+ All Categories
Home > Documents > Meditation und Gebet – Affektsteuerung und Imagination durch Wort und Bild in der...

Meditation und Gebet – Affektsteuerung und Imagination durch Wort und Bild in der...

Date post: 01-Dec-2023
Category:
Upload: uni-frankfurt
View: 0 times
Download: 0 times
Share this document with a friend
30
Rebecca Müller / Anselm Rau / Johanna Scheel (Hrsg.) eologisches Wissen und die Kunst Festschriſt für Martin Büchsel
Transcript

Rebecca Muumlller Anselm Rau Johanna Scheel (Hrsg)

Theologisches Wissen und die Kunst

Festschrift fuumlr Martin Buumlchsel

Neue Frankfurter Forschungen zur Kunst

Herausgegeben vom Kunstgeschichtlichen Institutder Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main

Band 16

Rebecca Muumlller Anselm Rau Johanna Scheel (Hrsg)

Theologisches Wissen und die Kunst

Festschrift fuumlr Martin Buumlchsel

Gebr Mann Verlag Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie detaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlber httpdnbd-nbde abrufbar

copy 2015 by Gebr Mann Verlag Berlin wwwgebrmannverlagde

Alle Rechte insbesondere das Recht der Vervielfaumlltigung und Verbreitung sowie der Uumlbersetzung vorbehalten Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form durch Fotokopie Mikrofilm CD-ROM usw ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet vervielfaumlltigt oder verbreitet werden Bezuumlglich Fotokopien verweisen wir ausdruumlcklich auf sectsect 53 54 UrhG

Gedruckt auf saumlurefreiem Papier das die US-ANSI-NORM uumlber Haltbarkeit erfuumlllt

Umschlaggestaltung unter Verwendung von Farbtafel 3 Jacob Claesz van Utrecht Kreuzabnahme Triptychon Mitteltafel 1513 Berlin Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P AndersLayoutkonzeption MampS Hawemann Berlin Satz Gebr Mann Verlag Berlin Druck und Verarbeitung druckhaus koumlthen GmbH KoumlthenSchriftart Minion Papier 135g BVSPrinted in Germany ISBN 978-3-7861-2753-6

Gedruckt mit Unterstuumltzung von

Dr Marschner Stiftung

Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung fuumlr Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

Wilhelm-Hahn-und-Erben-Stiftung

Richard Stury Stiftung

Meditation und Gebet ndash Affektsteuerung und Imagination durch Wort und Bild in der mittelalterlichen Devotionspraxis

Anselm Rau und Johanna Scheel

Einleitung

Kernelement der mittelalterlichen Praktiken in Meditation und Gebet ist die habituelle und emotionale Ausrichtung auf Gott in der Nachfolge Christi Gerade die Kunstgeschichte ist da-rum bemuumlht Devotionspraktiken zu untersuchen und ihre Bedeutung fuumlr die Kunst des Mit-telalters erfahrbar greifbar und damit lesbar zu machen Dabei geht es nicht darum einzelnen Bildwerken bestimmte Gebetstheorien als motivgebendes Programm zu hinterlegen sondern Bildwerke als Hilfsmittel im Gebet in den durch diese Theorien ausformulierten Kontext zu stellen und ihre Funktion fuumlr den betenden Bildbetrachter zu diskutieren Als Grundlage hier-zu bedarf es der zeitgenoumlssischen theoretischen und theologisch-philosophischen Begruumlndung von Meditation und Gebet Die Werke Hugos von St Viktor vor allem das eher traditionelle Traktat De meditatione und die innovative Schrift De modo orandi bieten sich aufgrund ihrer Rezeption und weiten Verbreitung als auch wegen ihrer intellektuellen Qualitaumlt bei gleichzeiti-ger Anschaulichkeit zur Beschreibung und Analyse des Wesens der Struktur und des Vollzugs der Meditation und des stufenweisen emotionalen Gebets im Mittelalter an Durch die von Hugo als Anwendungsbeispiele gewaumlhlten Psalmentexte lassen sich daruumlber hinaus schlaglicht-artig diachron Vergleichsbeispiele eroumlffnen und zwar mit dem im 13 Jahrhundert entstande-nen Lignum Vitae Bonaventuras und mit De spiritualibus ascensionibus des Gerard Zerbolt von

268 Anselm Rau und Johanna Scheel

Zutphen aus dem 15 Jahrhundert Hieran kann ebenfalls die Ruumlckbindung des Stufengebets an Bildbeispielen erprobt werden

De meditando

In De meditando1 behandelt Hugo die Meditation deren spirituelle Abfolge er in lectio medita-tio oratio operatio und contemplatio strukturiert2 Die uumlbliche monastische Stufenabfolge im Gebet zeigt als festes Geruumlst den Dreischritt aus lectio meditatio oratio der ab dem 12 Jahr-hundert nicht nur bei Hugo sondern beispielsweise auch bei Guigo dem Kartaumluser in seiner Scala claustralium um die contemplatio erweitert wird3 Weitere oder andere Hinzufuumlgungen zu dem Tenar wie hier die operatio oder die Ausgestaltung der Unterteilungen der Stufen koumlnnen von Autor zu Autor variieren Letztendlich ist die Verbindung von Bibellektuumlre und Meditation durch Hugo nicht innovativ sondern allgemeine monastische Praxis Gemaumlszlig der philosophischen Logik erfolgt dabei die Eroumlrterung der Dinge und Sachverhalte nach Hugo uumlber die Erwaumlgung ihrer Ursachen und ihrer inneren Beweggruumlnde sowie hinsichtlich der ka-tegorialen Unterscheidung des Schriftsinnes nach historia allegoria und tropologia

Die Evidenz der Affekte4 bei Meditation und Gebet findet allerdings ungewoumlhnlich starke Betonung in De meditando Anhand des inhaltlichen Leitgedankens des gesamten Traktats aus Psalm 3627 (Vg) Declina a malo et fac bonum verifiziert Hugo bei der Erlaumluterung der gerade

1 Hugo von St Viktor De meditando PL 176 993ndash998 Eine Uumlbersetzung auf Grundlage der Ausgabe von Migne findet sich am Ende des Beitrages vorgenommen wurde ein Abgleich des Texte mit der nicht kritischen Edition und der franzoumlsischen Uumlbersetzung bei Baron ndash vgl R Baron Six opuscules spirituelles La Meacuteditation La Parole de Dieu La reacutealiteacute de lrsquoAmour Ce qursquoil faut aimer vraiment Les cinq Septeacutenaires Les sept Don de lrsquoEsprit-Saint Einfuumlhrung Textkritik Uumlbersetzung und Anmerkungen von R Baron Paris 1969 S 44ndash59 Weitere Titel des Textes De generibus meditationum et quae sit utilitas eorum und De meditatione siehe ebd S 9 Es sind insgesamt 103 Abschriften erhalten ndash 20 aus dem 12 Jh 29 aus dem 13 Jh 17 aus dem 14 Jh und 34 aus dem 15 Jh Vgl R Goy Die Uumlberlieferung der Werke Hugos von St Viktor Ein Beitrag zur Kommunikationsgeschichte des Mittelalters Stuttgart 1976 S 196ndash211 hier S 211 Im Gegensatz zu De modo orandi wurde De meditando nicht in Volkssprache uumlbertragen vgl ebd S 501ndash504 Die Aufmerksamkeit der Forschung fuumlr dieses kurze Traktat ist relativ gering einige seiner Besonderheiten bei Baron op cit S 11ndash172 Diese StufungAbfolge bietet er auch im Didascalicon Hugo von St Viktor Didascalicon de studio legendi Studienbuch uumlbers u eingel v Th Offergeld Freiburg [ua] 1997 59 S 348349 bdquoVier Dinge sind es durch die nun das Leben der Gerechten zur Ausuumlbung gelangt und sich gleichsam auf vier Stufen zur zukuumlnftigen Vollkommenheit erhebt naumlmlich das Studium oder die Belehrung die Meditation das Gebet und das Handeln Darauf folgt noch eine fuumlnfte Stufe die Kontemplation []ldquo Aumlhnlich auch in De archa noe moralia Eine teils woumlrtliche Meditationslehre wiederholt Hugo in In salomonis Ecclesiasten homilia 191 An anderer Stelle wird der Dreischritt mitunter in meditatio speculatio contemplatio umgewandelt Vgl K Ruh Geschichte der abendlaumlndischen Mystik Bd 1 Die Grundlegung durch die Kirchenvaumlter und die Moumlnchstheologie des 12 Jahrhunderts Muumlnchen 1990 S 367f 3 Guigo der Kartaumluser Scala claustralium Die Leiter der Moumlnche zu Gott 2 verb Aufl hg v D Tibi OSB Nordhausen 2009 Eine direkte Abhaumlngigkeit Guigos von Hugo muss dies allerdings nicht bedeuten vgl Ruh (cf Anm 2) S 2224 Auch in De comtemplatione nehmen die Affekte einen besonderen Raum ein ndash affectus wird nicht definiert aber als Streben nach Demut Liebe und ad contemplationis puritatem beschrieben (so Ruh (cf Anm 2) S 374 dort noch Weiteres zu den Unterstufen der einzelnen Stufen)

Meditation und Gebet 269

vom tropologischen Aspekt geleiteten Meditation der Sitten den Charakter und den Nutzen der Affekte Die tugendhafte Lebensfuumlhrung im Denken und Handeln konstituiert sich aus der Erkenntnis der nach der Vernunft geordneten und auf das Ziel Christus ausgerichteten rechtmaumlszligigen und reinen affectus Der Affekt als motus cordis ist in augustinischer Tradition untrennbar mit dem Willen (voluntas) als Vermoumlgen der Seele verknuumlpft Dadurch ist alles ge-ordnet nach der Vernunft ein Akt des Willens in strebendem Verlangen (cupiditas) oder in Furcht (timor) begruumlndeter Ablehnung und dessen Vollzug in Freude (laetitia) oder Trauer (tristitia)5 Aufgrund der tiefen postlapsalen Ambivalenz der Bewegungen des Herzens in dem was es liebt unbeherrscht nach der cupiditas und geordnet nach der caritas bedarf es zudem der umsichtigen circumspectio (Betrachtung) ob die affectus im Guten oder Boumlsen begruumlndet sind6 Konkret bedarf es der eindringlichen Betrachtung in der meditatio die den Ursprung der Affekte untersucht sowie den Antrieb (appetitus) des Willens7 Zu ergruumlnden ist also im Idealfall die bona intentio dh der rechtschaffene Anlass der affectus und der fuumlr sie unabding-bare auf das rechtmaumlszligige Ziel in unablaumlssiger Beharrlichkeit ausgerichtete Eifer (zelus) Bei der meditatio handelt es sich gewissermaszligen um die Begutachtung der Zielrichtung (directio) der affectus das heiszligt ausgehend von ihrem Ursprung uumlber den eigentlichen Vollzug bis schlieszliglich in ihrer Vollendung ein Abgleich mit dem angestrebten Objekt moumlglich ist Hierdurch bildet die Meditation und mit ihr auf dieser aufbauend die contemplatio den eigentlichen Denkprozess und zugleich seine Ergebnisse Affectus besitzt somit einen kognitiven Inhalt bzw die Kognition ist affektiv bestimmt der Affekt ist letztlich Ausgangspunkt Mittel und Ziel des Denkens da erst uumlber ihn die Angleichung an Gott in Christus moumlglich ist Letztlich kann Gott nur uumlber die Liebe erkannt werden

In De meditando ist es Hugo ein Anliegen anhand der fortwaumlhrenden Gegenuumlberstellung der Betrachtung bzw Ergruumlndung des Guten und des Boumlsen die Notwendigkeit der richtigen Reihenfolge der Gebetsschritte zu betonen sowohl was das strebende Verlangen nach dem Gu-ten betrifft als auch seine praktische Ausfuumlhrung Dies beweist der Anfangspunkt der inneren Gewissenspruumlfung als Prozess von Reue und Buszlige in der Abwendung von den Lastern und der damit verbundenen emotionalen Dispositionen Denn nicht die rein aumluszligerliche und theo-retische Betrachtung der guten Werke und das durch sie erworbene Ansehen sind nuumltzlich sondern die Betrachtung des inneren Gewinns durch die Tugenden Gutes zu unterlassen bleibt nicht ohne Schuld und ist als Fehler oder Schaden was die Struktur der meditatio betrifft so-wohl hinsichtlich des schematisierten Meditationsablaufes als auch bezuumlglich des persoumlnlichen

5 Augustinus De civitate Dei hg v B DombartA Kalb Turnhout 1955 pars II Civitas terrena et civitas caelestis 14 6 S 421 ndash ebenso Augustinus De civitate Dei (1955) pars II 14 7 S 422 Zur Theorie des Willens bei Augustinus siehe A Dihle The Theory of Will in classical Antiquity Berkeley[ua] 1982 S 123ndash1446 Circumspectio wird der Kardinaltugend der prudentia zugeordnet spaumlter dann gerade auch bei Thomas v Aquin vgl Ruh (cf Anm 2) S 373) Auszliger in De meditando vgl zur circumspectio bei Hugo von St Viktor De institutione novitiorum De virtute orandi De laude caritatis De arrha animae hg v H B FeissP SicardD Poirel Turnhout 1997 S 46 413ndash423 Fuumlr weitere Beschaumlftigung mit der Sicht Hugos auf die Tugenden siehe I vanrsquot Spijker Hugh of Saint Victorrsquos Virtue Ambivalence and Gratuity in I P BejczyR G Newhauser (Hgg) Virtue and Ethics in the Twelth Century Leiden 2005 S 75ndash94 ebenso in I vanrsquot Spijker The Multiple Meaning of Scripture The Role of Exegesis in Early-Christia and Medieval Culture Leiden 2009 S 2262277 Vgl auch Hugo In Ecclesiasten I 116 (fuumlr 161) D - 117A

270 Anselm Rau und Johanna Scheel

Vorankommens ein Formfehler (vitium) Erleuchtendes Mittel der meditatio ist die lectio in ihren ermahnenden troumlstenden und Furcht evozierenden Unterweisungen Diese fuumlhren zu einem Verstehen der Tugenden (virtus) und naumlhren die affectio welche erst die Lebensfuumlhrung auf dem Pfad der Tugenden generiert Damit spielt Hugo auf den Aspekt des stufenweisen Vo-ranschreitens (profectus) an der sich im Erkennen und Vollzug der Affekte ausgerichtet auf das Ziel selbstreflexiv konstituiert Diesbezuumlglich ist die Ermahnung Hugos entscheidend sich vor der Betruumlbnis des anfaumlnglichen eigenen Unvermoumlgens zu huumlten um das houmlhere Gute zu erreichen Zugleich warnt er aber auch vor der Vereinnahmung durch ablenkende Zerstreu-ung die eine sprunghafte ungeduldige Betrachtung des einzelnen Guten nach sich zieht Hier spricht Hugo zwei grundlegende das Verstaumlndnis des Aufstiegs betreffende Aspekte an Man muss aufgrund des nach eigenem Vermoumlgen erreichten Guten zufrieden sein und dabei auch persoumlnliche Unzulaumlnglichkeiten ertragen (patienter) lernen Das erreichte Gute ist dabei das Fundament auf das Zukuumlnftiges aufzubauen ist eilt man unstet von einem zum naumlchsten geht das bereits Erreichte verloren Erst durch die fortwaumlhrende Uumlbung festigen sich die Tugenden was im Umkehrschluss ein Voranschreiten in der diese selbst konstituierenden affectio erst er-moumlglicht

Die Augustinische Tradition in die sich Hugo stellt macht bereits der einleitende Satz von De meditando deutlich Meditatio est frequens cogitatio modum et causam et rationem unius cuiusque rei investigans8 In dem Pseudo-Augustinischen Traktat De spiritu et anima9 findet man ihn einmal woumlrtlich einmal in einer Abwandlung Der woumlrtlich uumlbereinstimmende Satz taucht in Kapitel 38 auf das von der Definition der Seelenkraumlfte handelt die im Anschluss als ingenium ratio intellectus und intelligentia definiert und durch contemplatio und caritas flankiert werden Eingebettet ist dieser Teil in die Diskussion der Seele als Abbildung und Aumlhn-lichkeit Gottes die es wiederherzustellen gelte Die zweite abgewandelte Version des Zitats findet sich in Kapitel 50 und verbindet die Meditation mit Weisheit Zerknirschung Devotion Gebet und Affekt bdquoMeditatio siquidem parit scientiam scientia compunctionem compunctio devotionem devotio perficit orationem Meditatio est frequens cogitatio curiosa et sagax ob-scura investigare et occulta ad notitiam trahere Scientia est quando homo ad cognitionem sui assidua meditatione illuminatur Compunctio est quando ex consideratione malorum suorum cor interno dolore tangitur Devotio est pius et humilis affectus in Deum humilis ex conscientia infirmitatis propriae pius ex consideratione divinae clementiae Oratio est mentis devotio id est conversio in Deum per pium et humilem affectum Affectus est spontanea quaedam ac dul-cis ipsius animi ad Deum inclinatio Nil enim ita Deum inclinat ad pietatem et misericordiam quemadmodum purus mentis affectusldquo

Letztendlich muumlndet eingeleitet durch das schlagwortartige bdquoDevotio est pius et humilis affectus in Deumldquo die Meditation im Affekt durch den das Gebet selbst als mentis devotio auf Gott hin vollzogen wird Waumlhrend Hugo diesen letzten Part in De meditando nicht uumlbernimmt

8 Diesen Satz findet man ebenfalls in Abwandlung in dem Ps-Hugonischen Traktat De contemplatione et eius speciebus vgl zu diesem Traktat Ruh (cf Anm 2) S 370ndash3809 PL 40 Col 779

Meditation und Gebet 271

begegnet er jedoch in einem anderen Traktat Hugos De modo orandi als zentrale Aussage wie-der Fuumlr De meditando kann er als bestimmender Unterton angenommen werden

De modo orandi

In De modo orandi10 setzt Hugo von St Viktor die rhetorische Form des Gebets in Relation zu Intention und Emotion des Betenden und legt das komplex verwobene Verhaumlltnis von Wort und Emotion systematisch dar Dabei ist die starke Betonung der zentralen Rolle der Affekte innerhalb des Gebets bis dahin einzigartig Hugo aumluszligert sich sogar so dass den frommen Af-fekten die gesamte Kraft des Gebets inne wohne bdquoin affectibus pietatis est omnis virtus orandildquo11

Nach einem Abriss uumlber den generellen Aufbau des Gebets der oratio12 die ausgehend von der meditatio der zweifachen Erkenntnis naumlmlich der eigenen Fehler wie der Barmherzigkeit Gottes zur compunctio13 fuumlhrt und diese in die devotio uumlberfuumlhrt (Kap 1) werden anhand rhe-torischer Formen die verschiedenen Gebetskategorien klassifiziert (Kap 2ndash3) Hiermit gelingt es Hugo nicht nur grundlegende Bestandteile oder Uumlberbegriffe des Gebets detaillierter zu un-terscheiden sondern diese kategorisierende Herangehensweise in einen Zusammenhang mit praktisch brauchbaren Gebetstexten und -worten zu stellen Dies geschieht zunaumlchst ebenfalls in einem engen Theoriegeruumlst in dem die oratio in supplicatio (das demuumltige Gebet) postulatio (die Anrufung) und insinuatio (die versteckte Andeutung) geschieden wird und diese drei Ge-

10 266 Handschriftenexemplare von De modo orandi sind vorhanden mehr als hundert entfallen auf das 15 Jh Vgl Hugo von St Viktor 1997 (cf Anm 6) S 118 ausfuumlhrlicher dazu Goy (cf Anm 1) Laut Goy ist De modo orandi nach dem Soliloquium de arra animae das weitverbreitetste Werk Hugos (12 Jh 42 13 Jh 34 14 Jh 40 15 Jh 105 uumlberlieferte Exemplare) ebd S 506 Diese Verteilung und der prononcierte Sprung im 15 Jh entsprechen nicht der Verbreitungsintensitaumlt aller Schriften Hugos durch die Jahrhunderte die Goy S 509 mit 852 im 12 Jh 665 im 13 Jh 331 im 14 Jh und 674 im 15 Jh beziffert Im 15 Jh findet sich die hohe Verbreitung vor allem im deutschen Raum sowie durch das Gebiet zwischen Rhein und Schelde Goy sieht den Grund in den Klosterreformen der Windsheimer Kongregation und somit der Devotio Moderna an ebd S 51711 De modo orandi Kap 712 Dabei ist die oratio hier nicht eins zu eins mit dem Begriff der oratio in De meditando gleichzusetzen dies ist ein generelles Problem bei dem Versuch aus den Werken Hugos einheitliche Begriffsdefinitionen zu destillieren ndash oftmals werden Begriffe mehrfach belegt und erscheinen gerade in systematischen Abhandlungen die eigentlich von Begriffsschaumlrfe abhaumlngig sind zuweilen an verschiedenen Stellen ein und desselben Systems mit anderen Konnotationen Vgl zB De contemplatione wo dies mit dem Begriff der contemplatio geschieht oder in De modo orandi wo oratio einmal als uumlbergeordnete Kategorie und einmal als Unterkategorie der supplicatio in Form der pura oratio erscheint13 Hugo benutzt hier das Schriftwort bdquoJe mehr der Mensch seine Fehler erkennt desto mehr seufzt und klagt er (Pred 118)ldquo Compunctio bzw contritio bezeichnet die aufrichtige traumlnenreiche Reue und Zerknirschung die den Auftakt jedes Gebets sein sollten Siehe Chr Swift A Penitent Prepares Affect Contrition and Tears in E Gertsman (Hg) Crying in the Middle Ages Tears of History New York 2012 S 79ndash101 Vgl dazu auch S Grosse Heilsungewiszligheit und Scrupulositas im spaumlten Mittelalter Studien zu Johannes Gerson und Gattungen der Froumlmmigkeitstheologie seiner Zeit Tuumlbingen 1994 S 181ff Sie ist Teil der religioumlsen Praxis und erhaumllt ab dem beginnenden 13 Jh einen festen Platz als Teil des Beichtsakraments ab dem 15 Jh erfaumlhrt sie innerhalb dieses institutionalisierten Gebrauchs eine starke Bedeutungszunahme sogar die der eigentlichen satisfactio uumlberfluumlgelnd

272 Anselm Rau und Johanna Scheel

betsarten ebenfalls mit drei Unterkategorien ausgestattet werden Die Begrifflichkeiten sind der antiken Rhetorik entlehnt an der Hugo seine Rhetorik des Gebets entwickelt indem er auf eine sehr anwendungsbezogene Weise bestimmte Affekte in sie einbindet Die captatio ndash eine Unterart der supplicatio ndash soll beispielsweise in der antiken Rhetorik eine emotional positive Einstimmung des Angesprochenen ndash im Gebet waumlre dies Gott ndash bewirken14 bei Hugo dient sie jedoch daruumlber hinaus stark der eigenen emotionalen Vorbereitung des Betenden Die Gebets-worte haben nach Hugo ausdruumlcklich die Funktion im Betenden diejenigen Affekte entstehen lassen die der Bitte entsprechen

Form ndash Intention ndash Emotion

Dass festgelegte traditionelle Gebetsworte vorgegeben sind wiederspricht dieser Funktion dabei in keinster Weise Hugo zeigt dies daran dass er gerade Psalmentexte benutzt um seine Vorstellungen von affectus und davon wie dieser im Gebet erzeugt werden kann zu entwickeln (Kap IV) Waumlhrend die richtige (rhetorische) Form der Bitte fuumlr die Ansprache Gottes wichtig sei sei sie fuumlr den Betenden einerseits notwendig damit er sein eigenes Gebet besser verstehen koumlnne er nochmals in der meditatio uumlberlege worum er bitte und vor allem damit er dadurch noch hingebungsvoller mit staumlrkerer devotio bete Erst durch diese vollkommene Hinwendung der Seele des Betenden zu Gott in hingebungsvollem Affekt (affectus devotionis) wird seine Zu-stimmung erreicht Durch die Worte werde dem Beter seine Bitte und sein Zustand staumlrker bewusst er werde zum Affekt gebracht der Affekt in denselben Worten ausgedruumlckt und durch diese noch staumlrker entflammt bdquoQuaecunque ergo sunt verba orantis absurda non sunt si tan-tummodo ad hoc competenter proferri possint ut vel orantis affectum ad amorem Dei excitent vel (quod amplius est) si jam amore ejus flagrat excitatum demonstrentldquo15 Hier wird der Kern des Traktats formuliert Die Form des Gebets wird in Relation zu Intention und Emotion ge-setzt wodurch Hugo einerseits zu der Aussage kommt dass je groumlszliger die Emotion werde sie sich desto weniger in artikulierten Worten ausdruumlcken lieszlige16 Andererseits kann er zeigen dass das Verhaumlltnis von Wort und Emotion ein vielschichtiges und sich gegenseitig amplifizierendes ist Die Gebetsworte werden danach ausgesucht welchem Ziel und Affekt sie dienen sollen Im Gebet gesprochen vergegenwaumlrtigen sie oder erinnern sie den Betenden an bestimmte Affekte sie erwecken und verstaumlrken diese soweit dass zuletzt ebendiese Worte zum Affektausdruck des Beters werden Der Betende eignet sich damit fremde Worte durch den Affekt an und macht

14 ZB in De inventione von Cicero (1 17) oder RhetoricaAuctor ad Herennium (1 6) so Hugo von St Viktor (1997) S 166 Anm 28 (cf Anm 6) Vgl zur captatio ebenso B Wessel Art Captatio benevolentiae in Historisches Woumlrterbuch der Rhetorik hg v G Ueding Bd 4 Tuumlbingen 1998 Sp 121ndash12315 bdquoAber auf keine andere Weise wird Gott zur Zustimmung gebracht als wenn die Seele des Betenden in gaumlnzlich hingebungsvollem Affekt zu ihm selbst hingewandt wird Wie auch immer die Worte des Gebets sind so sind sie nicht nutzlos wenn sie ihm nur passender vorgetragen werden koumlnnten damit sie entweder den Gebetsaffekt zur Liebe Gottes entflammen oder was besser ist wenn die Liebe schon brennt sie die Erregung zeigtenldquo16 bdquoDer Affekt hat naumlmlich die Eigenschaft dass je groumlszliger und gluumlhender er im Inneren ist er desto weniger aumluszligerlich durch die Worte ausgedruumlckt werden kannldquo

Meditation und Gebet 273

sie zu seinen eigenen Das gesprochene Gebet ist so uumlber seinen affektiven Effekt auf den Beter definiert Als Beispiel benutzt Hugo Schriftworte vornehmlich Psalmen bdquoJeder Einzelne also waumlhrend er im Gebet entweder Psalmen oder irgendwelche anderen Schriften singt soll sorg-faumlltig bedenken welchem Affekt sie dienen moumlgen und durch ganze Anstrengung sein Herz zu jenem Affekt erregen Er sagt das was ihm besser zu dienen scheint denn wenn er den Affekt erregt durch die Worte die er sagt erkennt er durch den Affekt selbst besser die Kraft der Worte Er erwirbt die Einsicht und entzuumlndet durch die Einsicht der Worte umso mehr den hingebungsvollen Affektldquo (Kap V)

Psalmen ndash Wort und Affekte

Die lebenspraktische Erklaumlrung der Gebetsaffekte in De modo orandi ist bemerkenswert klar Weil in den Affekten die ganze Kraft des Gebets liege zaumlhlt Hugo beispielhaft aus den unend-lichen Affekten (Kap VII) neun von ihnen auf die er ebenfalls kurz definiert und gruppiert zunaumlchst die Affekte der Zuneigung Bewunderung und Mitfreude17 dann die Affekte der De-mut des Leides und der Furcht sowie zuletzt die Affekte der Entruumlstung der Eifersucht und der guten Erwartung Diese Gruppierungen werden jeweils auf verschiedene Schriftgattungen bezogen aus denen sie entstehen koumlnnen ndash so werden einer Gattung die zur Erinnerung des Ungluumlcks bzw der eigenen Fehler anregt drei dieser Affekte zugeordnet naumlmlich Demut die aus der Erinnerung der eigenen Fehler erwaumlchst Leid aus der Erinnerung vergangener und gegenwaumlrtiger Fehler sowie Furcht aus dem Gedanken an zukuumlnftige Vergleichbare Zuord-nungen finden sich dort auch fuumlr die uumlbrigen Affekte

Nun verknuumlpft Hugo diese mit konkreten Beispielen aus den Psalmen (Kap VII) bdquoAus dem Affekt der Zuneigung (dilectio) heraus wird Ps 182 gesungen sbquoIch will Dich ruumlhmen Herrlsquo Aus dem Affekt der Bewunderung (admiratio) heraus wird Psalm 8[2]10 gesungen sbquoHerr unser Herrlsquo Aus dem Affekt der Mitfreude (congratulatio) heraus wird Ps 472 gesungen sbquoIhr Voumllker allelsquo Und in allen diesen ist LobAus dem Affekt der Demut (humilitas) heraus wird Ps 312 gesungen sbquoHerr ich suche Zufluchtlsquo Aus dem Affekt des Leids (dolor) heraus wird Ps 131 gesungen sbquoWie lange noch Herr vergisst Du mich ganzlsquo Aus dem Affekt der Furcht (timor) heraus wird Ps 62 gesungen sbquoHerr strafe mich nicht in deinem Zornlsquo Und in all diesen ist die Fuumlrbitte mit einer Klage vermischtAus dem Affekt der Entruumlstung (indignatio) heraus wird Ps 523 gesungen sbquoWas ruumlhmst Du Dich Deiner Bosheitlsquo Aus dem Affekt des gerechten Eifers (zelus) heraus wird Ps 941 gesungen sbquoO Herr Gott der Vergebunglsquo Aus dem Affekt der guten Erwartung (bona praesumptio) heraus wird Ps 261 gesungen sbquoVerschaffe mir Recht o Herrlsquoldquo

17 Affectus congratulationis wird als Gegenpol zur compassio verstanden

274 Anselm Rau und Johanna Scheel

Hugo zeigt hier wie einerseits aus dem Affekt ein bestimmter Psalm gesungen wird Er kom-plettiert damit was er bei der Aufzaumlhlung staumlrker betonte naumlmlich aus welchen Psalmen ein Affekt erwaumlchst und gleichzeitig wie die Worte zu denjenigen der eigenen Bitte und zum Af-fektausdruck werden

Mischung und Uumlberblendung von Affekten

Allerdings wird nicht innerhalb eines Psalms je nur ein Affekt ausgedehnt sondern oftmals geht dort ein Affekt in den anderen uumlber Sie werden gemischt oder loumlsen sich kontinuierlich ab (Kap VIII) Ein Beispiel hierzu Aus der meditatio der eigenen Fehler und Gottes Barm-herzigkeit bricht man durch den Affekt des Schmerzes in die Worte aus bdquoHerr wie zahlreich sind meine Bedraumlnger so viele stehen gegen mich auf viele gibt es die von mir sagen Er findet keine Hilfe bei Gottldquo Dies sind die ersten Verse aus Psalm 3 Aus dem Affekt des Schmerzes der dadurch staumlrker entflammt und ausgedruumlckt wird kehrt der Betende mit dem naumlchsten Vers des Psalms 3 auf den Affekt der guten Erwartung zuruumlck und sagt bdquoDu aber Herr bist ein Schild fuumlr michldquo Damit wird der Schmerz von Vertrauen gelindert und der eine in den andere Affekt uumlberfuumlhrt

Die Psalmenworte vergegenwaumlrtigen oder erinnern hier an den Affekt und werden danach angewandt zugleich sind sie Anreiz und -ausdruck der vielfaumlltigen Palette wandelbarer Affekte

Diese Definition in De modo orandi ist fuumlr das Verstaumlndnis der Affekte innerhalb des Ge-bets im gesamten Mittelalter als grundlegend anzusehen Aus kunsthistorischer Sichtweise ist die Beschaumlftigung mit dieser Schrift daher nicht nur unerlaumlsslich um mittelalterliche Bildwer-ke die fuumlr den Bildbetrachter als Hilfsmittel fuumlr sein Gebet konzipiert wurden praumlziser kon-textualisieren zu koumlnnen Vielmehr ist die in De modo orandi dargelegte Reflexionsstruktur auf die Rezeption von Werken der bildenden Kunst uumlbertragbar

Das Lignum vitae

Ein Beispiel fuumlr die konkrete Anwendung der Evozierung von affectus bei Gebet und Medita-tion wie von Hugo von St Viktor konzipiert stellen die Meditationen des Lignum vitae Bona-venturas und dessen bildliche Umsetzung dar18 In seinen viel rezipierten Werken De triplici

18 Bonaventura Lignum vitae in Opera omnia Quaracchi 1848 Bd 8 Im Folgenden wird auf die lateinische Edition von Quaracchi mit dem Kuumlrzel LV verwiesen Wird nicht die eigene Uumlbersetzung verwendet ist die Grundlage M Schlosser Baum des Lebens Geistliche Betrachtungen St Ottilien 2012 Weitere deutsche Uumlbersetzung bei A Aswerus Der Lebensbaum Zuumlrich 1963Die Rezeption der Schriften Hugos bei den Franziskanern ist bekannt gerade die Verbreitung der hier besprochenen Texte Vgl Goy (cf Anm 1) S 530ndash532 In Italien und auf der iberischen Halbinsel sind mit 170 Texten nur ca 7 der Gesamtuumlberlieferung von Hugos Werken zu finden allerdings faumlllt bei den Handschriften italienischer Provenienz die bdquofuumlhrende Stellung der Franziskaner als Tradentenldquo auf Vgl ebd S 530 Die Houmlhepunkte der Tradierung liegen im 13 und 15 Jh vgl ebd S 559ndash564 bes S 563

Meditation und Gebet 275

via in dem er sein auf dem Gedankengut des 12 Jahrhunderts beruhendes Verstaumlndnis von meditatio oratio und contemplatio darlegt und dem Itinerarium mentis in Deum wendet sich Bonaventura der Formung der Seele des Menschen fuumlr den Aufstieg zu Gott zu19 Gerade aber das Lignum vitae hat maszliggeblich in seiner konkreten Form die Passionsmeditation des spaumlten Mittelalters beeinflusst20

Deutlich ist hervorzuheben dass Bonaventura diese Meditationsschrift zu Kindheit und Leben Passion und AuferstehungVerherrlichung Christi auf Grundlage mnemotechnisch strukturierter Modelle der monastischen Meditationspraxis konzipierte Der Entwurf Bona-venturas sieht die Anordnung der Meditationen anhand eines Baumschemas vor als struktur-gebende Schablone fuumlr das Einpraumlgen dieser im Herzen21 Da die Vorstellungskraft (imaginatio) die Einsicht (intelligentia) unterstuumltzt gibt Bonaventura die konkrete die Intention verdeutli-chende Anweisung bdquodescribe igitur in spiritu mentis tuae arboremldquo22 Die Meditationen selbst dienen zur Entflammung des Herzens in liebendem Empfinden zur Formung des Denkens und zur Einpraumlgung in das Gedaumlchtnis (accendatur affectus formetur cogitatus imprimatur memoria) Somit wird auch hier die Formung des Denkens durch den affectus herausgestellt23 Nach dem Entwurf Bonaventuras besitzt der Baum zwoumllf Zweige an denen jeweils vier kurze Strophen die Einleitungen bzw Uumlberschriften zu den einzelnen Meditationen angebracht sind die immer zusammen genommen eine Frucht hervorbringen So umfasst das gesamte Schema 48 Meditationen die in einer Reihenfolge von unten nach oben insgesamt zwoumllf zu erreichende Fruumlchte oder auch tugendhafte habitus hervorbringen sollen24

Die rasche und vielfaumlltige visuelle Umsetzung der Baumstruktur zeugt von der Popula-ritaumlt der Meditationen des Lignum vitae eine der heute wohl bekanntesten Darstellungen stammt von Pacino di Bonaguida der jeder einzelnen Meditation ein Bildmedaillon zuordnete

19 Bonaventura De triplici via Opera omnia Quaracchi 1948 Bd 8 S 19ndash27 ndash Bonaventura Itinerarium mentis in Deum Opera omnia Quaracchi 1891 Bd 5 S 293ndash316 ndash vgl hier auch die kritischen Edition und die Darstellung der inhaltlichen Grundkonzeption Bonaventura De triplici via Uumlber den dreifachen Weg latdt uumlbers u eingel v M Schlosser Freiburg iBr [ua] 1993 ndash Bonaventura Itinerarium mentis in Deum ndash Der Pilgerweg des Menschen zu Gott latdt uumlbers u erl v M Schlosser mit einer Einleitung von P Zahner Muumlnster 200420 R Preisinger Lignum vitae Zum Verhaumlltnis materieller Bilder und mentaler Bildpraxis im Mittelalter Paderborn 2014 21 Zu den Schablonen und dem Einpraumlgen dieser ins Herzen vgl M Carruthers Moving Images in the Mindrsquos Eye in J Hamburger M-A Boucheacute (Hgg) The Mindrsquos Eye Art and Theological Argument in the Middle Ages New Jersey 2006 S 294 FN 24 zu den Anweisungen Hugos in De arca noe S 292ndash29422 LV Prolog S 6823 Ebd24 Die uumlberkommenen Traktate belegen die angedachte Konzeption zur Verinnerlichung der einzelnen Meditationen die Uumlberschriften als Responsorium mit dem Kehrvers O crux fructus salvificus zu singen vgl hierzu M Sensi Lrsquoallegoria della Croce nel monastero di SantrsquoAnna a Foligno in B Ulianich U Parente (Hg) La Croce Iconografia e interpretazione Bd 3 La croce nella liturgia NeapelRom 2007 S 392 ebenso Preisinger (wie Anm 20) S 36ndash42

276 Anselm Rau und Johanna Scheel

(Abb 1)25 In kuumlnstlerischen Darstellungen diente das Lignum vitae als visuelle Unterstuumltzung sowohl fuumlr den Gesang als auch gerade zur Strukturierung von Predigt und Meditation26 Ein Groszligteil der Bilder zum Lignum vitae binden den Text in Form der Uumlberschriften der einzelnen Meditationen ein Eine solch detailreiche Ausgestaltung wie etwa bei Pacino ist bei den uumlber-lieferten Beispielen keine Regelmaumlszligigkeit Damit belegt allein schon das Bild selbst dass das

25 Jedoch darf diese Tatsache nicht uumlber die tatsaumlchliche Anwendung hinwegtaumluschen Auf die Diskussion um die Bildwerke zum LV kann hier nicht dezidiert eingegangen werden Die juumlngsten Publikationen zum Lignum vitae mit der entsprechenden Literatur zur Forschungslage sind Preisinger (cf Anm 20) und U Ilg Quasi lignum vitae The Tree of Life as an Image of Mendicant Identity in P SaloniusA Worm (Hgg) The Tree Symbol Allegory and Mnemonic Device in Medieval Art and Thought Turnhout 2014 S 187ndash212 ndash Siehe die Kritik an der bisherigen Auseinandersetzung mit dem Lignum vitae und seinen Darstellungen in der 2015 abgeschlossenen Dissertation von A Rau Imagination und Emotion Bildstruktur und Emotionalisierungsstrategien in der monastischen Meditation und das bdquoModell Franziskusldquo sowie A Rau Im Wechselbad der Gefuumlhle ndash das Lignum vitae in Imago 4 (2015) erscheint November 201526 L Bolzoni The Web of Images Vernacular Preaching from its Origins to Saint Bernardino da Siena Aldershot 2004 S 154ff

Abb 1 Pacino di Bonaguida Lignum vitae Florenz Galleria delllsquoAccademia um 1310 258x151cm

Meditation und Gebet 277

eigentliche affizierende Potential in der Steuerung der imaginatio des LesersBetrachters durch den Text der Meditation und des Gebet selbst liegt27

Innerhalb der jeweils einer Frucht zugeordneten vier Meditationen ist ein Aufbau und Uumlbergang festzustellen ebenso sind in der Regel die Fruumlchte durch die letzte Meditation der vorangegangenen und die erste der folgenden miteinander verknuumlpft Allen gemein ist dass zu Anfang einer jeden Frucht die in den ersten zwei Fruumlchten ausgebildeten Grundtugenden caritas und humilitas als Ausgangspunkt genommen werden Diese beiden sind wie bereits von Augustinus betont die Grundtugenden aus denen alle weiteren erst hervorgehen koumlnnen28 Die einzelnen Meditationen zeichnen sich durch das Fokussieren auf eine tugendhafte Haltung Christi aus Diese verdeutlicht er entweder selbst in einer emotionalen seinen Habitus aus-druumlckenden Disposition oder weiteres biblisches Personal reagiert als Exempel fuumlr den LeserBetrachter des Lignum vitae auf die ihm so bdquovisualisertenldquo Geschehnisse um Christus So ent-stehen Imaginationsfiguren die das Handeln (operatio) bestimmen sollen Geleitet wird die Meditation des Betrachters durch die eindruumlcklichen Schilderungen der Begebenheiten aus dem Leben Christi in Kombination entweder direkter Ansprachen an seine Seele wie er sich verhalten was er sich als Vorbild nehmen soll oder durch in die Meditation selbst eingefuumlgte Gebetstexte welche die Affizierung entweder stuumltzen oder direkt hervorbringen koumlnnen

Die Meditationen der ersten vier Fruumlchte (Geburt Kindheit Wirken Christi) charakteri-sieren das Lignum vitae wie schon bei Hugo und in den Meditationsmodellen des 12 Jahrhun-derts als dezidiertes Reue- und Buszligschema Dies verdeutlicht allein schon die formale Anlage da sich hier vorwiegend Anweisungen zu habituellen emotionalen Dispositionen des Lesers finden Die Einmuumlndung dieser Meditationen in die Schilderung des letzten Abendmahls kon-kretisiert die Verbindung zwischen der logischen Anlage eines sukzessive aufgebauten Medita-tionsschemas die Notwendigkeit seiner fortdauernden Anwendung und somit den praktischen Bezug zum religioumlsen Leben Reue und Buszlige sind die notwendige Grundvoraussetzung fuumlr die Teilhabe an der Opferfeier des Messgeschehens es hebt die Meditationspraxis als fortdauernde Uumlbung der Affekte und Tugenden als staumlndige Gewissenspruumlfung hervor und kennzeichnet den Menschen ab diesem Punkt als muumlndigen Meditanden und Beter

So aumlndert sich dann ab der fuumlnften Frucht zu den Passionsmeditationen auch der Auf-bau Hier werden konzentriert einzelne orationes in die einzelnen Meditationen eingeflochten Bemerkenswert ist bei den fast als propaumldeutisch zu verstehenden Meditationen der ersten vier Fruumlchte findet sich eine sehr uumlberschaubare Anzahl von Psalmzitaten waumlhrend sie hier als personalisierte Gebete des LesersBetrachters gehaumluft auftreten Gezielt werden sie in den Meditationen der geschilderten Situationen und Peinigungen Christi eingesetzte um die com-passio zu erregen Hieran laumlsst sich die unmittelbare und entscheidende Zusammenwirkung

27 Bezuumlglich einer eingehenden gerade auch sprachlichen Untersuchung der Meditationen des Lignum vitae das affektsteuernde Potential herausarbeitend siehe abermals Rau (wie Anm 25)28 K Pansters Profectus Virtutum From Psalm 838 to David if Augsburgrsquos Profectus religiosorum in Studies in Spirituality 18 (2008) S 170 Zur Thematik weiterfuumlhrend N Baumann Die Demut als Grundlage aller Tugenden bei Augustinus Frankfurt 2009

278 Anselm Rau und Johanna Scheel

von meditatio und oratio beobachten die in Kombination die Lenkung der geordneten affectus bestimmen

Die von Hugo in De meditando angemahnte Unterscheidung und Betrachtung des Guten und Boumlsen findet in den Meditationen des Lignum vitae seine konkrete differenzierte Anwen-dung Heben die ersten vier Fruumlchten dezidiert Reue und Buszlige des MeditierendenBetenden und gerade die Schlechtigkeit des Menschen gegenuumlber Christus hervor so zeigen die Medita-tionen zur Passion Christi (5ndash8) die Betrachtung des Boumlsen und des Guten dahingehend wie das Boumlse in Gestalt der Peiniger Christi auf diesen einwirkt und wie Christus selbst oder wei-teres positiv konnotiertes biblisches Personal reagiert Die Grundlage des hier geforderten Mit-leidens mit Christus ist die bei den vorangegangenen Meditationen ausgearbeitete compassio Christi mit den Suumlndern Demuumltig ausgerichtet und damit ausgebildet am mitfuumlhlenden Vor-bild Christi kann der LeserBetrachter uumlber die imaginatio in der Meditation und dem Gebet hier zum Mitleidenden ausgebildet werden Zuerst wird also die demuumltige Emotionalitaumlt ob der eigenen Schlechtigkeit dem eigenen Boumlsen im Abgleich mit dem guten Vorbild in Christus herausgebildet und daraufhin die Affekte in den Meditationen zur Passion Christi an Christus selbst zum Mitleiden konstituiert

Als Beispiel der dezidiert auf die Affizierung ausgerichteten Anlage seien die Meditationen der fuumlnften Frucht umrissen Gegenstand (res) ist hier die Betrachtung von Christi Vertrauen (confidentia) in der Gefahr und umfasst die vier Meditationen zu Judasrsquo Verrat Christi Gebet auf dem Oumllberg der Umzingelung Christi durch die Haumlscher und seiner Gefangennahme29 Propaumldeutisch wird dem Verrat Judasrsquo dem abgrundtief Boumlsen (nequissum) die geradezu pa-radox erscheinende und dadurch Staunen und Bewunderung erweckende (o mira) Guumlte (be-nignitas) und Sanftmut (mansuetudo) Christi gegenuumlbergestellt30 Dieses Thema beherrscht alle Meditationen dieser Frucht und ist begleitende Grundlage aller folgenden Darstellungen der Misshandlung Christi Judas wird typologisch als lasterhafter Gegenpart zum tugendhaften Idealbild Christi stilisiert Sein Verrat gruumlndet in seiner cupiditas und bestimmt von seinen niedersten Trieben ist er die Personifikation von perfidia (Treulosigkeit Gewissenlosigkeit) in-gratitudo (Undankbarkeit) und duritia (Hartherzigkeit)31 Die angemahnte Betrachtung des Guten und des Boumlsen legt als klassisches System der Gegenuumlberstellung von Tugenden und Lastern anzustrebende bzw abzulehnende habitus durch die Ausrichtung der affectio dar

Signifikant zeigt sich die Affizierung anhand der uumlber die lectio sich konstituierende me-ditatio aufgrund der imaginierten Begebenheit in Verbindung mit der oratio die wiederum ihren Ausdruck in den Psalmen findet Als Ausweis der inneren Verletzlichkeit seiner mensch-lichen Natur (in natura sensibili)32 ist die Schilderung von Christi Gebet auf dem Oumllberg zentral Ob der Vorstellung des Todes (imaginatio mortis) die in seine empfindsame Seele eindrang wird er von affectus umschlungen (complexabatur affectu) Seine innere Bewegtheit wird mit den Tropfen blutigen Schweiszliges die seinen Koumlrper hinab rannen verdeutlicht der Affekt der

29 LV 517ndash20 S 75ndash7630 LV 517 S 7531 Ebd32 LV 518 S 75ndash76

Meditation und Gebet 279

Furcht (anxietas) als Empfindung steigt zwar in seinem Geist auf (in spiritu) der Nachvoll-zug erfolgt jedoch uumlber die aumluszligeren (imaginierten) Zeichen33 Die Meditation laumlsst den Leser darauf fragen bdquoO Herrscher und Herr Jesus woher kommt diese furchtbare Angst deiner Seele und dein angstvolles Flehen Hast du denn dem Vater dein Opfer nicht mit freiem Willen ge-brachtldquo34 Die Erklaumlrung folgt sofort Fuumlr die Bestaumlrkung des Glaubens hat Christus wahrhaft die sterbliche Natur angenommen damit der Mensch Hoffnung schoumlpfen kann sollte er aumlhn-liche Bedraumlngnis und Furcht erleiden denn aufgrund der Hoffnung richtet der Mensch seine Liebe auf Christus das Ziel wiederum willentlich (voluntas) aus Die offenkundigen (aumluszligeren) Zeichen des Leids in Christi menschlicher Natur sind das entscheidende Kriterium fuumlr die selbstreflexive Erkenntnis des LesersBetrachters Es ist die Erkenntnis dass Christus wahr-haftig die Schmerzen und das bittere Leid der Menschen mit fuumlhlbarer (sensu) Pein durchlitten hat35 Die Schilderung der Todesangst Christi ist damit Grundlage der im ersten Satz der fuumlnf-ten Frucht geforderten inneren Teilhabe (pii considereare) fuumlr die compassio den Nachvollzug seiner noch weiterhin zu durchleidenden koumlrperlichen wie seelischen Pein36

Diese Erkenntnis stuumltzt nun das ergaumlnzende Beten der Psalmen da diese einerseits die geforderten Affekte und den Affektreiz bekraumlftigen zugleich aber auch das selbstreflexive Moment herausarbeiten Die seelische Bedraumlngnis Christi auf dem Oumllberg wird begleitet und sozusagen von der Schilderung des Verrates Judasrsquo und der Bedraumlngung durch die Haumlscher umrahmt und aufgrund des Einbindens der Psalmen 38 41 und 55 in genau diese Meditationen zu einem inhaltlich kongruenten Gebet gestaltet Alle drei Psalmen wobei besonders Psalm 55 zitiert wird (Verse 13ndash15) nehmen Bosheit Verrat und Bedraumlngnis durch Freund und Feind in den Blick Hierdurch werden gerade das Verlassensein und das Ausgeliefertsein gegenuumlber den Misshandlungen in den Vordergrund gestellt die beschriebene Furcht Christi begleitet und durch das personalisierte Gebet zur emotionalen Ausrichtung des Beters selbst Nicht allein der einzelne Psalmvers wird dabei gebetet sondern ganz der mnemotechnischen Konzeptuali-sierung verpflichtet bildet der Vers den Ausgangspunkt und schlieszligt die Betrachtung und das Gebet des gesamt Psalms mit ein37 Der Klage uumlber den Vertrauensbruch durch den Freund (Ps 5513 ebenso Ps 3813 und Ps 41) und der Bedraumlngnis durch Frevler an deren Haumlnden Blut klebt (Vers 24) geht in Analogie zu Christi Gebet zum Vater auf dem Oumllberg die Anrufung Gottes voraus er moumlge das Beten und Flehen erhoumlren (exaudi orationem meam deprecationem meam)

33 Ebd34 Schlosser (wie Anm 19) S 51 LV 52 S 7635 LV 52 S 76 ndash Bereits Bernhard von Clairvaux formulierte Gott bot den Zugang zu sich selbst uumlber die Affekte weshalb die Inkarnation notwendig war um die affectiones des Menschen zuruumlckzugewinnen vgl B von Clairvaux Sermones super canticum canticorum 205 in Bernhard von Clairvaux Saumlmtliche Werke latdt hg v G Winkler Innsbruck (1996) Bd 5 S 28428536 LV 517 S 75 Nochmals abschlieszligend wird dies als identifikationsstiftendes Vorbild am Ende (vierte Meditation fuumlnften Frucht) mit dem Bild der gefesselten Haumlnde des unschuldigen Lammes und dem eingeforderten Stoumlhnen und der Beschreibung des durchdringenden Schmerzes der die Herzen der Juumlnger bei diesem Anblick durchstach (doloris aculues discipolorum vorda penetravit) vor Augen gestellt Vgl LV 520 S 7637 Zur Mnemotechnik allgemein M Carruthers The Book of Memory A Study of Memory in Medieval Culture Cambridge [ua] 122006 Zu beachten sind ebenso F A Yates The Art of Memory London 1966 M Evans The Geometry of Mind in Architectural Association Quarterly 124 (1980) S 32ndash55

280 Anselm Rau und Johanna Scheel

(Vers 1ndash8) Dabei wird die Angst (conturbatus sum) das Beben des Herzens in der Brust und das Befallenwerden vom Schrecken des Todes beschrieben (cor meum conturbatum est in me et formido mortis cecidit super me) ebenso das Erfasstsein von Furcht Zittern Schaudern und Entsetzen (timor et tremor venerunt super me et contexerunt me tenebrae) Der Nachvollzug der emotionalen Disposition Christi wird durch die kalkulierte Verknuumlpfung mit Psalm 38 zu-gleich ebenso zur detailreichen Klage in Furcht und Schrecken ob der eigenen Suumlndhaftigkeit Judas stellt natuumlrlich fuumlr den Abgleich das Negativbeispiel Doch im Gegensatz zu ihm zeigt der Betende in seiner demuumltigen Hinwendung zu Gott in Schmerz und Furcht das in ihn gesetzte Vertrauen das auch Jesus unter Beweis stellte Die Psalmen bieten hierfuumlr das passende Mittel der notwendigen Ausrichtung in der affectio

Ein interessanter Punkt sei in Bezug auf die Ausfuumlhrungen in De meditando hinsichtlich des Eifers (zelus) fuumlr die gerechte Sache noch genannt Die Sanftmut Christi wird gerade da-durch vor Augen gefuumlhrt dass er im Sinne des immerfort zur Vergebung bereiten Gott seinen Haumlschern guumltig begegnet da er sich seinen Peinigern nicht im Zorn (ira) verschloss (Ps 7710)38 Er haumllt naumlmlich sogar seinen Verteidiger ndash in der exegetischen Tradition Petrus vor allem dann auch in der bildenden Kunst ndash zuruumlck und bremst dessen gerechten zelus sein rechtmaumlszligiges eigentlich tugendhaftes eifersuumlchtiges Streben fuumlr das geliebte Objekt und heilt sogar ein abge-schlagenes Ohr Dieser Eifer der wie in De meditando beschrieben ohne Hinterlist ist nicht aus Ignoranz (repraumlsentiert durch die HaumlscherPeiniger) gegenuumlber der Wahrheit (in Christus) hervorgegangen zeigt die gute Absicht die durch Beharrlichkeit ans Ziel fuumlhrt und laumlsst somit die Liebe nicht lau werden Petrus wird als Identifikationsfigur installiert und am Ende aber-mals Judas entgegen gehalten Letzterer wurde zwar schlieszliglich aufgrund seiner Tat von Reue ergriffen jedoch war er nicht faumlhig durch die Hoffnung auf das Gute Christus Vergebung zu ersehnen und wurde von Bitterkeit (amaritudo) erfuumlllt so dass er den Tod und nicht das ewige Leben ersehnte

Meditationsschemata werden gerne aufgrund der ihnen innewohnenden Abfolge als starre Konstrukte und allein auf einen miszliginterpretierten geistigen Aufstieg abzielend hin verstan-den Doch beweist gerade das Lignum vitae eine hohe Flexibilitaumlt fuumlr den alltaumlglichen Gebrauch und zudem die eigentliche Intention die Formung von affectus

Gerard Zerbolt van Zutphen

Das stufenweise emotionale Gebet und die Meditation begegnen ebenfalls ndash allerdings weniger stark schematisiert als im Lignum Vitae ndash in einem Standardwerk der niederlaumlndischen Froumlm-migkeitsliteratur des 15 Jahrhunderts In De spiritualibus ascensionibus stellt Gerard Zerbolt

38 Im Tugend- und Lastersystem ist die Unterscheidung von zelus ira und furor sehr entscheidend bezuumlglich des guten und schlechten Strebens und damit hinsichtlich rationalen Ordnung des Geistes Zum tugendhaften und lasterhaften Zorn und seiner Aspekte vgl Richard von St Viktor Benjamin minor 40ndash44 PL 196029-033 ndash Gerade bei der Verurteilung Christi durch Pilatus (LV 624 S 77) wird das Thema der rasenden Wut (zelus invidiae) und des gerechte Zorns (zelus iustitia) nochmals differenziert

Meditation und Gebet 281

von Zutphen ein Autor der devotio moderna handbuchartig sein Aufstiegsmodell dar39 Darin vermittelt er seinen Mitbruumldern und einem frommen Laienpublikum ein ausgekluumlgeltes System von geistigen Uumlbungen die sich nicht nur auf den eigentlichen Gebetsakt beziehen sondern habituell im Alltag Anwendung finden sollen indem sie eine Transformation des Menschen be-wirken Er geht dabei von dem uumlblichen zeitgenoumlssischen theologischen Anthropologiemodell der Seele als durch Suumlnde verschmutzte imago Dei aus und stuumltzt sich auf bekannte moraltheo-logische Emotionstheorien die er jedoch stark ausweitet indem er den Emotionen eine genaue Funktion und eine Schluumlsselrolle im Erkenntnisprozess zuweist Die formula meditandi40 be-schreibt Gerard als inhaltlich verschieden konnotierte Selbstuumlberpruumlfungen in der die dadurch produzierten Emotionen wie Zerknirschung (compunctio bzw contritio) Furcht (timor) oder Hoffnung (spes) nicht nur bewusst gemacht sondern produktiv umgewandelt werden um zu Instrumenten und Stufen des weiteren Aufstiegs zu werden41 Diese Aufstiege sind ein Prozess der Selbsttransformation des Menschen der sich vollzieht indem der Mensch sowohl seinen urspruumlnglichen Zustand diese Transformation selbst als auch die Erfahrung seiner Veraumlnde-rung mit den erreichten Stufen emotional (ex affectu) erkennt (cogitare) und fuumlhlt (sentire)42 Aumlhnlich wie bei Hugo von St Viktor formuliert Gerard dass der Betende immer einen Affekt und ein Verlangen (desiderium) annehmen solle die zu den aktuellen Uumlbungen oder Medita-tionen passe43 Die Selbsttransformation im geistigen Aufstieg wird nach Gerard ebenso im uumlb-lichen Schema der lectio meditatio und oratio geuumlbt und an verschiedenen materiae meditandi44 vollzogen Die Affekte werden anhand dieser materiae erzeugt katalysiert und in das Gebet

39 Die Schrift (im Folgenden De Spir Asc) wird zitiert nach der Edition von F J LegrandN Staubach (Hgg) Gerard Zerbolt von Zutphen De Spiritualibus Ascensionibus La monteacutee du coeur Turnhout 2006 Vgl zur affektiven Konnotation von Gerards Gebetssystematik M Goossens De meditatie in de eerste tijd van de moderne devotie HaarlemAntwerpen 1954 Er stellt den Affekt als Wesensmerkmal des Gebets bei Gerard fest ebd S 118 Zur Einbindung der Schrift innerhalb der Gebetstheorien der Devotio Moderna und zum Stellenwert der affektiven Selbstreflexion auch in Beziehung zu zeitgenoumlssischer Kunst vgl J Scheel Das altniederlaumlndische Stifterbild Emotionsstrategien des Sehens und der Selbsterkenntnis Berlin 2014 bes S 155ndash171 230ndash241 414ndash42640 De Spir Asc Kap 641 Gerard spricht synonym von Aufstiegsstufen und affectus zB in Kap 27 bdquoIn hac prima ascensione vel primo affecto [hellip]ldquo Oder er benennt Affekte wie Hoffnung und Furcht als Stufen bdquo[hellip] istis duobus gradibus timoris et spei [hellip]ldquo Kap 26 Insgesamt benutzt er die Vokabeln affectus und affectio synonym zwar begegnet in Bedeutung von Strebevermoumlgen meist affectio und ersetzt also die vires durch die affectiones animae besonders wenn es um lasterhafte Affekte geht doch werden die einzelnen Affekte durchgehend als affectus nicht als affectio bezeichnet42 De Spir Asc Kap 643 Das Gebet solle nie bloszliges Lippenbekenntnis sein sondern immer aus der Wurzel des Herzens verfolgt werden und zwar stets aus den Affekten der Furcht Trauer Freude Bewunderung Dankbarkeit etc bdquo[hellip] ex affectu timoris meroris dilectionis admiracionis congratulationis etcldquo De Spir Kap 46 Diese Affektreihe stimmt mit derjenigen bei Hugo in De modo orandi uumlberein siehe oben S 273f44 Diese sind zunaumlchst die bekannten Meditationsinhalte wie man sie allenthalben in theologischer Literatur des Mittelalters findet Leben und Passion Christi das Juumlngste Gericht und die eigene Todesstunde (diese bspw bereits in Bonaventuras De Triplici Via Kap 3) Bei Gerard werden ebenfalls Houmllle und Himmelreich sowie die eigenen Suumlnden und Wohltaten Gottes eingeschlossen sowie das eigene Selbst in dem und waumlhrend des Gebets Zum Kontext der neuen Meditationswuumlrdigkeit des eigenen Selbst in den Lehren der Devotio Moderna vgl Scheel (cf Anm 39)

282 Anselm Rau und Johanna Scheel

uumlberfuumlhrt Dies macht Gerard wie Hugo anhand des Psalmengebets anschaulich indem er einerseits beispielhaft zeigt wie ex affectu ein Psalm gebetet wird waumlhrend er gleichzeitig bei vorheriger Thematisierung der lectio dessen Erregung durch die Lektuumlre betont

bdquoWenn du dich in deiner ersten Uumlberpruumlfung diskutiert hast und entdeckst dass deine Suumlnden zahlreicher sind als die Zahl des Sandes der Meere forme in dir den Affekt der Demut oder Trauer und nimm die Rolle (persona) eines Dieners an der seinen Herrn beleidigt hat Aus diesem Affekt heraus forme ein Gebet und sage sbquoGott sei mir gnaumldig nach deiner Huld tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmenlsquo (Ps 503) Wenn du in der zweiten und dritten Uumlberpruumlfung dich selbst diskutierend bemerkst dass dein Herz mit schlechten Begierden und boumlsen Verlangen gefuumlllt ist forme in dir wiederum den Affekt der Demut und nimm die Rolle eines Kranken an der nach Medizin fragt und sage sbquoHerr sei mir gnaumldig heile mich denn ich habe gegen dich gesuumlndigtlsquo (Ps 405) oder sbquoNichts blieb gesund an meinem Leib weil du mir grollst weil ich gesuumlndigt blieb an meinen Gliedern nichts heillsquo (Ebd) etc Wenn du dich im zweiten Aufstieg in Furcht durch Meditationen des Todes und des Gerichtes oder der Houmllle uumlbst nimm den Affekt der Furcht ein und die Rolle eines Suumlnders vor dem Richter an in Angst und Zittern als seist du schon uumlberfuumlhrt und der Richtspruch gegen dich gesprochen und sage sbquoVerdamme mich nicht Herr gehe nicht ins Gericht mit deinem Dienerlsquo (Ps 1422) oder sbquoHerr in deiner Wutlsquo (Ps 62) etc Wenn du dich aber in Hoffnung uumlbst durch die memoria des Him-melreiches nimm den Affekt der Liebe an und bete mit innigem Herzen und sage sbquoIch erstrebe eines Herr dieses wuumlnsche ich dass ich in dem Haus des Herrn wohnen darflsquo (Ps 264) oder sbquoWie der Hirsch lechzt nach frischem Wasserlsquo (Ps 412) etc Und ebenso kannst du mit anderen Affekten jene aus diesen formen und musst du die Rolle annehmen die deine Uumlbung erfordert und deine Meditation verlangtldquo45

Uumlber Hugo hinausgehend wird hier dem Betenden empfohlen sich konkrete Szenarien und personae zu imaginieren um die gewuumlnschten Affekte einzuuumlben Die Psalmenbeispiele mit den zugeordneten Affekten uumlberschneiden sich bei beiden Autoren bei Psalm 6 (timor) so-wie Psalm 26 (Gerard spes Hugo bona praesumptio)46 Besonders bei der Einuumlbung von timor und der Erwaumlhnung des Richtspruches in Kombination mit den Buszligpsalmen 6 und 142 stehen unmittelbar zeitgenoumlssische Darstellungen des Weltgerichts bzw der Auferstehung der Toten vor Augen wie man sie in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern in Kombination mit eben jenem Buszligpsalm 6 aber auch in der altniederlaumlndischen Malerei findet47 Psalmen koumlnnen zu den

45 bdquoUnde breviter ut modum habeas secundum predicta si te in prima examinacione discusseris et inveneris peccata tua multiplicata super numerum arene maris forma in te affectum humilitatis vel meroris et assume personam servi qui dominum suum offendit Et ex tali affectu forma oracionem dicens Secundum multitudinem miseracionum tuarum dele iniquitatem meam [hellip] Si te in secundo ascensu in timore per meditaciones mortis vel iudicii vel inferni exercueris assume affectum timoris et assume personam rei astantis coram iudice cum timore et tremore quasi iam convictus contra quem de iure proferenda est sentencia et dic Noli me condemnare Non intres in iudicium cum servo tuo Vel Domine ne in furore etc [hellip] Et sic de aliis affectibus quos ex istis formare poteris et assumere debes sicut exercicium tuum exigit et meditacio tua requiritldquo De Spir Asc Kap 4646 Zu den Psalmen die Hugo als Beispiele benutzt siehe oben S 273f47 Vgl dazu J Scheel Sich selbst sehen ndash der Betrachter in und vor dem Bild Spiegel- und Stifterfiguren in Texten und Bildern des 15 Jahrhunderts in E KochH Schlie (Hgg) Orte der Imagination ndash Raumlume des Affekts Die mediale Formierung des Sakralen Muumlnchen 2015

Meditation und Gebet 283

bdquototal memoriertenldquo48 Texten des Mittelalters gezaumlhlt werden weswegen sie sich beiden Autoren als Beispiele anbieten Sie benutzen die Buszligpsalmen (hier die Psalmen 6 31 [Hugo] 50 142) die im Stundenbuch fest als eigenstaumlndiger Gebetstext verankert sind und ebenso in der To-tenvigil ihren Platz haben ndash zusammen mit Gerards weiteren Beispielpsalmen 40 und 4149 Das Stundenbuch ist ein Medium in dem Psalmwort und bildliche Darstellung auf die Theorie des stufenweisen emotionalen Gebets und der Selbsttransformation treffen koumlnnen

Die Miniaturen die der Totenvigil bspw in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern des 15 Jahr-hunderts voranstehen zeigen oftmals eine ganzseitige Totenmesse sowie in der M-Initiale der gegenuumlberliegenden Textzeile50 zwei betende einander zugewandte Seelen im Fegefeuer (vgl

48 Zu diesen Texten gehoumlrten bspw das Pater Noster oder Ave Maria waumlhrend denen gleichzeitig auch uumlber bestimmte Aspekte zB der Passion meditiert werden konnte und sollte vgl P Saenger Books of Hours and the Reading Habits of the Later Middle Ages in R ChartierA Boureau (Hgg) The Culture of Print Power and the Uses of Print in Early Modern Europe Cambridge 1989 S 141ndash173 hier S 154 Bei den Psalmen genuumlgt wie man hier sieht allein die Nennung des Incipit oder bestimmter Verse die dem Leser so vertraut sind dass sie den gesamten Psalmentext mit assoziieren49 Zwar ist der Einsatz von Psalmen in mittelalterlichen Stundenbuumlchern mitunter verschieden doch kann man beispielhaft an einer Gruppe von Stundenbuumlchern in niederlaumlndischer Sprache diese Psalmen finden Diese Stundenbuumlcher sind mit der Uumlbersetzung des Gruumlndungsvaters des Devotio Moderna Geert Grote versehen oder stehen mit ihr in Verbindung N van Wijk Het getijdenboek van Geert Groote Naar het Haagse handschr 133 E 21 Leiden 1940 diese hauptsaumlchlich anhand einer einzigen Handschrift erarbeitete Edition wird hier in Ermangelung einer kritischen Edition genutzt Das getijdenboek enthaumllt einen Kalender des Bistums Utrecht fuumlnf Offizien (Marienoffizium Heiliggeistoffizium das lange und kurze Heiligkreuzoffizium Stunden der ewigen Weisheit) Buszligpsalmen Litanei und Totenvigil 50 Es ist der Beginn des invitatorium bdquoMi hebben ombeuanghen die suchten des dodes die pijnlike seer der hellen heben mi ombeuanghenldquo Wijk (cf Anm 49) S 156 ndash bdquoMich haben umfangen die Seufzer des Todes die qualvollen Schmerzen der Houmllle haben mich umfangenldquo

Abb 2 Meister des Hugo Jansz van Woerden Totenmesse und Seelen im Fegefeuer ca 1475ndash1500 Den Haag Koninklijke Bibliotheek Ms 76 G 13 fol 85vndash86r

284 Anselm Rau und Johanna Scheel

Abb 2)51 Das Fegefeuer bespricht Gerard eher marginal in seinem Traktat Fuumlr die affektive Meditation des eigenen Todes liefert er allerdings einerseits eine Anleitung fuumlr den Betenden die Affekte nun bereits zu erwecken die vor waumlhrend und nach dem eigentlichen Todeszeit-punkt entstuumlnden ndash und sich mit ihnen im Gebet selbst zu formen52 Andererseits raumlt er dem Glaumlubigen sich zum Zwecke des ex affectu-Gebets einen Koumlrper in seinen Verwesungsstadien vor Augen zu halten53 und was mit ihm selbst bei der Beerdigung passiere54 Das Fegefeuer ist ein im Sinne mittelalterlicher Moraltheologie produktiver Gebetsinhalt da der Glaumlubige im steten Oszillieren zwischen spes und timor besonders gut zur caritas aufzusteigen vermag Diesen Tenor findet man ebenfalls bei Geert Grote in seinem getijdenboek bei der Vorrede der Toten-vigil Hier raumlt er dem betenden Leser zum Wechsel aus Psalmen und Antiphonen in Hinblick auf die Erregung von Furcht und Angst Liebe und Hoffnung in der Ausrichtung auf Gut und Boumlse und mit Blick auf das Fegefeuer bdquoHier beginnt die Vigil in duytsche die so organisiert ist denjenigen zu helfen die von hinnen gefahren sind in der Freundschaft Gottes in das Fegefeuer Und ebenso dazu [gedacht ist] den Lebenden zu helfen die sie lesen damit ihnen das Wissen um die kommenden Dinge eingedruumlckt werde auf dass sie glauben hoffen und lieben an die Dinge in Herrlichkeit Und [sie] sich dafuumlr bereit machen und sich waumlhrenddessen die ganze Zeit fuumlrchten dass ihre Tage schnell vergehen Auf dass sie sich fuumlrchten aumlngstigen grauen und beben vor dem mannigfaltigen Leid der Angst und dem Elend die den Boumlsen ereilen werden und sie so darum ihr Leben lang ndash das hier aumluszligerst kurz ist ndash darauf hinarbeiten diesem Leid zu entgehen und [die Vigil ist auch hilfreich] weil ein Mensch diese beiden Dinge ndash Gutes in Liebe und Boumlses in Angst ndash besser ansehen (aensien) kann und erkennen und sich uumlberdenken damit er besser bitten kann und [es] mehr begehrt (begheert) und mehr liebt (myn[n]t) fuumlr diejenigen zu bitten die im Fegefeuer sind fuumlr ihre baldige Erloumlsung und dafuumlr Gottes Ehre zu vermehren [hellip] So hilft das Bitten der Lebenden den Toten und das Bitten fuumlr die Toten hilft den Lebendigen sich auf den Tod vorzubereiten [hellip] Und dazu ist das Singen dieser Psalmen heranzuziehen [und zwar] immer nach den Bedeutungen der Antiphone und den Sinn der

51 Die Darstellung von Seelen im Fegefeuer taucht als Buchillumination ab dem 13 Jahrhundert bereits vereinzelt auf und diente in Kombination mit Jenseitsvisionen Bibeltexten und moralisierenden Inhalten vor allem dem Gedenken an bereits Verstorbene wie auch zur persoumlnlichen Mediation des Lesers Oft findet eine narrative Einbindung statt Vgl dazu M Borowska Das Entfachen des Fegefeuers in der europaumlischen Miniatur des 13 Jahrhunderts in Umeni 57 (2009) S 310ndash325 Zum ikonografischen Kontext der hier gewaumlhlten Illumination vgl die Untersuchung von I M Veldman Purgatory in the Low Lands in B BukovinskaacuteL Slaviacuteček (Hgg) Pictura verba cupit Essays for Lubomiacuter Konečnyacute Prag 2006 S 169ndash180 va 170ndash17252 De Spir Asc Kap 19 In den folgenden Kapiteln stellt Gerard dem Leser dasselbe Prinzip an den Themen des Juumlngsten Gerichts der Houmllle und des Himmelreiches vor 53 bdquoItem interdum propone oculis tuis ymaginem alicuius hominis morientis et diligenter respice formam modum et ordinem quibus ad mortem deveniturldquo De Spir Asc Kap 1954 Weitere beliebte Illustrationen zum Totenoffizium im Stundenbuch des 15 Jahrhundert sind ebenfalls die Darstellung eines Toten um dessen Seele Engel und Teufel kaumlmpfen Schaumldeldarstellungen Seelen in Abrahams Schoszlig Himmel und Houmllle der Tod als Angreifer die Auferweckung des Lazarus sowie die Psychostasis mit Michael als Seelenwaumlger Diese Motive werden eher als ganzseitige Miniaturen dargestellt und bekommen zum Teil in der begleitenden Initiale jene zwei betenden Seelen im Fegefeuer hinzugefuumlgt

Meditation und Gebet 285

Antiphone soll man dazu in den Psalmen bedenken in allen Stundengebeten Dabei ist gut dass man sowohl vor als auch danach die Antiphonen spreche und schreibeldquo55

Mit der sich gegenseitig amplifizierenden Kombination von selbstreflexiven Affekt er-regendem und ausdruumlckendem Psalmentext mit der bildlichen Darstellung von Beerdigung mit Fegefeuer und mit derartigen Aufstiegsmodellen vertraut kann der betende Leser hier den eigenen Tod und die Bestrafung seiner Seele als Konsequenz der eigenen irdischen Suumlndhaftig-keit produktiv in seine Bemuumlhungen des geistigen Aufstiegs und seine Selbsttransformation kanalisieren

Imagination und Illumination

Das Gebetsleben des mittelalterlichen Glaumlubigen ist gekennzeichnet durch seine Affektivitaumlt Die affectus werden mit Gebetstexten und Psalmenreihen sowie mithilfe bildlicher Darstel-lungen sorgfaumlltig kultiviert und systematisch eingeuumlbt Dabei sind dies altbekannte ndash weil biblische ndash Text- und Bildinhalte deren affizierendes Potential auf neue Arten ausgeschoumlpft wird Texte und physische wie gerade geistige Bilder erinnern den Betenden nicht nur unver-bindlich an bereits bekannte Ereignisse Situationen und Figuren sondern lassen ihn sich mit diesen durch affektive und reflexive Meditationspraktiken identifizieren Fremde Worte und Emotionen werden darin zu den eigenen Vorbilder aus dem Kreis der Heiligen werden so zu Imaginationsfiguren das Selbst wird auf Gott ausgerichtet und in all seinen Aspekten gezielt emotional reflektiert So unterschiedlich die formale Herangehensweise dieser Praktiken bei den drei untersuchten Autoren Hugo von St Viktor Bonaventura und Gerard Zerbolt van Zutphen zu sein scheint vermitteln sie doch die selbe zentrale Maszliggabe oratio est affectus ndash bdquoGebet ist Affektldquo

Uumlbersetzung Hugo von St Viktor De meditando PL 176 993ndash99

Die Meditation ist die haumlufige Erwaumlgung (cogitatio) der Ursache (causa) und des inneren Be-weggrundes (ratio) eines einzelnen zu untersuchenden Gegenstandes (res) was seine Art sei (modus) was die Ursache und was der Beweggrund

Es gibt drei Arten (genus) der Meditation eine in Bezug auf die Schoumlpfung (in creaturis) eine hinsichtlich der Schrift (in scripturis) und eine hinsichtlich der Sitten (in moribus) Die erste erwaumlchst aus der Bewunderung (admiratio) die zweite aus der Lektuumlre (lectio) die dritte aus der umsichtigen Beobachtung (circumspectio)

Zuerst bringt die admiratio die Frage (quaestio) hervor die Frage das Erforschen (investi-gatio) und das Erforschen die Entdeckung (inventio) Dies ist damit die Bewunderung der Ord-

55 Fuumlr den altniederlaumlndischen Text vgl Wijk (cf Anm 49) S 155 Zum Antiphon das der Vigil vorangestellt ist vgl Anm 50

286 Anselm Rau und Johanna Scheel

nung (dispositio) die Frage nach der Ursache und die Entdeckung des inneren Beweggrundes Die Bewunderung beruht auf der Betrachtung der Ordnung im Himmel das ist die Gleich-artigkeit von allem und der Houmlhen und der Tiefen (alta et depressa) auf der Erde Die Frage betrifft die Ursache (causa) des irdischen Lebens auf Erden und des himmlischen Lebens im Himmel Das Erforschen fragt nach dem inneren Beweggrund dass so wie die Erde auch das irdische Leben beschaffen ist und dass der Beschaffenheit des Himmels selbst auch das himm-lische Leben gleicht

Bei der Lektuumlre (lectio) aber erfolgt die Betrachtung (considerare) folgendermaszligenAls erstes dient die lectio dazu durch die Bereitstellung des Stoffes (materia) die Wahr-

heit zu erkennen (cognoscere) die meditatio fuumlgt ihn zusammen (coaptare) die oratio hebt ihn empor (sublevare) die operatio (Ausfuumlhrung) wendet ihn an (componere) und die contemplatio frohlockt in ihm selbst (exsultare)

Es ist durch die Meditation der Schriften zu erkennen auf welche Weise es sich gehoumlrt etwas zu wissen Als Beispiel steht geschrieben Declina a malo et fac bonum (Vg Ps 3627 ndash Wende dich ab von dem Boumlsen und tue Gutes EUuml Ps 3727) Deshalb wurde zuvor gesagt die meditatio wendet sich der lectio zu um sich vom Boumlsen abzuwenden und darauf Gutes zu tun Der Grund (causa) hierfuumlr ist wenn sich nicht zuerst das Boumlse zuruumlckzoumlge wuumlrde das Gute nicht herantreten koumlnnen Der innere Beweggrund (ratio) aber ist so wie zuerst die Sproumlsslinge des Boumlsen mit ihrer Wurzel ausgerissen werden muumlssen so muss danach das Gute (ein-)ge-pflanzt werden Warum wurde daher gesagt Wende dich ab von dem Boumlsen Weil es einem auf dem Weg begegnet Man wendet sich deshalb ab weil wir es wo auch immer nicht vermoumlgen durch Staumlrke zu widerstehen wir entkommen ihm lediglich wenn wir uns mit Klugheit und Vernunft (consilio et ratio) von ihm abwenden Auch muumlssen wir uns vom Boumlsen abwenden um dem Naumlhrstoff (materia) zur Suumlnde aus dem Weg zu gehen ndash beispielsweise ist von Hochmut (superbia) Begehrlichkeit (incontinentia) Begierde (concupiscentia) Neid (invidia) und Streit (contentio) abzulassen um sich vom Reichtum (abundantia) der Schoumlnheit (species) des Flei-sches und der Besitzgier (amor possessiones) abzuwenden Dies bedeutet bdquosich abzuwendenldquo Desgleichen wenn auf diese Weise von allem Boumlsen sich abzuwenden angeraten ist so wird die Verrichtung alles Guten verlangt Und so ist also der ebenso schuldig bzw angeklagt der allein nur alles Boumlse meidet wie derjenige der nicht zugleich all das Gute tut Aber wenn dies so ist wer ist dann kein Angeklagter (reus) Folglich wird uns anbefohlen uns von allem Boumlsen loszusagen Andererseits kommt das Gute zum Einen aus dem was sich gehoumlrt (necessitas) und zum anderen aus dem Willen (voluntas) Es gehoumlren sich die Dinge einer Vorschrift (praecep-tum) und die eines Geluumlbdes (votum) alles uumlbrige wird erfuumlllt wenn eine Sache [also Schuld] mehr als nur vergolten wird (supererogare) und einem nichts mehr anlastet

Daher zielt die Meditation bei der lectio darauf ab zu ergruumlnden auf welche Weise et-was das erkannt wird gut ist warum und wie es zu erreichen ist weil es ndash ist es [ersteinmal] erkannt ndash auch zu verrichten ist Die Meditation ist das Entdeckungsvermoumlgen der vorgefassten Absicht (excogitatio consilii) zu erwaumlgen auf welche Weise das Gute das erkannt wurde erfuumlllt wird denn das Erkannte ist unbrauchbar wird es nicht vollbracht

Deshalb ist die Meditation bei der lectio eine dreifache Betrachtung nach der historia der allegoria und der tropologia Gemaumlszlig der historia erfolgt die Meditation wenn wir nach dem

Meditation und Gebet 287

vollendeten inneren Beweggrund der Dinge fragen die geschehen sind und diesen hinsichtlich seiner uumlbereinstimmenden Art und Weise (modus) bezuumlglich der Zeiten (tempora) und Orte (loci) bestaunen (admirare) Bei dieser Betrachtung der goumlttlichen Ratschluumlsse (iudicium) laumlsst man nicht davon ab daruumlber nachzudenken dass diese richtigen und gerechten (rectus et iustus) Entscheidungen zu keiner Zeit den Beistand [Gottes fuumlr die Menschen] entzogen (deesse) und durch sie das geschah was sich gehoumlrte und vergolten wurde was gerecht war (iustum fuit)

Die Meditation hinsichtlich der allegoria beschaumlftigt sich mit der Gliederung (dispositio) der vorangegangenen und zukuumlnftigen Dinge und so wie fuumlr den Verstand (intelligentia) an-gemessen richtet sie dabei ihre Aufmerksamkeit auf deren uumlbereinstimmende Bedeutung in ihrer bewundernswerten Vernunftmaumlszligigkeit (ratio) und Vorhersehung (providentia) und auf ihre fuumlr den Glauben (fides) geschaffene Gestalt (forma)

