhin Mitte der zwanziger Jahre ihr Kommilitone in Marburg gewesen war, in ihrem Werk mit keinem Wort erwahnt.' Gadamers philosophische Argumente fiir eine »se mantische Vermittlung von Vergangenheit und Zukunft<<' jedenfalls scheinen weiten Teilen der deutschsprachi- gen Literaturwissenschaft in den sechziger und siebziger Jahren weitaus wichtiger gewesen zu sein als der Denkerin, die ihrerseits einem Bruch zwischen Vergangenheit und Zukunft gedanklich nachging. Wahrend die Hermeneutik des Verstehens ihre Wirkung entfaltete, sah Hannah Arendt geradezu einen manifesten Wider- spruch zwischen dem Wirkungswillen ihrer mannlichen Zeitgenos- sen auf der einen Seite und ihrem eigenen Willen zum Verstehen auf der anderen. 3 Es waren an Gadamers Denken orientierte Literaturtheoretiker wie Hans RobertJaug und Wolfgang Iser, die in der Folge den Leser ins Zentrum ihrer theoretischen Uberlegungen riickten. 4 Iser formu- liert in diesem Sinne pragnant den Umstieg auf einen »virtuellen« l Christina Thurmer-Rohr, »Verstehen und Schreiben - unheimliche Heimat«, in: Text+ Kritik l66/r67 (September 2005), S. 92. 2 Hans Ulrich Gumbrecht, Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte, Miinchen 2006, S. 3 5. V gl. auch Joel W einsheimer, Philosophical H ermeneutics and Literary Theory, New Haven 1991. 3 »Fernsehgesprach rnit Gunter Gaus«, in: Hannah Arendt, !ch will verstehen. Selbstauskunfte zu Leben und Werk, hg. von Ursula Ludz, Munchen 1996, s. 46. 4 Dem Sprachgebrauch von Arendt und anderen zitierten Autoren entsprechend verwende ich in meinem Text durchgehend die maskuline Form »der Leser «, LECTORA ACTIVA ODER VOM TATIGEN LESEN 45 Werkbegriff, der den literarischen Text nicht mehr unabhangig vom Rezipienten bezeichnet: »Das Werk«, so Iser, »ist das Konstituiert- sein des Textes im Bewugtsein des Lesers «. 5 Obgleich Hannah Arendt keinerlei Interesse an den Debatten um die sich formierende >Schule< der Rezeptionsasthetik gezeigt hat, kommt sie dennoch wiederholt darauf zu sprechen, class die Literatur des 20. Jahrhun- derts, und der Roman insbesondere, eben diese aktive Rolle des Le- sers direkt herausfordert. An die Stelle eines Lesers, der nur passiv die ihm vom Autor zugedachte Rolle zu erfiillen hat, tritt somit ein Leser, der sich, an Arendts Begriffen gemessen, von der Sphare des reinen Denkens aus auf jene des Herstellens und Handelns hinbewe- gen muss. Adorno beschreibt etwa zur gleichen Zeit Kafkas zentrale Innovation dahingehend, »dem Leser die kontemplative Geborgen- heit vorm Gelesenen« 6 zu zerschlagen, die vita contemplativa also als Vollzug einer immer schon intakten Lesewelt unmoglich ZU ma- chen. Arendt selbst zieht in ihrer Beschreibung des gleichzeitigen Kampfes gegen Vergangenheit und Zukunft in Kafkas »Er « 7 eine weniger martialische Metaphorik vor. Die »Liicke«, die sie als Schauplatz dieses Kampfes ausmacht, ist nicht unbedingt ein singu- larer Ort der Zerstorung, »kein modernes Phanomen«, das sich ein- zig und allein den historisch singularen Verwiistungen des 20. Jahr- hunderts zuordnen liege. Was allerdings laut Arendt »mit dem Fortschreiten der Moderne immer fadenscheiniger geworden ist«, ist die Vorstellung einer Tradition, die diese Liicke immer noch nahtlos iiberbriicken soll (17). 8 Arendt sieht die Behauptung einer derartigen Kontinuitat nicht nur rein intellektuell, sondern in der »greifbaren Wirklichkeit« als entlarvt an. Sie beschrankt sich aber in ihrer Diag- nose des Zwischenzustandes, der durch diesen Traditionsverlust verweise aber gleichzeitig mit dem Femininum meines Titels darauf, clas s diese pragmatische Wahl keine normative Praferenz anzeigt. Wolfgang Iser, »Der Lesevorgang. Eine phanomenologische Perspektive«, in: Rainer Warning (Hg.), Rezeptionsdsthetik, Munchen 1975, S. 253. 6 Theodor W. Adorno, »Standort des Erzahlers im zeitgenossischen Roman« [Erstveroffemlichung 1954), in: Noten zur Literatur, Frankfurt 1974 (= Ge- sammelte Schriften, Bd. l l ), S. 46. 7 Hannah Arendt, »Vorwort: Die Lucke zwischen Vergangenheit und Zukunft«, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Vbungen im politischen Denken I, Munchen 1994· 8 Hier und im Folgenden werden im fortlaufenden Text die Seitennummern von Quellen angefiihrt, die unmittelbar zuvor im FuBnotenapparat vollstandig aus- gewiesen worden sind.
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Lectora activa oder V om tatigen Lesen

MARTIN KLEBES

Hannah Arendt war eine Theoretikerin, die sich in ihrem Werk ein­gehend mit dem Verhaltnis von Theorie und Praxis, von Denken und Handeln auseinandergesetzt hat. Sie befasste sich zugleich, was durch zahlreiche Veroffentlichungen der letzten Jahre immer deut­licher ins breitere Bewusstsein geriickt ist, jahrzehntelang intensiv mit Literatur. Eine Literaturtheoretikerin jedoch war sie nicht. Dies . mag erklaren, warum sie Hans-Georg Gadamer, der immerhin Mitte der zwanziger Jahre ihr Kommilitone in Marburg gewesen war, in ihrem Werk mit keinem Wort erwahnt.' Gadamers philosophische Argumente fiir eine »semantische Vermittlung von Vergangenheit und Zukunft<<' jedenfalls scheinen weiten Teilen der deutschsprachi­gen Literaturwissenschaft in den sechziger und siebziger Jahren weitaus wichtiger gewesen zu sein als der Denkerin, die ihrerseits einem Bruch zwischen Vergangenheit und Zukunft gedanklich nachging. Wahrend die Hermeneutik des Verstehens ihre Wirkung entfaltete, sah Hannah Arendt geradezu einen manifesten Wider­spruch zwischen dem Wirkungswillen ihrer mannlichen Zeitgenos­sen auf der einen Seite und ihrem eigenen Willen zum Verstehen auf der anderen.3

Es waren an Gadamers Denken orientierte Literaturtheoretiker wie Hans RobertJaug und Wolfgang Iser, die in der Folge den Leser ins Zentrum ihrer theoretischen Uberlegungen riickten.4 Iser formu­liert in diesem Sinne pragnant den Umstieg auf einen »virtuellen«

l Christina Thurmer-Rohr, »Verstehen und Schreiben - unheimliche Heimat«, in: Text+ Kritik l66/r67 (September 2005), S. 92.