Bezuumlglich der tropologia beschaumlftigt sich die Meditation damit welche Frucht die Worte der lectio hervorbringen und erforscht (exquirere) was diese wenn sie ausgefuumlhrt werden [im Sinne des eigentlichen Aussprechens der Worte aber auch die Ausfuumlhrung ihres Inhaltes] ein-pflanzen (insinuere) und dabei zugleich lehren was zu vermeiden ist Sie stellt vor Augen was durch die lectio der Schrift zur Unterweisung (eruditio) zur Ermahnung (exhortatio) zur Troumls-tung (consolatio) und zum Schrecken (terror) dient Hierdurch erleuchtet die tropologia dahin-gehend was zum Verstehen der Tugenden (virtus) fuumlhrt sie naumlhrt (nutrire) den Affekt (affectio) und lehrt (edocere) die Lebensfuumlhrung auf dem Pfad der Tugenden

Die Meditation der Sitten (mos) erfolgt gemaumlszlig der Affekte (affectus) der Erwaumlgungen (cogi-tationes) und der Werke (opera)

Hinsichtlich der Affekte ist zu betrachten wie sie recht und aufrichtig (rectus et sincerus) zu sein vermoumlgen damit ist gemeint auf das und zu was hin sie geschuldet sein muumlssen und in welcher Weise sie zu sein haben Zu differenzieren ist naumlmlich dass das was sich nicht gehoumlrt (non oportet) boumlse ist und zugleich das was sich gehoumlrt zu lieben ist ndash das zu lieben das sich gleichwie nicht gehoumlrt ist boumlse Daher handelt es sich um einen guten Affekt wenn er auf das ausgerichtet ist auf das er verpflichtet ist und in der Weise wie es sich gehoumlrt

Amnon liebte (diligere) seine Schwester und dies war der Affekt zu dem er bestimmt war doch weil er Boumlses begehrte war es nicht der Affekt wie er ihn schuldete (vgl 2 Sam 13) So kann der Affekt auf das gerichtet sein zu was er gehoumlrt dies aber nicht in der [angemessenen] Art und Weise Niemals aber kann der Affekt so sein wie er zu sein hat wenn er nicht auf das ihm Zugehoumlrige ausgerichtet ist Auf das ausgerichtet zu was er gehoumlrt bedeutet dass er recht ist und in der Art und Weise wie es sich gehoumlrt und dementsprechend ist er rein Daher werden die Affekte in den Erwaumlgungen betrachtet damit sie rein (mundus) und geordnet (ordi-natus) sind Rein sind sie wenn weder etwas Boumlses von den Affekten hervorgebracht wird noch das Boumlse die Affekte hervorbringt Dass sie geordnet sind meint wenn sie vernuumlnftigerweise aufgrund des ihnen eigenen Anlasses (suo tempore) aufkommen (advenire) Es ist nicht ohne Schaden (vitium) [naumlmlich im Sinne des korrekten Vorgehens nicht ohne Formfehler] bereits das Gute zu einem diesem nicht angemessenen Zeitpunkt zu erwaumlgen wie etwa an die lectio waumlhrend der oratio zu denken oder auch an die oratio waumlhrend der lectio

Bei den Werken ist als erstes zu betrachten was zum Beispiel durch die gute Absicht (bona intentio) geschieht Um eine gute Absicht handelt es sich wenn sie einfach und aufrichtig ist

288 Anselm Rau und Johanna Scheel

(simplex et recta) Die bona intentio ist arglos ohne Hinterlist (malitia) und aufrichtig ohne Ignoranz (ignorantia) Die naumlmlich ohne Hinterlist ist besitzt den Eifer (zelus) Ist sie aber aus der [bewussten] Unkenntnis gegenuumlber dem Wissen (scientia) (Roumlm 102) geboren verfuumlgt sie nicht uumlber den [wahren] Eifer Daher ist es notwendig dass die Absicht aufrichtig ist in der Bescheidenheit (discretio) und arglos im Wohlwollen (benignitas) Bei den Werken ist zu be-trachten dass sie aus der aufkommenden guten Absicht heraus mit beharrlicher Leidenschaft (fervor) schlieszliglich ans Ziel gefuumlhrt werden damit nicht die Beharrlichkeit (perseverantia) ge-laumlhmt (torpere) und die Liebe (amor) nicht lau wird (tepescare)

Auf gleiche Weise erfolgt die meditatio der Sitten in einer zweifachen Betrachtung naumlmlich einer inneren und einer aumluszligeren Die aumluszligere blickt auf das Ansehen (fama) die innere auf das Gewissen (conscientia) Die aumluszligere Betrachtung erfolgt gemaumlszlig dem was ziert (decere) und was nuumltzt (expedire) was als Beispiel (exemplum) dient und was den Lohn (meritum) hervorbringt ndash uns zum Lohn und den Naumlchsten als Beispiel Die innere Betrachtung dagegen schaut auf das Gewissen damit es rein (mundus) sei ohne Anklage (accusatio) zu erleiden (pati) ob nun durch die Laumlhmung (torpor) des Guten oder die Hartnaumlckigkeit (praesumptio) des Boumlsen Rein ist aber jenes Gewissen das weder durch das Vergangene zu recht angeklagt (accusare) noch durch das Gegenwaumlrtige unrechtmaumlszligig erfreut (delectare) wird

Daher laumlsst die meditatio der Sitten ihre Betrachtung nicht ruhen damit sie jegliche Re-gungen (motus) die sich im Herzen erheben bemerkt und erwaumlgt woher sie kommen und worauf sie abzielen (tendere) Das heiszligt woher sie kommen gemaumlszlig ihrem Ursprung und wo-nach sie streben hinsichtlich ihres Ziels Alles ist naumlmlich eine Bewegung aus irgendetwas und auf irgendetwas Die Bewegungen des Herzens sind manchmal offenkundigen Ursprungs manchmal entspringen sie aber auch Verborgenem Bei denen der Ursprung offenkundig ist ist er bisweilen durch das Gute bisweilen aufgrund des Boumlsen erwiesen Was offenkundig gut ist kommt von Gott was aber deutlich boumlse erscheint entspringt entweder dem Teufel oder dem Fleisch Dies sind naumlmlich die drei Urheber (auctores) aller Vorstellungen (suggestio) und aller Eingebungen (aspiratio) die unsichtbar an das Herz herantreten und aus jenen drei hervor-gehen Entspringen die Bewegungen des Herzens daher dem Verborgenen koumlnnen sie manch-mal aus dem Guten und dem Geheimen hervorgehen und sind manchmal boumlse und zweifelhaft (dubius) Die dem Guten entspringen kommen von Gott die aber dem Boumlsen entstammen sind entweder des Teufels oder des Fleisches

Die Bewegungen die folglich offenkundig sind sei es im Guten oder Boumlsen werden auf den ersten Blick durch ihren Ursprung angezeigt Jene aber die zweifelhaft bleiben hinsichtlich ih-res Grundes sind am Ende zu uumlberpruumlfen (probare) Ihr Ergebnis [oder Ausgang] (exitus) zeigt naumlmlich deutlich was vom Ursprung her verborgen war und deswegen muss derjenige der es nicht vermochte den Ausgangspunkt seiner Herzensbewegungen zu beurteilen (iudicare) das Ziel und die Ausfuumlhrung [bzw Vollendung] (finis et consummatio) untersuchen (investigare) Die Bewegungen naumlmlich die zweifelhaft und ungewiss sind sind vom verborgenen Guten oder Boumlsen Wie gesagt wurde haben die schlechten Regungen ihren Ursprung entweder beim Teufel oder im Fleisch Diese aber sind beide boumlse sie unterscheiden sich nicht indem oder durch was sie boumlse sind doch unterscheiden sie sich dahingehend dass die Regungen des Her-zens die dem Fleisch entspringen haumlufig aus einer Notwendigkeit (necessitas) heranwachsen

Meditation und Gebet 289

die aber die tatsaumlchlich vom Teufel kommen nehmen noch oumlfter wider der Vernunft (ratio) ihren Anfang (oriri) Was naumlmlich vom Teufel eingegeben wird (suggerere) ist in der Tat dem Menschen fremd und wird deswegen haumlufig von der menschlichen Vernunft abgelehnt weil er beispielsweise unlaumlngst gesaumlttigt Hunger leidet (pati) kurz zuvor noch trunken (inebriatus) vor Durst (sitis) gluumlht (aestuare) oder wenn er nach einem ausgiebigen Schlaf (dormitio) sich erhebend vom Traum (somnus) bedruumlckt (praegravare) wird

Hieraus also werden die Werke des Teufels differenziert betrachtet weil sie ja an den Men-schen von auszligen herangetragen werden und der menschlichen Vernunft fremd sind Bei den Werken des Fleisches und ihren Eingebungen liegt der Grund des Oumlfteren in einer vorangegan-genen Notwendigkeit Aber weil sie Ziel und Maszlig (modus et mensura) uumlbersteigen wachsen sie zum Uumlberfluss (superfluitas) heran Dies ist als Beispiel eben gerade dann der Fall wenn nach der Einnahme einer Mahlzeit der Hunger hemmungslos (immoderatus) begehrt (appetere) und nach Enthaltsamkeit (abstinentia) das Maszlig (mensura) bei der Aufnahme von Speise (edulium) nicht gehalten wird

Daher wird die meditatio der Sitten aufgrund eines dreifachen Urteils betrieben Das erste urteilt zwischen Tag und Nacht das zweite zwischen Tag und Tag und das dritte schlieszliglich untersucht den gesamten Tag (vgl Roumlm 145) Zwischen Nacht und Tag zu urteilen meint das Boumlse vom Guten zu (unter-)scheiden Die Beurteilung zwischen Tag und Tag bedeutet eine Un-terscheidung zwischen etwas Gutem und etwas Besserem vorzunehmen Uumlber den gesamten Tag zu richten ist schlieszliglich das einzelne Gute fuumlr den eigenen Lohn zu ermessen (aestimare)

So hat die meditatio der Sitten bei jeglichem Umgang (conversatio) das Ziel und die Rich-tung (directio) im Blick Das Ziel ist wohin man strebt die Richtung wodurch man leichter ans Ziel gelangt Jeder naumlmlich der zu irgend etwas strebt so wie etwas seine Bahn (cursus) lenkt und unaufhoumlrlich weiterzieht kommt schneller ans Ziel Es gibt daher Gutes durch das man stark bewegt ist (moveri) zugleich gibt es aber wenig her durch das man vorankommt (pro-moveri) Anderes dagegen fuumlhrt mit etwas Muumlhe (labor) zu groszligem Gewinn (fructus) Und diese sind folglich zu unterscheiden und das Bessere das mehr nuumltzt auszuwaumlhlen Welches auch immer mehr nuumltzt ist besser und es gehoumlrt sich jedes Werk auf seinen Ertrag hin zu beurteilen Indem viele diese Unterscheidung (discretio) nicht einhielten haben sie sich zwar aufs aumluszligerste bemuumlht sind jedoch nur wenig vorangekommen weil sie das Auge aumluszligerlich so sehr auf die Gestalt (species) der Werke richteten und nicht innerlich auf den Gewinn durch die Tugenden blickten Sie ergoumltzen sich daran groszlige Taten zu verrichten anstatt dass sie das Nuumltz-liche (utilia) uumlben (exercere) um sich selbst zu bessern (emendari) Dabei schaumltzten (diligere) sie vielmehr das durch das sie den Anschein erwecken (videri) konnten [so zu sein]

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zunaumlchst das was man schuldet entweder auf-grund einer Vorschrift (praeceptum) oder eines Geluumlbdes (votum) Diesbezuumlglich ist die erste Tat der meditatio zu ermitteln ist sie oder es erfuumlllt fuumlhrt es zum Lohn und wenn nicht bringt dies den Anklagezustand (reatus) hervor Es sind also zuerst die Dinge zu tun die nicht ohne Schuld (culpa) weggelassen werden koumlnnen Danach ist die meditatio alsdann so zu verrichten dass wenn etwas durch freiwillige Uumlbung (exercitatio) noch hinzugefuumlgt wird die Pflicht-erfuumlllung [eigtl Schuld] (debitum) nicht verhindert wird (impedire) Die einen die das nicht zu leisten vermoumlgen was sie schulden wollen was sie nicht muumlssen Die anderen wenn sie im-

290 Anselm Rau und Johanna Scheel

stande sind zu tun was sie schulden bringen freiwillig Hindernisse (impedimentum) mit sich indem sie etwas wollen was sie nicht muumlssen

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zwei Dinge des Boumlsen vor denen man bei der Ver-richtung von Gutem besonders auf der Hut sein muss die Betruumlbnis [Niedergeschlagenheit] (afflictio) und die Besessenheit [Vereinnahmung] (occupatio) Die afflictio fuumlhrt zur Bitterkeit (amaritudo) die occupatio zur Zerstreuung (dissipatio) Mit der afflictio verbittert die Suumlszlige (dulcedo) des Geistes und mit der occupatio wird die Ruhe (tranquillitas) zerstoumlrt (dissipare) Es herrscht Betruumlbnis wenn man fuumlr jene Dinge die man nicht vermag aufgrund der eigenen Ungeduld (impatientia) ungluumlcklich wird (urere) Dagegen handelt es sich um Besessenheit (occupatio) wenn man in seinem Handeln (nach seinem Vermoumlgen) aufgrund der impatientia gequaumllt wird (agitare) Folglich darf die Seele (animus) nicht aufgrund des Boumlsen verbittert wer-den sie muss ihr Unvermoumlgen (impossibilitas) geduldig (patienter) aushalten Genauso darf sie aber auch nicht vom Boumlsen eingenommen werden und darf ihr Vermoumlgen (possibilitas) nicht uumlber ihr eigenes Maszlig hinaus ausdehnen (extendere) Daher muss die meditatio der Sitten in einer weiteren Betrachtung der Lebensfuumlhrung zu einem Urteil kommen und dabei billigen dass es weder gut ist die Dinge die man nicht vermag ungeduldig (impatienter) zu verlangen (appetere) noch die welche man erreicht toumlricht (insipienter) zu verschmaumlhen (fastidire) Wer naumlmlich immer das begehrt was er nicht vermag und das was er [jedoch] vermag verabscheut wird sich weder am Gegenwaumlrtigen erfreuen (frui) noch am Zukuumlnftigen saumlttigen (satiare) Er verlaumlsst naumlmlich das Gute unentwickelt vor der Vollendung und eignet sich das gerade erst Be-gonnene vorzeitig an Deswegen ist es gut aufgrund des eigenen Guten zufrieden zu sein und das gegenwaumlrtige Gute durch hinzukommendes Gutes zu vermehren und es nicht aufgrund des Zukuumlnftigen wegzuwerfen (abicere) Der Austausch (commutatio) des Guten ist naumlmlich ein Leichtes (levitas) seine Uumlbung (exercitatio) aber die Tugend Oft eilen sie auf unterschiedlichen Wegen die einen die ein fruumlheres durch ein neues Gutes fallen lassen (abicere) und die ande-ren die [sich] vom Untersten zum Houmlchsten emporschwingen (conscendere) Wer naumlmlich nach Veraumlnderung (mutatio) fragt ist uumlberdruumlssig (fastidiosus) so wie der der nach dem Voran-schreiten (profectus) strebt eifrig bemuumlht ist (studiosus) Am aufrechtesten beschreitet daher derjenige den Weg der dabei so auf das Bessere brennt (fervere) dass er des Guten nicht uumlber-druumlssig wird sondern es vorerst empor haumllt solange bis er es spaumlter zu der ihm angemessenen Zeit sich aneignet (apprehendere)

Abbildungsnachweis

Einband Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders

Farbtafeln 1 (zu Beitrag Rosenwein) Coll BNU de Strasbourg ndash 2 (zu Beitrag Ferguson) Ar-chiv der Verf ndash 3 (zu Beitrag Herding) Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preu-szligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders ndash 4 (zu Beitrag Droste) R Kahsnitz Die Groszligen Schnitzaltaumlre Spaumltgotik in Suumlddeutschland Oumlsterreich Suumldtirol Muumlnchen 2005 Taf 53 ndash 5 6 (zu Beitrag Schedl) 75 Jahre 1933ndash2008 Kirche Mutter vom Guten Rat Festschrift und Chro-nik FrankfurtM 2008 S 92 Dr Bernd Konrad Radolfzell ndash 7 8 9 (zu Beitrag Zaumlh) Archiv des Autors ndash 10 (zu Beitrag Niehr) Universitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Media-thek 11 12 (zu Beitrag Muumlller) Autorin ndash 13 14 15 (zu Beitrag Schlie) Su concessione del Ministero dei beni e delle attivitagrave culturali e del turismo ndash Galleria Nazionale delle Marche ndash Urbino Archivio fotografico Archiv der Verf F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 ndash 16 17 (zu Beitrag Stoichita) D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 ndash 18 19 20 (zu Beitrag Schmidt) London British Museum C Geissmar-BrandiE Louis (Hgg) Glaube Hoffnung Liebe Tod Wien 1995 S 149 Archiv Autor ndash 21 (zu Beitrag Jung) Autorin

Textabbildungen Droste 1 3 4 Autorin 2 E Oellermann Der Hochaltar in St Martin zu Lorch am Rhein in H KrohmE Oellermann (Hrsg) Fluumlgelaltaumlre des spaumlten Mittelalters Ber-lin 1992 Abb 2 ndash Ferguson 1ndash3 Archiv der Verf ndash Frese 1 2 3 5 M BrandtA Eggebrecht (Hgg) Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen Katalog der Ausstellung Hil-desheim 1993 Bd 1 S 386f Abb 197 u 198 Bd 2 S 583 KatNr VIIIndash32 S 604 KatNr IXndash8 4 G LutzA Weyer (Hgg) 1000 Jahre St Michael in Hildesheim Kirche ndash Kloster ndash Stifter Peterberg 2012 S 148 Abb 118 ndash Gruumlndler 1ndash4 L DomenicoA Nova (Hg) Leonardo da Vincirsquos Anatomical World Language Context and Disegno Akten der Internationalen Tagung Florenz 30ndash31 Mai 2008 Venedig 2011 S 237 S 236 S 241 S 186 5 6 Le journal de Jacopo da Pontormo traduit par Jean-Claude Lebensztejn avec la collaboration drsquoAlessandro Parronchi Paris 1992 S 46 S 50 ndash Herding 1 2 3 4 5 6 7 Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders 8 Max J Friedlaumlnder Early Netherlandish Painting 14 vols Leiden und Bruumlssel 1967ndash1974 vol II 1967 pl 10 Nr 3i 9 Wolfenbuumlttel Herzog-August-Bibliothek ndash Jung 1 2 3 4 5 Autorin ndash Kessler 1 6 7 Autor 2 3 Museo delle Terme Rom 4 British Museum London 5 Alexei Lidov ndash Maxwell 1 2 AHN 3 Autor 4 Sancho el Mayor y sus herederos ed I Bango Torviso et al 2006 cat 25 5 BNE ndash Muumlller 1 Italian painting c 1330ndash1550 I National Gallery in Prague II Collections in the Czech Repub-lic Illustrated summary catalogue Prag 2008 2 Collection of The John and Mable Ringling Museum of Art the State Art Museum of Florida Florida State University 3 2014 copy Archivio Fotografico ndash Fondazione Musei Civici di Venezia ndash Niehr 1 A Schuttwolf (Hg) Ausst-Kat Jahreszeiten der Gefuumlhle Das Gothaer Liebespaar und die Minne im Spaumltmittelalter Ostfil-

400 Abbildungsnachweis

dern-Ruit 1998 2 D de Vos Hans Memling Das Gesamtwerk AntwerpenStuttgart 1994 S 278ndash283 TH Borchert Hans Memling Portraits Stuttgart 2005 S 173f Nr 23 3 Univer-sitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Mediathek ndash Pfisterer 1 E Steinmann ldquoLa mano di Michelangeloldquo in Studien aus Kunst und Geschichte Friedrich Schneider zum siebzigsten Geburtstag Freiburg iBr 1906 unnum Taf 2 R Bernini ua La mano e il volto di Antonio Canova PossagnoQuinto di Treviso 2008 S 197 3 U Klein Zur Forschungsgeschichte des Duumlrer-Hauses in GU GroszligmannF Sonnenberger (Hgg) Das Duumlrer-Haus Neue Ergebnisse der Forschung Nuumlrnberg 2007 S 105 nach Carl A Heideloff Die Ornamentik des Mittelalters Bd 3 Nuumlrnberg 1847 S 42 4 WH Vroon Het wonderlid van Jan de Witt en andere vaderland-se relieken Nijmegen 1997 S 68 5 Autor nach GF Tomasini Petrarca Redivivus Padua sup21650 S 128 6 A Picturesque Tour Through Holland Brabant and Part of France made in the autum of 1789 by Samuel Ireland London sup21796 Bd 2 Taf nach S 13 ndash Pinkus 1 2 3 4 5 6 Autor 7 8 Institut fuumlr Kunstgeschichte Universitaumlt Wien Fotothek ndash RauScheel 1 M Gregori Uf-fizien und Palazzo Pitti Muumlnchen 1994 S 31 2 Den Haag Koninklijke Bibliotheek ndash Raeck 1 2 5 7 Fotothek des Instituts fuumlr Archaumlologische Wissenschaften AbtI Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main 3 Zeichnerische Rekonstruktion M Junghans nach H-V Herrmann Olympia ndash Heiligtum und Wettkampfstaumltte Muumlnchen 1972 Abb 95 4 Antikensammlung Staatliche Museen zu Berlin Foto Johannes Laurentius 6 W Riezler Weissgrundige attische Lekythen Muumlnchen 1914 Taf 23 8 Deutsches Archaumlologisches Institut Athen Fotothek ndash Reudenbach 1 F MuumltherichJE Gaehde Karolingische Buchmalerei Muumlnchen 1979 Taf 4 2ndash4 httpwwwbibliotheca-laureshamensis-digitalde (Zugriff 20022014) ndash Schmengler 1 2 3 Torsten Saumlnger Frankfurt 4 5 6 Eric Tschernow Berlin ndash Schedl 1ndash3 Dr Bernd Konrad Radolfzell 4 FrankfurtMain-Niederrad Pfarrarchiv der katholischen Kirchengemeinde Mut-ter zum Guten Rat ndash Schlie 1 Archiv der Verf 2 Archiv der Verf + D E Katz The Contours of Tolerance Jews and the Corpus Domini Altarpiece in Urbino in Art Bulletin 85 (2003) S 647ndash661 S 647 3 F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 Schmidt 1 2 London British Museum 3 M Geisberg Der Meister ES Leipzig 21924 4 Archiv Autor ndash Taxer 1 2 O Paumlcht Altniederlaumlndische Malerei Von Rogier van der Weyden bis Gerard David Muumlnchen 1994 Abb 91 S 118 Abb 93 S 120 3 4 E Panofsky Die altniederlaumlndische Malerei Ihr Ursprung und Wesen Bd 2 Koumlln 2006 Abb 387 S 236 Abb 358 S 214 ndash Stoichita 1 D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 2 3 J Bialostocki Les Museacutees de Pologne Bruxelles 1966 ndash Zaumlh 1 2 Archiv des Verf 3 Metropolitan Museum of Art Bulletin 58 (2001) S 17 4 G ForsythK Weitzmann The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai The Church and Fortress of Justinian Plates Ann Arbor (Mi) 1973 Plate 121

Neue Frankfurter Forschungen zur Kunst

Herausgegeben vom Kunstgeschichtlichen Institutder Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main

Band 16

Rebecca Muumlller Anselm Rau Johanna Scheel (Hrsg)

Theologisches Wissen und die Kunst

Festschrift fuumlr Martin Buumlchsel

Gebr Mann Verlag Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie detaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlber httpdnbd-nbde abrufbar

copy 2015 by Gebr Mann Verlag Berlin wwwgebrmannverlagde

Alle Rechte insbesondere das Recht der Vervielfaumlltigung und Verbreitung sowie der Uumlbersetzung vorbehalten Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form durch Fotokopie Mikrofilm CD-ROM usw ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet vervielfaumlltigt oder verbreitet werden Bezuumlglich Fotokopien verweisen wir ausdruumlcklich auf sectsect 53 54 UrhG

Gedruckt auf saumlurefreiem Papier das die US-ANSI-NORM uumlber Haltbarkeit erfuumlllt

Umschlaggestaltung unter Verwendung von Farbtafel 3 Jacob Claesz van Utrecht Kreuzabnahme Triptychon Mitteltafel 1513 Berlin Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P AndersLayoutkonzeption MampS Hawemann Berlin Satz Gebr Mann Verlag Berlin Druck und Verarbeitung druckhaus koumlthen GmbH KoumlthenSchriftart Minion Papier 135g BVSPrinted in Germany ISBN 978-3-7861-2753-6

Gedruckt mit Unterstuumltzung von

Dr Marschner Stiftung

Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung fuumlr Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

Wilhelm-Hahn-und-Erben-Stiftung

Richard Stury Stiftung

Meditation und Gebet ndash Affektsteuerung und Imagination durch Wort und Bild in der mittelalterlichen Devotionspraxis

Anselm Rau und Johanna Scheel

Einleitung

Kernelement der mittelalterlichen Praktiken in Meditation und Gebet ist die habituelle und emotionale Ausrichtung auf Gott in der Nachfolge Christi Gerade die Kunstgeschichte ist da-rum bemuumlht Devotionspraktiken zu untersuchen und ihre Bedeutung fuumlr die Kunst des Mit-telalters erfahrbar greifbar und damit lesbar zu machen Dabei geht es nicht darum einzelnen Bildwerken bestimmte Gebetstheorien als motivgebendes Programm zu hinterlegen sondern Bildwerke als Hilfsmittel im Gebet in den durch diese Theorien ausformulierten Kontext zu stellen und ihre Funktion fuumlr den betenden Bildbetrachter zu diskutieren Als Grundlage hier-zu bedarf es der zeitgenoumlssischen theoretischen und theologisch-philosophischen Begruumlndung von Meditation und Gebet Die Werke Hugos von St Viktor vor allem das eher traditionelle Traktat De meditatione und die innovative Schrift De modo orandi bieten sich aufgrund ihrer Rezeption und weiten Verbreitung als auch wegen ihrer intellektuellen Qualitaumlt bei gleichzeiti-ger Anschaulichkeit zur Beschreibung und Analyse des Wesens der Struktur und des Vollzugs der Meditation und des stufenweisen emotionalen Gebets im Mittelalter an Durch die von Hugo als Anwendungsbeispiele gewaumlhlten Psalmentexte lassen sich daruumlber hinaus schlaglicht-artig diachron Vergleichsbeispiele eroumlffnen und zwar mit dem im 13 Jahrhundert entstande-nen Lignum Vitae Bonaventuras und mit De spiritualibus ascensionibus des Gerard Zerbolt von

268 Anselm Rau und Johanna Scheel

Zutphen aus dem 15 Jahrhundert Hieran kann ebenfalls die Ruumlckbindung des Stufengebets an Bildbeispielen erprobt werden

De meditando

In De meditando1 behandelt Hugo die Meditation deren spirituelle Abfolge er in lectio medita-tio oratio operatio und contemplatio strukturiert2 Die uumlbliche monastische Stufenabfolge im Gebet zeigt als festes Geruumlst den Dreischritt aus lectio meditatio oratio der ab dem 12 Jahr-hundert nicht nur bei Hugo sondern beispielsweise auch bei Guigo dem Kartaumluser in seiner Scala claustralium um die contemplatio erweitert wird3 Weitere oder andere Hinzufuumlgungen zu dem Tenar wie hier die operatio oder die Ausgestaltung der Unterteilungen der Stufen koumlnnen von Autor zu Autor variieren Letztendlich ist die Verbindung von Bibellektuumlre und Meditation durch Hugo nicht innovativ sondern allgemeine monastische Praxis Gemaumlszlig der philosophischen Logik erfolgt dabei die Eroumlrterung der Dinge und Sachverhalte nach Hugo uumlber die Erwaumlgung ihrer Ursachen und ihrer inneren Beweggruumlnde sowie hinsichtlich der ka-tegorialen Unterscheidung des Schriftsinnes nach historia allegoria und tropologia

Die Evidenz der Affekte4 bei Meditation und Gebet findet allerdings ungewoumlhnlich starke Betonung in De meditando Anhand des inhaltlichen Leitgedankens des gesamten Traktats aus Psalm 3627 (Vg) Declina a malo et fac bonum verifiziert Hugo bei der Erlaumluterung der gerade

1 Hugo von St Viktor De meditando PL 176 993ndash998 Eine Uumlbersetzung auf Grundlage der Ausgabe von Migne findet sich am Ende des Beitrages vorgenommen wurde ein Abgleich des Texte mit der nicht kritischen Edition und der franzoumlsischen Uumlbersetzung bei Baron ndash vgl R Baron Six opuscules spirituelles La Meacuteditation La Parole de Dieu La reacutealiteacute de lrsquoAmour Ce qursquoil faut aimer vraiment Les cinq Septeacutenaires Les sept Don de lrsquoEsprit-Saint Einfuumlhrung Textkritik Uumlbersetzung und Anmerkungen von R Baron Paris 1969 S 44ndash59 Weitere Titel des Textes De generibus meditationum et quae sit utilitas eorum und De meditatione siehe ebd S 9 Es sind insgesamt 103 Abschriften erhalten ndash 20 aus dem 12 Jh 29 aus dem 13 Jh 17 aus dem 14 Jh und 34 aus dem 15 Jh Vgl R Goy Die Uumlberlieferung der Werke Hugos von St Viktor Ein Beitrag zur Kommunikationsgeschichte des Mittelalters Stuttgart 1976 S 196ndash211 hier S 211 Im Gegensatz zu De modo orandi wurde De meditando nicht in Volkssprache uumlbertragen vgl ebd S 501ndash504 Die Aufmerksamkeit der Forschung fuumlr dieses kurze Traktat ist relativ gering einige seiner Besonderheiten bei Baron op cit S 11ndash172 Diese StufungAbfolge bietet er auch im Didascalicon Hugo von St Viktor Didascalicon de studio legendi Studienbuch uumlbers u eingel v Th Offergeld Freiburg [ua] 1997 59 S 348349 bdquoVier Dinge sind es durch die nun das Leben der Gerechten zur Ausuumlbung gelangt und sich gleichsam auf vier Stufen zur zukuumlnftigen Vollkommenheit erhebt naumlmlich das Studium oder die Belehrung die Meditation das Gebet und das Handeln Darauf folgt noch eine fuumlnfte Stufe die Kontemplation []ldquo Aumlhnlich auch in De archa noe moralia Eine teils woumlrtliche Meditationslehre wiederholt Hugo in In salomonis Ecclesiasten homilia 191 An anderer Stelle wird der Dreischritt mitunter in meditatio speculatio contemplatio umgewandelt Vgl K Ruh Geschichte der abendlaumlndischen Mystik Bd 1 Die Grundlegung durch die Kirchenvaumlter und die Moumlnchstheologie des 12 Jahrhunderts Muumlnchen 1990 S 367f 3 Guigo der Kartaumluser Scala claustralium Die Leiter der Moumlnche zu Gott 2 verb Aufl hg v D Tibi OSB Nordhausen 2009 Eine direkte Abhaumlngigkeit Guigos von Hugo muss dies allerdings nicht bedeuten vgl Ruh (cf Anm 2) S 2224 Auch in De comtemplatione nehmen die Affekte einen besonderen Raum ein ndash affectus wird nicht definiert aber als Streben nach Demut Liebe und ad contemplationis puritatem beschrieben (so Ruh (cf Anm 2) S 374 dort noch Weiteres zu den Unterstufen der einzelnen Stufen)

Meditation und Gebet 269

vom tropologischen Aspekt geleiteten Meditation der Sitten den Charakter und den Nutzen der Affekte Die tugendhafte Lebensfuumlhrung im Denken und Handeln konstituiert sich aus der Erkenntnis der nach der Vernunft geordneten und auf das Ziel Christus ausgerichteten rechtmaumlszligigen und reinen affectus Der Affekt als motus cordis ist in augustinischer Tradition untrennbar mit dem Willen (voluntas) als Vermoumlgen der Seele verknuumlpft Dadurch ist alles ge-ordnet nach der Vernunft ein Akt des Willens in strebendem Verlangen (cupiditas) oder in Furcht (timor) begruumlndeter Ablehnung und dessen Vollzug in Freude (laetitia) oder Trauer (tristitia)5 Aufgrund der tiefen postlapsalen Ambivalenz der Bewegungen des Herzens in dem was es liebt unbeherrscht nach der cupiditas und geordnet nach der caritas bedarf es zudem der umsichtigen circumspectio (Betrachtung) ob die affectus im Guten oder Boumlsen begruumlndet sind6 Konkret bedarf es der eindringlichen Betrachtung in der meditatio die den Ursprung der Affekte untersucht sowie den Antrieb (appetitus) des Willens7 Zu ergruumlnden ist also im Idealfall die bona intentio dh der rechtschaffene Anlass der affectus und der fuumlr sie unabding-bare auf das rechtmaumlszligige Ziel in unablaumlssiger Beharrlichkeit ausgerichtete Eifer (zelus) Bei der meditatio handelt es sich gewissermaszligen um die Begutachtung der Zielrichtung (directio) der affectus das heiszligt ausgehend von ihrem Ursprung uumlber den eigentlichen Vollzug bis schlieszliglich in ihrer Vollendung ein Abgleich mit dem angestrebten Objekt moumlglich ist Hierdurch bildet die Meditation und mit ihr auf dieser aufbauend die contemplatio den eigentlichen Denkprozess und zugleich seine Ergebnisse Affectus besitzt somit einen kognitiven Inhalt bzw die Kognition ist affektiv bestimmt der Affekt ist letztlich Ausgangspunkt Mittel und Ziel des Denkens da erst uumlber ihn die Angleichung an Gott in Christus moumlglich ist Letztlich kann Gott nur uumlber die Liebe erkannt werden

In De meditando ist es Hugo ein Anliegen anhand der fortwaumlhrenden Gegenuumlberstellung der Betrachtung bzw Ergruumlndung des Guten und des Boumlsen die Notwendigkeit der richtigen Reihenfolge der Gebetsschritte zu betonen sowohl was das strebende Verlangen nach dem Gu-ten betrifft als auch seine praktische Ausfuumlhrung Dies beweist der Anfangspunkt der inneren Gewissenspruumlfung als Prozess von Reue und Buszlige in der Abwendung von den Lastern und der damit verbundenen emotionalen Dispositionen Denn nicht die rein aumluszligerliche und theo-retische Betrachtung der guten Werke und das durch sie erworbene Ansehen sind nuumltzlich sondern die Betrachtung des inneren Gewinns durch die Tugenden Gutes zu unterlassen bleibt nicht ohne Schuld und ist als Fehler oder Schaden was die Struktur der meditatio betrifft so-wohl hinsichtlich des schematisierten Meditationsablaufes als auch bezuumlglich des persoumlnlichen

5 Augustinus De civitate Dei hg v B DombartA Kalb Turnhout 1955 pars II Civitas terrena et civitas caelestis 14 6 S 421 ndash ebenso Augustinus De civitate Dei (1955) pars II 14 7 S 422 Zur Theorie des Willens bei Augustinus siehe A Dihle The Theory of Will in classical Antiquity Berkeley[ua] 1982 S 123ndash1446 Circumspectio wird der Kardinaltugend der prudentia zugeordnet spaumlter dann gerade auch bei Thomas v Aquin vgl Ruh (cf Anm 2) S 373) Auszliger in De meditando vgl zur circumspectio bei Hugo von St Viktor De institutione novitiorum De virtute orandi De laude caritatis De arrha animae hg v H B FeissP SicardD Poirel Turnhout 1997 S 46 413ndash423 Fuumlr weitere Beschaumlftigung mit der Sicht Hugos auf die Tugenden siehe I vanrsquot Spijker Hugh of Saint Victorrsquos Virtue Ambivalence and Gratuity in I P BejczyR G Newhauser (Hgg) Virtue and Ethics in the Twelth Century Leiden 2005 S 75ndash94 ebenso in I vanrsquot Spijker The Multiple Meaning of Scripture The Role of Exegesis in Early-Christia and Medieval Culture Leiden 2009 S 2262277 Vgl auch Hugo In Ecclesiasten I 116 (fuumlr 161) D - 117A

270 Anselm Rau und Johanna Scheel

Vorankommens ein Formfehler (vitium) Erleuchtendes Mittel der meditatio ist die lectio in ihren ermahnenden troumlstenden und Furcht evozierenden Unterweisungen Diese fuumlhren zu einem Verstehen der Tugenden (virtus) und naumlhren die affectio welche erst die Lebensfuumlhrung auf dem Pfad der Tugenden generiert Damit spielt Hugo auf den Aspekt des stufenweisen Vo-ranschreitens (profectus) an der sich im Erkennen und Vollzug der Affekte ausgerichtet auf das Ziel selbstreflexiv konstituiert Diesbezuumlglich ist die Ermahnung Hugos entscheidend sich vor der Betruumlbnis des anfaumlnglichen eigenen Unvermoumlgens zu huumlten um das houmlhere Gute zu erreichen Zugleich warnt er aber auch vor der Vereinnahmung durch ablenkende Zerstreu-ung die eine sprunghafte ungeduldige Betrachtung des einzelnen Guten nach sich zieht Hier spricht Hugo zwei grundlegende das Verstaumlndnis des Aufstiegs betreffende Aspekte an Man muss aufgrund des nach eigenem Vermoumlgen erreichten Guten zufrieden sein und dabei auch persoumlnliche Unzulaumlnglichkeiten ertragen (patienter) lernen Das erreichte Gute ist dabei das Fundament auf das Zukuumlnftiges aufzubauen ist eilt man unstet von einem zum naumlchsten geht das bereits Erreichte verloren Erst durch die fortwaumlhrende Uumlbung festigen sich die Tugenden was im Umkehrschluss ein Voranschreiten in der diese selbst konstituierenden affectio erst er-moumlglicht

Die Augustinische Tradition in die sich Hugo stellt macht bereits der einleitende Satz von De meditando deutlich Meditatio est frequens cogitatio modum et causam et rationem unius cuiusque rei investigans8 In dem Pseudo-Augustinischen Traktat De spiritu et anima9 findet man ihn einmal woumlrtlich einmal in einer Abwandlung Der woumlrtlich uumlbereinstimmende Satz taucht in Kapitel 38 auf das von der Definition der Seelenkraumlfte handelt die im Anschluss als ingenium ratio intellectus und intelligentia definiert und durch contemplatio und caritas flankiert werden Eingebettet ist dieser Teil in die Diskussion der Seele als Abbildung und Aumlhn-lichkeit Gottes die es wiederherzustellen gelte Die zweite abgewandelte Version des Zitats findet sich in Kapitel 50 und verbindet die Meditation mit Weisheit Zerknirschung Devotion Gebet und Affekt bdquoMeditatio siquidem parit scientiam scientia compunctionem compunctio devotionem devotio perficit orationem Meditatio est frequens cogitatio curiosa et sagax ob-scura investigare et occulta ad notitiam trahere Scientia est quando homo ad cognitionem sui assidua meditatione illuminatur Compunctio est quando ex consideratione malorum suorum cor interno dolore tangitur Devotio est pius et humilis affectus in Deum humilis ex conscientia infirmitatis propriae pius ex consideratione divinae clementiae Oratio est mentis devotio id est conversio in Deum per pium et humilem affectum Affectus est spontanea quaedam ac dul-cis ipsius animi ad Deum inclinatio Nil enim ita Deum inclinat ad pietatem et misericordiam quemadmodum purus mentis affectusldquo

Letztendlich muumlndet eingeleitet durch das schlagwortartige bdquoDevotio est pius et humilis affectus in Deumldquo die Meditation im Affekt durch den das Gebet selbst als mentis devotio auf Gott hin vollzogen wird Waumlhrend Hugo diesen letzten Part in De meditando nicht uumlbernimmt

8 Diesen Satz findet man ebenfalls in Abwandlung in dem Ps-Hugonischen Traktat De contemplatione et eius speciebus vgl zu diesem Traktat Ruh (cf Anm 2) S 370ndash3809 PL 40 Col 779

Meditation und Gebet 271

begegnet er jedoch in einem anderen Traktat Hugos De modo orandi als zentrale Aussage wie-der Fuumlr De meditando kann er als bestimmender Unterton angenommen werden

De modo orandi

In De modo orandi10 setzt Hugo von St Viktor die rhetorische Form des Gebets in Relation zu Intention und Emotion des Betenden und legt das komplex verwobene Verhaumlltnis von Wort und Emotion systematisch dar Dabei ist die starke Betonung der zentralen Rolle der Affekte innerhalb des Gebets bis dahin einzigartig Hugo aumluszligert sich sogar so dass den frommen Af-fekten die gesamte Kraft des Gebets inne wohne bdquoin affectibus pietatis est omnis virtus orandildquo11

Nach einem Abriss uumlber den generellen Aufbau des Gebets der oratio12 die ausgehend von der meditatio der zweifachen Erkenntnis naumlmlich der eigenen Fehler wie der Barmherzigkeit Gottes zur compunctio13 fuumlhrt und diese in die devotio uumlberfuumlhrt (Kap 1) werden anhand rhe-torischer Formen die verschiedenen Gebetskategorien klassifiziert (Kap 2ndash3) Hiermit gelingt es Hugo nicht nur grundlegende Bestandteile oder Uumlberbegriffe des Gebets detaillierter zu un-terscheiden sondern diese kategorisierende Herangehensweise in einen Zusammenhang mit praktisch brauchbaren Gebetstexten und -worten zu stellen Dies geschieht zunaumlchst ebenfalls in einem engen Theoriegeruumlst in dem die oratio in supplicatio (das demuumltige Gebet) postulatio (die Anrufung) und insinuatio (die versteckte Andeutung) geschieden wird und diese drei Ge-

10 266 Handschriftenexemplare von De modo orandi sind vorhanden mehr als hundert entfallen auf das 15 Jh Vgl Hugo von St Viktor 1997 (cf Anm 6) S 118 ausfuumlhrlicher dazu Goy (cf Anm 1) Laut Goy ist De modo orandi nach dem Soliloquium de arra animae das weitverbreitetste Werk Hugos (12 Jh 42 13 Jh 34 14 Jh 40 15 Jh 105 uumlberlieferte Exemplare) ebd S 506 Diese Verteilung und der prononcierte Sprung im 15 Jh entsprechen nicht der Verbreitungsintensitaumlt aller Schriften Hugos durch die Jahrhunderte die Goy S 509 mit 852 im 12 Jh 665 im 13 Jh 331 im 14 Jh und 674 im 15 Jh beziffert Im 15 Jh findet sich die hohe Verbreitung vor allem im deutschen Raum sowie durch das Gebiet zwischen Rhein und Schelde Goy sieht den Grund in den Klosterreformen der Windsheimer Kongregation und somit der Devotio Moderna an ebd S 51711 De modo orandi Kap 712 Dabei ist die oratio hier nicht eins zu eins mit dem Begriff der oratio in De meditando gleichzusetzen dies ist ein generelles Problem bei dem Versuch aus den Werken Hugos einheitliche Begriffsdefinitionen zu destillieren ndash oftmals werden Begriffe mehrfach belegt und erscheinen gerade in systematischen Abhandlungen die eigentlich von Begriffsschaumlrfe abhaumlngig sind zuweilen an verschiedenen Stellen ein und desselben Systems mit anderen Konnotationen Vgl zB De contemplatione wo dies mit dem Begriff der contemplatio geschieht oder in De modo orandi wo oratio einmal als uumlbergeordnete Kategorie und einmal als Unterkategorie der supplicatio in Form der pura oratio erscheint13 Hugo benutzt hier das Schriftwort bdquoJe mehr der Mensch seine Fehler erkennt desto mehr seufzt und klagt er (Pred 118)ldquo Compunctio bzw contritio bezeichnet die aufrichtige traumlnenreiche Reue und Zerknirschung die den Auftakt jedes Gebets sein sollten Siehe Chr Swift A Penitent Prepares Affect Contrition and Tears in E Gertsman (Hg) Crying in the Middle Ages Tears of History New York 2012 S 79ndash101 Vgl dazu auch S Grosse Heilsungewiszligheit und Scrupulositas im spaumlten Mittelalter Studien zu Johannes Gerson und Gattungen der Froumlmmigkeitstheologie seiner Zeit Tuumlbingen 1994 S 181ff Sie ist Teil der religioumlsen Praxis und erhaumllt ab dem beginnenden 13 Jh einen festen Platz als Teil des Beichtsakraments ab dem 15 Jh erfaumlhrt sie innerhalb dieses institutionalisierten Gebrauchs eine starke Bedeutungszunahme sogar die der eigentlichen satisfactio uumlberfluumlgelnd

272 Anselm Rau und Johanna Scheel

betsarten ebenfalls mit drei Unterkategorien ausgestattet werden Die Begrifflichkeiten sind der antiken Rhetorik entlehnt an der Hugo seine Rhetorik des Gebets entwickelt indem er auf eine sehr anwendungsbezogene Weise bestimmte Affekte in sie einbindet Die captatio ndash eine Unterart der supplicatio ndash soll beispielsweise in der antiken Rhetorik eine emotional positive Einstimmung des Angesprochenen ndash im Gebet waumlre dies Gott ndash bewirken14 bei Hugo dient sie jedoch daruumlber hinaus stark der eigenen emotionalen Vorbereitung des Betenden Die Gebets-worte haben nach Hugo ausdruumlcklich die Funktion im Betenden diejenigen Affekte entstehen lassen die der Bitte entsprechen

Form ndash Intention ndash Emotion

Dass festgelegte traditionelle Gebetsworte vorgegeben sind wiederspricht dieser Funktion dabei in keinster Weise Hugo zeigt dies daran dass er gerade Psalmentexte benutzt um seine Vorstellungen von affectus und davon wie dieser im Gebet erzeugt werden kann zu entwickeln (Kap IV) Waumlhrend die richtige (rhetorische) Form der Bitte fuumlr die Ansprache Gottes wichtig sei sei sie fuumlr den Betenden einerseits notwendig damit er sein eigenes Gebet besser verstehen koumlnne er nochmals in der meditatio uumlberlege worum er bitte und vor allem damit er dadurch noch hingebungsvoller mit staumlrkerer devotio bete Erst durch diese vollkommene Hinwendung der Seele des Betenden zu Gott in hingebungsvollem Affekt (affectus devotionis) wird seine Zu-stimmung erreicht Durch die Worte werde dem Beter seine Bitte und sein Zustand staumlrker bewusst er werde zum Affekt gebracht der Affekt in denselben Worten ausgedruumlckt und durch diese noch staumlrker entflammt bdquoQuaecunque ergo sunt verba orantis absurda non sunt si tan-tummodo ad hoc competenter proferri possint ut vel orantis affectum ad amorem Dei excitent vel (quod amplius est) si jam amore ejus flagrat excitatum demonstrentldquo15 Hier wird der Kern des Traktats formuliert Die Form des Gebets wird in Relation zu Intention und Emotion ge-setzt wodurch Hugo einerseits zu der Aussage kommt dass je groumlszliger die Emotion werde sie sich desto weniger in artikulierten Worten ausdruumlcken lieszlige16 Andererseits kann er zeigen dass das Verhaumlltnis von Wort und Emotion ein vielschichtiges und sich gegenseitig amplifizierendes ist Die Gebetsworte werden danach ausgesucht welchem Ziel und Affekt sie dienen sollen Im Gebet gesprochen vergegenwaumlrtigen sie oder erinnern sie den Betenden an bestimmte Affekte sie erwecken und verstaumlrken diese soweit dass zuletzt ebendiese Worte zum Affektausdruck des Beters werden Der Betende eignet sich damit fremde Worte durch den Affekt an und macht

14 ZB in De inventione von Cicero (1 17) oder RhetoricaAuctor ad Herennium (1 6) so Hugo von St Viktor (1997) S 166 Anm 28 (cf Anm 6) Vgl zur captatio ebenso B Wessel Art Captatio benevolentiae in Historisches Woumlrterbuch der Rhetorik hg v G Ueding Bd 4 Tuumlbingen 1998 Sp 121ndash12315 bdquoAber auf keine andere Weise wird Gott zur Zustimmung gebracht als wenn die Seele des Betenden in gaumlnzlich hingebungsvollem Affekt zu ihm selbst hingewandt wird Wie auch immer die Worte des Gebets sind so sind sie nicht nutzlos wenn sie ihm nur passender vorgetragen werden koumlnnten damit sie entweder den Gebetsaffekt zur Liebe Gottes entflammen oder was besser ist wenn die Liebe schon brennt sie die Erregung zeigtenldquo16 bdquoDer Affekt hat naumlmlich die Eigenschaft dass je groumlszliger und gluumlhender er im Inneren ist er desto weniger aumluszligerlich durch die Worte ausgedruumlckt werden kannldquo

Meditation und Gebet 273

sie zu seinen eigenen Das gesprochene Gebet ist so uumlber seinen affektiven Effekt auf den Beter definiert Als Beispiel benutzt Hugo Schriftworte vornehmlich Psalmen bdquoJeder Einzelne also waumlhrend er im Gebet entweder Psalmen oder irgendwelche anderen Schriften singt soll sorg-faumlltig bedenken welchem Affekt sie dienen moumlgen und durch ganze Anstrengung sein Herz zu jenem Affekt erregen Er sagt das was ihm besser zu dienen scheint denn wenn er den Affekt erregt durch die Worte die er sagt erkennt er durch den Affekt selbst besser die Kraft der Worte Er erwirbt die Einsicht und entzuumlndet durch die Einsicht der Worte umso mehr den hingebungsvollen Affektldquo (Kap V)

Psalmen ndash Wort und Affekte

Die lebenspraktische Erklaumlrung der Gebetsaffekte in De modo orandi ist bemerkenswert klar Weil in den Affekten die ganze Kraft des Gebets liege zaumlhlt Hugo beispielhaft aus den unend-lichen Affekten (Kap VII) neun von ihnen auf die er ebenfalls kurz definiert und gruppiert zunaumlchst die Affekte der Zuneigung Bewunderung und Mitfreude17 dann die Affekte der De-mut des Leides und der Furcht sowie zuletzt die Affekte der Entruumlstung der Eifersucht und der guten Erwartung Diese Gruppierungen werden jeweils auf verschiedene Schriftgattungen bezogen aus denen sie entstehen koumlnnen ndash so werden einer Gattung die zur Erinnerung des Ungluumlcks bzw der eigenen Fehler anregt drei dieser Affekte zugeordnet naumlmlich Demut die aus der Erinnerung der eigenen Fehler erwaumlchst Leid aus der Erinnerung vergangener und gegenwaumlrtiger Fehler sowie Furcht aus dem Gedanken an zukuumlnftige Vergleichbare Zuord-nungen finden sich dort auch fuumlr die uumlbrigen Affekte

Nun verknuumlpft Hugo diese mit konkreten Beispielen aus den Psalmen (Kap VII) bdquoAus dem Affekt der Zuneigung (dilectio) heraus wird Ps 182 gesungen sbquoIch will Dich ruumlhmen Herrlsquo Aus dem Affekt der Bewunderung (admiratio) heraus wird Psalm 8[2]10 gesungen sbquoHerr unser Herrlsquo Aus dem Affekt der Mitfreude (congratulatio) heraus wird Ps 472 gesungen sbquoIhr Voumllker allelsquo Und in allen diesen ist LobAus dem Affekt der Demut (humilitas) heraus wird Ps 312 gesungen sbquoHerr ich suche Zufluchtlsquo Aus dem Affekt des Leids (dolor) heraus wird Ps 131 gesungen sbquoWie lange noch Herr vergisst Du mich ganzlsquo Aus dem Affekt der Furcht (timor) heraus wird Ps 62 gesungen sbquoHerr strafe mich nicht in deinem Zornlsquo Und in all diesen ist die Fuumlrbitte mit einer Klage vermischtAus dem Affekt der Entruumlstung (indignatio) heraus wird Ps 523 gesungen sbquoWas ruumlhmst Du Dich Deiner Bosheitlsquo Aus dem Affekt des gerechten Eifers (zelus) heraus wird Ps 941 gesungen sbquoO Herr Gott der Vergebunglsquo Aus dem Affekt der guten Erwartung (bona praesumptio) heraus wird Ps 261 gesungen sbquoVerschaffe mir Recht o Herrlsquoldquo

17 Affectus congratulationis wird als Gegenpol zur compassio verstanden

274 Anselm Rau und Johanna Scheel

Hugo zeigt hier wie einerseits aus dem Affekt ein bestimmter Psalm gesungen wird Er kom-plettiert damit was er bei der Aufzaumlhlung staumlrker betonte naumlmlich aus welchen Psalmen ein Affekt erwaumlchst und gleichzeitig wie die Worte zu denjenigen der eigenen Bitte und zum Af-fektausdruck werden

Mischung und Uumlberblendung von Affekten

Allerdings wird nicht innerhalb eines Psalms je nur ein Affekt ausgedehnt sondern oftmals geht dort ein Affekt in den anderen uumlber Sie werden gemischt oder loumlsen sich kontinuierlich ab (Kap VIII) Ein Beispiel hierzu Aus der meditatio der eigenen Fehler und Gottes Barm-herzigkeit bricht man durch den Affekt des Schmerzes in die Worte aus bdquoHerr wie zahlreich sind meine Bedraumlnger so viele stehen gegen mich auf viele gibt es die von mir sagen Er findet keine Hilfe bei Gottldquo Dies sind die ersten Verse aus Psalm 3 Aus dem Affekt des Schmerzes der dadurch staumlrker entflammt und ausgedruumlckt wird kehrt der Betende mit dem naumlchsten Vers des Psalms 3 auf den Affekt der guten Erwartung zuruumlck und sagt bdquoDu aber Herr bist ein Schild fuumlr michldquo Damit wird der Schmerz von Vertrauen gelindert und der eine in den andere Affekt uumlberfuumlhrt

Die Psalmenworte vergegenwaumlrtigen oder erinnern hier an den Affekt und werden danach angewandt zugleich sind sie Anreiz und -ausdruck der vielfaumlltigen Palette wandelbarer Affekte

Diese Definition in De modo orandi ist fuumlr das Verstaumlndnis der Affekte innerhalb des Ge-bets im gesamten Mittelalter als grundlegend anzusehen Aus kunsthistorischer Sichtweise ist die Beschaumlftigung mit dieser Schrift daher nicht nur unerlaumlsslich um mittelalterliche Bildwer-ke die fuumlr den Bildbetrachter als Hilfsmittel fuumlr sein Gebet konzipiert wurden praumlziser kon-textualisieren zu koumlnnen Vielmehr ist die in De modo orandi dargelegte Reflexionsstruktur auf die Rezeption von Werken der bildenden Kunst uumlbertragbar

Das Lignum vitae

Ein Beispiel fuumlr die konkrete Anwendung der Evozierung von affectus bei Gebet und Medita-tion wie von Hugo von St Viktor konzipiert stellen die Meditationen des Lignum vitae Bona-venturas und dessen bildliche Umsetzung dar18 In seinen viel rezipierten Werken De triplici

18 Bonaventura Lignum vitae in Opera omnia Quaracchi 1848 Bd 8 Im Folgenden wird auf die lateinische Edition von Quaracchi mit dem Kuumlrzel LV verwiesen Wird nicht die eigene Uumlbersetzung verwendet ist die Grundlage M Schlosser Baum des Lebens Geistliche Betrachtungen St Ottilien 2012 Weitere deutsche Uumlbersetzung bei A Aswerus Der Lebensbaum Zuumlrich 1963Die Rezeption der Schriften Hugos bei den Franziskanern ist bekannt gerade die Verbreitung der hier besprochenen Texte Vgl Goy (cf Anm 1) S 530ndash532 In Italien und auf der iberischen Halbinsel sind mit 170 Texten nur ca 7 der Gesamtuumlberlieferung von Hugos Werken zu finden allerdings faumlllt bei den Handschriften italienischer Provenienz die bdquofuumlhrende Stellung der Franziskaner als Tradentenldquo auf Vgl ebd S 530 Die Houmlhepunkte der Tradierung liegen im 13 und 15 Jh vgl ebd S 559ndash564 bes S 563

Meditation und Gebet 275

via in dem er sein auf dem Gedankengut des 12 Jahrhunderts beruhendes Verstaumlndnis von meditatio oratio und contemplatio darlegt und dem Itinerarium mentis in Deum wendet sich Bonaventura der Formung der Seele des Menschen fuumlr den Aufstieg zu Gott zu19 Gerade aber das Lignum vitae hat maszliggeblich in seiner konkreten Form die Passionsmeditation des spaumlten Mittelalters beeinflusst20

Deutlich ist hervorzuheben dass Bonaventura diese Meditationsschrift zu Kindheit und Leben Passion und AuferstehungVerherrlichung Christi auf Grundlage mnemotechnisch strukturierter Modelle der monastischen Meditationspraxis konzipierte Der Entwurf Bona-venturas sieht die Anordnung der Meditationen anhand eines Baumschemas vor als struktur-gebende Schablone fuumlr das Einpraumlgen dieser im Herzen21 Da die Vorstellungskraft (imaginatio) die Einsicht (intelligentia) unterstuumltzt gibt Bonaventura die konkrete die Intention verdeutli-chende Anweisung bdquodescribe igitur in spiritu mentis tuae arboremldquo22 Die Meditationen selbst dienen zur Entflammung des Herzens in liebendem Empfinden zur Formung des Denkens und zur Einpraumlgung in das Gedaumlchtnis (accendatur affectus formetur cogitatus imprimatur memoria) Somit wird auch hier die Formung des Denkens durch den affectus herausgestellt23 Nach dem Entwurf Bonaventuras besitzt der Baum zwoumllf Zweige an denen jeweils vier kurze Strophen die Einleitungen bzw Uumlberschriften zu den einzelnen Meditationen angebracht sind die immer zusammen genommen eine Frucht hervorbringen So umfasst das gesamte Schema 48 Meditationen die in einer Reihenfolge von unten nach oben insgesamt zwoumllf zu erreichende Fruumlchte oder auch tugendhafte habitus hervorbringen sollen24

Die rasche und vielfaumlltige visuelle Umsetzung der Baumstruktur zeugt von der Popula-ritaumlt der Meditationen des Lignum vitae eine der heute wohl bekanntesten Darstellungen stammt von Pacino di Bonaguida der jeder einzelnen Meditation ein Bildmedaillon zuordnete

19 Bonaventura De triplici via Opera omnia Quaracchi 1948 Bd 8 S 19ndash27 ndash Bonaventura Itinerarium mentis in Deum Opera omnia Quaracchi 1891 Bd 5 S 293ndash316 ndash vgl hier auch die kritischen Edition und die Darstellung der inhaltlichen Grundkonzeption Bonaventura De triplici via Uumlber den dreifachen Weg latdt uumlbers u eingel v M Schlosser Freiburg iBr [ua] 1993 ndash Bonaventura Itinerarium mentis in Deum ndash Der Pilgerweg des Menschen zu Gott latdt uumlbers u erl v M Schlosser mit einer Einleitung von P Zahner Muumlnster 200420 R Preisinger Lignum vitae Zum Verhaumlltnis materieller Bilder und mentaler Bildpraxis im Mittelalter Paderborn 2014 21 Zu den Schablonen und dem Einpraumlgen dieser ins Herzen vgl M Carruthers Moving Images in the Mindrsquos Eye in J Hamburger M-A Boucheacute (Hgg) The Mindrsquos Eye Art and Theological Argument in the Middle Ages New Jersey 2006 S 294 FN 24 zu den Anweisungen Hugos in De arca noe S 292ndash29422 LV Prolog S 6823 Ebd24 Die uumlberkommenen Traktate belegen die angedachte Konzeption zur Verinnerlichung der einzelnen Meditationen die Uumlberschriften als Responsorium mit dem Kehrvers O crux fructus salvificus zu singen vgl hierzu M Sensi Lrsquoallegoria della Croce nel monastero di SantrsquoAnna a Foligno in B Ulianich U Parente (Hg) La Croce Iconografia e interpretazione Bd 3 La croce nella liturgia NeapelRom 2007 S 392 ebenso Preisinger (wie Anm 20) S 36ndash42

276 Anselm Rau und Johanna Scheel

(Abb 1)25 In kuumlnstlerischen Darstellungen diente das Lignum vitae als visuelle Unterstuumltzung sowohl fuumlr den Gesang als auch gerade zur Strukturierung von Predigt und Meditation26 Ein Groszligteil der Bilder zum Lignum vitae binden den Text in Form der Uumlberschriften der einzelnen Meditationen ein Eine solch detailreiche Ausgestaltung wie etwa bei Pacino ist bei den uumlber-lieferten Beispielen keine Regelmaumlszligigkeit Damit belegt allein schon das Bild selbst dass das

25 Jedoch darf diese Tatsache nicht uumlber die tatsaumlchliche Anwendung hinwegtaumluschen Auf die Diskussion um die Bildwerke zum LV kann hier nicht dezidiert eingegangen werden Die juumlngsten Publikationen zum Lignum vitae mit der entsprechenden Literatur zur Forschungslage sind Preisinger (cf Anm 20) und U Ilg Quasi lignum vitae The Tree of Life as an Image of Mendicant Identity in P SaloniusA Worm (Hgg) The Tree Symbol Allegory and Mnemonic Device in Medieval Art and Thought Turnhout 2014 S 187ndash212 ndash Siehe die Kritik an der bisherigen Auseinandersetzung mit dem Lignum vitae und seinen Darstellungen in der 2015 abgeschlossenen Dissertation von A Rau Imagination und Emotion Bildstruktur und Emotionalisierungsstrategien in der monastischen Meditation und das bdquoModell Franziskusldquo sowie A Rau Im Wechselbad der Gefuumlhle ndash das Lignum vitae in Imago 4 (2015) erscheint November 201526 L Bolzoni The Web of Images Vernacular Preaching from its Origins to Saint Bernardino da Siena Aldershot 2004 S 154ff

Abb 1 Pacino di Bonaguida Lignum vitae Florenz Galleria delllsquoAccademia um 1310 258x151cm

Meditation und Gebet 277

eigentliche affizierende Potential in der Steuerung der imaginatio des LesersBetrachters durch den Text der Meditation und des Gebet selbst liegt27

Innerhalb der jeweils einer Frucht zugeordneten vier Meditationen ist ein Aufbau und Uumlbergang festzustellen ebenso sind in der Regel die Fruumlchte durch die letzte Meditation der vorangegangenen und die erste der folgenden miteinander verknuumlpft Allen gemein ist dass zu Anfang einer jeden Frucht die in den ersten zwei Fruumlchten ausgebildeten Grundtugenden caritas und humilitas als Ausgangspunkt genommen werden Diese beiden sind wie bereits von Augustinus betont die Grundtugenden aus denen alle weiteren erst hervorgehen koumlnnen28 Die einzelnen Meditationen zeichnen sich durch das Fokussieren auf eine tugendhafte Haltung Christi aus Diese verdeutlicht er entweder selbst in einer emotionalen seinen Habitus aus-druumlckenden Disposition oder weiteres biblisches Personal reagiert als Exempel fuumlr den LeserBetrachter des Lignum vitae auf die ihm so bdquovisualisertenldquo Geschehnisse um Christus So ent-stehen Imaginationsfiguren die das Handeln (operatio) bestimmen sollen Geleitet wird die Meditation des Betrachters durch die eindruumlcklichen Schilderungen der Begebenheiten aus dem Leben Christi in Kombination entweder direkter Ansprachen an seine Seele wie er sich verhalten was er sich als Vorbild nehmen soll oder durch in die Meditation selbst eingefuumlgte Gebetstexte welche die Affizierung entweder stuumltzen oder direkt hervorbringen koumlnnen

Die Meditationen der ersten vier Fruumlchte (Geburt Kindheit Wirken Christi) charakteri-sieren das Lignum vitae wie schon bei Hugo und in den Meditationsmodellen des 12 Jahrhun-derts als dezidiertes Reue- und Buszligschema Dies verdeutlicht allein schon die formale Anlage da sich hier vorwiegend Anweisungen zu habituellen emotionalen Dispositionen des Lesers finden Die Einmuumlndung dieser Meditationen in die Schilderung des letzten Abendmahls kon-kretisiert die Verbindung zwischen der logischen Anlage eines sukzessive aufgebauten Medita-tionsschemas die Notwendigkeit seiner fortdauernden Anwendung und somit den praktischen Bezug zum religioumlsen Leben Reue und Buszlige sind die notwendige Grundvoraussetzung fuumlr die Teilhabe an der Opferfeier des Messgeschehens es hebt die Meditationspraxis als fortdauernde Uumlbung der Affekte und Tugenden als staumlndige Gewissenspruumlfung hervor und kennzeichnet den Menschen ab diesem Punkt als muumlndigen Meditanden und Beter

So aumlndert sich dann ab der fuumlnften Frucht zu den Passionsmeditationen auch der Auf-bau Hier werden konzentriert einzelne orationes in die einzelnen Meditationen eingeflochten Bemerkenswert ist bei den fast als propaumldeutisch zu verstehenden Meditationen der ersten vier Fruumlchte findet sich eine sehr uumlberschaubare Anzahl von Psalmzitaten waumlhrend sie hier als personalisierte Gebete des LesersBetrachters gehaumluft auftreten Gezielt werden sie in den Meditationen der geschilderten Situationen und Peinigungen Christi eingesetzte um die com-passio zu erregen Hieran laumlsst sich die unmittelbare und entscheidende Zusammenwirkung

27 Bezuumlglich einer eingehenden gerade auch sprachlichen Untersuchung der Meditationen des Lignum vitae das affektsteuernde Potential herausarbeitend siehe abermals Rau (wie Anm 25)28 K Pansters Profectus Virtutum From Psalm 838 to David if Augsburgrsquos Profectus religiosorum in Studies in Spirituality 18 (2008) S 170 Zur Thematik weiterfuumlhrend N Baumann Die Demut als Grundlage aller Tugenden bei Augustinus Frankfurt 2009

278 Anselm Rau und Johanna Scheel

von meditatio und oratio beobachten die in Kombination die Lenkung der geordneten affectus bestimmen

Die von Hugo in De meditando angemahnte Unterscheidung und Betrachtung des Guten und Boumlsen findet in den Meditationen des Lignum vitae seine konkrete differenzierte Anwen-dung Heben die ersten vier Fruumlchten dezidiert Reue und Buszlige des MeditierendenBetenden und gerade die Schlechtigkeit des Menschen gegenuumlber Christus hervor so zeigen die Medita-tionen zur Passion Christi (5ndash8) die Betrachtung des Boumlsen und des Guten dahingehend wie das Boumlse in Gestalt der Peiniger Christi auf diesen einwirkt und wie Christus selbst oder wei-teres positiv konnotiertes biblisches Personal reagiert Die Grundlage des hier geforderten Mit-leidens mit Christus ist die bei den vorangegangenen Meditationen ausgearbeitete compassio Christi mit den Suumlndern Demuumltig ausgerichtet und damit ausgebildet am mitfuumlhlenden Vor-bild Christi kann der LeserBetrachter uumlber die imaginatio in der Meditation und dem Gebet hier zum Mitleidenden ausgebildet werden Zuerst wird also die demuumltige Emotionalitaumlt ob der eigenen Schlechtigkeit dem eigenen Boumlsen im Abgleich mit dem guten Vorbild in Christus herausgebildet und daraufhin die Affekte in den Meditationen zur Passion Christi an Christus selbst zum Mitleiden konstituiert

Als Beispiel der dezidiert auf die Affizierung ausgerichteten Anlage seien die Meditationen der fuumlnften Frucht umrissen Gegenstand (res) ist hier die Betrachtung von Christi Vertrauen (confidentia) in der Gefahr und umfasst die vier Meditationen zu Judasrsquo Verrat Christi Gebet auf dem Oumllberg der Umzingelung Christi durch die Haumlscher und seiner Gefangennahme29 Propaumldeutisch wird dem Verrat Judasrsquo dem abgrundtief Boumlsen (nequissum) die geradezu pa-radox erscheinende und dadurch Staunen und Bewunderung erweckende (o mira) Guumlte (be-nignitas) und Sanftmut (mansuetudo) Christi gegenuumlbergestellt30 Dieses Thema beherrscht alle Meditationen dieser Frucht und ist begleitende Grundlage aller folgenden Darstellungen der Misshandlung Christi Judas wird typologisch als lasterhafter Gegenpart zum tugendhaften Idealbild Christi stilisiert Sein Verrat gruumlndet in seiner cupiditas und bestimmt von seinen niedersten Trieben ist er die Personifikation von perfidia (Treulosigkeit Gewissenlosigkeit) in-gratitudo (Undankbarkeit) und duritia (Hartherzigkeit)31 Die angemahnte Betrachtung des Guten und des Boumlsen legt als klassisches System der Gegenuumlberstellung von Tugenden und Lastern anzustrebende bzw abzulehnende habitus durch die Ausrichtung der affectio dar

Signifikant zeigt sich die Affizierung anhand der uumlber die lectio sich konstituierende me-ditatio aufgrund der imaginierten Begebenheit in Verbindung mit der oratio die wiederum ihren Ausdruck in den Psalmen findet Als Ausweis der inneren Verletzlichkeit seiner mensch-lichen Natur (in natura sensibili)32 ist die Schilderung von Christi Gebet auf dem Oumllberg zentral Ob der Vorstellung des Todes (imaginatio mortis) die in seine empfindsame Seele eindrang wird er von affectus umschlungen (complexabatur affectu) Seine innere Bewegtheit wird mit den Tropfen blutigen Schweiszliges die seinen Koumlrper hinab rannen verdeutlicht der Affekt der

29 LV 517ndash20 S 75ndash7630 LV 517 S 7531 Ebd32 LV 518 S 75ndash76

Meditation und Gebet 279

Furcht (anxietas) als Empfindung steigt zwar in seinem Geist auf (in spiritu) der Nachvoll-zug erfolgt jedoch uumlber die aumluszligeren (imaginierten) Zeichen33 Die Meditation laumlsst den Leser darauf fragen bdquoO Herrscher und Herr Jesus woher kommt diese furchtbare Angst deiner Seele und dein angstvolles Flehen Hast du denn dem Vater dein Opfer nicht mit freiem Willen ge-brachtldquo34 Die Erklaumlrung folgt sofort Fuumlr die Bestaumlrkung des Glaubens hat Christus wahrhaft die sterbliche Natur angenommen damit der Mensch Hoffnung schoumlpfen kann sollte er aumlhn-liche Bedraumlngnis und Furcht erleiden denn aufgrund der Hoffnung richtet der Mensch seine Liebe auf Christus das Ziel wiederum willentlich (voluntas) aus Die offenkundigen (aumluszligeren) Zeichen des Leids in Christi menschlicher Natur sind das entscheidende Kriterium fuumlr die selbstreflexive Erkenntnis des LesersBetrachters Es ist die Erkenntnis dass Christus wahr-haftig die Schmerzen und das bittere Leid der Menschen mit fuumlhlbarer (sensu) Pein durchlitten hat35 Die Schilderung der Todesangst Christi ist damit Grundlage der im ersten Satz der fuumlnf-ten Frucht geforderten inneren Teilhabe (pii considereare) fuumlr die compassio den Nachvollzug seiner noch weiterhin zu durchleidenden koumlrperlichen wie seelischen Pein36

Diese Erkenntnis stuumltzt nun das ergaumlnzende Beten der Psalmen da diese einerseits die geforderten Affekte und den Affektreiz bekraumlftigen zugleich aber auch das selbstreflexive Moment herausarbeiten Die seelische Bedraumlngnis Christi auf dem Oumllberg wird begleitet und sozusagen von der Schilderung des Verrates Judasrsquo und der Bedraumlngung durch die Haumlscher umrahmt und aufgrund des Einbindens der Psalmen 38 41 und 55 in genau diese Meditationen zu einem inhaltlich kongruenten Gebet gestaltet Alle drei Psalmen wobei besonders Psalm 55 zitiert wird (Verse 13ndash15) nehmen Bosheit Verrat und Bedraumlngnis durch Freund und Feind in den Blick Hierdurch werden gerade das Verlassensein und das Ausgeliefertsein gegenuumlber den Misshandlungen in den Vordergrund gestellt die beschriebene Furcht Christi begleitet und durch das personalisierte Gebet zur emotionalen Ausrichtung des Beters selbst Nicht allein der einzelne Psalmvers wird dabei gebetet sondern ganz der mnemotechnischen Konzeptuali-sierung verpflichtet bildet der Vers den Ausgangspunkt und schlieszligt die Betrachtung und das Gebet des gesamt Psalms mit ein37 Der Klage uumlber den Vertrauensbruch durch den Freund (Ps 5513 ebenso Ps 3813 und Ps 41) und der Bedraumlngnis durch Frevler an deren Haumlnden Blut klebt (Vers 24) geht in Analogie zu Christi Gebet zum Vater auf dem Oumllberg die Anrufung Gottes voraus er moumlge das Beten und Flehen erhoumlren (exaudi orationem meam deprecationem meam)

33 Ebd34 Schlosser (wie Anm 19) S 51 LV 52 S 7635 LV 52 S 76 ndash Bereits Bernhard von Clairvaux formulierte Gott bot den Zugang zu sich selbst uumlber die Affekte weshalb die Inkarnation notwendig war um die affectiones des Menschen zuruumlckzugewinnen vgl B von Clairvaux Sermones super canticum canticorum 205 in Bernhard von Clairvaux Saumlmtliche Werke latdt hg v G Winkler Innsbruck (1996) Bd 5 S 28428536 LV 517 S 75 Nochmals abschlieszligend wird dies als identifikationsstiftendes Vorbild am Ende (vierte Meditation fuumlnften Frucht) mit dem Bild der gefesselten Haumlnde des unschuldigen Lammes und dem eingeforderten Stoumlhnen und der Beschreibung des durchdringenden Schmerzes der die Herzen der Juumlnger bei diesem Anblick durchstach (doloris aculues discipolorum vorda penetravit) vor Augen gestellt Vgl LV 520 S 7637 Zur Mnemotechnik allgemein M Carruthers The Book of Memory A Study of Memory in Medieval Culture Cambridge [ua] 122006 Zu beachten sind ebenso F A Yates The Art of Memory London 1966 M Evans The Geometry of Mind in Architectural Association Quarterly 124 (1980) S 32ndash55

280 Anselm Rau und Johanna Scheel

(Vers 1ndash8) Dabei wird die Angst (conturbatus sum) das Beben des Herzens in der Brust und das Befallenwerden vom Schrecken des Todes beschrieben (cor meum conturbatum est in me et formido mortis cecidit super me) ebenso das Erfasstsein von Furcht Zittern Schaudern und Entsetzen (timor et tremor venerunt super me et contexerunt me tenebrae) Der Nachvollzug der emotionalen Disposition Christi wird durch die kalkulierte Verknuumlpfung mit Psalm 38 zu-gleich ebenso zur detailreichen Klage in Furcht und Schrecken ob der eigenen Suumlndhaftigkeit Judas stellt natuumlrlich fuumlr den Abgleich das Negativbeispiel Doch im Gegensatz zu ihm zeigt der Betende in seiner demuumltigen Hinwendung zu Gott in Schmerz und Furcht das in ihn gesetzte Vertrauen das auch Jesus unter Beweis stellte Die Psalmen bieten hierfuumlr das passende Mittel der notwendigen Ausrichtung in der affectio

Ein interessanter Punkt sei in Bezug auf die Ausfuumlhrungen in De meditando hinsichtlich des Eifers (zelus) fuumlr die gerechte Sache noch genannt Die Sanftmut Christi wird gerade da-durch vor Augen gefuumlhrt dass er im Sinne des immerfort zur Vergebung bereiten Gott seinen Haumlschern guumltig begegnet da er sich seinen Peinigern nicht im Zorn (ira) verschloss (Ps 7710)38 Er haumllt naumlmlich sogar seinen Verteidiger ndash in der exegetischen Tradition Petrus vor allem dann auch in der bildenden Kunst ndash zuruumlck und bremst dessen gerechten zelus sein rechtmaumlszligiges eigentlich tugendhaftes eifersuumlchtiges Streben fuumlr das geliebte Objekt und heilt sogar ein abge-schlagenes Ohr Dieser Eifer der wie in De meditando beschrieben ohne Hinterlist ist nicht aus Ignoranz (repraumlsentiert durch die HaumlscherPeiniger) gegenuumlber der Wahrheit (in Christus) hervorgegangen zeigt die gute Absicht die durch Beharrlichkeit ans Ziel fuumlhrt und laumlsst somit die Liebe nicht lau werden Petrus wird als Identifikationsfigur installiert und am Ende aber-mals Judas entgegen gehalten Letzterer wurde zwar schlieszliglich aufgrund seiner Tat von Reue ergriffen jedoch war er nicht faumlhig durch die Hoffnung auf das Gute Christus Vergebung zu ersehnen und wurde von Bitterkeit (amaritudo) erfuumlllt so dass er den Tod und nicht das ewige Leben ersehnte

Meditationsschemata werden gerne aufgrund der ihnen innewohnenden Abfolge als starre Konstrukte und allein auf einen miszliginterpretierten geistigen Aufstieg abzielend hin verstan-den Doch beweist gerade das Lignum vitae eine hohe Flexibilitaumlt fuumlr den alltaumlglichen Gebrauch und zudem die eigentliche Intention die Formung von affectus

Gerard Zerbolt van Zutphen

Das stufenweise emotionale Gebet und die Meditation begegnen ebenfalls ndash allerdings weniger stark schematisiert als im Lignum Vitae ndash in einem Standardwerk der niederlaumlndischen Froumlm-migkeitsliteratur des 15 Jahrhunderts In De spiritualibus ascensionibus stellt Gerard Zerbolt

38 Im Tugend- und Lastersystem ist die Unterscheidung von zelus ira und furor sehr entscheidend bezuumlglich des guten und schlechten Strebens und damit hinsichtlich rationalen Ordnung des Geistes Zum tugendhaften und lasterhaften Zorn und seiner Aspekte vgl Richard von St Viktor Benjamin minor 40ndash44 PL 196029-033 ndash Gerade bei der Verurteilung Christi durch Pilatus (LV 624 S 77) wird das Thema der rasenden Wut (zelus invidiae) und des gerechte Zorns (zelus iustitia) nochmals differenziert

Meditation und Gebet 281

von Zutphen ein Autor der devotio moderna handbuchartig sein Aufstiegsmodell dar39 Darin vermittelt er seinen Mitbruumldern und einem frommen Laienpublikum ein ausgekluumlgeltes System von geistigen Uumlbungen die sich nicht nur auf den eigentlichen Gebetsakt beziehen sondern habituell im Alltag Anwendung finden sollen indem sie eine Transformation des Menschen be-wirken Er geht dabei von dem uumlblichen zeitgenoumlssischen theologischen Anthropologiemodell der Seele als durch Suumlnde verschmutzte imago Dei aus und stuumltzt sich auf bekannte moraltheo-logische Emotionstheorien die er jedoch stark ausweitet indem er den Emotionen eine genaue Funktion und eine Schluumlsselrolle im Erkenntnisprozess zuweist Die formula meditandi40 be-schreibt Gerard als inhaltlich verschieden konnotierte Selbstuumlberpruumlfungen in der die dadurch produzierten Emotionen wie Zerknirschung (compunctio bzw contritio) Furcht (timor) oder Hoffnung (spes) nicht nur bewusst gemacht sondern produktiv umgewandelt werden um zu Instrumenten und Stufen des weiteren Aufstiegs zu werden41 Diese Aufstiege sind ein Prozess der Selbsttransformation des Menschen der sich vollzieht indem der Mensch sowohl seinen urspruumlnglichen Zustand diese Transformation selbst als auch die Erfahrung seiner Veraumlnde-rung mit den erreichten Stufen emotional (ex affectu) erkennt (cogitare) und fuumlhlt (sentire)42 Aumlhnlich wie bei Hugo von St Viktor formuliert Gerard dass der Betende immer einen Affekt und ein Verlangen (desiderium) annehmen solle die zu den aktuellen Uumlbungen oder Medita-tionen passe43 Die Selbsttransformation im geistigen Aufstieg wird nach Gerard ebenso im uumlb-lichen Schema der lectio meditatio und oratio geuumlbt und an verschiedenen materiae meditandi44 vollzogen Die Affekte werden anhand dieser materiae erzeugt katalysiert und in das Gebet

39 Die Schrift (im Folgenden De Spir Asc) wird zitiert nach der Edition von F J LegrandN Staubach (Hgg) Gerard Zerbolt von Zutphen De Spiritualibus Ascensionibus La monteacutee du coeur Turnhout 2006 Vgl zur affektiven Konnotation von Gerards Gebetssystematik M Goossens De meditatie in de eerste tijd van de moderne devotie HaarlemAntwerpen 1954 Er stellt den Affekt als Wesensmerkmal des Gebets bei Gerard fest ebd S 118 Zur Einbindung der Schrift innerhalb der Gebetstheorien der Devotio Moderna und zum Stellenwert der affektiven Selbstreflexion auch in Beziehung zu zeitgenoumlssischer Kunst vgl J Scheel Das altniederlaumlndische Stifterbild Emotionsstrategien des Sehens und der Selbsterkenntnis Berlin 2014 bes S 155ndash171 230ndash241 414ndash42640 De Spir Asc Kap 641 Gerard spricht synonym von Aufstiegsstufen und affectus zB in Kap 27 bdquoIn hac prima ascensione vel primo affecto [hellip]ldquo Oder er benennt Affekte wie Hoffnung und Furcht als Stufen bdquo[hellip] istis duobus gradibus timoris et spei [hellip]ldquo Kap 26 Insgesamt benutzt er die Vokabeln affectus und affectio synonym zwar begegnet in Bedeutung von Strebevermoumlgen meist affectio und ersetzt also die vires durch die affectiones animae besonders wenn es um lasterhafte Affekte geht doch werden die einzelnen Affekte durchgehend als affectus nicht als affectio bezeichnet42 De Spir Asc Kap 643 Das Gebet solle nie bloszliges Lippenbekenntnis sein sondern immer aus der Wurzel des Herzens verfolgt werden und zwar stets aus den Affekten der Furcht Trauer Freude Bewunderung Dankbarkeit etc bdquo[hellip] ex affectu timoris meroris dilectionis admiracionis congratulationis etcldquo De Spir Kap 46 Diese Affektreihe stimmt mit derjenigen bei Hugo in De modo orandi uumlberein siehe oben S 273f44 Diese sind zunaumlchst die bekannten Meditationsinhalte wie man sie allenthalben in theologischer Literatur des Mittelalters findet Leben und Passion Christi das Juumlngste Gericht und die eigene Todesstunde (diese bspw bereits in Bonaventuras De Triplici Via Kap 3) Bei Gerard werden ebenfalls Houmllle und Himmelreich sowie die eigenen Suumlnden und Wohltaten Gottes eingeschlossen sowie das eigene Selbst in dem und waumlhrend des Gebets Zum Kontext der neuen Meditationswuumlrdigkeit des eigenen Selbst in den Lehren der Devotio Moderna vgl Scheel (cf Anm 39)

282 Anselm Rau und Johanna Scheel

uumlberfuumlhrt Dies macht Gerard wie Hugo anhand des Psalmengebets anschaulich indem er einerseits beispielhaft zeigt wie ex affectu ein Psalm gebetet wird waumlhrend er gleichzeitig bei vorheriger Thematisierung der lectio dessen Erregung durch die Lektuumlre betont

bdquoWenn du dich in deiner ersten Uumlberpruumlfung diskutiert hast und entdeckst dass deine Suumlnden zahlreicher sind als die Zahl des Sandes der Meere forme in dir den Affekt der Demut oder Trauer und nimm die Rolle (persona) eines Dieners an der seinen Herrn beleidigt hat Aus diesem Affekt heraus forme ein Gebet und sage sbquoGott sei mir gnaumldig nach deiner Huld tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmenlsquo (Ps 503) Wenn du in der zweiten und dritten Uumlberpruumlfung dich selbst diskutierend bemerkst dass dein Herz mit schlechten Begierden und boumlsen Verlangen gefuumlllt ist forme in dir wiederum den Affekt der Demut und nimm die Rolle eines Kranken an der nach Medizin fragt und sage sbquoHerr sei mir gnaumldig heile mich denn ich habe gegen dich gesuumlndigtlsquo (Ps 405) oder sbquoNichts blieb gesund an meinem Leib weil du mir grollst weil ich gesuumlndigt blieb an meinen Gliedern nichts heillsquo (Ebd) etc Wenn du dich im zweiten Aufstieg in Furcht durch Meditationen des Todes und des Gerichtes oder der Houmllle uumlbst nimm den Affekt der Furcht ein und die Rolle eines Suumlnders vor dem Richter an in Angst und Zittern als seist du schon uumlberfuumlhrt und der Richtspruch gegen dich gesprochen und sage sbquoVerdamme mich nicht Herr gehe nicht ins Gericht mit deinem Dienerlsquo (Ps 1422) oder sbquoHerr in deiner Wutlsquo (Ps 62) etc Wenn du dich aber in Hoffnung uumlbst durch die memoria des Him-melreiches nimm den Affekt der Liebe an und bete mit innigem Herzen und sage sbquoIch erstrebe eines Herr dieses wuumlnsche ich dass ich in dem Haus des Herrn wohnen darflsquo (Ps 264) oder sbquoWie der Hirsch lechzt nach frischem Wasserlsquo (Ps 412) etc Und ebenso kannst du mit anderen Affekten jene aus diesen formen und musst du die Rolle annehmen die deine Uumlbung erfordert und deine Meditation verlangtldquo45

Uumlber Hugo hinausgehend wird hier dem Betenden empfohlen sich konkrete Szenarien und personae zu imaginieren um die gewuumlnschten Affekte einzuuumlben Die Psalmenbeispiele mit den zugeordneten Affekten uumlberschneiden sich bei beiden Autoren bei Psalm 6 (timor) so-wie Psalm 26 (Gerard spes Hugo bona praesumptio)46 Besonders bei der Einuumlbung von timor und der Erwaumlhnung des Richtspruches in Kombination mit den Buszligpsalmen 6 und 142 stehen unmittelbar zeitgenoumlssische Darstellungen des Weltgerichts bzw der Auferstehung der Toten vor Augen wie man sie in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern in Kombination mit eben jenem Buszligpsalm 6 aber auch in der altniederlaumlndischen Malerei findet47 Psalmen koumlnnen zu den

45 bdquoUnde breviter ut modum habeas secundum predicta si te in prima examinacione discusseris et inveneris peccata tua multiplicata super numerum arene maris forma in te affectum humilitatis vel meroris et assume personam servi qui dominum suum offendit Et ex tali affectu forma oracionem dicens Secundum multitudinem miseracionum tuarum dele iniquitatem meam [hellip] Si te in secundo ascensu in timore per meditaciones mortis vel iudicii vel inferni exercueris assume affectum timoris et assume personam rei astantis coram iudice cum timore et tremore quasi iam convictus contra quem de iure proferenda est sentencia et dic Noli me condemnare Non intres in iudicium cum servo tuo Vel Domine ne in furore etc [hellip] Et sic de aliis affectibus quos ex istis formare poteris et assumere debes sicut exercicium tuum exigit et meditacio tua requiritldquo De Spir Asc Kap 4646 Zu den Psalmen die Hugo als Beispiele benutzt siehe oben S 273f47 Vgl dazu J Scheel Sich selbst sehen ndash der Betrachter in und vor dem Bild Spiegel- und Stifterfiguren in Texten und Bildern des 15 Jahrhunderts in E KochH Schlie (Hgg) Orte der Imagination ndash Raumlume des Affekts Die mediale Formierung des Sakralen Muumlnchen 2015

Meditation und Gebet 283

bdquototal memoriertenldquo48 Texten des Mittelalters gezaumlhlt werden weswegen sie sich beiden Autoren als Beispiele anbieten Sie benutzen die Buszligpsalmen (hier die Psalmen 6 31 [Hugo] 50 142) die im Stundenbuch fest als eigenstaumlndiger Gebetstext verankert sind und ebenso in der To-tenvigil ihren Platz haben ndash zusammen mit Gerards weiteren Beispielpsalmen 40 und 4149 Das Stundenbuch ist ein Medium in dem Psalmwort und bildliche Darstellung auf die Theorie des stufenweisen emotionalen Gebets und der Selbsttransformation treffen koumlnnen

Die Miniaturen die der Totenvigil bspw in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern des 15 Jahr-hunderts voranstehen zeigen oftmals eine ganzseitige Totenmesse sowie in der M-Initiale der gegenuumlberliegenden Textzeile50 zwei betende einander zugewandte Seelen im Fegefeuer (vgl

48 Zu diesen Texten gehoumlrten bspw das Pater Noster oder Ave Maria waumlhrend denen gleichzeitig auch uumlber bestimmte Aspekte zB der Passion meditiert werden konnte und sollte vgl P Saenger Books of Hours and the Reading Habits of the Later Middle Ages in R ChartierA Boureau (Hgg) The Culture of Print Power and the Uses of Print in Early Modern Europe Cambridge 1989 S 141ndash173 hier S 154 Bei den Psalmen genuumlgt wie man hier sieht allein die Nennung des Incipit oder bestimmter Verse die dem Leser so vertraut sind dass sie den gesamten Psalmentext mit assoziieren49 Zwar ist der Einsatz von Psalmen in mittelalterlichen Stundenbuumlchern mitunter verschieden doch kann man beispielhaft an einer Gruppe von Stundenbuumlchern in niederlaumlndischer Sprache diese Psalmen finden Diese Stundenbuumlcher sind mit der Uumlbersetzung des Gruumlndungsvaters des Devotio Moderna Geert Grote versehen oder stehen mit ihr in Verbindung N van Wijk Het getijdenboek van Geert Groote Naar het Haagse handschr 133 E 21 Leiden 1940 diese hauptsaumlchlich anhand einer einzigen Handschrift erarbeitete Edition wird hier in Ermangelung einer kritischen Edition genutzt Das getijdenboek enthaumllt einen Kalender des Bistums Utrecht fuumlnf Offizien (Marienoffizium Heiliggeistoffizium das lange und kurze Heiligkreuzoffizium Stunden der ewigen Weisheit) Buszligpsalmen Litanei und Totenvigil 50 Es ist der Beginn des invitatorium bdquoMi hebben ombeuanghen die suchten des dodes die pijnlike seer der hellen heben mi ombeuanghenldquo Wijk (cf Anm 49) S 156 ndash bdquoMich haben umfangen die Seufzer des Todes die qualvollen Schmerzen der Houmllle haben mich umfangenldquo

Abb 2 Meister des Hugo Jansz van Woerden Totenmesse und Seelen im Fegefeuer ca 1475ndash1500 Den Haag Koninklijke Bibliotheek Ms 76 G 13 fol 85vndash86r

284 Anselm Rau und Johanna Scheel

Abb 2)51 Das Fegefeuer bespricht Gerard eher marginal in seinem Traktat Fuumlr die affektive Meditation des eigenen Todes liefert er allerdings einerseits eine Anleitung fuumlr den Betenden die Affekte nun bereits zu erwecken die vor waumlhrend und nach dem eigentlichen Todeszeit-punkt entstuumlnden ndash und sich mit ihnen im Gebet selbst zu formen52 Andererseits raumlt er dem Glaumlubigen sich zum Zwecke des ex affectu-Gebets einen Koumlrper in seinen Verwesungsstadien vor Augen zu halten53 und was mit ihm selbst bei der Beerdigung passiere54 Das Fegefeuer ist ein im Sinne mittelalterlicher Moraltheologie produktiver Gebetsinhalt da der Glaumlubige im steten Oszillieren zwischen spes und timor besonders gut zur caritas aufzusteigen vermag Diesen Tenor findet man ebenfalls bei Geert Grote in seinem getijdenboek bei der Vorrede der Toten-vigil Hier raumlt er dem betenden Leser zum Wechsel aus Psalmen und Antiphonen in Hinblick auf die Erregung von Furcht und Angst Liebe und Hoffnung in der Ausrichtung auf Gut und Boumlse und mit Blick auf das Fegefeuer bdquoHier beginnt die Vigil in duytsche die so organisiert ist denjenigen zu helfen die von hinnen gefahren sind in der Freundschaft Gottes in das Fegefeuer Und ebenso dazu [gedacht ist] den Lebenden zu helfen die sie lesen damit ihnen das Wissen um die kommenden Dinge eingedruumlckt werde auf dass sie glauben hoffen und lieben an die Dinge in Herrlichkeit Und [sie] sich dafuumlr bereit machen und sich waumlhrenddessen die ganze Zeit fuumlrchten dass ihre Tage schnell vergehen Auf dass sie sich fuumlrchten aumlngstigen grauen und beben vor dem mannigfaltigen Leid der Angst und dem Elend die den Boumlsen ereilen werden und sie so darum ihr Leben lang ndash das hier aumluszligerst kurz ist ndash darauf hinarbeiten diesem Leid zu entgehen und [die Vigil ist auch hilfreich] weil ein Mensch diese beiden Dinge ndash Gutes in Liebe und Boumlses in Angst ndash besser ansehen (aensien) kann und erkennen und sich uumlberdenken damit er besser bitten kann und [es] mehr begehrt (begheert) und mehr liebt (myn[n]t) fuumlr diejenigen zu bitten die im Fegefeuer sind fuumlr ihre baldige Erloumlsung und dafuumlr Gottes Ehre zu vermehren [hellip] So hilft das Bitten der Lebenden den Toten und das Bitten fuumlr die Toten hilft den Lebendigen sich auf den Tod vorzubereiten [hellip] Und dazu ist das Singen dieser Psalmen heranzuziehen [und zwar] immer nach den Bedeutungen der Antiphone und den Sinn der

51 Die Darstellung von Seelen im Fegefeuer taucht als Buchillumination ab dem 13 Jahrhundert bereits vereinzelt auf und diente in Kombination mit Jenseitsvisionen Bibeltexten und moralisierenden Inhalten vor allem dem Gedenken an bereits Verstorbene wie auch zur persoumlnlichen Mediation des Lesers Oft findet eine narrative Einbindung statt Vgl dazu M Borowska Das Entfachen des Fegefeuers in der europaumlischen Miniatur des 13 Jahrhunderts in Umeni 57 (2009) S 310ndash325 Zum ikonografischen Kontext der hier gewaumlhlten Illumination vgl die Untersuchung von I M Veldman Purgatory in the Low Lands in B BukovinskaacuteL Slaviacuteček (Hgg) Pictura verba cupit Essays for Lubomiacuter Konečnyacute Prag 2006 S 169ndash180 va 170ndash17252 De Spir Asc Kap 19 In den folgenden Kapiteln stellt Gerard dem Leser dasselbe Prinzip an den Themen des Juumlngsten Gerichts der Houmllle und des Himmelreiches vor 53 bdquoItem interdum propone oculis tuis ymaginem alicuius hominis morientis et diligenter respice formam modum et ordinem quibus ad mortem deveniturldquo De Spir Asc Kap 1954 Weitere beliebte Illustrationen zum Totenoffizium im Stundenbuch des 15 Jahrhundert sind ebenfalls die Darstellung eines Toten um dessen Seele Engel und Teufel kaumlmpfen Schaumldeldarstellungen Seelen in Abrahams Schoszlig Himmel und Houmllle der Tod als Angreifer die Auferweckung des Lazarus sowie die Psychostasis mit Michael als Seelenwaumlger Diese Motive werden eher als ganzseitige Miniaturen dargestellt und bekommen zum Teil in der begleitenden Initiale jene zwei betenden Seelen im Fegefeuer hinzugefuumlgt

Meditation und Gebet 285

Antiphone soll man dazu in den Psalmen bedenken in allen Stundengebeten Dabei ist gut dass man sowohl vor als auch danach die Antiphonen spreche und schreibeldquo55

Mit der sich gegenseitig amplifizierenden Kombination von selbstreflexiven Affekt er-regendem und ausdruumlckendem Psalmentext mit der bildlichen Darstellung von Beerdigung mit Fegefeuer und mit derartigen Aufstiegsmodellen vertraut kann der betende Leser hier den eigenen Tod und die Bestrafung seiner Seele als Konsequenz der eigenen irdischen Suumlndhaftig-keit produktiv in seine Bemuumlhungen des geistigen Aufstiegs und seine Selbsttransformation kanalisieren

Imagination und Illumination

Das Gebetsleben des mittelalterlichen Glaumlubigen ist gekennzeichnet durch seine Affektivitaumlt Die affectus werden mit Gebetstexten und Psalmenreihen sowie mithilfe bildlicher Darstel-lungen sorgfaumlltig kultiviert und systematisch eingeuumlbt Dabei sind dies altbekannte ndash weil biblische ndash Text- und Bildinhalte deren affizierendes Potential auf neue Arten ausgeschoumlpft wird Texte und physische wie gerade geistige Bilder erinnern den Betenden nicht nur unver-bindlich an bereits bekannte Ereignisse Situationen und Figuren sondern lassen ihn sich mit diesen durch affektive und reflexive Meditationspraktiken identifizieren Fremde Worte und Emotionen werden darin zu den eigenen Vorbilder aus dem Kreis der Heiligen werden so zu Imaginationsfiguren das Selbst wird auf Gott ausgerichtet und in all seinen Aspekten gezielt emotional reflektiert So unterschiedlich die formale Herangehensweise dieser Praktiken bei den drei untersuchten Autoren Hugo von St Viktor Bonaventura und Gerard Zerbolt van Zutphen zu sein scheint vermitteln sie doch die selbe zentrale Maszliggabe oratio est affectus ndash bdquoGebet ist Affektldquo

Uumlbersetzung Hugo von St Viktor De meditando PL 176 993ndash99

Die Meditation ist die haumlufige Erwaumlgung (cogitatio) der Ursache (causa) und des inneren Be-weggrundes (ratio) eines einzelnen zu untersuchenden Gegenstandes (res) was seine Art sei (modus) was die Ursache und was der Beweggrund

Es gibt drei Arten (genus) der Meditation eine in Bezug auf die Schoumlpfung (in creaturis) eine hinsichtlich der Schrift (in scripturis) und eine hinsichtlich der Sitten (in moribus) Die erste erwaumlchst aus der Bewunderung (admiratio) die zweite aus der Lektuumlre (lectio) die dritte aus der umsichtigen Beobachtung (circumspectio)

Zuerst bringt die admiratio die Frage (quaestio) hervor die Frage das Erforschen (investi-gatio) und das Erforschen die Entdeckung (inventio) Dies ist damit die Bewunderung der Ord-

55 Fuumlr den altniederlaumlndischen Text vgl Wijk (cf Anm 49) S 155 Zum Antiphon das der Vigil vorangestellt ist vgl Anm 50

286 Anselm Rau und Johanna Scheel

nung (dispositio) die Frage nach der Ursache und die Entdeckung des inneren Beweggrundes Die Bewunderung beruht auf der Betrachtung der Ordnung im Himmel das ist die Gleich-artigkeit von allem und der Houmlhen und der Tiefen (alta et depressa) auf der Erde Die Frage betrifft die Ursache (causa) des irdischen Lebens auf Erden und des himmlischen Lebens im Himmel Das Erforschen fragt nach dem inneren Beweggrund dass so wie die Erde auch das irdische Leben beschaffen ist und dass der Beschaffenheit des Himmels selbst auch das himm-lische Leben gleicht

Bei der Lektuumlre (lectio) aber erfolgt die Betrachtung (considerare) folgendermaszligenAls erstes dient die lectio dazu durch die Bereitstellung des Stoffes (materia) die Wahr-

heit zu erkennen (cognoscere) die meditatio fuumlgt ihn zusammen (coaptare) die oratio hebt ihn empor (sublevare) die operatio (Ausfuumlhrung) wendet ihn an (componere) und die contemplatio frohlockt in ihm selbst (exsultare)

Es ist durch die Meditation der Schriften zu erkennen auf welche Weise es sich gehoumlrt etwas zu wissen Als Beispiel steht geschrieben Declina a malo et fac bonum (Vg Ps 3627 ndash Wende dich ab von dem Boumlsen und tue Gutes EUuml Ps 3727) Deshalb wurde zuvor gesagt die meditatio wendet sich der lectio zu um sich vom Boumlsen abzuwenden und darauf Gutes zu tun Der Grund (causa) hierfuumlr ist wenn sich nicht zuerst das Boumlse zuruumlckzoumlge wuumlrde das Gute nicht herantreten koumlnnen Der innere Beweggrund (ratio) aber ist so wie zuerst die Sproumlsslinge des Boumlsen mit ihrer Wurzel ausgerissen werden muumlssen so muss danach das Gute (ein-)ge-pflanzt werden Warum wurde daher gesagt Wende dich ab von dem Boumlsen Weil es einem auf dem Weg begegnet Man wendet sich deshalb ab weil wir es wo auch immer nicht vermoumlgen durch Staumlrke zu widerstehen wir entkommen ihm lediglich wenn wir uns mit Klugheit und Vernunft (consilio et ratio) von ihm abwenden Auch muumlssen wir uns vom Boumlsen abwenden um dem Naumlhrstoff (materia) zur Suumlnde aus dem Weg zu gehen ndash beispielsweise ist von Hochmut (superbia) Begehrlichkeit (incontinentia) Begierde (concupiscentia) Neid (invidia) und Streit (contentio) abzulassen um sich vom Reichtum (abundantia) der Schoumlnheit (species) des Flei-sches und der Besitzgier (amor possessiones) abzuwenden Dies bedeutet bdquosich abzuwendenldquo Desgleichen wenn auf diese Weise von allem Boumlsen sich abzuwenden angeraten ist so wird die Verrichtung alles Guten verlangt Und so ist also der ebenso schuldig bzw angeklagt der allein nur alles Boumlse meidet wie derjenige der nicht zugleich all das Gute tut Aber wenn dies so ist wer ist dann kein Angeklagter (reus) Folglich wird uns anbefohlen uns von allem Boumlsen loszusagen Andererseits kommt das Gute zum Einen aus dem was sich gehoumlrt (necessitas) und zum anderen aus dem Willen (voluntas) Es gehoumlren sich die Dinge einer Vorschrift (praecep-tum) und die eines Geluumlbdes (votum) alles uumlbrige wird erfuumlllt wenn eine Sache [also Schuld] mehr als nur vergolten wird (supererogare) und einem nichts mehr anlastet

Daher zielt die Meditation bei der lectio darauf ab zu ergruumlnden auf welche Weise et-was das erkannt wird gut ist warum und wie es zu erreichen ist weil es ndash ist es [ersteinmal] erkannt ndash auch zu verrichten ist Die Meditation ist das Entdeckungsvermoumlgen der vorgefassten Absicht (excogitatio consilii) zu erwaumlgen auf welche Weise das Gute das erkannt wurde erfuumlllt wird denn das Erkannte ist unbrauchbar wird es nicht vollbracht

Deshalb ist die Meditation bei der lectio eine dreifache Betrachtung nach der historia der allegoria und der tropologia Gemaumlszlig der historia erfolgt die Meditation wenn wir nach dem

Meditation und Gebet 287

vollendeten inneren Beweggrund der Dinge fragen die geschehen sind und diesen hinsichtlich seiner uumlbereinstimmenden Art und Weise (modus) bezuumlglich der Zeiten (tempora) und Orte (loci) bestaunen (admirare) Bei dieser Betrachtung der goumlttlichen Ratschluumlsse (iudicium) laumlsst man nicht davon ab daruumlber nachzudenken dass diese richtigen und gerechten (rectus et iustus) Entscheidungen zu keiner Zeit den Beistand [Gottes fuumlr die Menschen] entzogen (deesse) und durch sie das geschah was sich gehoumlrte und vergolten wurde was gerecht war (iustum fuit)

Die Meditation hinsichtlich der allegoria beschaumlftigt sich mit der Gliederung (dispositio) der vorangegangenen und zukuumlnftigen Dinge und so wie fuumlr den Verstand (intelligentia) an-gemessen richtet sie dabei ihre Aufmerksamkeit auf deren uumlbereinstimmende Bedeutung in ihrer bewundernswerten Vernunftmaumlszligigkeit (ratio) und Vorhersehung (providentia) und auf ihre fuumlr den Glauben (fides) geschaffene Gestalt (forma)

Bezuumlglich der tropologia beschaumlftigt sich die Meditation damit welche Frucht die Worte der lectio hervorbringen und erforscht (exquirere) was diese wenn sie ausgefuumlhrt werden [im Sinne des eigentlichen Aussprechens der Worte aber auch die Ausfuumlhrung ihres Inhaltes] ein-pflanzen (insinuere) und dabei zugleich lehren was zu vermeiden ist Sie stellt vor Augen was durch die lectio der Schrift zur Unterweisung (eruditio) zur Ermahnung (exhortatio) zur Troumls-tung (consolatio) und zum Schrecken (terror) dient Hierdurch erleuchtet die tropologia dahin-gehend was zum Verstehen der Tugenden (virtus) fuumlhrt sie naumlhrt (nutrire) den Affekt (affectio) und lehrt (edocere) die Lebensfuumlhrung auf dem Pfad der Tugenden

Die Meditation der Sitten (mos) erfolgt gemaumlszlig der Affekte (affectus) der Erwaumlgungen (cogi-tationes) und der Werke (opera)

Hinsichtlich der Affekte ist zu betrachten wie sie recht und aufrichtig (rectus et sincerus) zu sein vermoumlgen damit ist gemeint auf das und zu was hin sie geschuldet sein muumlssen und in welcher Weise sie zu sein haben Zu differenzieren ist naumlmlich dass das was sich nicht gehoumlrt (non oportet) boumlse ist und zugleich das was sich gehoumlrt zu lieben ist ndash das zu lieben das sich gleichwie nicht gehoumlrt ist boumlse Daher handelt es sich um einen guten Affekt wenn er auf das ausgerichtet ist auf das er verpflichtet ist und in der Weise wie es sich gehoumlrt

Amnon liebte (diligere) seine Schwester und dies war der Affekt zu dem er bestimmt war doch weil er Boumlses begehrte war es nicht der Affekt wie er ihn schuldete (vgl 2 Sam 13) So kann der Affekt auf das gerichtet sein zu was er gehoumlrt dies aber nicht in der [angemessenen] Art und Weise Niemals aber kann der Affekt so sein wie er zu sein hat wenn er nicht auf das ihm Zugehoumlrige ausgerichtet ist Auf das ausgerichtet zu was er gehoumlrt bedeutet dass er recht ist und in der Art und Weise wie es sich gehoumlrt und dementsprechend ist er rein Daher werden die Affekte in den Erwaumlgungen betrachtet damit sie rein (mundus) und geordnet (ordi-natus) sind Rein sind sie wenn weder etwas Boumlses von den Affekten hervorgebracht wird noch das Boumlse die Affekte hervorbringt Dass sie geordnet sind meint wenn sie vernuumlnftigerweise aufgrund des ihnen eigenen Anlasses (suo tempore) aufkommen (advenire) Es ist nicht ohne Schaden (vitium) [naumlmlich im Sinne des korrekten Vorgehens nicht ohne Formfehler] bereits das Gute zu einem diesem nicht angemessenen Zeitpunkt zu erwaumlgen wie etwa an die lectio waumlhrend der oratio zu denken oder auch an die oratio waumlhrend der lectio

Bei den Werken ist als erstes zu betrachten was zum Beispiel durch die gute Absicht (bona intentio) geschieht Um eine gute Absicht handelt es sich wenn sie einfach und aufrichtig ist

288 Anselm Rau und Johanna Scheel

(simplex et recta) Die bona intentio ist arglos ohne Hinterlist (malitia) und aufrichtig ohne Ignoranz (ignorantia) Die naumlmlich ohne Hinterlist ist besitzt den Eifer (zelus) Ist sie aber aus der [bewussten] Unkenntnis gegenuumlber dem Wissen (scientia) (Roumlm 102) geboren verfuumlgt sie nicht uumlber den [wahren] Eifer Daher ist es notwendig dass die Absicht aufrichtig ist in der Bescheidenheit (discretio) und arglos im Wohlwollen (benignitas) Bei den Werken ist zu be-trachten dass sie aus der aufkommenden guten Absicht heraus mit beharrlicher Leidenschaft (fervor) schlieszliglich ans Ziel gefuumlhrt werden damit nicht die Beharrlichkeit (perseverantia) ge-laumlhmt (torpere) und die Liebe (amor) nicht lau wird (tepescare)

Auf gleiche Weise erfolgt die meditatio der Sitten in einer zweifachen Betrachtung naumlmlich einer inneren und einer aumluszligeren Die aumluszligere blickt auf das Ansehen (fama) die innere auf das Gewissen (conscientia) Die aumluszligere Betrachtung erfolgt gemaumlszlig dem was ziert (decere) und was nuumltzt (expedire) was als Beispiel (exemplum) dient und was den Lohn (meritum) hervorbringt ndash uns zum Lohn und den Naumlchsten als Beispiel Die innere Betrachtung dagegen schaut auf das Gewissen damit es rein (mundus) sei ohne Anklage (accusatio) zu erleiden (pati) ob nun durch die Laumlhmung (torpor) des Guten oder die Hartnaumlckigkeit (praesumptio) des Boumlsen Rein ist aber jenes Gewissen das weder durch das Vergangene zu recht angeklagt (accusare) noch durch das Gegenwaumlrtige unrechtmaumlszligig erfreut (delectare) wird

Daher laumlsst die meditatio der Sitten ihre Betrachtung nicht ruhen damit sie jegliche Re-gungen (motus) die sich im Herzen erheben bemerkt und erwaumlgt woher sie kommen und worauf sie abzielen (tendere) Das heiszligt woher sie kommen gemaumlszlig ihrem Ursprung und wo-nach sie streben hinsichtlich ihres Ziels Alles ist naumlmlich eine Bewegung aus irgendetwas und auf irgendetwas Die Bewegungen des Herzens sind manchmal offenkundigen Ursprungs manchmal entspringen sie aber auch Verborgenem Bei denen der Ursprung offenkundig ist ist er bisweilen durch das Gute bisweilen aufgrund des Boumlsen erwiesen Was offenkundig gut ist kommt von Gott was aber deutlich boumlse erscheint entspringt entweder dem Teufel oder dem Fleisch Dies sind naumlmlich die drei Urheber (auctores) aller Vorstellungen (suggestio) und aller Eingebungen (aspiratio) die unsichtbar an das Herz herantreten und aus jenen drei hervor-gehen Entspringen die Bewegungen des Herzens daher dem Verborgenen koumlnnen sie manch-mal aus dem Guten und dem Geheimen hervorgehen und sind manchmal boumlse und zweifelhaft (dubius) Die dem Guten entspringen kommen von Gott die aber dem Boumlsen entstammen sind entweder des Teufels oder des Fleisches

Die Bewegungen die folglich offenkundig sind sei es im Guten oder Boumlsen werden auf den ersten Blick durch ihren Ursprung angezeigt Jene aber die zweifelhaft bleiben hinsichtlich ih-res Grundes sind am Ende zu uumlberpruumlfen (probare) Ihr Ergebnis [oder Ausgang] (exitus) zeigt naumlmlich deutlich was vom Ursprung her verborgen war und deswegen muss derjenige der es nicht vermochte den Ausgangspunkt seiner Herzensbewegungen zu beurteilen (iudicare) das Ziel und die Ausfuumlhrung [bzw Vollendung] (finis et consummatio) untersuchen (investigare) Die Bewegungen naumlmlich die zweifelhaft und ungewiss sind sind vom verborgenen Guten oder Boumlsen Wie gesagt wurde haben die schlechten Regungen ihren Ursprung entweder beim Teufel oder im Fleisch Diese aber sind beide boumlse sie unterscheiden sich nicht indem oder durch was sie boumlse sind doch unterscheiden sie sich dahingehend dass die Regungen des Her-zens die dem Fleisch entspringen haumlufig aus einer Notwendigkeit (necessitas) heranwachsen

Meditation und Gebet 289

die aber die tatsaumlchlich vom Teufel kommen nehmen noch oumlfter wider der Vernunft (ratio) ihren Anfang (oriri) Was naumlmlich vom Teufel eingegeben wird (suggerere) ist in der Tat dem Menschen fremd und wird deswegen haumlufig von der menschlichen Vernunft abgelehnt weil er beispielsweise unlaumlngst gesaumlttigt Hunger leidet (pati) kurz zuvor noch trunken (inebriatus) vor Durst (sitis) gluumlht (aestuare) oder wenn er nach einem ausgiebigen Schlaf (dormitio) sich erhebend vom Traum (somnus) bedruumlckt (praegravare) wird

Hieraus also werden die Werke des Teufels differenziert betrachtet weil sie ja an den Men-schen von auszligen herangetragen werden und der menschlichen Vernunft fremd sind Bei den Werken des Fleisches und ihren Eingebungen liegt der Grund des Oumlfteren in einer vorangegan-genen Notwendigkeit Aber weil sie Ziel und Maszlig (modus et mensura) uumlbersteigen wachsen sie zum Uumlberfluss (superfluitas) heran Dies ist als Beispiel eben gerade dann der Fall wenn nach der Einnahme einer Mahlzeit der Hunger hemmungslos (immoderatus) begehrt (appetere) und nach Enthaltsamkeit (abstinentia) das Maszlig (mensura) bei der Aufnahme von Speise (edulium) nicht gehalten wird

Daher wird die meditatio der Sitten aufgrund eines dreifachen Urteils betrieben Das erste urteilt zwischen Tag und Nacht das zweite zwischen Tag und Tag und das dritte schlieszliglich untersucht den gesamten Tag (vgl Roumlm 145) Zwischen Nacht und Tag zu urteilen meint das Boumlse vom Guten zu (unter-)scheiden Die Beurteilung zwischen Tag und Tag bedeutet eine Un-terscheidung zwischen etwas Gutem und etwas Besserem vorzunehmen Uumlber den gesamten Tag zu richten ist schlieszliglich das einzelne Gute fuumlr den eigenen Lohn zu ermessen (aestimare)

So hat die meditatio der Sitten bei jeglichem Umgang (conversatio) das Ziel und die Rich-tung (directio) im Blick Das Ziel ist wohin man strebt die Richtung wodurch man leichter ans Ziel gelangt Jeder naumlmlich der zu irgend etwas strebt so wie etwas seine Bahn (cursus) lenkt und unaufhoumlrlich weiterzieht kommt schneller ans Ziel Es gibt daher Gutes durch das man stark bewegt ist (moveri) zugleich gibt es aber wenig her durch das man vorankommt (pro-moveri) Anderes dagegen fuumlhrt mit etwas Muumlhe (labor) zu groszligem Gewinn (fructus) Und diese sind folglich zu unterscheiden und das Bessere das mehr nuumltzt auszuwaumlhlen Welches auch immer mehr nuumltzt ist besser und es gehoumlrt sich jedes Werk auf seinen Ertrag hin zu beurteilen Indem viele diese Unterscheidung (discretio) nicht einhielten haben sie sich zwar aufs aumluszligerste bemuumlht sind jedoch nur wenig vorangekommen weil sie das Auge aumluszligerlich so sehr auf die Gestalt (species) der Werke richteten und nicht innerlich auf den Gewinn durch die Tugenden blickten Sie ergoumltzen sich daran groszlige Taten zu verrichten anstatt dass sie das Nuumltz-liche (utilia) uumlben (exercere) um sich selbst zu bessern (emendari) Dabei schaumltzten (diligere) sie vielmehr das durch das sie den Anschein erwecken (videri) konnten [so zu sein]

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zunaumlchst das was man schuldet entweder auf-grund einer Vorschrift (praeceptum) oder eines Geluumlbdes (votum) Diesbezuumlglich ist die erste Tat der meditatio zu ermitteln ist sie oder es erfuumlllt fuumlhrt es zum Lohn und wenn nicht bringt dies den Anklagezustand (reatus) hervor Es sind also zuerst die Dinge zu tun die nicht ohne Schuld (culpa) weggelassen werden koumlnnen Danach ist die meditatio alsdann so zu verrichten dass wenn etwas durch freiwillige Uumlbung (exercitatio) noch hinzugefuumlgt wird die Pflicht-erfuumlllung [eigtl Schuld] (debitum) nicht verhindert wird (impedire) Die einen die das nicht zu leisten vermoumlgen was sie schulden wollen was sie nicht muumlssen Die anderen wenn sie im-

290 Anselm Rau und Johanna Scheel

stande sind zu tun was sie schulden bringen freiwillig Hindernisse (impedimentum) mit sich indem sie etwas wollen was sie nicht muumlssen

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zwei Dinge des Boumlsen vor denen man bei der Ver-richtung von Gutem besonders auf der Hut sein muss die Betruumlbnis [Niedergeschlagenheit] (afflictio) und die Besessenheit [Vereinnahmung] (occupatio) Die afflictio fuumlhrt zur Bitterkeit (amaritudo) die occupatio zur Zerstreuung (dissipatio) Mit der afflictio verbittert die Suumlszlige (dulcedo) des Geistes und mit der occupatio wird die Ruhe (tranquillitas) zerstoumlrt (dissipare) Es herrscht Betruumlbnis wenn man fuumlr jene Dinge die man nicht vermag aufgrund der eigenen Ungeduld (impatientia) ungluumlcklich wird (urere) Dagegen handelt es sich um Besessenheit (occupatio) wenn man in seinem Handeln (nach seinem Vermoumlgen) aufgrund der impatientia gequaumllt wird (agitare) Folglich darf die Seele (animus) nicht aufgrund des Boumlsen verbittert wer-den sie muss ihr Unvermoumlgen (impossibilitas) geduldig (patienter) aushalten Genauso darf sie aber auch nicht vom Boumlsen eingenommen werden und darf ihr Vermoumlgen (possibilitas) nicht uumlber ihr eigenes Maszlig hinaus ausdehnen (extendere) Daher muss die meditatio der Sitten in einer weiteren Betrachtung der Lebensfuumlhrung zu einem Urteil kommen und dabei billigen dass es weder gut ist die Dinge die man nicht vermag ungeduldig (impatienter) zu verlangen (appetere) noch die welche man erreicht toumlricht (insipienter) zu verschmaumlhen (fastidire) Wer naumlmlich immer das begehrt was er nicht vermag und das was er [jedoch] vermag verabscheut wird sich weder am Gegenwaumlrtigen erfreuen (frui) noch am Zukuumlnftigen saumlttigen (satiare) Er verlaumlsst naumlmlich das Gute unentwickelt vor der Vollendung und eignet sich das gerade erst Be-gonnene vorzeitig an Deswegen ist es gut aufgrund des eigenen Guten zufrieden zu sein und das gegenwaumlrtige Gute durch hinzukommendes Gutes zu vermehren und es nicht aufgrund des Zukuumlnftigen wegzuwerfen (abicere) Der Austausch (commutatio) des Guten ist naumlmlich ein Leichtes (levitas) seine Uumlbung (exercitatio) aber die Tugend Oft eilen sie auf unterschiedlichen Wegen die einen die ein fruumlheres durch ein neues Gutes fallen lassen (abicere) und die ande-ren die [sich] vom Untersten zum Houmlchsten emporschwingen (conscendere) Wer naumlmlich nach Veraumlnderung (mutatio) fragt ist uumlberdruumlssig (fastidiosus) so wie der der nach dem Voran-schreiten (profectus) strebt eifrig bemuumlht ist (studiosus) Am aufrechtesten beschreitet daher derjenige den Weg der dabei so auf das Bessere brennt (fervere) dass er des Guten nicht uumlber-druumlssig wird sondern es vorerst empor haumllt solange bis er es spaumlter zu der ihm angemessenen Zeit sich aneignet (apprehendere)

Abbildungsnachweis

Einband Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders

Farbtafeln 1 (zu Beitrag Rosenwein) Coll BNU de Strasbourg ndash 2 (zu Beitrag Ferguson) Ar-chiv der Verf ndash 3 (zu Beitrag Herding) Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preu-szligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders ndash 4 (zu Beitrag Droste) R Kahsnitz Die Groszligen Schnitzaltaumlre Spaumltgotik in Suumlddeutschland Oumlsterreich Suumldtirol Muumlnchen 2005 Taf 53 ndash 5 6 (zu Beitrag Schedl) 75 Jahre 1933ndash2008 Kirche Mutter vom Guten Rat Festschrift und Chro-nik FrankfurtM 2008 S 92 Dr Bernd Konrad Radolfzell ndash 7 8 9 (zu Beitrag Zaumlh) Archiv des Autors ndash 10 (zu Beitrag Niehr) Universitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Media-thek 11 12 (zu Beitrag Muumlller) Autorin ndash 13 14 15 (zu Beitrag Schlie) Su concessione del Ministero dei beni e delle attivitagrave culturali e del turismo ndash Galleria Nazionale delle Marche ndash Urbino Archivio fotografico Archiv der Verf F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 ndash 16 17 (zu Beitrag Stoichita) D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 ndash 18 19 20 (zu Beitrag Schmidt) London British Museum C Geissmar-BrandiE Louis (Hgg) Glaube Hoffnung Liebe Tod Wien 1995 S 149 Archiv Autor ndash 21 (zu Beitrag Jung) Autorin

Textabbildungen Droste 1 3 4 Autorin 2 E Oellermann Der Hochaltar in St Martin zu Lorch am Rhein in H KrohmE Oellermann (Hrsg) Fluumlgelaltaumlre des spaumlten Mittelalters Ber-lin 1992 Abb 2 ndash Ferguson 1ndash3 Archiv der Verf ndash Frese 1 2 3 5 M BrandtA Eggebrecht (Hgg) Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen Katalog der Ausstellung Hil-desheim 1993 Bd 1 S 386f Abb 197 u 198 Bd 2 S 583 KatNr VIIIndash32 S 604 KatNr IXndash8 4 G LutzA Weyer (Hgg) 1000 Jahre St Michael in Hildesheim Kirche ndash Kloster ndash Stifter Peterberg 2012 S 148 Abb 118 ndash Gruumlndler 1ndash4 L DomenicoA Nova (Hg) Leonardo da Vincirsquos Anatomical World Language Context and Disegno Akten der Internationalen Tagung Florenz 30ndash31 Mai 2008 Venedig 2011 S 237 S 236 S 241 S 186 5 6 Le journal de Jacopo da Pontormo traduit par Jean-Claude Lebensztejn avec la collaboration drsquoAlessandro Parronchi Paris 1992 S 46 S 50 ndash Herding 1 2 3 4 5 6 7 Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders 8 Max J Friedlaumlnder Early Netherlandish Painting 14 vols Leiden und Bruumlssel 1967ndash1974 vol II 1967 pl 10 Nr 3i 9 Wolfenbuumlttel Herzog-August-Bibliothek ndash Jung 1 2 3 4 5 Autorin ndash Kessler 1 6 7 Autor 2 3 Museo delle Terme Rom 4 British Museum London 5 Alexei Lidov ndash Maxwell 1 2 AHN 3 Autor 4 Sancho el Mayor y sus herederos ed I Bango Torviso et al 2006 cat 25 5 BNE ndash Muumlller 1 Italian painting c 1330ndash1550 I National Gallery in Prague II Collections in the Czech Repub-lic Illustrated summary catalogue Prag 2008 2 Collection of The John and Mable Ringling Museum of Art the State Art Museum of Florida Florida State University 3 2014 copy Archivio Fotografico ndash Fondazione Musei Civici di Venezia ndash Niehr 1 A Schuttwolf (Hg) Ausst-Kat Jahreszeiten der Gefuumlhle Das Gothaer Liebespaar und die Minne im Spaumltmittelalter Ostfil-

400 Abbildungsnachweis

dern-Ruit 1998 2 D de Vos Hans Memling Das Gesamtwerk AntwerpenStuttgart 1994 S 278ndash283 TH Borchert Hans Memling Portraits Stuttgart 2005 S 173f Nr 23 3 Univer-sitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Mediathek ndash Pfisterer 1 E Steinmann ldquoLa mano di Michelangeloldquo in Studien aus Kunst und Geschichte Friedrich Schneider zum siebzigsten Geburtstag Freiburg iBr 1906 unnum Taf 2 R Bernini ua La mano e il volto di Antonio Canova PossagnoQuinto di Treviso 2008 S 197 3 U Klein Zur Forschungsgeschichte des Duumlrer-Hauses in GU GroszligmannF Sonnenberger (Hgg) Das Duumlrer-Haus Neue Ergebnisse der Forschung Nuumlrnberg 2007 S 105 nach Carl A Heideloff Die Ornamentik des Mittelalters Bd 3 Nuumlrnberg 1847 S 42 4 WH Vroon Het wonderlid van Jan de Witt en andere vaderland-se relieken Nijmegen 1997 S 68 5 Autor nach GF Tomasini Petrarca Redivivus Padua sup21650 S 128 6 A Picturesque Tour Through Holland Brabant and Part of France made in the autum of 1789 by Samuel Ireland London sup21796 Bd 2 Taf nach S 13 ndash Pinkus 1 2 3 4 5 6 Autor 7 8 Institut fuumlr Kunstgeschichte Universitaumlt Wien Fotothek ndash RauScheel 1 M Gregori Uf-fizien und Palazzo Pitti Muumlnchen 1994 S 31 2 Den Haag Koninklijke Bibliotheek ndash Raeck 1 2 5 7 Fotothek des Instituts fuumlr Archaumlologische Wissenschaften AbtI Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main 3 Zeichnerische Rekonstruktion M Junghans nach H-V Herrmann Olympia ndash Heiligtum und Wettkampfstaumltte Muumlnchen 1972 Abb 95 4 Antikensammlung Staatliche Museen zu Berlin Foto Johannes Laurentius 6 W Riezler Weissgrundige attische Lekythen Muumlnchen 1914 Taf 23 8 Deutsches Archaumlologisches Institut Athen Fotothek ndash Reudenbach 1 F MuumltherichJE Gaehde Karolingische Buchmalerei Muumlnchen 1979 Taf 4 2ndash4 httpwwwbibliotheca-laureshamensis-digitalde (Zugriff 20022014) ndash Schmengler 1 2 3 Torsten Saumlnger Frankfurt 4 5 6 Eric Tschernow Berlin ndash Schedl 1ndash3 Dr Bernd Konrad Radolfzell 4 FrankfurtMain-Niederrad Pfarrarchiv der katholischen Kirchengemeinde Mut-ter zum Guten Rat ndash Schlie 1 Archiv der Verf 2 Archiv der Verf + D E Katz The Contours of Tolerance Jews and the Corpus Domini Altarpiece in Urbino in Art Bulletin 85 (2003) S 647ndash661 S 647 3 F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 Schmidt 1 2 London British Museum 3 M Geisberg Der Meister ES Leipzig 21924 4 Archiv Autor ndash Taxer 1 2 O Paumlcht Altniederlaumlndische Malerei Von Rogier van der Weyden bis Gerard David Muumlnchen 1994 Abb 91 S 118 Abb 93 S 120 3 4 E Panofsky Die altniederlaumlndische Malerei Ihr Ursprung und Wesen Bd 2 Koumlln 2006 Abb 387 S 236 Abb 358 S 214 ndash Stoichita 1 D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 2 3 J Bialostocki Les Museacutees de Pologne Bruxelles 1966 ndash Zaumlh 1 2 Archiv des Verf 3 Metropolitan Museum of Art Bulletin 58 (2001) S 17 4 G ForsythK Weitzmann The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai The Church and Fortress of Justinian Plates Ann Arbor (Mi) 1973 Plate 121

Rebecca Muumlller Anselm Rau Johanna Scheel (Hrsg)

Theologisches Wissen und die Kunst

Festschrift fuumlr Martin Buumlchsel

Gebr Mann Verlag Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie detaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlber httpdnbd-nbde abrufbar

copy 2015 by Gebr Mann Verlag Berlin wwwgebrmannverlagde

Alle Rechte insbesondere das Recht der Vervielfaumlltigung und Verbreitung sowie der Uumlbersetzung vorbehalten Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form durch Fotokopie Mikrofilm CD-ROM usw ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet vervielfaumlltigt oder verbreitet werden Bezuumlglich Fotokopien verweisen wir ausdruumlcklich auf sectsect 53 54 UrhG

Gedruckt auf saumlurefreiem Papier das die US-ANSI-NORM uumlber Haltbarkeit erfuumlllt

Umschlaggestaltung unter Verwendung von Farbtafel 3 Jacob Claesz van Utrecht Kreuzabnahme Triptychon Mitteltafel 1513 Berlin Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P AndersLayoutkonzeption MampS Hawemann Berlin Satz Gebr Mann Verlag Berlin Druck und Verarbeitung druckhaus koumlthen GmbH KoumlthenSchriftart Minion Papier 135g BVSPrinted in Germany ISBN 978-3-7861-2753-6

Gedruckt mit Unterstuumltzung von

Dr Marschner Stiftung

Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung fuumlr Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

Wilhelm-Hahn-und-Erben-Stiftung

Richard Stury Stiftung

Meditation und Gebet ndash Affektsteuerung und Imagination durch Wort und Bild in der mittelalterlichen Devotionspraxis

Anselm Rau und Johanna Scheel

Einleitung

Kernelement der mittelalterlichen Praktiken in Meditation und Gebet ist die habituelle und emotionale Ausrichtung auf Gott in der Nachfolge Christi Gerade die Kunstgeschichte ist da-rum bemuumlht Devotionspraktiken zu untersuchen und ihre Bedeutung fuumlr die Kunst des Mit-telalters erfahrbar greifbar und damit lesbar zu machen Dabei geht es nicht darum einzelnen Bildwerken bestimmte Gebetstheorien als motivgebendes Programm zu hinterlegen sondern Bildwerke als Hilfsmittel im Gebet in den durch diese Theorien ausformulierten Kontext zu stellen und ihre Funktion fuumlr den betenden Bildbetrachter zu diskutieren Als Grundlage hier-zu bedarf es der zeitgenoumlssischen theoretischen und theologisch-philosophischen Begruumlndung von Meditation und Gebet Die Werke Hugos von St Viktor vor allem das eher traditionelle Traktat De meditatione und die innovative Schrift De modo orandi bieten sich aufgrund ihrer Rezeption und weiten Verbreitung als auch wegen ihrer intellektuellen Qualitaumlt bei gleichzeiti-ger Anschaulichkeit zur Beschreibung und Analyse des Wesens der Struktur und des Vollzugs der Meditation und des stufenweisen emotionalen Gebets im Mittelalter an Durch die von Hugo als Anwendungsbeispiele gewaumlhlten Psalmentexte lassen sich daruumlber hinaus schlaglicht-artig diachron Vergleichsbeispiele eroumlffnen und zwar mit dem im 13 Jahrhundert entstande-nen Lignum Vitae Bonaventuras und mit De spiritualibus ascensionibus des Gerard Zerbolt von

268 Anselm Rau und Johanna Scheel

Zutphen aus dem 15 Jahrhundert Hieran kann ebenfalls die Ruumlckbindung des Stufengebets an Bildbeispielen erprobt werden

De meditando

In De meditando1 behandelt Hugo die Meditation deren spirituelle Abfolge er in lectio medita-tio oratio operatio und contemplatio strukturiert2 Die uumlbliche monastische Stufenabfolge im Gebet zeigt als festes Geruumlst den Dreischritt aus lectio meditatio oratio der ab dem 12 Jahr-hundert nicht nur bei Hugo sondern beispielsweise auch bei Guigo dem Kartaumluser in seiner Scala claustralium um die contemplatio erweitert wird3 Weitere oder andere Hinzufuumlgungen zu dem Tenar wie hier die operatio oder die Ausgestaltung der Unterteilungen der Stufen koumlnnen von Autor zu Autor variieren Letztendlich ist die Verbindung von Bibellektuumlre und Meditation durch Hugo nicht innovativ sondern allgemeine monastische Praxis Gemaumlszlig der philosophischen Logik erfolgt dabei die Eroumlrterung der Dinge und Sachverhalte nach Hugo uumlber die Erwaumlgung ihrer Ursachen und ihrer inneren Beweggruumlnde sowie hinsichtlich der ka-tegorialen Unterscheidung des Schriftsinnes nach historia allegoria und tropologia

Die Evidenz der Affekte4 bei Meditation und Gebet findet allerdings ungewoumlhnlich starke Betonung in De meditando Anhand des inhaltlichen Leitgedankens des gesamten Traktats aus Psalm 3627 (Vg) Declina a malo et fac bonum verifiziert Hugo bei der Erlaumluterung der gerade

1 Hugo von St Viktor De meditando PL 176 993ndash998 Eine Uumlbersetzung auf Grundlage der Ausgabe von Migne findet sich am Ende des Beitrages vorgenommen wurde ein Abgleich des Texte mit der nicht kritischen Edition und der franzoumlsischen Uumlbersetzung bei Baron ndash vgl R Baron Six opuscules spirituelles La Meacuteditation La Parole de Dieu La reacutealiteacute de lrsquoAmour Ce qursquoil faut aimer vraiment Les cinq Septeacutenaires Les sept Don de lrsquoEsprit-Saint Einfuumlhrung Textkritik Uumlbersetzung und Anmerkungen von R Baron Paris 1969 S 44ndash59 Weitere Titel des Textes De generibus meditationum et quae sit utilitas eorum und De meditatione siehe ebd S 9 Es sind insgesamt 103 Abschriften erhalten ndash 20 aus dem 12 Jh 29 aus dem 13 Jh 17 aus dem 14 Jh und 34 aus dem 15 Jh Vgl R Goy Die Uumlberlieferung der Werke Hugos von St Viktor Ein Beitrag zur Kommunikationsgeschichte des Mittelalters Stuttgart 1976 S 196ndash211 hier S 211 Im Gegensatz zu De modo orandi wurde De meditando nicht in Volkssprache uumlbertragen vgl ebd S 501ndash504 Die Aufmerksamkeit der Forschung fuumlr dieses kurze Traktat ist relativ gering einige seiner Besonderheiten bei Baron op cit S 11ndash172 Diese StufungAbfolge bietet er auch im Didascalicon Hugo von St Viktor Didascalicon de studio legendi Studienbuch uumlbers u eingel v Th Offergeld Freiburg [ua] 1997 59 S 348349 bdquoVier Dinge sind es durch die nun das Leben der Gerechten zur Ausuumlbung gelangt und sich gleichsam auf vier Stufen zur zukuumlnftigen Vollkommenheit erhebt naumlmlich das Studium oder die Belehrung die Meditation das Gebet und das Handeln Darauf folgt noch eine fuumlnfte Stufe die Kontemplation []ldquo Aumlhnlich auch in De archa noe moralia Eine teils woumlrtliche Meditationslehre wiederholt Hugo in In salomonis Ecclesiasten homilia 191 An anderer Stelle wird der Dreischritt mitunter in meditatio speculatio contemplatio umgewandelt Vgl K Ruh Geschichte der abendlaumlndischen Mystik Bd 1 Die Grundlegung durch die Kirchenvaumlter und die Moumlnchstheologie des 12 Jahrhunderts Muumlnchen 1990 S 367f 3 Guigo der Kartaumluser Scala claustralium Die Leiter der Moumlnche zu Gott 2 verb Aufl hg v D Tibi OSB Nordhausen 2009 Eine direkte Abhaumlngigkeit Guigos von Hugo muss dies allerdings nicht bedeuten vgl Ruh (cf Anm 2) S 2224 Auch in De comtemplatione nehmen die Affekte einen besonderen Raum ein ndash affectus wird nicht definiert aber als Streben nach Demut Liebe und ad contemplationis puritatem beschrieben (so Ruh (cf Anm 2) S 374 dort noch Weiteres zu den Unterstufen der einzelnen Stufen)

Meditation und Gebet 269

vom tropologischen Aspekt geleiteten Meditation der Sitten den Charakter und den Nutzen der Affekte Die tugendhafte Lebensfuumlhrung im Denken und Handeln konstituiert sich aus der Erkenntnis der nach der Vernunft geordneten und auf das Ziel Christus ausgerichteten rechtmaumlszligigen und reinen affectus Der Affekt als motus cordis ist in augustinischer Tradition untrennbar mit dem Willen (voluntas) als Vermoumlgen der Seele verknuumlpft Dadurch ist alles ge-ordnet nach der Vernunft ein Akt des Willens in strebendem Verlangen (cupiditas) oder in Furcht (timor) begruumlndeter Ablehnung und dessen Vollzug in Freude (laetitia) oder Trauer (tristitia)5 Aufgrund der tiefen postlapsalen Ambivalenz der Bewegungen des Herzens in dem was es liebt unbeherrscht nach der cupiditas und geordnet nach der caritas bedarf es zudem der umsichtigen circumspectio (Betrachtung) ob die affectus im Guten oder Boumlsen begruumlndet sind6 Konkret bedarf es der eindringlichen Betrachtung in der meditatio die den Ursprung der Affekte untersucht sowie den Antrieb (appetitus) des Willens7 Zu ergruumlnden ist also im Idealfall die bona intentio dh der rechtschaffene Anlass der affectus und der fuumlr sie unabding-bare auf das rechtmaumlszligige Ziel in unablaumlssiger Beharrlichkeit ausgerichtete Eifer (zelus) Bei der meditatio handelt es sich gewissermaszligen um die Begutachtung der Zielrichtung (directio) der affectus das heiszligt ausgehend von ihrem Ursprung uumlber den eigentlichen Vollzug bis schlieszliglich in ihrer Vollendung ein Abgleich mit dem angestrebten Objekt moumlglich ist Hierdurch bildet die Meditation und mit ihr auf dieser aufbauend die contemplatio den eigentlichen Denkprozess und zugleich seine Ergebnisse Affectus besitzt somit einen kognitiven Inhalt bzw die Kognition ist affektiv bestimmt der Affekt ist letztlich Ausgangspunkt Mittel und Ziel des Denkens da erst uumlber ihn die Angleichung an Gott in Christus moumlglich ist Letztlich kann Gott nur uumlber die Liebe erkannt werden

In De meditando ist es Hugo ein Anliegen anhand der fortwaumlhrenden Gegenuumlberstellung der Betrachtung bzw Ergruumlndung des Guten und des Boumlsen die Notwendigkeit der richtigen Reihenfolge der Gebetsschritte zu betonen sowohl was das strebende Verlangen nach dem Gu-ten betrifft als auch seine praktische Ausfuumlhrung Dies beweist der Anfangspunkt der inneren Gewissenspruumlfung als Prozess von Reue und Buszlige in der Abwendung von den Lastern und der damit verbundenen emotionalen Dispositionen Denn nicht die rein aumluszligerliche und theo-retische Betrachtung der guten Werke und das durch sie erworbene Ansehen sind nuumltzlich sondern die Betrachtung des inneren Gewinns durch die Tugenden Gutes zu unterlassen bleibt nicht ohne Schuld und ist als Fehler oder Schaden was die Struktur der meditatio betrifft so-wohl hinsichtlich des schematisierten Meditationsablaufes als auch bezuumlglich des persoumlnlichen

5 Augustinus De civitate Dei hg v B DombartA Kalb Turnhout 1955 pars II Civitas terrena et civitas caelestis 14 6 S 421 ndash ebenso Augustinus De civitate Dei (1955) pars II 14 7 S 422 Zur Theorie des Willens bei Augustinus siehe A Dihle The Theory of Will in classical Antiquity Berkeley[ua] 1982 S 123ndash1446 Circumspectio wird der Kardinaltugend der prudentia zugeordnet spaumlter dann gerade auch bei Thomas v Aquin vgl Ruh (cf Anm 2) S 373) Auszliger in De meditando vgl zur circumspectio bei Hugo von St Viktor De institutione novitiorum De virtute orandi De laude caritatis De arrha animae hg v H B FeissP SicardD Poirel Turnhout 1997 S 46 413ndash423 Fuumlr weitere Beschaumlftigung mit der Sicht Hugos auf die Tugenden siehe I vanrsquot Spijker Hugh of Saint Victorrsquos Virtue Ambivalence and Gratuity in I P BejczyR G Newhauser (Hgg) Virtue and Ethics in the Twelth Century Leiden 2005 S 75ndash94 ebenso in I vanrsquot Spijker The Multiple Meaning of Scripture The Role of Exegesis in Early-Christia and Medieval Culture Leiden 2009 S 2262277 Vgl auch Hugo In Ecclesiasten I 116 (fuumlr 161) D - 117A

270 Anselm Rau und Johanna Scheel

Vorankommens ein Formfehler (vitium) Erleuchtendes Mittel der meditatio ist die lectio in ihren ermahnenden troumlstenden und Furcht evozierenden Unterweisungen Diese fuumlhren zu einem Verstehen der Tugenden (virtus) und naumlhren die affectio welche erst die Lebensfuumlhrung auf dem Pfad der Tugenden generiert Damit spielt Hugo auf den Aspekt des stufenweisen Vo-ranschreitens (profectus) an der sich im Erkennen und Vollzug der Affekte ausgerichtet auf das Ziel selbstreflexiv konstituiert Diesbezuumlglich ist die Ermahnung Hugos entscheidend sich vor der Betruumlbnis des anfaumlnglichen eigenen Unvermoumlgens zu huumlten um das houmlhere Gute zu erreichen Zugleich warnt er aber auch vor der Vereinnahmung durch ablenkende Zerstreu-ung die eine sprunghafte ungeduldige Betrachtung des einzelnen Guten nach sich zieht Hier spricht Hugo zwei grundlegende das Verstaumlndnis des Aufstiegs betreffende Aspekte an Man muss aufgrund des nach eigenem Vermoumlgen erreichten Guten zufrieden sein und dabei auch persoumlnliche Unzulaumlnglichkeiten ertragen (patienter) lernen Das erreichte Gute ist dabei das Fundament auf das Zukuumlnftiges aufzubauen ist eilt man unstet von einem zum naumlchsten geht das bereits Erreichte verloren Erst durch die fortwaumlhrende Uumlbung festigen sich die Tugenden was im Umkehrschluss ein Voranschreiten in der diese selbst konstituierenden affectio erst er-moumlglicht

Die Augustinische Tradition in die sich Hugo stellt macht bereits der einleitende Satz von De meditando deutlich Meditatio est frequens cogitatio modum et causam et rationem unius cuiusque rei investigans8 In dem Pseudo-Augustinischen Traktat De spiritu et anima9 findet man ihn einmal woumlrtlich einmal in einer Abwandlung Der woumlrtlich uumlbereinstimmende Satz taucht in Kapitel 38 auf das von der Definition der Seelenkraumlfte handelt die im Anschluss als ingenium ratio intellectus und intelligentia definiert und durch contemplatio und caritas flankiert werden Eingebettet ist dieser Teil in die Diskussion der Seele als Abbildung und Aumlhn-lichkeit Gottes die es wiederherzustellen gelte Die zweite abgewandelte Version des Zitats findet sich in Kapitel 50 und verbindet die Meditation mit Weisheit Zerknirschung Devotion Gebet und Affekt bdquoMeditatio siquidem parit scientiam scientia compunctionem compunctio devotionem devotio perficit orationem Meditatio est frequens cogitatio curiosa et sagax ob-scura investigare et occulta ad notitiam trahere Scientia est quando homo ad cognitionem sui assidua meditatione illuminatur Compunctio est quando ex consideratione malorum suorum cor interno dolore tangitur Devotio est pius et humilis affectus in Deum humilis ex conscientia infirmitatis propriae pius ex consideratione divinae clementiae Oratio est mentis devotio id est conversio in Deum per pium et humilem affectum Affectus est spontanea quaedam ac dul-cis ipsius animi ad Deum inclinatio Nil enim ita Deum inclinat ad pietatem et misericordiam quemadmodum purus mentis affectusldquo

Letztendlich muumlndet eingeleitet durch das schlagwortartige bdquoDevotio est pius et humilis affectus in Deumldquo die Meditation im Affekt durch den das Gebet selbst als mentis devotio auf Gott hin vollzogen wird Waumlhrend Hugo diesen letzten Part in De meditando nicht uumlbernimmt

8 Diesen Satz findet man ebenfalls in Abwandlung in dem Ps-Hugonischen Traktat De contemplatione et eius speciebus vgl zu diesem Traktat Ruh (cf Anm 2) S 370ndash3809 PL 40 Col 779

Meditation und Gebet 271

begegnet er jedoch in einem anderen Traktat Hugos De modo orandi als zentrale Aussage wie-der Fuumlr De meditando kann er als bestimmender Unterton angenommen werden

De modo orandi

In De modo orandi10 setzt Hugo von St Viktor die rhetorische Form des Gebets in Relation zu Intention und Emotion des Betenden und legt das komplex verwobene Verhaumlltnis von Wort und Emotion systematisch dar Dabei ist die starke Betonung der zentralen Rolle der Affekte innerhalb des Gebets bis dahin einzigartig Hugo aumluszligert sich sogar so dass den frommen Af-fekten die gesamte Kraft des Gebets inne wohne bdquoin affectibus pietatis est omnis virtus orandildquo11

Nach einem Abriss uumlber den generellen Aufbau des Gebets der oratio12 die ausgehend von der meditatio der zweifachen Erkenntnis naumlmlich der eigenen Fehler wie der Barmherzigkeit Gottes zur compunctio13 fuumlhrt und diese in die devotio uumlberfuumlhrt (Kap 1) werden anhand rhe-torischer Formen die verschiedenen Gebetskategorien klassifiziert (Kap 2ndash3) Hiermit gelingt es Hugo nicht nur grundlegende Bestandteile oder Uumlberbegriffe des Gebets detaillierter zu un-terscheiden sondern diese kategorisierende Herangehensweise in einen Zusammenhang mit praktisch brauchbaren Gebetstexten und -worten zu stellen Dies geschieht zunaumlchst ebenfalls in einem engen Theoriegeruumlst in dem die oratio in supplicatio (das demuumltige Gebet) postulatio (die Anrufung) und insinuatio (die versteckte Andeutung) geschieden wird und diese drei Ge-

10 266 Handschriftenexemplare von De modo orandi sind vorhanden mehr als hundert entfallen auf das 15 Jh Vgl Hugo von St Viktor 1997 (cf Anm 6) S 118 ausfuumlhrlicher dazu Goy (cf Anm 1) Laut Goy ist De modo orandi nach dem Soliloquium de arra animae das weitverbreitetste Werk Hugos (12 Jh 42 13 Jh 34 14 Jh 40 15 Jh 105 uumlberlieferte Exemplare) ebd S 506 Diese Verteilung und der prononcierte Sprung im 15 Jh entsprechen nicht der Verbreitungsintensitaumlt aller Schriften Hugos durch die Jahrhunderte die Goy S 509 mit 852 im 12 Jh 665 im 13 Jh 331 im 14 Jh und 674 im 15 Jh beziffert Im 15 Jh findet sich die hohe Verbreitung vor allem im deutschen Raum sowie durch das Gebiet zwischen Rhein und Schelde Goy sieht den Grund in den Klosterreformen der Windsheimer Kongregation und somit der Devotio Moderna an ebd S 51711 De modo orandi Kap 712 Dabei ist die oratio hier nicht eins zu eins mit dem Begriff der oratio in De meditando gleichzusetzen dies ist ein generelles Problem bei dem Versuch aus den Werken Hugos einheitliche Begriffsdefinitionen zu destillieren ndash oftmals werden Begriffe mehrfach belegt und erscheinen gerade in systematischen Abhandlungen die eigentlich von Begriffsschaumlrfe abhaumlngig sind zuweilen an verschiedenen Stellen ein und desselben Systems mit anderen Konnotationen Vgl zB De contemplatione wo dies mit dem Begriff der contemplatio geschieht oder in De modo orandi wo oratio einmal als uumlbergeordnete Kategorie und einmal als Unterkategorie der supplicatio in Form der pura oratio erscheint13 Hugo benutzt hier das Schriftwort bdquoJe mehr der Mensch seine Fehler erkennt desto mehr seufzt und klagt er (Pred 118)ldquo Compunctio bzw contritio bezeichnet die aufrichtige traumlnenreiche Reue und Zerknirschung die den Auftakt jedes Gebets sein sollten Siehe Chr Swift A Penitent Prepares Affect Contrition and Tears in E Gertsman (Hg) Crying in the Middle Ages Tears of History New York 2012 S 79ndash101 Vgl dazu auch S Grosse Heilsungewiszligheit und Scrupulositas im spaumlten Mittelalter Studien zu Johannes Gerson und Gattungen der Froumlmmigkeitstheologie seiner Zeit Tuumlbingen 1994 S 181ff Sie ist Teil der religioumlsen Praxis und erhaumllt ab dem beginnenden 13 Jh einen festen Platz als Teil des Beichtsakraments ab dem 15 Jh erfaumlhrt sie innerhalb dieses institutionalisierten Gebrauchs eine starke Bedeutungszunahme sogar die der eigentlichen satisfactio uumlberfluumlgelnd

272 Anselm Rau und Johanna Scheel

betsarten ebenfalls mit drei Unterkategorien ausgestattet werden Die Begrifflichkeiten sind der antiken Rhetorik entlehnt an der Hugo seine Rhetorik des Gebets entwickelt indem er auf eine sehr anwendungsbezogene Weise bestimmte Affekte in sie einbindet Die captatio ndash eine Unterart der supplicatio ndash soll beispielsweise in der antiken Rhetorik eine emotional positive Einstimmung des Angesprochenen ndash im Gebet waumlre dies Gott ndash bewirken14 bei Hugo dient sie jedoch daruumlber hinaus stark der eigenen emotionalen Vorbereitung des Betenden Die Gebets-worte haben nach Hugo ausdruumlcklich die Funktion im Betenden diejenigen Affekte entstehen lassen die der Bitte entsprechen

Form ndash Intention ndash Emotion

Dass festgelegte traditionelle Gebetsworte vorgegeben sind wiederspricht dieser Funktion dabei in keinster Weise Hugo zeigt dies daran dass er gerade Psalmentexte benutzt um seine Vorstellungen von affectus und davon wie dieser im Gebet erzeugt werden kann zu entwickeln (Kap IV) Waumlhrend die richtige (rhetorische) Form der Bitte fuumlr die Ansprache Gottes wichtig sei sei sie fuumlr den Betenden einerseits notwendig damit er sein eigenes Gebet besser verstehen koumlnne er nochmals in der meditatio uumlberlege worum er bitte und vor allem damit er dadurch noch hingebungsvoller mit staumlrkerer devotio bete Erst durch diese vollkommene Hinwendung der Seele des Betenden zu Gott in hingebungsvollem Affekt (affectus devotionis) wird seine Zu-stimmung erreicht Durch die Worte werde dem Beter seine Bitte und sein Zustand staumlrker bewusst er werde zum Affekt gebracht der Affekt in denselben Worten ausgedruumlckt und durch diese noch staumlrker entflammt bdquoQuaecunque ergo sunt verba orantis absurda non sunt si tan-tummodo ad hoc competenter proferri possint ut vel orantis affectum ad amorem Dei excitent vel (quod amplius est) si jam amore ejus flagrat excitatum demonstrentldquo15 Hier wird der Kern des Traktats formuliert Die Form des Gebets wird in Relation zu Intention und Emotion ge-setzt wodurch Hugo einerseits zu der Aussage kommt dass je groumlszliger die Emotion werde sie sich desto weniger in artikulierten Worten ausdruumlcken lieszlige16 Andererseits kann er zeigen dass das Verhaumlltnis von Wort und Emotion ein vielschichtiges und sich gegenseitig amplifizierendes ist Die Gebetsworte werden danach ausgesucht welchem Ziel und Affekt sie dienen sollen Im Gebet gesprochen vergegenwaumlrtigen sie oder erinnern sie den Betenden an bestimmte Affekte sie erwecken und verstaumlrken diese soweit dass zuletzt ebendiese Worte zum Affektausdruck des Beters werden Der Betende eignet sich damit fremde Worte durch den Affekt an und macht

14 ZB in De inventione von Cicero (1 17) oder RhetoricaAuctor ad Herennium (1 6) so Hugo von St Viktor (1997) S 166 Anm 28 (cf Anm 6) Vgl zur captatio ebenso B Wessel Art Captatio benevolentiae in Historisches Woumlrterbuch der Rhetorik hg v G Ueding Bd 4 Tuumlbingen 1998 Sp 121ndash12315 bdquoAber auf keine andere Weise wird Gott zur Zustimmung gebracht als wenn die Seele des Betenden in gaumlnzlich hingebungsvollem Affekt zu ihm selbst hingewandt wird Wie auch immer die Worte des Gebets sind so sind sie nicht nutzlos wenn sie ihm nur passender vorgetragen werden koumlnnten damit sie entweder den Gebetsaffekt zur Liebe Gottes entflammen oder was besser ist wenn die Liebe schon brennt sie die Erregung zeigtenldquo16 bdquoDer Affekt hat naumlmlich die Eigenschaft dass je groumlszliger und gluumlhender er im Inneren ist er desto weniger aumluszligerlich durch die Worte ausgedruumlckt werden kannldquo

Meditation und Gebet 273

sie zu seinen eigenen Das gesprochene Gebet ist so uumlber seinen affektiven Effekt auf den Beter definiert Als Beispiel benutzt Hugo Schriftworte vornehmlich Psalmen bdquoJeder Einzelne also waumlhrend er im Gebet entweder Psalmen oder irgendwelche anderen Schriften singt soll sorg-faumlltig bedenken welchem Affekt sie dienen moumlgen und durch ganze Anstrengung sein Herz zu jenem Affekt erregen Er sagt das was ihm besser zu dienen scheint denn wenn er den Affekt erregt durch die Worte die er sagt erkennt er durch den Affekt selbst besser die Kraft der Worte Er erwirbt die Einsicht und entzuumlndet durch die Einsicht der Worte umso mehr den hingebungsvollen Affektldquo (Kap V)

Psalmen ndash Wort und Affekte

Die lebenspraktische Erklaumlrung der Gebetsaffekte in De modo orandi ist bemerkenswert klar Weil in den Affekten die ganze Kraft des Gebets liege zaumlhlt Hugo beispielhaft aus den unend-lichen Affekten (Kap VII) neun von ihnen auf die er ebenfalls kurz definiert und gruppiert zunaumlchst die Affekte der Zuneigung Bewunderung und Mitfreude17 dann die Affekte der De-mut des Leides und der Furcht sowie zuletzt die Affekte der Entruumlstung der Eifersucht und der guten Erwartung Diese Gruppierungen werden jeweils auf verschiedene Schriftgattungen bezogen aus denen sie entstehen koumlnnen ndash so werden einer Gattung die zur Erinnerung des Ungluumlcks bzw der eigenen Fehler anregt drei dieser Affekte zugeordnet naumlmlich Demut die aus der Erinnerung der eigenen Fehler erwaumlchst Leid aus der Erinnerung vergangener und gegenwaumlrtiger Fehler sowie Furcht aus dem Gedanken an zukuumlnftige Vergleichbare Zuord-nungen finden sich dort auch fuumlr die uumlbrigen Affekte

Nun verknuumlpft Hugo diese mit konkreten Beispielen aus den Psalmen (Kap VII) bdquoAus dem Affekt der Zuneigung (dilectio) heraus wird Ps 182 gesungen sbquoIch will Dich ruumlhmen Herrlsquo Aus dem Affekt der Bewunderung (admiratio) heraus wird Psalm 8[2]10 gesungen sbquoHerr unser Herrlsquo Aus dem Affekt der Mitfreude (congratulatio) heraus wird Ps 472 gesungen sbquoIhr Voumllker allelsquo Und in allen diesen ist LobAus dem Affekt der Demut (humilitas) heraus wird Ps 312 gesungen sbquoHerr ich suche Zufluchtlsquo Aus dem Affekt des Leids (dolor) heraus wird Ps 131 gesungen sbquoWie lange noch Herr vergisst Du mich ganzlsquo Aus dem Affekt der Furcht (timor) heraus wird Ps 62 gesungen sbquoHerr strafe mich nicht in deinem Zornlsquo Und in all diesen ist die Fuumlrbitte mit einer Klage vermischtAus dem Affekt der Entruumlstung (indignatio) heraus wird Ps 523 gesungen sbquoWas ruumlhmst Du Dich Deiner Bosheitlsquo Aus dem Affekt des gerechten Eifers (zelus) heraus wird Ps 941 gesungen sbquoO Herr Gott der Vergebunglsquo Aus dem Affekt der guten Erwartung (bona praesumptio) heraus wird Ps 261 gesungen sbquoVerschaffe mir Recht o Herrlsquoldquo

17 Affectus congratulationis wird als Gegenpol zur compassio verstanden

274 Anselm Rau und Johanna Scheel

Hugo zeigt hier wie einerseits aus dem Affekt ein bestimmter Psalm gesungen wird Er kom-plettiert damit was er bei der Aufzaumlhlung staumlrker betonte naumlmlich aus welchen Psalmen ein Affekt erwaumlchst und gleichzeitig wie die Worte zu denjenigen der eigenen Bitte und zum Af-fektausdruck werden

Mischung und Uumlberblendung von Affekten

Allerdings wird nicht innerhalb eines Psalms je nur ein Affekt ausgedehnt sondern oftmals geht dort ein Affekt in den anderen uumlber Sie werden gemischt oder loumlsen sich kontinuierlich ab (Kap VIII) Ein Beispiel hierzu Aus der meditatio der eigenen Fehler und Gottes Barm-herzigkeit bricht man durch den Affekt des Schmerzes in die Worte aus bdquoHerr wie zahlreich sind meine Bedraumlnger so viele stehen gegen mich auf viele gibt es die von mir sagen Er findet keine Hilfe bei Gottldquo Dies sind die ersten Verse aus Psalm 3 Aus dem Affekt des Schmerzes der dadurch staumlrker entflammt und ausgedruumlckt wird kehrt der Betende mit dem naumlchsten Vers des Psalms 3 auf den Affekt der guten Erwartung zuruumlck und sagt bdquoDu aber Herr bist ein Schild fuumlr michldquo Damit wird der Schmerz von Vertrauen gelindert und der eine in den andere Affekt uumlberfuumlhrt

Die Psalmenworte vergegenwaumlrtigen oder erinnern hier an den Affekt und werden danach angewandt zugleich sind sie Anreiz und -ausdruck der vielfaumlltigen Palette wandelbarer Affekte

Diese Definition in De modo orandi ist fuumlr das Verstaumlndnis der Affekte innerhalb des Ge-bets im gesamten Mittelalter als grundlegend anzusehen Aus kunsthistorischer Sichtweise ist die Beschaumlftigung mit dieser Schrift daher nicht nur unerlaumlsslich um mittelalterliche Bildwer-ke die fuumlr den Bildbetrachter als Hilfsmittel fuumlr sein Gebet konzipiert wurden praumlziser kon-textualisieren zu koumlnnen Vielmehr ist die in De modo orandi dargelegte Reflexionsstruktur auf die Rezeption von Werken der bildenden Kunst uumlbertragbar

Das Lignum vitae

Ein Beispiel fuumlr die konkrete Anwendung der Evozierung von affectus bei Gebet und Medita-tion wie von Hugo von St Viktor konzipiert stellen die Meditationen des Lignum vitae Bona-venturas und dessen bildliche Umsetzung dar18 In seinen viel rezipierten Werken De triplici

18 Bonaventura Lignum vitae in Opera omnia Quaracchi 1848 Bd 8 Im Folgenden wird auf die lateinische Edition von Quaracchi mit dem Kuumlrzel LV verwiesen Wird nicht die eigene Uumlbersetzung verwendet ist die Grundlage M Schlosser Baum des Lebens Geistliche Betrachtungen St Ottilien 2012 Weitere deutsche Uumlbersetzung bei A Aswerus Der Lebensbaum Zuumlrich 1963Die Rezeption der Schriften Hugos bei den Franziskanern ist bekannt gerade die Verbreitung der hier besprochenen Texte Vgl Goy (cf Anm 1) S 530ndash532 In Italien und auf der iberischen Halbinsel sind mit 170 Texten nur ca 7 der Gesamtuumlberlieferung von Hugos Werken zu finden allerdings faumlllt bei den Handschriften italienischer Provenienz die bdquofuumlhrende Stellung der Franziskaner als Tradentenldquo auf Vgl ebd S 530 Die Houmlhepunkte der Tradierung liegen im 13 und 15 Jh vgl ebd S 559ndash564 bes S 563

Meditation und Gebet 275

via in dem er sein auf dem Gedankengut des 12 Jahrhunderts beruhendes Verstaumlndnis von meditatio oratio und contemplatio darlegt und dem Itinerarium mentis in Deum wendet sich Bonaventura der Formung der Seele des Menschen fuumlr den Aufstieg zu Gott zu19 Gerade aber das Lignum vitae hat maszliggeblich in seiner konkreten Form die Passionsmeditation des spaumlten Mittelalters beeinflusst20

Deutlich ist hervorzuheben dass Bonaventura diese Meditationsschrift zu Kindheit und Leben Passion und AuferstehungVerherrlichung Christi auf Grundlage mnemotechnisch strukturierter Modelle der monastischen Meditationspraxis konzipierte Der Entwurf Bona-venturas sieht die Anordnung der Meditationen anhand eines Baumschemas vor als struktur-gebende Schablone fuumlr das Einpraumlgen dieser im Herzen21 Da die Vorstellungskraft (imaginatio) die Einsicht (intelligentia) unterstuumltzt gibt Bonaventura die konkrete die Intention verdeutli-chende Anweisung bdquodescribe igitur in spiritu mentis tuae arboremldquo22 Die Meditationen selbst dienen zur Entflammung des Herzens in liebendem Empfinden zur Formung des Denkens und zur Einpraumlgung in das Gedaumlchtnis (accendatur affectus formetur cogitatus imprimatur memoria) Somit wird auch hier die Formung des Denkens durch den affectus herausgestellt23 Nach dem Entwurf Bonaventuras besitzt der Baum zwoumllf Zweige an denen jeweils vier kurze Strophen die Einleitungen bzw Uumlberschriften zu den einzelnen Meditationen angebracht sind die immer zusammen genommen eine Frucht hervorbringen So umfasst das gesamte Schema 48 Meditationen die in einer Reihenfolge von unten nach oben insgesamt zwoumllf zu erreichende Fruumlchte oder auch tugendhafte habitus hervorbringen sollen24

Die rasche und vielfaumlltige visuelle Umsetzung der Baumstruktur zeugt von der Popula-ritaumlt der Meditationen des Lignum vitae eine der heute wohl bekanntesten Darstellungen stammt von Pacino di Bonaguida der jeder einzelnen Meditation ein Bildmedaillon zuordnete