2 Hans Ulrich Gumbrecht, Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte, Miinchen 2006, S. 3 5. V gl. auch Joel W einsheimer, Philosophical H ermeneutics and Literary Theory, New Haven 1991.

3 »Fernsehgesprach rnit Gunter Gaus«, in: Hannah Arendt, !ch will verstehen. Selbstauskunfte zu Leben und Werk, hg. von Ursula Ludz, Munchen 1996, s. 46.

4 Dem Sprachgebrauch von Arendt und anderen zitierten Autoren entsprechend verwende ich in meinem Text durchgehend die maskuline Form »der Leser«,

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Werkbegriff, der den literarischen Text nicht mehr unabhangig vom Rezipienten bezeichnet: »Das Werk«, so Iser, »ist das Konstituiert­sein des Textes im Bewugtsein des Lesers«. 5 Obgleich Hannah Arendt keinerlei Interesse an den Debatten um die sich formierende >Schule< der Rezeptionsasthetik gezeigt hat, kommt sie dennoch wiederholt darauf zu sprechen, class die Literatur des 20. Jahrhun­derts, und der Roman insbesondere, eben diese aktive Rolle des Le­sers direkt herausfordert. An die Stelle eines Lesers, der nur passiv die ihm vom Autor zugedachte Rolle zu erfiillen hat, tritt somit ein Leser, der sich, an Arendts Begriffen gemessen, von der Sphare des reinen Denkens aus auf jene des Herstellens und Handelns hinbewe­gen muss. Adorno beschreibt etwa zur gleichen Zeit Kafkas zentrale Innovation dahingehend, »dem Leser die kontemplative Geborgen­heit vorm Gelesenen«6 zu zerschlagen, die vita contemplativa also als Vollzug einer immer schon intakten Lesewelt unmoglich ZU ma­chen. Arendt selbst zieht in ihrer Beschreibung des gleichzeitigen Kampfes gegen Vergangenheit und Zukunft in Kafkas »Er«7 eine weniger martialische Metaphorik vor. Die »Liicke«, die sie als Schauplatz dieses Kampfes ausmacht, ist nicht unbedingt ein singu­larer Ort der Zerstorung, »kein modernes Phanomen«, das sich ein­zig und allein den historisch singularen Verwiistungen des 20. Jahr­hunderts zuordnen liege. Was allerdings laut Arendt »mit dem Fortschreiten der Moderne immer fadenscheiniger geworden ist«, ist die Vorstellung einer Tradition, die diese Liicke immer noch nahtlos iiberbriicken soll (17). 8 Arendt sieht die Behauptung einer derartigen Kontinuitat nicht nur rein intellektuell, sondern in der »greifbaren Wirklichkeit« als entlarvt an. Sie beschrankt sich aber in ihrer Diag­nose des Zwischenzustandes, der durch diesen Traditionsverlust

verweise aber gleichzeitig mit dem Femininum meines Titels darauf, class diese pragmatische Wahl keine normative Praferenz anzeigt. Wolfgang Iser, »Der Lesevorgang. Eine phanomenologische Perspektive«, in: Rainer Warning (Hg.), Rezeptionsdsthetik, Munchen 1975, S. 253.

6 Theodor W. Adorno, »Standort des Erzahlers im zeitgenossischen Roman« [Erstveroffemlichung 1954), in: Noten zur Literatur, Frankfurt 1974 (= Ge­sammelte Schriften, Bd. l l ), S. 46.

7 Hannah Arendt, »Vorwort: Die Lucke zwischen Vergangenheit und Zukunft«, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Vbungen im politischen Denken I, Munchen 1994·

8 Hier und im Folgenden werden im fortlaufenden Text die Seitennummern von Quellen angefiihrt, die unmittelbar zuvor im FuBnotenapparat vollstandig aus­gewiesen worden sind.

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ausgelost wurde, nicht auf eine rein negative Bestimmung. W enn auch der Zwischenraum weder »von der Vergangenheit ererbt« noch »iiberliefert« (ebd.) werden kann, so bedeutet dies fiir Arendt den­noch - oder gerade - nicht, class der Leser, der sich hier vor dem Triimmerhaufen einer Tradition befindet, statisch vor diesem zu verharren hatte. Stattdessen wachst ihm laut Arendt von den W er­ken einer Moderne, die sich auf kein ihr vorausgegangenes autorita­tives Testament berufen kann, die Aufgabe zu, sich den Dingen, »die noch nicht sind« (13), zuzuwenden. Das notwendige Engagement des Lesers bedeutet fiir Arendt den V ersuch, sich den W eg dort neu zu bahnen, wo Tradition und Autor ihm keine Briicke bauen.

Gemessen an dem iiberschwanglichen Lob, welches Arendt Her- · mann Brochs Roman Der Tod des Vergil in ihrer Besprechung des Buches in The Nation im September 1946 spendet, wirkt ihre Ein­schatzung von Brochs friiherem Werk Die Schlafwandler im selben Artikel weitaus weniger enthusiastisch. Trotz aller »Qualitaten als Roman«, die sie dem Buch generell zuzusprechen bereit ist, zeigt dieses letztlich doch »nur, daB sein Autor des Erzahlens miide und seines eigenen W erkes zutiefst iiberdriissig ist: er teilt seinen Lesern mit, daB diese sich schon selbst das Ende der Geschichte zusammen­reimen miissen, und er vernachlassigt Figuren und Handlung, um stattdessen das Buch mit langen geschichtsphilosophischen Spe­kulationen vollzustopfen. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt war Broch ein guter, verspielter, amiisanter Erzahler, aber kein groBer Dichter.«9

In der Tat kann schwerlich behauptet werden, class es Broch in diesem Roman in erster Linie um das Amusement seiner Leser zu tun gewesen sei. Selbst Handlungselemente wie August Eschs gro­teske Geschaftsidee einer weiblichen Ringertruppe im zweiten Teil (Esch oder die Anarchie) oder Leutnant Jaretzkis sarkastische Wit­zeleien iiber den Verlust seines linken Armes wahrend eines Gift­gasangriffs im dritten Teil (Huguenau oder die Sachlichkeit) wirken diesem Eindruck keinesfalls entgegen. Wenn also delectare kein pri­mares Ziel des Autors zu sein scheint, so stellt Arendt doch vollig zu

9 Hannah Arendt, »No Longer and Not Yet«, in: Reflections on Literature and Culture, hg. von Susannah Young-ah Gottlieb, Stanford 2007, S. l 2 3. Ubersetzt von Martin Klebes.