19 Bonaventura De triplici via Opera omnia Quaracchi 1948 Bd 8 S 19ndash27 ndash Bonaventura Itinerarium mentis in Deum Opera omnia Quaracchi 1891 Bd 5 S 293ndash316 ndash vgl hier auch die kritischen Edition und die Darstellung der inhaltlichen Grundkonzeption Bonaventura De triplici via Uumlber den dreifachen Weg latdt uumlbers u eingel v M Schlosser Freiburg iBr [ua] 1993 ndash Bonaventura Itinerarium mentis in Deum ndash Der Pilgerweg des Menschen zu Gott latdt uumlbers u erl v M Schlosser mit einer Einleitung von P Zahner Muumlnster 200420 R Preisinger Lignum vitae Zum Verhaumlltnis materieller Bilder und mentaler Bildpraxis im Mittelalter Paderborn 2014 21 Zu den Schablonen und dem Einpraumlgen dieser ins Herzen vgl M Carruthers Moving Images in the Mindrsquos Eye in J Hamburger M-A Boucheacute (Hgg) The Mindrsquos Eye Art and Theological Argument in the Middle Ages New Jersey 2006 S 294 FN 24 zu den Anweisungen Hugos in De arca noe S 292ndash29422 LV Prolog S 6823 Ebd24 Die uumlberkommenen Traktate belegen die angedachte Konzeption zur Verinnerlichung der einzelnen Meditationen die Uumlberschriften als Responsorium mit dem Kehrvers O crux fructus salvificus zu singen vgl hierzu M Sensi Lrsquoallegoria della Croce nel monastero di SantrsquoAnna a Foligno in B Ulianich U Parente (Hg) La Croce Iconografia e interpretazione Bd 3 La croce nella liturgia NeapelRom 2007 S 392 ebenso Preisinger (wie Anm 20) S 36ndash42

276 Anselm Rau und Johanna Scheel

(Abb 1)25 In kuumlnstlerischen Darstellungen diente das Lignum vitae als visuelle Unterstuumltzung sowohl fuumlr den Gesang als auch gerade zur Strukturierung von Predigt und Meditation26 Ein Groszligteil der Bilder zum Lignum vitae binden den Text in Form der Uumlberschriften der einzelnen Meditationen ein Eine solch detailreiche Ausgestaltung wie etwa bei Pacino ist bei den uumlber-lieferten Beispielen keine Regelmaumlszligigkeit Damit belegt allein schon das Bild selbst dass das

25 Jedoch darf diese Tatsache nicht uumlber die tatsaumlchliche Anwendung hinwegtaumluschen Auf die Diskussion um die Bildwerke zum LV kann hier nicht dezidiert eingegangen werden Die juumlngsten Publikationen zum Lignum vitae mit der entsprechenden Literatur zur Forschungslage sind Preisinger (cf Anm 20) und U Ilg Quasi lignum vitae The Tree of Life as an Image of Mendicant Identity in P SaloniusA Worm (Hgg) The Tree Symbol Allegory and Mnemonic Device in Medieval Art and Thought Turnhout 2014 S 187ndash212 ndash Siehe die Kritik an der bisherigen Auseinandersetzung mit dem Lignum vitae und seinen Darstellungen in der 2015 abgeschlossenen Dissertation von A Rau Imagination und Emotion Bildstruktur und Emotionalisierungsstrategien in der monastischen Meditation und das bdquoModell Franziskusldquo sowie A Rau Im Wechselbad der Gefuumlhle ndash das Lignum vitae in Imago 4 (2015) erscheint November 201526 L Bolzoni The Web of Images Vernacular Preaching from its Origins to Saint Bernardino da Siena Aldershot 2004 S 154ff

Abb 1 Pacino di Bonaguida Lignum vitae Florenz Galleria delllsquoAccademia um 1310 258x151cm

Meditation und Gebet 277

eigentliche affizierende Potential in der Steuerung der imaginatio des LesersBetrachters durch den Text der Meditation und des Gebet selbst liegt27

Innerhalb der jeweils einer Frucht zugeordneten vier Meditationen ist ein Aufbau und Uumlbergang festzustellen ebenso sind in der Regel die Fruumlchte durch die letzte Meditation der vorangegangenen und die erste der folgenden miteinander verknuumlpft Allen gemein ist dass zu Anfang einer jeden Frucht die in den ersten zwei Fruumlchten ausgebildeten Grundtugenden caritas und humilitas als Ausgangspunkt genommen werden Diese beiden sind wie bereits von Augustinus betont die Grundtugenden aus denen alle weiteren erst hervorgehen koumlnnen28 Die einzelnen Meditationen zeichnen sich durch das Fokussieren auf eine tugendhafte Haltung Christi aus Diese verdeutlicht er entweder selbst in einer emotionalen seinen Habitus aus-druumlckenden Disposition oder weiteres biblisches Personal reagiert als Exempel fuumlr den LeserBetrachter des Lignum vitae auf die ihm so bdquovisualisertenldquo Geschehnisse um Christus So ent-stehen Imaginationsfiguren die das Handeln (operatio) bestimmen sollen Geleitet wird die Meditation des Betrachters durch die eindruumlcklichen Schilderungen der Begebenheiten aus dem Leben Christi in Kombination entweder direkter Ansprachen an seine Seele wie er sich verhalten was er sich als Vorbild nehmen soll oder durch in die Meditation selbst eingefuumlgte Gebetstexte welche die Affizierung entweder stuumltzen oder direkt hervorbringen koumlnnen

Die Meditationen der ersten vier Fruumlchte (Geburt Kindheit Wirken Christi) charakteri-sieren das Lignum vitae wie schon bei Hugo und in den Meditationsmodellen des 12 Jahrhun-derts als dezidiertes Reue- und Buszligschema Dies verdeutlicht allein schon die formale Anlage da sich hier vorwiegend Anweisungen zu habituellen emotionalen Dispositionen des Lesers finden Die Einmuumlndung dieser Meditationen in die Schilderung des letzten Abendmahls kon-kretisiert die Verbindung zwischen der logischen Anlage eines sukzessive aufgebauten Medita-tionsschemas die Notwendigkeit seiner fortdauernden Anwendung und somit den praktischen Bezug zum religioumlsen Leben Reue und Buszlige sind die notwendige Grundvoraussetzung fuumlr die Teilhabe an der Opferfeier des Messgeschehens es hebt die Meditationspraxis als fortdauernde Uumlbung der Affekte und Tugenden als staumlndige Gewissenspruumlfung hervor und kennzeichnet den Menschen ab diesem Punkt als muumlndigen Meditanden und Beter

So aumlndert sich dann ab der fuumlnften Frucht zu den Passionsmeditationen auch der Auf-bau Hier werden konzentriert einzelne orationes in die einzelnen Meditationen eingeflochten Bemerkenswert ist bei den fast als propaumldeutisch zu verstehenden Meditationen der ersten vier Fruumlchte findet sich eine sehr uumlberschaubare Anzahl von Psalmzitaten waumlhrend sie hier als personalisierte Gebete des LesersBetrachters gehaumluft auftreten Gezielt werden sie in den Meditationen der geschilderten Situationen und Peinigungen Christi eingesetzte um die com-passio zu erregen Hieran laumlsst sich die unmittelbare und entscheidende Zusammenwirkung

27 Bezuumlglich einer eingehenden gerade auch sprachlichen Untersuchung der Meditationen des Lignum vitae das affektsteuernde Potential herausarbeitend siehe abermals Rau (wie Anm 25)28 K Pansters Profectus Virtutum From Psalm 838 to David if Augsburgrsquos Profectus religiosorum in Studies in Spirituality 18 (2008) S 170 Zur Thematik weiterfuumlhrend N Baumann Die Demut als Grundlage aller Tugenden bei Augustinus Frankfurt 2009

278 Anselm Rau und Johanna Scheel

von meditatio und oratio beobachten die in Kombination die Lenkung der geordneten affectus bestimmen

Die von Hugo in De meditando angemahnte Unterscheidung und Betrachtung des Guten und Boumlsen findet in den Meditationen des Lignum vitae seine konkrete differenzierte Anwen-dung Heben die ersten vier Fruumlchten dezidiert Reue und Buszlige des MeditierendenBetenden und gerade die Schlechtigkeit des Menschen gegenuumlber Christus hervor so zeigen die Medita-tionen zur Passion Christi (5ndash8) die Betrachtung des Boumlsen und des Guten dahingehend wie das Boumlse in Gestalt der Peiniger Christi auf diesen einwirkt und wie Christus selbst oder wei-teres positiv konnotiertes biblisches Personal reagiert Die Grundlage des hier geforderten Mit-leidens mit Christus ist die bei den vorangegangenen Meditationen ausgearbeitete compassio Christi mit den Suumlndern Demuumltig ausgerichtet und damit ausgebildet am mitfuumlhlenden Vor-bild Christi kann der LeserBetrachter uumlber die imaginatio in der Meditation und dem Gebet hier zum Mitleidenden ausgebildet werden Zuerst wird also die demuumltige Emotionalitaumlt ob der eigenen Schlechtigkeit dem eigenen Boumlsen im Abgleich mit dem guten Vorbild in Christus herausgebildet und daraufhin die Affekte in den Meditationen zur Passion Christi an Christus selbst zum Mitleiden konstituiert

Als Beispiel der dezidiert auf die Affizierung ausgerichteten Anlage seien die Meditationen der fuumlnften Frucht umrissen Gegenstand (res) ist hier die Betrachtung von Christi Vertrauen (confidentia) in der Gefahr und umfasst die vier Meditationen zu Judasrsquo Verrat Christi Gebet auf dem Oumllberg der Umzingelung Christi durch die Haumlscher und seiner Gefangennahme29 Propaumldeutisch wird dem Verrat Judasrsquo dem abgrundtief Boumlsen (nequissum) die geradezu pa-radox erscheinende und dadurch Staunen und Bewunderung erweckende (o mira) Guumlte (be-nignitas) und Sanftmut (mansuetudo) Christi gegenuumlbergestellt30 Dieses Thema beherrscht alle Meditationen dieser Frucht und ist begleitende Grundlage aller folgenden Darstellungen der Misshandlung Christi Judas wird typologisch als lasterhafter Gegenpart zum tugendhaften Idealbild Christi stilisiert Sein Verrat gruumlndet in seiner cupiditas und bestimmt von seinen niedersten Trieben ist er die Personifikation von perfidia (Treulosigkeit Gewissenlosigkeit) in-gratitudo (Undankbarkeit) und duritia (Hartherzigkeit)31 Die angemahnte Betrachtung des Guten und des Boumlsen legt als klassisches System der Gegenuumlberstellung von Tugenden und Lastern anzustrebende bzw abzulehnende habitus durch die Ausrichtung der affectio dar

Signifikant zeigt sich die Affizierung anhand der uumlber die lectio sich konstituierende me-ditatio aufgrund der imaginierten Begebenheit in Verbindung mit der oratio die wiederum ihren Ausdruck in den Psalmen findet Als Ausweis der inneren Verletzlichkeit seiner mensch-lichen Natur (in natura sensibili)32 ist die Schilderung von Christi Gebet auf dem Oumllberg zentral Ob der Vorstellung des Todes (imaginatio mortis) die in seine empfindsame Seele eindrang wird er von affectus umschlungen (complexabatur affectu) Seine innere Bewegtheit wird mit den Tropfen blutigen Schweiszliges die seinen Koumlrper hinab rannen verdeutlicht der Affekt der

29 LV 517ndash20 S 75ndash7630 LV 517 S 7531 Ebd32 LV 518 S 75ndash76

Meditation und Gebet 279

Furcht (anxietas) als Empfindung steigt zwar in seinem Geist auf (in spiritu) der Nachvoll-zug erfolgt jedoch uumlber die aumluszligeren (imaginierten) Zeichen33 Die Meditation laumlsst den Leser darauf fragen bdquoO Herrscher und Herr Jesus woher kommt diese furchtbare Angst deiner Seele und dein angstvolles Flehen Hast du denn dem Vater dein Opfer nicht mit freiem Willen ge-brachtldquo34 Die Erklaumlrung folgt sofort Fuumlr die Bestaumlrkung des Glaubens hat Christus wahrhaft die sterbliche Natur angenommen damit der Mensch Hoffnung schoumlpfen kann sollte er aumlhn-liche Bedraumlngnis und Furcht erleiden denn aufgrund der Hoffnung richtet der Mensch seine Liebe auf Christus das Ziel wiederum willentlich (voluntas) aus Die offenkundigen (aumluszligeren) Zeichen des Leids in Christi menschlicher Natur sind das entscheidende Kriterium fuumlr die selbstreflexive Erkenntnis des LesersBetrachters Es ist die Erkenntnis dass Christus wahr-haftig die Schmerzen und das bittere Leid der Menschen mit fuumlhlbarer (sensu) Pein durchlitten hat35 Die Schilderung der Todesangst Christi ist damit Grundlage der im ersten Satz der fuumlnf-ten Frucht geforderten inneren Teilhabe (pii considereare) fuumlr die compassio den Nachvollzug seiner noch weiterhin zu durchleidenden koumlrperlichen wie seelischen Pein36

Diese Erkenntnis stuumltzt nun das ergaumlnzende Beten der Psalmen da diese einerseits die geforderten Affekte und den Affektreiz bekraumlftigen zugleich aber auch das selbstreflexive Moment herausarbeiten Die seelische Bedraumlngnis Christi auf dem Oumllberg wird begleitet und sozusagen von der Schilderung des Verrates Judasrsquo und der Bedraumlngung durch die Haumlscher umrahmt und aufgrund des Einbindens der Psalmen 38 41 und 55 in genau diese Meditationen zu einem inhaltlich kongruenten Gebet gestaltet Alle drei Psalmen wobei besonders Psalm 55 zitiert wird (Verse 13ndash15) nehmen Bosheit Verrat und Bedraumlngnis durch Freund und Feind in den Blick Hierdurch werden gerade das Verlassensein und das Ausgeliefertsein gegenuumlber den Misshandlungen in den Vordergrund gestellt die beschriebene Furcht Christi begleitet und durch das personalisierte Gebet zur emotionalen Ausrichtung des Beters selbst Nicht allein der einzelne Psalmvers wird dabei gebetet sondern ganz der mnemotechnischen Konzeptuali-sierung verpflichtet bildet der Vers den Ausgangspunkt und schlieszligt die Betrachtung und das Gebet des gesamt Psalms mit ein37 Der Klage uumlber den Vertrauensbruch durch den Freund (Ps 5513 ebenso Ps 3813 und Ps 41) und der Bedraumlngnis durch Frevler an deren Haumlnden Blut klebt (Vers 24) geht in Analogie zu Christi Gebet zum Vater auf dem Oumllberg die Anrufung Gottes voraus er moumlge das Beten und Flehen erhoumlren (exaudi orationem meam deprecationem meam)

33 Ebd34 Schlosser (wie Anm 19) S 51 LV 52 S 7635 LV 52 S 76 ndash Bereits Bernhard von Clairvaux formulierte Gott bot den Zugang zu sich selbst uumlber die Affekte weshalb die Inkarnation notwendig war um die affectiones des Menschen zuruumlckzugewinnen vgl B von Clairvaux Sermones super canticum canticorum 205 in Bernhard von Clairvaux Saumlmtliche Werke latdt hg v G Winkler Innsbruck (1996) Bd 5 S 28428536 LV 517 S 75 Nochmals abschlieszligend wird dies als identifikationsstiftendes Vorbild am Ende (vierte Meditation fuumlnften Frucht) mit dem Bild der gefesselten Haumlnde des unschuldigen Lammes und dem eingeforderten Stoumlhnen und der Beschreibung des durchdringenden Schmerzes der die Herzen der Juumlnger bei diesem Anblick durchstach (doloris aculues discipolorum vorda penetravit) vor Augen gestellt Vgl LV 520 S 7637 Zur Mnemotechnik allgemein M Carruthers The Book of Memory A Study of Memory in Medieval Culture Cambridge [ua] 122006 Zu beachten sind ebenso F A Yates The Art of Memory London 1966 M Evans The Geometry of Mind in Architectural Association Quarterly 124 (1980) S 32ndash55

280 Anselm Rau und Johanna Scheel

(Vers 1ndash8) Dabei wird die Angst (conturbatus sum) das Beben des Herzens in der Brust und das Befallenwerden vom Schrecken des Todes beschrieben (cor meum conturbatum est in me et formido mortis cecidit super me) ebenso das Erfasstsein von Furcht Zittern Schaudern und Entsetzen (timor et tremor venerunt super me et contexerunt me tenebrae) Der Nachvollzug der emotionalen Disposition Christi wird durch die kalkulierte Verknuumlpfung mit Psalm 38 zu-gleich ebenso zur detailreichen Klage in Furcht und Schrecken ob der eigenen Suumlndhaftigkeit Judas stellt natuumlrlich fuumlr den Abgleich das Negativbeispiel Doch im Gegensatz zu ihm zeigt der Betende in seiner demuumltigen Hinwendung zu Gott in Schmerz und Furcht das in ihn gesetzte Vertrauen das auch Jesus unter Beweis stellte Die Psalmen bieten hierfuumlr das passende Mittel der notwendigen Ausrichtung in der affectio

Ein interessanter Punkt sei in Bezug auf die Ausfuumlhrungen in De meditando hinsichtlich des Eifers (zelus) fuumlr die gerechte Sache noch genannt Die Sanftmut Christi wird gerade da-durch vor Augen gefuumlhrt dass er im Sinne des immerfort zur Vergebung bereiten Gott seinen Haumlschern guumltig begegnet da er sich seinen Peinigern nicht im Zorn (ira) verschloss (Ps 7710)38 Er haumllt naumlmlich sogar seinen Verteidiger ndash in der exegetischen Tradition Petrus vor allem dann auch in der bildenden Kunst ndash zuruumlck und bremst dessen gerechten zelus sein rechtmaumlszligiges eigentlich tugendhaftes eifersuumlchtiges Streben fuumlr das geliebte Objekt und heilt sogar ein abge-schlagenes Ohr Dieser Eifer der wie in De meditando beschrieben ohne Hinterlist ist nicht aus Ignoranz (repraumlsentiert durch die HaumlscherPeiniger) gegenuumlber der Wahrheit (in Christus) hervorgegangen zeigt die gute Absicht die durch Beharrlichkeit ans Ziel fuumlhrt und laumlsst somit die Liebe nicht lau werden Petrus wird als Identifikationsfigur installiert und am Ende aber-mals Judas entgegen gehalten Letzterer wurde zwar schlieszliglich aufgrund seiner Tat von Reue ergriffen jedoch war er nicht faumlhig durch die Hoffnung auf das Gute Christus Vergebung zu ersehnen und wurde von Bitterkeit (amaritudo) erfuumlllt so dass er den Tod und nicht das ewige Leben ersehnte

Meditationsschemata werden gerne aufgrund der ihnen innewohnenden Abfolge als starre Konstrukte und allein auf einen miszliginterpretierten geistigen Aufstieg abzielend hin verstan-den Doch beweist gerade das Lignum vitae eine hohe Flexibilitaumlt fuumlr den alltaumlglichen Gebrauch und zudem die eigentliche Intention die Formung von affectus

Gerard Zerbolt van Zutphen

Das stufenweise emotionale Gebet und die Meditation begegnen ebenfalls ndash allerdings weniger stark schematisiert als im Lignum Vitae ndash in einem Standardwerk der niederlaumlndischen Froumlm-migkeitsliteratur des 15 Jahrhunderts In De spiritualibus ascensionibus stellt Gerard Zerbolt

38 Im Tugend- und Lastersystem ist die Unterscheidung von zelus ira und furor sehr entscheidend bezuumlglich des guten und schlechten Strebens und damit hinsichtlich rationalen Ordnung des Geistes Zum tugendhaften und lasterhaften Zorn und seiner Aspekte vgl Richard von St Viktor Benjamin minor 40ndash44 PL 196029-033 ndash Gerade bei der Verurteilung Christi durch Pilatus (LV 624 S 77) wird das Thema der rasenden Wut (zelus invidiae) und des gerechte Zorns (zelus iustitia) nochmals differenziert

Meditation und Gebet 281

von Zutphen ein Autor der devotio moderna handbuchartig sein Aufstiegsmodell dar39 Darin vermittelt er seinen Mitbruumldern und einem frommen Laienpublikum ein ausgekluumlgeltes System von geistigen Uumlbungen die sich nicht nur auf den eigentlichen Gebetsakt beziehen sondern habituell im Alltag Anwendung finden sollen indem sie eine Transformation des Menschen be-wirken Er geht dabei von dem uumlblichen zeitgenoumlssischen theologischen Anthropologiemodell der Seele als durch Suumlnde verschmutzte imago Dei aus und stuumltzt sich auf bekannte moraltheo-logische Emotionstheorien die er jedoch stark ausweitet indem er den Emotionen eine genaue Funktion und eine Schluumlsselrolle im Erkenntnisprozess zuweist Die formula meditandi40 be-schreibt Gerard als inhaltlich verschieden konnotierte Selbstuumlberpruumlfungen in der die dadurch produzierten Emotionen wie Zerknirschung (compunctio bzw contritio) Furcht (timor) oder Hoffnung (spes) nicht nur bewusst gemacht sondern produktiv umgewandelt werden um zu Instrumenten und Stufen des weiteren Aufstiegs zu werden41 Diese Aufstiege sind ein Prozess der Selbsttransformation des Menschen der sich vollzieht indem der Mensch sowohl seinen urspruumlnglichen Zustand diese Transformation selbst als auch die Erfahrung seiner Veraumlnde-rung mit den erreichten Stufen emotional (ex affectu) erkennt (cogitare) und fuumlhlt (sentire)42 Aumlhnlich wie bei Hugo von St Viktor formuliert Gerard dass der Betende immer einen Affekt und ein Verlangen (desiderium) annehmen solle die zu den aktuellen Uumlbungen oder Medita-tionen passe43 Die Selbsttransformation im geistigen Aufstieg wird nach Gerard ebenso im uumlb-lichen Schema der lectio meditatio und oratio geuumlbt und an verschiedenen materiae meditandi44 vollzogen Die Affekte werden anhand dieser materiae erzeugt katalysiert und in das Gebet

39 Die Schrift (im Folgenden De Spir Asc) wird zitiert nach der Edition von F J LegrandN Staubach (Hgg) Gerard Zerbolt von Zutphen De Spiritualibus Ascensionibus La monteacutee du coeur Turnhout 2006 Vgl zur affektiven Konnotation von Gerards Gebetssystematik M Goossens De meditatie in de eerste tijd van de moderne devotie HaarlemAntwerpen 1954 Er stellt den Affekt als Wesensmerkmal des Gebets bei Gerard fest ebd S 118 Zur Einbindung der Schrift innerhalb der Gebetstheorien der Devotio Moderna und zum Stellenwert der affektiven Selbstreflexion auch in Beziehung zu zeitgenoumlssischer Kunst vgl J Scheel Das altniederlaumlndische Stifterbild Emotionsstrategien des Sehens und der Selbsterkenntnis Berlin 2014 bes S 155ndash171 230ndash241 414ndash42640 De Spir Asc Kap 641 Gerard spricht synonym von Aufstiegsstufen und affectus zB in Kap 27 bdquoIn hac prima ascensione vel primo affecto [hellip]ldquo Oder er benennt Affekte wie Hoffnung und Furcht als Stufen bdquo[hellip] istis duobus gradibus timoris et spei [hellip]ldquo Kap 26 Insgesamt benutzt er die Vokabeln affectus und affectio synonym zwar begegnet in Bedeutung von Strebevermoumlgen meist affectio und ersetzt also die vires durch die affectiones animae besonders wenn es um lasterhafte Affekte geht doch werden die einzelnen Affekte durchgehend als affectus nicht als affectio bezeichnet42 De Spir Asc Kap 643 Das Gebet solle nie bloszliges Lippenbekenntnis sein sondern immer aus der Wurzel des Herzens verfolgt werden und zwar stets aus den Affekten der Furcht Trauer Freude Bewunderung Dankbarkeit etc bdquo[hellip] ex affectu timoris meroris dilectionis admiracionis congratulationis etcldquo De Spir Kap 46 Diese Affektreihe stimmt mit derjenigen bei Hugo in De modo orandi uumlberein siehe oben S 273f44 Diese sind zunaumlchst die bekannten Meditationsinhalte wie man sie allenthalben in theologischer Literatur des Mittelalters findet Leben und Passion Christi das Juumlngste Gericht und die eigene Todesstunde (diese bspw bereits in Bonaventuras De Triplici Via Kap 3) Bei Gerard werden ebenfalls Houmllle und Himmelreich sowie die eigenen Suumlnden und Wohltaten Gottes eingeschlossen sowie das eigene Selbst in dem und waumlhrend des Gebets Zum Kontext der neuen Meditationswuumlrdigkeit des eigenen Selbst in den Lehren der Devotio Moderna vgl Scheel (cf Anm 39)

282 Anselm Rau und Johanna Scheel

uumlberfuumlhrt Dies macht Gerard wie Hugo anhand des Psalmengebets anschaulich indem er einerseits beispielhaft zeigt wie ex affectu ein Psalm gebetet wird waumlhrend er gleichzeitig bei vorheriger Thematisierung der lectio dessen Erregung durch die Lektuumlre betont

bdquoWenn du dich in deiner ersten Uumlberpruumlfung diskutiert hast und entdeckst dass deine Suumlnden zahlreicher sind als die Zahl des Sandes der Meere forme in dir den Affekt der Demut oder Trauer und nimm die Rolle (persona) eines Dieners an der seinen Herrn beleidigt hat Aus diesem Affekt heraus forme ein Gebet und sage sbquoGott sei mir gnaumldig nach deiner Huld tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmenlsquo (Ps 503) Wenn du in der zweiten und dritten Uumlberpruumlfung dich selbst diskutierend bemerkst dass dein Herz mit schlechten Begierden und boumlsen Verlangen gefuumlllt ist forme in dir wiederum den Affekt der Demut und nimm die Rolle eines Kranken an der nach Medizin fragt und sage sbquoHerr sei mir gnaumldig heile mich denn ich habe gegen dich gesuumlndigtlsquo (Ps 405) oder sbquoNichts blieb gesund an meinem Leib weil du mir grollst weil ich gesuumlndigt blieb an meinen Gliedern nichts heillsquo (Ebd) etc Wenn du dich im zweiten Aufstieg in Furcht durch Meditationen des Todes und des Gerichtes oder der Houmllle uumlbst nimm den Affekt der Furcht ein und die Rolle eines Suumlnders vor dem Richter an in Angst und Zittern als seist du schon uumlberfuumlhrt und der Richtspruch gegen dich gesprochen und sage sbquoVerdamme mich nicht Herr gehe nicht ins Gericht mit deinem Dienerlsquo (Ps 1422) oder sbquoHerr in deiner Wutlsquo (Ps 62) etc Wenn du dich aber in Hoffnung uumlbst durch die memoria des Him-melreiches nimm den Affekt der Liebe an und bete mit innigem Herzen und sage sbquoIch erstrebe eines Herr dieses wuumlnsche ich dass ich in dem Haus des Herrn wohnen darflsquo (Ps 264) oder sbquoWie der Hirsch lechzt nach frischem Wasserlsquo (Ps 412) etc Und ebenso kannst du mit anderen Affekten jene aus diesen formen und musst du die Rolle annehmen die deine Uumlbung erfordert und deine Meditation verlangtldquo45

Uumlber Hugo hinausgehend wird hier dem Betenden empfohlen sich konkrete Szenarien und personae zu imaginieren um die gewuumlnschten Affekte einzuuumlben Die Psalmenbeispiele mit den zugeordneten Affekten uumlberschneiden sich bei beiden Autoren bei Psalm 6 (timor) so-wie Psalm 26 (Gerard spes Hugo bona praesumptio)46 Besonders bei der Einuumlbung von timor und der Erwaumlhnung des Richtspruches in Kombination mit den Buszligpsalmen 6 und 142 stehen unmittelbar zeitgenoumlssische Darstellungen des Weltgerichts bzw der Auferstehung der Toten vor Augen wie man sie in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern in Kombination mit eben jenem Buszligpsalm 6 aber auch in der altniederlaumlndischen Malerei findet47 Psalmen koumlnnen zu den

45 bdquoUnde breviter ut modum habeas secundum predicta si te in prima examinacione discusseris et inveneris peccata tua multiplicata super numerum arene maris forma in te affectum humilitatis vel meroris et assume personam servi qui dominum suum offendit Et ex tali affectu forma oracionem dicens Secundum multitudinem miseracionum tuarum dele iniquitatem meam [hellip] Si te in secundo ascensu in timore per meditaciones mortis vel iudicii vel inferni exercueris assume affectum timoris et assume personam rei astantis coram iudice cum timore et tremore quasi iam convictus contra quem de iure proferenda est sentencia et dic Noli me condemnare Non intres in iudicium cum servo tuo Vel Domine ne in furore etc [hellip] Et sic de aliis affectibus quos ex istis formare poteris et assumere debes sicut exercicium tuum exigit et meditacio tua requiritldquo De Spir Asc Kap 4646 Zu den Psalmen die Hugo als Beispiele benutzt siehe oben S 273f47 Vgl dazu J Scheel Sich selbst sehen ndash der Betrachter in und vor dem Bild Spiegel- und Stifterfiguren in Texten und Bildern des 15 Jahrhunderts in E KochH Schlie (Hgg) Orte der Imagination ndash Raumlume des Affekts Die mediale Formierung des Sakralen Muumlnchen 2015

Meditation und Gebet 283

bdquototal memoriertenldquo48 Texten des Mittelalters gezaumlhlt werden weswegen sie sich beiden Autoren als Beispiele anbieten Sie benutzen die Buszligpsalmen (hier die Psalmen 6 31 [Hugo] 50 142) die im Stundenbuch fest als eigenstaumlndiger Gebetstext verankert sind und ebenso in der To-tenvigil ihren Platz haben ndash zusammen mit Gerards weiteren Beispielpsalmen 40 und 4149 Das Stundenbuch ist ein Medium in dem Psalmwort und bildliche Darstellung auf die Theorie des stufenweisen emotionalen Gebets und der Selbsttransformation treffen koumlnnen

Die Miniaturen die der Totenvigil bspw in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern des 15 Jahr-hunderts voranstehen zeigen oftmals eine ganzseitige Totenmesse sowie in der M-Initiale der gegenuumlberliegenden Textzeile50 zwei betende einander zugewandte Seelen im Fegefeuer (vgl

48 Zu diesen Texten gehoumlrten bspw das Pater Noster oder Ave Maria waumlhrend denen gleichzeitig auch uumlber bestimmte Aspekte zB der Passion meditiert werden konnte und sollte vgl P Saenger Books of Hours and the Reading Habits of the Later Middle Ages in R ChartierA Boureau (Hgg) The Culture of Print Power and the Uses of Print in Early Modern Europe Cambridge 1989 S 141ndash173 hier S 154 Bei den Psalmen genuumlgt wie man hier sieht allein die Nennung des Incipit oder bestimmter Verse die dem Leser so vertraut sind dass sie den gesamten Psalmentext mit assoziieren49 Zwar ist der Einsatz von Psalmen in mittelalterlichen Stundenbuumlchern mitunter verschieden doch kann man beispielhaft an einer Gruppe von Stundenbuumlchern in niederlaumlndischer Sprache diese Psalmen finden Diese Stundenbuumlcher sind mit der Uumlbersetzung des Gruumlndungsvaters des Devotio Moderna Geert Grote versehen oder stehen mit ihr in Verbindung N van Wijk Het getijdenboek van Geert Groote Naar het Haagse handschr 133 E 21 Leiden 1940 diese hauptsaumlchlich anhand einer einzigen Handschrift erarbeitete Edition wird hier in Ermangelung einer kritischen Edition genutzt Das getijdenboek enthaumllt einen Kalender des Bistums Utrecht fuumlnf Offizien (Marienoffizium Heiliggeistoffizium das lange und kurze Heiligkreuzoffizium Stunden der ewigen Weisheit) Buszligpsalmen Litanei und Totenvigil 50 Es ist der Beginn des invitatorium bdquoMi hebben ombeuanghen die suchten des dodes die pijnlike seer der hellen heben mi ombeuanghenldquo Wijk (cf Anm 49) S 156 ndash bdquoMich haben umfangen die Seufzer des Todes die qualvollen Schmerzen der Houmllle haben mich umfangenldquo

Abb 2 Meister des Hugo Jansz van Woerden Totenmesse und Seelen im Fegefeuer ca 1475ndash1500 Den Haag Koninklijke Bibliotheek Ms 76 G 13 fol 85vndash86r

284 Anselm Rau und Johanna Scheel

Abb 2)51 Das Fegefeuer bespricht Gerard eher marginal in seinem Traktat Fuumlr die affektive Meditation des eigenen Todes liefert er allerdings einerseits eine Anleitung fuumlr den Betenden die Affekte nun bereits zu erwecken die vor waumlhrend und nach dem eigentlichen Todeszeit-punkt entstuumlnden ndash und sich mit ihnen im Gebet selbst zu formen52 Andererseits raumlt er dem Glaumlubigen sich zum Zwecke des ex affectu-Gebets einen Koumlrper in seinen Verwesungsstadien vor Augen zu halten53 und was mit ihm selbst bei der Beerdigung passiere54 Das Fegefeuer ist ein im Sinne mittelalterlicher Moraltheologie produktiver Gebetsinhalt da der Glaumlubige im steten Oszillieren zwischen spes und timor besonders gut zur caritas aufzusteigen vermag Diesen Tenor findet man ebenfalls bei Geert Grote in seinem getijdenboek bei der Vorrede der Toten-vigil Hier raumlt er dem betenden Leser zum Wechsel aus Psalmen und Antiphonen in Hinblick auf die Erregung von Furcht und Angst Liebe und Hoffnung in der Ausrichtung auf Gut und Boumlse und mit Blick auf das Fegefeuer bdquoHier beginnt die Vigil in duytsche die so organisiert ist denjenigen zu helfen die von hinnen gefahren sind in der Freundschaft Gottes in das Fegefeuer Und ebenso dazu [gedacht ist] den Lebenden zu helfen die sie lesen damit ihnen das Wissen um die kommenden Dinge eingedruumlckt werde auf dass sie glauben hoffen und lieben an die Dinge in Herrlichkeit Und [sie] sich dafuumlr bereit machen und sich waumlhrenddessen die ganze Zeit fuumlrchten dass ihre Tage schnell vergehen Auf dass sie sich fuumlrchten aumlngstigen grauen und beben vor dem mannigfaltigen Leid der Angst und dem Elend die den Boumlsen ereilen werden und sie so darum ihr Leben lang ndash das hier aumluszligerst kurz ist ndash darauf hinarbeiten diesem Leid zu entgehen und [die Vigil ist auch hilfreich] weil ein Mensch diese beiden Dinge ndash Gutes in Liebe und Boumlses in Angst ndash besser ansehen (aensien) kann und erkennen und sich uumlberdenken damit er besser bitten kann und [es] mehr begehrt (begheert) und mehr liebt (myn[n]t) fuumlr diejenigen zu bitten die im Fegefeuer sind fuumlr ihre baldige Erloumlsung und dafuumlr Gottes Ehre zu vermehren [hellip] So hilft das Bitten der Lebenden den Toten und das Bitten fuumlr die Toten hilft den Lebendigen sich auf den Tod vorzubereiten [hellip] Und dazu ist das Singen dieser Psalmen heranzuziehen [und zwar] immer nach den Bedeutungen der Antiphone und den Sinn der

51 Die Darstellung von Seelen im Fegefeuer taucht als Buchillumination ab dem 13 Jahrhundert bereits vereinzelt auf und diente in Kombination mit Jenseitsvisionen Bibeltexten und moralisierenden Inhalten vor allem dem Gedenken an bereits Verstorbene wie auch zur persoumlnlichen Mediation des Lesers Oft findet eine narrative Einbindung statt Vgl dazu M Borowska Das Entfachen des Fegefeuers in der europaumlischen Miniatur des 13 Jahrhunderts in Umeni 57 (2009) S 310ndash325 Zum ikonografischen Kontext der hier gewaumlhlten Illumination vgl die Untersuchung von I M Veldman Purgatory in the Low Lands in B BukovinskaacuteL Slaviacuteček (Hgg) Pictura verba cupit Essays for Lubomiacuter Konečnyacute Prag 2006 S 169ndash180 va 170ndash17252 De Spir Asc Kap 19 In den folgenden Kapiteln stellt Gerard dem Leser dasselbe Prinzip an den Themen des Juumlngsten Gerichts der Houmllle und des Himmelreiches vor 53 bdquoItem interdum propone oculis tuis ymaginem alicuius hominis morientis et diligenter respice formam modum et ordinem quibus ad mortem deveniturldquo De Spir Asc Kap 1954 Weitere beliebte Illustrationen zum Totenoffizium im Stundenbuch des 15 Jahrhundert sind ebenfalls die Darstellung eines Toten um dessen Seele Engel und Teufel kaumlmpfen Schaumldeldarstellungen Seelen in Abrahams Schoszlig Himmel und Houmllle der Tod als Angreifer die Auferweckung des Lazarus sowie die Psychostasis mit Michael als Seelenwaumlger Diese Motive werden eher als ganzseitige Miniaturen dargestellt und bekommen zum Teil in der begleitenden Initiale jene zwei betenden Seelen im Fegefeuer hinzugefuumlgt

Meditation und Gebet 285

Antiphone soll man dazu in den Psalmen bedenken in allen Stundengebeten Dabei ist gut dass man sowohl vor als auch danach die Antiphonen spreche und schreibeldquo55

Mit der sich gegenseitig amplifizierenden Kombination von selbstreflexiven Affekt er-regendem und ausdruumlckendem Psalmentext mit der bildlichen Darstellung von Beerdigung mit Fegefeuer und mit derartigen Aufstiegsmodellen vertraut kann der betende Leser hier den eigenen Tod und die Bestrafung seiner Seele als Konsequenz der eigenen irdischen Suumlndhaftig-keit produktiv in seine Bemuumlhungen des geistigen Aufstiegs und seine Selbsttransformation kanalisieren

Imagination und Illumination

Das Gebetsleben des mittelalterlichen Glaumlubigen ist gekennzeichnet durch seine Affektivitaumlt Die affectus werden mit Gebetstexten und Psalmenreihen sowie mithilfe bildlicher Darstel-lungen sorgfaumlltig kultiviert und systematisch eingeuumlbt Dabei sind dies altbekannte ndash weil biblische ndash Text- und Bildinhalte deren affizierendes Potential auf neue Arten ausgeschoumlpft wird Texte und physische wie gerade geistige Bilder erinnern den Betenden nicht nur unver-bindlich an bereits bekannte Ereignisse Situationen und Figuren sondern lassen ihn sich mit diesen durch affektive und reflexive Meditationspraktiken identifizieren Fremde Worte und Emotionen werden darin zu den eigenen Vorbilder aus dem Kreis der Heiligen werden so zu Imaginationsfiguren das Selbst wird auf Gott ausgerichtet und in all seinen Aspekten gezielt emotional reflektiert So unterschiedlich die formale Herangehensweise dieser Praktiken bei den drei untersuchten Autoren Hugo von St Viktor Bonaventura und Gerard Zerbolt van Zutphen zu sein scheint vermitteln sie doch die selbe zentrale Maszliggabe oratio est affectus ndash bdquoGebet ist Affektldquo

Uumlbersetzung Hugo von St Viktor De meditando PL 176 993ndash99

Die Meditation ist die haumlufige Erwaumlgung (cogitatio) der Ursache (causa) und des inneren Be-weggrundes (ratio) eines einzelnen zu untersuchenden Gegenstandes (res) was seine Art sei (modus) was die Ursache und was der Beweggrund

Es gibt drei Arten (genus) der Meditation eine in Bezug auf die Schoumlpfung (in creaturis) eine hinsichtlich der Schrift (in scripturis) und eine hinsichtlich der Sitten (in moribus) Die erste erwaumlchst aus der Bewunderung (admiratio) die zweite aus der Lektuumlre (lectio) die dritte aus der umsichtigen Beobachtung (circumspectio)

Zuerst bringt die admiratio die Frage (quaestio) hervor die Frage das Erforschen (investi-gatio) und das Erforschen die Entdeckung (inventio) Dies ist damit die Bewunderung der Ord-

55 Fuumlr den altniederlaumlndischen Text vgl Wijk (cf Anm 49) S 155 Zum Antiphon das der Vigil vorangestellt ist vgl Anm 50

286 Anselm Rau und Johanna Scheel

nung (dispositio) die Frage nach der Ursache und die Entdeckung des inneren Beweggrundes Die Bewunderung beruht auf der Betrachtung der Ordnung im Himmel das ist die Gleich-artigkeit von allem und der Houmlhen und der Tiefen (alta et depressa) auf der Erde Die Frage betrifft die Ursache (causa) des irdischen Lebens auf Erden und des himmlischen Lebens im Himmel Das Erforschen fragt nach dem inneren Beweggrund dass so wie die Erde auch das irdische Leben beschaffen ist und dass der Beschaffenheit des Himmels selbst auch das himm-lische Leben gleicht

Bei der Lektuumlre (lectio) aber erfolgt die Betrachtung (considerare) folgendermaszligenAls erstes dient die lectio dazu durch die Bereitstellung des Stoffes (materia) die Wahr-

heit zu erkennen (cognoscere) die meditatio fuumlgt ihn zusammen (coaptare) die oratio hebt ihn empor (sublevare) die operatio (Ausfuumlhrung) wendet ihn an (componere) und die contemplatio frohlockt in ihm selbst (exsultare)

Es ist durch die Meditation der Schriften zu erkennen auf welche Weise es sich gehoumlrt etwas zu wissen Als Beispiel steht geschrieben Declina a malo et fac bonum (Vg Ps 3627 ndash Wende dich ab von dem Boumlsen und tue Gutes EUuml Ps 3727) Deshalb wurde zuvor gesagt die meditatio wendet sich der lectio zu um sich vom Boumlsen abzuwenden und darauf Gutes zu tun Der Grund (causa) hierfuumlr ist wenn sich nicht zuerst das Boumlse zuruumlckzoumlge wuumlrde das Gute nicht herantreten koumlnnen Der innere Beweggrund (ratio) aber ist so wie zuerst die Sproumlsslinge des Boumlsen mit ihrer Wurzel ausgerissen werden muumlssen so muss danach das Gute (ein-)ge-pflanzt werden Warum wurde daher gesagt Wende dich ab von dem Boumlsen Weil es einem auf dem Weg begegnet Man wendet sich deshalb ab weil wir es wo auch immer nicht vermoumlgen durch Staumlrke zu widerstehen wir entkommen ihm lediglich wenn wir uns mit Klugheit und Vernunft (consilio et ratio) von ihm abwenden Auch muumlssen wir uns vom Boumlsen abwenden um dem Naumlhrstoff (materia) zur Suumlnde aus dem Weg zu gehen ndash beispielsweise ist von Hochmut (superbia) Begehrlichkeit (incontinentia) Begierde (concupiscentia) Neid (invidia) und Streit (contentio) abzulassen um sich vom Reichtum (abundantia) der Schoumlnheit (species) des Flei-sches und der Besitzgier (amor possessiones) abzuwenden Dies bedeutet bdquosich abzuwendenldquo Desgleichen wenn auf diese Weise von allem Boumlsen sich abzuwenden angeraten ist so wird die Verrichtung alles Guten verlangt Und so ist also der ebenso schuldig bzw angeklagt der allein nur alles Boumlse meidet wie derjenige der nicht zugleich all das Gute tut Aber wenn dies so ist wer ist dann kein Angeklagter (reus) Folglich wird uns anbefohlen uns von allem Boumlsen loszusagen Andererseits kommt das Gute zum Einen aus dem was sich gehoumlrt (necessitas) und zum anderen aus dem Willen (voluntas) Es gehoumlren sich die Dinge einer Vorschrift (praecep-tum) und die eines Geluumlbdes (votum) alles uumlbrige wird erfuumlllt wenn eine Sache [also Schuld] mehr als nur vergolten wird (supererogare) und einem nichts mehr anlastet

Daher zielt die Meditation bei der lectio darauf ab zu ergruumlnden auf welche Weise et-was das erkannt wird gut ist warum und wie es zu erreichen ist weil es ndash ist es [ersteinmal] erkannt ndash auch zu verrichten ist Die Meditation ist das Entdeckungsvermoumlgen der vorgefassten Absicht (excogitatio consilii) zu erwaumlgen auf welche Weise das Gute das erkannt wurde erfuumlllt wird denn das Erkannte ist unbrauchbar wird es nicht vollbracht

Deshalb ist die Meditation bei der lectio eine dreifache Betrachtung nach der historia der allegoria und der tropologia Gemaumlszlig der historia erfolgt die Meditation wenn wir nach dem

Meditation und Gebet 287

vollendeten inneren Beweggrund der Dinge fragen die geschehen sind und diesen hinsichtlich seiner uumlbereinstimmenden Art und Weise (modus) bezuumlglich der Zeiten (tempora) und Orte (loci) bestaunen (admirare) Bei dieser Betrachtung der goumlttlichen Ratschluumlsse (iudicium) laumlsst man nicht davon ab daruumlber nachzudenken dass diese richtigen und gerechten (rectus et iustus) Entscheidungen zu keiner Zeit den Beistand [Gottes fuumlr die Menschen] entzogen (deesse) und durch sie das geschah was sich gehoumlrte und vergolten wurde was gerecht war (iustum fuit)

Die Meditation hinsichtlich der allegoria beschaumlftigt sich mit der Gliederung (dispositio) der vorangegangenen und zukuumlnftigen Dinge und so wie fuumlr den Verstand (intelligentia) an-gemessen richtet sie dabei ihre Aufmerksamkeit auf deren uumlbereinstimmende Bedeutung in ihrer bewundernswerten Vernunftmaumlszligigkeit (ratio) und Vorhersehung (providentia) und auf ihre fuumlr den Glauben (fides) geschaffene Gestalt (forma)

Bezuumlglich der tropologia beschaumlftigt sich die Meditation damit welche Frucht die Worte der lectio hervorbringen und erforscht (exquirere) was diese wenn sie ausgefuumlhrt werden [im Sinne des eigentlichen Aussprechens der Worte aber auch die Ausfuumlhrung ihres Inhaltes] ein-pflanzen (insinuere) und dabei zugleich lehren was zu vermeiden ist Sie stellt vor Augen was durch die lectio der Schrift zur Unterweisung (eruditio) zur Ermahnung (exhortatio) zur Troumls-tung (consolatio) und zum Schrecken (terror) dient Hierdurch erleuchtet die tropologia dahin-gehend was zum Verstehen der Tugenden (virtus) fuumlhrt sie naumlhrt (nutrire) den Affekt (affectio) und lehrt (edocere) die Lebensfuumlhrung auf dem Pfad der Tugenden

Die Meditation der Sitten (mos) erfolgt gemaumlszlig der Affekte (affectus) der Erwaumlgungen (cogi-tationes) und der Werke (opera)

Hinsichtlich der Affekte ist zu betrachten wie sie recht und aufrichtig (rectus et sincerus) zu sein vermoumlgen damit ist gemeint auf das und zu was hin sie geschuldet sein muumlssen und in welcher Weise sie zu sein haben Zu differenzieren ist naumlmlich dass das was sich nicht gehoumlrt (non oportet) boumlse ist und zugleich das was sich gehoumlrt zu lieben ist ndash das zu lieben das sich gleichwie nicht gehoumlrt ist boumlse Daher handelt es sich um einen guten Affekt wenn er auf das ausgerichtet ist auf das er verpflichtet ist und in der Weise wie es sich gehoumlrt

Amnon liebte (diligere) seine Schwester und dies war der Affekt zu dem er bestimmt war doch weil er Boumlses begehrte war es nicht der Affekt wie er ihn schuldete (vgl 2 Sam 13) So kann der Affekt auf das gerichtet sein zu was er gehoumlrt dies aber nicht in der [angemessenen] Art und Weise Niemals aber kann der Affekt so sein wie er zu sein hat wenn er nicht auf das ihm Zugehoumlrige ausgerichtet ist Auf das ausgerichtet zu was er gehoumlrt bedeutet dass er recht ist und in der Art und Weise wie es sich gehoumlrt und dementsprechend ist er rein Daher werden die Affekte in den Erwaumlgungen betrachtet damit sie rein (mundus) und geordnet (ordi-natus) sind Rein sind sie wenn weder etwas Boumlses von den Affekten hervorgebracht wird noch das Boumlse die Affekte hervorbringt Dass sie geordnet sind meint wenn sie vernuumlnftigerweise aufgrund des ihnen eigenen Anlasses (suo tempore) aufkommen (advenire) Es ist nicht ohne Schaden (vitium) [naumlmlich im Sinne des korrekten Vorgehens nicht ohne Formfehler] bereits das Gute zu einem diesem nicht angemessenen Zeitpunkt zu erwaumlgen wie etwa an die lectio waumlhrend der oratio zu denken oder auch an die oratio waumlhrend der lectio

Bei den Werken ist als erstes zu betrachten was zum Beispiel durch die gute Absicht (bona intentio) geschieht Um eine gute Absicht handelt es sich wenn sie einfach und aufrichtig ist

288 Anselm Rau und Johanna Scheel

(simplex et recta) Die bona intentio ist arglos ohne Hinterlist (malitia) und aufrichtig ohne Ignoranz (ignorantia) Die naumlmlich ohne Hinterlist ist besitzt den Eifer (zelus) Ist sie aber aus der [bewussten] Unkenntnis gegenuumlber dem Wissen (scientia) (Roumlm 102) geboren verfuumlgt sie nicht uumlber den [wahren] Eifer Daher ist es notwendig dass die Absicht aufrichtig ist in der Bescheidenheit (discretio) und arglos im Wohlwollen (benignitas) Bei den Werken ist zu be-trachten dass sie aus der aufkommenden guten Absicht heraus mit beharrlicher Leidenschaft (fervor) schlieszliglich ans Ziel gefuumlhrt werden damit nicht die Beharrlichkeit (perseverantia) ge-laumlhmt (torpere) und die Liebe (amor) nicht lau wird (tepescare)

Auf gleiche Weise erfolgt die meditatio der Sitten in einer zweifachen Betrachtung naumlmlich einer inneren und einer aumluszligeren Die aumluszligere blickt auf das Ansehen (fama) die innere auf das Gewissen (conscientia) Die aumluszligere Betrachtung erfolgt gemaumlszlig dem was ziert (decere) und was nuumltzt (expedire) was als Beispiel (exemplum) dient und was den Lohn (meritum) hervorbringt ndash uns zum Lohn und den Naumlchsten als Beispiel Die innere Betrachtung dagegen schaut auf das Gewissen damit es rein (mundus) sei ohne Anklage (accusatio) zu erleiden (pati) ob nun durch die Laumlhmung (torpor) des Guten oder die Hartnaumlckigkeit (praesumptio) des Boumlsen Rein ist aber jenes Gewissen das weder durch das Vergangene zu recht angeklagt (accusare) noch durch das Gegenwaumlrtige unrechtmaumlszligig erfreut (delectare) wird

Daher laumlsst die meditatio der Sitten ihre Betrachtung nicht ruhen damit sie jegliche Re-gungen (motus) die sich im Herzen erheben bemerkt und erwaumlgt woher sie kommen und worauf sie abzielen (tendere) Das heiszligt woher sie kommen gemaumlszlig ihrem Ursprung und wo-nach sie streben hinsichtlich ihres Ziels Alles ist naumlmlich eine Bewegung aus irgendetwas und auf irgendetwas Die Bewegungen des Herzens sind manchmal offenkundigen Ursprungs manchmal entspringen sie aber auch Verborgenem Bei denen der Ursprung offenkundig ist ist er bisweilen durch das Gute bisweilen aufgrund des Boumlsen erwiesen Was offenkundig gut ist kommt von Gott was aber deutlich boumlse erscheint entspringt entweder dem Teufel oder dem Fleisch Dies sind naumlmlich die drei Urheber (auctores) aller Vorstellungen (suggestio) und aller Eingebungen (aspiratio) die unsichtbar an das Herz herantreten und aus jenen drei hervor-gehen Entspringen die Bewegungen des Herzens daher dem Verborgenen koumlnnen sie manch-mal aus dem Guten und dem Geheimen hervorgehen und sind manchmal boumlse und zweifelhaft (dubius) Die dem Guten entspringen kommen von Gott die aber dem Boumlsen entstammen sind entweder des Teufels oder des Fleisches

Die Bewegungen die folglich offenkundig sind sei es im Guten oder Boumlsen werden auf den ersten Blick durch ihren Ursprung angezeigt Jene aber die zweifelhaft bleiben hinsichtlich ih-res Grundes sind am Ende zu uumlberpruumlfen (probare) Ihr Ergebnis [oder Ausgang] (exitus) zeigt naumlmlich deutlich was vom Ursprung her verborgen war und deswegen muss derjenige der es nicht vermochte den Ausgangspunkt seiner Herzensbewegungen zu beurteilen (iudicare) das Ziel und die Ausfuumlhrung [bzw Vollendung] (finis et consummatio) untersuchen (investigare) Die Bewegungen naumlmlich die zweifelhaft und ungewiss sind sind vom verborgenen Guten oder Boumlsen Wie gesagt wurde haben die schlechten Regungen ihren Ursprung entweder beim Teufel oder im Fleisch Diese aber sind beide boumlse sie unterscheiden sich nicht indem oder durch was sie boumlse sind doch unterscheiden sie sich dahingehend dass die Regungen des Her-zens die dem Fleisch entspringen haumlufig aus einer Notwendigkeit (necessitas) heranwachsen

Meditation und Gebet 289

die aber die tatsaumlchlich vom Teufel kommen nehmen noch oumlfter wider der Vernunft (ratio) ihren Anfang (oriri) Was naumlmlich vom Teufel eingegeben wird (suggerere) ist in der Tat dem Menschen fremd und wird deswegen haumlufig von der menschlichen Vernunft abgelehnt weil er beispielsweise unlaumlngst gesaumlttigt Hunger leidet (pati) kurz zuvor noch trunken (inebriatus) vor Durst (sitis) gluumlht (aestuare) oder wenn er nach einem ausgiebigen Schlaf (dormitio) sich erhebend vom Traum (somnus) bedruumlckt (praegravare) wird

Hieraus also werden die Werke des Teufels differenziert betrachtet weil sie ja an den Men-schen von auszligen herangetragen werden und der menschlichen Vernunft fremd sind Bei den Werken des Fleisches und ihren Eingebungen liegt der Grund des Oumlfteren in einer vorangegan-genen Notwendigkeit Aber weil sie Ziel und Maszlig (modus et mensura) uumlbersteigen wachsen sie zum Uumlberfluss (superfluitas) heran Dies ist als Beispiel eben gerade dann der Fall wenn nach der Einnahme einer Mahlzeit der Hunger hemmungslos (immoderatus) begehrt (appetere) und nach Enthaltsamkeit (abstinentia) das Maszlig (mensura) bei der Aufnahme von Speise (edulium) nicht gehalten wird

Daher wird die meditatio der Sitten aufgrund eines dreifachen Urteils betrieben Das erste urteilt zwischen Tag und Nacht das zweite zwischen Tag und Tag und das dritte schlieszliglich untersucht den gesamten Tag (vgl Roumlm 145) Zwischen Nacht und Tag zu urteilen meint das Boumlse vom Guten zu (unter-)scheiden Die Beurteilung zwischen Tag und Tag bedeutet eine Un-terscheidung zwischen etwas Gutem und etwas Besserem vorzunehmen Uumlber den gesamten Tag zu richten ist schlieszliglich das einzelne Gute fuumlr den eigenen Lohn zu ermessen (aestimare)

So hat die meditatio der Sitten bei jeglichem Umgang (conversatio) das Ziel und die Rich-tung (directio) im Blick Das Ziel ist wohin man strebt die Richtung wodurch man leichter ans Ziel gelangt Jeder naumlmlich der zu irgend etwas strebt so wie etwas seine Bahn (cursus) lenkt und unaufhoumlrlich weiterzieht kommt schneller ans Ziel Es gibt daher Gutes durch das man stark bewegt ist (moveri) zugleich gibt es aber wenig her durch das man vorankommt (pro-moveri) Anderes dagegen fuumlhrt mit etwas Muumlhe (labor) zu groszligem Gewinn (fructus) Und diese sind folglich zu unterscheiden und das Bessere das mehr nuumltzt auszuwaumlhlen Welches auch immer mehr nuumltzt ist besser und es gehoumlrt sich jedes Werk auf seinen Ertrag hin zu beurteilen Indem viele diese Unterscheidung (discretio) nicht einhielten haben sie sich zwar aufs aumluszligerste bemuumlht sind jedoch nur wenig vorangekommen weil sie das Auge aumluszligerlich so sehr auf die Gestalt (species) der Werke richteten und nicht innerlich auf den Gewinn durch die Tugenden blickten Sie ergoumltzen sich daran groszlige Taten zu verrichten anstatt dass sie das Nuumltz-liche (utilia) uumlben (exercere) um sich selbst zu bessern (emendari) Dabei schaumltzten (diligere) sie vielmehr das durch das sie den Anschein erwecken (videri) konnten [so zu sein]

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zunaumlchst das was man schuldet entweder auf-grund einer Vorschrift (praeceptum) oder eines Geluumlbdes (votum) Diesbezuumlglich ist die erste Tat der meditatio zu ermitteln ist sie oder es erfuumlllt fuumlhrt es zum Lohn und wenn nicht bringt dies den Anklagezustand (reatus) hervor Es sind also zuerst die Dinge zu tun die nicht ohne Schuld (culpa) weggelassen werden koumlnnen Danach ist die meditatio alsdann so zu verrichten dass wenn etwas durch freiwillige Uumlbung (exercitatio) noch hinzugefuumlgt wird die Pflicht-erfuumlllung [eigtl Schuld] (debitum) nicht verhindert wird (impedire) Die einen die das nicht zu leisten vermoumlgen was sie schulden wollen was sie nicht muumlssen Die anderen wenn sie im-

290 Anselm Rau und Johanna Scheel

stande sind zu tun was sie schulden bringen freiwillig Hindernisse (impedimentum) mit sich indem sie etwas wollen was sie nicht muumlssen

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zwei Dinge des Boumlsen vor denen man bei der Ver-richtung von Gutem besonders auf der Hut sein muss die Betruumlbnis [Niedergeschlagenheit] (afflictio) und die Besessenheit [Vereinnahmung] (occupatio) Die afflictio fuumlhrt zur Bitterkeit (amaritudo) die occupatio zur Zerstreuung (dissipatio) Mit der afflictio verbittert die Suumlszlige (dulcedo) des Geistes und mit der occupatio wird die Ruhe (tranquillitas) zerstoumlrt (dissipare) Es herrscht Betruumlbnis wenn man fuumlr jene Dinge die man nicht vermag aufgrund der eigenen Ungeduld (impatientia) ungluumlcklich wird (urere) Dagegen handelt es sich um Besessenheit (occupatio) wenn man in seinem Handeln (nach seinem Vermoumlgen) aufgrund der impatientia gequaumllt wird (agitare) Folglich darf die Seele (animus) nicht aufgrund des Boumlsen verbittert wer-den sie muss ihr Unvermoumlgen (impossibilitas) geduldig (patienter) aushalten Genauso darf sie aber auch nicht vom Boumlsen eingenommen werden und darf ihr Vermoumlgen (possibilitas) nicht uumlber ihr eigenes Maszlig hinaus ausdehnen (extendere) Daher muss die meditatio der Sitten in einer weiteren Betrachtung der Lebensfuumlhrung zu einem Urteil kommen und dabei billigen dass es weder gut ist die Dinge die man nicht vermag ungeduldig (impatienter) zu verlangen (appetere) noch die welche man erreicht toumlricht (insipienter) zu verschmaumlhen (fastidire) Wer naumlmlich immer das begehrt was er nicht vermag und das was er [jedoch] vermag verabscheut wird sich weder am Gegenwaumlrtigen erfreuen (frui) noch am Zukuumlnftigen saumlttigen (satiare) Er verlaumlsst naumlmlich das Gute unentwickelt vor der Vollendung und eignet sich das gerade erst Be-gonnene vorzeitig an Deswegen ist es gut aufgrund des eigenen Guten zufrieden zu sein und das gegenwaumlrtige Gute durch hinzukommendes Gutes zu vermehren und es nicht aufgrund des Zukuumlnftigen wegzuwerfen (abicere) Der Austausch (commutatio) des Guten ist naumlmlich ein Leichtes (levitas) seine Uumlbung (exercitatio) aber die Tugend Oft eilen sie auf unterschiedlichen Wegen die einen die ein fruumlheres durch ein neues Gutes fallen lassen (abicere) und die ande-ren die [sich] vom Untersten zum Houmlchsten emporschwingen (conscendere) Wer naumlmlich nach Veraumlnderung (mutatio) fragt ist uumlberdruumlssig (fastidiosus) so wie der der nach dem Voran-schreiten (profectus) strebt eifrig bemuumlht ist (studiosus) Am aufrechtesten beschreitet daher derjenige den Weg der dabei so auf das Bessere brennt (fervere) dass er des Guten nicht uumlber-druumlssig wird sondern es vorerst empor haumllt solange bis er es spaumlter zu der ihm angemessenen Zeit sich aneignet (apprehendere)

Abbildungsnachweis

Einband Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders

Farbtafeln 1 (zu Beitrag Rosenwein) Coll BNU de Strasbourg ndash 2 (zu Beitrag Ferguson) Ar-chiv der Verf ndash 3 (zu Beitrag Herding) Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preu-szligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders ndash 4 (zu Beitrag Droste) R Kahsnitz Die Groszligen Schnitzaltaumlre Spaumltgotik in Suumlddeutschland Oumlsterreich Suumldtirol Muumlnchen 2005 Taf 53 ndash 5 6 (zu Beitrag Schedl) 75 Jahre 1933ndash2008 Kirche Mutter vom Guten Rat Festschrift und Chro-nik FrankfurtM 2008 S 92 Dr Bernd Konrad Radolfzell ndash 7 8 9 (zu Beitrag Zaumlh) Archiv des Autors ndash 10 (zu Beitrag Niehr) Universitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Media-thek 11 12 (zu Beitrag Muumlller) Autorin ndash 13 14 15 (zu Beitrag Schlie) Su concessione del Ministero dei beni e delle attivitagrave culturali e del turismo ndash Galleria Nazionale delle Marche ndash Urbino Archivio fotografico Archiv der Verf F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 ndash 16 17 (zu Beitrag Stoichita) D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 ndash 18 19 20 (zu Beitrag Schmidt) London British Museum C Geissmar-BrandiE Louis (Hgg) Glaube Hoffnung Liebe Tod Wien 1995 S 149 Archiv Autor ndash 21 (zu Beitrag Jung) Autorin

Textabbildungen Droste 1 3 4 Autorin 2 E Oellermann Der Hochaltar in St Martin zu Lorch am Rhein in H KrohmE Oellermann (Hrsg) Fluumlgelaltaumlre des spaumlten Mittelalters Ber-lin 1992 Abb 2 ndash Ferguson 1ndash3 Archiv der Verf ndash Frese 1 2 3 5 M BrandtA Eggebrecht (Hgg) Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen Katalog der Ausstellung Hil-desheim 1993 Bd 1 S 386f Abb 197 u 198 Bd 2 S 583 KatNr VIIIndash32 S 604 KatNr IXndash8 4 G LutzA Weyer (Hgg) 1000 Jahre St Michael in Hildesheim Kirche ndash Kloster ndash Stifter Peterberg 2012 S 148 Abb 118 ndash Gruumlndler 1ndash4 L DomenicoA Nova (Hg) Leonardo da Vincirsquos Anatomical World Language Context and Disegno Akten der Internationalen Tagung Florenz 30ndash31 Mai 2008 Venedig 2011 S 237 S 236 S 241 S 186 5 6 Le journal de Jacopo da Pontormo traduit par Jean-Claude Lebensztejn avec la collaboration drsquoAlessandro Parronchi Paris 1992 S 46 S 50 ndash Herding 1 2 3 4 5 6 7 Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders 8 Max J Friedlaumlnder Early Netherlandish Painting 14 vols Leiden und Bruumlssel 1967ndash1974 vol II 1967 pl 10 Nr 3i 9 Wolfenbuumlttel Herzog-August-Bibliothek ndash Jung 1 2 3 4 5 Autorin ndash Kessler 1 6 7 Autor 2 3 Museo delle Terme Rom 4 British Museum London 5 Alexei Lidov ndash Maxwell 1 2 AHN 3 Autor 4 Sancho el Mayor y sus herederos ed I Bango Torviso et al 2006 cat 25 5 BNE ndash Muumlller 1 Italian painting c 1330ndash1550 I National Gallery in Prague II Collections in the Czech Repub-lic Illustrated summary catalogue Prag 2008 2 Collection of The John and Mable Ringling Museum of Art the State Art Museum of Florida Florida State University 3 2014 copy Archivio Fotografico ndash Fondazione Musei Civici di Venezia ndash Niehr 1 A Schuttwolf (Hg) Ausst-Kat Jahreszeiten der Gefuumlhle Das Gothaer Liebespaar und die Minne im Spaumltmittelalter Ostfil-

400 Abbildungsnachweis

dern-Ruit 1998 2 D de Vos Hans Memling Das Gesamtwerk AntwerpenStuttgart 1994 S 278ndash283 TH Borchert Hans Memling Portraits Stuttgart 2005 S 173f Nr 23 3 Univer-sitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Mediathek ndash Pfisterer 1 E Steinmann ldquoLa mano di Michelangeloldquo in Studien aus Kunst und Geschichte Friedrich Schneider zum siebzigsten Geburtstag Freiburg iBr 1906 unnum Taf 2 R Bernini ua La mano e il volto di Antonio Canova PossagnoQuinto di Treviso 2008 S 197 3 U Klein Zur Forschungsgeschichte des Duumlrer-Hauses in GU GroszligmannF Sonnenberger (Hgg) Das Duumlrer-Haus Neue Ergebnisse der Forschung Nuumlrnberg 2007 S 105 nach Carl A Heideloff Die Ornamentik des Mittelalters Bd 3 Nuumlrnberg 1847 S 42 4 WH Vroon Het wonderlid van Jan de Witt en andere vaderland-se relieken Nijmegen 1997 S 68 5 Autor nach GF Tomasini Petrarca Redivivus Padua sup21650 S 128 6 A Picturesque Tour Through Holland Brabant and Part of France made in the autum of 1789 by Samuel Ireland London sup21796 Bd 2 Taf nach S 13 ndash Pinkus 1 2 3 4 5 6 Autor 7 8 Institut fuumlr Kunstgeschichte Universitaumlt Wien Fotothek ndash RauScheel 1 M Gregori Uf-fizien und Palazzo Pitti Muumlnchen 1994 S 31 2 Den Haag Koninklijke Bibliotheek ndash Raeck 1 2 5 7 Fotothek des Instituts fuumlr Archaumlologische Wissenschaften AbtI Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main 3 Zeichnerische Rekonstruktion M Junghans nach H-V Herrmann Olympia ndash Heiligtum und Wettkampfstaumltte Muumlnchen 1972 Abb 95 4 Antikensammlung Staatliche Museen zu Berlin Foto Johannes Laurentius 6 W Riezler Weissgrundige attische Lekythen Muumlnchen 1914 Taf 23 8 Deutsches Archaumlologisches Institut Athen Fotothek ndash Reudenbach 1 F MuumltherichJE Gaehde Karolingische Buchmalerei Muumlnchen 1979 Taf 4 2ndash4 httpwwwbibliotheca-laureshamensis-digitalde (Zugriff 20022014) ndash Schmengler 1 2 3 Torsten Saumlnger Frankfurt 4 5 6 Eric Tschernow Berlin ndash Schedl 1ndash3 Dr Bernd Konrad Radolfzell 4 FrankfurtMain-Niederrad Pfarrarchiv der katholischen Kirchengemeinde Mut-ter zum Guten Rat ndash Schlie 1 Archiv der Verf 2 Archiv der Verf + D E Katz The Contours of Tolerance Jews and the Corpus Domini Altarpiece in Urbino in Art Bulletin 85 (2003) S 647ndash661 S 647 3 F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 Schmidt 1 2 London British Museum 3 M Geisberg Der Meister ES Leipzig 21924 4 Archiv Autor ndash Taxer 1 2 O Paumlcht Altniederlaumlndische Malerei Von Rogier van der Weyden bis Gerard David Muumlnchen 1994 Abb 91 S 118 Abb 93 S 120 3 4 E Panofsky Die altniederlaumlndische Malerei Ihr Ursprung und Wesen Bd 2 Koumlln 2006 Abb 387 S 236 Abb 358 S 214 ndash Stoichita 1 D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 2 3 J Bialostocki Les Museacutees de Pologne Bruxelles 1966 ndash Zaumlh 1 2 Archiv des Verf 3 Metropolitan Museum of Art Bulletin 58 (2001) S 17 4 G ForsythK Weitzmann The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai The Church and Fortress of Justinian Plates Ann Arbor (Mi) 1973 Plate 121

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie detaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlber httpdnbd-nbde abrufbar

copy 2015 by Gebr Mann Verlag Berlin wwwgebrmannverlagde

Alle Rechte insbesondere das Recht der Vervielfaumlltigung und Verbreitung sowie der Uumlbersetzung vorbehalten Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form durch Fotokopie Mikrofilm CD-ROM usw ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet vervielfaumlltigt oder verbreitet werden Bezuumlglich Fotokopien verweisen wir ausdruumlcklich auf sectsect 53 54 UrhG

Gedruckt auf saumlurefreiem Papier das die US-ANSI-NORM uumlber Haltbarkeit erfuumlllt

Umschlaggestaltung unter Verwendung von Farbtafel 3 Jacob Claesz van Utrecht Kreuzabnahme Triptychon Mitteltafel 1513 Berlin Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P AndersLayoutkonzeption MampS Hawemann Berlin Satz Gebr Mann Verlag Berlin Druck und Verarbeitung druckhaus koumlthen GmbH KoumlthenSchriftart Minion Papier 135g BVSPrinted in Germany ISBN 978-3-7861-2753-6

Gedruckt mit Unterstuumltzung von

Dr Marschner Stiftung

Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung fuumlr Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

Wilhelm-Hahn-und-Erben-Stiftung

Richard Stury Stiftung

Meditation und Gebet ndash Affektsteuerung und Imagination durch Wort und Bild in der mittelalterlichen Devotionspraxis

Anselm Rau und Johanna Scheel

Einleitung

Kernelement der mittelalterlichen Praktiken in Meditation und Gebet ist die habituelle und emotionale Ausrichtung auf Gott in der Nachfolge Christi Gerade die Kunstgeschichte ist da-rum bemuumlht Devotionspraktiken zu untersuchen und ihre Bedeutung fuumlr die Kunst des Mit-telalters erfahrbar greifbar und damit lesbar zu machen Dabei geht es nicht darum einzelnen Bildwerken bestimmte Gebetstheorien als motivgebendes Programm zu hinterlegen sondern Bildwerke als Hilfsmittel im Gebet in den durch diese Theorien ausformulierten Kontext zu stellen und ihre Funktion fuumlr den betenden Bildbetrachter zu diskutieren Als Grundlage hier-zu bedarf es der zeitgenoumlssischen theoretischen und theologisch-philosophischen Begruumlndung von Meditation und Gebet Die Werke Hugos von St Viktor vor allem das eher traditionelle Traktat De meditatione und die innovative Schrift De modo orandi bieten sich aufgrund ihrer Rezeption und weiten Verbreitung als auch wegen ihrer intellektuellen Qualitaumlt bei gleichzeiti-ger Anschaulichkeit zur Beschreibung und Analyse des Wesens der Struktur und des Vollzugs der Meditation und des stufenweisen emotionalen Gebets im Mittelalter an Durch die von Hugo als Anwendungsbeispiele gewaumlhlten Psalmentexte lassen sich daruumlber hinaus schlaglicht-artig diachron Vergleichsbeispiele eroumlffnen und zwar mit dem im 13 Jahrhundert entstande-nen Lignum Vitae Bonaventuras und mit De spiritualibus ascensionibus des Gerard Zerbolt von

268 Anselm Rau und Johanna Scheel

Zutphen aus dem 15 Jahrhundert Hieran kann ebenfalls die Ruumlckbindung des Stufengebets an Bildbeispielen erprobt werden

De meditando

In De meditando1 behandelt Hugo die Meditation deren spirituelle Abfolge er in lectio medita-tio oratio operatio und contemplatio strukturiert2 Die uumlbliche monastische Stufenabfolge im Gebet zeigt als festes Geruumlst den Dreischritt aus lectio meditatio oratio der ab dem 12 Jahr-hundert nicht nur bei Hugo sondern beispielsweise auch bei Guigo dem Kartaumluser in seiner Scala claustralium um die contemplatio erweitert wird3 Weitere oder andere Hinzufuumlgungen zu dem Tenar wie hier die operatio oder die Ausgestaltung der Unterteilungen der Stufen koumlnnen von Autor zu Autor variieren Letztendlich ist die Verbindung von Bibellektuumlre und Meditation durch Hugo nicht innovativ sondern allgemeine monastische Praxis Gemaumlszlig der philosophischen Logik erfolgt dabei die Eroumlrterung der Dinge und Sachverhalte nach Hugo uumlber die Erwaumlgung ihrer Ursachen und ihrer inneren Beweggruumlnde sowie hinsichtlich der ka-tegorialen Unterscheidung des Schriftsinnes nach historia allegoria und tropologia

Die Evidenz der Affekte4 bei Meditation und Gebet findet allerdings ungewoumlhnlich starke Betonung in De meditando Anhand des inhaltlichen Leitgedankens des gesamten Traktats aus Psalm 3627 (Vg) Declina a malo et fac bonum verifiziert Hugo bei der Erlaumluterung der gerade

1 Hugo von St Viktor De meditando PL 176 993ndash998 Eine Uumlbersetzung auf Grundlage der Ausgabe von Migne findet sich am Ende des Beitrages vorgenommen wurde ein Abgleich des Texte mit der nicht kritischen Edition und der franzoumlsischen Uumlbersetzung bei Baron ndash vgl R Baron Six opuscules spirituelles La Meacuteditation La Parole de Dieu La reacutealiteacute de lrsquoAmour Ce qursquoil faut aimer vraiment Les cinq Septeacutenaires Les sept Don de lrsquoEsprit-Saint Einfuumlhrung Textkritik Uumlbersetzung und Anmerkungen von R Baron Paris 1969 S 44ndash59 Weitere Titel des Textes De generibus meditationum et quae sit utilitas eorum und De meditatione siehe ebd S 9 Es sind insgesamt 103 Abschriften erhalten ndash 20 aus dem 12 Jh 29 aus dem 13 Jh 17 aus dem 14 Jh und 34 aus dem 15 Jh Vgl R Goy Die Uumlberlieferung der Werke Hugos von St Viktor Ein Beitrag zur Kommunikationsgeschichte des Mittelalters Stuttgart 1976 S 196ndash211 hier S 211 Im Gegensatz zu De modo orandi wurde De meditando nicht in Volkssprache uumlbertragen vgl ebd S 501ndash504 Die Aufmerksamkeit der Forschung fuumlr dieses kurze Traktat ist relativ gering einige seiner Besonderheiten bei Baron op cit S 11ndash172 Diese StufungAbfolge bietet er auch im Didascalicon Hugo von St Viktor Didascalicon de studio legendi Studienbuch uumlbers u eingel v Th Offergeld Freiburg [ua] 1997 59 S 348349 bdquoVier Dinge sind es durch die nun das Leben der Gerechten zur Ausuumlbung gelangt und sich gleichsam auf vier Stufen zur zukuumlnftigen Vollkommenheit erhebt naumlmlich das Studium oder die Belehrung die Meditation das Gebet und das Handeln Darauf folgt noch eine fuumlnfte Stufe die Kontemplation []ldquo Aumlhnlich auch in De archa noe moralia Eine teils woumlrtliche Meditationslehre wiederholt Hugo in In salomonis Ecclesiasten homilia 191 An anderer Stelle wird der Dreischritt mitunter in meditatio speculatio contemplatio umgewandelt Vgl K Ruh Geschichte der abendlaumlndischen Mystik Bd 1 Die Grundlegung durch die Kirchenvaumlter und die Moumlnchstheologie des 12 Jahrhunderts Muumlnchen 1990 S 367f 3 Guigo der Kartaumluser Scala claustralium Die Leiter der Moumlnche zu Gott 2 verb Aufl hg v D Tibi OSB Nordhausen 2009 Eine direkte Abhaumlngigkeit Guigos von Hugo muss dies allerdings nicht bedeuten vgl Ruh (cf Anm 2) S 2224 Auch in De comtemplatione nehmen die Affekte einen besonderen Raum ein ndash affectus wird nicht definiert aber als Streben nach Demut Liebe und ad contemplationis puritatem beschrieben (so Ruh (cf Anm 2) S 374 dort noch Weiteres zu den Unterstufen der einzelnen Stufen)

Meditation und Gebet 269

vom tropologischen Aspekt geleiteten Meditation der Sitten den Charakter und den Nutzen der Affekte Die tugendhafte Lebensfuumlhrung im Denken und Handeln konstituiert sich aus der Erkenntnis der nach der Vernunft geordneten und auf das Ziel Christus ausgerichteten rechtmaumlszligigen und reinen affectus Der Affekt als motus cordis ist in augustinischer Tradition untrennbar mit dem Willen (voluntas) als Vermoumlgen der Seele verknuumlpft Dadurch ist alles ge-ordnet nach der Vernunft ein Akt des Willens in strebendem Verlangen (cupiditas) oder in Furcht (timor) begruumlndeter Ablehnung und dessen Vollzug in Freude (laetitia) oder Trauer (tristitia)5 Aufgrund der tiefen postlapsalen Ambivalenz der Bewegungen des Herzens in dem was es liebt unbeherrscht nach der cupiditas und geordnet nach der caritas bedarf es zudem der umsichtigen circumspectio (Betrachtung) ob die affectus im Guten oder Boumlsen begruumlndet sind6 Konkret bedarf es der eindringlichen Betrachtung in der meditatio die den Ursprung der Affekte untersucht sowie den Antrieb (appetitus) des Willens7 Zu ergruumlnden ist also im Idealfall die bona intentio dh der rechtschaffene Anlass der affectus und der fuumlr sie unabding-bare auf das rechtmaumlszligige Ziel in unablaumlssiger Beharrlichkeit ausgerichtete Eifer (zelus) Bei der meditatio handelt es sich gewissermaszligen um die Begutachtung der Zielrichtung (directio) der affectus das heiszligt ausgehend von ihrem Ursprung uumlber den eigentlichen Vollzug bis schlieszliglich in ihrer Vollendung ein Abgleich mit dem angestrebten Objekt moumlglich ist Hierdurch bildet die Meditation und mit ihr auf dieser aufbauend die contemplatio den eigentlichen Denkprozess und zugleich seine Ergebnisse Affectus besitzt somit einen kognitiven Inhalt bzw die Kognition ist affektiv bestimmt der Affekt ist letztlich Ausgangspunkt Mittel und Ziel des Denkens da erst uumlber ihn die Angleichung an Gott in Christus moumlglich ist Letztlich kann Gott nur uumlber die Liebe erkannt werden

In De meditando ist es Hugo ein Anliegen anhand der fortwaumlhrenden Gegenuumlberstellung der Betrachtung bzw Ergruumlndung des Guten und des Boumlsen die Notwendigkeit der richtigen Reihenfolge der Gebetsschritte zu betonen sowohl was das strebende Verlangen nach dem Gu-ten betrifft als auch seine praktische Ausfuumlhrung Dies beweist der Anfangspunkt der inneren Gewissenspruumlfung als Prozess von Reue und Buszlige in der Abwendung von den Lastern und der damit verbundenen emotionalen Dispositionen Denn nicht die rein aumluszligerliche und theo-retische Betrachtung der guten Werke und das durch sie erworbene Ansehen sind nuumltzlich sondern die Betrachtung des inneren Gewinns durch die Tugenden Gutes zu unterlassen bleibt nicht ohne Schuld und ist als Fehler oder Schaden was die Struktur der meditatio betrifft so-wohl hinsichtlich des schematisierten Meditationsablaufes als auch bezuumlglich des persoumlnlichen

5 Augustinus De civitate Dei hg v B DombartA Kalb Turnhout 1955 pars II Civitas terrena et civitas caelestis 14 6 S 421 ndash ebenso Augustinus De civitate Dei (1955) pars II 14 7 S 422 Zur Theorie des Willens bei Augustinus siehe A Dihle The Theory of Will in classical Antiquity Berkeley[ua] 1982 S 123ndash1446 Circumspectio wird der Kardinaltugend der prudentia zugeordnet spaumlter dann gerade auch bei Thomas v Aquin vgl Ruh (cf Anm 2) S 373) Auszliger in De meditando vgl zur circumspectio bei Hugo von St Viktor De institutione novitiorum De virtute orandi De laude caritatis De arrha animae hg v H B FeissP SicardD Poirel Turnhout 1997 S 46 413ndash423 Fuumlr weitere Beschaumlftigung mit der Sicht Hugos auf die Tugenden siehe I vanrsquot Spijker Hugh of Saint Victorrsquos Virtue Ambivalence and Gratuity in I P BejczyR G Newhauser (Hgg) Virtue and Ethics in the Twelth Century Leiden 2005 S 75ndash94 ebenso in I vanrsquot Spijker The Multiple Meaning of Scripture The Role of Exegesis in Early-Christia and Medieval Culture Leiden 2009 S 2262277 Vgl auch Hugo In Ecclesiasten I 116 (fuumlr 161) D - 117A