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Recht fest, class Brochs Erzahlen - welchem Register man dies es nun genau zurechnen mag - in merklicher Weise von vorhergehender Erzahlpraxis im Romangenre abweicht. Die Romanpassage, welche wohl am deutlichsten Arendts Beobachtung - so abwertend diese auch daherkommt - illustriert, findet sich am abrupten Ende des ersten Teils (Pasenow oder die Romantik). Entgegen den 56 Seiten des vorhergehenden dritten Kapitels beschrankt sich das vierte und letzte auf einige lapidare Zeilen, die wie folgt lauten:

Nichtsdestoweniger hatten sie nach etwa achtzehn Monaten ihr erstes Kind. Es geschah eben. Wie sich dies zugetragen hat, muB nicht mehr erzahlt werden. Nach den gelieferten Materialien zum Charakteraufbau kann sich der Leser dies auch allein ausdenken. 10

Dieses briiske Ende des ersten Buches der Trilogie ruft Brochs Leser programmatisch dazu auf, sich ohne Hilfestellung seitens des Autors bzw. des auktorialen Erzahlers zusammenzureimen, was geschehen sein mag zwischen Elisabeths Verweigerung des Geschlechtsver­kehrs in ihrer Hochzeitsnacht an Bord des Zuges, die am Ende von Kapitel III erzahlt wird, und dies er lakonischen N otiz. 11 Die Norm des narrativen Plots wird hier in der Tat so unmissverstandlich »ver­nachlassigt« wie Arendt behauptet. Das Ende von Esch oder die Anarchie folgt einem ahnlichen Muster, wenngleich aus fiinf Zeilen Erzahlungsverweigerung hier neun werden und der explizite Aufruf an den Leser nicht ein zweites Mal wiederholt zu werden braucht. Das Ende von H uguenau oder die Sachlichkeit dagegen besteht in der zehnten und letzten Folge des essayistischen Stranges »Der Zer­fall der Werte«. Hier werden Elemente der Weiterentwicklung der Hauptfigur Huguenau nach Ende des Ersten W eltkriegs verwoben mit jener Art »Spekulationen iiber das W esen der Geschichte«, die Arendt an die Stelle von Brochs anderweitig »gutem« Geschichten-

lo Hermann Broch, Die Schlafwandler; Frankfurt l 978 ( = Gesammelte Werkaus­gabe Bd. l), S. 179·

l l Zur selben Zeit bedient sich Alfred Diiblin in Berlin Alexanderplatz einer ahn­lichen Rhetorik der Auslassung, wenngleich diese nicht in einer tatsachlichen erzahlerischen Li.icke ihre Entsprechung findet. Nach knapp zwei Dritteln des Diiblin'schen Romantextes heifSt es dort: »Es ist ja gar nicht vie! zu erzahlen von Franz Biberkopf, man kennt den Jungen schon. Was eine Sau tun wird, wenn sie in den Kohen kommt, kann man sich schon denken.« (Alfred Diiblin, Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte van Franz Biberkopf, Mi.inchen 1965, S. 286). Die Erzahlung wird ungeachtet dessen i.iber l 50 weitere Seiten Jang fortgesetzt.

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erzahlen treten sieht. In ihrem Buch Vita activa wird Arendt spater ausfiihren, class es im Kontext der griechischen poiesis »nicht der Handelnde« ist (oder war), »der die von ihm verursachte Geschichte als Geschichte erkennt und erzahlt, sondern der am Handeln ganz unbeteiligte Erzahler«. 12 In der amerikanischen Ausgabe formuliert Arendt hiervon abweichend, class der Erzahler die Geschichte des Handelnden >»macht«< [>makes< the story]. 13 Eben ein solches >Ma­chen< aber fehlt an diesen Stellen in Brochs Roman oder wird zu­mindest merklich eingeschrankt. Im Gegensatz zu den Erzahlern griechischer Historie in der Antike behalten es sich Romanschrift­steller im 20. Jahrhundert nicht mehr unbedingt vor, eine episte­mologisch privilegierte Position (relativ zu den Handelnden) zur Enthiillung der » Bedeutung einer jeden Geschichte« auszunutzen. 14

Wahrend im ersteren Fall der Erzahler seine Souveranitat der Tat­sache verdankt, class der Handelnde nie genau »wissen oder berech­nen kann, wen er eigentlich als sich selbst zur Schau stellt« (241), wird im modernen Roman der Leser von Lebensgeschichten fiktiver »Handelnder« in den vom Autor suggerierten Berechnungsprozess mit eingebunden. Die Liebe zum eigenen »Werk«, die Aristoteles unter Dichtern ebenso wie unter Wohltatern vorzufinden angibt, sieht fiir Leser ebenso wie fiir Empfanger solcher W ohltaten ledig­lich eine passive Rolle vor (24 5 f.). Es hat insofern seine Schliissig­keit, class Broch von Arendt an dieser Stelle abgesprochen wird, ein »groGer Dichter« zu sein.

Bedenkt man die Skepsis, welche Arendt den Schlafwandlern im Jahr 1946 entgegenbrachte - nur wenige Monate nachdem sie Broch zum ersten Mal getroffen und mit ihm zu korrespondieren begon­nen hatte -, so ist die Einschatzung dieses Buches in ihrem zweiten Artikel iiber Broch bemerkenswert. »The Achievement of Hermann Broch«, 1949 im Kenyon Review erschienen, 15 bespricht wie die friihere Rezension sowohl Die Schlafwandler als auch Der Tod des Vergil, doch Arendt zieht hier den letzteren Roman nicht mehr ein­deutig dem ersteren vor. Wichtiger als solche Wertungsverschiebun-

12 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tatigen Leben, Miinchen 2002, 24of. 13 Hannah Arendt, The Human Condition, 2. Aufl., Chicago 1998, S. l9I. 14 Arendt, Vitaactiva (Arun. 12), S. 239. l 5 Hannah Arendt, »The Achievement of Hermann Broch« in: The Kenyon Re­

view II (1949), Heft 3, S. 476 u. 483. Mit Anderungen auf Deutsch erschienen als »Hermann Broch und der moderne Roman«, in: Der Monat 1 (1948/49), Heft 8-9, S. 147-1 p.

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gen ist aber die Tatsache, class gerade jene Absentierung des Erzah­lers, die Arendt zuvor als einen Mangel der Schlafwandler bezeichnet hatte, nun als grundlegendes Merkmal nicht nur beider Romane Brochs, sondern des modernen Romans iiberhaupt herausgestellt wird. Dieser verweigert sich dem Ansinnen, in den Dienst des pro­desse et delectare gestellt zu werden, oder die »unerhorte Begeben­heit« konstruieren zu miissen, welche Goethe zum Fundament der Novelle gemacht hatte, oder aber dem Leser »Rat« zu erteilen, wie es laut Benjamin Erzahler des 19. Jahrhunderts wie Hebel oder Gotthelf noch tun konnten. Der Roman des 20. Jahrhunderts kon­frontiert laut Arendt den Leser »mit Problemen und Verwirrungen, mit denen umzugehen der Leser bereit sein muG, wenn er ihn iiber­haupt verstehen wilk 16 Der Leser, aufgerufen zur Teilnahme an ei­nem semantischen Geschehen, das keinesfalls zu garantieren ist, fin­det sich demnach inmitten von »etwas, das mindestens ebenso sehr ein Vorgang des Denkens ist wie einer der kiinstlerischen Erfin­dungsgabe« (148). Die asthetische Signifikanz des Umschlages von scheinbar herkommlichem Erzahlen am Anfang von Pasenow oder die Romantik zu einer Auflosung am Ende des ersten Buches lasst sich mit Arendt beschreiben als das Einlassen »des Lesers in das La­boratorium des Romanschriftstellers inmitten dieser Krise, so daG er die Wandlung der Kunstform selbst beobachten kann« (149). Der Leser mag sich so gemeinsam mit dem Romanschriftsteller gewisser­maGen in einem eigenen Raum fernab der Welt befinden, kann aber gerade deshalb kein »passiver Beobachter« (149) bleiben. Ihm wird vielmehr eine aktive Rolle zugewiesen, die ihn dazu befahigen soll, »die Bewegungsgesetze, die den Zerfall der Werte bestimmen«, nachvollziehen zu konnen. In der Zusammenschau mit Brochs eige­ner epistemologischer Theorie einer gemeinsamen kognitiven Wur­zel von Poesie und Dichtung wird die von Arendt verwendete Me­tapher des Laboratoriums zu einer zielsicheren Neuverortung des Lesevorgangs. 17 Broch sieht ei~e Konstitution von wissenschaft-

16 Arendt, »The Achievement of Hermann Broch« (Anm. l 5), S. 148 (meine Uber­setzung; alle untenstehenden Zitate aus diesem Text sind die meinigen). Die entsprechende Passage in der auf Deutsch erschienenen Fassung lautet: »[Der Roman] konfrontiert [den Leser] urunittelbar mit Problemen und Formen, die sich nur dem erschlieEen, der gesonnen ist, sich von selbst auf sie einzulassen.« (»Hermann Broch und der moderne Roman« [Anm. 15], S. 147.)

17 Vgl. Hermann Broch, »Denkerische und dichterische Erkenntnis« (1933), in: Broch, Schriften zur Literatur 2. Theorie. Kommentierte Werkausgabe, Bd. 9/2, hg. von Paul Michael Liitzeler, Frankfurt 1975, S. 43-49.

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lichen und poetischen Gegenstanden durch semiotische Prozesse am Werk, wo der Logische Positivism us die nur mehr passive Registrie­rung von unmittelbar Gegebenem annimmt. 18 Insofern sich Arendts Leser in einer analogen Situation befindet, kann auch er sich nicht auf Unmittelbarkeit verlassen, sondern muss im experientiellen und experimentellen Raum modernen Erzahlens aktiv werden.

Auf denselben Seiten von »The Achievement of Hermann Broch«, die schon zur Diskussion standen, fogt Arendt die Beobachtung hinzu, class die gesteigerte Erwartung an den Leser modernen Ro­manschriftstellern - ebenso wie Lyrikern und Philosophen - nur mehr »einen relativ kleinen, auserlesenen Leserkreis« (148) in Aus­sicht stellt. Arendt beschreibt hier gewissermaBen ein Gegenbild zu jenem von Schiller im letzten seiner Briefe Uber die dsthetische Er­ziehung des M enschen gezeichneten, wo von »wenigen auserlesenen Zirkeln« die Rede ist, die dank ihrer Rezeptivitat for den schonen Schein der Kunst Modell for eine harmonische politische Sphare stehen sollen. 19 Wahrend sich bei Schiller die radikale Minderheit aus einer gegenwartig nur diinn gesaten Gabe zu einer genuin har­monischen Koexistenz ergibt, ist der relative Mangel an lesender Offentlichkeit im Falle des modernen Romans der nicht unbedingt weit verbreiteten Toleranz einer asthetischen und kognitiven Situa­tion geschuldet, die eine Auseinandersetzung mit »Problemen und Verwirrungen« ( 148) erfordert. In ihrer Verweigerung eines harmo­nischen oder zumindest zur Harmonie tendierenden Gesamtbildes stellen sich moderne Romane der Erwartungshaltung einer Mehrheit von Lesern entgegen, und somit zugleich, wie Arendt spater in ih­rem Aufsatz »Kultur und Politik« in beinahe Adorno'schem Tonfall schreiben wird, der »Massenkultur« und »den Sachen, welche die Vergniigungsindustrie bietet«.2 0 Populare Sachen dieser Art »dienen dem LebensprozeB der Gesellschaft« ( 112 3) und perpetuieren daher ein Verhaltnis zu Kulturprodukten, das Arendt zufolge vollstandig in der sich selbst verzehrenden Dynamik der Arbeit aufgeht. Der »Hiatus der Freizeit« (1124), welcher dem Konsum solcher Pro­dukte zwischen Arbeitstatigkeit einerseits und Schlaf andererseits

18 Kuna Lorenz, »Brochs erkenntnistheoretisches Programm«, in: Hermann Broch, hg. von Paul Michael Liitzeler, Frankfurt 1986, S. 249.

19 Friedrich Schiller, Uber die dsthetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: Werke. Nationalausgabe, hg. van Julius Petersen und Gerhard Fricke, Weimar 1943££., Bd. 20, S. 412 (27. Brief).

20 Hannah Arendt, »Kultur und Politik«, in: Merkur 12 (1959), S. 1123.

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einen festen Platz zuweist, bleibt integraler Bestandteil des biolo­gischen Lebens, das immer, »ob es arbeitet oder ruht, ob es konsu­miert oder sich vergniigt« (1124), auf den Verzehr von Dingen aus­gerichtet bleibt. Der ;,unterhaltende Erzahler«, welcher Broch stellenweise (gewesen) ist, oder als welcher er sich zumindest zu Anfang von Pasenow oder die Romantik ausgibt, miisste im Sinne von Arendts Analyse als ein Produzent eben solcher Dinge gelten. W enn er nun aber seine dementsprechende Produktion einstellt, welche Art der Tatigkeit kann dann an die Stelle des arbeitsbezoge­nen Konsums treten, den der Leser hier nicht (mehr) praktizieren kann?

Der historische Hintergrund, vor dem sich die Frage nach der Moglichkeit einer Lesetatigkeit stellen lasst, die nicht unmittelbar in den quasibiologischen Wirkungszusammenhang passiven Aufneh­mens zuriickfallt, wird von Arendt in Vita activa eingehend behan­delt. Auch hier stellt sie das Ineinsfallen von Arbeit und Herstellung als den historischen Moment dar, von dem ab alle Produkte nur mehr »als das Resultat der lebendigen Arbeitskraft und als Funktionieren des Lebensprozesses« 2 1 in Betracht kommen. Diese Sichtweise ist, wie Arendt pointiert herausarbeitet, dem Marxismus ebenso eigen wie dem Konsumkapitalismus. Ersterer versucht die ungleiche Ver­teilung der eingesetzten Arbeitskraft und der aus ihr abgeleiteten Profite umzulenken und so den autologischen Prozess, den Arendt beschreibt, gleichsam zu reinigen und auszubalancieren. An Dingen aber, die um ihrer selbst willen hergestellt werden, hat der Marxis­mus kein Interesse. Der Kapitalismus, sosehr er auch als ideologi­scher Gegenpol fungieren mag, misst Dingen, die sich einer Funkti­onalisierung im Rahmen der kulturellen Sphare entziehen, keinesfalls eine groBere Bedeutung zu. Im Interesse funktionaler Indienstnahme geht er laut Arendt sogar so weit, die Kultur »denen schmackhaft zu machen, die mit ihr gar nichts zu tun haben wollen«. 22 Insoweit dies tatsachlich gelingt, fohrt es aber unweigerlich dazu, class die ver­markteten Dinge schlichtweg »:..rerschwinden [ ... ], wenn das Leben sich ihrer bemachtigt und sie zu seinem Vergniigen verzehrt« ( 112 5 ).