270 Anselm Rau und Johanna Scheel

Vorankommens ein Formfehler (vitium) Erleuchtendes Mittel der meditatio ist die lectio in ihren ermahnenden troumlstenden und Furcht evozierenden Unterweisungen Diese fuumlhren zu einem Verstehen der Tugenden (virtus) und naumlhren die affectio welche erst die Lebensfuumlhrung auf dem Pfad der Tugenden generiert Damit spielt Hugo auf den Aspekt des stufenweisen Vo-ranschreitens (profectus) an der sich im Erkennen und Vollzug der Affekte ausgerichtet auf das Ziel selbstreflexiv konstituiert Diesbezuumlglich ist die Ermahnung Hugos entscheidend sich vor der Betruumlbnis des anfaumlnglichen eigenen Unvermoumlgens zu huumlten um das houmlhere Gute zu erreichen Zugleich warnt er aber auch vor der Vereinnahmung durch ablenkende Zerstreu-ung die eine sprunghafte ungeduldige Betrachtung des einzelnen Guten nach sich zieht Hier spricht Hugo zwei grundlegende das Verstaumlndnis des Aufstiegs betreffende Aspekte an Man muss aufgrund des nach eigenem Vermoumlgen erreichten Guten zufrieden sein und dabei auch persoumlnliche Unzulaumlnglichkeiten ertragen (patienter) lernen Das erreichte Gute ist dabei das Fundament auf das Zukuumlnftiges aufzubauen ist eilt man unstet von einem zum naumlchsten geht das bereits Erreichte verloren Erst durch die fortwaumlhrende Uumlbung festigen sich die Tugenden was im Umkehrschluss ein Voranschreiten in der diese selbst konstituierenden affectio erst er-moumlglicht

Die Augustinische Tradition in die sich Hugo stellt macht bereits der einleitende Satz von De meditando deutlich Meditatio est frequens cogitatio modum et causam et rationem unius cuiusque rei investigans8 In dem Pseudo-Augustinischen Traktat De spiritu et anima9 findet man ihn einmal woumlrtlich einmal in einer Abwandlung Der woumlrtlich uumlbereinstimmende Satz taucht in Kapitel 38 auf das von der Definition der Seelenkraumlfte handelt die im Anschluss als ingenium ratio intellectus und intelligentia definiert und durch contemplatio und caritas flankiert werden Eingebettet ist dieser Teil in die Diskussion der Seele als Abbildung und Aumlhn-lichkeit Gottes die es wiederherzustellen gelte Die zweite abgewandelte Version des Zitats findet sich in Kapitel 50 und verbindet die Meditation mit Weisheit Zerknirschung Devotion Gebet und Affekt bdquoMeditatio siquidem parit scientiam scientia compunctionem compunctio devotionem devotio perficit orationem Meditatio est frequens cogitatio curiosa et sagax ob-scura investigare et occulta ad notitiam trahere Scientia est quando homo ad cognitionem sui assidua meditatione illuminatur Compunctio est quando ex consideratione malorum suorum cor interno dolore tangitur Devotio est pius et humilis affectus in Deum humilis ex conscientia infirmitatis propriae pius ex consideratione divinae clementiae Oratio est mentis devotio id est conversio in Deum per pium et humilem affectum Affectus est spontanea quaedam ac dul-cis ipsius animi ad Deum inclinatio Nil enim ita Deum inclinat ad pietatem et misericordiam quemadmodum purus mentis affectusldquo

Letztendlich muumlndet eingeleitet durch das schlagwortartige bdquoDevotio est pius et humilis affectus in Deumldquo die Meditation im Affekt durch den das Gebet selbst als mentis devotio auf Gott hin vollzogen wird Waumlhrend Hugo diesen letzten Part in De meditando nicht uumlbernimmt

8 Diesen Satz findet man ebenfalls in Abwandlung in dem Ps-Hugonischen Traktat De contemplatione et eius speciebus vgl zu diesem Traktat Ruh (cf Anm 2) S 370ndash3809 PL 40 Col 779

Meditation und Gebet 271

begegnet er jedoch in einem anderen Traktat Hugos De modo orandi als zentrale Aussage wie-der Fuumlr De meditando kann er als bestimmender Unterton angenommen werden

De modo orandi

In De modo orandi10 setzt Hugo von St Viktor die rhetorische Form des Gebets in Relation zu Intention und Emotion des Betenden und legt das komplex verwobene Verhaumlltnis von Wort und Emotion systematisch dar Dabei ist die starke Betonung der zentralen Rolle der Affekte innerhalb des Gebets bis dahin einzigartig Hugo aumluszligert sich sogar so dass den frommen Af-fekten die gesamte Kraft des Gebets inne wohne bdquoin affectibus pietatis est omnis virtus orandildquo11

Nach einem Abriss uumlber den generellen Aufbau des Gebets der oratio12 die ausgehend von der meditatio der zweifachen Erkenntnis naumlmlich der eigenen Fehler wie der Barmherzigkeit Gottes zur compunctio13 fuumlhrt und diese in die devotio uumlberfuumlhrt (Kap 1) werden anhand rhe-torischer Formen die verschiedenen Gebetskategorien klassifiziert (Kap 2ndash3) Hiermit gelingt es Hugo nicht nur grundlegende Bestandteile oder Uumlberbegriffe des Gebets detaillierter zu un-terscheiden sondern diese kategorisierende Herangehensweise in einen Zusammenhang mit praktisch brauchbaren Gebetstexten und -worten zu stellen Dies geschieht zunaumlchst ebenfalls in einem engen Theoriegeruumlst in dem die oratio in supplicatio (das demuumltige Gebet) postulatio (die Anrufung) und insinuatio (die versteckte Andeutung) geschieden wird und diese drei Ge-

10 266 Handschriftenexemplare von De modo orandi sind vorhanden mehr als hundert entfallen auf das 15 Jh Vgl Hugo von St Viktor 1997 (cf Anm 6) S 118 ausfuumlhrlicher dazu Goy (cf Anm 1) Laut Goy ist De modo orandi nach dem Soliloquium de arra animae das weitverbreitetste Werk Hugos (12 Jh 42 13 Jh 34 14 Jh 40 15 Jh 105 uumlberlieferte Exemplare) ebd S 506 Diese Verteilung und der prononcierte Sprung im 15 Jh entsprechen nicht der Verbreitungsintensitaumlt aller Schriften Hugos durch die Jahrhunderte die Goy S 509 mit 852 im 12 Jh 665 im 13 Jh 331 im 14 Jh und 674 im 15 Jh beziffert Im 15 Jh findet sich die hohe Verbreitung vor allem im deutschen Raum sowie durch das Gebiet zwischen Rhein und Schelde Goy sieht den Grund in den Klosterreformen der Windsheimer Kongregation und somit der Devotio Moderna an ebd S 51711 De modo orandi Kap 712 Dabei ist die oratio hier nicht eins zu eins mit dem Begriff der oratio in De meditando gleichzusetzen dies ist ein generelles Problem bei dem Versuch aus den Werken Hugos einheitliche Begriffsdefinitionen zu destillieren ndash oftmals werden Begriffe mehrfach belegt und erscheinen gerade in systematischen Abhandlungen die eigentlich von Begriffsschaumlrfe abhaumlngig sind zuweilen an verschiedenen Stellen ein und desselben Systems mit anderen Konnotationen Vgl zB De contemplatione wo dies mit dem Begriff der contemplatio geschieht oder in De modo orandi wo oratio einmal als uumlbergeordnete Kategorie und einmal als Unterkategorie der supplicatio in Form der pura oratio erscheint13 Hugo benutzt hier das Schriftwort bdquoJe mehr der Mensch seine Fehler erkennt desto mehr seufzt und klagt er (Pred 118)ldquo Compunctio bzw contritio bezeichnet die aufrichtige traumlnenreiche Reue und Zerknirschung die den Auftakt jedes Gebets sein sollten Siehe Chr Swift A Penitent Prepares Affect Contrition and Tears in E Gertsman (Hg) Crying in the Middle Ages Tears of History New York 2012 S 79ndash101 Vgl dazu auch S Grosse Heilsungewiszligheit und Scrupulositas im spaumlten Mittelalter Studien zu Johannes Gerson und Gattungen der Froumlmmigkeitstheologie seiner Zeit Tuumlbingen 1994 S 181ff Sie ist Teil der religioumlsen Praxis und erhaumllt ab dem beginnenden 13 Jh einen festen Platz als Teil des Beichtsakraments ab dem 15 Jh erfaumlhrt sie innerhalb dieses institutionalisierten Gebrauchs eine starke Bedeutungszunahme sogar die der eigentlichen satisfactio uumlberfluumlgelnd

272 Anselm Rau und Johanna Scheel

betsarten ebenfalls mit drei Unterkategorien ausgestattet werden Die Begrifflichkeiten sind der antiken Rhetorik entlehnt an der Hugo seine Rhetorik des Gebets entwickelt indem er auf eine sehr anwendungsbezogene Weise bestimmte Affekte in sie einbindet Die captatio ndash eine Unterart der supplicatio ndash soll beispielsweise in der antiken Rhetorik eine emotional positive Einstimmung des Angesprochenen ndash im Gebet waumlre dies Gott ndash bewirken14 bei Hugo dient sie jedoch daruumlber hinaus stark der eigenen emotionalen Vorbereitung des Betenden Die Gebets-worte haben nach Hugo ausdruumlcklich die Funktion im Betenden diejenigen Affekte entstehen lassen die der Bitte entsprechen

Form ndash Intention ndash Emotion

Dass festgelegte traditionelle Gebetsworte vorgegeben sind wiederspricht dieser Funktion dabei in keinster Weise Hugo zeigt dies daran dass er gerade Psalmentexte benutzt um seine Vorstellungen von affectus und davon wie dieser im Gebet erzeugt werden kann zu entwickeln (Kap IV) Waumlhrend die richtige (rhetorische) Form der Bitte fuumlr die Ansprache Gottes wichtig sei sei sie fuumlr den Betenden einerseits notwendig damit er sein eigenes Gebet besser verstehen koumlnne er nochmals in der meditatio uumlberlege worum er bitte und vor allem damit er dadurch noch hingebungsvoller mit staumlrkerer devotio bete Erst durch diese vollkommene Hinwendung der Seele des Betenden zu Gott in hingebungsvollem Affekt (affectus devotionis) wird seine Zu-stimmung erreicht Durch die Worte werde dem Beter seine Bitte und sein Zustand staumlrker bewusst er werde zum Affekt gebracht der Affekt in denselben Worten ausgedruumlckt und durch diese noch staumlrker entflammt bdquoQuaecunque ergo sunt verba orantis absurda non sunt si tan-tummodo ad hoc competenter proferri possint ut vel orantis affectum ad amorem Dei excitent vel (quod amplius est) si jam amore ejus flagrat excitatum demonstrentldquo15 Hier wird der Kern des Traktats formuliert Die Form des Gebets wird in Relation zu Intention und Emotion ge-setzt wodurch Hugo einerseits zu der Aussage kommt dass je groumlszliger die Emotion werde sie sich desto weniger in artikulierten Worten ausdruumlcken lieszlige16 Andererseits kann er zeigen dass das Verhaumlltnis von Wort und Emotion ein vielschichtiges und sich gegenseitig amplifizierendes ist Die Gebetsworte werden danach ausgesucht welchem Ziel und Affekt sie dienen sollen Im Gebet gesprochen vergegenwaumlrtigen sie oder erinnern sie den Betenden an bestimmte Affekte sie erwecken und verstaumlrken diese soweit dass zuletzt ebendiese Worte zum Affektausdruck des Beters werden Der Betende eignet sich damit fremde Worte durch den Affekt an und macht

14 ZB in De inventione von Cicero (1 17) oder RhetoricaAuctor ad Herennium (1 6) so Hugo von St Viktor (1997) S 166 Anm 28 (cf Anm 6) Vgl zur captatio ebenso B Wessel Art Captatio benevolentiae in Historisches Woumlrterbuch der Rhetorik hg v G Ueding Bd 4 Tuumlbingen 1998 Sp 121ndash12315 bdquoAber auf keine andere Weise wird Gott zur Zustimmung gebracht als wenn die Seele des Betenden in gaumlnzlich hingebungsvollem Affekt zu ihm selbst hingewandt wird Wie auch immer die Worte des Gebets sind so sind sie nicht nutzlos wenn sie ihm nur passender vorgetragen werden koumlnnten damit sie entweder den Gebetsaffekt zur Liebe Gottes entflammen oder was besser ist wenn die Liebe schon brennt sie die Erregung zeigtenldquo16 bdquoDer Affekt hat naumlmlich die Eigenschaft dass je groumlszliger und gluumlhender er im Inneren ist er desto weniger aumluszligerlich durch die Worte ausgedruumlckt werden kannldquo

Meditation und Gebet 273

sie zu seinen eigenen Das gesprochene Gebet ist so uumlber seinen affektiven Effekt auf den Beter definiert Als Beispiel benutzt Hugo Schriftworte vornehmlich Psalmen bdquoJeder Einzelne also waumlhrend er im Gebet entweder Psalmen oder irgendwelche anderen Schriften singt soll sorg-faumlltig bedenken welchem Affekt sie dienen moumlgen und durch ganze Anstrengung sein Herz zu jenem Affekt erregen Er sagt das was ihm besser zu dienen scheint denn wenn er den Affekt erregt durch die Worte die er sagt erkennt er durch den Affekt selbst besser die Kraft der Worte Er erwirbt die Einsicht und entzuumlndet durch die Einsicht der Worte umso mehr den hingebungsvollen Affektldquo (Kap V)

Psalmen ndash Wort und Affekte

Die lebenspraktische Erklaumlrung der Gebetsaffekte in De modo orandi ist bemerkenswert klar Weil in den Affekten die ganze Kraft des Gebets liege zaumlhlt Hugo beispielhaft aus den unend-lichen Affekten (Kap VII) neun von ihnen auf die er ebenfalls kurz definiert und gruppiert zunaumlchst die Affekte der Zuneigung Bewunderung und Mitfreude17 dann die Affekte der De-mut des Leides und der Furcht sowie zuletzt die Affekte der Entruumlstung der Eifersucht und der guten Erwartung Diese Gruppierungen werden jeweils auf verschiedene Schriftgattungen bezogen aus denen sie entstehen koumlnnen ndash so werden einer Gattung die zur Erinnerung des Ungluumlcks bzw der eigenen Fehler anregt drei dieser Affekte zugeordnet naumlmlich Demut die aus der Erinnerung der eigenen Fehler erwaumlchst Leid aus der Erinnerung vergangener und gegenwaumlrtiger Fehler sowie Furcht aus dem Gedanken an zukuumlnftige Vergleichbare Zuord-nungen finden sich dort auch fuumlr die uumlbrigen Affekte

Nun verknuumlpft Hugo diese mit konkreten Beispielen aus den Psalmen (Kap VII) bdquoAus dem Affekt der Zuneigung (dilectio) heraus wird Ps 182 gesungen sbquoIch will Dich ruumlhmen Herrlsquo Aus dem Affekt der Bewunderung (admiratio) heraus wird Psalm 8[2]10 gesungen sbquoHerr unser Herrlsquo Aus dem Affekt der Mitfreude (congratulatio) heraus wird Ps 472 gesungen sbquoIhr Voumllker allelsquo Und in allen diesen ist LobAus dem Affekt der Demut (humilitas) heraus wird Ps 312 gesungen sbquoHerr ich suche Zufluchtlsquo Aus dem Affekt des Leids (dolor) heraus wird Ps 131 gesungen sbquoWie lange noch Herr vergisst Du mich ganzlsquo Aus dem Affekt der Furcht (timor) heraus wird Ps 62 gesungen sbquoHerr strafe mich nicht in deinem Zornlsquo Und in all diesen ist die Fuumlrbitte mit einer Klage vermischtAus dem Affekt der Entruumlstung (indignatio) heraus wird Ps 523 gesungen sbquoWas ruumlhmst Du Dich Deiner Bosheitlsquo Aus dem Affekt des gerechten Eifers (zelus) heraus wird Ps 941 gesungen sbquoO Herr Gott der Vergebunglsquo Aus dem Affekt der guten Erwartung (bona praesumptio) heraus wird Ps 261 gesungen sbquoVerschaffe mir Recht o Herrlsquoldquo

17 Affectus congratulationis wird als Gegenpol zur compassio verstanden

274 Anselm Rau und Johanna Scheel

Hugo zeigt hier wie einerseits aus dem Affekt ein bestimmter Psalm gesungen wird Er kom-plettiert damit was er bei der Aufzaumlhlung staumlrker betonte naumlmlich aus welchen Psalmen ein Affekt erwaumlchst und gleichzeitig wie die Worte zu denjenigen der eigenen Bitte und zum Af-fektausdruck werden

Mischung und Uumlberblendung von Affekten

Allerdings wird nicht innerhalb eines Psalms je nur ein Affekt ausgedehnt sondern oftmals geht dort ein Affekt in den anderen uumlber Sie werden gemischt oder loumlsen sich kontinuierlich ab (Kap VIII) Ein Beispiel hierzu Aus der meditatio der eigenen Fehler und Gottes Barm-herzigkeit bricht man durch den Affekt des Schmerzes in die Worte aus bdquoHerr wie zahlreich sind meine Bedraumlnger so viele stehen gegen mich auf viele gibt es die von mir sagen Er findet keine Hilfe bei Gottldquo Dies sind die ersten Verse aus Psalm 3 Aus dem Affekt des Schmerzes der dadurch staumlrker entflammt und ausgedruumlckt wird kehrt der Betende mit dem naumlchsten Vers des Psalms 3 auf den Affekt der guten Erwartung zuruumlck und sagt bdquoDu aber Herr bist ein Schild fuumlr michldquo Damit wird der Schmerz von Vertrauen gelindert und der eine in den andere Affekt uumlberfuumlhrt

Die Psalmenworte vergegenwaumlrtigen oder erinnern hier an den Affekt und werden danach angewandt zugleich sind sie Anreiz und -ausdruck der vielfaumlltigen Palette wandelbarer Affekte

Diese Definition in De modo orandi ist fuumlr das Verstaumlndnis der Affekte innerhalb des Ge-bets im gesamten Mittelalter als grundlegend anzusehen Aus kunsthistorischer Sichtweise ist die Beschaumlftigung mit dieser Schrift daher nicht nur unerlaumlsslich um mittelalterliche Bildwer-ke die fuumlr den Bildbetrachter als Hilfsmittel fuumlr sein Gebet konzipiert wurden praumlziser kon-textualisieren zu koumlnnen Vielmehr ist die in De modo orandi dargelegte Reflexionsstruktur auf die Rezeption von Werken der bildenden Kunst uumlbertragbar

Das Lignum vitae

Ein Beispiel fuumlr die konkrete Anwendung der Evozierung von affectus bei Gebet und Medita-tion wie von Hugo von St Viktor konzipiert stellen die Meditationen des Lignum vitae Bona-venturas und dessen bildliche Umsetzung dar18 In seinen viel rezipierten Werken De triplici

18 Bonaventura Lignum vitae in Opera omnia Quaracchi 1848 Bd 8 Im Folgenden wird auf die lateinische Edition von Quaracchi mit dem Kuumlrzel LV verwiesen Wird nicht die eigene Uumlbersetzung verwendet ist die Grundlage M Schlosser Baum des Lebens Geistliche Betrachtungen St Ottilien 2012 Weitere deutsche Uumlbersetzung bei A Aswerus Der Lebensbaum Zuumlrich 1963Die Rezeption der Schriften Hugos bei den Franziskanern ist bekannt gerade die Verbreitung der hier besprochenen Texte Vgl Goy (cf Anm 1) S 530ndash532 In Italien und auf der iberischen Halbinsel sind mit 170 Texten nur ca 7 der Gesamtuumlberlieferung von Hugos Werken zu finden allerdings faumlllt bei den Handschriften italienischer Provenienz die bdquofuumlhrende Stellung der Franziskaner als Tradentenldquo auf Vgl ebd S 530 Die Houmlhepunkte der Tradierung liegen im 13 und 15 Jh vgl ebd S 559ndash564 bes S 563

Meditation und Gebet 275

via in dem er sein auf dem Gedankengut des 12 Jahrhunderts beruhendes Verstaumlndnis von meditatio oratio und contemplatio darlegt und dem Itinerarium mentis in Deum wendet sich Bonaventura der Formung der Seele des Menschen fuumlr den Aufstieg zu Gott zu19 Gerade aber das Lignum vitae hat maszliggeblich in seiner konkreten Form die Passionsmeditation des spaumlten Mittelalters beeinflusst20

Deutlich ist hervorzuheben dass Bonaventura diese Meditationsschrift zu Kindheit und Leben Passion und AuferstehungVerherrlichung Christi auf Grundlage mnemotechnisch strukturierter Modelle der monastischen Meditationspraxis konzipierte Der Entwurf Bona-venturas sieht die Anordnung der Meditationen anhand eines Baumschemas vor als struktur-gebende Schablone fuumlr das Einpraumlgen dieser im Herzen21 Da die Vorstellungskraft (imaginatio) die Einsicht (intelligentia) unterstuumltzt gibt Bonaventura die konkrete die Intention verdeutli-chende Anweisung bdquodescribe igitur in spiritu mentis tuae arboremldquo22 Die Meditationen selbst dienen zur Entflammung des Herzens in liebendem Empfinden zur Formung des Denkens und zur Einpraumlgung in das Gedaumlchtnis (accendatur affectus formetur cogitatus imprimatur memoria) Somit wird auch hier die Formung des Denkens durch den affectus herausgestellt23 Nach dem Entwurf Bonaventuras besitzt der Baum zwoumllf Zweige an denen jeweils vier kurze Strophen die Einleitungen bzw Uumlberschriften zu den einzelnen Meditationen angebracht sind die immer zusammen genommen eine Frucht hervorbringen So umfasst das gesamte Schema 48 Meditationen die in einer Reihenfolge von unten nach oben insgesamt zwoumllf zu erreichende Fruumlchte oder auch tugendhafte habitus hervorbringen sollen24

Die rasche und vielfaumlltige visuelle Umsetzung der Baumstruktur zeugt von der Popula-ritaumlt der Meditationen des Lignum vitae eine der heute wohl bekanntesten Darstellungen stammt von Pacino di Bonaguida der jeder einzelnen Meditation ein Bildmedaillon zuordnete

19 Bonaventura De triplici via Opera omnia Quaracchi 1948 Bd 8 S 19ndash27 ndash Bonaventura Itinerarium mentis in Deum Opera omnia Quaracchi 1891 Bd 5 S 293ndash316 ndash vgl hier auch die kritischen Edition und die Darstellung der inhaltlichen Grundkonzeption Bonaventura De triplici via Uumlber den dreifachen Weg latdt uumlbers u eingel v M Schlosser Freiburg iBr [ua] 1993 ndash Bonaventura Itinerarium mentis in Deum ndash Der Pilgerweg des Menschen zu Gott latdt uumlbers u erl v M Schlosser mit einer Einleitung von P Zahner Muumlnster 200420 R Preisinger Lignum vitae Zum Verhaumlltnis materieller Bilder und mentaler Bildpraxis im Mittelalter Paderborn 2014 21 Zu den Schablonen und dem Einpraumlgen dieser ins Herzen vgl M Carruthers Moving Images in the Mindrsquos Eye in J Hamburger M-A Boucheacute (Hgg) The Mindrsquos Eye Art and Theological Argument in the Middle Ages New Jersey 2006 S 294 FN 24 zu den Anweisungen Hugos in De arca noe S 292ndash29422 LV Prolog S 6823 Ebd24 Die uumlberkommenen Traktate belegen die angedachte Konzeption zur Verinnerlichung der einzelnen Meditationen die Uumlberschriften als Responsorium mit dem Kehrvers O crux fructus salvificus zu singen vgl hierzu M Sensi Lrsquoallegoria della Croce nel monastero di SantrsquoAnna a Foligno in B Ulianich U Parente (Hg) La Croce Iconografia e interpretazione Bd 3 La croce nella liturgia NeapelRom 2007 S 392 ebenso Preisinger (wie Anm 20) S 36ndash42

276 Anselm Rau und Johanna Scheel

(Abb 1)25 In kuumlnstlerischen Darstellungen diente das Lignum vitae als visuelle Unterstuumltzung sowohl fuumlr den Gesang als auch gerade zur Strukturierung von Predigt und Meditation26 Ein Groszligteil der Bilder zum Lignum vitae binden den Text in Form der Uumlberschriften der einzelnen Meditationen ein Eine solch detailreiche Ausgestaltung wie etwa bei Pacino ist bei den uumlber-lieferten Beispielen keine Regelmaumlszligigkeit Damit belegt allein schon das Bild selbst dass das

25 Jedoch darf diese Tatsache nicht uumlber die tatsaumlchliche Anwendung hinwegtaumluschen Auf die Diskussion um die Bildwerke zum LV kann hier nicht dezidiert eingegangen werden Die juumlngsten Publikationen zum Lignum vitae mit der entsprechenden Literatur zur Forschungslage sind Preisinger (cf Anm 20) und U Ilg Quasi lignum vitae The Tree of Life as an Image of Mendicant Identity in P SaloniusA Worm (Hgg) The Tree Symbol Allegory and Mnemonic Device in Medieval Art and Thought Turnhout 2014 S 187ndash212 ndash Siehe die Kritik an der bisherigen Auseinandersetzung mit dem Lignum vitae und seinen Darstellungen in der 2015 abgeschlossenen Dissertation von A Rau Imagination und Emotion Bildstruktur und Emotionalisierungsstrategien in der monastischen Meditation und das bdquoModell Franziskusldquo sowie A Rau Im Wechselbad der Gefuumlhle ndash das Lignum vitae in Imago 4 (2015) erscheint November 201526 L Bolzoni The Web of Images Vernacular Preaching from its Origins to Saint Bernardino da Siena Aldershot 2004 S 154ff

Abb 1 Pacino di Bonaguida Lignum vitae Florenz Galleria delllsquoAccademia um 1310 258x151cm

Meditation und Gebet 277

eigentliche affizierende Potential in der Steuerung der imaginatio des LesersBetrachters durch den Text der Meditation und des Gebet selbst liegt27

Innerhalb der jeweils einer Frucht zugeordneten vier Meditationen ist ein Aufbau und Uumlbergang festzustellen ebenso sind in der Regel die Fruumlchte durch die letzte Meditation der vorangegangenen und die erste der folgenden miteinander verknuumlpft Allen gemein ist dass zu Anfang einer jeden Frucht die in den ersten zwei Fruumlchten ausgebildeten Grundtugenden caritas und humilitas als Ausgangspunkt genommen werden Diese beiden sind wie bereits von Augustinus betont die Grundtugenden aus denen alle weiteren erst hervorgehen koumlnnen28 Die einzelnen Meditationen zeichnen sich durch das Fokussieren auf eine tugendhafte Haltung Christi aus Diese verdeutlicht er entweder selbst in einer emotionalen seinen Habitus aus-druumlckenden Disposition oder weiteres biblisches Personal reagiert als Exempel fuumlr den LeserBetrachter des Lignum vitae auf die ihm so bdquovisualisertenldquo Geschehnisse um Christus So ent-stehen Imaginationsfiguren die das Handeln (operatio) bestimmen sollen Geleitet wird die Meditation des Betrachters durch die eindruumlcklichen Schilderungen der Begebenheiten aus dem Leben Christi in Kombination entweder direkter Ansprachen an seine Seele wie er sich verhalten was er sich als Vorbild nehmen soll oder durch in die Meditation selbst eingefuumlgte Gebetstexte welche die Affizierung entweder stuumltzen oder direkt hervorbringen koumlnnen

Die Meditationen der ersten vier Fruumlchte (Geburt Kindheit Wirken Christi) charakteri-sieren das Lignum vitae wie schon bei Hugo und in den Meditationsmodellen des 12 Jahrhun-derts als dezidiertes Reue- und Buszligschema Dies verdeutlicht allein schon die formale Anlage da sich hier vorwiegend Anweisungen zu habituellen emotionalen Dispositionen des Lesers finden Die Einmuumlndung dieser Meditationen in die Schilderung des letzten Abendmahls kon-kretisiert die Verbindung zwischen der logischen Anlage eines sukzessive aufgebauten Medita-tionsschemas die Notwendigkeit seiner fortdauernden Anwendung und somit den praktischen Bezug zum religioumlsen Leben Reue und Buszlige sind die notwendige Grundvoraussetzung fuumlr die Teilhabe an der Opferfeier des Messgeschehens es hebt die Meditationspraxis als fortdauernde Uumlbung der Affekte und Tugenden als staumlndige Gewissenspruumlfung hervor und kennzeichnet den Menschen ab diesem Punkt als muumlndigen Meditanden und Beter

So aumlndert sich dann ab der fuumlnften Frucht zu den Passionsmeditationen auch der Auf-bau Hier werden konzentriert einzelne orationes in die einzelnen Meditationen eingeflochten Bemerkenswert ist bei den fast als propaumldeutisch zu verstehenden Meditationen der ersten vier Fruumlchte findet sich eine sehr uumlberschaubare Anzahl von Psalmzitaten waumlhrend sie hier als personalisierte Gebete des LesersBetrachters gehaumluft auftreten Gezielt werden sie in den Meditationen der geschilderten Situationen und Peinigungen Christi eingesetzte um die com-passio zu erregen Hieran laumlsst sich die unmittelbare und entscheidende Zusammenwirkung

27 Bezuumlglich einer eingehenden gerade auch sprachlichen Untersuchung der Meditationen des Lignum vitae das affektsteuernde Potential herausarbeitend siehe abermals Rau (wie Anm 25)28 K Pansters Profectus Virtutum From Psalm 838 to David if Augsburgrsquos Profectus religiosorum in Studies in Spirituality 18 (2008) S 170 Zur Thematik weiterfuumlhrend N Baumann Die Demut als Grundlage aller Tugenden bei Augustinus Frankfurt 2009

278 Anselm Rau und Johanna Scheel

von meditatio und oratio beobachten die in Kombination die Lenkung der geordneten affectus bestimmen

Die von Hugo in De meditando angemahnte Unterscheidung und Betrachtung des Guten und Boumlsen findet in den Meditationen des Lignum vitae seine konkrete differenzierte Anwen-dung Heben die ersten vier Fruumlchten dezidiert Reue und Buszlige des MeditierendenBetenden und gerade die Schlechtigkeit des Menschen gegenuumlber Christus hervor so zeigen die Medita-tionen zur Passion Christi (5ndash8) die Betrachtung des Boumlsen und des Guten dahingehend wie das Boumlse in Gestalt der Peiniger Christi auf diesen einwirkt und wie Christus selbst oder wei-teres positiv konnotiertes biblisches Personal reagiert Die Grundlage des hier geforderten Mit-leidens mit Christus ist die bei den vorangegangenen Meditationen ausgearbeitete compassio Christi mit den Suumlndern Demuumltig ausgerichtet und damit ausgebildet am mitfuumlhlenden Vor-bild Christi kann der LeserBetrachter uumlber die imaginatio in der Meditation und dem Gebet hier zum Mitleidenden ausgebildet werden Zuerst wird also die demuumltige Emotionalitaumlt ob der eigenen Schlechtigkeit dem eigenen Boumlsen im Abgleich mit dem guten Vorbild in Christus herausgebildet und daraufhin die Affekte in den Meditationen zur Passion Christi an Christus selbst zum Mitleiden konstituiert

Als Beispiel der dezidiert auf die Affizierung ausgerichteten Anlage seien die Meditationen der fuumlnften Frucht umrissen Gegenstand (res) ist hier die Betrachtung von Christi Vertrauen (confidentia) in der Gefahr und umfasst die vier Meditationen zu Judasrsquo Verrat Christi Gebet auf dem Oumllberg der Umzingelung Christi durch die Haumlscher und seiner Gefangennahme29 Propaumldeutisch wird dem Verrat Judasrsquo dem abgrundtief Boumlsen (nequissum) die geradezu pa-radox erscheinende und dadurch Staunen und Bewunderung erweckende (o mira) Guumlte (be-nignitas) und Sanftmut (mansuetudo) Christi gegenuumlbergestellt30 Dieses Thema beherrscht alle Meditationen dieser Frucht und ist begleitende Grundlage aller folgenden Darstellungen der Misshandlung Christi Judas wird typologisch als lasterhafter Gegenpart zum tugendhaften Idealbild Christi stilisiert Sein Verrat gruumlndet in seiner cupiditas und bestimmt von seinen niedersten Trieben ist er die Personifikation von perfidia (Treulosigkeit Gewissenlosigkeit) in-gratitudo (Undankbarkeit) und duritia (Hartherzigkeit)31 Die angemahnte Betrachtung des Guten und des Boumlsen legt als klassisches System der Gegenuumlberstellung von Tugenden und Lastern anzustrebende bzw abzulehnende habitus durch die Ausrichtung der affectio dar

Signifikant zeigt sich die Affizierung anhand der uumlber die lectio sich konstituierende me-ditatio aufgrund der imaginierten Begebenheit in Verbindung mit der oratio die wiederum ihren Ausdruck in den Psalmen findet Als Ausweis der inneren Verletzlichkeit seiner mensch-lichen Natur (in natura sensibili)32 ist die Schilderung von Christi Gebet auf dem Oumllberg zentral Ob der Vorstellung des Todes (imaginatio mortis) die in seine empfindsame Seele eindrang wird er von affectus umschlungen (complexabatur affectu) Seine innere Bewegtheit wird mit den Tropfen blutigen Schweiszliges die seinen Koumlrper hinab rannen verdeutlicht der Affekt der

29 LV 517ndash20 S 75ndash7630 LV 517 S 7531 Ebd32 LV 518 S 75ndash76

Meditation und Gebet 279

Furcht (anxietas) als Empfindung steigt zwar in seinem Geist auf (in spiritu) der Nachvoll-zug erfolgt jedoch uumlber die aumluszligeren (imaginierten) Zeichen33 Die Meditation laumlsst den Leser darauf fragen bdquoO Herrscher und Herr Jesus woher kommt diese furchtbare Angst deiner Seele und dein angstvolles Flehen Hast du denn dem Vater dein Opfer nicht mit freiem Willen ge-brachtldquo34 Die Erklaumlrung folgt sofort Fuumlr die Bestaumlrkung des Glaubens hat Christus wahrhaft die sterbliche Natur angenommen damit der Mensch Hoffnung schoumlpfen kann sollte er aumlhn-liche Bedraumlngnis und Furcht erleiden denn aufgrund der Hoffnung richtet der Mensch seine Liebe auf Christus das Ziel wiederum willentlich (voluntas) aus Die offenkundigen (aumluszligeren) Zeichen des Leids in Christi menschlicher Natur sind das entscheidende Kriterium fuumlr die selbstreflexive Erkenntnis des LesersBetrachters Es ist die Erkenntnis dass Christus wahr-haftig die Schmerzen und das bittere Leid der Menschen mit fuumlhlbarer (sensu) Pein durchlitten hat35 Die Schilderung der Todesangst Christi ist damit Grundlage der im ersten Satz der fuumlnf-ten Frucht geforderten inneren Teilhabe (pii considereare) fuumlr die compassio den Nachvollzug seiner noch weiterhin zu durchleidenden koumlrperlichen wie seelischen Pein36

Diese Erkenntnis stuumltzt nun das ergaumlnzende Beten der Psalmen da diese einerseits die geforderten Affekte und den Affektreiz bekraumlftigen zugleich aber auch das selbstreflexive Moment herausarbeiten Die seelische Bedraumlngnis Christi auf dem Oumllberg wird begleitet und sozusagen von der Schilderung des Verrates Judasrsquo und der Bedraumlngung durch die Haumlscher umrahmt und aufgrund des Einbindens der Psalmen 38 41 und 55 in genau diese Meditationen zu einem inhaltlich kongruenten Gebet gestaltet Alle drei Psalmen wobei besonders Psalm 55 zitiert wird (Verse 13ndash15) nehmen Bosheit Verrat und Bedraumlngnis durch Freund und Feind in den Blick Hierdurch werden gerade das Verlassensein und das Ausgeliefertsein gegenuumlber den Misshandlungen in den Vordergrund gestellt die beschriebene Furcht Christi begleitet und durch das personalisierte Gebet zur emotionalen Ausrichtung des Beters selbst Nicht allein der einzelne Psalmvers wird dabei gebetet sondern ganz der mnemotechnischen Konzeptuali-sierung verpflichtet bildet der Vers den Ausgangspunkt und schlieszligt die Betrachtung und das Gebet des gesamt Psalms mit ein37 Der Klage uumlber den Vertrauensbruch durch den Freund (Ps 5513 ebenso Ps 3813 und Ps 41) und der Bedraumlngnis durch Frevler an deren Haumlnden Blut klebt (Vers 24) geht in Analogie zu Christi Gebet zum Vater auf dem Oumllberg die Anrufung Gottes voraus er moumlge das Beten und Flehen erhoumlren (exaudi orationem meam deprecationem meam)

33 Ebd34 Schlosser (wie Anm 19) S 51 LV 52 S 7635 LV 52 S 76 ndash Bereits Bernhard von Clairvaux formulierte Gott bot den Zugang zu sich selbst uumlber die Affekte weshalb die Inkarnation notwendig war um die affectiones des Menschen zuruumlckzugewinnen vgl B von Clairvaux Sermones super canticum canticorum 205 in Bernhard von Clairvaux Saumlmtliche Werke latdt hg v G Winkler Innsbruck (1996) Bd 5 S 28428536 LV 517 S 75 Nochmals abschlieszligend wird dies als identifikationsstiftendes Vorbild am Ende (vierte Meditation fuumlnften Frucht) mit dem Bild der gefesselten Haumlnde des unschuldigen Lammes und dem eingeforderten Stoumlhnen und der Beschreibung des durchdringenden Schmerzes der die Herzen der Juumlnger bei diesem Anblick durchstach (doloris aculues discipolorum vorda penetravit) vor Augen gestellt Vgl LV 520 S 7637 Zur Mnemotechnik allgemein M Carruthers The Book of Memory A Study of Memory in Medieval Culture Cambridge [ua] 122006 Zu beachten sind ebenso F A Yates The Art of Memory London 1966 M Evans The Geometry of Mind in Architectural Association Quarterly 124 (1980) S 32ndash55

280 Anselm Rau und Johanna Scheel

(Vers 1ndash8) Dabei wird die Angst (conturbatus sum) das Beben des Herzens in der Brust und das Befallenwerden vom Schrecken des Todes beschrieben (cor meum conturbatum est in me et formido mortis cecidit super me) ebenso das Erfasstsein von Furcht Zittern Schaudern und Entsetzen (timor et tremor venerunt super me et contexerunt me tenebrae) Der Nachvollzug der emotionalen Disposition Christi wird durch die kalkulierte Verknuumlpfung mit Psalm 38 zu-gleich ebenso zur detailreichen Klage in Furcht und Schrecken ob der eigenen Suumlndhaftigkeit Judas stellt natuumlrlich fuumlr den Abgleich das Negativbeispiel Doch im Gegensatz zu ihm zeigt der Betende in seiner demuumltigen Hinwendung zu Gott in Schmerz und Furcht das in ihn gesetzte Vertrauen das auch Jesus unter Beweis stellte Die Psalmen bieten hierfuumlr das passende Mittel der notwendigen Ausrichtung in der affectio

Ein interessanter Punkt sei in Bezug auf die Ausfuumlhrungen in De meditando hinsichtlich des Eifers (zelus) fuumlr die gerechte Sache noch genannt Die Sanftmut Christi wird gerade da-durch vor Augen gefuumlhrt dass er im Sinne des immerfort zur Vergebung bereiten Gott seinen Haumlschern guumltig begegnet da er sich seinen Peinigern nicht im Zorn (ira) verschloss (Ps 7710)38 Er haumllt naumlmlich sogar seinen Verteidiger ndash in der exegetischen Tradition Petrus vor allem dann auch in der bildenden Kunst ndash zuruumlck und bremst dessen gerechten zelus sein rechtmaumlszligiges eigentlich tugendhaftes eifersuumlchtiges Streben fuumlr das geliebte Objekt und heilt sogar ein abge-schlagenes Ohr Dieser Eifer der wie in De meditando beschrieben ohne Hinterlist ist nicht aus Ignoranz (repraumlsentiert durch die HaumlscherPeiniger) gegenuumlber der Wahrheit (in Christus) hervorgegangen zeigt die gute Absicht die durch Beharrlichkeit ans Ziel fuumlhrt und laumlsst somit die Liebe nicht lau werden Petrus wird als Identifikationsfigur installiert und am Ende aber-mals Judas entgegen gehalten Letzterer wurde zwar schlieszliglich aufgrund seiner Tat von Reue ergriffen jedoch war er nicht faumlhig durch die Hoffnung auf das Gute Christus Vergebung zu ersehnen und wurde von Bitterkeit (amaritudo) erfuumlllt so dass er den Tod und nicht das ewige Leben ersehnte

Meditationsschemata werden gerne aufgrund der ihnen innewohnenden Abfolge als starre Konstrukte und allein auf einen miszliginterpretierten geistigen Aufstieg abzielend hin verstan-den Doch beweist gerade das Lignum vitae eine hohe Flexibilitaumlt fuumlr den alltaumlglichen Gebrauch und zudem die eigentliche Intention die Formung von affectus

Gerard Zerbolt van Zutphen

Das stufenweise emotionale Gebet und die Meditation begegnen ebenfalls ndash allerdings weniger stark schematisiert als im Lignum Vitae ndash in einem Standardwerk der niederlaumlndischen Froumlm-migkeitsliteratur des 15 Jahrhunderts In De spiritualibus ascensionibus stellt Gerard Zerbolt

38 Im Tugend- und Lastersystem ist die Unterscheidung von zelus ira und furor sehr entscheidend bezuumlglich des guten und schlechten Strebens und damit hinsichtlich rationalen Ordnung des Geistes Zum tugendhaften und lasterhaften Zorn und seiner Aspekte vgl Richard von St Viktor Benjamin minor 40ndash44 PL 196029-033 ndash Gerade bei der Verurteilung Christi durch Pilatus (LV 624 S 77) wird das Thema der rasenden Wut (zelus invidiae) und des gerechte Zorns (zelus iustitia) nochmals differenziert

Meditation und Gebet 281

von Zutphen ein Autor der devotio moderna handbuchartig sein Aufstiegsmodell dar39 Darin vermittelt er seinen Mitbruumldern und einem frommen Laienpublikum ein ausgekluumlgeltes System von geistigen Uumlbungen die sich nicht nur auf den eigentlichen Gebetsakt beziehen sondern habituell im Alltag Anwendung finden sollen indem sie eine Transformation des Menschen be-wirken Er geht dabei von dem uumlblichen zeitgenoumlssischen theologischen Anthropologiemodell der Seele als durch Suumlnde verschmutzte imago Dei aus und stuumltzt sich auf bekannte moraltheo-logische Emotionstheorien die er jedoch stark ausweitet indem er den Emotionen eine genaue Funktion und eine Schluumlsselrolle im Erkenntnisprozess zuweist Die formula meditandi40 be-schreibt Gerard als inhaltlich verschieden konnotierte Selbstuumlberpruumlfungen in der die dadurch produzierten Emotionen wie Zerknirschung (compunctio bzw contritio) Furcht (timor) oder Hoffnung (spes) nicht nur bewusst gemacht sondern produktiv umgewandelt werden um zu Instrumenten und Stufen des weiteren Aufstiegs zu werden41 Diese Aufstiege sind ein Prozess der Selbsttransformation des Menschen der sich vollzieht indem der Mensch sowohl seinen urspruumlnglichen Zustand diese Transformation selbst als auch die Erfahrung seiner Veraumlnde-rung mit den erreichten Stufen emotional (ex affectu) erkennt (cogitare) und fuumlhlt (sentire)42 Aumlhnlich wie bei Hugo von St Viktor formuliert Gerard dass der Betende immer einen Affekt und ein Verlangen (desiderium) annehmen solle die zu den aktuellen Uumlbungen oder Medita-tionen passe43 Die Selbsttransformation im geistigen Aufstieg wird nach Gerard ebenso im uumlb-lichen Schema der lectio meditatio und oratio geuumlbt und an verschiedenen materiae meditandi44 vollzogen Die Affekte werden anhand dieser materiae erzeugt katalysiert und in das Gebet

39 Die Schrift (im Folgenden De Spir Asc) wird zitiert nach der Edition von F J LegrandN Staubach (Hgg) Gerard Zerbolt von Zutphen De Spiritualibus Ascensionibus La monteacutee du coeur Turnhout 2006 Vgl zur affektiven Konnotation von Gerards Gebetssystematik M Goossens De meditatie in de eerste tijd van de moderne devotie HaarlemAntwerpen 1954 Er stellt den Affekt als Wesensmerkmal des Gebets bei Gerard fest ebd S 118 Zur Einbindung der Schrift innerhalb der Gebetstheorien der Devotio Moderna und zum Stellenwert der affektiven Selbstreflexion auch in Beziehung zu zeitgenoumlssischer Kunst vgl J Scheel Das altniederlaumlndische Stifterbild Emotionsstrategien des Sehens und der Selbsterkenntnis Berlin 2014 bes S 155ndash171 230ndash241 414ndash42640 De Spir Asc Kap 641 Gerard spricht synonym von Aufstiegsstufen und affectus zB in Kap 27 bdquoIn hac prima ascensione vel primo affecto [hellip]ldquo Oder er benennt Affekte wie Hoffnung und Furcht als Stufen bdquo[hellip] istis duobus gradibus timoris et spei [hellip]ldquo Kap 26 Insgesamt benutzt er die Vokabeln affectus und affectio synonym zwar begegnet in Bedeutung von Strebevermoumlgen meist affectio und ersetzt also die vires durch die affectiones animae besonders wenn es um lasterhafte Affekte geht doch werden die einzelnen Affekte durchgehend als affectus nicht als affectio bezeichnet42 De Spir Asc Kap 643 Das Gebet solle nie bloszliges Lippenbekenntnis sein sondern immer aus der Wurzel des Herzens verfolgt werden und zwar stets aus den Affekten der Furcht Trauer Freude Bewunderung Dankbarkeit etc bdquo[hellip] ex affectu timoris meroris dilectionis admiracionis congratulationis etcldquo De Spir Kap 46 Diese Affektreihe stimmt mit derjenigen bei Hugo in De modo orandi uumlberein siehe oben S 273f44 Diese sind zunaumlchst die bekannten Meditationsinhalte wie man sie allenthalben in theologischer Literatur des Mittelalters findet Leben und Passion Christi das Juumlngste Gericht und die eigene Todesstunde (diese bspw bereits in Bonaventuras De Triplici Via Kap 3) Bei Gerard werden ebenfalls Houmllle und Himmelreich sowie die eigenen Suumlnden und Wohltaten Gottes eingeschlossen sowie das eigene Selbst in dem und waumlhrend des Gebets Zum Kontext der neuen Meditationswuumlrdigkeit des eigenen Selbst in den Lehren der Devotio Moderna vgl Scheel (cf Anm 39)

282 Anselm Rau und Johanna Scheel

uumlberfuumlhrt Dies macht Gerard wie Hugo anhand des Psalmengebets anschaulich indem er einerseits beispielhaft zeigt wie ex affectu ein Psalm gebetet wird waumlhrend er gleichzeitig bei vorheriger Thematisierung der lectio dessen Erregung durch die Lektuumlre betont

bdquoWenn du dich in deiner ersten Uumlberpruumlfung diskutiert hast und entdeckst dass deine Suumlnden zahlreicher sind als die Zahl des Sandes der Meere forme in dir den Affekt der Demut oder Trauer und nimm die Rolle (persona) eines Dieners an der seinen Herrn beleidigt hat Aus diesem Affekt heraus forme ein Gebet und sage sbquoGott sei mir gnaumldig nach deiner Huld tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmenlsquo (Ps 503) Wenn du in der zweiten und dritten Uumlberpruumlfung dich selbst diskutierend bemerkst dass dein Herz mit schlechten Begierden und boumlsen Verlangen gefuumlllt ist forme in dir wiederum den Affekt der Demut und nimm die Rolle eines Kranken an der nach Medizin fragt und sage sbquoHerr sei mir gnaumldig heile mich denn ich habe gegen dich gesuumlndigtlsquo (Ps 405) oder sbquoNichts blieb gesund an meinem Leib weil du mir grollst weil ich gesuumlndigt blieb an meinen Gliedern nichts heillsquo (Ebd) etc Wenn du dich im zweiten Aufstieg in Furcht durch Meditationen des Todes und des Gerichtes oder der Houmllle uumlbst nimm den Affekt der Furcht ein und die Rolle eines Suumlnders vor dem Richter an in Angst und Zittern als seist du schon uumlberfuumlhrt und der Richtspruch gegen dich gesprochen und sage sbquoVerdamme mich nicht Herr gehe nicht ins Gericht mit deinem Dienerlsquo (Ps 1422) oder sbquoHerr in deiner Wutlsquo (Ps 62) etc Wenn du dich aber in Hoffnung uumlbst durch die memoria des Him-melreiches nimm den Affekt der Liebe an und bete mit innigem Herzen und sage sbquoIch erstrebe eines Herr dieses wuumlnsche ich dass ich in dem Haus des Herrn wohnen darflsquo (Ps 264) oder sbquoWie der Hirsch lechzt nach frischem Wasserlsquo (Ps 412) etc Und ebenso kannst du mit anderen Affekten jene aus diesen formen und musst du die Rolle annehmen die deine Uumlbung erfordert und deine Meditation verlangtldquo45

Uumlber Hugo hinausgehend wird hier dem Betenden empfohlen sich konkrete Szenarien und personae zu imaginieren um die gewuumlnschten Affekte einzuuumlben Die Psalmenbeispiele mit den zugeordneten Affekten uumlberschneiden sich bei beiden Autoren bei Psalm 6 (timor) so-wie Psalm 26 (Gerard spes Hugo bona praesumptio)46 Besonders bei der Einuumlbung von timor und der Erwaumlhnung des Richtspruches in Kombination mit den Buszligpsalmen 6 und 142 stehen unmittelbar zeitgenoumlssische Darstellungen des Weltgerichts bzw der Auferstehung der Toten vor Augen wie man sie in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern in Kombination mit eben jenem Buszligpsalm 6 aber auch in der altniederlaumlndischen Malerei findet47 Psalmen koumlnnen zu den

45 bdquoUnde breviter ut modum habeas secundum predicta si te in prima examinacione discusseris et inveneris peccata tua multiplicata super numerum arene maris forma in te affectum humilitatis vel meroris et assume personam servi qui dominum suum offendit Et ex tali affectu forma oracionem dicens Secundum multitudinem miseracionum tuarum dele iniquitatem meam [hellip] Si te in secundo ascensu in timore per meditaciones mortis vel iudicii vel inferni exercueris assume affectum timoris et assume personam rei astantis coram iudice cum timore et tremore quasi iam convictus contra quem de iure proferenda est sentencia et dic Noli me condemnare Non intres in iudicium cum servo tuo Vel Domine ne in furore etc [hellip] Et sic de aliis affectibus quos ex istis formare poteris et assumere debes sicut exercicium tuum exigit et meditacio tua requiritldquo De Spir Asc Kap 4646 Zu den Psalmen die Hugo als Beispiele benutzt siehe oben S 273f47 Vgl dazu J Scheel Sich selbst sehen ndash der Betrachter in und vor dem Bild Spiegel- und Stifterfiguren in Texten und Bildern des 15 Jahrhunderts in E KochH Schlie (Hgg) Orte der Imagination ndash Raumlume des Affekts Die mediale Formierung des Sakralen Muumlnchen 2015

Meditation und Gebet 283

bdquototal memoriertenldquo48 Texten des Mittelalters gezaumlhlt werden weswegen sie sich beiden Autoren als Beispiele anbieten Sie benutzen die Buszligpsalmen (hier die Psalmen 6 31 [Hugo] 50 142) die im Stundenbuch fest als eigenstaumlndiger Gebetstext verankert sind und ebenso in der To-tenvigil ihren Platz haben ndash zusammen mit Gerards weiteren Beispielpsalmen 40 und 4149 Das Stundenbuch ist ein Medium in dem Psalmwort und bildliche Darstellung auf die Theorie des stufenweisen emotionalen Gebets und der Selbsttransformation treffen koumlnnen

Die Miniaturen die der Totenvigil bspw in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern des 15 Jahr-hunderts voranstehen zeigen oftmals eine ganzseitige Totenmesse sowie in der M-Initiale der gegenuumlberliegenden Textzeile50 zwei betende einander zugewandte Seelen im Fegefeuer (vgl

48 Zu diesen Texten gehoumlrten bspw das Pater Noster oder Ave Maria waumlhrend denen gleichzeitig auch uumlber bestimmte Aspekte zB der Passion meditiert werden konnte und sollte vgl P Saenger Books of Hours and the Reading Habits of the Later Middle Ages in R ChartierA Boureau (Hgg) The Culture of Print Power and the Uses of Print in Early Modern Europe Cambridge 1989 S 141ndash173 hier S 154 Bei den Psalmen genuumlgt wie man hier sieht allein die Nennung des Incipit oder bestimmter Verse die dem Leser so vertraut sind dass sie den gesamten Psalmentext mit assoziieren49 Zwar ist der Einsatz von Psalmen in mittelalterlichen Stundenbuumlchern mitunter verschieden doch kann man beispielhaft an einer Gruppe von Stundenbuumlchern in niederlaumlndischer Sprache diese Psalmen finden Diese Stundenbuumlcher sind mit der Uumlbersetzung des Gruumlndungsvaters des Devotio Moderna Geert Grote versehen oder stehen mit ihr in Verbindung N van Wijk Het getijdenboek van Geert Groote Naar het Haagse handschr 133 E 21 Leiden 1940 diese hauptsaumlchlich anhand einer einzigen Handschrift erarbeitete Edition wird hier in Ermangelung einer kritischen Edition genutzt Das getijdenboek enthaumllt einen Kalender des Bistums Utrecht fuumlnf Offizien (Marienoffizium Heiliggeistoffizium das lange und kurze Heiligkreuzoffizium Stunden der ewigen Weisheit) Buszligpsalmen Litanei und Totenvigil 50 Es ist der Beginn des invitatorium bdquoMi hebben ombeuanghen die suchten des dodes die pijnlike seer der hellen heben mi ombeuanghenldquo Wijk (cf Anm 49) S 156 ndash bdquoMich haben umfangen die Seufzer des Todes die qualvollen Schmerzen der Houmllle haben mich umfangenldquo

Abb 2 Meister des Hugo Jansz van Woerden Totenmesse und Seelen im Fegefeuer ca 1475ndash1500 Den Haag Koninklijke Bibliotheek Ms 76 G 13 fol 85vndash86r

284 Anselm Rau und Johanna Scheel

Abb 2)51 Das Fegefeuer bespricht Gerard eher marginal in seinem Traktat Fuumlr die affektive Meditation des eigenen Todes liefert er allerdings einerseits eine Anleitung fuumlr den Betenden die Affekte nun bereits zu erwecken die vor waumlhrend und nach dem eigentlichen Todeszeit-punkt entstuumlnden ndash und sich mit ihnen im Gebet selbst zu formen52 Andererseits raumlt er dem Glaumlubigen sich zum Zwecke des ex affectu-Gebets einen Koumlrper in seinen Verwesungsstadien vor Augen zu halten53 und was mit ihm selbst bei der Beerdigung passiere54 Das Fegefeuer ist ein im Sinne mittelalterlicher Moraltheologie produktiver Gebetsinhalt da der Glaumlubige im steten Oszillieren zwischen spes und timor besonders gut zur caritas aufzusteigen vermag Diesen Tenor findet man ebenfalls bei Geert Grote in seinem getijdenboek bei der Vorrede der Toten-vigil Hier raumlt er dem betenden Leser zum Wechsel aus Psalmen und Antiphonen in Hinblick auf die Erregung von Furcht und Angst Liebe und Hoffnung in der Ausrichtung auf Gut und Boumlse und mit Blick auf das Fegefeuer bdquoHier beginnt die Vigil in duytsche die so organisiert ist denjenigen zu helfen die von hinnen gefahren sind in der Freundschaft Gottes in das Fegefeuer Und ebenso dazu [gedacht ist] den Lebenden zu helfen die sie lesen damit ihnen das Wissen um die kommenden Dinge eingedruumlckt werde auf dass sie glauben hoffen und lieben an die Dinge in Herrlichkeit Und [sie] sich dafuumlr bereit machen und sich waumlhrenddessen die ganze Zeit fuumlrchten dass ihre Tage schnell vergehen Auf dass sie sich fuumlrchten aumlngstigen grauen und beben vor dem mannigfaltigen Leid der Angst und dem Elend die den Boumlsen ereilen werden und sie so darum ihr Leben lang ndash das hier aumluszligerst kurz ist ndash darauf hinarbeiten diesem Leid zu entgehen und [die Vigil ist auch hilfreich] weil ein Mensch diese beiden Dinge ndash Gutes in Liebe und Boumlses in Angst ndash besser ansehen (aensien) kann und erkennen und sich uumlberdenken damit er besser bitten kann und [es] mehr begehrt (begheert) und mehr liebt (myn[n]t) fuumlr diejenigen zu bitten die im Fegefeuer sind fuumlr ihre baldige Erloumlsung und dafuumlr Gottes Ehre zu vermehren [hellip] So hilft das Bitten der Lebenden den Toten und das Bitten fuumlr die Toten hilft den Lebendigen sich auf den Tod vorzubereiten [hellip] Und dazu ist das Singen dieser Psalmen heranzuziehen [und zwar] immer nach den Bedeutungen der Antiphone und den Sinn der

51 Die Darstellung von Seelen im Fegefeuer taucht als Buchillumination ab dem 13 Jahrhundert bereits vereinzelt auf und diente in Kombination mit Jenseitsvisionen Bibeltexten und moralisierenden Inhalten vor allem dem Gedenken an bereits Verstorbene wie auch zur persoumlnlichen Mediation des Lesers Oft findet eine narrative Einbindung statt Vgl dazu M Borowska Das Entfachen des Fegefeuers in der europaumlischen Miniatur des 13 Jahrhunderts in Umeni 57 (2009) S 310ndash325 Zum ikonografischen Kontext der hier gewaumlhlten Illumination vgl die Untersuchung von I M Veldman Purgatory in the Low Lands in B BukovinskaacuteL Slaviacuteček (Hgg) Pictura verba cupit Essays for Lubomiacuter Konečnyacute Prag 2006 S 169ndash180 va 170ndash17252 De Spir Asc Kap 19 In den folgenden Kapiteln stellt Gerard dem Leser dasselbe Prinzip an den Themen des Juumlngsten Gerichts der Houmllle und des Himmelreiches vor 53 bdquoItem interdum propone oculis tuis ymaginem alicuius hominis morientis et diligenter respice formam modum et ordinem quibus ad mortem deveniturldquo De Spir Asc Kap 1954 Weitere beliebte Illustrationen zum Totenoffizium im Stundenbuch des 15 Jahrhundert sind ebenfalls die Darstellung eines Toten um dessen Seele Engel und Teufel kaumlmpfen Schaumldeldarstellungen Seelen in Abrahams Schoszlig Himmel und Houmllle der Tod als Angreifer die Auferweckung des Lazarus sowie die Psychostasis mit Michael als Seelenwaumlger Diese Motive werden eher als ganzseitige Miniaturen dargestellt und bekommen zum Teil in der begleitenden Initiale jene zwei betenden Seelen im Fegefeuer hinzugefuumlgt

Meditation und Gebet 285

Antiphone soll man dazu in den Psalmen bedenken in allen Stundengebeten Dabei ist gut dass man sowohl vor als auch danach die Antiphonen spreche und schreibeldquo55

Mit der sich gegenseitig amplifizierenden Kombination von selbstreflexiven Affekt er-regendem und ausdruumlckendem Psalmentext mit der bildlichen Darstellung von Beerdigung mit Fegefeuer und mit derartigen Aufstiegsmodellen vertraut kann der betende Leser hier den eigenen Tod und die Bestrafung seiner Seele als Konsequenz der eigenen irdischen Suumlndhaftig-keit produktiv in seine Bemuumlhungen des geistigen Aufstiegs und seine Selbsttransformation kanalisieren

Imagination und Illumination

Das Gebetsleben des mittelalterlichen Glaumlubigen ist gekennzeichnet durch seine Affektivitaumlt Die affectus werden mit Gebetstexten und Psalmenreihen sowie mithilfe bildlicher Darstel-lungen sorgfaumlltig kultiviert und systematisch eingeuumlbt Dabei sind dies altbekannte ndash weil biblische ndash Text- und Bildinhalte deren affizierendes Potential auf neue Arten ausgeschoumlpft wird Texte und physische wie gerade geistige Bilder erinnern den Betenden nicht nur unver-bindlich an bereits bekannte Ereignisse Situationen und Figuren sondern lassen ihn sich mit diesen durch affektive und reflexive Meditationspraktiken identifizieren Fremde Worte und Emotionen werden darin zu den eigenen Vorbilder aus dem Kreis der Heiligen werden so zu Imaginationsfiguren das Selbst wird auf Gott ausgerichtet und in all seinen Aspekten gezielt emotional reflektiert So unterschiedlich die formale Herangehensweise dieser Praktiken bei den drei untersuchten Autoren Hugo von St Viktor Bonaventura und Gerard Zerbolt van Zutphen zu sein scheint vermitteln sie doch die selbe zentrale Maszliggabe oratio est affectus ndash bdquoGebet ist Affektldquo

Uumlbersetzung Hugo von St Viktor De meditando PL 176 993ndash99

Die Meditation ist die haumlufige Erwaumlgung (cogitatio) der Ursache (causa) und des inneren Be-weggrundes (ratio) eines einzelnen zu untersuchenden Gegenstandes (res) was seine Art sei (modus) was die Ursache und was der Beweggrund

Es gibt drei Arten (genus) der Meditation eine in Bezug auf die Schoumlpfung (in creaturis) eine hinsichtlich der Schrift (in scripturis) und eine hinsichtlich der Sitten (in moribus) Die erste erwaumlchst aus der Bewunderung (admiratio) die zweite aus der Lektuumlre (lectio) die dritte aus der umsichtigen Beobachtung (circumspectio)

Zuerst bringt die admiratio die Frage (quaestio) hervor die Frage das Erforschen (investi-gatio) und das Erforschen die Entdeckung (inventio) Dies ist damit die Bewunderung der Ord-

55 Fuumlr den altniederlaumlndischen Text vgl Wijk (cf Anm 49) S 155 Zum Antiphon das der Vigil vorangestellt ist vgl Anm 50

286 Anselm Rau und Johanna Scheel

nung (dispositio) die Frage nach der Ursache und die Entdeckung des inneren Beweggrundes Die Bewunderung beruht auf der Betrachtung der Ordnung im Himmel das ist die Gleich-artigkeit von allem und der Houmlhen und der Tiefen (alta et depressa) auf der Erde Die Frage betrifft die Ursache (causa) des irdischen Lebens auf Erden und des himmlischen Lebens im Himmel Das Erforschen fragt nach dem inneren Beweggrund dass so wie die Erde auch das irdische Leben beschaffen ist und dass der Beschaffenheit des Himmels selbst auch das himm-lische Leben gleicht

Bei der Lektuumlre (lectio) aber erfolgt die Betrachtung (considerare) folgendermaszligenAls erstes dient die lectio dazu durch die Bereitstellung des Stoffes (materia) die Wahr-

heit zu erkennen (cognoscere) die meditatio fuumlgt ihn zusammen (coaptare) die oratio hebt ihn empor (sublevare) die operatio (Ausfuumlhrung) wendet ihn an (componere) und die contemplatio frohlockt in ihm selbst (exsultare)

Es ist durch die Meditation der Schriften zu erkennen auf welche Weise es sich gehoumlrt etwas zu wissen Als Beispiel steht geschrieben Declina a malo et fac bonum (Vg Ps 3627 ndash Wende dich ab von dem Boumlsen und tue Gutes EUuml Ps 3727) Deshalb wurde zuvor gesagt die meditatio wendet sich der lectio zu um sich vom Boumlsen abzuwenden und darauf Gutes zu tun Der Grund (causa) hierfuumlr ist wenn sich nicht zuerst das Boumlse zuruumlckzoumlge wuumlrde das Gute nicht herantreten koumlnnen Der innere Beweggrund (ratio) aber ist so wie zuerst die Sproumlsslinge des Boumlsen mit ihrer Wurzel ausgerissen werden muumlssen so muss danach das Gute (ein-)ge-pflanzt werden Warum wurde daher gesagt Wende dich ab von dem Boumlsen Weil es einem auf dem Weg begegnet Man wendet sich deshalb ab weil wir es wo auch immer nicht vermoumlgen durch Staumlrke zu widerstehen wir entkommen ihm lediglich wenn wir uns mit Klugheit und Vernunft (consilio et ratio) von ihm abwenden Auch muumlssen wir uns vom Boumlsen abwenden um dem Naumlhrstoff (materia) zur Suumlnde aus dem Weg zu gehen ndash beispielsweise ist von Hochmut (superbia) Begehrlichkeit (incontinentia) Begierde (concupiscentia) Neid (invidia) und Streit (contentio) abzulassen um sich vom Reichtum (abundantia) der Schoumlnheit (species) des Flei-sches und der Besitzgier (amor possessiones) abzuwenden Dies bedeutet bdquosich abzuwendenldquo Desgleichen wenn auf diese Weise von allem Boumlsen sich abzuwenden angeraten ist so wird die Verrichtung alles Guten verlangt Und so ist also der ebenso schuldig bzw angeklagt der allein nur alles Boumlse meidet wie derjenige der nicht zugleich all das Gute tut Aber wenn dies so ist wer ist dann kein Angeklagter (reus) Folglich wird uns anbefohlen uns von allem Boumlsen loszusagen Andererseits kommt das Gute zum Einen aus dem was sich gehoumlrt (necessitas) und zum anderen aus dem Willen (voluntas) Es gehoumlren sich die Dinge einer Vorschrift (praecep-tum) und die eines Geluumlbdes (votum) alles uumlbrige wird erfuumlllt wenn eine Sache [also Schuld] mehr als nur vergolten wird (supererogare) und einem nichts mehr anlastet

Daher zielt die Meditation bei der lectio darauf ab zu ergruumlnden auf welche Weise et-was das erkannt wird gut ist warum und wie es zu erreichen ist weil es ndash ist es [ersteinmal] erkannt ndash auch zu verrichten ist Die Meditation ist das Entdeckungsvermoumlgen der vorgefassten Absicht (excogitatio consilii) zu erwaumlgen auf welche Weise das Gute das erkannt wurde erfuumlllt wird denn das Erkannte ist unbrauchbar wird es nicht vollbracht

Deshalb ist die Meditation bei der lectio eine dreifache Betrachtung nach der historia der allegoria und der tropologia Gemaumlszlig der historia erfolgt die Meditation wenn wir nach dem

Meditation und Gebet 287

vollendeten inneren Beweggrund der Dinge fragen die geschehen sind und diesen hinsichtlich seiner uumlbereinstimmenden Art und Weise (modus) bezuumlglich der Zeiten (tempora) und Orte (loci) bestaunen (admirare) Bei dieser Betrachtung der goumlttlichen Ratschluumlsse (iudicium) laumlsst man nicht davon ab daruumlber nachzudenken dass diese richtigen und gerechten (rectus et iustus) Entscheidungen zu keiner Zeit den Beistand [Gottes fuumlr die Menschen] entzogen (deesse) und durch sie das geschah was sich gehoumlrte und vergolten wurde was gerecht war (iustum fuit)

Die Meditation hinsichtlich der allegoria beschaumlftigt sich mit der Gliederung (dispositio) der vorangegangenen und zukuumlnftigen Dinge und so wie fuumlr den Verstand (intelligentia) an-gemessen richtet sie dabei ihre Aufmerksamkeit auf deren uumlbereinstimmende Bedeutung in ihrer bewundernswerten Vernunftmaumlszligigkeit (ratio) und Vorhersehung (providentia) und auf ihre fuumlr den Glauben (fides) geschaffene Gestalt (forma)

Bezuumlglich der tropologia beschaumlftigt sich die Meditation damit welche Frucht die Worte der lectio hervorbringen und erforscht (exquirere) was diese wenn sie ausgefuumlhrt werden [im Sinne des eigentlichen Aussprechens der Worte aber auch die Ausfuumlhrung ihres Inhaltes] ein-pflanzen (insinuere) und dabei zugleich lehren was zu vermeiden ist Sie stellt vor Augen was durch die lectio der Schrift zur Unterweisung (eruditio) zur Ermahnung (exhortatio) zur Troumls-tung (consolatio) und zum Schrecken (terror) dient Hierdurch erleuchtet die tropologia dahin-gehend was zum Verstehen der Tugenden (virtus) fuumlhrt sie naumlhrt (nutrire) den Affekt (affectio) und lehrt (edocere) die Lebensfuumlhrung auf dem Pfad der Tugenden

Die Meditation der Sitten (mos) erfolgt gemaumlszlig der Affekte (affectus) der Erwaumlgungen (cogi-tationes) und der Werke (opera)

Hinsichtlich der Affekte ist zu betrachten wie sie recht und aufrichtig (rectus et sincerus) zu sein vermoumlgen damit ist gemeint auf das und zu was hin sie geschuldet sein muumlssen und in welcher Weise sie zu sein haben Zu differenzieren ist naumlmlich dass das was sich nicht gehoumlrt (non oportet) boumlse ist und zugleich das was sich gehoumlrt zu lieben ist ndash das zu lieben das sich gleichwie nicht gehoumlrt ist boumlse Daher handelt es sich um einen guten Affekt wenn er auf das ausgerichtet ist auf das er verpflichtet ist und in der Weise wie es sich gehoumlrt

Amnon liebte (diligere) seine Schwester und dies war der Affekt zu dem er bestimmt war doch weil er Boumlses begehrte war es nicht der Affekt wie er ihn schuldete (vgl 2 Sam 13) So kann der Affekt auf das gerichtet sein zu was er gehoumlrt dies aber nicht in der [angemessenen] Art und Weise Niemals aber kann der Affekt so sein wie er zu sein hat wenn er nicht auf das ihm Zugehoumlrige ausgerichtet ist Auf das ausgerichtet zu was er gehoumlrt bedeutet dass er recht ist und in der Art und Weise wie es sich gehoumlrt und dementsprechend ist er rein Daher werden die Affekte in den Erwaumlgungen betrachtet damit sie rein (mundus) und geordnet (ordi-natus) sind Rein sind sie wenn weder etwas Boumlses von den Affekten hervorgebracht wird noch das Boumlse die Affekte hervorbringt Dass sie geordnet sind meint wenn sie vernuumlnftigerweise aufgrund des ihnen eigenen Anlasses (suo tempore) aufkommen (advenire) Es ist nicht ohne Schaden (vitium) [naumlmlich im Sinne des korrekten Vorgehens nicht ohne Formfehler] bereits das Gute zu einem diesem nicht angemessenen Zeitpunkt zu erwaumlgen wie etwa an die lectio waumlhrend der oratio zu denken oder auch an die oratio waumlhrend der lectio

Bei den Werken ist als erstes zu betrachten was zum Beispiel durch die gute Absicht (bona intentio) geschieht Um eine gute Absicht handelt es sich wenn sie einfach und aufrichtig ist

288 Anselm Rau und Johanna Scheel

(simplex et recta) Die bona intentio ist arglos ohne Hinterlist (malitia) und aufrichtig ohne Ignoranz (ignorantia) Die naumlmlich ohne Hinterlist ist besitzt den Eifer (zelus) Ist sie aber aus der [bewussten] Unkenntnis gegenuumlber dem Wissen (scientia) (Roumlm 102) geboren verfuumlgt sie nicht uumlber den [wahren] Eifer Daher ist es notwendig dass die Absicht aufrichtig ist in der Bescheidenheit (discretio) und arglos im Wohlwollen (benignitas) Bei den Werken ist zu be-trachten dass sie aus der aufkommenden guten Absicht heraus mit beharrlicher Leidenschaft (fervor) schlieszliglich ans Ziel gefuumlhrt werden damit nicht die Beharrlichkeit (perseverantia) ge-laumlhmt (torpere) und die Liebe (amor) nicht lau wird (tepescare)

Auf gleiche Weise erfolgt die meditatio der Sitten in einer zweifachen Betrachtung naumlmlich einer inneren und einer aumluszligeren Die aumluszligere blickt auf das Ansehen (fama) die innere auf das Gewissen (conscientia) Die aumluszligere Betrachtung erfolgt gemaumlszlig dem was ziert (decere) und was nuumltzt (expedire) was als Beispiel (exemplum) dient und was den Lohn (meritum) hervorbringt ndash uns zum Lohn und den Naumlchsten als Beispiel Die innere Betrachtung dagegen schaut auf das Gewissen damit es rein (mundus) sei ohne Anklage (accusatio) zu erleiden (pati) ob nun durch die Laumlhmung (torpor) des Guten oder die Hartnaumlckigkeit (praesumptio) des Boumlsen Rein ist aber jenes Gewissen das weder durch das Vergangene zu recht angeklagt (accusare) noch durch das Gegenwaumlrtige unrechtmaumlszligig erfreut (delectare) wird

Daher laumlsst die meditatio der Sitten ihre Betrachtung nicht ruhen damit sie jegliche Re-gungen (motus) die sich im Herzen erheben bemerkt und erwaumlgt woher sie kommen und worauf sie abzielen (tendere) Das heiszligt woher sie kommen gemaumlszlig ihrem Ursprung und wo-nach sie streben hinsichtlich ihres Ziels Alles ist naumlmlich eine Bewegung aus irgendetwas und auf irgendetwas Die Bewegungen des Herzens sind manchmal offenkundigen Ursprungs manchmal entspringen sie aber auch Verborgenem Bei denen der Ursprung offenkundig ist ist er bisweilen durch das Gute bisweilen aufgrund des Boumlsen erwiesen Was offenkundig gut ist kommt von Gott was aber deutlich boumlse erscheint entspringt entweder dem Teufel oder dem Fleisch Dies sind naumlmlich die drei Urheber (auctores) aller Vorstellungen (suggestio) und aller Eingebungen (aspiratio) die unsichtbar an das Herz herantreten und aus jenen drei hervor-gehen Entspringen die Bewegungen des Herzens daher dem Verborgenen koumlnnen sie manch-mal aus dem Guten und dem Geheimen hervorgehen und sind manchmal boumlse und zweifelhaft (dubius) Die dem Guten entspringen kommen von Gott die aber dem Boumlsen entstammen sind entweder des Teufels oder des Fleisches

Die Bewegungen die folglich offenkundig sind sei es im Guten oder Boumlsen werden auf den ersten Blick durch ihren Ursprung angezeigt Jene aber die zweifelhaft bleiben hinsichtlich ih-res Grundes sind am Ende zu uumlberpruumlfen (probare) Ihr Ergebnis [oder Ausgang] (exitus) zeigt naumlmlich deutlich was vom Ursprung her verborgen war und deswegen muss derjenige der es nicht vermochte den Ausgangspunkt seiner Herzensbewegungen zu beurteilen (iudicare) das Ziel und die Ausfuumlhrung [bzw Vollendung] (finis et consummatio) untersuchen (investigare) Die Bewegungen naumlmlich die zweifelhaft und ungewiss sind sind vom verborgenen Guten oder Boumlsen Wie gesagt wurde haben die schlechten Regungen ihren Ursprung entweder beim Teufel oder im Fleisch Diese aber sind beide boumlse sie unterscheiden sich nicht indem oder durch was sie boumlse sind doch unterscheiden sie sich dahingehend dass die Regungen des Her-zens die dem Fleisch entspringen haumlufig aus einer Notwendigkeit (necessitas) heranwachsen

Meditation und Gebet 289

die aber die tatsaumlchlich vom Teufel kommen nehmen noch oumlfter wider der Vernunft (ratio) ihren Anfang (oriri) Was naumlmlich vom Teufel eingegeben wird (suggerere) ist in der Tat dem Menschen fremd und wird deswegen haumlufig von der menschlichen Vernunft abgelehnt weil er beispielsweise unlaumlngst gesaumlttigt Hunger leidet (pati) kurz zuvor noch trunken (inebriatus) vor Durst (sitis) gluumlht (aestuare) oder wenn er nach einem ausgiebigen Schlaf (dormitio) sich erhebend vom Traum (somnus) bedruumlckt (praegravare) wird

Hieraus also werden die Werke des Teufels differenziert betrachtet weil sie ja an den Men-schen von auszligen herangetragen werden und der menschlichen Vernunft fremd sind Bei den Werken des Fleisches und ihren Eingebungen liegt der Grund des Oumlfteren in einer vorangegan-genen Notwendigkeit Aber weil sie Ziel und Maszlig (modus et mensura) uumlbersteigen wachsen sie zum Uumlberfluss (superfluitas) heran Dies ist als Beispiel eben gerade dann der Fall wenn nach der Einnahme einer Mahlzeit der Hunger hemmungslos (immoderatus) begehrt (appetere) und nach Enthaltsamkeit (abstinentia) das Maszlig (mensura) bei der Aufnahme von Speise (edulium) nicht gehalten wird

Daher wird die meditatio der Sitten aufgrund eines dreifachen Urteils betrieben Das erste urteilt zwischen Tag und Nacht das zweite zwischen Tag und Tag und das dritte schlieszliglich untersucht den gesamten Tag (vgl Roumlm 145) Zwischen Nacht und Tag zu urteilen meint das Boumlse vom Guten zu (unter-)scheiden Die Beurteilung zwischen Tag und Tag bedeutet eine Un-terscheidung zwischen etwas Gutem und etwas Besserem vorzunehmen Uumlber den gesamten Tag zu richten ist schlieszliglich das einzelne Gute fuumlr den eigenen Lohn zu ermessen (aestimare)

So hat die meditatio der Sitten bei jeglichem Umgang (conversatio) das Ziel und die Rich-tung (directio) im Blick Das Ziel ist wohin man strebt die Richtung wodurch man leichter ans Ziel gelangt Jeder naumlmlich der zu irgend etwas strebt so wie etwas seine Bahn (cursus) lenkt und unaufhoumlrlich weiterzieht kommt schneller ans Ziel Es gibt daher Gutes durch das man stark bewegt ist (moveri) zugleich gibt es aber wenig her durch das man vorankommt (pro-moveri) Anderes dagegen fuumlhrt mit etwas Muumlhe (labor) zu groszligem Gewinn (fructus) Und diese sind folglich zu unterscheiden und das Bessere das mehr nuumltzt auszuwaumlhlen Welches auch immer mehr nuumltzt ist besser und es gehoumlrt sich jedes Werk auf seinen Ertrag hin zu beurteilen Indem viele diese Unterscheidung (discretio) nicht einhielten haben sie sich zwar aufs aumluszligerste bemuumlht sind jedoch nur wenig vorangekommen weil sie das Auge aumluszligerlich so sehr auf die Gestalt (species) der Werke richteten und nicht innerlich auf den Gewinn durch die Tugenden blickten Sie ergoumltzen sich daran groszlige Taten zu verrichten anstatt dass sie das Nuumltz-liche (utilia) uumlben (exercere) um sich selbst zu bessern (emendari) Dabei schaumltzten (diligere) sie vielmehr das durch das sie den Anschein erwecken (videri) konnten [so zu sein]

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zunaumlchst das was man schuldet entweder auf-grund einer Vorschrift (praeceptum) oder eines Geluumlbdes (votum) Diesbezuumlglich ist die erste Tat der meditatio zu ermitteln ist sie oder es erfuumlllt fuumlhrt es zum Lohn und wenn nicht bringt dies den Anklagezustand (reatus) hervor Es sind also zuerst die Dinge zu tun die nicht ohne Schuld (culpa) weggelassen werden koumlnnen Danach ist die meditatio alsdann so zu verrichten dass wenn etwas durch freiwillige Uumlbung (exercitatio) noch hinzugefuumlgt wird die Pflicht-erfuumlllung [eigtl Schuld] (debitum) nicht verhindert wird (impedire) Die einen die das nicht zu leisten vermoumlgen was sie schulden wollen was sie nicht muumlssen Die anderen wenn sie im-

290 Anselm Rau und Johanna Scheel

stande sind zu tun was sie schulden bringen freiwillig Hindernisse (impedimentum) mit sich indem sie etwas wollen was sie nicht muumlssen