Bedenkt man die dementsprechend prekare Situation der Rezep­tion kultureller Dinge in der Gegenwart, so iiberrascht es nicht un­bedingt, class sich Arendts Uberlegungen zur Kunst in Vita activa,

21 Arendt, Vita activa (Anm. 12), S. !06. 22 Arendt, »Kultur und Politik« (Anm. 20), S. 1125.

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vor allem im 23. Kapitel (»Die Bestandigkeit der Welt und das Kunstwerk«), insbesondere auf den Begriff des Werks und seiner Herstellung konzentrieren. Kunstwerke werden hier verteidigt als Dinge, »die iiberhaupt keinen Nutzen aufweisen«. 23 Sie sind laut Arendt einmalig, mit dem okonomischen Prinzip des Tausches nicht vereinbar, und miissen deshalb »aus dem Gesamtzusammenhang der gewohnlichen Gebrauchsgegenstande entfernt werden, um den ih­nen gema6en Platz in der Welt einnehmen zu konnen« (201). Ob­wohl Kunstwerke dem Denken entspringen, betont Arendt dennoch ihre Verfasstheit als Dinge. Kunstwerke miissen Dingcharakter an­nehmen, um Teil der Welt werden zu konnen, und sind daher not­wendigerweise an einen Prozess des Herstellens gebunden. Das Herstellen, sowcit es (noch) nicht mit vollstandig marktgerechter Arbeit in eins fallt, wird hier verstanden als eine Tatigkeit mit defi­nitivem Anfang und Ende und ist somit dem potentiell endlosen selbsterhaltenden Prozess organischen Lebens entgegengesetzt ( l 69-170 ). Das verdinglichte Wesen des Kunstwerks erweckt den An­schein, »als konne in ihm der natiirliche Lauf der Dinge umgekehrt werden« (203), als sei es also dem Schicksal gewohnlicher Ge­brauchsgegenstande entriickt, die von der Logik der Zweckrationa­litat vertilgt werden.

Man ist an dieser Stelle versucht, das »als ob«, welches Arendt hier einfohrt, um den un-niitzen - oder auch un-natiirlichen - Charakter des Kunstwerks zu unterstreichen, auf seinen kantianischen Ur­sprung hin zu befragen. In seiner Abkehr von einer Asthetik kodifi­zierter Parameter war es Kant, der die Urteilskraft und ihre Logik des »als ob« ins Zentrum des V ersuches stellte, asthetische U rteile auch ohne die epistemischen Urteilen eigene Sicherheit rechtfertig­bar zu machen. Wie Arendt spater selbst in ihren Vorlesungen Uber Kants Politische Philosophie darlegen sollte, kann diese Urteilskraft immer nur in einem sozialen Umfeld agieren. Es ist die soziale Di­mension des »als ob«, <lurch welche der sensus communis das asthe­tische Urteilen mit den politischen Implikationen verbindet, die Arendt in Kants dritter Kritik enthiillt. Die off entliche Sphare der Mitteilbarkeit, wie Arendt zeigt, wird von Kritikern und Zuschau­ern gebildet, und Zuschauer »existieren nur im Plural. Der Zu­schauer ist nicht an der Handlung beteiligt [involved in], aber er ist

23 Arendt, Vita activa (Anm. I2), S. 2or.

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immer an Mitzuschauer gebunden [involved with]«.24 Der Schein des Kunstwerks muss demnach notwendigerweise in der Offentlich­keit erscheinen, um einem asthetischen Urteil iiberhaupt zuganglich werden zu konnen. W enn nun das Kunstwerk laut Arendt ebenso wie der asthetisch Urteilende bei Kant um die Beistimmung der Re­zipienten werben soll, und zwar dahingehend, nicht auf natiirliche (Verfalls-)Prozesse reduzierbar zu sein, so kann es dies nur unter der Voraussetzung tun, <lass eine Mehrzahl solcher Rezipienten exis­tiert, die das Kunstwerk nicht Teil von zweckgeleiteten Prozessen werden !asst. W enn die tatsachliche Existenz solcher Rezipienten gema6 der Logik des »als ob« auch nicht demonstriert werden kann, so ist die Herstellung von Kunstwerken als Dinge au6erhalb zweck­rationaler Prozesse ohne solche Rezipienten schlichtweg nicht denk­bar. Diese kantianische Betrachtungsweise, die von Arendt in Vita activa wohl angedeutet, aber keineswegs ausgearbeitet wird, !asst uns die Frage nach der Rolle des Lesers in erweiterter Form und mit Nachdruck stellen. Inwieweit gleicht der Leser, der vom modernen Roman zur aktiven Teilnahme angehalten wird, Kants Zuschauer, der seinerseits nicht direkt in das sich vor ihm abspielende Handeln eingreift, andererseits aber von zentraler Bedeutung for den astheti­schen Wert dieses Handelns ist? Arendts Darstellung des astheti­schen Prozesses aus der Perspektive des Autors weist eine merkliche Ambivalenz hinsichtlich der Beziehung von Autor und Leser auf beiden Seiten des W erkes auf. L yrische Dichtung beispielsweise ist laut Arendts beriihmter Formulierung »dem Denken als solchem am engsten verhaftet« (205). Selbst ein Denker jedoch kann, und muss, zwar fur sich dieser Aktivitat nachgehen, die ganz bewusst »unpro­duktiv« (113) ist, wird aber nur <lurch das »Machen« einer fassbaren Aussage Zuschauer, Zuhorer oder Leser erreichen. Auf diesem W eg verlasst laut Arendt der Denker seine Sphare reiner W eltabgewandt­heit und setzt sich der Reaktion anderer aus. Im Medium der Schrift­lichkeit verdrangt dabei die »Sorge, Spuren des Gedachten for die N achwelt zu hinterlassen« (30 ). die Gedanken an eine Ewigkeit, die iiber weltliche Dauer hinausreicht.

Mit welcher Art von Echo kann ein Autor rechnen, der <lurch sei­nen Eintritt in die vita activa solche Spuren for die Mit- und Nach­welt hinterlasst? In ihrem dritten und letzten Text iiber Broch -

24 Hannah Arendt, Lectures on Kant's Political Philosophy, hg. von Ronald Bei­ner, Chicago 1970, S. 63 .

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einer Einfiihrung zu der von ihr betreuten Ausgabe von Broch.s Essays, die spater auch in den Band Menschen in finsteren Zeiten aufgenommen wurde - umrei£h Arendt ihre Sicht einer Welt, mit der sich solch ein Handeln unweigerlich konfrontiert sieht. Es ist eine hochst komplexe und chaotische Sphare, »in die es gilt hinein­zuhandeln, obwohl in ihr kein Zweck und keine Intention je so er­reicht wird, wie sie urspriinglich gemeint waren«. 25 Wenn eine kiinstlerische Spur deshalb hinterlassen wird, um einen Gedanken dem andenkenden Erinnern zuganglich zu machen, 26 wie Arendt dies seit der Antike als Grundlage des Kunstwerks konstatiert, so scheint diese Absicht doch nur in abstraktem Sinne zu verwirklichen zu sein. Nur die Intention, dass jemand eine Spur hat hinterlassen wollen, kann mit einiger Sicherheit iibermittelt werden, und selbst dies nur dann, wenn die Spur auch tatsachlich lesbar bleibt. Die Spur ist also nur als Spur bestandig, nicht als das, wovon sie zeugen soll. Handlung und Rede sprechen nicht einfach fur sich, und der Ge­schichte als solcher, wie Arendt betont, »mangelt ihr Verfasser« (227). Inwiefern kann also im Prozess der Verdinglichung jemand anderes als der unmittelbar Handelnde (also der Autor) jemand Drittem (dem Leser) eine Geschichte erzahlen, die als eine Art von Handlung mehr Bestandigkeit beanspruchen kann als jene Hand­lung oder Rede, die ihren Inhalt ausmacht? Wie Thomas Schestag in seinem Buch iiber Arendts Poetik feststellt, ist das Schreiben keines­falls ein >reines< Handeln, denn sein materielles Substrat, das ge­schriebene Wort, ist immer semiotisch verfasst. 27 Es kann demnach nicht die Rolle des Kunstwerks sein, Inhalte schlichtweg in der Ge­genwart zur Erscheinung zu bringen, die ab diesem Moment fur den >Zugriff< des Gedachtnisses erhaltlich waren und blieben. Die Eigen­schaft des Wortes als semiotischem Ding bedeutet die jeweilige »In­sertion eines lntervalls in die Gegenwart der Uberlieferung« und treibt ihm »den Schein erfullter, namlich semantisch erfiillter Ge­genwart aus« (166). Das, was bestandig verbleibt, ist also nicht die semantische Substanz eines Uberlieferungsgeschehens, sondern eine Liicke zwischen dem vergangenen Akt, der das Wort >machte<, und dem unabsehbaren zukiinftigen Akt des Lesers, der im Labor des

25 Hannah Arendt, »Hermann Broch 1886-1951 «, in: Menschen infinsteren Zei­ten, hg. von Ursula Ludz, Miinchen S. 168.

26 Arendt, Vita activa (Anm. 12), S. 205. 27 Thomas Schestag, Die unbewaltigte Sprache. Hannah Arendts Theorie der

Dichtung, Basel 2006, S. 49.

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Verstehens ans Werk gehen wird. Die Sphare des (unterbrochenen) Scheins entspricht eben jener des >als ob<, also der hypothetischen Annahme einer Mitteilbarkeit, die niemals in eindeutiger Weise be­statigt oder geleugnet werden kann. Dieses Intervall, diese Liicke der Unsicherheit, die Autor, Werk und Leser trennt, ist zu gleichen Tei­len ein Zeichen der aktiven Verfasstheit asthetischer Prozesse und der »Probleme und Verwirrungen«, die laut Arendt den Leser heim­suchen, der einen modernen Roman zu verstehen versucht, »soweit er ihn iiberhaupt verstehen kann«.28

Broch, dessen Werk Arendt Anlass zu dieser Uberlegung gibt, mag diese Entwicklung, die er seinerseits aktiv befordert, anderer­seits auch mit einem gewissen MaB an Bedauern betrachtet haben. Der Ich-Erzahler der »Geschichte des Heilsarmeemadchens in Ber­lin« in H uguenau oder die Sachlichkeit kommentiert das Verschwin­den der philosophischen vita contemplativa in der modernen Welt in einer Tonlage, die derjenigen Arendts in Vita activa nicht ganz unahnlich ist. Allerdings liefert uns Broch, was nicht zu vergessen ist, diese Diagnose in einer Form - dem literarischen Wort -, die ih­rerseits die Zeit einer semantisch erfullten Gegenwart suspendiert. Brochs Erzahler an dieser Stelle, Bertrand Muller, der auf nichtlinea­rem Wege die Figur des Eduard von Bertrand aus den ersten zwei Trilogieteilen dem Leser ins Gedachtnis ruft, schreibt:

Hat diese Zeit, hat dieses zerfallende Leben noch Wirklichkeit? Meine Passivitat wachst von Tag zu Tag, nicht weil ich mich an einer Wirklichkeit zerreibe, die starker ware als ich, sondern weil ich allenthalben ins Unwirkliche stoBe. Ich bin mir durchaus be­wuBt, daB bloB im Aktiven der Sinn und das Ethos meines Lebens zu suchen ist, aber ich ahne, daB diese Zeit fur die einzig wahre Aktivitat, fur die kontemplative Aktivitat des Philosophierens keine Zeit mehr hat. Ich versuche zu philosophieren, doch wo ist die Wiirde der Erkenntnis geblieben? Ist sie nicht !angst erstor­ben, ist die Philosophie angesichts des Zerfalls ihres Objektes nicht selber zu bloBen Worten zerfallen? Diese Welt ohne Sein, Welt ohne Ruhen, diese Welt, die ihr Gleichgewicht nur in der steigenden Geschwindigkeit noch finden und erhalten kann, ihr Rasen ist zur Schein-Aktivitat des Menschen geworden, ins Nichts

28 Arendt, »The Achievement of Hermann Broch« (Anm. l 5), S. 148.

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der Abwesenheit von Antworten, die diese zu geben hatte. I)er Grad, in dem Arendt hier mit ihrem Freund Hermann Broch nicht einer Meinung ist, ware daran zu messen, inwieweit der Leser eines Romans jemals eine so unmittelbare Beziehung zum Dargestellten einnehmen konnte, wie Broch - hier auf einen sehr spezifischen und prekaren historischen Moment reagierend - sie for unerlasslich und zugleich wohl unerreichbar hielt.

In ihrem Essay »Mr. Bennett and Mrs. Brown« -im selbenJahr ver­offentlicht, als Hannah Arendt in Marburg zu studieren begann -formuliert Virginia Woolf eine Reihe programmatischer Thesen hinsichtlich der asthetischen Innovationen moderner Romanciers gegeniiber ihren unmittelbaren Vorlauf ern, den dem Realism us ver- . pflichteten >Edwardianern<. Eine von Woolfs Beobachtungen ist da­bei, class sich im Gegensatz zur realistischen Fixierung des isolierten Autors auf Dinge sich die moderne Romanautorin stets in einer Of­fentlichkeit (public) eingebettet findet.33 Diese kollektive Situiertheit des Schreibens allerdings versteht Woolf keineswegs als eine unpro­blematische Garantie der Transparenz. Ganz im Gegenteil sieht sie das Verhaltnis von Autor und Leser im Umbruch: »Im gegenwarti­gen Moment leiden wir, jedoch nicht an einem Verfall, sondern da­ran, daB wir keinen Verhaltenskodex haben, den Autoren und Leser als einen Auftakt zu einem anregenderen Umgang in Freundschaft zu akzeptieren bereit sind.« (334)