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zwei Dinge des Boumlsen vor denen man bei der Ver-richtung von Gutem besonders auf der Hut sein muss die Betruumlbnis [Niedergeschlagenheit] (afflictio) und die Besessenheit [Vereinnahmung] (occupatio) Die afflictio fuumlhrt zur Bitterkeit (amaritudo) die occupatio zur Zerstreuung (dissipatio) Mit der afflictio verbittert die Suumlszlige (dulcedo) des Geistes und mit der occupatio wird die Ruhe (tranquillitas) zerstoumlrt (dissipare) Es herrscht Betruumlbnis wenn man fuumlr jene Dinge die man nicht vermag aufgrund der eigenen Ungeduld (impatientia) ungluumlcklich wird (urere) Dagegen handelt es sich um Besessenheit (occupatio) wenn man in seinem Handeln (nach seinem Vermoumlgen) aufgrund der impatientia gequaumllt wird (agitare) Folglich darf die Seele (animus) nicht aufgrund des Boumlsen verbittert wer-den sie muss ihr Unvermoumlgen (impossibilitas) geduldig (patienter) aushalten Genauso darf sie aber auch nicht vom Boumlsen eingenommen werden und darf ihr Vermoumlgen (possibilitas) nicht uumlber ihr eigenes Maszlig hinaus ausdehnen (extendere) Daher muss die meditatio der Sitten in einer weiteren Betrachtung der Lebensfuumlhrung zu einem Urteil kommen und dabei billigen dass es weder gut ist die Dinge die man nicht vermag ungeduldig (impatienter) zu verlangen (appetere) noch die welche man erreicht toumlricht (insipienter) zu verschmaumlhen (fastidire) Wer naumlmlich immer das begehrt was er nicht vermag und das was er [jedoch] vermag verabscheut wird sich weder am Gegenwaumlrtigen erfreuen (frui) noch am Zukuumlnftigen saumlttigen (satiare) Er verlaumlsst naumlmlich das Gute unentwickelt vor der Vollendung und eignet sich das gerade erst Be-gonnene vorzeitig an Deswegen ist es gut aufgrund des eigenen Guten zufrieden zu sein und das gegenwaumlrtige Gute durch hinzukommendes Gutes zu vermehren und es nicht aufgrund des Zukuumlnftigen wegzuwerfen (abicere) Der Austausch (commutatio) des Guten ist naumlmlich ein Leichtes (levitas) seine Uumlbung (exercitatio) aber die Tugend Oft eilen sie auf unterschiedlichen Wegen die einen die ein fruumlheres durch ein neues Gutes fallen lassen (abicere) und die ande-ren die [sich] vom Untersten zum Houmlchsten emporschwingen (conscendere) Wer naumlmlich nach Veraumlnderung (mutatio) fragt ist uumlberdruumlssig (fastidiosus) so wie der der nach dem Voran-schreiten (profectus) strebt eifrig bemuumlht ist (studiosus) Am aufrechtesten beschreitet daher derjenige den Weg der dabei so auf das Bessere brennt (fervere) dass er des Guten nicht uumlber-druumlssig wird sondern es vorerst empor haumllt solange bis er es spaumlter zu der ihm angemessenen Zeit sich aneignet (apprehendere)

Abbildungsnachweis

Einband Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders

Farbtafeln 1 (zu Beitrag Rosenwein) Coll BNU de Strasbourg ndash 2 (zu Beitrag Ferguson) Ar-chiv der Verf ndash 3 (zu Beitrag Herding) Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preu-szligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders ndash 4 (zu Beitrag Droste) R Kahsnitz Die Groszligen Schnitzaltaumlre Spaumltgotik in Suumlddeutschland Oumlsterreich Suumldtirol Muumlnchen 2005 Taf 53 ndash 5 6 (zu Beitrag Schedl) 75 Jahre 1933ndash2008 Kirche Mutter vom Guten Rat Festschrift und Chro-nik FrankfurtM 2008 S 92 Dr Bernd Konrad Radolfzell ndash 7 8 9 (zu Beitrag Zaumlh) Archiv des Autors ndash 10 (zu Beitrag Niehr) Universitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Media-thek 11 12 (zu Beitrag Muumlller) Autorin ndash 13 14 15 (zu Beitrag Schlie) Su concessione del Ministero dei beni e delle attivitagrave culturali e del turismo ndash Galleria Nazionale delle Marche ndash Urbino Archivio fotografico Archiv der Verf F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 ndash 16 17 (zu Beitrag Stoichita) D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 ndash 18 19 20 (zu Beitrag Schmidt) London British Museum C Geissmar-BrandiE Louis (Hgg) Glaube Hoffnung Liebe Tod Wien 1995 S 149 Archiv Autor ndash 21 (zu Beitrag Jung) Autorin

Textabbildungen Droste 1 3 4 Autorin 2 E Oellermann Der Hochaltar in St Martin zu Lorch am Rhein in H KrohmE Oellermann (Hrsg) Fluumlgelaltaumlre des spaumlten Mittelalters Ber-lin 1992 Abb 2 ndash Ferguson 1ndash3 Archiv der Verf ndash Frese 1 2 3 5 M BrandtA Eggebrecht (Hgg) Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen Katalog der Ausstellung Hil-desheim 1993 Bd 1 S 386f Abb 197 u 198 Bd 2 S 583 KatNr VIIIndash32 S 604 KatNr IXndash8 4 G LutzA Weyer (Hgg) 1000 Jahre St Michael in Hildesheim Kirche ndash Kloster ndash Stifter Peterberg 2012 S 148 Abb 118 ndash Gruumlndler 1ndash4 L DomenicoA Nova (Hg) Leonardo da Vincirsquos Anatomical World Language Context and Disegno Akten der Internationalen Tagung Florenz 30ndash31 Mai 2008 Venedig 2011 S 237 S 236 S 241 S 186 5 6 Le journal de Jacopo da Pontormo traduit par Jean-Claude Lebensztejn avec la collaboration drsquoAlessandro Parronchi Paris 1992 S 46 S 50 ndash Herding 1 2 3 4 5 6 7 Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders 8 Max J Friedlaumlnder Early Netherlandish Painting 14 vols Leiden und Bruumlssel 1967ndash1974 vol II 1967 pl 10 Nr 3i 9 Wolfenbuumlttel Herzog-August-Bibliothek ndash Jung 1 2 3 4 5 Autorin ndash Kessler 1 6 7 Autor 2 3 Museo delle Terme Rom 4 British Museum London 5 Alexei Lidov ndash Maxwell 1 2 AHN 3 Autor 4 Sancho el Mayor y sus herederos ed I Bango Torviso et al 2006 cat 25 5 BNE ndash Muumlller 1 Italian painting c 1330ndash1550 I National Gallery in Prague II Collections in the Czech Repub-lic Illustrated summary catalogue Prag 2008 2 Collection of The John and Mable Ringling Museum of Art the State Art Museum of Florida Florida State University 3 2014 copy Archivio Fotografico ndash Fondazione Musei Civici di Venezia ndash Niehr 1 A Schuttwolf (Hg) Ausst-Kat Jahreszeiten der Gefuumlhle Das Gothaer Liebespaar und die Minne im Spaumltmittelalter Ostfil-

400 Abbildungsnachweis

dern-Ruit 1998 2 D de Vos Hans Memling Das Gesamtwerk AntwerpenStuttgart 1994 S 278ndash283 TH Borchert Hans Memling Portraits Stuttgart 2005 S 173f Nr 23 3 Univer-sitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Mediathek ndash Pfisterer 1 E Steinmann ldquoLa mano di Michelangeloldquo in Studien aus Kunst und Geschichte Friedrich Schneider zum siebzigsten Geburtstag Freiburg iBr 1906 unnum Taf 2 R Bernini ua La mano e il volto di Antonio Canova PossagnoQuinto di Treviso 2008 S 197 3 U Klein Zur Forschungsgeschichte des Duumlrer-Hauses in GU GroszligmannF Sonnenberger (Hgg) Das Duumlrer-Haus Neue Ergebnisse der Forschung Nuumlrnberg 2007 S 105 nach Carl A Heideloff Die Ornamentik des Mittelalters Bd 3 Nuumlrnberg 1847 S 42 4 WH Vroon Het wonderlid van Jan de Witt en andere vaderland-se relieken Nijmegen 1997 S 68 5 Autor nach GF Tomasini Petrarca Redivivus Padua sup21650 S 128 6 A Picturesque Tour Through Holland Brabant and Part of France made in the autum of 1789 by Samuel Ireland London sup21796 Bd 2 Taf nach S 13 ndash Pinkus 1 2 3 4 5 6 Autor 7 8 Institut fuumlr Kunstgeschichte Universitaumlt Wien Fotothek ndash RauScheel 1 M Gregori Uf-fizien und Palazzo Pitti Muumlnchen 1994 S 31 2 Den Haag Koninklijke Bibliotheek ndash Raeck 1 2 5 7 Fotothek des Instituts fuumlr Archaumlologische Wissenschaften AbtI Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main 3 Zeichnerische Rekonstruktion M Junghans nach H-V Herrmann Olympia ndash Heiligtum und Wettkampfstaumltte Muumlnchen 1972 Abb 95 4 Antikensammlung Staatliche Museen zu Berlin Foto Johannes Laurentius 6 W Riezler Weissgrundige attische Lekythen Muumlnchen 1914 Taf 23 8 Deutsches Archaumlologisches Institut Athen Fotothek ndash Reudenbach 1 F MuumltherichJE Gaehde Karolingische Buchmalerei Muumlnchen 1979 Taf 4 2ndash4 httpwwwbibliotheca-laureshamensis-digitalde (Zugriff 20022014) ndash Schmengler 1 2 3 Torsten Saumlnger Frankfurt 4 5 6 Eric Tschernow Berlin ndash Schedl 1ndash3 Dr Bernd Konrad Radolfzell 4 FrankfurtMain-Niederrad Pfarrarchiv der katholischen Kirchengemeinde Mut-ter zum Guten Rat ndash Schlie 1 Archiv der Verf 2 Archiv der Verf + D E Katz The Contours of Tolerance Jews and the Corpus Domini Altarpiece in Urbino in Art Bulletin 85 (2003) S 647ndash661 S 647 3 F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 Schmidt 1 2 London British Museum 3 M Geisberg Der Meister ES Leipzig 21924 4 Archiv Autor ndash Taxer 1 2 O Paumlcht Altniederlaumlndische Malerei Von Rogier van der Weyden bis Gerard David Muumlnchen 1994 Abb 91 S 118 Abb 93 S 120 3 4 E Panofsky Die altniederlaumlndische Malerei Ihr Ursprung und Wesen Bd 2 Koumlln 2006 Abb 387 S 236 Abb 358 S 214 ndash Stoichita 1 D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 2 3 J Bialostocki Les Museacutees de Pologne Bruxelles 1966 ndash Zaumlh 1 2 Archiv des Verf 3 Metropolitan Museum of Art Bulletin 58 (2001) S 17 4 G ForsythK Weitzmann The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai The Church and Fortress of Justinian Plates Ann Arbor (Mi) 1973 Plate 121

Meditation und Gebet ndash Affektsteuerung und Imagination durch Wort und Bild in der mittelalterlichen Devotionspraxis

Anselm Rau und Johanna Scheel

Einleitung

Kernelement der mittelalterlichen Praktiken in Meditation und Gebet ist die habituelle und emotionale Ausrichtung auf Gott in der Nachfolge Christi Gerade die Kunstgeschichte ist da-rum bemuumlht Devotionspraktiken zu untersuchen und ihre Bedeutung fuumlr die Kunst des Mit-telalters erfahrbar greifbar und damit lesbar zu machen Dabei geht es nicht darum einzelnen Bildwerken bestimmte Gebetstheorien als motivgebendes Programm zu hinterlegen sondern Bildwerke als Hilfsmittel im Gebet in den durch diese Theorien ausformulierten Kontext zu stellen und ihre Funktion fuumlr den betenden Bildbetrachter zu diskutieren Als Grundlage hier-zu bedarf es der zeitgenoumlssischen theoretischen und theologisch-philosophischen Begruumlndung von Meditation und Gebet Die Werke Hugos von St Viktor vor allem das eher traditionelle Traktat De meditatione und die innovative Schrift De modo orandi bieten sich aufgrund ihrer Rezeption und weiten Verbreitung als auch wegen ihrer intellektuellen Qualitaumlt bei gleichzeiti-ger Anschaulichkeit zur Beschreibung und Analyse des Wesens der Struktur und des Vollzugs der Meditation und des stufenweisen emotionalen Gebets im Mittelalter an Durch die von Hugo als Anwendungsbeispiele gewaumlhlten Psalmentexte lassen sich daruumlber hinaus schlaglicht-artig diachron Vergleichsbeispiele eroumlffnen und zwar mit dem im 13 Jahrhundert entstande-nen Lignum Vitae Bonaventuras und mit De spiritualibus ascensionibus des Gerard Zerbolt von

268 Anselm Rau und Johanna Scheel

Zutphen aus dem 15 Jahrhundert Hieran kann ebenfalls die Ruumlckbindung des Stufengebets an Bildbeispielen erprobt werden

De meditando

In De meditando1 behandelt Hugo die Meditation deren spirituelle Abfolge er in lectio medita-tio oratio operatio und contemplatio strukturiert2 Die uumlbliche monastische Stufenabfolge im Gebet zeigt als festes Geruumlst den Dreischritt aus lectio meditatio oratio der ab dem 12 Jahr-hundert nicht nur bei Hugo sondern beispielsweise auch bei Guigo dem Kartaumluser in seiner Scala claustralium um die contemplatio erweitert wird3 Weitere oder andere Hinzufuumlgungen zu dem Tenar wie hier die operatio oder die Ausgestaltung der Unterteilungen der Stufen koumlnnen von Autor zu Autor variieren Letztendlich ist die Verbindung von Bibellektuumlre und Meditation durch Hugo nicht innovativ sondern allgemeine monastische Praxis Gemaumlszlig der philosophischen Logik erfolgt dabei die Eroumlrterung der Dinge und Sachverhalte nach Hugo uumlber die Erwaumlgung ihrer Ursachen und ihrer inneren Beweggruumlnde sowie hinsichtlich der ka-tegorialen Unterscheidung des Schriftsinnes nach historia allegoria und tropologia

Die Evidenz der Affekte4 bei Meditation und Gebet findet allerdings ungewoumlhnlich starke Betonung in De meditando Anhand des inhaltlichen Leitgedankens des gesamten Traktats aus Psalm 3627 (Vg) Declina a malo et fac bonum verifiziert Hugo bei der Erlaumluterung der gerade

1 Hugo von St Viktor De meditando PL 176 993ndash998 Eine Uumlbersetzung auf Grundlage der Ausgabe von Migne findet sich am Ende des Beitrages vorgenommen wurde ein Abgleich des Texte mit der nicht kritischen Edition und der franzoumlsischen Uumlbersetzung bei Baron ndash vgl R Baron Six opuscules spirituelles La Meacuteditation La Parole de Dieu La reacutealiteacute de lrsquoAmour Ce qursquoil faut aimer vraiment Les cinq Septeacutenaires Les sept Don de lrsquoEsprit-Saint Einfuumlhrung Textkritik Uumlbersetzung und Anmerkungen von R Baron Paris 1969 S 44ndash59 Weitere Titel des Textes De generibus meditationum et quae sit utilitas eorum und De meditatione siehe ebd S 9 Es sind insgesamt 103 Abschriften erhalten ndash 20 aus dem 12 Jh 29 aus dem 13 Jh 17 aus dem 14 Jh und 34 aus dem 15 Jh Vgl R Goy Die Uumlberlieferung der Werke Hugos von St Viktor Ein Beitrag zur Kommunikationsgeschichte des Mittelalters Stuttgart 1976 S 196ndash211 hier S 211 Im Gegensatz zu De modo orandi wurde De meditando nicht in Volkssprache uumlbertragen vgl ebd S 501ndash504 Die Aufmerksamkeit der Forschung fuumlr dieses kurze Traktat ist relativ gering einige seiner Besonderheiten bei Baron op cit S 11ndash172 Diese StufungAbfolge bietet er auch im Didascalicon Hugo von St Viktor Didascalicon de studio legendi Studienbuch uumlbers u eingel v Th Offergeld Freiburg [ua] 1997 59 S 348349 bdquoVier Dinge sind es durch die nun das Leben der Gerechten zur Ausuumlbung gelangt und sich gleichsam auf vier Stufen zur zukuumlnftigen Vollkommenheit erhebt naumlmlich das Studium oder die Belehrung die Meditation das Gebet und das Handeln Darauf folgt noch eine fuumlnfte Stufe die Kontemplation []ldquo Aumlhnlich auch in De archa noe moralia Eine teils woumlrtliche Meditationslehre wiederholt Hugo in In salomonis Ecclesiasten homilia 191 An anderer Stelle wird der Dreischritt mitunter in meditatio speculatio contemplatio umgewandelt Vgl K Ruh Geschichte der abendlaumlndischen Mystik Bd 1 Die Grundlegung durch die Kirchenvaumlter und die Moumlnchstheologie des 12 Jahrhunderts Muumlnchen 1990 S 367f 3 Guigo der Kartaumluser Scala claustralium Die Leiter der Moumlnche zu Gott 2 verb Aufl hg v D Tibi OSB Nordhausen 2009 Eine direkte Abhaumlngigkeit Guigos von Hugo muss dies allerdings nicht bedeuten vgl Ruh (cf Anm 2) S 2224 Auch in De comtemplatione nehmen die Affekte einen besonderen Raum ein ndash affectus wird nicht definiert aber als Streben nach Demut Liebe und ad contemplationis puritatem beschrieben (so Ruh (cf Anm 2) S 374 dort noch Weiteres zu den Unterstufen der einzelnen Stufen)

Meditation und Gebet 269

vom tropologischen Aspekt geleiteten Meditation der Sitten den Charakter und den Nutzen der Affekte Die tugendhafte Lebensfuumlhrung im Denken und Handeln konstituiert sich aus der Erkenntnis der nach der Vernunft geordneten und auf das Ziel Christus ausgerichteten rechtmaumlszligigen und reinen affectus Der Affekt als motus cordis ist in augustinischer Tradition untrennbar mit dem Willen (voluntas) als Vermoumlgen der Seele verknuumlpft Dadurch ist alles ge-ordnet nach der Vernunft ein Akt des Willens in strebendem Verlangen (cupiditas) oder in Furcht (timor) begruumlndeter Ablehnung und dessen Vollzug in Freude (laetitia) oder Trauer (tristitia)5 Aufgrund der tiefen postlapsalen Ambivalenz der Bewegungen des Herzens in dem was es liebt unbeherrscht nach der cupiditas und geordnet nach der caritas bedarf es zudem der umsichtigen circumspectio (Betrachtung) ob die affectus im Guten oder Boumlsen begruumlndet sind6 Konkret bedarf es der eindringlichen Betrachtung in der meditatio die den Ursprung der Affekte untersucht sowie den Antrieb (appetitus) des Willens7 Zu ergruumlnden ist also im Idealfall die bona intentio dh der rechtschaffene Anlass der affectus und der fuumlr sie unabding-bare auf das rechtmaumlszligige Ziel in unablaumlssiger Beharrlichkeit ausgerichtete Eifer (zelus) Bei der meditatio handelt es sich gewissermaszligen um die Begutachtung der Zielrichtung (directio) der affectus das heiszligt ausgehend von ihrem Ursprung uumlber den eigentlichen Vollzug bis schlieszliglich in ihrer Vollendung ein Abgleich mit dem angestrebten Objekt moumlglich ist Hierdurch bildet die Meditation und mit ihr auf dieser aufbauend die contemplatio den eigentlichen Denkprozess und zugleich seine Ergebnisse Affectus besitzt somit einen kognitiven Inhalt bzw die Kognition ist affektiv bestimmt der Affekt ist letztlich Ausgangspunkt Mittel und Ziel des Denkens da erst uumlber ihn die Angleichung an Gott in Christus moumlglich ist Letztlich kann Gott nur uumlber die Liebe erkannt werden

In De meditando ist es Hugo ein Anliegen anhand der fortwaumlhrenden Gegenuumlberstellung der Betrachtung bzw Ergruumlndung des Guten und des Boumlsen die Notwendigkeit der richtigen Reihenfolge der Gebetsschritte zu betonen sowohl was das strebende Verlangen nach dem Gu-ten betrifft als auch seine praktische Ausfuumlhrung Dies beweist der Anfangspunkt der inneren Gewissenspruumlfung als Prozess von Reue und Buszlige in der Abwendung von den Lastern und der damit verbundenen emotionalen Dispositionen Denn nicht die rein aumluszligerliche und theo-retische Betrachtung der guten Werke und das durch sie erworbene Ansehen sind nuumltzlich sondern die Betrachtung des inneren Gewinns durch die Tugenden Gutes zu unterlassen bleibt nicht ohne Schuld und ist als Fehler oder Schaden was die Struktur der meditatio betrifft so-wohl hinsichtlich des schematisierten Meditationsablaufes als auch bezuumlglich des persoumlnlichen

5 Augustinus De civitate Dei hg v B DombartA Kalb Turnhout 1955 pars II Civitas terrena et civitas caelestis 14 6 S 421 ndash ebenso Augustinus De civitate Dei (1955) pars II 14 7 S 422 Zur Theorie des Willens bei Augustinus siehe A Dihle The Theory of Will in classical Antiquity Berkeley[ua] 1982 S 123ndash1446 Circumspectio wird der Kardinaltugend der prudentia zugeordnet spaumlter dann gerade auch bei Thomas v Aquin vgl Ruh (cf Anm 2) S 373) Auszliger in De meditando vgl zur circumspectio bei Hugo von St Viktor De institutione novitiorum De virtute orandi De laude caritatis De arrha animae hg v H B FeissP SicardD Poirel Turnhout 1997 S 46 413ndash423 Fuumlr weitere Beschaumlftigung mit der Sicht Hugos auf die Tugenden siehe I vanrsquot Spijker Hugh of Saint Victorrsquos Virtue Ambivalence and Gratuity in I P BejczyR G Newhauser (Hgg) Virtue and Ethics in the Twelth Century Leiden 2005 S 75ndash94 ebenso in I vanrsquot Spijker The Multiple Meaning of Scripture The Role of Exegesis in Early-Christia and Medieval Culture Leiden 2009 S 2262277 Vgl auch Hugo In Ecclesiasten I 116 (fuumlr 161) D - 117A

270 Anselm Rau und Johanna Scheel

Vorankommens ein Formfehler (vitium) Erleuchtendes Mittel der meditatio ist die lectio in ihren ermahnenden troumlstenden und Furcht evozierenden Unterweisungen Diese fuumlhren zu einem Verstehen der Tugenden (virtus) und naumlhren die affectio welche erst die Lebensfuumlhrung auf dem Pfad der Tugenden generiert Damit spielt Hugo auf den Aspekt des stufenweisen Vo-ranschreitens (profectus) an der sich im Erkennen und Vollzug der Affekte ausgerichtet auf das Ziel selbstreflexiv konstituiert Diesbezuumlglich ist die Ermahnung Hugos entscheidend sich vor der Betruumlbnis des anfaumlnglichen eigenen Unvermoumlgens zu huumlten um das houmlhere Gute zu erreichen Zugleich warnt er aber auch vor der Vereinnahmung durch ablenkende Zerstreu-ung die eine sprunghafte ungeduldige Betrachtung des einzelnen Guten nach sich zieht Hier spricht Hugo zwei grundlegende das Verstaumlndnis des Aufstiegs betreffende Aspekte an Man muss aufgrund des nach eigenem Vermoumlgen erreichten Guten zufrieden sein und dabei auch persoumlnliche Unzulaumlnglichkeiten ertragen (patienter) lernen Das erreichte Gute ist dabei das Fundament auf das Zukuumlnftiges aufzubauen ist eilt man unstet von einem zum naumlchsten geht das bereits Erreichte verloren Erst durch die fortwaumlhrende Uumlbung festigen sich die Tugenden was im Umkehrschluss ein Voranschreiten in der diese selbst konstituierenden affectio erst er-moumlglicht

Die Augustinische Tradition in die sich Hugo stellt macht bereits der einleitende Satz von De meditando deutlich Meditatio est frequens cogitatio modum et causam et rationem unius cuiusque rei investigans8 In dem Pseudo-Augustinischen Traktat De spiritu et anima9 findet man ihn einmal woumlrtlich einmal in einer Abwandlung Der woumlrtlich uumlbereinstimmende Satz taucht in Kapitel 38 auf das von der Definition der Seelenkraumlfte handelt die im Anschluss als ingenium ratio intellectus und intelligentia definiert und durch contemplatio und caritas flankiert werden Eingebettet ist dieser Teil in die Diskussion der Seele als Abbildung und Aumlhn-lichkeit Gottes die es wiederherzustellen gelte Die zweite abgewandelte Version des Zitats findet sich in Kapitel 50 und verbindet die Meditation mit Weisheit Zerknirschung Devotion Gebet und Affekt bdquoMeditatio siquidem parit scientiam scientia compunctionem compunctio devotionem devotio perficit orationem Meditatio est frequens cogitatio curiosa et sagax ob-scura investigare et occulta ad notitiam trahere Scientia est quando homo ad cognitionem sui assidua meditatione illuminatur Compunctio est quando ex consideratione malorum suorum cor interno dolore tangitur Devotio est pius et humilis affectus in Deum humilis ex conscientia infirmitatis propriae pius ex consideratione divinae clementiae Oratio est mentis devotio id est conversio in Deum per pium et humilem affectum Affectus est spontanea quaedam ac dul-cis ipsius animi ad Deum inclinatio Nil enim ita Deum inclinat ad pietatem et misericordiam quemadmodum purus mentis affectusldquo

Letztendlich muumlndet eingeleitet durch das schlagwortartige bdquoDevotio est pius et humilis affectus in Deumldquo die Meditation im Affekt durch den das Gebet selbst als mentis devotio auf Gott hin vollzogen wird Waumlhrend Hugo diesen letzten Part in De meditando nicht uumlbernimmt

8 Diesen Satz findet man ebenfalls in Abwandlung in dem Ps-Hugonischen Traktat De contemplatione et eius speciebus vgl zu diesem Traktat Ruh (cf Anm 2) S 370ndash3809 PL 40 Col 779

Meditation und Gebet 271

begegnet er jedoch in einem anderen Traktat Hugos De modo orandi als zentrale Aussage wie-der Fuumlr De meditando kann er als bestimmender Unterton angenommen werden

De modo orandi

In De modo orandi10 setzt Hugo von St Viktor die rhetorische Form des Gebets in Relation zu Intention und Emotion des Betenden und legt das komplex verwobene Verhaumlltnis von Wort und Emotion systematisch dar Dabei ist die starke Betonung der zentralen Rolle der Affekte innerhalb des Gebets bis dahin einzigartig Hugo aumluszligert sich sogar so dass den frommen Af-fekten die gesamte Kraft des Gebets inne wohne bdquoin affectibus pietatis est omnis virtus orandildquo11

Nach einem Abriss uumlber den generellen Aufbau des Gebets der oratio12 die ausgehend von der meditatio der zweifachen Erkenntnis naumlmlich der eigenen Fehler wie der Barmherzigkeit Gottes zur compunctio13 fuumlhrt und diese in die devotio uumlberfuumlhrt (Kap 1) werden anhand rhe-torischer Formen die verschiedenen Gebetskategorien klassifiziert (Kap 2ndash3) Hiermit gelingt es Hugo nicht nur grundlegende Bestandteile oder Uumlberbegriffe des Gebets detaillierter zu un-terscheiden sondern diese kategorisierende Herangehensweise in einen Zusammenhang mit praktisch brauchbaren Gebetstexten und -worten zu stellen Dies geschieht zunaumlchst ebenfalls in einem engen Theoriegeruumlst in dem die oratio in supplicatio (das demuumltige Gebet) postulatio (die Anrufung) und insinuatio (die versteckte Andeutung) geschieden wird und diese drei Ge-

10 266 Handschriftenexemplare von De modo orandi sind vorhanden mehr als hundert entfallen auf das 15 Jh Vgl Hugo von St Viktor 1997 (cf Anm 6) S 118 ausfuumlhrlicher dazu Goy (cf Anm 1) Laut Goy ist De modo orandi nach dem Soliloquium de arra animae das weitverbreitetste Werk Hugos (12 Jh 42 13 Jh 34 14 Jh 40 15 Jh 105 uumlberlieferte Exemplare) ebd S 506 Diese Verteilung und der prononcierte Sprung im 15 Jh entsprechen nicht der Verbreitungsintensitaumlt aller Schriften Hugos durch die Jahrhunderte die Goy S 509 mit 852 im 12 Jh 665 im 13 Jh 331 im 14 Jh und 674 im 15 Jh beziffert Im 15 Jh findet sich die hohe Verbreitung vor allem im deutschen Raum sowie durch das Gebiet zwischen Rhein und Schelde Goy sieht den Grund in den Klosterreformen der Windsheimer Kongregation und somit der Devotio Moderna an ebd S 51711 De modo orandi Kap 712 Dabei ist die oratio hier nicht eins zu eins mit dem Begriff der oratio in De meditando gleichzusetzen dies ist ein generelles Problem bei dem Versuch aus den Werken Hugos einheitliche Begriffsdefinitionen zu destillieren ndash oftmals werden Begriffe mehrfach belegt und erscheinen gerade in systematischen Abhandlungen die eigentlich von Begriffsschaumlrfe abhaumlngig sind zuweilen an verschiedenen Stellen ein und desselben Systems mit anderen Konnotationen Vgl zB De contemplatione wo dies mit dem Begriff der contemplatio geschieht oder in De modo orandi wo oratio einmal als uumlbergeordnete Kategorie und einmal als Unterkategorie der supplicatio in Form der pura oratio erscheint13 Hugo benutzt hier das Schriftwort bdquoJe mehr der Mensch seine Fehler erkennt desto mehr seufzt und klagt er (Pred 118)ldquo Compunctio bzw contritio bezeichnet die aufrichtige traumlnenreiche Reue und Zerknirschung die den Auftakt jedes Gebets sein sollten Siehe Chr Swift A Penitent Prepares Affect Contrition and Tears in E Gertsman (Hg) Crying in the Middle Ages Tears of History New York 2012 S 79ndash101 Vgl dazu auch S Grosse Heilsungewiszligheit und Scrupulositas im spaumlten Mittelalter Studien zu Johannes Gerson und Gattungen der Froumlmmigkeitstheologie seiner Zeit Tuumlbingen 1994 S 181ff Sie ist Teil der religioumlsen Praxis und erhaumllt ab dem beginnenden 13 Jh einen festen Platz als Teil des Beichtsakraments ab dem 15 Jh erfaumlhrt sie innerhalb dieses institutionalisierten Gebrauchs eine starke Bedeutungszunahme sogar die der eigentlichen satisfactio uumlberfluumlgelnd

272 Anselm Rau und Johanna Scheel

betsarten ebenfalls mit drei Unterkategorien ausgestattet werden Die Begrifflichkeiten sind der antiken Rhetorik entlehnt an der Hugo seine Rhetorik des Gebets entwickelt indem er auf eine sehr anwendungsbezogene Weise bestimmte Affekte in sie einbindet Die captatio ndash eine Unterart der supplicatio ndash soll beispielsweise in der antiken Rhetorik eine emotional positive Einstimmung des Angesprochenen ndash im Gebet waumlre dies Gott ndash bewirken14 bei Hugo dient sie jedoch daruumlber hinaus stark der eigenen emotionalen Vorbereitung des Betenden Die Gebets-worte haben nach Hugo ausdruumlcklich die Funktion im Betenden diejenigen Affekte entstehen lassen die der Bitte entsprechen

Form ndash Intention ndash Emotion

Dass festgelegte traditionelle Gebetsworte vorgegeben sind wiederspricht dieser Funktion dabei in keinster Weise Hugo zeigt dies daran dass er gerade Psalmentexte benutzt um seine Vorstellungen von affectus und davon wie dieser im Gebet erzeugt werden kann zu entwickeln (Kap IV) Waumlhrend die richtige (rhetorische) Form der Bitte fuumlr die Ansprache Gottes wichtig sei sei sie fuumlr den Betenden einerseits notwendig damit er sein eigenes Gebet besser verstehen koumlnne er nochmals in der meditatio uumlberlege worum er bitte und vor allem damit er dadurch noch hingebungsvoller mit staumlrkerer devotio bete Erst durch diese vollkommene Hinwendung der Seele des Betenden zu Gott in hingebungsvollem Affekt (affectus devotionis) wird seine Zu-stimmung erreicht Durch die Worte werde dem Beter seine Bitte und sein Zustand staumlrker bewusst er werde zum Affekt gebracht der Affekt in denselben Worten ausgedruumlckt und durch diese noch staumlrker entflammt bdquoQuaecunque ergo sunt verba orantis absurda non sunt si tan-tummodo ad hoc competenter proferri possint ut vel orantis affectum ad amorem Dei excitent vel (quod amplius est) si jam amore ejus flagrat excitatum demonstrentldquo15 Hier wird der Kern des Traktats formuliert Die Form des Gebets wird in Relation zu Intention und Emotion ge-setzt wodurch Hugo einerseits zu der Aussage kommt dass je groumlszliger die Emotion werde sie sich desto weniger in artikulierten Worten ausdruumlcken lieszlige16 Andererseits kann er zeigen dass das Verhaumlltnis von Wort und Emotion ein vielschichtiges und sich gegenseitig amplifizierendes ist Die Gebetsworte werden danach ausgesucht welchem Ziel und Affekt sie dienen sollen Im Gebet gesprochen vergegenwaumlrtigen sie oder erinnern sie den Betenden an bestimmte Affekte sie erwecken und verstaumlrken diese soweit dass zuletzt ebendiese Worte zum Affektausdruck des Beters werden Der Betende eignet sich damit fremde Worte durch den Affekt an und macht

14 ZB in De inventione von Cicero (1 17) oder RhetoricaAuctor ad Herennium (1 6) so Hugo von St Viktor (1997) S 166 Anm 28 (cf Anm 6) Vgl zur captatio ebenso B Wessel Art Captatio benevolentiae in Historisches Woumlrterbuch der Rhetorik hg v G Ueding Bd 4 Tuumlbingen 1998 Sp 121ndash12315 bdquoAber auf keine andere Weise wird Gott zur Zustimmung gebracht als wenn die Seele des Betenden in gaumlnzlich hingebungsvollem Affekt zu ihm selbst hingewandt wird Wie auch immer die Worte des Gebets sind so sind sie nicht nutzlos wenn sie ihm nur passender vorgetragen werden koumlnnten damit sie entweder den Gebetsaffekt zur Liebe Gottes entflammen oder was besser ist wenn die Liebe schon brennt sie die Erregung zeigtenldquo16 bdquoDer Affekt hat naumlmlich die Eigenschaft dass je groumlszliger und gluumlhender er im Inneren ist er desto weniger aumluszligerlich durch die Worte ausgedruumlckt werden kannldquo

Meditation und Gebet 273

sie zu seinen eigenen Das gesprochene Gebet ist so uumlber seinen affektiven Effekt auf den Beter definiert Als Beispiel benutzt Hugo Schriftworte vornehmlich Psalmen bdquoJeder Einzelne also waumlhrend er im Gebet entweder Psalmen oder irgendwelche anderen Schriften singt soll sorg-faumlltig bedenken welchem Affekt sie dienen moumlgen und durch ganze Anstrengung sein Herz zu jenem Affekt erregen Er sagt das was ihm besser zu dienen scheint denn wenn er den Affekt erregt durch die Worte die er sagt erkennt er durch den Affekt selbst besser die Kraft der Worte Er erwirbt die Einsicht und entzuumlndet durch die Einsicht der Worte umso mehr den hingebungsvollen Affektldquo (Kap V)

Psalmen ndash Wort und Affekte

Die lebenspraktische Erklaumlrung der Gebetsaffekte in De modo orandi ist bemerkenswert klar Weil in den Affekten die ganze Kraft des Gebets liege zaumlhlt Hugo beispielhaft aus den unend-lichen Affekten (Kap VII) neun von ihnen auf die er ebenfalls kurz definiert und gruppiert zunaumlchst die Affekte der Zuneigung Bewunderung und Mitfreude17 dann die Affekte der De-mut des Leides und der Furcht sowie zuletzt die Affekte der Entruumlstung der Eifersucht und der guten Erwartung Diese Gruppierungen werden jeweils auf verschiedene Schriftgattungen bezogen aus denen sie entstehen koumlnnen ndash so werden einer Gattung die zur Erinnerung des Ungluumlcks bzw der eigenen Fehler anregt drei dieser Affekte zugeordnet naumlmlich Demut die aus der Erinnerung der eigenen Fehler erwaumlchst Leid aus der Erinnerung vergangener und gegenwaumlrtiger Fehler sowie Furcht aus dem Gedanken an zukuumlnftige Vergleichbare Zuord-nungen finden sich dort auch fuumlr die uumlbrigen Affekte

Nun verknuumlpft Hugo diese mit konkreten Beispielen aus den Psalmen (Kap VII) bdquoAus dem Affekt der Zuneigung (dilectio) heraus wird Ps 182 gesungen sbquoIch will Dich ruumlhmen Herrlsquo Aus dem Affekt der Bewunderung (admiratio) heraus wird Psalm 8[2]10 gesungen sbquoHerr unser Herrlsquo Aus dem Affekt der Mitfreude (congratulatio) heraus wird Ps 472 gesungen sbquoIhr Voumllker allelsquo Und in allen diesen ist LobAus dem Affekt der Demut (humilitas) heraus wird Ps 312 gesungen sbquoHerr ich suche Zufluchtlsquo Aus dem Affekt des Leids (dolor) heraus wird Ps 131 gesungen sbquoWie lange noch Herr vergisst Du mich ganzlsquo Aus dem Affekt der Furcht (timor) heraus wird Ps 62 gesungen sbquoHerr strafe mich nicht in deinem Zornlsquo Und in all diesen ist die Fuumlrbitte mit einer Klage vermischtAus dem Affekt der Entruumlstung (indignatio) heraus wird Ps 523 gesungen sbquoWas ruumlhmst Du Dich Deiner Bosheitlsquo Aus dem Affekt des gerechten Eifers (zelus) heraus wird Ps 941 gesungen sbquoO Herr Gott der Vergebunglsquo Aus dem Affekt der guten Erwartung (bona praesumptio) heraus wird Ps 261 gesungen sbquoVerschaffe mir Recht o Herrlsquoldquo

17 Affectus congratulationis wird als Gegenpol zur compassio verstanden

274 Anselm Rau und Johanna Scheel

Hugo zeigt hier wie einerseits aus dem Affekt ein bestimmter Psalm gesungen wird Er kom-plettiert damit was er bei der Aufzaumlhlung staumlrker betonte naumlmlich aus welchen Psalmen ein Affekt erwaumlchst und gleichzeitig wie die Worte zu denjenigen der eigenen Bitte und zum Af-fektausdruck werden

Mischung und Uumlberblendung von Affekten

Allerdings wird nicht innerhalb eines Psalms je nur ein Affekt ausgedehnt sondern oftmals geht dort ein Affekt in den anderen uumlber Sie werden gemischt oder loumlsen sich kontinuierlich ab (Kap VIII) Ein Beispiel hierzu Aus der meditatio der eigenen Fehler und Gottes Barm-herzigkeit bricht man durch den Affekt des Schmerzes in die Worte aus bdquoHerr wie zahlreich sind meine Bedraumlnger so viele stehen gegen mich auf viele gibt es die von mir sagen Er findet keine Hilfe bei Gottldquo Dies sind die ersten Verse aus Psalm 3 Aus dem Affekt des Schmerzes der dadurch staumlrker entflammt und ausgedruumlckt wird kehrt der Betende mit dem naumlchsten Vers des Psalms 3 auf den Affekt der guten Erwartung zuruumlck und sagt bdquoDu aber Herr bist ein Schild fuumlr michldquo Damit wird der Schmerz von Vertrauen gelindert und der eine in den andere Affekt uumlberfuumlhrt

Die Psalmenworte vergegenwaumlrtigen oder erinnern hier an den Affekt und werden danach angewandt zugleich sind sie Anreiz und -ausdruck der vielfaumlltigen Palette wandelbarer Affekte

Diese Definition in De modo orandi ist fuumlr das Verstaumlndnis der Affekte innerhalb des Ge-bets im gesamten Mittelalter als grundlegend anzusehen Aus kunsthistorischer Sichtweise ist die Beschaumlftigung mit dieser Schrift daher nicht nur unerlaumlsslich um mittelalterliche Bildwer-ke die fuumlr den Bildbetrachter als Hilfsmittel fuumlr sein Gebet konzipiert wurden praumlziser kon-textualisieren zu koumlnnen Vielmehr ist die in De modo orandi dargelegte Reflexionsstruktur auf die Rezeption von Werken der bildenden Kunst uumlbertragbar

Das Lignum vitae

Ein Beispiel fuumlr die konkrete Anwendung der Evozierung von affectus bei Gebet und Medita-tion wie von Hugo von St Viktor konzipiert stellen die Meditationen des Lignum vitae Bona-venturas und dessen bildliche Umsetzung dar18 In seinen viel rezipierten Werken De triplici

18 Bonaventura Lignum vitae in Opera omnia Quaracchi 1848 Bd 8 Im Folgenden wird auf die lateinische Edition von Quaracchi mit dem Kuumlrzel LV verwiesen Wird nicht die eigene Uumlbersetzung verwendet ist die Grundlage M Schlosser Baum des Lebens Geistliche Betrachtungen St Ottilien 2012 Weitere deutsche Uumlbersetzung bei A Aswerus Der Lebensbaum Zuumlrich 1963Die Rezeption der Schriften Hugos bei den Franziskanern ist bekannt gerade die Verbreitung der hier besprochenen Texte Vgl Goy (cf Anm 1) S 530ndash532 In Italien und auf der iberischen Halbinsel sind mit 170 Texten nur ca 7 der Gesamtuumlberlieferung von Hugos Werken zu finden allerdings faumlllt bei den Handschriften italienischer Provenienz die bdquofuumlhrende Stellung der Franziskaner als Tradentenldquo auf Vgl ebd S 530 Die Houmlhepunkte der Tradierung liegen im 13 und 15 Jh vgl ebd S 559ndash564 bes S 563

Meditation und Gebet 275

via in dem er sein auf dem Gedankengut des 12 Jahrhunderts beruhendes Verstaumlndnis von meditatio oratio und contemplatio darlegt und dem Itinerarium mentis in Deum wendet sich Bonaventura der Formung der Seele des Menschen fuumlr den Aufstieg zu Gott zu19 Gerade aber das Lignum vitae hat maszliggeblich in seiner konkreten Form die Passionsmeditation des spaumlten Mittelalters beeinflusst20

Deutlich ist hervorzuheben dass Bonaventura diese Meditationsschrift zu Kindheit und Leben Passion und AuferstehungVerherrlichung Christi auf Grundlage mnemotechnisch strukturierter Modelle der monastischen Meditationspraxis konzipierte Der Entwurf Bona-venturas sieht die Anordnung der Meditationen anhand eines Baumschemas vor als struktur-gebende Schablone fuumlr das Einpraumlgen dieser im Herzen21 Da die Vorstellungskraft (imaginatio) die Einsicht (intelligentia) unterstuumltzt gibt Bonaventura die konkrete die Intention verdeutli-chende Anweisung bdquodescribe igitur in spiritu mentis tuae arboremldquo22 Die Meditationen selbst dienen zur Entflammung des Herzens in liebendem Empfinden zur Formung des Denkens und zur Einpraumlgung in das Gedaumlchtnis (accendatur affectus formetur cogitatus imprimatur memoria) Somit wird auch hier die Formung des Denkens durch den affectus herausgestellt23 Nach dem Entwurf Bonaventuras besitzt der Baum zwoumllf Zweige an denen jeweils vier kurze Strophen die Einleitungen bzw Uumlberschriften zu den einzelnen Meditationen angebracht sind die immer zusammen genommen eine Frucht hervorbringen So umfasst das gesamte Schema 48 Meditationen die in einer Reihenfolge von unten nach oben insgesamt zwoumllf zu erreichende Fruumlchte oder auch tugendhafte habitus hervorbringen sollen24

Die rasche und vielfaumlltige visuelle Umsetzung der Baumstruktur zeugt von der Popula-ritaumlt der Meditationen des Lignum vitae eine der heute wohl bekanntesten Darstellungen stammt von Pacino di Bonaguida der jeder einzelnen Meditation ein Bildmedaillon zuordnete

19 Bonaventura De triplici via Opera omnia Quaracchi 1948 Bd 8 S 19ndash27 ndash Bonaventura Itinerarium mentis in Deum Opera omnia Quaracchi 1891 Bd 5 S 293ndash316 ndash vgl hier auch die kritischen Edition und die Darstellung der inhaltlichen Grundkonzeption Bonaventura De triplici via Uumlber den dreifachen Weg latdt uumlbers u eingel v M Schlosser Freiburg iBr [ua] 1993 ndash Bonaventura Itinerarium mentis in Deum ndash Der Pilgerweg des Menschen zu Gott latdt uumlbers u erl v M Schlosser mit einer Einleitung von P Zahner Muumlnster 200420 R Preisinger Lignum vitae Zum Verhaumlltnis materieller Bilder und mentaler Bildpraxis im Mittelalter Paderborn 2014 21 Zu den Schablonen und dem Einpraumlgen dieser ins Herzen vgl M Carruthers Moving Images in the Mindrsquos Eye in J Hamburger M-A Boucheacute (Hgg) The Mindrsquos Eye Art and Theological Argument in the Middle Ages New Jersey 2006 S 294 FN 24 zu den Anweisungen Hugos in De arca noe S 292ndash29422 LV Prolog S 6823 Ebd24 Die uumlberkommenen Traktate belegen die angedachte Konzeption zur Verinnerlichung der einzelnen Meditationen die Uumlberschriften als Responsorium mit dem Kehrvers O crux fructus salvificus zu singen vgl hierzu M Sensi Lrsquoallegoria della Croce nel monastero di SantrsquoAnna a Foligno in B Ulianich U Parente (Hg) La Croce Iconografia e interpretazione Bd 3 La croce nella liturgia NeapelRom 2007 S 392 ebenso Preisinger (wie Anm 20) S 36ndash42

276 Anselm Rau und Johanna Scheel

(Abb 1)25 In kuumlnstlerischen Darstellungen diente das Lignum vitae als visuelle Unterstuumltzung sowohl fuumlr den Gesang als auch gerade zur Strukturierung von Predigt und Meditation26 Ein Groszligteil der Bilder zum Lignum vitae binden den Text in Form der Uumlberschriften der einzelnen Meditationen ein Eine solch detailreiche Ausgestaltung wie etwa bei Pacino ist bei den uumlber-lieferten Beispielen keine Regelmaumlszligigkeit Damit belegt allein schon das Bild selbst dass das

25 Jedoch darf diese Tatsache nicht uumlber die tatsaumlchliche Anwendung hinwegtaumluschen Auf die Diskussion um die Bildwerke zum LV kann hier nicht dezidiert eingegangen werden Die juumlngsten Publikationen zum Lignum vitae mit der entsprechenden Literatur zur Forschungslage sind Preisinger (cf Anm 20) und U Ilg Quasi lignum vitae The Tree of Life as an Image of Mendicant Identity in P SaloniusA Worm (Hgg) The Tree Symbol Allegory and Mnemonic Device in Medieval Art and Thought Turnhout 2014 S 187ndash212 ndash Siehe die Kritik an der bisherigen Auseinandersetzung mit dem Lignum vitae und seinen Darstellungen in der 2015 abgeschlossenen Dissertation von A Rau Imagination und Emotion Bildstruktur und Emotionalisierungsstrategien in der monastischen Meditation und das bdquoModell Franziskusldquo sowie A Rau Im Wechselbad der Gefuumlhle ndash das Lignum vitae in Imago 4 (2015) erscheint November 201526 L Bolzoni The Web of Images Vernacular Preaching from its Origins to Saint Bernardino da Siena Aldershot 2004 S 154ff

Abb 1 Pacino di Bonaguida Lignum vitae Florenz Galleria delllsquoAccademia um 1310 258x151cm

Meditation und Gebet 277

eigentliche affizierende Potential in der Steuerung der imaginatio des LesersBetrachters durch den Text der Meditation und des Gebet selbst liegt27

Innerhalb der jeweils einer Frucht zugeordneten vier Meditationen ist ein Aufbau und Uumlbergang festzustellen ebenso sind in der Regel die Fruumlchte durch die letzte Meditation der vorangegangenen und die erste der folgenden miteinander verknuumlpft Allen gemein ist dass zu Anfang einer jeden Frucht die in den ersten zwei Fruumlchten ausgebildeten Grundtugenden caritas und humilitas als Ausgangspunkt genommen werden Diese beiden sind wie bereits von Augustinus betont die Grundtugenden aus denen alle weiteren erst hervorgehen koumlnnen28 Die einzelnen Meditationen zeichnen sich durch das Fokussieren auf eine tugendhafte Haltung Christi aus Diese verdeutlicht er entweder selbst in einer emotionalen seinen Habitus aus-druumlckenden Disposition oder weiteres biblisches Personal reagiert als Exempel fuumlr den LeserBetrachter des Lignum vitae auf die ihm so bdquovisualisertenldquo Geschehnisse um Christus So ent-stehen Imaginationsfiguren die das Handeln (operatio) bestimmen sollen Geleitet wird die Meditation des Betrachters durch die eindruumlcklichen Schilderungen der Begebenheiten aus dem Leben Christi in Kombination entweder direkter Ansprachen an seine Seele wie er sich verhalten was er sich als Vorbild nehmen soll oder durch in die Meditation selbst eingefuumlgte Gebetstexte welche die Affizierung entweder stuumltzen oder direkt hervorbringen koumlnnen

Die Meditationen der ersten vier Fruumlchte (Geburt Kindheit Wirken Christi) charakteri-sieren das Lignum vitae wie schon bei Hugo und in den Meditationsmodellen des 12 Jahrhun-derts als dezidiertes Reue- und Buszligschema Dies verdeutlicht allein schon die formale Anlage da sich hier vorwiegend Anweisungen zu habituellen emotionalen Dispositionen des Lesers finden Die Einmuumlndung dieser Meditationen in die Schilderung des letzten Abendmahls kon-kretisiert die Verbindung zwischen der logischen Anlage eines sukzessive aufgebauten Medita-tionsschemas die Notwendigkeit seiner fortdauernden Anwendung und somit den praktischen Bezug zum religioumlsen Leben Reue und Buszlige sind die notwendige Grundvoraussetzung fuumlr die Teilhabe an der Opferfeier des Messgeschehens es hebt die Meditationspraxis als fortdauernde Uumlbung der Affekte und Tugenden als staumlndige Gewissenspruumlfung hervor und kennzeichnet den Menschen ab diesem Punkt als muumlndigen Meditanden und Beter

So aumlndert sich dann ab der fuumlnften Frucht zu den Passionsmeditationen auch der Auf-bau Hier werden konzentriert einzelne orationes in die einzelnen Meditationen eingeflochten Bemerkenswert ist bei den fast als propaumldeutisch zu verstehenden Meditationen der ersten vier Fruumlchte findet sich eine sehr uumlberschaubare Anzahl von Psalmzitaten waumlhrend sie hier als personalisierte Gebete des LesersBetrachters gehaumluft auftreten Gezielt werden sie in den Meditationen der geschilderten Situationen und Peinigungen Christi eingesetzte um die com-passio zu erregen Hieran laumlsst sich die unmittelbare und entscheidende Zusammenwirkung

27 Bezuumlglich einer eingehenden gerade auch sprachlichen Untersuchung der Meditationen des Lignum vitae das affektsteuernde Potential herausarbeitend siehe abermals Rau (wie Anm 25)28 K Pansters Profectus Virtutum From Psalm 838 to David if Augsburgrsquos Profectus religiosorum in Studies in Spirituality 18 (2008) S 170 Zur Thematik weiterfuumlhrend N Baumann Die Demut als Grundlage aller Tugenden bei Augustinus Frankfurt 2009

278 Anselm Rau und Johanna Scheel

von meditatio und oratio beobachten die in Kombination die Lenkung der geordneten affectus bestimmen

Die von Hugo in De meditando angemahnte Unterscheidung und Betrachtung des Guten und Boumlsen findet in den Meditationen des Lignum vitae seine konkrete differenzierte Anwen-dung Heben die ersten vier Fruumlchten dezidiert Reue und Buszlige des MeditierendenBetenden und gerade die Schlechtigkeit des Menschen gegenuumlber Christus hervor so zeigen die Medita-tionen zur Passion Christi (5ndash8) die Betrachtung des Boumlsen und des Guten dahingehend wie das Boumlse in Gestalt der Peiniger Christi auf diesen einwirkt und wie Christus selbst oder wei-teres positiv konnotiertes biblisches Personal reagiert Die Grundlage des hier geforderten Mit-leidens mit Christus ist die bei den vorangegangenen Meditationen ausgearbeitete compassio Christi mit den Suumlndern Demuumltig ausgerichtet und damit ausgebildet am mitfuumlhlenden Vor-bild Christi kann der LeserBetrachter uumlber die imaginatio in der Meditation und dem Gebet hier zum Mitleidenden ausgebildet werden Zuerst wird also die demuumltige Emotionalitaumlt ob der eigenen Schlechtigkeit dem eigenen Boumlsen im Abgleich mit dem guten Vorbild in Christus herausgebildet und daraufhin die Affekte in den Meditationen zur Passion Christi an Christus selbst zum Mitleiden konstituiert

Als Beispiel der dezidiert auf die Affizierung ausgerichteten Anlage seien die Meditationen der fuumlnften Frucht umrissen Gegenstand (res) ist hier die Betrachtung von Christi Vertrauen (confidentia) in der Gefahr und umfasst die vier Meditationen zu Judasrsquo Verrat Christi Gebet auf dem Oumllberg der Umzingelung Christi durch die Haumlscher und seiner Gefangennahme29 Propaumldeutisch wird dem Verrat Judasrsquo dem abgrundtief Boumlsen (nequissum) die geradezu pa-radox erscheinende und dadurch Staunen und Bewunderung erweckende (o mira) Guumlte (be-nignitas) und Sanftmut (mansuetudo) Christi gegenuumlbergestellt30 Dieses Thema beherrscht alle Meditationen dieser Frucht und ist begleitende Grundlage aller folgenden Darstellungen der Misshandlung Christi Judas wird typologisch als lasterhafter Gegenpart zum tugendhaften Idealbild Christi stilisiert Sein Verrat gruumlndet in seiner cupiditas und bestimmt von seinen niedersten Trieben ist er die Personifikation von perfidia (Treulosigkeit Gewissenlosigkeit) in-gratitudo (Undankbarkeit) und duritia (Hartherzigkeit)31 Die angemahnte Betrachtung des Guten und des Boumlsen legt als klassisches System der Gegenuumlberstellung von Tugenden und Lastern anzustrebende bzw abzulehnende habitus durch die Ausrichtung der affectio dar

Signifikant zeigt sich die Affizierung anhand der uumlber die lectio sich konstituierende me-ditatio aufgrund der imaginierten Begebenheit in Verbindung mit der oratio die wiederum ihren Ausdruck in den Psalmen findet Als Ausweis der inneren Verletzlichkeit seiner mensch-lichen Natur (in natura sensibili)32 ist die Schilderung von Christi Gebet auf dem Oumllberg zentral Ob der Vorstellung des Todes (imaginatio mortis) die in seine empfindsame Seele eindrang wird er von affectus umschlungen (complexabatur affectu) Seine innere Bewegtheit wird mit den Tropfen blutigen Schweiszliges die seinen Koumlrper hinab rannen verdeutlicht der Affekt der

29 LV 517ndash20 S 75ndash7630 LV 517 S 7531 Ebd32 LV 518 S 75ndash76

Meditation und Gebet 279

Furcht (anxietas) als Empfindung steigt zwar in seinem Geist auf (in spiritu) der Nachvoll-zug erfolgt jedoch uumlber die aumluszligeren (imaginierten) Zeichen33 Die Meditation laumlsst den Leser darauf fragen bdquoO Herrscher und Herr Jesus woher kommt diese furchtbare Angst deiner Seele und dein angstvolles Flehen Hast du denn dem Vater dein Opfer nicht mit freiem Willen ge-brachtldquo34 Die Erklaumlrung folgt sofort Fuumlr die Bestaumlrkung des Glaubens hat Christus wahrhaft die sterbliche Natur angenommen damit der Mensch Hoffnung schoumlpfen kann sollte er aumlhn-liche Bedraumlngnis und Furcht erleiden denn aufgrund der Hoffnung richtet der Mensch seine Liebe auf Christus das Ziel wiederum willentlich (voluntas) aus Die offenkundigen (aumluszligeren) Zeichen des Leids in Christi menschlicher Natur sind das entscheidende Kriterium fuumlr die selbstreflexive Erkenntnis des LesersBetrachters Es ist die Erkenntnis dass Christus wahr-haftig die Schmerzen und das bittere Leid der Menschen mit fuumlhlbarer (sensu) Pein durchlitten hat35 Die Schilderung der Todesangst Christi ist damit Grundlage der im ersten Satz der fuumlnf-ten Frucht geforderten inneren Teilhabe (pii considereare) fuumlr die compassio den Nachvollzug seiner noch weiterhin zu durchleidenden koumlrperlichen wie seelischen Pein36

Diese Erkenntnis stuumltzt nun das ergaumlnzende Beten der Psalmen da diese einerseits die geforderten Affekte und den Affektreiz bekraumlftigen zugleich aber auch das selbstreflexive Moment herausarbeiten Die seelische Bedraumlngnis Christi auf dem Oumllberg wird begleitet und sozusagen von der Schilderung des Verrates Judasrsquo und der Bedraumlngung durch die Haumlscher umrahmt und aufgrund des Einbindens der Psalmen 38 41 und 55 in genau diese Meditationen zu einem inhaltlich kongruenten Gebet gestaltet Alle drei Psalmen wobei besonders Psalm 55 zitiert wird (Verse 13ndash15) nehmen Bosheit Verrat und Bedraumlngnis durch Freund und Feind in den Blick Hierdurch werden gerade das Verlassensein und das Ausgeliefertsein gegenuumlber den Misshandlungen in den Vordergrund gestellt die beschriebene Furcht Christi begleitet und durch das personalisierte Gebet zur emotionalen Ausrichtung des Beters selbst Nicht allein der einzelne Psalmvers wird dabei gebetet sondern ganz der mnemotechnischen Konzeptuali-sierung verpflichtet bildet der Vers den Ausgangspunkt und schlieszligt die Betrachtung und das Gebet des gesamt Psalms mit ein37 Der Klage uumlber den Vertrauensbruch durch den Freund (Ps 5513 ebenso Ps 3813 und Ps 41) und der Bedraumlngnis durch Frevler an deren Haumlnden Blut klebt (Vers 24) geht in Analogie zu Christi Gebet zum Vater auf dem Oumllberg die Anrufung Gottes voraus er moumlge das Beten und Flehen erhoumlren (exaudi orationem meam deprecationem meam)

33 Ebd34 Schlosser (wie Anm 19) S 51 LV 52 S 7635 LV 52 S 76 ndash Bereits Bernhard von Clairvaux formulierte Gott bot den Zugang zu sich selbst uumlber die Affekte weshalb die Inkarnation notwendig war um die affectiones des Menschen zuruumlckzugewinnen vgl B von Clairvaux Sermones super canticum canticorum 205 in Bernhard von Clairvaux Saumlmtliche Werke latdt hg v G Winkler Innsbruck (1996) Bd 5 S 28428536 LV 517 S 75 Nochmals abschlieszligend wird dies als identifikationsstiftendes Vorbild am Ende (vierte Meditation fuumlnften Frucht) mit dem Bild der gefesselten Haumlnde des unschuldigen Lammes und dem eingeforderten Stoumlhnen und der Beschreibung des durchdringenden Schmerzes der die Herzen der Juumlnger bei diesem Anblick durchstach (doloris aculues discipolorum vorda penetravit) vor Augen gestellt Vgl LV 520 S 7637 Zur Mnemotechnik allgemein M Carruthers The Book of Memory A Study of Memory in Medieval Culture Cambridge [ua] 122006 Zu beachten sind ebenso F A Yates The Art of Memory London 1966 M Evans The Geometry of Mind in Architectural Association Quarterly 124 (1980) S 32ndash55

280 Anselm Rau und Johanna Scheel

(Vers 1ndash8) Dabei wird die Angst (conturbatus sum) das Beben des Herzens in der Brust und das Befallenwerden vom Schrecken des Todes beschrieben (cor meum conturbatum est in me et formido mortis cecidit super me) ebenso das Erfasstsein von Furcht Zittern Schaudern und Entsetzen (timor et tremor venerunt super me et contexerunt me tenebrae) Der Nachvollzug der emotionalen Disposition Christi wird durch die kalkulierte Verknuumlpfung mit Psalm 38 zu-gleich ebenso zur detailreichen Klage in Furcht und Schrecken ob der eigenen Suumlndhaftigkeit Judas stellt natuumlrlich fuumlr den Abgleich das Negativbeispiel Doch im Gegensatz zu ihm zeigt der Betende in seiner demuumltigen Hinwendung zu Gott in Schmerz und Furcht das in ihn gesetzte Vertrauen das auch Jesus unter Beweis stellte Die Psalmen bieten hierfuumlr das passende Mittel der notwendigen Ausrichtung in der affectio

Ein interessanter Punkt sei in Bezug auf die Ausfuumlhrungen in De meditando hinsichtlich des Eifers (zelus) fuumlr die gerechte Sache noch genannt Die Sanftmut Christi wird gerade da-durch vor Augen gefuumlhrt dass er im Sinne des immerfort zur Vergebung bereiten Gott seinen Haumlschern guumltig begegnet da er sich seinen Peinigern nicht im Zorn (ira) verschloss (Ps 7710)38 Er haumllt naumlmlich sogar seinen Verteidiger ndash in der exegetischen Tradition Petrus vor allem dann auch in der bildenden Kunst ndash zuruumlck und bremst dessen gerechten zelus sein rechtmaumlszligiges eigentlich tugendhaftes eifersuumlchtiges Streben fuumlr das geliebte Objekt und heilt sogar ein abge-schlagenes Ohr Dieser Eifer der wie in De meditando beschrieben ohne Hinterlist ist nicht aus Ignoranz (repraumlsentiert durch die HaumlscherPeiniger) gegenuumlber der Wahrheit (in Christus) hervorgegangen zeigt die gute Absicht die durch Beharrlichkeit ans Ziel fuumlhrt und laumlsst somit die Liebe nicht lau werden Petrus wird als Identifikationsfigur installiert und am Ende aber-mals Judas entgegen gehalten Letzterer wurde zwar schlieszliglich aufgrund seiner Tat von Reue ergriffen jedoch war er nicht faumlhig durch die Hoffnung auf das Gute Christus Vergebung zu ersehnen und wurde von Bitterkeit (amaritudo) erfuumlllt so dass er den Tod und nicht das ewige Leben ersehnte

Meditationsschemata werden gerne aufgrund der ihnen innewohnenden Abfolge als starre Konstrukte und allein auf einen miszliginterpretierten geistigen Aufstieg abzielend hin verstan-den Doch beweist gerade das Lignum vitae eine hohe Flexibilitaumlt fuumlr den alltaumlglichen Gebrauch und zudem die eigentliche Intention die Formung von affectus

Gerard Zerbolt van Zutphen

Das stufenweise emotionale Gebet und die Meditation begegnen ebenfalls ndash allerdings weniger stark schematisiert als im Lignum Vitae ndash in einem Standardwerk der niederlaumlndischen Froumlm-migkeitsliteratur des 15 Jahrhunderts In De spiritualibus ascensionibus stellt Gerard Zerbolt

38 Im Tugend- und Lastersystem ist die Unterscheidung von zelus ira und furor sehr entscheidend bezuumlglich des guten und schlechten Strebens und damit hinsichtlich rationalen Ordnung des Geistes Zum tugendhaften und lasterhaften Zorn und seiner Aspekte vgl Richard von St Viktor Benjamin minor 40ndash44 PL 196029-033 ndash Gerade bei der Verurteilung Christi durch Pilatus (LV 624 S 77) wird das Thema der rasenden Wut (zelus invidiae) und des gerechte Zorns (zelus iustitia) nochmals differenziert

Meditation und Gebet 281

von Zutphen ein Autor der devotio moderna handbuchartig sein Aufstiegsmodell dar39 Darin vermittelt er seinen Mitbruumldern und einem frommen Laienpublikum ein ausgekluumlgeltes System von geistigen Uumlbungen die sich nicht nur auf den eigentlichen Gebetsakt beziehen sondern habituell im Alltag Anwendung finden sollen indem sie eine Transformation des Menschen be-wirken Er geht dabei von dem uumlblichen zeitgenoumlssischen theologischen Anthropologiemodell der Seele als durch Suumlnde verschmutzte imago Dei aus und stuumltzt sich auf bekannte moraltheo-logische Emotionstheorien die er jedoch stark ausweitet indem er den Emotionen eine genaue Funktion und eine Schluumlsselrolle im Erkenntnisprozess zuweist Die formula meditandi40 be-schreibt Gerard als inhaltlich verschieden konnotierte Selbstuumlberpruumlfungen in der die dadurch produzierten Emotionen wie Zerknirschung (compunctio bzw contritio) Furcht (timor) oder Hoffnung (spes) nicht nur bewusst gemacht sondern produktiv umgewandelt werden um zu Instrumenten und Stufen des weiteren Aufstiegs zu werden41 Diese Aufstiege sind ein Prozess der Selbsttransformation des Menschen der sich vollzieht indem der Mensch sowohl seinen urspruumlnglichen Zustand diese Transformation selbst als auch die Erfahrung seiner Veraumlnde-rung mit den erreichten Stufen emotional (ex affectu) erkennt (cogitare) und fuumlhlt (sentire)42 Aumlhnlich wie bei Hugo von St Viktor formuliert Gerard dass der Betende immer einen Affekt und ein Verlangen (desiderium) annehmen solle die zu den aktuellen Uumlbungen oder Medita-tionen passe43 Die Selbsttransformation im geistigen Aufstieg wird nach Gerard ebenso im uumlb-lichen Schema der lectio meditatio und oratio geuumlbt und an verschiedenen materiae meditandi44 vollzogen Die Affekte werden anhand dieser materiae erzeugt katalysiert und in das Gebet

39 Die Schrift (im Folgenden De Spir Asc) wird zitiert nach der Edition von F J LegrandN Staubach (Hgg) Gerard Zerbolt von Zutphen De Spiritualibus Ascensionibus La monteacutee du coeur Turnhout 2006 Vgl zur affektiven Konnotation von Gerards Gebetssystematik M Goossens De meditatie in de eerste tijd van de moderne devotie HaarlemAntwerpen 1954 Er stellt den Affekt als Wesensmerkmal des Gebets bei Gerard fest ebd S 118 Zur Einbindung der Schrift innerhalb der Gebetstheorien der Devotio Moderna und zum Stellenwert der affektiven Selbstreflexion auch in Beziehung zu zeitgenoumlssischer Kunst vgl J Scheel Das altniederlaumlndische Stifterbild Emotionsstrategien des Sehens und der Selbsterkenntnis Berlin 2014 bes S 155ndash171 230ndash241 414ndash42640 De Spir Asc Kap 641 Gerard spricht synonym von Aufstiegsstufen und affectus zB in Kap 27 bdquoIn hac prima ascensione vel primo affecto [hellip]ldquo Oder er benennt Affekte wie Hoffnung und Furcht als Stufen bdquo[hellip] istis duobus gradibus timoris et spei [hellip]ldquo Kap 26 Insgesamt benutzt er die Vokabeln affectus und affectio synonym zwar begegnet in Bedeutung von Strebevermoumlgen meist affectio und ersetzt also die vires durch die affectiones animae besonders wenn es um lasterhafte Affekte geht doch werden die einzelnen Affekte durchgehend als affectus nicht als affectio bezeichnet42 De Spir Asc Kap 643 Das Gebet solle nie bloszliges Lippenbekenntnis sein sondern immer aus der Wurzel des Herzens verfolgt werden und zwar stets aus den Affekten der Furcht Trauer Freude Bewunderung Dankbarkeit etc bdquo[hellip] ex affectu timoris meroris dilectionis admiracionis congratulationis etcldquo De Spir Kap 46 Diese Affektreihe stimmt mit derjenigen bei Hugo in De modo orandi uumlberein siehe oben S 273f44 Diese sind zunaumlchst die bekannten Meditationsinhalte wie man sie allenthalben in theologischer Literatur des Mittelalters findet Leben und Passion Christi das Juumlngste Gericht und die eigene Todesstunde (diese bspw bereits in Bonaventuras De Triplici Via Kap 3) Bei Gerard werden ebenfalls Houmllle und Himmelreich sowie die eigenen Suumlnden und Wohltaten Gottes eingeschlossen sowie das eigene Selbst in dem und waumlhrend des Gebets Zum Kontext der neuen Meditationswuumlrdigkeit des eigenen Selbst in den Lehren der Devotio Moderna vgl Scheel (cf Anm 39)

282 Anselm Rau und Johanna Scheel

uumlberfuumlhrt Dies macht Gerard wie Hugo anhand des Psalmengebets anschaulich indem er einerseits beispielhaft zeigt wie ex affectu ein Psalm gebetet wird waumlhrend er gleichzeitig bei vorheriger Thematisierung der lectio dessen Erregung durch die Lektuumlre betont

bdquoWenn du dich in deiner ersten Uumlberpruumlfung diskutiert hast und entdeckst dass deine Suumlnden zahlreicher sind als die Zahl des Sandes der Meere forme in dir den Affekt der Demut oder Trauer und nimm die Rolle (persona) eines Dieners an der seinen Herrn beleidigt hat Aus diesem Affekt heraus forme ein Gebet und sage sbquoGott sei mir gnaumldig nach deiner Huld tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmenlsquo (Ps 503) Wenn du in der zweiten und dritten Uumlberpruumlfung dich selbst diskutierend bemerkst dass dein Herz mit schlechten Begierden und boumlsen Verlangen gefuumlllt ist forme in dir wiederum den Affekt der Demut und nimm die Rolle eines Kranken an der nach Medizin fragt und sage sbquoHerr sei mir gnaumldig heile mich denn ich habe gegen dich gesuumlndigtlsquo (Ps 405) oder sbquoNichts blieb gesund an meinem Leib weil du mir grollst weil ich gesuumlndigt blieb an meinen Gliedern nichts heillsquo (Ebd) etc Wenn du dich im zweiten Aufstieg in Furcht durch Meditationen des Todes und des Gerichtes oder der Houmllle uumlbst nimm den Affekt der Furcht ein und die Rolle eines Suumlnders vor dem Richter an in Angst und Zittern als seist du schon uumlberfuumlhrt und der Richtspruch gegen dich gesprochen und sage sbquoVerdamme mich nicht Herr gehe nicht ins Gericht mit deinem Dienerlsquo (Ps 1422) oder sbquoHerr in deiner Wutlsquo (Ps 62) etc Wenn du dich aber in Hoffnung uumlbst durch die memoria des Him-melreiches nimm den Affekt der Liebe an und bete mit innigem Herzen und sage sbquoIch erstrebe eines Herr dieses wuumlnsche ich dass ich in dem Haus des Herrn wohnen darflsquo (Ps 264) oder sbquoWie der Hirsch lechzt nach frischem Wasserlsquo (Ps 412) etc Und ebenso kannst du mit anderen Affekten jene aus diesen formen und musst du die Rolle annehmen die deine Uumlbung erfordert und deine Meditation verlangtldquo45

Uumlber Hugo hinausgehend wird hier dem Betenden empfohlen sich konkrete Szenarien und personae zu imaginieren um die gewuumlnschten Affekte einzuuumlben Die Psalmenbeispiele mit den zugeordneten Affekten uumlberschneiden sich bei beiden Autoren bei Psalm 6 (timor) so-wie Psalm 26 (Gerard spes Hugo bona praesumptio)46 Besonders bei der Einuumlbung von timor und der Erwaumlhnung des Richtspruches in Kombination mit den Buszligpsalmen 6 und 142 stehen unmittelbar zeitgenoumlssische Darstellungen des Weltgerichts bzw der Auferstehung der Toten vor Augen wie man sie in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern in Kombination mit eben jenem Buszligpsalm 6 aber auch in der altniederlaumlndischen Malerei findet47 Psalmen koumlnnen zu den

45 bdquoUnde breviter ut modum habeas secundum predicta si te in prima examinacione discusseris et inveneris peccata tua multiplicata super numerum arene maris forma in te affectum humilitatis vel meroris et assume personam servi qui dominum suum offendit Et ex tali affectu forma oracionem dicens Secundum multitudinem miseracionum tuarum dele iniquitatem meam [hellip] Si te in secundo ascensu in timore per meditaciones mortis vel iudicii vel inferni exercueris assume affectum timoris et assume personam rei astantis coram iudice cum timore et tremore quasi iam convictus contra quem de iure proferenda est sentencia et dic Noli me condemnare Non intres in iudicium cum servo tuo Vel Domine ne in furore etc [hellip] Et sic de aliis affectibus quos ex istis formare poteris et assumere debes sicut exercicium tuum exigit et meditacio tua requiritldquo De Spir Asc Kap 4646 Zu den Psalmen die Hugo als Beispiele benutzt siehe oben S 273f47 Vgl dazu J Scheel Sich selbst sehen ndash der Betrachter in und vor dem Bild Spiegel- und Stifterfiguren in Texten und Bildern des 15 Jahrhunderts in E KochH Schlie (Hgg) Orte der Imagination ndash Raumlume des Affekts Die mediale Formierung des Sakralen Muumlnchen 2015

Meditation und Gebet 283

bdquototal memoriertenldquo48 Texten des Mittelalters gezaumlhlt werden weswegen sie sich beiden Autoren als Beispiele anbieten Sie benutzen die Buszligpsalmen (hier die Psalmen 6 31 [Hugo] 50 142) die im Stundenbuch fest als eigenstaumlndiger Gebetstext verankert sind und ebenso in der To-tenvigil ihren Platz haben ndash zusammen mit Gerards weiteren Beispielpsalmen 40 und 4149 Das Stundenbuch ist ein Medium in dem Psalmwort und bildliche Darstellung auf die Theorie des stufenweisen emotionalen Gebets und der Selbsttransformation treffen koumlnnen

Die Miniaturen die der Totenvigil bspw in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern des 15 Jahr-hunderts voranstehen zeigen oftmals eine ganzseitige Totenmesse sowie in der M-Initiale der gegenuumlberliegenden Textzeile50 zwei betende einander zugewandte Seelen im Fegefeuer (vgl

48 Zu diesen Texten gehoumlrten bspw das Pater Noster oder Ave Maria waumlhrend denen gleichzeitig auch uumlber bestimmte Aspekte zB der Passion meditiert werden konnte und sollte vgl P Saenger Books of Hours and the Reading Habits of the Later Middle Ages in R ChartierA Boureau (Hgg) The Culture of Print Power and the Uses of Print in Early Modern Europe Cambridge 1989 S 141ndash173 hier S 154 Bei den Psalmen genuumlgt wie man hier sieht allein die Nennung des Incipit oder bestimmter Verse die dem Leser so vertraut sind dass sie den gesamten Psalmentext mit assoziieren49 Zwar ist der Einsatz von Psalmen in mittelalterlichen Stundenbuumlchern mitunter verschieden doch kann man beispielhaft an einer Gruppe von Stundenbuumlchern in niederlaumlndischer Sprache diese Psalmen finden Diese Stundenbuumlcher sind mit der Uumlbersetzung des Gruumlndungsvaters des Devotio Moderna Geert Grote versehen oder stehen mit ihr in Verbindung N van Wijk Het getijdenboek van Geert Groote Naar het Haagse handschr 133 E 21 Leiden 1940 diese hauptsaumlchlich anhand einer einzigen Handschrift erarbeitete Edition wird hier in Ermangelung einer kritischen Edition genutzt Das getijdenboek enthaumllt einen Kalender des Bistums Utrecht fuumlnf Offizien (Marienoffizium Heiliggeistoffizium das lange und kurze Heiligkreuzoffizium Stunden der ewigen Weisheit) Buszligpsalmen Litanei und Totenvigil 50 Es ist der Beginn des invitatorium bdquoMi hebben ombeuanghen die suchten des dodes die pijnlike seer der hellen heben mi ombeuanghenldquo Wijk (cf Anm 49) S 156 ndash bdquoMich haben umfangen die Seufzer des Todes die qualvollen Schmerzen der Houmllle haben mich umfangenldquo

Abb 2 Meister des Hugo Jansz van Woerden Totenmesse und Seelen im Fegefeuer ca 1475ndash1500 Den Haag Koninklijke Bibliotheek Ms 76 G 13 fol 85vndash86r

284 Anselm Rau und Johanna Scheel

Abb 2)51 Das Fegefeuer bespricht Gerard eher marginal in seinem Traktat Fuumlr die affektive Meditation des eigenen Todes liefert er allerdings einerseits eine Anleitung fuumlr den Betenden die Affekte nun bereits zu erwecken die vor waumlhrend und nach dem eigentlichen Todeszeit-punkt entstuumlnden ndash und sich mit ihnen im Gebet selbst zu formen52 Andererseits raumlt er dem Glaumlubigen sich zum Zwecke des ex affectu-Gebets einen Koumlrper in seinen Verwesungsstadien vor Augen zu halten53 und was mit ihm selbst bei der Beerdigung passiere54 Das Fegefeuer ist ein im Sinne mittelalterlicher Moraltheologie produktiver Gebetsinhalt da der Glaumlubige im steten Oszillieren zwischen spes und timor besonders gut zur caritas aufzusteigen vermag Diesen Tenor findet man ebenfalls bei Geert Grote in seinem getijdenboek bei der Vorrede der Toten-vigil Hier raumlt er dem betenden Leser zum Wechsel aus Psalmen und Antiphonen in Hinblick auf die Erregung von Furcht und Angst Liebe und Hoffnung in der Ausrichtung auf Gut und Boumlse und mit Blick auf das Fegefeuer bdquoHier beginnt die Vigil in duytsche die so organisiert ist denjenigen zu helfen die von hinnen gefahren sind in der Freundschaft Gottes in das Fegefeuer Und ebenso dazu [gedacht ist] den Lebenden zu helfen die sie lesen damit ihnen das Wissen um die kommenden Dinge eingedruumlckt werde auf dass sie glauben hoffen und lieben an die Dinge in Herrlichkeit Und [sie] sich dafuumlr bereit machen und sich waumlhrenddessen die ganze Zeit fuumlrchten dass ihre Tage schnell vergehen Auf dass sie sich fuumlrchten aumlngstigen grauen und beben vor dem mannigfaltigen Leid der Angst und dem Elend die den Boumlsen ereilen werden und sie so darum ihr Leben lang ndash das hier aumluszligerst kurz ist ndash darauf hinarbeiten diesem Leid zu entgehen und [die Vigil ist auch hilfreich] weil ein Mensch diese beiden Dinge ndash Gutes in Liebe und Boumlses in Angst ndash besser ansehen (aensien) kann und erkennen und sich uumlberdenken damit er besser bitten kann und [es] mehr begehrt (begheert) und mehr liebt (myn[n]t) fuumlr diejenigen zu bitten die im Fegefeuer sind fuumlr ihre baldige Erloumlsung und dafuumlr Gottes Ehre zu vermehren [hellip] So hilft das Bitten der Lebenden den Toten und das Bitten fuumlr die Toten hilft den Lebendigen sich auf den Tod vorzubereiten [hellip] Und dazu ist das Singen dieser Psalmen heranzuziehen [und zwar] immer nach den Bedeutungen der Antiphone und den Sinn der

51 Die Darstellung von Seelen im Fegefeuer taucht als Buchillumination ab dem 13 Jahrhundert bereits vereinzelt auf und diente in Kombination mit Jenseitsvisionen Bibeltexten und moralisierenden Inhalten vor allem dem Gedenken an bereits Verstorbene wie auch zur persoumlnlichen Mediation des Lesers Oft findet eine narrative Einbindung statt Vgl dazu M Borowska Das Entfachen des Fegefeuers in der europaumlischen Miniatur des 13 Jahrhunderts in Umeni 57 (2009) S 310ndash325 Zum ikonografischen Kontext der hier gewaumlhlten Illumination vgl die Untersuchung von I M Veldman Purgatory in the Low Lands in B BukovinskaacuteL Slaviacuteček (Hgg) Pictura verba cupit Essays for Lubomiacuter Konečnyacute Prag 2006 S 169ndash180 va 170ndash17252 De Spir Asc Kap 19 In den folgenden Kapiteln stellt Gerard dem Leser dasselbe Prinzip an den Themen des Juumlngsten Gerichts der Houmllle und des Himmelreiches vor 53 bdquoItem interdum propone oculis tuis ymaginem alicuius hominis morientis et diligenter respice formam modum et ordinem quibus ad mortem deveniturldquo De Spir Asc Kap 1954 Weitere beliebte Illustrationen zum Totenoffizium im Stundenbuch des 15 Jahrhundert sind ebenfalls die Darstellung eines Toten um dessen Seele Engel und Teufel kaumlmpfen Schaumldeldarstellungen Seelen in Abrahams Schoszlig Himmel und Houmllle der Tod als Angreifer die Auferweckung des Lazarus sowie die Psychostasis mit Michael als Seelenwaumlger Diese Motive werden eher als ganzseitige Miniaturen dargestellt und bekommen zum Teil in der begleitenden Initiale jene zwei betenden Seelen im Fegefeuer hinzugefuumlgt

Meditation und Gebet 285

Antiphone soll man dazu in den Psalmen bedenken in allen Stundengebeten Dabei ist gut dass man sowohl vor als auch danach die Antiphonen spreche und schreibeldquo55

Mit der sich gegenseitig amplifizierenden Kombination von selbstreflexiven Affekt er-regendem und ausdruumlckendem Psalmentext mit der bildlichen Darstellung von Beerdigung mit Fegefeuer und mit derartigen Aufstiegsmodellen vertraut kann der betende Leser hier den eigenen Tod und die Bestrafung seiner Seele als Konsequenz der eigenen irdischen Suumlndhaftig-keit produktiv in seine Bemuumlhungen des geistigen Aufstiegs und seine Selbsttransformation kanalisieren