Fiir Hannah Arendt war eben dieser Umgang, besonders seit ihrer 0-bersiedlung in die Vereinigten Staaten, ein zentrales Element ihres Lebens. Nicht nur hatte sich die ideologische Gleichschaltung unter der NS-Herrschaft seit 1933 vor allem am Verhalten ihrer (ehema­ligen) Freunde abgezeichnet.34 Und nicht nur waren es neue Freund­schaften, die ihr halfen, in einer durch den Geschichtsbruch der Nazi-Verbrechen vollig veranderten Welt wieder so etwas wie Halt zu finden. 35 Es wurde auch der stete freundschaftliche Kontakt mit zahlreichen Autoren deutsch- und englischsprachiger Literatur zu

33 Virginia Woolf, »Mr. Benn~tt and Mrs .. Brown«, in: Collected Essays, New York 1967, Bd. r, S. 332. Die folgenden Ubersetzungen aus diesem Text sind die meinigen.

34 Arendt, »Fernsehgesprach mit Gunter Gaus« (Anm. 3), S. 56. 3 5 Thomas Wild, Hannah Arendt, Frankfurt 2006, S. 3 5 u. 42.

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einem wesentlichen Bestandteil ihres Lebens. 36 Der direkte Aus­tausch mit anderen umfasste dabei nicht nur die kritische Aufmerk­samkeit auf das von anderen Geschriebene, sondern auch, wie etwa im Fall von Uwe Johnsons ]ahrestagen, ein Echo der Begegnung im Geschriebenen.37 Wenn Arendt in diesem Sinne in ihrem Denktage­buch vermerkte, das lnterpretieren und Zitieren gehe darauf zuriick, Freunde haben zu wollen,38 so liegt es nahe, dieses direkte Geben und Nehmen unter Freunden als ein Phanomen zu verstehen wel-

' ches in Arendts Fall das Entstehen von Text nicht nur begleitet, sondern unter Umstanden iiberhaupt erst moglich macht.

Erinnert man sich an den Vers eines unbekannten Dichters, den Aristoteles im 8. Buch der Nikomachischen Ethik anlasslich seiner Analyse der Freundschaft zitiert, so drangt sich allerdings die Frage auf, ob denn das Gegenteil dieses for Arendt so produktiven Aus­tausches nicht ebenso wahr sein konnte. Aristoteles zitiert: »Oft schon hat fehlender Austausch des Wortes die Freundschaft ver­nichtet« (noUac; OT] Cj)LALac; angooriyogLa OLEA'lJOEv). 39 Wenn also for Arendt die Freundschaft eine unverzichtbare Voraussetzung des Lesens und Schreibens, des Verstehens und des durch das Gefiihl des Verstandenwerdens erzeugte Gefohl der Zugehorigkeit gewesen ist, inwieweit lasst sich diese Bedeutung der Freundschaft als iiber personliche Freundschaften hinaus- und in das weitere Gebiet der Beziehung von Autor und Leser hineinreichend begreifen? Auch Woolf spricht an obengenannter Stelle ja nicht von Freundschaft im radikal personlichen Sinne, sondern versteht diese als eine Partizipa­tion des Lesers am Romangeschehen, welche sich nicht ohne Wenn und Aber der Dominanz einer vom Erzahler vorgegebenen Perspek­tive unterzuordnen bereit ist.40 1st nun aber diese Partizipation, die Arendt wie oben beschrieben an anderer Stelle als Arbeitsgemein­schaft im Labor bezeichnet, auch dort als eine Art von Freundschaft

36 Vgl. Barbara Hahn und Marie Luise Knott, » Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit« . Hannah Arendts Literaturen, Berlin 2007 und Thomas Wild, Nach dem Geschichtsbruch. Deutsche Schriftsteller um Hannah Arendt, Berlin 2009.

37 Vgl. Thomas Wild, »>Ein Brief von Ihnen ist immer eine Freude. Ein Ersatz for ein Gesprach ist es allerdings nicht«<, in: Hannah Arendt - Uwe Johnson. Der Briefwechsel 1967-1975, hg. von Eberhard Fahlke und Thomas Wild Frank-furt 2004, S. JOI f. '

38 Hannah Arendt, Denktagebuch 1950 bis 1973, Miinchen 2002, S. 756. 39 Aristoteles, Nikomachische Ethik, iibersetzt von Franz Dirlmeier, Stuttgart

1990, s. 22!. 40 Vgl. Woolf, »Mr. Bennett and Mrs. Brown« (Anm. 33), S. 330.

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zu begreifen, wo nicht direkt mit Autoren in Briefen oder gespro­chenen Worten kommuniziert wird? Oder muss der im wortlichen Sinne notwendigerweise fehlende »Austausch des Wortes« die Mog­lichkeit einer Freundschaft zwischen Autor und Leser in dieser Situ­ation, die ja eher die Regel als die Ausnahme ist, unmoglich machen?

Insoweit der Begriff der Freundschaft im Umgang mit Texten nicht nur Arendts eigene Praxis erfasst, sondern dariiber hinaus die theoretische Erfassung moglicher Praktiken anderer ermoglichen soll, kann er nicht auf direkten »Austausch des Wortes« eingegrenzt werden. Auch Leser, die niemals einen Brief mit Hermann Broch oder Uwe Johnson gewechselt haben, miissten Teil eines solchen Austausches werden konnen. Der zentrale Unterschied, der dabei zwischen Arendts Vorstellung des Gesprachs einerseits und jener von der Hermeneutik an die Rezeptionsasthetik weitergereichten. andererseits besteht, betrifft die Frage, wie denn ein solches Ge­sprach iiberhaupt beginnt. Fiir Gadamer ist das Gesprach immer schon im Gange, und ist »daher mehr als eine Metapher - es ist eine Erinnerung an das Urspriingliche, wenn sich die hermeneutische Aufgabe als ein In-das-Gesprach-Kommen mit dem Text begreift. [ ... ] Das in literarischer Form Uberlieferte wird damit aus der Ent­fremdung, in der es sich befindet, in die lebendige Gegenwart des Gespraches zuriickgeholt, <lessen urspriinglicher Vollzug stets Frage und Antwort ist.«41 Hans Robert JauB formuliert ganz in diesem Sinne, <lass der Leser »mit der Wiederaneignung von W erken der Vergangenheit zugleich die standige Vermitt!ung von vergangener und gegenwartiger Kunst, von traditioneller Geltung und aktueller Erprobung der Literatur« leistet, und dieser Vermittlungsprozess »Setzt den Erfahrungskontext der asthetischen w ahrnehmung im­mer schon voraus«.42 Wenn dagegen Hannah Arendt das »unend­liche Gesprach unter den Menschen«43 als das wichtigste Zeichen von F reundschaft bei Lessing entdeckt, ist fiir sie hi er keine Erinne­rung an Urspriingliches oder Tradiertes am Werk. »Das Lessingsche Denken« namlich, so Arendt, und somit auch der diesem Denken eigene Gedanke der Freundschaft, »steigt nicht aus dem Menschen

41 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Gesammelte Werke, Tiibin­gen l985ff., Bd. l, S. 374.

42 Hans Robert Jau£, »Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissen­schaft«, in: Rainer Warning (Hg.), Rezeptionsasthetik (Anm. 5), S. 128 u. 13 r.

43 Arendt, »Gedanken zu Lessing: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten«, in: Menschen infinsteren Zeiten (Anm. 25), S. 44.

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auf« (23), sondern ist »wahlerisch« (27). Es liegt fiir Arendt im We­sen der Freundschaft, nicht an die Gemeinsamkeit eines Ursprungs, an die » Warme der Intimitat« gebunden zu sein, sondern sich ganz im Gegenteil frei zur Freundschaft entschlieBen, sich also anfreun­J:en zu konnen - oder eben auch nicht.44 Arendt versteht den Beginn des Gespraches nicht als einen Seiteneinstieg in ein Gesprach, <lessen Kontinuitatsanspruch niemals anzuzweifeln ware, sondern als An­fang von etwas genuin Neuem, einem offenen und daher unabseh­baren W eltzugang.

Es scheint mehr als nur ein nebensachliches Detail zu sein, <lass Arendt Lessings Freundschaftsidee am Ende ihrer Rede als eine kennzeichnet, die er, nicht zuletzt aufgrund auBerer Umstande, in seinem eigenen Leben nicht verwirklichen konnte.45 Wie auch fiir Woolf bleibt Freundschaft fiir Lessing also ein Projekt, anstatt zu einer Sphare der Erfiilltheit zu werden. Im Gesprach mit Roger Er­rera kennzeichnet Arendt eine solche Gerichtetheit auf die Zukunft als eine Funktion sokratischen Nichtwissens: »Keiner weiB, was er tut, weil die Zukunft getan wird. Handeln ist ein Wir und nicht ein Ich.«46 Zukiinftiges Handeln findet laut Arendt unweigerlich in einem Raum der Pluralitat statt. Die Tatsache aber, welche die Moglichkeit einer solchen Zukunft iiberhaupt verbiirgt, ist jene der Natalitat.47 Die Unterbrechung der Kontinuitat <lurch das Erschei­nen eines neuen Lebens in der Welt ist ein Zeichen der Moglichkeit neuen Handelns, um <lessen Bedeutung nicht im V orhinein zu wis­sen ist.48 Dies Handeln muss laut Arendt immer eines unter anderen Menschen sein. Das erfolgreiche SchlieBen von Freundschaften mit einigen dieser Menschen ist keine von vorneherein abgesicherte An­gelegenheit. Ebensowenig ist der Leser verpflichtet, dem Aufruf des modernen Romanautors zu folgen und aktiv an der asthetischen Konstitution des Textes teilzunehmen. EntschlieBt er sich jedoch im Sinne Les sings frei zur T eilnahme, so eroffnet er sich und and er en eine Welt, in der Freundschafte:i und Kunstwerke als Objekte mit

44 Vgl. Christina Thurmer-Rohr, »Verstehen und Schreiben - unheimliche Hei­mat« (Anm. I), S. 9 5.

45 Arendt, »Gedanken zu Lessing: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten« (Anm. 25), S. 47.

46 Arendt, »Fernsehgesprach mit Roger Errera«, in: !ch will verstehen (Anm. 3), S. l19f.

47 Ich danke insbesondere Amir Eshel, Sonja Boos und Corinne Bayerl fiir Denkansto£e in dieser Frage.

48 V gl. Arendt, Vita activa (Anm. l 2 ), S. 3 l 6f.

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einer gewissen Bestandigkeit Raum haben. Leserschaft und Fre"\md­schaft, so scheint es, stehen for Arendt also einerseits der Vorstel­lung einer literarischen und geisteswissenschaftlichen Selbstverses­senheit entgegen. Andererseits lassen sie sich aber auch nicht auf jene Art van Hilfestellung reduzieren, die Broch zur grundsatzlichen Skepsis seinem eigenen literarischen Schreiben gegeni.iber veranlasste. Arendt, als Freundin Brochs, diagnostiziert mit klarem Blick die historischen und personlichen Umstande, welche Broch zu dieser Einschatzung brachten, ebenso wie Lessings Scheitern am MaBstab seines eigenen Freundschaftsbegriffs nicht unabhangig van auBeren Gegebenheiten zu begreifen ist. Freundin zu sein bedeutet for Hannah Arendt, mit Broch nicht prinzipiell einer Meinung zu sein, und der Literatur - nicht zuletzt Brochs eigener - einen zuki.inftigen Raum zu lassen, in welchem diese mit aktiver Teilnahme gelesen werden. kann.

Per-sonare, poetische Differenz und Selbstiibersetzung

Der Sound von Hannah Arendts Denken und Schreiben':·

SIGRID WEIGEL

Der Sound van Arendts Denken

Jedes Mal, wenn ich einen Text van Hannah Arendt Iese, kommt es mir so var, als ob ich ihre Stimme hone, stets habe ich das Gefohl, dass sie es ist, die die W orte und Satze spricht. Dabei ist es keines­wegs so, dass mich das stort; im Gegenteil, ich schatze ihre Rede­weise und die Art, wie sie ihre Argumente entwickelt und vortragt. Der einzige Nachteil, der sich mit der Anwesenheit ihrer tonlosen Stimme verbindet, ist die Tatsache, dass sie mich zu jener recht zeit­aufwendigen Leseweise zwingt, die im antiken Griechenl~nd als >inneres Lesen< eingefohrt warden ist.' Es handelt sich um ein lautlo­ses Lesen, bei dem die W orte auf einer Art innerer Bi.ihne formuliert werden, ein Lesen, das sich tatsachlich jedoch - wenn man den meta­phorischen Charakter jedweder Rede i.iber das Innere bedenkt - als tonloses Aussprechen jedes einzelnen Wortes darstellt, genauso als ob man laut lesen wi.irde. Um die Ursache for die Dominanz der Arendt'schen Stimme herauszufinden, habe ich mir noch einmal et­liche der Radiovortrage und die wenigen Interviews angehort, in die Arendt eingewilligt hatte, obwohl sie es for gewohnlich hasste, ihr Gesicht in der Offentlichkeit reproduziert zu sehen.2 Nachdem ich

::- Der Text erschien auf Englisch in: Escape to Life. German Intellectuals in New York. A Compendium on Exile after I945, hg. von Eckart Goebel und Sigrid Weigel, Berlin, Boston 2012.

l Vgl. Jesper Svenbro, Phrasikleia. Anthropologie des Lesens im Alten Griechen­land, Mi.inchen 2005.

2 Vor allem das Gesprach mit Gi.inter Gaus aus dem Jahre 1964 und das Inter­view von Roger Errera for das franzosische Fernsehen aus dem Jahre 1973 (in dem Arendt Englisch spricht). Beides (auf Deutsch) dokumentiert in: !ch will verstehen. Selbstauskunfte zu Leben und Werk, hg. von Ursula Ludz, Mi.in­chen, Zi.irich 1996.


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