Imagination und Illumination

Das Gebetsleben des mittelalterlichen Glaumlubigen ist gekennzeichnet durch seine Affektivitaumlt Die affectus werden mit Gebetstexten und Psalmenreihen sowie mithilfe bildlicher Darstel-lungen sorgfaumlltig kultiviert und systematisch eingeuumlbt Dabei sind dies altbekannte ndash weil biblische ndash Text- und Bildinhalte deren affizierendes Potential auf neue Arten ausgeschoumlpft wird Texte und physische wie gerade geistige Bilder erinnern den Betenden nicht nur unver-bindlich an bereits bekannte Ereignisse Situationen und Figuren sondern lassen ihn sich mit diesen durch affektive und reflexive Meditationspraktiken identifizieren Fremde Worte und Emotionen werden darin zu den eigenen Vorbilder aus dem Kreis der Heiligen werden so zu Imaginationsfiguren das Selbst wird auf Gott ausgerichtet und in all seinen Aspekten gezielt emotional reflektiert So unterschiedlich die formale Herangehensweise dieser Praktiken bei den drei untersuchten Autoren Hugo von St Viktor Bonaventura und Gerard Zerbolt van Zutphen zu sein scheint vermitteln sie doch die selbe zentrale Maszliggabe oratio est affectus ndash bdquoGebet ist Affektldquo

Uumlbersetzung Hugo von St Viktor De meditando PL 176 993ndash99

Die Meditation ist die haumlufige Erwaumlgung (cogitatio) der Ursache (causa) und des inneren Be-weggrundes (ratio) eines einzelnen zu untersuchenden Gegenstandes (res) was seine Art sei (modus) was die Ursache und was der Beweggrund

Es gibt drei Arten (genus) der Meditation eine in Bezug auf die Schoumlpfung (in creaturis) eine hinsichtlich der Schrift (in scripturis) und eine hinsichtlich der Sitten (in moribus) Die erste erwaumlchst aus der Bewunderung (admiratio) die zweite aus der Lektuumlre (lectio) die dritte aus der umsichtigen Beobachtung (circumspectio)

Zuerst bringt die admiratio die Frage (quaestio) hervor die Frage das Erforschen (investi-gatio) und das Erforschen die Entdeckung (inventio) Dies ist damit die Bewunderung der Ord-

55 Fuumlr den altniederlaumlndischen Text vgl Wijk (cf Anm 49) S 155 Zum Antiphon das der Vigil vorangestellt ist vgl Anm 50

286 Anselm Rau und Johanna Scheel

nung (dispositio) die Frage nach der Ursache und die Entdeckung des inneren Beweggrundes Die Bewunderung beruht auf der Betrachtung der Ordnung im Himmel das ist die Gleich-artigkeit von allem und der Houmlhen und der Tiefen (alta et depressa) auf der Erde Die Frage betrifft die Ursache (causa) des irdischen Lebens auf Erden und des himmlischen Lebens im Himmel Das Erforschen fragt nach dem inneren Beweggrund dass so wie die Erde auch das irdische Leben beschaffen ist und dass der Beschaffenheit des Himmels selbst auch das himm-lische Leben gleicht

Bei der Lektuumlre (lectio) aber erfolgt die Betrachtung (considerare) folgendermaszligenAls erstes dient die lectio dazu durch die Bereitstellung des Stoffes (materia) die Wahr-

heit zu erkennen (cognoscere) die meditatio fuumlgt ihn zusammen (coaptare) die oratio hebt ihn empor (sublevare) die operatio (Ausfuumlhrung) wendet ihn an (componere) und die contemplatio frohlockt in ihm selbst (exsultare)

Es ist durch die Meditation der Schriften zu erkennen auf welche Weise es sich gehoumlrt etwas zu wissen Als Beispiel steht geschrieben Declina a malo et fac bonum (Vg Ps 3627 ndash Wende dich ab von dem Boumlsen und tue Gutes EUuml Ps 3727) Deshalb wurde zuvor gesagt die meditatio wendet sich der lectio zu um sich vom Boumlsen abzuwenden und darauf Gutes zu tun Der Grund (causa) hierfuumlr ist wenn sich nicht zuerst das Boumlse zuruumlckzoumlge wuumlrde das Gute nicht herantreten koumlnnen Der innere Beweggrund (ratio) aber ist so wie zuerst die Sproumlsslinge des Boumlsen mit ihrer Wurzel ausgerissen werden muumlssen so muss danach das Gute (ein-)ge-pflanzt werden Warum wurde daher gesagt Wende dich ab von dem Boumlsen Weil es einem auf dem Weg begegnet Man wendet sich deshalb ab weil wir es wo auch immer nicht vermoumlgen durch Staumlrke zu widerstehen wir entkommen ihm lediglich wenn wir uns mit Klugheit und Vernunft (consilio et ratio) von ihm abwenden Auch muumlssen wir uns vom Boumlsen abwenden um dem Naumlhrstoff (materia) zur Suumlnde aus dem Weg zu gehen ndash beispielsweise ist von Hochmut (superbia) Begehrlichkeit (incontinentia) Begierde (concupiscentia) Neid (invidia) und Streit (contentio) abzulassen um sich vom Reichtum (abundantia) der Schoumlnheit (species) des Flei-sches und der Besitzgier (amor possessiones) abzuwenden Dies bedeutet bdquosich abzuwendenldquo Desgleichen wenn auf diese Weise von allem Boumlsen sich abzuwenden angeraten ist so wird die Verrichtung alles Guten verlangt Und so ist also der ebenso schuldig bzw angeklagt der allein nur alles Boumlse meidet wie derjenige der nicht zugleich all das Gute tut Aber wenn dies so ist wer ist dann kein Angeklagter (reus) Folglich wird uns anbefohlen uns von allem Boumlsen loszusagen Andererseits kommt das Gute zum Einen aus dem was sich gehoumlrt (necessitas) und zum anderen aus dem Willen (voluntas) Es gehoumlren sich die Dinge einer Vorschrift (praecep-tum) und die eines Geluumlbdes (votum) alles uumlbrige wird erfuumlllt wenn eine Sache [also Schuld] mehr als nur vergolten wird (supererogare) und einem nichts mehr anlastet

Daher zielt die Meditation bei der lectio darauf ab zu ergruumlnden auf welche Weise et-was das erkannt wird gut ist warum und wie es zu erreichen ist weil es ndash ist es [ersteinmal] erkannt ndash auch zu verrichten ist Die Meditation ist das Entdeckungsvermoumlgen der vorgefassten Absicht (excogitatio consilii) zu erwaumlgen auf welche Weise das Gute das erkannt wurde erfuumlllt wird denn das Erkannte ist unbrauchbar wird es nicht vollbracht

Deshalb ist die Meditation bei der lectio eine dreifache Betrachtung nach der historia der allegoria und der tropologia Gemaumlszlig der historia erfolgt die Meditation wenn wir nach dem

Meditation und Gebet 287

vollendeten inneren Beweggrund der Dinge fragen die geschehen sind und diesen hinsichtlich seiner uumlbereinstimmenden Art und Weise (modus) bezuumlglich der Zeiten (tempora) und Orte (loci) bestaunen (admirare) Bei dieser Betrachtung der goumlttlichen Ratschluumlsse (iudicium) laumlsst man nicht davon ab daruumlber nachzudenken dass diese richtigen und gerechten (rectus et iustus) Entscheidungen zu keiner Zeit den Beistand [Gottes fuumlr die Menschen] entzogen (deesse) und durch sie das geschah was sich gehoumlrte und vergolten wurde was gerecht war (iustum fuit)

Die Meditation hinsichtlich der allegoria beschaumlftigt sich mit der Gliederung (dispositio) der vorangegangenen und zukuumlnftigen Dinge und so wie fuumlr den Verstand (intelligentia) an-gemessen richtet sie dabei ihre Aufmerksamkeit auf deren uumlbereinstimmende Bedeutung in ihrer bewundernswerten Vernunftmaumlszligigkeit (ratio) und Vorhersehung (providentia) und auf ihre fuumlr den Glauben (fides) geschaffene Gestalt (forma)

Bezuumlglich der tropologia beschaumlftigt sich die Meditation damit welche Frucht die Worte der lectio hervorbringen und erforscht (exquirere) was diese wenn sie ausgefuumlhrt werden [im Sinne des eigentlichen Aussprechens der Worte aber auch die Ausfuumlhrung ihres Inhaltes] ein-pflanzen (insinuere) und dabei zugleich lehren was zu vermeiden ist Sie stellt vor Augen was durch die lectio der Schrift zur Unterweisung (eruditio) zur Ermahnung (exhortatio) zur Troumls-tung (consolatio) und zum Schrecken (terror) dient Hierdurch erleuchtet die tropologia dahin-gehend was zum Verstehen der Tugenden (virtus) fuumlhrt sie naumlhrt (nutrire) den Affekt (affectio) und lehrt (edocere) die Lebensfuumlhrung auf dem Pfad der Tugenden

Die Meditation der Sitten (mos) erfolgt gemaumlszlig der Affekte (affectus) der Erwaumlgungen (cogi-tationes) und der Werke (opera)

Hinsichtlich der Affekte ist zu betrachten wie sie recht und aufrichtig (rectus et sincerus) zu sein vermoumlgen damit ist gemeint auf das und zu was hin sie geschuldet sein muumlssen und in welcher Weise sie zu sein haben Zu differenzieren ist naumlmlich dass das was sich nicht gehoumlrt (non oportet) boumlse ist und zugleich das was sich gehoumlrt zu lieben ist ndash das zu lieben das sich gleichwie nicht gehoumlrt ist boumlse Daher handelt es sich um einen guten Affekt wenn er auf das ausgerichtet ist auf das er verpflichtet ist und in der Weise wie es sich gehoumlrt

Amnon liebte (diligere) seine Schwester und dies war der Affekt zu dem er bestimmt war doch weil er Boumlses begehrte war es nicht der Affekt wie er ihn schuldete (vgl 2 Sam 13) So kann der Affekt auf das gerichtet sein zu was er gehoumlrt dies aber nicht in der [angemessenen] Art und Weise Niemals aber kann der Affekt so sein wie er zu sein hat wenn er nicht auf das ihm Zugehoumlrige ausgerichtet ist Auf das ausgerichtet zu was er gehoumlrt bedeutet dass er recht ist und in der Art und Weise wie es sich gehoumlrt und dementsprechend ist er rein Daher werden die Affekte in den Erwaumlgungen betrachtet damit sie rein (mundus) und geordnet (ordi-natus) sind Rein sind sie wenn weder etwas Boumlses von den Affekten hervorgebracht wird noch das Boumlse die Affekte hervorbringt Dass sie geordnet sind meint wenn sie vernuumlnftigerweise aufgrund des ihnen eigenen Anlasses (suo tempore) aufkommen (advenire) Es ist nicht ohne Schaden (vitium) [naumlmlich im Sinne des korrekten Vorgehens nicht ohne Formfehler] bereits das Gute zu einem diesem nicht angemessenen Zeitpunkt zu erwaumlgen wie etwa an die lectio waumlhrend der oratio zu denken oder auch an die oratio waumlhrend der lectio

Bei den Werken ist als erstes zu betrachten was zum Beispiel durch die gute Absicht (bona intentio) geschieht Um eine gute Absicht handelt es sich wenn sie einfach und aufrichtig ist

288 Anselm Rau und Johanna Scheel

(simplex et recta) Die bona intentio ist arglos ohne Hinterlist (malitia) und aufrichtig ohne Ignoranz (ignorantia) Die naumlmlich ohne Hinterlist ist besitzt den Eifer (zelus) Ist sie aber aus der [bewussten] Unkenntnis gegenuumlber dem Wissen (scientia) (Roumlm 102) geboren verfuumlgt sie nicht uumlber den [wahren] Eifer Daher ist es notwendig dass die Absicht aufrichtig ist in der Bescheidenheit (discretio) und arglos im Wohlwollen (benignitas) Bei den Werken ist zu be-trachten dass sie aus der aufkommenden guten Absicht heraus mit beharrlicher Leidenschaft (fervor) schlieszliglich ans Ziel gefuumlhrt werden damit nicht die Beharrlichkeit (perseverantia) ge-laumlhmt (torpere) und die Liebe (amor) nicht lau wird (tepescare)

Auf gleiche Weise erfolgt die meditatio der Sitten in einer zweifachen Betrachtung naumlmlich einer inneren und einer aumluszligeren Die aumluszligere blickt auf das Ansehen (fama) die innere auf das Gewissen (conscientia) Die aumluszligere Betrachtung erfolgt gemaumlszlig dem was ziert (decere) und was nuumltzt (expedire) was als Beispiel (exemplum) dient und was den Lohn (meritum) hervorbringt ndash uns zum Lohn und den Naumlchsten als Beispiel Die innere Betrachtung dagegen schaut auf das Gewissen damit es rein (mundus) sei ohne Anklage (accusatio) zu erleiden (pati) ob nun durch die Laumlhmung (torpor) des Guten oder die Hartnaumlckigkeit (praesumptio) des Boumlsen Rein ist aber jenes Gewissen das weder durch das Vergangene zu recht angeklagt (accusare) noch durch das Gegenwaumlrtige unrechtmaumlszligig erfreut (delectare) wird

Daher laumlsst die meditatio der Sitten ihre Betrachtung nicht ruhen damit sie jegliche Re-gungen (motus) die sich im Herzen erheben bemerkt und erwaumlgt woher sie kommen und worauf sie abzielen (tendere) Das heiszligt woher sie kommen gemaumlszlig ihrem Ursprung und wo-nach sie streben hinsichtlich ihres Ziels Alles ist naumlmlich eine Bewegung aus irgendetwas und auf irgendetwas Die Bewegungen des Herzens sind manchmal offenkundigen Ursprungs manchmal entspringen sie aber auch Verborgenem Bei denen der Ursprung offenkundig ist ist er bisweilen durch das Gute bisweilen aufgrund des Boumlsen erwiesen Was offenkundig gut ist kommt von Gott was aber deutlich boumlse erscheint entspringt entweder dem Teufel oder dem Fleisch Dies sind naumlmlich die drei Urheber (auctores) aller Vorstellungen (suggestio) und aller Eingebungen (aspiratio) die unsichtbar an das Herz herantreten und aus jenen drei hervor-gehen Entspringen die Bewegungen des Herzens daher dem Verborgenen koumlnnen sie manch-mal aus dem Guten und dem Geheimen hervorgehen und sind manchmal boumlse und zweifelhaft (dubius) Die dem Guten entspringen kommen von Gott die aber dem Boumlsen entstammen sind entweder des Teufels oder des Fleisches

Die Bewegungen die folglich offenkundig sind sei es im Guten oder Boumlsen werden auf den ersten Blick durch ihren Ursprung angezeigt Jene aber die zweifelhaft bleiben hinsichtlich ih-res Grundes sind am Ende zu uumlberpruumlfen (probare) Ihr Ergebnis [oder Ausgang] (exitus) zeigt naumlmlich deutlich was vom Ursprung her verborgen war und deswegen muss derjenige der es nicht vermochte den Ausgangspunkt seiner Herzensbewegungen zu beurteilen (iudicare) das Ziel und die Ausfuumlhrung [bzw Vollendung] (finis et consummatio) untersuchen (investigare) Die Bewegungen naumlmlich die zweifelhaft und ungewiss sind sind vom verborgenen Guten oder Boumlsen Wie gesagt wurde haben die schlechten Regungen ihren Ursprung entweder beim Teufel oder im Fleisch Diese aber sind beide boumlse sie unterscheiden sich nicht indem oder durch was sie boumlse sind doch unterscheiden sie sich dahingehend dass die Regungen des Her-zens die dem Fleisch entspringen haumlufig aus einer Notwendigkeit (necessitas) heranwachsen

Meditation und Gebet 289

die aber die tatsaumlchlich vom Teufel kommen nehmen noch oumlfter wider der Vernunft (ratio) ihren Anfang (oriri) Was naumlmlich vom Teufel eingegeben wird (suggerere) ist in der Tat dem Menschen fremd und wird deswegen haumlufig von der menschlichen Vernunft abgelehnt weil er beispielsweise unlaumlngst gesaumlttigt Hunger leidet (pati) kurz zuvor noch trunken (inebriatus) vor Durst (sitis) gluumlht (aestuare) oder wenn er nach einem ausgiebigen Schlaf (dormitio) sich erhebend vom Traum (somnus) bedruumlckt (praegravare) wird

Hieraus also werden die Werke des Teufels differenziert betrachtet weil sie ja an den Men-schen von auszligen herangetragen werden und der menschlichen Vernunft fremd sind Bei den Werken des Fleisches und ihren Eingebungen liegt der Grund des Oumlfteren in einer vorangegan-genen Notwendigkeit Aber weil sie Ziel und Maszlig (modus et mensura) uumlbersteigen wachsen sie zum Uumlberfluss (superfluitas) heran Dies ist als Beispiel eben gerade dann der Fall wenn nach der Einnahme einer Mahlzeit der Hunger hemmungslos (immoderatus) begehrt (appetere) und nach Enthaltsamkeit (abstinentia) das Maszlig (mensura) bei der Aufnahme von Speise (edulium) nicht gehalten wird

Daher wird die meditatio der Sitten aufgrund eines dreifachen Urteils betrieben Das erste urteilt zwischen Tag und Nacht das zweite zwischen Tag und Tag und das dritte schlieszliglich untersucht den gesamten Tag (vgl Roumlm 145) Zwischen Nacht und Tag zu urteilen meint das Boumlse vom Guten zu (unter-)scheiden Die Beurteilung zwischen Tag und Tag bedeutet eine Un-terscheidung zwischen etwas Gutem und etwas Besserem vorzunehmen Uumlber den gesamten Tag zu richten ist schlieszliglich das einzelne Gute fuumlr den eigenen Lohn zu ermessen (aestimare)

So hat die meditatio der Sitten bei jeglichem Umgang (conversatio) das Ziel und die Rich-tung (directio) im Blick Das Ziel ist wohin man strebt die Richtung wodurch man leichter ans Ziel gelangt Jeder naumlmlich der zu irgend etwas strebt so wie etwas seine Bahn (cursus) lenkt und unaufhoumlrlich weiterzieht kommt schneller ans Ziel Es gibt daher Gutes durch das man stark bewegt ist (moveri) zugleich gibt es aber wenig her durch das man vorankommt (pro-moveri) Anderes dagegen fuumlhrt mit etwas Muumlhe (labor) zu groszligem Gewinn (fructus) Und diese sind folglich zu unterscheiden und das Bessere das mehr nuumltzt auszuwaumlhlen Welches auch immer mehr nuumltzt ist besser und es gehoumlrt sich jedes Werk auf seinen Ertrag hin zu beurteilen Indem viele diese Unterscheidung (discretio) nicht einhielten haben sie sich zwar aufs aumluszligerste bemuumlht sind jedoch nur wenig vorangekommen weil sie das Auge aumluszligerlich so sehr auf die Gestalt (species) der Werke richteten und nicht innerlich auf den Gewinn durch die Tugenden blickten Sie ergoumltzen sich daran groszlige Taten zu verrichten anstatt dass sie das Nuumltz-liche (utilia) uumlben (exercere) um sich selbst zu bessern (emendari) Dabei schaumltzten (diligere) sie vielmehr das durch das sie den Anschein erwecken (videri) konnten [so zu sein]

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zunaumlchst das was man schuldet entweder auf-grund einer Vorschrift (praeceptum) oder eines Geluumlbdes (votum) Diesbezuumlglich ist die erste Tat der meditatio zu ermitteln ist sie oder es erfuumlllt fuumlhrt es zum Lohn und wenn nicht bringt dies den Anklagezustand (reatus) hervor Es sind also zuerst die Dinge zu tun die nicht ohne Schuld (culpa) weggelassen werden koumlnnen Danach ist die meditatio alsdann so zu verrichten dass wenn etwas durch freiwillige Uumlbung (exercitatio) noch hinzugefuumlgt wird die Pflicht-erfuumlllung [eigtl Schuld] (debitum) nicht verhindert wird (impedire) Die einen die das nicht zu leisten vermoumlgen was sie schulden wollen was sie nicht muumlssen Die anderen wenn sie im-

290 Anselm Rau und Johanna Scheel

stande sind zu tun was sie schulden bringen freiwillig Hindernisse (impedimentum) mit sich indem sie etwas wollen was sie nicht muumlssen

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zwei Dinge des Boumlsen vor denen man bei der Ver-richtung von Gutem besonders auf der Hut sein muss die Betruumlbnis [Niedergeschlagenheit] (afflictio) und die Besessenheit [Vereinnahmung] (occupatio) Die afflictio fuumlhrt zur Bitterkeit (amaritudo) die occupatio zur Zerstreuung (dissipatio) Mit der afflictio verbittert die Suumlszlige (dulcedo) des Geistes und mit der occupatio wird die Ruhe (tranquillitas) zerstoumlrt (dissipare) Es herrscht Betruumlbnis wenn man fuumlr jene Dinge die man nicht vermag aufgrund der eigenen Ungeduld (impatientia) ungluumlcklich wird (urere) Dagegen handelt es sich um Besessenheit (occupatio) wenn man in seinem Handeln (nach seinem Vermoumlgen) aufgrund der impatientia gequaumllt wird (agitare) Folglich darf die Seele (animus) nicht aufgrund des Boumlsen verbittert wer-den sie muss ihr Unvermoumlgen (impossibilitas) geduldig (patienter) aushalten Genauso darf sie aber auch nicht vom Boumlsen eingenommen werden und darf ihr Vermoumlgen (possibilitas) nicht uumlber ihr eigenes Maszlig hinaus ausdehnen (extendere) Daher muss die meditatio der Sitten in einer weiteren Betrachtung der Lebensfuumlhrung zu einem Urteil kommen und dabei billigen dass es weder gut ist die Dinge die man nicht vermag ungeduldig (impatienter) zu verlangen (appetere) noch die welche man erreicht toumlricht (insipienter) zu verschmaumlhen (fastidire) Wer naumlmlich immer das begehrt was er nicht vermag und das was er [jedoch] vermag verabscheut wird sich weder am Gegenwaumlrtigen erfreuen (frui) noch am Zukuumlnftigen saumlttigen (satiare) Er verlaumlsst naumlmlich das Gute unentwickelt vor der Vollendung und eignet sich das gerade erst Be-gonnene vorzeitig an Deswegen ist es gut aufgrund des eigenen Guten zufrieden zu sein und das gegenwaumlrtige Gute durch hinzukommendes Gutes zu vermehren und es nicht aufgrund des Zukuumlnftigen wegzuwerfen (abicere) Der Austausch (commutatio) des Guten ist naumlmlich ein Leichtes (levitas) seine Uumlbung (exercitatio) aber die Tugend Oft eilen sie auf unterschiedlichen Wegen die einen die ein fruumlheres durch ein neues Gutes fallen lassen (abicere) und die ande-ren die [sich] vom Untersten zum Houmlchsten emporschwingen (conscendere) Wer naumlmlich nach Veraumlnderung (mutatio) fragt ist uumlberdruumlssig (fastidiosus) so wie der der nach dem Voran-schreiten (profectus) strebt eifrig bemuumlht ist (studiosus) Am aufrechtesten beschreitet daher derjenige den Weg der dabei so auf das Bessere brennt (fervere) dass er des Guten nicht uumlber-druumlssig wird sondern es vorerst empor haumllt solange bis er es spaumlter zu der ihm angemessenen Zeit sich aneignet (apprehendere)

Abbildungsnachweis

Einband Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders

Farbtafeln 1 (zu Beitrag Rosenwein) Coll BNU de Strasbourg ndash 2 (zu Beitrag Ferguson) Ar-chiv der Verf ndash 3 (zu Beitrag Herding) Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preu-szligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders ndash 4 (zu Beitrag Droste) R Kahsnitz Die Groszligen Schnitzaltaumlre Spaumltgotik in Suumlddeutschland Oumlsterreich Suumldtirol Muumlnchen 2005 Taf 53 ndash 5 6 (zu Beitrag Schedl) 75 Jahre 1933ndash2008 Kirche Mutter vom Guten Rat Festschrift und Chro-nik FrankfurtM 2008 S 92 Dr Bernd Konrad Radolfzell ndash 7 8 9 (zu Beitrag Zaumlh) Archiv des Autors ndash 10 (zu Beitrag Niehr) Universitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Media-thek 11 12 (zu Beitrag Muumlller) Autorin ndash 13 14 15 (zu Beitrag Schlie) Su concessione del Ministero dei beni e delle attivitagrave culturali e del turismo ndash Galleria Nazionale delle Marche ndash Urbino Archivio fotografico Archiv der Verf F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 ndash 16 17 (zu Beitrag Stoichita) D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 ndash 18 19 20 (zu Beitrag Schmidt) London British Museum C Geissmar-BrandiE Louis (Hgg) Glaube Hoffnung Liebe Tod Wien 1995 S 149 Archiv Autor ndash 21 (zu Beitrag Jung) Autorin

Textabbildungen Droste 1 3 4 Autorin 2 E Oellermann Der Hochaltar in St Martin zu Lorch am Rhein in H KrohmE Oellermann (Hrsg) Fluumlgelaltaumlre des spaumlten Mittelalters Ber-lin 1992 Abb 2 ndash Ferguson 1ndash3 Archiv der Verf ndash Frese 1 2 3 5 M BrandtA Eggebrecht (Hgg) Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen Katalog der Ausstellung Hil-desheim 1993 Bd 1 S 386f Abb 197 u 198 Bd 2 S 583 KatNr VIIIndash32 S 604 KatNr IXndash8 4 G LutzA Weyer (Hgg) 1000 Jahre St Michael in Hildesheim Kirche ndash Kloster ndash Stifter Peterberg 2012 S 148 Abb 118 ndash Gruumlndler 1ndash4 L DomenicoA Nova (Hg) Leonardo da Vincirsquos Anatomical World Language Context and Disegno Akten der Internationalen Tagung Florenz 30ndash31 Mai 2008 Venedig 2011 S 237 S 236 S 241 S 186 5 6 Le journal de Jacopo da Pontormo traduit par Jean-Claude Lebensztejn avec la collaboration drsquoAlessandro Parronchi Paris 1992 S 46 S 50 ndash Herding 1 2 3 4 5 6 7 Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders 8 Max J Friedlaumlnder Early Netherlandish Painting 14 vols Leiden und Bruumlssel 1967ndash1974 vol II 1967 pl 10 Nr 3i 9 Wolfenbuumlttel Herzog-August-Bibliothek ndash Jung 1 2 3 4 5 Autorin ndash Kessler 1 6 7 Autor 2 3 Museo delle Terme Rom 4 British Museum London 5 Alexei Lidov ndash Maxwell 1 2 AHN 3 Autor 4 Sancho el Mayor y sus herederos ed I Bango Torviso et al 2006 cat 25 5 BNE ndash Muumlller 1 Italian painting c 1330ndash1550 I National Gallery in Prague II Collections in the Czech Repub-lic Illustrated summary catalogue Prag 2008 2 Collection of The John and Mable Ringling Museum of Art the State Art Museum of Florida Florida State University 3 2014 copy Archivio Fotografico ndash Fondazione Musei Civici di Venezia ndash Niehr 1 A Schuttwolf (Hg) Ausst-Kat Jahreszeiten der Gefuumlhle Das Gothaer Liebespaar und die Minne im Spaumltmittelalter Ostfil-

400 Abbildungsnachweis

dern-Ruit 1998 2 D de Vos Hans Memling Das Gesamtwerk AntwerpenStuttgart 1994 S 278ndash283 TH Borchert Hans Memling Portraits Stuttgart 2005 S 173f Nr 23 3 Univer-sitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Mediathek ndash Pfisterer 1 E Steinmann ldquoLa mano di Michelangeloldquo in Studien aus Kunst und Geschichte Friedrich Schneider zum siebzigsten Geburtstag Freiburg iBr 1906 unnum Taf 2 R Bernini ua La mano e il volto di Antonio Canova PossagnoQuinto di Treviso 2008 S 197 3 U Klein Zur Forschungsgeschichte des Duumlrer-Hauses in GU GroszligmannF Sonnenberger (Hgg) Das Duumlrer-Haus Neue Ergebnisse der Forschung Nuumlrnberg 2007 S 105 nach Carl A Heideloff Die Ornamentik des Mittelalters Bd 3 Nuumlrnberg 1847 S 42 4 WH Vroon Het wonderlid van Jan de Witt en andere vaderland-se relieken Nijmegen 1997 S 68 5 Autor nach GF Tomasini Petrarca Redivivus Padua sup21650 S 128 6 A Picturesque Tour Through Holland Brabant and Part of France made in the autum of 1789 by Samuel Ireland London sup21796 Bd 2 Taf nach S 13 ndash Pinkus 1 2 3 4 5 6 Autor 7 8 Institut fuumlr Kunstgeschichte Universitaumlt Wien Fotothek ndash RauScheel 1 M Gregori Uf-fizien und Palazzo Pitti Muumlnchen 1994 S 31 2 Den Haag Koninklijke Bibliotheek ndash Raeck 1 2 5 7 Fotothek des Instituts fuumlr Archaumlologische Wissenschaften AbtI Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main 3 Zeichnerische Rekonstruktion M Junghans nach H-V Herrmann Olympia ndash Heiligtum und Wettkampfstaumltte Muumlnchen 1972 Abb 95 4 Antikensammlung Staatliche Museen zu Berlin Foto Johannes Laurentius 6 W Riezler Weissgrundige attische Lekythen Muumlnchen 1914 Taf 23 8 Deutsches Archaumlologisches Institut Athen Fotothek ndash Reudenbach 1 F MuumltherichJE Gaehde Karolingische Buchmalerei Muumlnchen 1979 Taf 4 2ndash4 httpwwwbibliotheca-laureshamensis-digitalde (Zugriff 20022014) ndash Schmengler 1 2 3 Torsten Saumlnger Frankfurt 4 5 6 Eric Tschernow Berlin ndash Schedl 1ndash3 Dr Bernd Konrad Radolfzell 4 FrankfurtMain-Niederrad Pfarrarchiv der katholischen Kirchengemeinde Mut-ter zum Guten Rat ndash Schlie 1 Archiv der Verf 2 Archiv der Verf + D E Katz The Contours of Tolerance Jews and the Corpus Domini Altarpiece in Urbino in Art Bulletin 85 (2003) S 647ndash661 S 647 3 F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 Schmidt 1 2 London British Museum 3 M Geisberg Der Meister ES Leipzig 21924 4 Archiv Autor ndash Taxer 1 2 O Paumlcht Altniederlaumlndische Malerei Von Rogier van der Weyden bis Gerard David Muumlnchen 1994 Abb 91 S 118 Abb 93 S 120 3 4 E Panofsky Die altniederlaumlndische Malerei Ihr Ursprung und Wesen Bd 2 Koumlln 2006 Abb 387 S 236 Abb 358 S 214 ndash Stoichita 1 D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 2 3 J Bialostocki Les Museacutees de Pologne Bruxelles 1966 ndash Zaumlh 1 2 Archiv des Verf 3 Metropolitan Museum of Art Bulletin 58 (2001) S 17 4 G ForsythK Weitzmann The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai The Church and Fortress of Justinian Plates Ann Arbor (Mi) 1973 Plate 121

268 Anselm Rau und Johanna Scheel

Zutphen aus dem 15 Jahrhundert Hieran kann ebenfalls die Ruumlckbindung des Stufengebets an Bildbeispielen erprobt werden

De meditando

In De meditando1 behandelt Hugo die Meditation deren spirituelle Abfolge er in lectio medita-tio oratio operatio und contemplatio strukturiert2 Die uumlbliche monastische Stufenabfolge im Gebet zeigt als festes Geruumlst den Dreischritt aus lectio meditatio oratio der ab dem 12 Jahr-hundert nicht nur bei Hugo sondern beispielsweise auch bei Guigo dem Kartaumluser in seiner Scala claustralium um die contemplatio erweitert wird3 Weitere oder andere Hinzufuumlgungen zu dem Tenar wie hier die operatio oder die Ausgestaltung der Unterteilungen der Stufen koumlnnen von Autor zu Autor variieren Letztendlich ist die Verbindung von Bibellektuumlre und Meditation durch Hugo nicht innovativ sondern allgemeine monastische Praxis Gemaumlszlig der philosophischen Logik erfolgt dabei die Eroumlrterung der Dinge und Sachverhalte nach Hugo uumlber die Erwaumlgung ihrer Ursachen und ihrer inneren Beweggruumlnde sowie hinsichtlich der ka-tegorialen Unterscheidung des Schriftsinnes nach historia allegoria und tropologia

Die Evidenz der Affekte4 bei Meditation und Gebet findet allerdings ungewoumlhnlich starke Betonung in De meditando Anhand des inhaltlichen Leitgedankens des gesamten Traktats aus Psalm 3627 (Vg) Declina a malo et fac bonum verifiziert Hugo bei der Erlaumluterung der gerade

1 Hugo von St Viktor De meditando PL 176 993ndash998 Eine Uumlbersetzung auf Grundlage der Ausgabe von Migne findet sich am Ende des Beitrages vorgenommen wurde ein Abgleich des Texte mit der nicht kritischen Edition und der franzoumlsischen Uumlbersetzung bei Baron ndash vgl R Baron Six opuscules spirituelles La Meacuteditation La Parole de Dieu La reacutealiteacute de lrsquoAmour Ce qursquoil faut aimer vraiment Les cinq Septeacutenaires Les sept Don de lrsquoEsprit-Saint Einfuumlhrung Textkritik Uumlbersetzung und Anmerkungen von R Baron Paris 1969 S 44ndash59 Weitere Titel des Textes De generibus meditationum et quae sit utilitas eorum und De meditatione siehe ebd S 9 Es sind insgesamt 103 Abschriften erhalten ndash 20 aus dem 12 Jh 29 aus dem 13 Jh 17 aus dem 14 Jh und 34 aus dem 15 Jh Vgl R Goy Die Uumlberlieferung der Werke Hugos von St Viktor Ein Beitrag zur Kommunikationsgeschichte des Mittelalters Stuttgart 1976 S 196ndash211 hier S 211 Im Gegensatz zu De modo orandi wurde De meditando nicht in Volkssprache uumlbertragen vgl ebd S 501ndash504 Die Aufmerksamkeit der Forschung fuumlr dieses kurze Traktat ist relativ gering einige seiner Besonderheiten bei Baron op cit S 11ndash172 Diese StufungAbfolge bietet er auch im Didascalicon Hugo von St Viktor Didascalicon de studio legendi Studienbuch uumlbers u eingel v Th Offergeld Freiburg [ua] 1997 59 S 348349 bdquoVier Dinge sind es durch die nun das Leben der Gerechten zur Ausuumlbung gelangt und sich gleichsam auf vier Stufen zur zukuumlnftigen Vollkommenheit erhebt naumlmlich das Studium oder die Belehrung die Meditation das Gebet und das Handeln Darauf folgt noch eine fuumlnfte Stufe die Kontemplation []ldquo Aumlhnlich auch in De archa noe moralia Eine teils woumlrtliche Meditationslehre wiederholt Hugo in In salomonis Ecclesiasten homilia 191 An anderer Stelle wird der Dreischritt mitunter in meditatio speculatio contemplatio umgewandelt Vgl K Ruh Geschichte der abendlaumlndischen Mystik Bd 1 Die Grundlegung durch die Kirchenvaumlter und die Moumlnchstheologie des 12 Jahrhunderts Muumlnchen 1990 S 367f 3 Guigo der Kartaumluser Scala claustralium Die Leiter der Moumlnche zu Gott 2 verb Aufl hg v D Tibi OSB Nordhausen 2009 Eine direkte Abhaumlngigkeit Guigos von Hugo muss dies allerdings nicht bedeuten vgl Ruh (cf Anm 2) S 2224 Auch in De comtemplatione nehmen die Affekte einen besonderen Raum ein ndash affectus wird nicht definiert aber als Streben nach Demut Liebe und ad contemplationis puritatem beschrieben (so Ruh (cf Anm 2) S 374 dort noch Weiteres zu den Unterstufen der einzelnen Stufen)

Meditation und Gebet 269

vom tropologischen Aspekt geleiteten Meditation der Sitten den Charakter und den Nutzen der Affekte Die tugendhafte Lebensfuumlhrung im Denken und Handeln konstituiert sich aus der Erkenntnis der nach der Vernunft geordneten und auf das Ziel Christus ausgerichteten rechtmaumlszligigen und reinen affectus Der Affekt als motus cordis ist in augustinischer Tradition untrennbar mit dem Willen (voluntas) als Vermoumlgen der Seele verknuumlpft Dadurch ist alles ge-ordnet nach der Vernunft ein Akt des Willens in strebendem Verlangen (cupiditas) oder in Furcht (timor) begruumlndeter Ablehnung und dessen Vollzug in Freude (laetitia) oder Trauer (tristitia)5 Aufgrund der tiefen postlapsalen Ambivalenz der Bewegungen des Herzens in dem was es liebt unbeherrscht nach der cupiditas und geordnet nach der caritas bedarf es zudem der umsichtigen circumspectio (Betrachtung) ob die affectus im Guten oder Boumlsen begruumlndet sind6 Konkret bedarf es der eindringlichen Betrachtung in der meditatio die den Ursprung der Affekte untersucht sowie den Antrieb (appetitus) des Willens7 Zu ergruumlnden ist also im Idealfall die bona intentio dh der rechtschaffene Anlass der affectus und der fuumlr sie unabding-bare auf das rechtmaumlszligige Ziel in unablaumlssiger Beharrlichkeit ausgerichtete Eifer (zelus) Bei der meditatio handelt es sich gewissermaszligen um die Begutachtung der Zielrichtung (directio) der affectus das heiszligt ausgehend von ihrem Ursprung uumlber den eigentlichen Vollzug bis schlieszliglich in ihrer Vollendung ein Abgleich mit dem angestrebten Objekt moumlglich ist Hierdurch bildet die Meditation und mit ihr auf dieser aufbauend die contemplatio den eigentlichen Denkprozess und zugleich seine Ergebnisse Affectus besitzt somit einen kognitiven Inhalt bzw die Kognition ist affektiv bestimmt der Affekt ist letztlich Ausgangspunkt Mittel und Ziel des Denkens da erst uumlber ihn die Angleichung an Gott in Christus moumlglich ist Letztlich kann Gott nur uumlber die Liebe erkannt werden

In De meditando ist es Hugo ein Anliegen anhand der fortwaumlhrenden Gegenuumlberstellung der Betrachtung bzw Ergruumlndung des Guten und des Boumlsen die Notwendigkeit der richtigen Reihenfolge der Gebetsschritte zu betonen sowohl was das strebende Verlangen nach dem Gu-ten betrifft als auch seine praktische Ausfuumlhrung Dies beweist der Anfangspunkt der inneren Gewissenspruumlfung als Prozess von Reue und Buszlige in der Abwendung von den Lastern und der damit verbundenen emotionalen Dispositionen Denn nicht die rein aumluszligerliche und theo-retische Betrachtung der guten Werke und das durch sie erworbene Ansehen sind nuumltzlich sondern die Betrachtung des inneren Gewinns durch die Tugenden Gutes zu unterlassen bleibt nicht ohne Schuld und ist als Fehler oder Schaden was die Struktur der meditatio betrifft so-wohl hinsichtlich des schematisierten Meditationsablaufes als auch bezuumlglich des persoumlnlichen

5 Augustinus De civitate Dei hg v B DombartA Kalb Turnhout 1955 pars II Civitas terrena et civitas caelestis 14 6 S 421 ndash ebenso Augustinus De civitate Dei (1955) pars II 14 7 S 422 Zur Theorie des Willens bei Augustinus siehe A Dihle The Theory of Will in classical Antiquity Berkeley[ua] 1982 S 123ndash1446 Circumspectio wird der Kardinaltugend der prudentia zugeordnet spaumlter dann gerade auch bei Thomas v Aquin vgl Ruh (cf Anm 2) S 373) Auszliger in De meditando vgl zur circumspectio bei Hugo von St Viktor De institutione novitiorum De virtute orandi De laude caritatis De arrha animae hg v H B FeissP SicardD Poirel Turnhout 1997 S 46 413ndash423 Fuumlr weitere Beschaumlftigung mit der Sicht Hugos auf die Tugenden siehe I vanrsquot Spijker Hugh of Saint Victorrsquos Virtue Ambivalence and Gratuity in I P BejczyR G Newhauser (Hgg) Virtue and Ethics in the Twelth Century Leiden 2005 S 75ndash94 ebenso in I vanrsquot Spijker The Multiple Meaning of Scripture The Role of Exegesis in Early-Christia and Medieval Culture Leiden 2009 S 2262277 Vgl auch Hugo In Ecclesiasten I 116 (fuumlr 161) D - 117A

270 Anselm Rau und Johanna Scheel

Vorankommens ein Formfehler (vitium) Erleuchtendes Mittel der meditatio ist die lectio in ihren ermahnenden troumlstenden und Furcht evozierenden Unterweisungen Diese fuumlhren zu einem Verstehen der Tugenden (virtus) und naumlhren die affectio welche erst die Lebensfuumlhrung auf dem Pfad der Tugenden generiert Damit spielt Hugo auf den Aspekt des stufenweisen Vo-ranschreitens (profectus) an der sich im Erkennen und Vollzug der Affekte ausgerichtet auf das Ziel selbstreflexiv konstituiert Diesbezuumlglich ist die Ermahnung Hugos entscheidend sich vor der Betruumlbnis des anfaumlnglichen eigenen Unvermoumlgens zu huumlten um das houmlhere Gute zu erreichen Zugleich warnt er aber auch vor der Vereinnahmung durch ablenkende Zerstreu-ung die eine sprunghafte ungeduldige Betrachtung des einzelnen Guten nach sich zieht Hier spricht Hugo zwei grundlegende das Verstaumlndnis des Aufstiegs betreffende Aspekte an Man muss aufgrund des nach eigenem Vermoumlgen erreichten Guten zufrieden sein und dabei auch persoumlnliche Unzulaumlnglichkeiten ertragen (patienter) lernen Das erreichte Gute ist dabei das Fundament auf das Zukuumlnftiges aufzubauen ist eilt man unstet von einem zum naumlchsten geht das bereits Erreichte verloren Erst durch die fortwaumlhrende Uumlbung festigen sich die Tugenden was im Umkehrschluss ein Voranschreiten in der diese selbst konstituierenden affectio erst er-moumlglicht

Die Augustinische Tradition in die sich Hugo stellt macht bereits der einleitende Satz von De meditando deutlich Meditatio est frequens cogitatio modum et causam et rationem unius cuiusque rei investigans8 In dem Pseudo-Augustinischen Traktat De spiritu et anima9 findet man ihn einmal woumlrtlich einmal in einer Abwandlung Der woumlrtlich uumlbereinstimmende Satz taucht in Kapitel 38 auf das von der Definition der Seelenkraumlfte handelt die im Anschluss als ingenium ratio intellectus und intelligentia definiert und durch contemplatio und caritas flankiert werden Eingebettet ist dieser Teil in die Diskussion der Seele als Abbildung und Aumlhn-lichkeit Gottes die es wiederherzustellen gelte Die zweite abgewandelte Version des Zitats findet sich in Kapitel 50 und verbindet die Meditation mit Weisheit Zerknirschung Devotion Gebet und Affekt bdquoMeditatio siquidem parit scientiam scientia compunctionem compunctio devotionem devotio perficit orationem Meditatio est frequens cogitatio curiosa et sagax ob-scura investigare et occulta ad notitiam trahere Scientia est quando homo ad cognitionem sui assidua meditatione illuminatur Compunctio est quando ex consideratione malorum suorum cor interno dolore tangitur Devotio est pius et humilis affectus in Deum humilis ex conscientia infirmitatis propriae pius ex consideratione divinae clementiae Oratio est mentis devotio id est conversio in Deum per pium et humilem affectum Affectus est spontanea quaedam ac dul-cis ipsius animi ad Deum inclinatio Nil enim ita Deum inclinat ad pietatem et misericordiam quemadmodum purus mentis affectusldquo

Letztendlich muumlndet eingeleitet durch das schlagwortartige bdquoDevotio est pius et humilis affectus in Deumldquo die Meditation im Affekt durch den das Gebet selbst als mentis devotio auf Gott hin vollzogen wird Waumlhrend Hugo diesen letzten Part in De meditando nicht uumlbernimmt

8 Diesen Satz findet man ebenfalls in Abwandlung in dem Ps-Hugonischen Traktat De contemplatione et eius speciebus vgl zu diesem Traktat Ruh (cf Anm 2) S 370ndash3809 PL 40 Col 779

Meditation und Gebet 271

begegnet er jedoch in einem anderen Traktat Hugos De modo orandi als zentrale Aussage wie-der Fuumlr De meditando kann er als bestimmender Unterton angenommen werden

De modo orandi

In De modo orandi10 setzt Hugo von St Viktor die rhetorische Form des Gebets in Relation zu Intention und Emotion des Betenden und legt das komplex verwobene Verhaumlltnis von Wort und Emotion systematisch dar Dabei ist die starke Betonung der zentralen Rolle der Affekte innerhalb des Gebets bis dahin einzigartig Hugo aumluszligert sich sogar so dass den frommen Af-fekten die gesamte Kraft des Gebets inne wohne bdquoin affectibus pietatis est omnis virtus orandildquo11

Nach einem Abriss uumlber den generellen Aufbau des Gebets der oratio12 die ausgehend von der meditatio der zweifachen Erkenntnis naumlmlich der eigenen Fehler wie der Barmherzigkeit Gottes zur compunctio13 fuumlhrt und diese in die devotio uumlberfuumlhrt (Kap 1) werden anhand rhe-torischer Formen die verschiedenen Gebetskategorien klassifiziert (Kap 2ndash3) Hiermit gelingt es Hugo nicht nur grundlegende Bestandteile oder Uumlberbegriffe des Gebets detaillierter zu un-terscheiden sondern diese kategorisierende Herangehensweise in einen Zusammenhang mit praktisch brauchbaren Gebetstexten und -worten zu stellen Dies geschieht zunaumlchst ebenfalls in einem engen Theoriegeruumlst in dem die oratio in supplicatio (das demuumltige Gebet) postulatio (die Anrufung) und insinuatio (die versteckte Andeutung) geschieden wird und diese drei Ge-

10 266 Handschriftenexemplare von De modo orandi sind vorhanden mehr als hundert entfallen auf das 15 Jh Vgl Hugo von St Viktor 1997 (cf Anm 6) S 118 ausfuumlhrlicher dazu Goy (cf Anm 1) Laut Goy ist De modo orandi nach dem Soliloquium de arra animae das weitverbreitetste Werk Hugos (12 Jh 42 13 Jh 34 14 Jh 40 15 Jh 105 uumlberlieferte Exemplare) ebd S 506 Diese Verteilung und der prononcierte Sprung im 15 Jh entsprechen nicht der Verbreitungsintensitaumlt aller Schriften Hugos durch die Jahrhunderte die Goy S 509 mit 852 im 12 Jh 665 im 13 Jh 331 im 14 Jh und 674 im 15 Jh beziffert Im 15 Jh findet sich die hohe Verbreitung vor allem im deutschen Raum sowie durch das Gebiet zwischen Rhein und Schelde Goy sieht den Grund in den Klosterreformen der Windsheimer Kongregation und somit der Devotio Moderna an ebd S 51711 De modo orandi Kap 712 Dabei ist die oratio hier nicht eins zu eins mit dem Begriff der oratio in De meditando gleichzusetzen dies ist ein generelles Problem bei dem Versuch aus den Werken Hugos einheitliche Begriffsdefinitionen zu destillieren ndash oftmals werden Begriffe mehrfach belegt und erscheinen gerade in systematischen Abhandlungen die eigentlich von Begriffsschaumlrfe abhaumlngig sind zuweilen an verschiedenen Stellen ein und desselben Systems mit anderen Konnotationen Vgl zB De contemplatione wo dies mit dem Begriff der contemplatio geschieht oder in De modo orandi wo oratio einmal als uumlbergeordnete Kategorie und einmal als Unterkategorie der supplicatio in Form der pura oratio erscheint13 Hugo benutzt hier das Schriftwort bdquoJe mehr der Mensch seine Fehler erkennt desto mehr seufzt und klagt er (Pred 118)ldquo Compunctio bzw contritio bezeichnet die aufrichtige traumlnenreiche Reue und Zerknirschung die den Auftakt jedes Gebets sein sollten Siehe Chr Swift A Penitent Prepares Affect Contrition and Tears in E Gertsman (Hg) Crying in the Middle Ages Tears of History New York 2012 S 79ndash101 Vgl dazu auch S Grosse Heilsungewiszligheit und Scrupulositas im spaumlten Mittelalter Studien zu Johannes Gerson und Gattungen der Froumlmmigkeitstheologie seiner Zeit Tuumlbingen 1994 S 181ff Sie ist Teil der religioumlsen Praxis und erhaumllt ab dem beginnenden 13 Jh einen festen Platz als Teil des Beichtsakraments ab dem 15 Jh erfaumlhrt sie innerhalb dieses institutionalisierten Gebrauchs eine starke Bedeutungszunahme sogar die der eigentlichen satisfactio uumlberfluumlgelnd

272 Anselm Rau und Johanna Scheel

betsarten ebenfalls mit drei Unterkategorien ausgestattet werden Die Begrifflichkeiten sind der antiken Rhetorik entlehnt an der Hugo seine Rhetorik des Gebets entwickelt indem er auf eine sehr anwendungsbezogene Weise bestimmte Affekte in sie einbindet Die captatio ndash eine Unterart der supplicatio ndash soll beispielsweise in der antiken Rhetorik eine emotional positive Einstimmung des Angesprochenen ndash im Gebet waumlre dies Gott ndash bewirken14 bei Hugo dient sie jedoch daruumlber hinaus stark der eigenen emotionalen Vorbereitung des Betenden Die Gebets-worte haben nach Hugo ausdruumlcklich die Funktion im Betenden diejenigen Affekte entstehen lassen die der Bitte entsprechen

Form ndash Intention ndash Emotion

Dass festgelegte traditionelle Gebetsworte vorgegeben sind wiederspricht dieser Funktion dabei in keinster Weise Hugo zeigt dies daran dass er gerade Psalmentexte benutzt um seine Vorstellungen von affectus und davon wie dieser im Gebet erzeugt werden kann zu entwickeln (Kap IV) Waumlhrend die richtige (rhetorische) Form der Bitte fuumlr die Ansprache Gottes wichtig sei sei sie fuumlr den Betenden einerseits notwendig damit er sein eigenes Gebet besser verstehen koumlnne er nochmals in der meditatio uumlberlege worum er bitte und vor allem damit er dadurch noch hingebungsvoller mit staumlrkerer devotio bete Erst durch diese vollkommene Hinwendung der Seele des Betenden zu Gott in hingebungsvollem Affekt (affectus devotionis) wird seine Zu-stimmung erreicht Durch die Worte werde dem Beter seine Bitte und sein Zustand staumlrker bewusst er werde zum Affekt gebracht der Affekt in denselben Worten ausgedruumlckt und durch diese noch staumlrker entflammt bdquoQuaecunque ergo sunt verba orantis absurda non sunt si tan-tummodo ad hoc competenter proferri possint ut vel orantis affectum ad amorem Dei excitent vel (quod amplius est) si jam amore ejus flagrat excitatum demonstrentldquo15 Hier wird der Kern des Traktats formuliert Die Form des Gebets wird in Relation zu Intention und Emotion ge-setzt wodurch Hugo einerseits zu der Aussage kommt dass je groumlszliger die Emotion werde sie sich desto weniger in artikulierten Worten ausdruumlcken lieszlige16 Andererseits kann er zeigen dass das Verhaumlltnis von Wort und Emotion ein vielschichtiges und sich gegenseitig amplifizierendes ist Die Gebetsworte werden danach ausgesucht welchem Ziel und Affekt sie dienen sollen Im Gebet gesprochen vergegenwaumlrtigen sie oder erinnern sie den Betenden an bestimmte Affekte sie erwecken und verstaumlrken diese soweit dass zuletzt ebendiese Worte zum Affektausdruck des Beters werden Der Betende eignet sich damit fremde Worte durch den Affekt an und macht

14 ZB in De inventione von Cicero (1 17) oder RhetoricaAuctor ad Herennium (1 6) so Hugo von St Viktor (1997) S 166 Anm 28 (cf Anm 6) Vgl zur captatio ebenso B Wessel Art Captatio benevolentiae in Historisches Woumlrterbuch der Rhetorik hg v G Ueding Bd 4 Tuumlbingen 1998 Sp 121ndash12315 bdquoAber auf keine andere Weise wird Gott zur Zustimmung gebracht als wenn die Seele des Betenden in gaumlnzlich hingebungsvollem Affekt zu ihm selbst hingewandt wird Wie auch immer die Worte des Gebets sind so sind sie nicht nutzlos wenn sie ihm nur passender vorgetragen werden koumlnnten damit sie entweder den Gebetsaffekt zur Liebe Gottes entflammen oder was besser ist wenn die Liebe schon brennt sie die Erregung zeigtenldquo16 bdquoDer Affekt hat naumlmlich die Eigenschaft dass je groumlszliger und gluumlhender er im Inneren ist er desto weniger aumluszligerlich durch die Worte ausgedruumlckt werden kannldquo

Meditation und Gebet 273

sie zu seinen eigenen Das gesprochene Gebet ist so uumlber seinen affektiven Effekt auf den Beter definiert Als Beispiel benutzt Hugo Schriftworte vornehmlich Psalmen bdquoJeder Einzelne also waumlhrend er im Gebet entweder Psalmen oder irgendwelche anderen Schriften singt soll sorg-faumlltig bedenken welchem Affekt sie dienen moumlgen und durch ganze Anstrengung sein Herz zu jenem Affekt erregen Er sagt das was ihm besser zu dienen scheint denn wenn er den Affekt erregt durch die Worte die er sagt erkennt er durch den Affekt selbst besser die Kraft der Worte Er erwirbt die Einsicht und entzuumlndet durch die Einsicht der Worte umso mehr den hingebungsvollen Affektldquo (Kap V)

Psalmen ndash Wort und Affekte

Die lebenspraktische Erklaumlrung der Gebetsaffekte in De modo orandi ist bemerkenswert klar Weil in den Affekten die ganze Kraft des Gebets liege zaumlhlt Hugo beispielhaft aus den unend-lichen Affekten (Kap VII) neun von ihnen auf die er ebenfalls kurz definiert und gruppiert zunaumlchst die Affekte der Zuneigung Bewunderung und Mitfreude17 dann die Affekte der De-mut des Leides und der Furcht sowie zuletzt die Affekte der Entruumlstung der Eifersucht und der guten Erwartung Diese Gruppierungen werden jeweils auf verschiedene Schriftgattungen bezogen aus denen sie entstehen koumlnnen ndash so werden einer Gattung die zur Erinnerung des Ungluumlcks bzw der eigenen Fehler anregt drei dieser Affekte zugeordnet naumlmlich Demut die aus der Erinnerung der eigenen Fehler erwaumlchst Leid aus der Erinnerung vergangener und gegenwaumlrtiger Fehler sowie Furcht aus dem Gedanken an zukuumlnftige Vergleichbare Zuord-nungen finden sich dort auch fuumlr die uumlbrigen Affekte

Nun verknuumlpft Hugo diese mit konkreten Beispielen aus den Psalmen (Kap VII) bdquoAus dem Affekt der Zuneigung (dilectio) heraus wird Ps 182 gesungen sbquoIch will Dich ruumlhmen Herrlsquo Aus dem Affekt der Bewunderung (admiratio) heraus wird Psalm 8[2]10 gesungen sbquoHerr unser Herrlsquo Aus dem Affekt der Mitfreude (congratulatio) heraus wird Ps 472 gesungen sbquoIhr Voumllker allelsquo Und in allen diesen ist LobAus dem Affekt der Demut (humilitas) heraus wird Ps 312 gesungen sbquoHerr ich suche Zufluchtlsquo Aus dem Affekt des Leids (dolor) heraus wird Ps 131 gesungen sbquoWie lange noch Herr vergisst Du mich ganzlsquo Aus dem Affekt der Furcht (timor) heraus wird Ps 62 gesungen sbquoHerr strafe mich nicht in deinem Zornlsquo Und in all diesen ist die Fuumlrbitte mit einer Klage vermischtAus dem Affekt der Entruumlstung (indignatio) heraus wird Ps 523 gesungen sbquoWas ruumlhmst Du Dich Deiner Bosheitlsquo Aus dem Affekt des gerechten Eifers (zelus) heraus wird Ps 941 gesungen sbquoO Herr Gott der Vergebunglsquo Aus dem Affekt der guten Erwartung (bona praesumptio) heraus wird Ps 261 gesungen sbquoVerschaffe mir Recht o Herrlsquoldquo

17 Affectus congratulationis wird als Gegenpol zur compassio verstanden

274 Anselm Rau und Johanna Scheel

Hugo zeigt hier wie einerseits aus dem Affekt ein bestimmter Psalm gesungen wird Er kom-plettiert damit was er bei der Aufzaumlhlung staumlrker betonte naumlmlich aus welchen Psalmen ein Affekt erwaumlchst und gleichzeitig wie die Worte zu denjenigen der eigenen Bitte und zum Af-fektausdruck werden

Mischung und Uumlberblendung von Affekten

Allerdings wird nicht innerhalb eines Psalms je nur ein Affekt ausgedehnt sondern oftmals geht dort ein Affekt in den anderen uumlber Sie werden gemischt oder loumlsen sich kontinuierlich ab (Kap VIII) Ein Beispiel hierzu Aus der meditatio der eigenen Fehler und Gottes Barm-herzigkeit bricht man durch den Affekt des Schmerzes in die Worte aus bdquoHerr wie zahlreich sind meine Bedraumlnger so viele stehen gegen mich auf viele gibt es die von mir sagen Er findet keine Hilfe bei Gottldquo Dies sind die ersten Verse aus Psalm 3 Aus dem Affekt des Schmerzes der dadurch staumlrker entflammt und ausgedruumlckt wird kehrt der Betende mit dem naumlchsten Vers des Psalms 3 auf den Affekt der guten Erwartung zuruumlck und sagt bdquoDu aber Herr bist ein Schild fuumlr michldquo Damit wird der Schmerz von Vertrauen gelindert und der eine in den andere Affekt uumlberfuumlhrt

Die Psalmenworte vergegenwaumlrtigen oder erinnern hier an den Affekt und werden danach angewandt zugleich sind sie Anreiz und -ausdruck der vielfaumlltigen Palette wandelbarer Affekte

Diese Definition in De modo orandi ist fuumlr das Verstaumlndnis der Affekte innerhalb des Ge-bets im gesamten Mittelalter als grundlegend anzusehen Aus kunsthistorischer Sichtweise ist die Beschaumlftigung mit dieser Schrift daher nicht nur unerlaumlsslich um mittelalterliche Bildwer-ke die fuumlr den Bildbetrachter als Hilfsmittel fuumlr sein Gebet konzipiert wurden praumlziser kon-textualisieren zu koumlnnen Vielmehr ist die in De modo orandi dargelegte Reflexionsstruktur auf die Rezeption von Werken der bildenden Kunst uumlbertragbar

Das Lignum vitae

Ein Beispiel fuumlr die konkrete Anwendung der Evozierung von affectus bei Gebet und Medita-tion wie von Hugo von St Viktor konzipiert stellen die Meditationen des Lignum vitae Bona-venturas und dessen bildliche Umsetzung dar18 In seinen viel rezipierten Werken De triplici

18 Bonaventura Lignum vitae in Opera omnia Quaracchi 1848 Bd 8 Im Folgenden wird auf die lateinische Edition von Quaracchi mit dem Kuumlrzel LV verwiesen Wird nicht die eigene Uumlbersetzung verwendet ist die Grundlage M Schlosser Baum des Lebens Geistliche Betrachtungen St Ottilien 2012 Weitere deutsche Uumlbersetzung bei A Aswerus Der Lebensbaum Zuumlrich 1963Die Rezeption der Schriften Hugos bei den Franziskanern ist bekannt gerade die Verbreitung der hier besprochenen Texte Vgl Goy (cf Anm 1) S 530ndash532 In Italien und auf der iberischen Halbinsel sind mit 170 Texten nur ca 7 der Gesamtuumlberlieferung von Hugos Werken zu finden allerdings faumlllt bei den Handschriften italienischer Provenienz die bdquofuumlhrende Stellung der Franziskaner als Tradentenldquo auf Vgl ebd S 530 Die Houmlhepunkte der Tradierung liegen im 13 und 15 Jh vgl ebd S 559ndash564 bes S 563

Meditation und Gebet 275

via in dem er sein auf dem Gedankengut des 12 Jahrhunderts beruhendes Verstaumlndnis von meditatio oratio und contemplatio darlegt und dem Itinerarium mentis in Deum wendet sich Bonaventura der Formung der Seele des Menschen fuumlr den Aufstieg zu Gott zu19 Gerade aber das Lignum vitae hat maszliggeblich in seiner konkreten Form die Passionsmeditation des spaumlten Mittelalters beeinflusst20

Deutlich ist hervorzuheben dass Bonaventura diese Meditationsschrift zu Kindheit und Leben Passion und AuferstehungVerherrlichung Christi auf Grundlage mnemotechnisch strukturierter Modelle der monastischen Meditationspraxis konzipierte Der Entwurf Bona-venturas sieht die Anordnung der Meditationen anhand eines Baumschemas vor als struktur-gebende Schablone fuumlr das Einpraumlgen dieser im Herzen21 Da die Vorstellungskraft (imaginatio) die Einsicht (intelligentia) unterstuumltzt gibt Bonaventura die konkrete die Intention verdeutli-chende Anweisung bdquodescribe igitur in spiritu mentis tuae arboremldquo22 Die Meditationen selbst dienen zur Entflammung des Herzens in liebendem Empfinden zur Formung des Denkens und zur Einpraumlgung in das Gedaumlchtnis (accendatur affectus formetur cogitatus imprimatur memoria) Somit wird auch hier die Formung des Denkens durch den affectus herausgestellt23 Nach dem Entwurf Bonaventuras besitzt der Baum zwoumllf Zweige an denen jeweils vier kurze Strophen die Einleitungen bzw Uumlberschriften zu den einzelnen Meditationen angebracht sind die immer zusammen genommen eine Frucht hervorbringen So umfasst das gesamte Schema 48 Meditationen die in einer Reihenfolge von unten nach oben insgesamt zwoumllf zu erreichende Fruumlchte oder auch tugendhafte habitus hervorbringen sollen24

Die rasche und vielfaumlltige visuelle Umsetzung der Baumstruktur zeugt von der Popula-ritaumlt der Meditationen des Lignum vitae eine der heute wohl bekanntesten Darstellungen stammt von Pacino di Bonaguida der jeder einzelnen Meditation ein Bildmedaillon zuordnete

19 Bonaventura De triplici via Opera omnia Quaracchi 1948 Bd 8 S 19ndash27 ndash Bonaventura Itinerarium mentis in Deum Opera omnia Quaracchi 1891 Bd 5 S 293ndash316 ndash vgl hier auch die kritischen Edition und die Darstellung der inhaltlichen Grundkonzeption Bonaventura De triplici via Uumlber den dreifachen Weg latdt uumlbers u eingel v M Schlosser Freiburg iBr [ua] 1993 ndash Bonaventura Itinerarium mentis in Deum ndash Der Pilgerweg des Menschen zu Gott latdt uumlbers u erl v M Schlosser mit einer Einleitung von P Zahner Muumlnster 200420 R Preisinger Lignum vitae Zum Verhaumlltnis materieller Bilder und mentaler Bildpraxis im Mittelalter Paderborn 2014 21 Zu den Schablonen und dem Einpraumlgen dieser ins Herzen vgl M Carruthers Moving Images in the Mindrsquos Eye in J Hamburger M-A Boucheacute (Hgg) The Mindrsquos Eye Art and Theological Argument in the Middle Ages New Jersey 2006 S 294 FN 24 zu den Anweisungen Hugos in De arca noe S 292ndash29422 LV Prolog S 6823 Ebd24 Die uumlberkommenen Traktate belegen die angedachte Konzeption zur Verinnerlichung der einzelnen Meditationen die Uumlberschriften als Responsorium mit dem Kehrvers O crux fructus salvificus zu singen vgl hierzu M Sensi Lrsquoallegoria della Croce nel monastero di SantrsquoAnna a Foligno in B Ulianich U Parente (Hg) La Croce Iconografia e interpretazione Bd 3 La croce nella liturgia NeapelRom 2007 S 392 ebenso Preisinger (wie Anm 20) S 36ndash42

276 Anselm Rau und Johanna Scheel

(Abb 1)25 In kuumlnstlerischen Darstellungen diente das Lignum vitae als visuelle Unterstuumltzung sowohl fuumlr den Gesang als auch gerade zur Strukturierung von Predigt und Meditation26 Ein Groszligteil der Bilder zum Lignum vitae binden den Text in Form der Uumlberschriften der einzelnen Meditationen ein Eine solch detailreiche Ausgestaltung wie etwa bei Pacino ist bei den uumlber-lieferten Beispielen keine Regelmaumlszligigkeit Damit belegt allein schon das Bild selbst dass das

25 Jedoch darf diese Tatsache nicht uumlber die tatsaumlchliche Anwendung hinwegtaumluschen Auf die Diskussion um die Bildwerke zum LV kann hier nicht dezidiert eingegangen werden Die juumlngsten Publikationen zum Lignum vitae mit der entsprechenden Literatur zur Forschungslage sind Preisinger (cf Anm 20) und U Ilg Quasi lignum vitae The Tree of Life as an Image of Mendicant Identity in P SaloniusA Worm (Hgg) The Tree Symbol Allegory and Mnemonic Device in Medieval Art and Thought Turnhout 2014 S 187ndash212 ndash Siehe die Kritik an der bisherigen Auseinandersetzung mit dem Lignum vitae und seinen Darstellungen in der 2015 abgeschlossenen Dissertation von A Rau Imagination und Emotion Bildstruktur und Emotionalisierungsstrategien in der monastischen Meditation und das bdquoModell Franziskusldquo sowie A Rau Im Wechselbad der Gefuumlhle ndash das Lignum vitae in Imago 4 (2015) erscheint November 201526 L Bolzoni The Web of Images Vernacular Preaching from its Origins to Saint Bernardino da Siena Aldershot 2004 S 154ff

Abb 1 Pacino di Bonaguida Lignum vitae Florenz Galleria delllsquoAccademia um 1310 258x151cm

Meditation und Gebet 277

eigentliche affizierende Potential in der Steuerung der imaginatio des LesersBetrachters durch den Text der Meditation und des Gebet selbst liegt27

Innerhalb der jeweils einer Frucht zugeordneten vier Meditationen ist ein Aufbau und Uumlbergang festzustellen ebenso sind in der Regel die Fruumlchte durch die letzte Meditation der vorangegangenen und die erste der folgenden miteinander verknuumlpft Allen gemein ist dass zu Anfang einer jeden Frucht die in den ersten zwei Fruumlchten ausgebildeten Grundtugenden caritas und humilitas als Ausgangspunkt genommen werden Diese beiden sind wie bereits von Augustinus betont die Grundtugenden aus denen alle weiteren erst hervorgehen koumlnnen28 Die einzelnen Meditationen zeichnen sich durch das Fokussieren auf eine tugendhafte Haltung Christi aus Diese verdeutlicht er entweder selbst in einer emotionalen seinen Habitus aus-druumlckenden Disposition oder weiteres biblisches Personal reagiert als Exempel fuumlr den LeserBetrachter des Lignum vitae auf die ihm so bdquovisualisertenldquo Geschehnisse um Christus So ent-stehen Imaginationsfiguren die das Handeln (operatio) bestimmen sollen Geleitet wird die Meditation des Betrachters durch die eindruumlcklichen Schilderungen der Begebenheiten aus dem Leben Christi in Kombination entweder direkter Ansprachen an seine Seele wie er sich verhalten was er sich als Vorbild nehmen soll oder durch in die Meditation selbst eingefuumlgte Gebetstexte welche die Affizierung entweder stuumltzen oder direkt hervorbringen koumlnnen

Die Meditationen der ersten vier Fruumlchte (Geburt Kindheit Wirken Christi) charakteri-sieren das Lignum vitae wie schon bei Hugo und in den Meditationsmodellen des 12 Jahrhun-derts als dezidiertes Reue- und Buszligschema Dies verdeutlicht allein schon die formale Anlage da sich hier vorwiegend Anweisungen zu habituellen emotionalen Dispositionen des Lesers finden Die Einmuumlndung dieser Meditationen in die Schilderung des letzten Abendmahls kon-kretisiert die Verbindung zwischen der logischen Anlage eines sukzessive aufgebauten Medita-tionsschemas die Notwendigkeit seiner fortdauernden Anwendung und somit den praktischen Bezug zum religioumlsen Leben Reue und Buszlige sind die notwendige Grundvoraussetzung fuumlr die Teilhabe an der Opferfeier des Messgeschehens es hebt die Meditationspraxis als fortdauernde Uumlbung der Affekte und Tugenden als staumlndige Gewissenspruumlfung hervor und kennzeichnet den Menschen ab diesem Punkt als muumlndigen Meditanden und Beter

So aumlndert sich dann ab der fuumlnften Frucht zu den Passionsmeditationen auch der Auf-bau Hier werden konzentriert einzelne orationes in die einzelnen Meditationen eingeflochten Bemerkenswert ist bei den fast als propaumldeutisch zu verstehenden Meditationen der ersten vier Fruumlchte findet sich eine sehr uumlberschaubare Anzahl von Psalmzitaten waumlhrend sie hier als personalisierte Gebete des LesersBetrachters gehaumluft auftreten Gezielt werden sie in den Meditationen der geschilderten Situationen und Peinigungen Christi eingesetzte um die com-passio zu erregen Hieran laumlsst sich die unmittelbare und entscheidende Zusammenwirkung

27 Bezuumlglich einer eingehenden gerade auch sprachlichen Untersuchung der Meditationen des Lignum vitae das affektsteuernde Potential herausarbeitend siehe abermals Rau (wie Anm 25)28 K Pansters Profectus Virtutum From Psalm 838 to David if Augsburgrsquos Profectus religiosorum in Studies in Spirituality 18 (2008) S 170 Zur Thematik weiterfuumlhrend N Baumann Die Demut als Grundlage aller Tugenden bei Augustinus Frankfurt 2009

278 Anselm Rau und Johanna Scheel

von meditatio und oratio beobachten die in Kombination die Lenkung der geordneten affectus bestimmen

Die von Hugo in De meditando angemahnte Unterscheidung und Betrachtung des Guten und Boumlsen findet in den Meditationen des Lignum vitae seine konkrete differenzierte Anwen-dung Heben die ersten vier Fruumlchten dezidiert Reue und Buszlige des MeditierendenBetenden und gerade die Schlechtigkeit des Menschen gegenuumlber Christus hervor so zeigen die Medita-tionen zur Passion Christi (5ndash8) die Betrachtung des Boumlsen und des Guten dahingehend wie das Boumlse in Gestalt der Peiniger Christi auf diesen einwirkt und wie Christus selbst oder wei-teres positiv konnotiertes biblisches Personal reagiert Die Grundlage des hier geforderten Mit-leidens mit Christus ist die bei den vorangegangenen Meditationen ausgearbeitete compassio Christi mit den Suumlndern Demuumltig ausgerichtet und damit ausgebildet am mitfuumlhlenden Vor-bild Christi kann der LeserBetrachter uumlber die imaginatio in der Meditation und dem Gebet hier zum Mitleidenden ausgebildet werden Zuerst wird also die demuumltige Emotionalitaumlt ob der eigenen Schlechtigkeit dem eigenen Boumlsen im Abgleich mit dem guten Vorbild in Christus herausgebildet und daraufhin die Affekte in den Meditationen zur Passion Christi an Christus selbst zum Mitleiden konstituiert

Als Beispiel der dezidiert auf die Affizierung ausgerichteten Anlage seien die Meditationen der fuumlnften Frucht umrissen Gegenstand (res) ist hier die Betrachtung von Christi Vertrauen (confidentia) in der Gefahr und umfasst die vier Meditationen zu Judasrsquo Verrat Christi Gebet auf dem Oumllberg der Umzingelung Christi durch die Haumlscher und seiner Gefangennahme29 Propaumldeutisch wird dem Verrat Judasrsquo dem abgrundtief Boumlsen (nequissum) die geradezu pa-radox erscheinende und dadurch Staunen und Bewunderung erweckende (o mira) Guumlte (be-nignitas) und Sanftmut (mansuetudo) Christi gegenuumlbergestellt30 Dieses Thema beherrscht alle Meditationen dieser Frucht und ist begleitende Grundlage aller folgenden Darstellungen der Misshandlung Christi Judas wird typologisch als lasterhafter Gegenpart zum tugendhaften Idealbild Christi stilisiert Sein Verrat gruumlndet in seiner cupiditas und bestimmt von seinen niedersten Trieben ist er die Personifikation von perfidia (Treulosigkeit Gewissenlosigkeit) in-gratitudo (Undankbarkeit) und duritia (Hartherzigkeit)31 Die angemahnte Betrachtung des Guten und des Boumlsen legt als klassisches System der Gegenuumlberstellung von Tugenden und Lastern anzustrebende bzw abzulehnende habitus durch die Ausrichtung der affectio dar

Signifikant zeigt sich die Affizierung anhand der uumlber die lectio sich konstituierende me-ditatio aufgrund der imaginierten Begebenheit in Verbindung mit der oratio die wiederum ihren Ausdruck in den Psalmen findet Als Ausweis der inneren Verletzlichkeit seiner mensch-lichen Natur (in natura sensibili)32 ist die Schilderung von Christi Gebet auf dem Oumllberg zentral Ob der Vorstellung des Todes (imaginatio mortis) die in seine empfindsame Seele eindrang wird er von affectus umschlungen (complexabatur affectu) Seine innere Bewegtheit wird mit den Tropfen blutigen Schweiszliges die seinen Koumlrper hinab rannen verdeutlicht der Affekt der

29 LV 517ndash20 S 75ndash7630 LV 517 S 7531 Ebd32 LV 518 S 75ndash76

Meditation und Gebet 279

Furcht (anxietas) als Empfindung steigt zwar in seinem Geist auf (in spiritu) der Nachvoll-zug erfolgt jedoch uumlber die aumluszligeren (imaginierten) Zeichen33 Die Meditation laumlsst den Leser darauf fragen bdquoO Herrscher und Herr Jesus woher kommt diese furchtbare Angst deiner Seele und dein angstvolles Flehen Hast du denn dem Vater dein Opfer nicht mit freiem Willen ge-brachtldquo34 Die Erklaumlrung folgt sofort Fuumlr die Bestaumlrkung des Glaubens hat Christus wahrhaft die sterbliche Natur angenommen damit der Mensch Hoffnung schoumlpfen kann sollte er aumlhn-liche Bedraumlngnis und Furcht erleiden denn aufgrund der Hoffnung richtet der Mensch seine Liebe auf Christus das Ziel wiederum willentlich (voluntas) aus Die offenkundigen (aumluszligeren) Zeichen des Leids in Christi menschlicher Natur sind das entscheidende Kriterium fuumlr die selbstreflexive Erkenntnis des LesersBetrachters Es ist die Erkenntnis dass Christus wahr-haftig die Schmerzen und das bittere Leid der Menschen mit fuumlhlbarer (sensu) Pein durchlitten hat35 Die Schilderung der Todesangst Christi ist damit Grundlage der im ersten Satz der fuumlnf-ten Frucht geforderten inneren Teilhabe (pii considereare) fuumlr die compassio den Nachvollzug seiner noch weiterhin zu durchleidenden koumlrperlichen wie seelischen Pein36

Diese Erkenntnis stuumltzt nun das ergaumlnzende Beten der Psalmen da diese einerseits die geforderten Affekte und den Affektreiz bekraumlftigen zugleich aber auch das selbstreflexive Moment herausarbeiten Die seelische Bedraumlngnis Christi auf dem Oumllberg wird begleitet und sozusagen von der Schilderung des Verrates Judasrsquo und der Bedraumlngung durch die Haumlscher umrahmt und aufgrund des Einbindens der Psalmen 38 41 und 55 in genau diese Meditationen zu einem inhaltlich kongruenten Gebet gestaltet Alle drei Psalmen wobei besonders Psalm 55 zitiert wird (Verse 13ndash15) nehmen Bosheit Verrat und Bedraumlngnis durch Freund und Feind in den Blick Hierdurch werden gerade das Verlassensein und das Ausgeliefertsein gegenuumlber den Misshandlungen in den Vordergrund gestellt die beschriebene Furcht Christi begleitet und durch das personalisierte Gebet zur emotionalen Ausrichtung des Beters selbst Nicht allein der einzelne Psalmvers wird dabei gebetet sondern ganz der mnemotechnischen Konzeptuali-sierung verpflichtet bildet der Vers den Ausgangspunkt und schlieszligt die Betrachtung und das Gebet des gesamt Psalms mit ein37 Der Klage uumlber den Vertrauensbruch durch den Freund (Ps 5513 ebenso Ps 3813 und Ps 41) und der Bedraumlngnis durch Frevler an deren Haumlnden Blut klebt (Vers 24) geht in Analogie zu Christi Gebet zum Vater auf dem Oumllberg die Anrufung Gottes voraus er moumlge das Beten und Flehen erhoumlren (exaudi orationem meam deprecationem meam)

33 Ebd34 Schlosser (wie Anm 19) S 51 LV 52 S 7635 LV 52 S 76 ndash Bereits Bernhard von Clairvaux formulierte Gott bot den Zugang zu sich selbst uumlber die Affekte weshalb die Inkarnation notwendig war um die affectiones des Menschen zuruumlckzugewinnen vgl B von Clairvaux Sermones super canticum canticorum 205 in Bernhard von Clairvaux Saumlmtliche Werke latdt hg v G Winkler Innsbruck (1996) Bd 5 S 28428536 LV 517 S 75 Nochmals abschlieszligend wird dies als identifikationsstiftendes Vorbild am Ende (vierte Meditation fuumlnften Frucht) mit dem Bild der gefesselten Haumlnde des unschuldigen Lammes und dem eingeforderten Stoumlhnen und der Beschreibung des durchdringenden Schmerzes der die Herzen der Juumlnger bei diesem Anblick durchstach (doloris aculues discipolorum vorda penetravit) vor Augen gestellt Vgl LV 520 S 7637 Zur Mnemotechnik allgemein M Carruthers The Book of Memory A Study of Memory in Medieval Culture Cambridge [ua] 122006 Zu beachten sind ebenso F A Yates The Art of Memory London 1966 M Evans The Geometry of Mind in Architectural Association Quarterly 124 (1980) S 32ndash55

280 Anselm Rau und Johanna Scheel

(Vers 1ndash8) Dabei wird die Angst (conturbatus sum) das Beben des Herzens in der Brust und das Befallenwerden vom Schrecken des Todes beschrieben (cor meum conturbatum est in me et formido mortis cecidit super me) ebenso das Erfasstsein von Furcht Zittern Schaudern und Entsetzen (timor et tremor venerunt super me et contexerunt me tenebrae) Der Nachvollzug der emotionalen Disposition Christi wird durch die kalkulierte Verknuumlpfung mit Psalm 38 zu-gleich ebenso zur detailreichen Klage in Furcht und Schrecken ob der eigenen Suumlndhaftigkeit Judas stellt natuumlrlich fuumlr den Abgleich das Negativbeispiel Doch im Gegensatz zu ihm zeigt der Betende in seiner demuumltigen Hinwendung zu Gott in Schmerz und Furcht das in ihn gesetzte Vertrauen das auch Jesus unter Beweis stellte Die Psalmen bieten hierfuumlr das passende Mittel der notwendigen Ausrichtung in der affectio

Ein interessanter Punkt sei in Bezug auf die Ausfuumlhrungen in De meditando hinsichtlich des Eifers (zelus) fuumlr die gerechte Sache noch genannt Die Sanftmut Christi wird gerade da-durch vor Augen gefuumlhrt dass er im Sinne des immerfort zur Vergebung bereiten Gott seinen Haumlschern guumltig begegnet da er sich seinen Peinigern nicht im Zorn (ira) verschloss (Ps 7710)38 Er haumllt naumlmlich sogar seinen Verteidiger ndash in der exegetischen Tradition Petrus vor allem dann auch in der bildenden Kunst ndash zuruumlck und bremst dessen gerechten zelus sein rechtmaumlszligiges eigentlich tugendhaftes eifersuumlchtiges Streben fuumlr das geliebte Objekt und heilt sogar ein abge-schlagenes Ohr Dieser Eifer der wie in De meditando beschrieben ohne Hinterlist ist nicht aus Ignoranz (repraumlsentiert durch die HaumlscherPeiniger) gegenuumlber der Wahrheit (in Christus) hervorgegangen zeigt die gute Absicht die durch Beharrlichkeit ans Ziel fuumlhrt und laumlsst somit die Liebe nicht lau werden Petrus wird als Identifikationsfigur installiert und am Ende aber-mals Judas entgegen gehalten Letzterer wurde zwar schlieszliglich aufgrund seiner Tat von Reue ergriffen jedoch war er nicht faumlhig durch die Hoffnung auf das Gute Christus Vergebung zu ersehnen und wurde von Bitterkeit (amaritudo) erfuumlllt so dass er den Tod und nicht das ewige Leben ersehnte

Meditationsschemata werden gerne aufgrund der ihnen innewohnenden Abfolge als starre Konstrukte und allein auf einen miszliginterpretierten geistigen Aufstieg abzielend hin verstan-den Doch beweist gerade das Lignum vitae eine hohe Flexibilitaumlt fuumlr den alltaumlglichen Gebrauch und zudem die eigentliche Intention die Formung von affectus

Gerard Zerbolt van Zutphen

Das stufenweise emotionale Gebet und die Meditation begegnen ebenfalls ndash allerdings weniger stark schematisiert als im Lignum Vitae ndash in einem Standardwerk der niederlaumlndischen Froumlm-migkeitsliteratur des 15 Jahrhunderts In De spiritualibus ascensionibus stellt Gerard Zerbolt

38 Im Tugend- und Lastersystem ist die Unterscheidung von zelus ira und furor sehr entscheidend bezuumlglich des guten und schlechten Strebens und damit hinsichtlich rationalen Ordnung des Geistes Zum tugendhaften und lasterhaften Zorn und seiner Aspekte vgl Richard von St Viktor Benjamin minor 40ndash44 PL 196029-033 ndash Gerade bei der Verurteilung Christi durch Pilatus (LV 624 S 77) wird das Thema der rasenden Wut (zelus invidiae) und des gerechte Zorns (zelus iustitia) nochmals differenziert

Meditation und Gebet 281

von Zutphen ein Autor der devotio moderna handbuchartig sein Aufstiegsmodell dar39 Darin vermittelt er seinen Mitbruumldern und einem frommen Laienpublikum ein ausgekluumlgeltes System von geistigen Uumlbungen die sich nicht nur auf den eigentlichen Gebetsakt beziehen sondern habituell im Alltag Anwendung finden sollen indem sie eine Transformation des Menschen be-wirken Er geht dabei von dem uumlblichen zeitgenoumlssischen theologischen Anthropologiemodell der Seele als durch Suumlnde verschmutzte imago Dei aus und stuumltzt sich auf bekannte moraltheo-logische Emotionstheorien die er jedoch stark ausweitet indem er den Emotionen eine genaue Funktion und eine Schluumlsselrolle im Erkenntnisprozess zuweist Die formula meditandi40 be-schreibt Gerard als inhaltlich verschieden konnotierte Selbstuumlberpruumlfungen in der die dadurch produzierten Emotionen wie Zerknirschung (compunctio bzw contritio) Furcht (timor) oder Hoffnung (spes) nicht nur bewusst gemacht sondern produktiv umgewandelt werden um zu Instrumenten und Stufen des weiteren Aufstiegs zu werden41 Diese Aufstiege sind ein Prozess der Selbsttransformation des Menschen der sich vollzieht indem der Mensch sowohl seinen urspruumlnglichen Zustand diese Transformation selbst als auch die Erfahrung seiner Veraumlnde-rung mit den erreichten Stufen emotional (ex affectu) erkennt (cogitare) und fuumlhlt (sentire)42 Aumlhnlich wie bei Hugo von St Viktor formuliert Gerard dass der Betende immer einen Affekt und ein Verlangen (desiderium) annehmen solle die zu den aktuellen Uumlbungen oder Medita-tionen passe43 Die Selbsttransformation im geistigen Aufstieg wird nach Gerard ebenso im uumlb-lichen Schema der lectio meditatio und oratio geuumlbt und an verschiedenen materiae meditandi44 vollzogen Die Affekte werden anhand dieser materiae erzeugt katalysiert und in das Gebet

39 Die Schrift (im Folgenden De Spir Asc) wird zitiert nach der Edition von F J LegrandN Staubach (Hgg) Gerard Zerbolt von Zutphen De Spiritualibus Ascensionibus La monteacutee du coeur Turnhout 2006 Vgl zur affektiven Konnotation von Gerards Gebetssystematik M Goossens De meditatie in de eerste tijd van de moderne devotie HaarlemAntwerpen 1954 Er stellt den Affekt als Wesensmerkmal des Gebets bei Gerard fest ebd S 118 Zur Einbindung der Schrift innerhalb der Gebetstheorien der Devotio Moderna und zum Stellenwert der affektiven Selbstreflexion auch in Beziehung zu zeitgenoumlssischer Kunst vgl J Scheel Das altniederlaumlndische Stifterbild Emotionsstrategien des Sehens und der Selbsterkenntnis Berlin 2014 bes S 155ndash171 230ndash241 414ndash42640 De Spir Asc Kap 641 Gerard spricht synonym von Aufstiegsstufen und affectus zB in Kap 27 bdquoIn hac prima ascensione vel primo affecto [hellip]ldquo Oder er benennt Affekte wie Hoffnung und Furcht als Stufen bdquo[hellip] istis duobus gradibus timoris et spei [hellip]ldquo Kap 26 Insgesamt benutzt er die Vokabeln affectus und affectio synonym zwar begegnet in Bedeutung von Strebevermoumlgen meist affectio und ersetzt also die vires durch die affectiones animae besonders wenn es um lasterhafte Affekte geht doch werden die einzelnen Affekte durchgehend als affectus nicht als affectio bezeichnet42 De Spir Asc Kap 643 Das Gebet solle nie bloszliges Lippenbekenntnis sein sondern immer aus der Wurzel des Herzens verfolgt werden und zwar stets aus den Affekten der Furcht Trauer Freude Bewunderung Dankbarkeit etc bdquo[hellip] ex affectu timoris meroris dilectionis admiracionis congratulationis etcldquo De Spir Kap 46 Diese Affektreihe stimmt mit derjenigen bei Hugo in De modo orandi uumlberein siehe oben S 273f44 Diese sind zunaumlchst die bekannten Meditationsinhalte wie man sie allenthalben in theologischer Literatur des Mittelalters findet Leben und Passion Christi das Juumlngste Gericht und die eigene Todesstunde (diese bspw bereits in Bonaventuras De Triplici Via Kap 3) Bei Gerard werden ebenfalls Houmllle und Himmelreich sowie die eigenen Suumlnden und Wohltaten Gottes eingeschlossen sowie das eigene Selbst in dem und waumlhrend des Gebets Zum Kontext der neuen Meditationswuumlrdigkeit des eigenen Selbst in den Lehren der Devotio Moderna vgl Scheel (cf Anm 39)

282 Anselm Rau und Johanna Scheel

uumlberfuumlhrt Dies macht Gerard wie Hugo anhand des Psalmengebets anschaulich indem er einerseits beispielhaft zeigt wie ex affectu ein Psalm gebetet wird waumlhrend er gleichzeitig bei vorheriger Thematisierung der lectio dessen Erregung durch die Lektuumlre betont

bdquoWenn du dich in deiner ersten Uumlberpruumlfung diskutiert hast und entdeckst dass deine Suumlnden zahlreicher sind als die Zahl des Sandes der Meere forme in dir den Affekt der Demut oder Trauer und nimm die Rolle (persona) eines Dieners an der seinen Herrn beleidigt hat Aus diesem Affekt heraus forme ein Gebet und sage sbquoGott sei mir gnaumldig nach deiner Huld tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmenlsquo (Ps 503) Wenn du in der zweiten und dritten Uumlberpruumlfung dich selbst diskutierend bemerkst dass dein Herz mit schlechten Begierden und boumlsen Verlangen gefuumlllt ist forme in dir wiederum den Affekt der Demut und nimm die Rolle eines Kranken an der nach Medizin fragt und sage sbquoHerr sei mir gnaumldig heile mich denn ich habe gegen dich gesuumlndigtlsquo (Ps 405) oder sbquoNichts blieb gesund an meinem Leib weil du mir grollst weil ich gesuumlndigt blieb an meinen Gliedern nichts heillsquo (Ebd) etc Wenn du dich im zweiten Aufstieg in Furcht durch Meditationen des Todes und des Gerichtes oder der Houmllle uumlbst nimm den Affekt der Furcht ein und die Rolle eines Suumlnders vor dem Richter an in Angst und Zittern als seist du schon uumlberfuumlhrt und der Richtspruch gegen dich gesprochen und sage sbquoVerdamme mich nicht Herr gehe nicht ins Gericht mit deinem Dienerlsquo (Ps 1422) oder sbquoHerr in deiner Wutlsquo (Ps 62) etc Wenn du dich aber in Hoffnung uumlbst durch die memoria des Him-melreiches nimm den Affekt der Liebe an und bete mit innigem Herzen und sage sbquoIch erstrebe eines Herr dieses wuumlnsche ich dass ich in dem Haus des Herrn wohnen darflsquo (Ps 264) oder sbquoWie der Hirsch lechzt nach frischem Wasserlsquo (Ps 412) etc Und ebenso kannst du mit anderen Affekten jene aus diesen formen und musst du die Rolle annehmen die deine Uumlbung erfordert und deine Meditation verlangtldquo45

Uumlber Hugo hinausgehend wird hier dem Betenden empfohlen sich konkrete Szenarien und personae zu imaginieren um die gewuumlnschten Affekte einzuuumlben Die Psalmenbeispiele mit den zugeordneten Affekten uumlberschneiden sich bei beiden Autoren bei Psalm 6 (timor) so-wie Psalm 26 (Gerard spes Hugo bona praesumptio)46 Besonders bei der Einuumlbung von timor und der Erwaumlhnung des Richtspruches in Kombination mit den Buszligpsalmen 6 und 142 stehen unmittelbar zeitgenoumlssische Darstellungen des Weltgerichts bzw der Auferstehung der Toten vor Augen wie man sie in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern in Kombination mit eben jenem Buszligpsalm 6 aber auch in der altniederlaumlndischen Malerei findet47 Psalmen koumlnnen zu den

45 bdquoUnde breviter ut modum habeas secundum predicta si te in prima examinacione discusseris et inveneris peccata tua multiplicata super numerum arene maris forma in te affectum humilitatis vel meroris et assume personam servi qui dominum suum offendit Et ex tali affectu forma oracionem dicens Secundum multitudinem miseracionum tuarum dele iniquitatem meam [hellip] Si te in secundo ascensu in timore per meditaciones mortis vel iudicii vel inferni exercueris assume affectum timoris et assume personam rei astantis coram iudice cum timore et tremore quasi iam convictus contra quem de iure proferenda est sentencia et dic Noli me condemnare Non intres in iudicium cum servo tuo Vel Domine ne in furore etc [hellip] Et sic de aliis affectibus quos ex istis formare poteris et assumere debes sicut exercicium tuum exigit et meditacio tua requiritldquo De Spir Asc Kap 4646 Zu den Psalmen die Hugo als Beispiele benutzt siehe oben S 273f47 Vgl dazu J Scheel Sich selbst sehen ndash der Betrachter in und vor dem Bild Spiegel- und Stifterfiguren in Texten und Bildern des 15 Jahrhunderts in E KochH Schlie (Hgg) Orte der Imagination ndash Raumlume des Affekts Die mediale Formierung des Sakralen Muumlnchen 2015

Meditation und Gebet 283

bdquototal memoriertenldquo48 Texten des Mittelalters gezaumlhlt werden weswegen sie sich beiden Autoren als Beispiele anbieten Sie benutzen die Buszligpsalmen (hier die Psalmen 6 31 [Hugo] 50 142) die im Stundenbuch fest als eigenstaumlndiger Gebetstext verankert sind und ebenso in der To-tenvigil ihren Platz haben ndash zusammen mit Gerards weiteren Beispielpsalmen 40 und 4149 Das Stundenbuch ist ein Medium in dem Psalmwort und bildliche Darstellung auf die Theorie des stufenweisen emotionalen Gebets und der Selbsttransformation treffen koumlnnen

Die Miniaturen die der Totenvigil bspw in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern des 15 Jahr-hunderts voranstehen zeigen oftmals eine ganzseitige Totenmesse sowie in der M-Initiale der gegenuumlberliegenden Textzeile50 zwei betende einander zugewandte Seelen im Fegefeuer (vgl

48 Zu diesen Texten gehoumlrten bspw das Pater Noster oder Ave Maria waumlhrend denen gleichzeitig auch uumlber bestimmte Aspekte zB der Passion meditiert werden konnte und sollte vgl P Saenger Books of Hours and the Reading Habits of the Later Middle Ages in R ChartierA Boureau (Hgg) The Culture of Print Power and the Uses of Print in Early Modern Europe Cambridge 1989 S 141ndash173 hier S 154 Bei den Psalmen genuumlgt wie man hier sieht allein die Nennung des Incipit oder bestimmter Verse die dem Leser so vertraut sind dass sie den gesamten Psalmentext mit assoziieren49 Zwar ist der Einsatz von Psalmen in mittelalterlichen Stundenbuumlchern mitunter verschieden doch kann man beispielhaft an einer Gruppe von Stundenbuumlchern in niederlaumlndischer Sprache diese Psalmen finden Diese Stundenbuumlcher sind mit der Uumlbersetzung des Gruumlndungsvaters des Devotio Moderna Geert Grote versehen oder stehen mit ihr in Verbindung N van Wijk Het getijdenboek van Geert Groote Naar het Haagse handschr 133 E 21 Leiden 1940 diese hauptsaumlchlich anhand einer einzigen Handschrift erarbeitete Edition wird hier in Ermangelung einer kritischen Edition genutzt Das getijdenboek enthaumllt einen Kalender des Bistums Utrecht fuumlnf Offizien (Marienoffizium Heiliggeistoffizium das lange und kurze Heiligkreuzoffizium Stunden der ewigen Weisheit) Buszligpsalmen Litanei und Totenvigil 50 Es ist der Beginn des invitatorium bdquoMi hebben ombeuanghen die suchten des dodes die pijnlike seer der hellen heben mi ombeuanghenldquo Wijk (cf Anm 49) S 156 ndash bdquoMich haben umfangen die Seufzer des Todes die qualvollen Schmerzen der Houmllle haben mich umfangenldquo

Abb 2 Meister des Hugo Jansz van Woerden Totenmesse und Seelen im Fegefeuer ca 1475ndash1500 Den Haag Koninklijke Bibliotheek Ms 76 G 13 fol 85vndash86r

284 Anselm Rau und Johanna Scheel

Abb 2)51 Das Fegefeuer bespricht Gerard eher marginal in seinem Traktat Fuumlr die affektive Meditation des eigenen Todes liefert er allerdings einerseits eine Anleitung fuumlr den Betenden die Affekte nun bereits zu erwecken die vor waumlhrend und nach dem eigentlichen Todeszeit-punkt entstuumlnden ndash und sich mit ihnen im Gebet selbst zu formen52 Andererseits raumlt er dem Glaumlubigen sich zum Zwecke des ex affectu-Gebets einen Koumlrper in seinen Verwesungsstadien vor Augen zu halten53 und was mit ihm selbst bei der Beerdigung passiere54 Das Fegefeuer ist ein im Sinne mittelalterlicher Moraltheologie produktiver Gebetsinhalt da der Glaumlubige im steten Oszillieren zwischen spes und timor besonders gut zur caritas aufzusteigen vermag Diesen Tenor findet man ebenfalls bei Geert Grote in seinem getijdenboek bei der Vorrede der Toten-vigil Hier raumlt er dem betenden Leser zum Wechsel aus Psalmen und Antiphonen in Hinblick auf die Erregung von Furcht und Angst Liebe und Hoffnung in der Ausrichtung auf Gut und Boumlse und mit Blick auf das Fegefeuer bdquoHier beginnt die Vigil in duytsche die so organisiert ist denjenigen zu helfen die von hinnen gefahren sind in der Freundschaft Gottes in das Fegefeuer Und ebenso dazu [gedacht ist] den Lebenden zu helfen die sie lesen damit ihnen das Wissen um die kommenden Dinge eingedruumlckt werde auf dass sie glauben hoffen und lieben an die Dinge in Herrlichkeit Und [sie] sich dafuumlr bereit machen und sich waumlhrenddessen die ganze Zeit fuumlrchten dass ihre Tage schnell vergehen Auf dass sie sich fuumlrchten aumlngstigen grauen und beben vor dem mannigfaltigen Leid der Angst und dem Elend die den Boumlsen ereilen werden und sie so darum ihr Leben lang ndash das hier aumluszligerst kurz ist ndash darauf hinarbeiten diesem Leid zu entgehen und [die Vigil ist auch hilfreich] weil ein Mensch diese beiden Dinge ndash Gutes in Liebe und Boumlses in Angst ndash besser ansehen (aensien) kann und erkennen und sich uumlberdenken damit er besser bitten kann und [es] mehr begehrt (begheert) und mehr liebt (myn[n]t) fuumlr diejenigen zu bitten die im Fegefeuer sind fuumlr ihre baldige Erloumlsung und dafuumlr Gottes Ehre zu vermehren [hellip] So hilft das Bitten der Lebenden den Toten und das Bitten fuumlr die Toten hilft den Lebendigen sich auf den Tod vorzubereiten [hellip] Und dazu ist das Singen dieser Psalmen heranzuziehen [und zwar] immer nach den Bedeutungen der Antiphone und den Sinn der

51 Die Darstellung von Seelen im Fegefeuer taucht als Buchillumination ab dem 13 Jahrhundert bereits vereinzelt auf und diente in Kombination mit Jenseitsvisionen Bibeltexten und moralisierenden Inhalten vor allem dem Gedenken an bereits Verstorbene wie auch zur persoumlnlichen Mediation des Lesers Oft findet eine narrative Einbindung statt Vgl dazu M Borowska Das Entfachen des Fegefeuers in der europaumlischen Miniatur des 13 Jahrhunderts in Umeni 57 (2009) S 310ndash325 Zum ikonografischen Kontext der hier gewaumlhlten Illumination vgl die Untersuchung von I M Veldman Purgatory in the Low Lands in B BukovinskaacuteL Slaviacuteček (Hgg) Pictura verba cupit Essays for Lubomiacuter Konečnyacute Prag 2006 S 169ndash180 va 170ndash17252 De Spir Asc Kap 19 In den folgenden Kapiteln stellt Gerard dem Leser dasselbe Prinzip an den Themen des Juumlngsten Gerichts der Houmllle und des Himmelreiches vor 53 bdquoItem interdum propone oculis tuis ymaginem alicuius hominis morientis et diligenter respice formam modum et ordinem quibus ad mortem deveniturldquo De Spir Asc Kap 1954 Weitere beliebte Illustrationen zum Totenoffizium im Stundenbuch des 15 Jahrhundert sind ebenfalls die Darstellung eines Toten um dessen Seele Engel und Teufel kaumlmpfen Schaumldeldarstellungen Seelen in Abrahams Schoszlig Himmel und Houmllle der Tod als Angreifer die Auferweckung des Lazarus sowie die Psychostasis mit Michael als Seelenwaumlger Diese Motive werden eher als ganzseitige Miniaturen dargestellt und bekommen zum Teil in der begleitenden Initiale jene zwei betenden Seelen im Fegefeuer hinzugefuumlgt

Meditation und Gebet 285

Antiphone soll man dazu in den Psalmen bedenken in allen Stundengebeten Dabei ist gut dass man sowohl vor als auch danach die Antiphonen spreche und schreibeldquo55

Mit der sich gegenseitig amplifizierenden Kombination von selbstreflexiven Affekt er-regendem und ausdruumlckendem Psalmentext mit der bildlichen Darstellung von Beerdigung mit Fegefeuer und mit derartigen Aufstiegsmodellen vertraut kann der betende Leser hier den eigenen Tod und die Bestrafung seiner Seele als Konsequenz der eigenen irdischen Suumlndhaftig-keit produktiv in seine Bemuumlhungen des geistigen Aufstiegs und seine Selbsttransformation kanalisieren

Imagination und Illumination

Das Gebetsleben des mittelalterlichen Glaumlubigen ist gekennzeichnet durch seine Affektivitaumlt Die affectus werden mit Gebetstexten und Psalmenreihen sowie mithilfe bildlicher Darstel-lungen sorgfaumlltig kultiviert und systematisch eingeuumlbt Dabei sind dies altbekannte ndash weil biblische ndash Text- und Bildinhalte deren affizierendes Potential auf neue Arten ausgeschoumlpft wird Texte und physische wie gerade geistige Bilder erinnern den Betenden nicht nur unver-bindlich an bereits bekannte Ereignisse Situationen und Figuren sondern lassen ihn sich mit diesen durch affektive und reflexive Meditationspraktiken identifizieren Fremde Worte und Emotionen werden darin zu den eigenen Vorbilder aus dem Kreis der Heiligen werden so zu Imaginationsfiguren das Selbst wird auf Gott ausgerichtet und in all seinen Aspekten gezielt emotional reflektiert So unterschiedlich die formale Herangehensweise dieser Praktiken bei den drei untersuchten Autoren Hugo von St Viktor Bonaventura und Gerard Zerbolt van Zutphen zu sein scheint vermitteln sie doch die selbe zentrale Maszliggabe oratio est affectus ndash bdquoGebet ist Affektldquo

Uumlbersetzung Hugo von St Viktor De meditando PL 176 993ndash99

Die Meditation ist die haumlufige Erwaumlgung (cogitatio) der Ursache (causa) und des inneren Be-weggrundes (ratio) eines einzelnen zu untersuchenden Gegenstandes (res) was seine Art sei (modus) was die Ursache und was der Beweggrund

Es gibt drei Arten (genus) der Meditation eine in Bezug auf die Schoumlpfung (in creaturis) eine hinsichtlich der Schrift (in scripturis) und eine hinsichtlich der Sitten (in moribus) Die erste erwaumlchst aus der Bewunderung (admiratio) die zweite aus der Lektuumlre (lectio) die dritte aus der umsichtigen Beobachtung (circumspectio)

Zuerst bringt die admiratio die Frage (quaestio) hervor die Frage das Erforschen (investi-gatio) und das Erforschen die Entdeckung (inventio) Dies ist damit die Bewunderung der Ord-

55 Fuumlr den altniederlaumlndischen Text vgl Wijk (cf Anm 49) S 155 Zum Antiphon das der Vigil vorangestellt ist vgl Anm 50

286 Anselm Rau und Johanna Scheel

nung (dispositio) die Frage nach der Ursache und die Entdeckung des inneren Beweggrundes Die Bewunderung beruht auf der Betrachtung der Ordnung im Himmel das ist die Gleich-artigkeit von allem und der Houmlhen und der Tiefen (alta et depressa) auf der Erde Die Frage betrifft die Ursache (causa) des irdischen Lebens auf Erden und des himmlischen Lebens im Himmel Das Erforschen fragt nach dem inneren Beweggrund dass so wie die Erde auch das irdische Leben beschaffen ist und dass der Beschaffenheit des Himmels selbst auch das himm-lische Leben gleicht

Bei der Lektuumlre (lectio) aber erfolgt die Betrachtung (considerare) folgendermaszligenAls erstes dient die lectio dazu durch die Bereitstellung des Stoffes (materia) die Wahr-

heit zu erkennen (cognoscere) die meditatio fuumlgt ihn zusammen (coaptare) die oratio hebt ihn empor (sublevare) die operatio (Ausfuumlhrung) wendet ihn an (componere) und die contemplatio frohlockt in ihm selbst (exsultare)

Es ist durch die Meditation der Schriften zu erkennen auf welche Weise es sich gehoumlrt etwas zu wissen Als Beispiel steht geschrieben Declina a malo et fac bonum (Vg Ps 3627 ndash Wende dich ab von dem Boumlsen und tue Gutes EUuml Ps 3727) Deshalb wurde zuvor gesagt die meditatio wendet sich der lectio zu um sich vom Boumlsen abzuwenden und darauf Gutes zu tun Der Grund (causa) hierfuumlr ist wenn sich nicht zuerst das Boumlse zuruumlckzoumlge wuumlrde das Gute nicht herantreten koumlnnen Der innere Beweggrund (ratio) aber ist so wie zuerst die Sproumlsslinge des Boumlsen mit ihrer Wurzel ausgerissen werden muumlssen so muss danach das Gute (ein-)ge-pflanzt werden Warum wurde daher gesagt Wende dich ab von dem Boumlsen Weil es einem auf dem Weg begegnet Man wendet sich deshalb ab weil wir es wo auch immer nicht vermoumlgen durch Staumlrke zu widerstehen wir entkommen ihm lediglich wenn wir uns mit Klugheit und Vernunft (consilio et ratio) von ihm abwenden Auch muumlssen wir uns vom Boumlsen abwenden um dem Naumlhrstoff (materia) zur Suumlnde aus dem Weg zu gehen ndash beispielsweise ist von Hochmut (superbia) Begehrlichkeit (incontinentia) Begierde (concupiscentia) Neid (invidia) und Streit (contentio) abzulassen um sich vom Reichtum (abundantia) der Schoumlnheit (species) des Flei-sches und der Besitzgier (amor possessiones) abzuwenden Dies bedeutet bdquosich abzuwendenldquo Desgleichen wenn auf diese Weise von allem Boumlsen sich abzuwenden angeraten ist so wird die Verrichtung alles Guten verlangt Und so ist also der ebenso schuldig bzw angeklagt der allein nur alles Boumlse meidet wie derjenige der nicht zugleich all das Gute tut Aber wenn dies so ist wer ist dann kein Angeklagter (reus) Folglich wird uns anbefohlen uns von allem Boumlsen loszusagen Andererseits kommt das Gute zum Einen aus dem was sich gehoumlrt (necessitas) und zum anderen aus dem Willen (voluntas) Es gehoumlren sich die Dinge einer Vorschrift (praecep-tum) und die eines Geluumlbdes (votum) alles uumlbrige wird erfuumlllt wenn eine Sache [also Schuld] mehr als nur vergolten wird (supererogare) und einem nichts mehr anlastet

Daher zielt die Meditation bei der lectio darauf ab zu ergruumlnden auf welche Weise et-was das erkannt wird gut ist warum und wie es zu erreichen ist weil es ndash ist es [ersteinmal] erkannt ndash auch zu verrichten ist Die Meditation ist das Entdeckungsvermoumlgen der vorgefassten Absicht (excogitatio consilii) zu erwaumlgen auf welche Weise das Gute das erkannt wurde erfuumlllt wird denn das Erkannte ist unbrauchbar wird es nicht vollbracht

Deshalb ist die Meditation bei der lectio eine dreifache Betrachtung nach der historia der allegoria und der tropologia Gemaumlszlig der historia erfolgt die Meditation wenn wir nach dem

Meditation und Gebet 287

vollendeten inneren Beweggrund der Dinge fragen die geschehen sind und diesen hinsichtlich seiner uumlbereinstimmenden Art und Weise (modus) bezuumlglich der Zeiten (tempora) und Orte (loci) bestaunen (admirare) Bei dieser Betrachtung der goumlttlichen Ratschluumlsse (iudicium) laumlsst man nicht davon ab daruumlber nachzudenken dass diese richtigen und gerechten (rectus et iustus) Entscheidungen zu keiner Zeit den Beistand [Gottes fuumlr die Menschen] entzogen (deesse) und durch sie das geschah was sich gehoumlrte und vergolten wurde was gerecht war (iustum fuit)

Die Meditation hinsichtlich der allegoria beschaumlftigt sich mit der Gliederung (dispositio) der vorangegangenen und zukuumlnftigen Dinge und so wie fuumlr den Verstand (intelligentia) an-gemessen richtet sie dabei ihre Aufmerksamkeit auf deren uumlbereinstimmende Bedeutung in ihrer bewundernswerten Vernunftmaumlszligigkeit (ratio) und Vorhersehung (providentia) und auf ihre fuumlr den Glauben (fides) geschaffene Gestalt (forma)

Bezuumlglich der tropologia beschaumlftigt sich die Meditation damit welche Frucht die Worte der lectio hervorbringen und erforscht (exquirere) was diese wenn sie ausgefuumlhrt werden [im Sinne des eigentlichen Aussprechens der Worte aber auch die Ausfuumlhrung ihres Inhaltes] ein-pflanzen (insinuere) und dabei zugleich lehren was zu vermeiden ist Sie stellt vor Augen was durch die lectio der Schrift zur Unterweisung (eruditio) zur Ermahnung (exhortatio) zur Troumls-tung (consolatio) und zum Schrecken (terror) dient Hierdurch erleuchtet die tropologia dahin-gehend was zum Verstehen der Tugenden (virtus) fuumlhrt sie naumlhrt (nutrire) den Affekt (affectio) und lehrt (edocere) die Lebensfuumlhrung auf dem Pfad der Tugenden

Die Meditation der Sitten (mos) erfolgt gemaumlszlig der Affekte (affectus) der Erwaumlgungen (cogi-tationes) und der Werke (opera)

Hinsichtlich der Affekte ist zu betrachten wie sie recht und aufrichtig (rectus et sincerus) zu sein vermoumlgen damit ist gemeint auf das und zu was hin sie geschuldet sein muumlssen und in welcher Weise sie zu sein haben Zu differenzieren ist naumlmlich dass das was sich nicht gehoumlrt (non oportet) boumlse ist und zugleich das was sich gehoumlrt zu lieben ist ndash das zu lieben das sich gleichwie nicht gehoumlrt ist boumlse Daher handelt es sich um einen guten Affekt wenn er auf das ausgerichtet ist auf das er verpflichtet ist und in der Weise wie es sich gehoumlrt

Amnon liebte (diligere) seine Schwester und dies war der Affekt zu dem er bestimmt war doch weil er Boumlses begehrte war es nicht der Affekt wie er ihn schuldete (vgl 2 Sam 13) So kann der Affekt auf das gerichtet sein zu was er gehoumlrt dies aber nicht in der [angemessenen] Art und Weise Niemals aber kann der Affekt so sein wie er zu sein hat wenn er nicht auf das ihm Zugehoumlrige ausgerichtet ist Auf das ausgerichtet zu was er gehoumlrt bedeutet dass er recht ist und in der Art und Weise wie es sich gehoumlrt und dementsprechend ist er rein Daher werden die Affekte in den Erwaumlgungen betrachtet damit sie rein (mundus) und geordnet (ordi-natus) sind Rein sind sie wenn weder etwas Boumlses von den Affekten hervorgebracht wird noch das Boumlse die Affekte hervorbringt Dass sie geordnet sind meint wenn sie vernuumlnftigerweise aufgrund des ihnen eigenen Anlasses (suo tempore) aufkommen (advenire) Es ist nicht ohne Schaden (vitium) [naumlmlich im Sinne des korrekten Vorgehens nicht ohne Formfehler] bereits das Gute zu einem diesem nicht angemessenen Zeitpunkt zu erwaumlgen wie etwa an die lectio waumlhrend der oratio zu denken oder auch an die oratio waumlhrend der lectio

Bei den Werken ist als erstes zu betrachten was zum Beispiel durch die gute Absicht (bona intentio) geschieht Um eine gute Absicht handelt es sich wenn sie einfach und aufrichtig ist

288 Anselm Rau und Johanna Scheel

(simplex et recta) Die bona intentio ist arglos ohne Hinterlist (malitia) und aufrichtig ohne Ignoranz (ignorantia) Die naumlmlich ohne Hinterlist ist besitzt den Eifer (zelus) Ist sie aber aus der [bewussten] Unkenntnis gegenuumlber dem Wissen (scientia) (Roumlm 102) geboren verfuumlgt sie nicht uumlber den [wahren] Eifer Daher ist es notwendig dass die Absicht aufrichtig ist in der Bescheidenheit (discretio) und arglos im Wohlwollen (benignitas) Bei den Werken ist zu be-trachten dass sie aus der aufkommenden guten Absicht heraus mit beharrlicher Leidenschaft (fervor) schlieszliglich ans Ziel gefuumlhrt werden damit nicht die Beharrlichkeit (perseverantia) ge-laumlhmt (torpere) und die Liebe (amor) nicht lau wird (tepescare)

Auf gleiche Weise erfolgt die meditatio der Sitten in einer zweifachen Betrachtung naumlmlich einer inneren und einer aumluszligeren Die aumluszligere blickt auf das Ansehen (fama) die innere auf das Gewissen (conscientia) Die aumluszligere Betrachtung erfolgt gemaumlszlig dem was ziert (decere) und was nuumltzt (expedire) was als Beispiel (exemplum) dient und was den Lohn (meritum) hervorbringt ndash uns zum Lohn und den Naumlchsten als Beispiel Die innere Betrachtung dagegen schaut auf das Gewissen damit es rein (mundus) sei ohne Anklage (accusatio) zu erleiden (pati) ob nun durch die Laumlhmung (torpor) des Guten oder die Hartnaumlckigkeit (praesumptio) des Boumlsen Rein ist aber jenes Gewissen das weder durch das Vergangene zu recht angeklagt (accusare) noch durch das Gegenwaumlrtige unrechtmaumlszligig erfreut (delectare) wird

Daher laumlsst die meditatio der Sitten ihre Betrachtung nicht ruhen damit sie jegliche Re-gungen (motus) die sich im Herzen erheben bemerkt und erwaumlgt woher sie kommen und worauf sie abzielen (tendere) Das heiszligt woher sie kommen gemaumlszlig ihrem Ursprung und wo-nach sie streben hinsichtlich ihres Ziels Alles ist naumlmlich eine Bewegung aus irgendetwas und auf irgendetwas Die Bewegungen des Herzens sind manchmal offenkundigen Ursprungs manchmal entspringen sie aber auch Verborgenem Bei denen der Ursprung offenkundig ist ist er bisweilen durch das Gute bisweilen aufgrund des Boumlsen erwiesen Was offenkundig gut ist kommt von Gott was aber deutlich boumlse erscheint entspringt entweder dem Teufel oder dem Fleisch Dies sind naumlmlich die drei Urheber (auctores) aller Vorstellungen (suggestio) und aller Eingebungen (aspiratio) die unsichtbar an das Herz herantreten und aus jenen drei hervor-gehen Entspringen die Bewegungen des Herzens daher dem Verborgenen koumlnnen sie manch-mal aus dem Guten und dem Geheimen hervorgehen und sind manchmal boumlse und zweifelhaft (dubius) Die dem Guten entspringen kommen von Gott die aber dem Boumlsen entstammen sind entweder des Teufels oder des Fleisches

Die Bewegungen die folglich offenkundig sind sei es im Guten oder Boumlsen werden auf den ersten Blick durch ihren Ursprung angezeigt Jene aber die zweifelhaft bleiben hinsichtlich ih-res Grundes sind am Ende zu uumlberpruumlfen (probare) Ihr Ergebnis [oder Ausgang] (exitus) zeigt naumlmlich deutlich was vom Ursprung her verborgen war und deswegen muss derjenige der es nicht vermochte den Ausgangspunkt seiner Herzensbewegungen zu beurteilen (iudicare) das Ziel und die Ausfuumlhrung [bzw Vollendung] (finis et consummatio) untersuchen (investigare) Die Bewegungen naumlmlich die zweifelhaft und ungewiss sind sind vom verborgenen Guten oder Boumlsen Wie gesagt wurde haben die schlechten Regungen ihren Ursprung entweder beim Teufel oder im Fleisch Diese aber sind beide boumlse sie unterscheiden sich nicht indem oder durch was sie boumlse sind doch unterscheiden sie sich dahingehend dass die Regungen des Her-zens die dem Fleisch entspringen haumlufig aus einer Notwendigkeit (necessitas) heranwachsen

Meditation und Gebet 289

die aber die tatsaumlchlich vom Teufel kommen nehmen noch oumlfter wider der Vernunft (ratio) ihren Anfang (oriri) Was naumlmlich vom Teufel eingegeben wird (suggerere) ist in der Tat dem Menschen fremd und wird deswegen haumlufig von der menschlichen Vernunft abgelehnt weil er beispielsweise unlaumlngst gesaumlttigt Hunger leidet (pati) kurz zuvor noch trunken (inebriatus) vor Durst (sitis) gluumlht (aestuare) oder wenn er nach einem ausgiebigen Schlaf (dormitio) sich erhebend vom Traum (somnus) bedruumlckt (praegravare) wird

Hieraus also werden die Werke des Teufels differenziert betrachtet weil sie ja an den Men-schen von auszligen herangetragen werden und der menschlichen Vernunft fremd sind Bei den Werken des Fleisches und ihren Eingebungen liegt der Grund des Oumlfteren in einer vorangegan-genen Notwendigkeit Aber weil sie Ziel und Maszlig (modus et mensura) uumlbersteigen wachsen sie zum Uumlberfluss (superfluitas) heran Dies ist als Beispiel eben gerade dann der Fall wenn nach der Einnahme einer Mahlzeit der Hunger hemmungslos (immoderatus) begehrt (appetere) und nach Enthaltsamkeit (abstinentia) das Maszlig (mensura) bei der Aufnahme von Speise (edulium) nicht gehalten wird

Daher wird die meditatio der Sitten aufgrund eines dreifachen Urteils betrieben Das erste urteilt zwischen Tag und Nacht das zweite zwischen Tag und Tag und das dritte schlieszliglich untersucht den gesamten Tag (vgl Roumlm 145) Zwischen Nacht und Tag zu urteilen meint das Boumlse vom Guten zu (unter-)scheiden Die Beurteilung zwischen Tag und Tag bedeutet eine Un-terscheidung zwischen etwas Gutem und etwas Besserem vorzunehmen Uumlber den gesamten Tag zu richten ist schlieszliglich das einzelne Gute fuumlr den eigenen Lohn zu ermessen (aestimare)

So hat die meditatio der Sitten bei jeglichem Umgang (conversatio) das Ziel und die Rich-tung (directio) im Blick Das Ziel ist wohin man strebt die Richtung wodurch man leichter ans Ziel gelangt Jeder naumlmlich der zu irgend etwas strebt so wie etwas seine Bahn (cursus) lenkt und unaufhoumlrlich weiterzieht kommt schneller ans Ziel Es gibt daher Gutes durch das man stark bewegt ist (moveri) zugleich gibt es aber wenig her durch das man vorankommt (pro-moveri) Anderes dagegen fuumlhrt mit etwas Muumlhe (labor) zu groszligem Gewinn (fructus) Und diese sind folglich zu unterscheiden und das Bessere das mehr nuumltzt auszuwaumlhlen Welches auch immer mehr nuumltzt ist besser und es gehoumlrt sich jedes Werk auf seinen Ertrag hin zu beurteilen Indem viele diese Unterscheidung (discretio) nicht einhielten haben sie sich zwar aufs aumluszligerste bemuumlht sind jedoch nur wenig vorangekommen weil sie das Auge aumluszligerlich so sehr auf die Gestalt (species) der Werke richteten und nicht innerlich auf den Gewinn durch die Tugenden blickten Sie ergoumltzen sich daran groszlige Taten zu verrichten anstatt dass sie das Nuumltz-liche (utilia) uumlben (exercere) um sich selbst zu bessern (emendari) Dabei schaumltzten (diligere) sie vielmehr das durch das sie den Anschein erwecken (videri) konnten [so zu sein]

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zunaumlchst das was man schuldet entweder auf-grund einer Vorschrift (praeceptum) oder eines Geluumlbdes (votum) Diesbezuumlglich ist die erste Tat der meditatio zu ermitteln ist sie oder es erfuumlllt fuumlhrt es zum Lohn und wenn nicht bringt dies den Anklagezustand (reatus) hervor Es sind also zuerst die Dinge zu tun die nicht ohne Schuld (culpa) weggelassen werden koumlnnen Danach ist die meditatio alsdann so zu verrichten dass wenn etwas durch freiwillige Uumlbung (exercitatio) noch hinzugefuumlgt wird die Pflicht-erfuumlllung [eigtl Schuld] (debitum) nicht verhindert wird (impedire) Die einen die das nicht zu leisten vermoumlgen was sie schulden wollen was sie nicht muumlssen Die anderen wenn sie im-

290 Anselm Rau und Johanna Scheel

stande sind zu tun was sie schulden bringen freiwillig Hindernisse (impedimentum) mit sich indem sie etwas wollen was sie nicht muumlssen

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zwei Dinge des Boumlsen vor denen man bei der Ver-richtung von Gutem besonders auf der Hut sein muss die Betruumlbnis [Niedergeschlagenheit] (afflictio) und die Besessenheit [Vereinnahmung] (occupatio) Die afflictio fuumlhrt zur Bitterkeit (amaritudo) die occupatio zur Zerstreuung (dissipatio) Mit der afflictio verbittert die Suumlszlige (dulcedo) des Geistes und mit der occupatio wird die Ruhe (tranquillitas) zerstoumlrt (dissipare) Es herrscht Betruumlbnis wenn man fuumlr jene Dinge die man nicht vermag aufgrund der eigenen Ungeduld (impatientia) ungluumlcklich wird (urere) Dagegen handelt es sich um Besessenheit (occupatio) wenn man in seinem Handeln (nach seinem Vermoumlgen) aufgrund der impatientia gequaumllt wird (agitare) Folglich darf die Seele (animus) nicht aufgrund des Boumlsen verbittert wer-den sie muss ihr Unvermoumlgen (impossibilitas) geduldig (patienter) aushalten Genauso darf sie aber auch nicht vom Boumlsen eingenommen werden und darf ihr Vermoumlgen (possibilitas) nicht uumlber ihr eigenes Maszlig hinaus ausdehnen (extendere) Daher muss die meditatio der Sitten in einer weiteren Betrachtung der Lebensfuumlhrung zu einem Urteil kommen und dabei billigen dass es weder gut ist die Dinge die man nicht vermag ungeduldig (impatienter) zu verlangen (appetere) noch die welche man erreicht toumlricht (insipienter) zu verschmaumlhen (fastidire) Wer naumlmlich immer das begehrt was er nicht vermag und das was er [jedoch] vermag verabscheut wird sich weder am Gegenwaumlrtigen erfreuen (frui) noch am Zukuumlnftigen saumlttigen (satiare) Er verlaumlsst naumlmlich das Gute unentwickelt vor der Vollendung und eignet sich das gerade erst Be-gonnene vorzeitig an Deswegen ist es gut aufgrund des eigenen Guten zufrieden zu sein und das gegenwaumlrtige Gute durch hinzukommendes Gutes zu vermehren und es nicht aufgrund des Zukuumlnftigen wegzuwerfen (abicere) Der Austausch (commutatio) des Guten ist naumlmlich ein Leichtes (levitas) seine Uumlbung (exercitatio) aber die Tugend Oft eilen sie auf unterschiedlichen Wegen die einen die ein fruumlheres durch ein neues Gutes fallen lassen (abicere) und die ande-ren die [sich] vom Untersten zum Houmlchsten emporschwingen (conscendere) Wer naumlmlich nach Veraumlnderung (mutatio) fragt ist uumlberdruumlssig (fastidiosus) so wie der der nach dem Voran-schreiten (profectus) strebt eifrig bemuumlht ist (studiosus) Am aufrechtesten beschreitet daher derjenige den Weg der dabei so auf das Bessere brennt (fervere) dass er des Guten nicht uumlber-druumlssig wird sondern es vorerst empor haumllt solange bis er es spaumlter zu der ihm angemessenen Zeit sich aneignet (apprehendere)

Abbildungsnachweis

Einband Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders

Farbtafeln 1 (zu Beitrag Rosenwein) Coll BNU de Strasbourg ndash 2 (zu Beitrag Ferguson) Ar-chiv der Verf ndash 3 (zu Beitrag Herding) Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preu-szligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders ndash 4 (zu Beitrag Droste) R Kahsnitz Die Groszligen Schnitzaltaumlre Spaumltgotik in Suumlddeutschland Oumlsterreich Suumldtirol Muumlnchen 2005 Taf 53 ndash 5 6 (zu Beitrag Schedl) 75 Jahre 1933ndash2008 Kirche Mutter vom Guten Rat Festschrift und Chro-nik FrankfurtM 2008 S 92 Dr Bernd Konrad Radolfzell ndash 7 8 9 (zu Beitrag Zaumlh) Archiv des Autors ndash 10 (zu Beitrag Niehr) Universitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Media-thek 11 12 (zu Beitrag Muumlller) Autorin ndash 13 14 15 (zu Beitrag Schlie) Su concessione del Ministero dei beni e delle attivitagrave culturali e del turismo ndash Galleria Nazionale delle Marche ndash Urbino Archivio fotografico Archiv der Verf F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 ndash 16 17 (zu Beitrag Stoichita) D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 ndash 18 19 20 (zu Beitrag Schmidt) London British Museum C Geissmar-BrandiE Louis (Hgg) Glaube Hoffnung Liebe Tod Wien 1995 S 149 Archiv Autor ndash 21 (zu Beitrag Jung) Autorin

Textabbildungen Droste 1 3 4 Autorin 2 E Oellermann Der Hochaltar in St Martin zu Lorch am Rhein in H KrohmE Oellermann (Hrsg) Fluumlgelaltaumlre des spaumlten Mittelalters Ber-lin 1992 Abb 2 ndash Ferguson 1ndash3 Archiv der Verf ndash Frese 1 2 3 5 M BrandtA Eggebrecht (Hgg) Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen Katalog der Ausstellung Hil-desheim 1993 Bd 1 S 386f Abb 197 u 198 Bd 2 S 583 KatNr VIIIndash32 S 604 KatNr IXndash8 4 G LutzA Weyer (Hgg) 1000 Jahre St Michael in Hildesheim Kirche ndash Kloster ndash Stifter Peterberg 2012 S 148 Abb 118 ndash Gruumlndler 1ndash4 L DomenicoA Nova (Hg) Leonardo da Vincirsquos Anatomical World Language Context and Disegno Akten der Internationalen Tagung Florenz 30ndash31 Mai 2008 Venedig 2011 S 237 S 236 S 241 S 186 5 6 Le journal de Jacopo da Pontormo traduit par Jean-Claude Lebensztejn avec la collaboration drsquoAlessandro Parronchi Paris 1992 S 46 S 50 ndash Herding 1 2 3 4 5 6 7 Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders 8 Max J Friedlaumlnder Early Netherlandish Painting 14 vols Leiden und Bruumlssel 1967ndash1974 vol II 1967 pl 10 Nr 3i 9 Wolfenbuumlttel Herzog-August-Bibliothek ndash Jung 1 2 3 4 5 Autorin ndash Kessler 1 6 7 Autor 2 3 Museo delle Terme Rom 4 British Museum London 5 Alexei Lidov ndash Maxwell 1 2 AHN 3 Autor 4 Sancho el Mayor y sus herederos ed I Bango Torviso et al 2006 cat 25 5 BNE ndash Muumlller 1 Italian painting c 1330ndash1550 I National Gallery in Prague II Collections in the Czech Repub-lic Illustrated summary catalogue Prag 2008 2 Collection of The John and Mable Ringling Museum of Art the State Art Museum of Florida Florida State University 3 2014 copy Archivio Fotografico ndash Fondazione Musei Civici di Venezia ndash Niehr 1 A Schuttwolf (Hg) Ausst-Kat Jahreszeiten der Gefuumlhle Das Gothaer Liebespaar und die Minne im Spaumltmittelalter Ostfil-

400 Abbildungsnachweis

dern-Ruit 1998 2 D de Vos Hans Memling Das Gesamtwerk AntwerpenStuttgart 1994 S 278ndash283 TH Borchert Hans Memling Portraits Stuttgart 2005 S 173f Nr 23 3 Univer-sitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Mediathek ndash Pfisterer 1 E Steinmann ldquoLa mano di Michelangeloldquo in Studien aus Kunst und Geschichte Friedrich Schneider zum siebzigsten Geburtstag Freiburg iBr 1906 unnum Taf 2 R Bernini ua La mano e il volto di Antonio Canova PossagnoQuinto di Treviso 2008 S 197 3 U Klein Zur Forschungsgeschichte des Duumlrer-Hauses in GU GroszligmannF Sonnenberger (Hgg) Das Duumlrer-Haus Neue Ergebnisse der Forschung Nuumlrnberg 2007 S 105 nach Carl A Heideloff Die Ornamentik des Mittelalters Bd 3 Nuumlrnberg 1847 S 42 4 WH Vroon Het wonderlid van Jan de Witt en andere vaderland-se relieken Nijmegen 1997 S 68 5 Autor nach GF Tomasini Petrarca Redivivus Padua sup21650 S 128 6 A Picturesque Tour Through Holland Brabant and Part of France made in the autum of 1789 by Samuel Ireland London sup21796 Bd 2 Taf nach S 13 ndash Pinkus 1 2 3 4 5 6 Autor 7 8 Institut fuumlr Kunstgeschichte Universitaumlt Wien Fotothek ndash RauScheel 1 M Gregori Uf-fizien und Palazzo Pitti Muumlnchen 1994 S 31 2 Den Haag Koninklijke Bibliotheek ndash Raeck 1 2 5 7 Fotothek des Instituts fuumlr Archaumlologische Wissenschaften AbtI Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main 3 Zeichnerische Rekonstruktion M Junghans nach H-V Herrmann Olympia ndash Heiligtum und Wettkampfstaumltte Muumlnchen 1972 Abb 95 4 Antikensammlung Staatliche Museen zu Berlin Foto Johannes Laurentius 6 W Riezler Weissgrundige attische Lekythen Muumlnchen 1914 Taf 23 8 Deutsches Archaumlologisches Institut Athen Fotothek ndash Reudenbach 1 F MuumltherichJE Gaehde Karolingische Buchmalerei Muumlnchen 1979 Taf 4 2ndash4 httpwwwbibliotheca-laureshamensis-digitalde (Zugriff 20022014) ndash Schmengler 1 2 3 Torsten Saumlnger Frankfurt 4 5 6 Eric Tschernow Berlin ndash Schedl 1ndash3 Dr Bernd Konrad Radolfzell 4 FrankfurtMain-Niederrad Pfarrarchiv der katholischen Kirchengemeinde Mut-ter zum Guten Rat ndash Schlie 1 Archiv der Verf 2 Archiv der Verf + D E Katz The Contours of Tolerance Jews and the Corpus Domini Altarpiece in Urbino in Art Bulletin 85 (2003) S 647ndash661 S 647 3 F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 Schmidt 1 2 London British Museum 3 M Geisberg Der Meister ES Leipzig 21924 4 Archiv Autor ndash Taxer 1 2 O Paumlcht Altniederlaumlndische Malerei Von Rogier van der Weyden bis Gerard David Muumlnchen 1994 Abb 91 S 118 Abb 93 S 120 3 4 E Panofsky Die altniederlaumlndische Malerei Ihr Ursprung und Wesen Bd 2 Koumlln 2006 Abb 387 S 236 Abb 358 S 214 ndash Stoichita 1 D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 2 3 J Bialostocki Les Museacutees de Pologne Bruxelles 1966 ndash Zaumlh 1 2 Archiv des Verf 3 Metropolitan Museum of Art Bulletin 58 (2001) S 17 4 G ForsythK Weitzmann The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai The Church and Fortress of Justinian Plates Ann Arbor (Mi) 1973 Plate 121

Meditation und Gebet 269

vom tropologischen Aspekt geleiteten Meditation der Sitten den Charakter und den Nutzen der Affekte Die tugendhafte Lebensfuumlhrung im Denken und Handeln konstituiert sich aus der Erkenntnis der nach der Vernunft geordneten und auf das Ziel Christus ausgerichteten rechtmaumlszligigen und reinen affectus Der Affekt als motus cordis ist in augustinischer Tradition untrennbar mit dem Willen (voluntas) als Vermoumlgen der Seele verknuumlpft Dadurch ist alles ge-ordnet nach der Vernunft ein Akt des Willens in strebendem Verlangen (cupiditas) oder in Furcht (timor) begruumlndeter Ablehnung und dessen Vollzug in Freude (laetitia) oder Trauer (tristitia)5 Aufgrund der tiefen postlapsalen Ambivalenz der Bewegungen des Herzens in dem was es liebt unbeherrscht nach der cupiditas und geordnet nach der caritas bedarf es zudem der umsichtigen circumspectio (Betrachtung) ob die affectus im Guten oder Boumlsen begruumlndet sind6 Konkret bedarf es der eindringlichen Betrachtung in der meditatio die den Ursprung der Affekte untersucht sowie den Antrieb (appetitus) des Willens7 Zu ergruumlnden ist also im Idealfall die bona intentio dh der rechtschaffene Anlass der affectus und der fuumlr sie unabding-bare auf das rechtmaumlszligige Ziel in unablaumlssiger Beharrlichkeit ausgerichtete Eifer (zelus) Bei der meditatio handelt es sich gewissermaszligen um die Begutachtung der Zielrichtung (directio) der affectus das heiszligt ausgehend von ihrem Ursprung uumlber den eigentlichen Vollzug bis schlieszliglich in ihrer Vollendung ein Abgleich mit dem angestrebten Objekt moumlglich ist Hierdurch bildet die Meditation und mit ihr auf dieser aufbauend die contemplatio den eigentlichen Denkprozess und zugleich seine Ergebnisse Affectus besitzt somit einen kognitiven Inhalt bzw die Kognition ist affektiv bestimmt der Affekt ist letztlich Ausgangspunkt Mittel und Ziel des Denkens da erst uumlber ihn die Angleichung an Gott in Christus moumlglich ist Letztlich kann Gott nur uumlber die Liebe erkannt werden

In De meditando ist es Hugo ein Anliegen anhand der fortwaumlhrenden Gegenuumlberstellung der Betrachtung bzw Ergruumlndung des Guten und des Boumlsen die Notwendigkeit der richtigen Reihenfolge der Gebetsschritte zu betonen sowohl was das strebende Verlangen nach dem Gu-ten betrifft als auch seine praktische Ausfuumlhrung Dies beweist der Anfangspunkt der inneren Gewissenspruumlfung als Prozess von Reue und Buszlige in der Abwendung von den Lastern und der damit verbundenen emotionalen Dispositionen Denn nicht die rein aumluszligerliche und theo-retische Betrachtung der guten Werke und das durch sie erworbene Ansehen sind nuumltzlich sondern die Betrachtung des inneren Gewinns durch die Tugenden Gutes zu unterlassen bleibt nicht ohne Schuld und ist als Fehler oder Schaden was die Struktur der meditatio betrifft so-wohl hinsichtlich des schematisierten Meditationsablaufes als auch bezuumlglich des persoumlnlichen

5 Augustinus De civitate Dei hg v B DombartA Kalb Turnhout 1955 pars II Civitas terrena et civitas caelestis 14 6 S 421 ndash ebenso Augustinus De civitate Dei (1955) pars II 14 7 S 422 Zur Theorie des Willens bei Augustinus siehe A Dihle The Theory of Will in classical Antiquity Berkeley[ua] 1982 S 123ndash1446 Circumspectio wird der Kardinaltugend der prudentia zugeordnet spaumlter dann gerade auch bei Thomas v Aquin vgl Ruh (cf Anm 2) S 373) Auszliger in De meditando vgl zur circumspectio bei Hugo von St Viktor De institutione novitiorum De virtute orandi De laude caritatis De arrha animae hg v H B FeissP SicardD Poirel Turnhout 1997 S 46 413ndash423 Fuumlr weitere Beschaumlftigung mit der Sicht Hugos auf die Tugenden siehe I vanrsquot Spijker Hugh of Saint Victorrsquos Virtue Ambivalence and Gratuity in I P BejczyR G Newhauser (Hgg) Virtue and Ethics in the Twelth Century Leiden 2005 S 75ndash94 ebenso in I vanrsquot Spijker The Multiple Meaning of Scripture The Role of Exegesis in Early-Christia and Medieval Culture Leiden 2009 S 2262277 Vgl auch Hugo In Ecclesiasten I 116 (fuumlr 161) D - 117A

270 Anselm Rau und Johanna Scheel

Vorankommens ein Formfehler (vitium) Erleuchtendes Mittel der meditatio ist die lectio in ihren ermahnenden troumlstenden und Furcht evozierenden Unterweisungen Diese fuumlhren zu einem Verstehen der Tugenden (virtus) und naumlhren die affectio welche erst die Lebensfuumlhrung auf dem Pfad der Tugenden generiert Damit spielt Hugo auf den Aspekt des stufenweisen Vo-ranschreitens (profectus) an der sich im Erkennen und Vollzug der Affekte ausgerichtet auf das Ziel selbstreflexiv konstituiert Diesbezuumlglich ist die Ermahnung Hugos entscheidend sich vor der Betruumlbnis des anfaumlnglichen eigenen Unvermoumlgens zu huumlten um das houmlhere Gute zu erreichen Zugleich warnt er aber auch vor der Vereinnahmung durch ablenkende Zerstreu-ung die eine sprunghafte ungeduldige Betrachtung des einzelnen Guten nach sich zieht Hier spricht Hugo zwei grundlegende das Verstaumlndnis des Aufstiegs betreffende Aspekte an Man muss aufgrund des nach eigenem Vermoumlgen erreichten Guten zufrieden sein und dabei auch persoumlnliche Unzulaumlnglichkeiten ertragen (patienter) lernen Das erreichte Gute ist dabei das Fundament auf das Zukuumlnftiges aufzubauen ist eilt man unstet von einem zum naumlchsten geht das bereits Erreichte verloren Erst durch die fortwaumlhrende Uumlbung festigen sich die Tugenden was im Umkehrschluss ein Voranschreiten in der diese selbst konstituierenden affectio erst er-moumlglicht

Die Augustinische Tradition in die sich Hugo stellt macht bereits der einleitende Satz von De meditando deutlich Meditatio est frequens cogitatio modum et causam et rationem unius cuiusque rei investigans8 In dem Pseudo-Augustinischen Traktat De spiritu et anima9 findet man ihn einmal woumlrtlich einmal in einer Abwandlung Der woumlrtlich uumlbereinstimmende Satz taucht in Kapitel 38 auf das von der Definition der Seelenkraumlfte handelt die im Anschluss als ingenium ratio intellectus und intelligentia definiert und durch contemplatio und caritas flankiert werden Eingebettet ist dieser Teil in die Diskussion der Seele als Abbildung und Aumlhn-lichkeit Gottes die es wiederherzustellen gelte Die zweite abgewandelte Version des Zitats findet sich in Kapitel 50 und verbindet die Meditation mit Weisheit Zerknirschung Devotion Gebet und Affekt bdquoMeditatio siquidem parit scientiam scientia compunctionem compunctio devotionem devotio perficit orationem Meditatio est frequens cogitatio curiosa et sagax ob-scura investigare et occulta ad notitiam trahere Scientia est quando homo ad cognitionem sui assidua meditatione illuminatur Compunctio est quando ex consideratione malorum suorum cor interno dolore tangitur Devotio est pius et humilis affectus in Deum humilis ex conscientia infirmitatis propriae pius ex consideratione divinae clementiae Oratio est mentis devotio id est conversio in Deum per pium et humilem affectum Affectus est spontanea quaedam ac dul-cis ipsius animi ad Deum inclinatio Nil enim ita Deum inclinat ad pietatem et misericordiam quemadmodum purus mentis affectusldquo

Letztendlich muumlndet eingeleitet durch das schlagwortartige bdquoDevotio est pius et humilis affectus in Deumldquo die Meditation im Affekt durch den das Gebet selbst als mentis devotio auf Gott hin vollzogen wird Waumlhrend Hugo diesen letzten Part in De meditando nicht uumlbernimmt

8 Diesen Satz findet man ebenfalls in Abwandlung in dem Ps-Hugonischen Traktat De contemplatione et eius speciebus vgl zu diesem Traktat Ruh (cf Anm 2) S 370ndash3809 PL 40 Col 779

Meditation und Gebet 271

begegnet er jedoch in einem anderen Traktat Hugos De modo orandi als zentrale Aussage wie-der Fuumlr De meditando kann er als bestimmender Unterton angenommen werden

De modo orandi

In De modo orandi10 setzt Hugo von St Viktor die rhetorische Form des Gebets in Relation zu Intention und Emotion des Betenden und legt das komplex verwobene Verhaumlltnis von Wort und Emotion systematisch dar Dabei ist die starke Betonung der zentralen Rolle der Affekte innerhalb des Gebets bis dahin einzigartig Hugo aumluszligert sich sogar so dass den frommen Af-fekten die gesamte Kraft des Gebets inne wohne bdquoin affectibus pietatis est omnis virtus orandildquo11

Nach einem Abriss uumlber den generellen Aufbau des Gebets der oratio12 die ausgehend von der meditatio der zweifachen Erkenntnis naumlmlich der eigenen Fehler wie der Barmherzigkeit Gottes zur compunctio13 fuumlhrt und diese in die devotio uumlberfuumlhrt (Kap 1) werden anhand rhe-torischer Formen die verschiedenen Gebetskategorien klassifiziert (Kap 2ndash3) Hiermit gelingt es Hugo nicht nur grundlegende Bestandteile oder Uumlberbegriffe des Gebets detaillierter zu un-terscheiden sondern diese kategorisierende Herangehensweise in einen Zusammenhang mit praktisch brauchbaren Gebetstexten und -worten zu stellen Dies geschieht zunaumlchst ebenfalls in einem engen Theoriegeruumlst in dem die oratio in supplicatio (das demuumltige Gebet) postulatio (die Anrufung) und insinuatio (die versteckte Andeutung) geschieden wird und diese drei Ge-

10 266 Handschriftenexemplare von De modo orandi sind vorhanden mehr als hundert entfallen auf das 15 Jh Vgl Hugo von St Viktor 1997 (cf Anm 6) S 118 ausfuumlhrlicher dazu Goy (cf Anm 1) Laut Goy ist De modo orandi nach dem Soliloquium de arra animae das weitverbreitetste Werk Hugos (12 Jh 42 13 Jh 34 14 Jh 40 15 Jh 105 uumlberlieferte Exemplare) ebd S 506 Diese Verteilung und der prononcierte Sprung im 15 Jh entsprechen nicht der Verbreitungsintensitaumlt aller Schriften Hugos durch die Jahrhunderte die Goy S 509 mit 852 im 12 Jh 665 im 13 Jh 331 im 14 Jh und 674 im 15 Jh beziffert Im 15 Jh findet sich die hohe Verbreitung vor allem im deutschen Raum sowie durch das Gebiet zwischen Rhein und Schelde Goy sieht den Grund in den Klosterreformen der Windsheimer Kongregation und somit der Devotio Moderna an ebd S 51711 De modo orandi Kap 712 Dabei ist die oratio hier nicht eins zu eins mit dem Begriff der oratio in De meditando gleichzusetzen dies ist ein generelles Problem bei dem Versuch aus den Werken Hugos einheitliche Begriffsdefinitionen zu destillieren ndash oftmals werden Begriffe mehrfach belegt und erscheinen gerade in systematischen Abhandlungen die eigentlich von Begriffsschaumlrfe abhaumlngig sind zuweilen an verschiedenen Stellen ein und desselben Systems mit anderen Konnotationen Vgl zB De contemplatione wo dies mit dem Begriff der contemplatio geschieht oder in De modo orandi wo oratio einmal als uumlbergeordnete Kategorie und einmal als Unterkategorie der supplicatio in Form der pura oratio erscheint13 Hugo benutzt hier das Schriftwort bdquoJe mehr der Mensch seine Fehler erkennt desto mehr seufzt und klagt er (Pred 118)ldquo Compunctio bzw contritio bezeichnet die aufrichtige traumlnenreiche Reue und Zerknirschung die den Auftakt jedes Gebets sein sollten Siehe Chr Swift A Penitent Prepares Affect Contrition and Tears in E Gertsman (Hg) Crying in the Middle Ages Tears of History New York 2012 S 79ndash101 Vgl dazu auch S Grosse Heilsungewiszligheit und Scrupulositas im spaumlten Mittelalter Studien zu Johannes Gerson und Gattungen der Froumlmmigkeitstheologie seiner Zeit Tuumlbingen 1994 S 181ff Sie ist Teil der religioumlsen Praxis und erhaumllt ab dem beginnenden 13 Jh einen festen Platz als Teil des Beichtsakraments ab dem 15 Jh erfaumlhrt sie innerhalb dieses institutionalisierten Gebrauchs eine starke Bedeutungszunahme sogar die der eigentlichen satisfactio uumlberfluumlgelnd

272 Anselm Rau und Johanna Scheel

betsarten ebenfalls mit drei Unterkategorien ausgestattet werden Die Begrifflichkeiten sind der antiken Rhetorik entlehnt an der Hugo seine Rhetorik des Gebets entwickelt indem er auf eine sehr anwendungsbezogene Weise bestimmte Affekte in sie einbindet Die captatio ndash eine Unterart der supplicatio ndash soll beispielsweise in der antiken Rhetorik eine emotional positive Einstimmung des Angesprochenen ndash im Gebet waumlre dies Gott ndash bewirken14 bei Hugo dient sie jedoch daruumlber hinaus stark der eigenen emotionalen Vorbereitung des Betenden Die Gebets-worte haben nach Hugo ausdruumlcklich die Funktion im Betenden diejenigen Affekte entstehen lassen die der Bitte entsprechen

Form ndash Intention ndash Emotion

Dass festgelegte traditionelle Gebetsworte vorgegeben sind wiederspricht dieser Funktion dabei in keinster Weise Hugo zeigt dies daran dass er gerade Psalmentexte benutzt um seine Vorstellungen von affectus und davon wie dieser im Gebet erzeugt werden kann zu entwickeln (Kap IV) Waumlhrend die richtige (rhetorische) Form der Bitte fuumlr die Ansprache Gottes wichtig sei sei sie fuumlr den Betenden einerseits notwendig damit er sein eigenes Gebet besser verstehen koumlnne er nochmals in der meditatio uumlberlege worum er bitte und vor allem damit er dadurch noch hingebungsvoller mit staumlrkerer devotio bete Erst durch diese vollkommene Hinwendung der Seele des Betenden zu Gott in hingebungsvollem Affekt (affectus devotionis) wird seine Zu-stimmung erreicht Durch die Worte werde dem Beter seine Bitte und sein Zustand staumlrker bewusst er werde zum Affekt gebracht der Affekt in denselben Worten ausgedruumlckt und durch diese noch staumlrker entflammt bdquoQuaecunque ergo sunt verba orantis absurda non sunt si tan-tummodo ad hoc competenter proferri possint ut vel orantis affectum ad amorem Dei excitent vel (quod amplius est) si jam amore ejus flagrat excitatum demonstrentldquo15 Hier wird der Kern des Traktats formuliert Die Form des Gebets wird in Relation zu Intention und Emotion ge-setzt wodurch Hugo einerseits zu der Aussage kommt dass je groumlszliger die Emotion werde sie sich desto weniger in artikulierten Worten ausdruumlcken lieszlige16 Andererseits kann er zeigen dass das Verhaumlltnis von Wort und Emotion ein vielschichtiges und sich gegenseitig amplifizierendes ist Die Gebetsworte werden danach ausgesucht welchem Ziel und Affekt sie dienen sollen Im Gebet gesprochen vergegenwaumlrtigen sie oder erinnern sie den Betenden an bestimmte Affekte sie erwecken und verstaumlrken diese soweit dass zuletzt ebendiese Worte zum Affektausdruck des Beters werden Der Betende eignet sich damit fremde Worte durch den Affekt an und macht

14 ZB in De inventione von Cicero (1 17) oder RhetoricaAuctor ad Herennium (1 6) so Hugo von St Viktor (1997) S 166 Anm 28 (cf Anm 6) Vgl zur captatio ebenso B Wessel Art Captatio benevolentiae in Historisches Woumlrterbuch der Rhetorik hg v G Ueding Bd 4 Tuumlbingen 1998 Sp 121ndash12315 bdquoAber auf keine andere Weise wird Gott zur Zustimmung gebracht als wenn die Seele des Betenden in gaumlnzlich hingebungsvollem Affekt zu ihm selbst hingewandt wird Wie auch immer die Worte des Gebets sind so sind sie nicht nutzlos wenn sie ihm nur passender vorgetragen werden koumlnnten damit sie entweder den Gebetsaffekt zur Liebe Gottes entflammen oder was besser ist wenn die Liebe schon brennt sie die Erregung zeigtenldquo16 bdquoDer Affekt hat naumlmlich die Eigenschaft dass je groumlszliger und gluumlhender er im Inneren ist er desto weniger aumluszligerlich durch die Worte ausgedruumlckt werden kannldquo

Meditation und Gebet 273

sie zu seinen eigenen Das gesprochene Gebet ist so uumlber seinen affektiven Effekt auf den Beter definiert Als Beispiel benutzt Hugo Schriftworte vornehmlich Psalmen bdquoJeder Einzelne also waumlhrend er im Gebet entweder Psalmen oder irgendwelche anderen Schriften singt soll sorg-faumlltig bedenken welchem Affekt sie dienen moumlgen und durch ganze Anstrengung sein Herz zu jenem Affekt erregen Er sagt das was ihm besser zu dienen scheint denn wenn er den Affekt erregt durch die Worte die er sagt erkennt er durch den Affekt selbst besser die Kraft der Worte Er erwirbt die Einsicht und entzuumlndet durch die Einsicht der Worte umso mehr den hingebungsvollen Affektldquo (Kap V)

Psalmen ndash Wort und Affekte

Die lebenspraktische Erklaumlrung der Gebetsaffekte in De modo orandi ist bemerkenswert klar Weil in den Affekten die ganze Kraft des Gebets liege zaumlhlt Hugo beispielhaft aus den unend-lichen Affekten (Kap VII) neun von ihnen auf die er ebenfalls kurz definiert und gruppiert zunaumlchst die Affekte der Zuneigung Bewunderung und Mitfreude17 dann die Affekte der De-mut des Leides und der Furcht sowie zuletzt die Affekte der Entruumlstung der Eifersucht und der guten Erwartung Diese Gruppierungen werden jeweils auf verschiedene Schriftgattungen bezogen aus denen sie entstehen koumlnnen ndash so werden einer Gattung die zur Erinnerung des Ungluumlcks bzw der eigenen Fehler anregt drei dieser Affekte zugeordnet naumlmlich Demut die aus der Erinnerung der eigenen Fehler erwaumlchst Leid aus der Erinnerung vergangener und gegenwaumlrtiger Fehler sowie Furcht aus dem Gedanken an zukuumlnftige Vergleichbare Zuord-nungen finden sich dort auch fuumlr die uumlbrigen Affekte

Nun verknuumlpft Hugo diese mit konkreten Beispielen aus den Psalmen (Kap VII) bdquoAus dem Affekt der Zuneigung (dilectio) heraus wird Ps 182 gesungen sbquoIch will Dich ruumlhmen Herrlsquo Aus dem Affekt der Bewunderung (admiratio) heraus wird Psalm 8[2]10 gesungen sbquoHerr unser Herrlsquo Aus dem Affekt der Mitfreude (congratulatio) heraus wird Ps 472 gesungen sbquoIhr Voumllker allelsquo Und in allen diesen ist LobAus dem Affekt der Demut (humilitas) heraus wird Ps 312 gesungen sbquoHerr ich suche Zufluchtlsquo Aus dem Affekt des Leids (dolor) heraus wird Ps 131 gesungen sbquoWie lange noch Herr vergisst Du mich ganzlsquo Aus dem Affekt der Furcht (timor) heraus wird Ps 62 gesungen sbquoHerr strafe mich nicht in deinem Zornlsquo Und in all diesen ist die Fuumlrbitte mit einer Klage vermischtAus dem Affekt der Entruumlstung (indignatio) heraus wird Ps 523 gesungen sbquoWas ruumlhmst Du Dich Deiner Bosheitlsquo Aus dem Affekt des gerechten Eifers (zelus) heraus wird Ps 941 gesungen sbquoO Herr Gott der Vergebunglsquo Aus dem Affekt der guten Erwartung (bona praesumptio) heraus wird Ps 261 gesungen sbquoVerschaffe mir Recht o Herrlsquoldquo

17 Affectus congratulationis wird als Gegenpol zur compassio verstanden

274 Anselm Rau und Johanna Scheel

Hugo zeigt hier wie einerseits aus dem Affekt ein bestimmter Psalm gesungen wird Er kom-plettiert damit was er bei der Aufzaumlhlung staumlrker betonte naumlmlich aus welchen Psalmen ein Affekt erwaumlchst und gleichzeitig wie die Worte zu denjenigen der eigenen Bitte und zum Af-fektausdruck werden

Mischung und Uumlberblendung von Affekten

Allerdings wird nicht innerhalb eines Psalms je nur ein Affekt ausgedehnt sondern oftmals geht dort ein Affekt in den anderen uumlber Sie werden gemischt oder loumlsen sich kontinuierlich ab (Kap VIII) Ein Beispiel hierzu Aus der meditatio der eigenen Fehler und Gottes Barm-herzigkeit bricht man durch den Affekt des Schmerzes in die Worte aus bdquoHerr wie zahlreich sind meine Bedraumlnger so viele stehen gegen mich auf viele gibt es die von mir sagen Er findet keine Hilfe bei Gottldquo Dies sind die ersten Verse aus Psalm 3 Aus dem Affekt des Schmerzes der dadurch staumlrker entflammt und ausgedruumlckt wird kehrt der Betende mit dem naumlchsten Vers des Psalms 3 auf den Affekt der guten Erwartung zuruumlck und sagt bdquoDu aber Herr bist ein Schild fuumlr michldquo Damit wird der Schmerz von Vertrauen gelindert und der eine in den andere Affekt uumlberfuumlhrt

Die Psalmenworte vergegenwaumlrtigen oder erinnern hier an den Affekt und werden danach angewandt zugleich sind sie Anreiz und -ausdruck der vielfaumlltigen Palette wandelbarer Affekte

Diese Definition in De modo orandi ist fuumlr das Verstaumlndnis der Affekte innerhalb des Ge-bets im gesamten Mittelalter als grundlegend anzusehen Aus kunsthistorischer Sichtweise ist die Beschaumlftigung mit dieser Schrift daher nicht nur unerlaumlsslich um mittelalterliche Bildwer-ke die fuumlr den Bildbetrachter als Hilfsmittel fuumlr sein Gebet konzipiert wurden praumlziser kon-textualisieren zu koumlnnen Vielmehr ist die in De modo orandi dargelegte Reflexionsstruktur auf die Rezeption von Werken der bildenden Kunst uumlbertragbar

Das Lignum vitae

Ein Beispiel fuumlr die konkrete Anwendung der Evozierung von affectus bei Gebet und Medita-tion wie von Hugo von St Viktor konzipiert stellen die Meditationen des Lignum vitae Bona-venturas und dessen bildliche Umsetzung dar18 In seinen viel rezipierten Werken De triplici

18 Bonaventura Lignum vitae in Opera omnia Quaracchi 1848 Bd 8 Im Folgenden wird auf die lateinische Edition von Quaracchi mit dem Kuumlrzel LV verwiesen Wird nicht die eigene Uumlbersetzung verwendet ist die Grundlage M Schlosser Baum des Lebens Geistliche Betrachtungen St Ottilien 2012 Weitere deutsche Uumlbersetzung bei A Aswerus Der Lebensbaum Zuumlrich 1963Die Rezeption der Schriften Hugos bei den Franziskanern ist bekannt gerade die Verbreitung der hier besprochenen Texte Vgl Goy (cf Anm 1) S 530ndash532 In Italien und auf der iberischen Halbinsel sind mit 170 Texten nur ca 7 der Gesamtuumlberlieferung von Hugos Werken zu finden allerdings faumlllt bei den Handschriften italienischer Provenienz die bdquofuumlhrende Stellung der Franziskaner als Tradentenldquo auf Vgl ebd S 530 Die Houmlhepunkte der Tradierung liegen im 13 und 15 Jh vgl ebd S 559ndash564 bes S 563

Meditation und Gebet 275

via in dem er sein auf dem Gedankengut des 12 Jahrhunderts beruhendes Verstaumlndnis von meditatio oratio und contemplatio darlegt und dem Itinerarium mentis in Deum wendet sich Bonaventura der Formung der Seele des Menschen fuumlr den Aufstieg zu Gott zu19 Gerade aber das Lignum vitae hat maszliggeblich in seiner konkreten Form die Passionsmeditation des spaumlten Mittelalters beeinflusst20

Deutlich ist hervorzuheben dass Bonaventura diese Meditationsschrift zu Kindheit und Leben Passion und AuferstehungVerherrlichung Christi auf Grundlage mnemotechnisch strukturierter Modelle der monastischen Meditationspraxis konzipierte Der Entwurf Bona-venturas sieht die Anordnung der Meditationen anhand eines Baumschemas vor als struktur-gebende Schablone fuumlr das Einpraumlgen dieser im Herzen21 Da die Vorstellungskraft (imaginatio) die Einsicht (intelligentia) unterstuumltzt gibt Bonaventura die konkrete die Intention verdeutli-chende Anweisung bdquodescribe igitur in spiritu mentis tuae arboremldquo22 Die Meditationen selbst dienen zur Entflammung des Herzens in liebendem Empfinden zur Formung des Denkens und zur Einpraumlgung in das Gedaumlchtnis (accendatur affectus formetur cogitatus imprimatur memoria) Somit wird auch hier die Formung des Denkens durch den affectus herausgestellt23 Nach dem Entwurf Bonaventuras besitzt der Baum zwoumllf Zweige an denen jeweils vier kurze Strophen die Einleitungen bzw Uumlberschriften zu den einzelnen Meditationen angebracht sind die immer zusammen genommen eine Frucht hervorbringen So umfasst das gesamte Schema 48 Meditationen die in einer Reihenfolge von unten nach oben insgesamt zwoumllf zu erreichende Fruumlchte oder auch tugendhafte habitus hervorbringen sollen24

Die rasche und vielfaumlltige visuelle Umsetzung der Baumstruktur zeugt von der Popula-ritaumlt der Meditationen des Lignum vitae eine der heute wohl bekanntesten Darstellungen stammt von Pacino di Bonaguida der jeder einzelnen Meditation ein Bildmedaillon zuordnete

19 Bonaventura De triplici via Opera omnia Quaracchi 1948 Bd 8 S 19ndash27 ndash Bonaventura Itinerarium mentis in Deum Opera omnia Quaracchi 1891 Bd 5 S 293ndash316 ndash vgl hier auch die kritischen Edition und die Darstellung der inhaltlichen Grundkonzeption Bonaventura De triplici via Uumlber den dreifachen Weg latdt uumlbers u eingel v M Schlosser Freiburg iBr [ua] 1993 ndash Bonaventura Itinerarium mentis in Deum ndash Der Pilgerweg des Menschen zu Gott latdt uumlbers u erl v M Schlosser mit einer Einleitung von P Zahner Muumlnster 200420 R Preisinger Lignum vitae Zum Verhaumlltnis materieller Bilder und mentaler Bildpraxis im Mittelalter Paderborn 2014 21 Zu den Schablonen und dem Einpraumlgen dieser ins Herzen vgl M Carruthers Moving Images in the Mindrsquos Eye in J Hamburger M-A Boucheacute (Hgg) The Mindrsquos Eye Art and Theological Argument in the Middle Ages New Jersey 2006 S 294 FN 24 zu den Anweisungen Hugos in De arca noe S 292ndash29422 LV Prolog S 6823 Ebd24 Die uumlberkommenen Traktate belegen die angedachte Konzeption zur Verinnerlichung der einzelnen Meditationen die Uumlberschriften als Responsorium mit dem Kehrvers O crux fructus salvificus zu singen vgl hierzu M Sensi Lrsquoallegoria della Croce nel monastero di SantrsquoAnna a Foligno in B Ulianich U Parente (Hg) La Croce Iconografia e interpretazione Bd 3 La croce nella liturgia NeapelRom 2007 S 392 ebenso Preisinger (wie Anm 20) S 36ndash42

276 Anselm Rau und Johanna Scheel

(Abb 1)25 In kuumlnstlerischen Darstellungen diente das Lignum vitae als visuelle Unterstuumltzung sowohl fuumlr den Gesang als auch gerade zur Strukturierung von Predigt und Meditation26 Ein Groszligteil der Bilder zum Lignum vitae binden den Text in Form der Uumlberschriften der einzelnen Meditationen ein Eine solch detailreiche Ausgestaltung wie etwa bei Pacino ist bei den uumlber-lieferten Beispielen keine Regelmaumlszligigkeit Damit belegt allein schon das Bild selbst dass das

25 Jedoch darf diese Tatsache nicht uumlber die tatsaumlchliche Anwendung hinwegtaumluschen Auf die Diskussion um die Bildwerke zum LV kann hier nicht dezidiert eingegangen werden Die juumlngsten Publikationen zum Lignum vitae mit der entsprechenden Literatur zur Forschungslage sind Preisinger (cf Anm 20) und U Ilg Quasi lignum vitae The Tree of Life as an Image of Mendicant Identity in P SaloniusA Worm (Hgg) The Tree Symbol Allegory and Mnemonic Device in Medieval Art and Thought Turnhout 2014 S 187ndash212 ndash Siehe die Kritik an der bisherigen Auseinandersetzung mit dem Lignum vitae und seinen Darstellungen in der 2015 abgeschlossenen Dissertation von A Rau Imagination und Emotion Bildstruktur und Emotionalisierungsstrategien in der monastischen Meditation und das bdquoModell Franziskusldquo sowie A Rau Im Wechselbad der Gefuumlhle ndash das Lignum vitae in Imago 4 (2015) erscheint November 201526 L Bolzoni The Web of Images Vernacular Preaching from its Origins to Saint Bernardino da Siena Aldershot 2004 S 154ff

Abb 1 Pacino di Bonaguida Lignum vitae Florenz Galleria delllsquoAccademia um 1310 258x151cm

Meditation und Gebet 277

eigentliche affizierende Potential in der Steuerung der imaginatio des LesersBetrachters durch den Text der Meditation und des Gebet selbst liegt27

Innerhalb der jeweils einer Frucht zugeordneten vier Meditationen ist ein Aufbau und Uumlbergang festzustellen ebenso sind in der Regel die Fruumlchte durch die letzte Meditation der vorangegangenen und die erste der folgenden miteinander verknuumlpft Allen gemein ist dass zu Anfang einer jeden Frucht die in den ersten zwei Fruumlchten ausgebildeten Grundtugenden caritas und humilitas als Ausgangspunkt genommen werden Diese beiden sind wie bereits von Augustinus betont die Grundtugenden aus denen alle weiteren erst hervorgehen koumlnnen28 Die einzelnen Meditationen zeichnen sich durch das Fokussieren auf eine tugendhafte Haltung Christi aus Diese verdeutlicht er entweder selbst in einer emotionalen seinen Habitus aus-druumlckenden Disposition oder weiteres biblisches Personal reagiert als Exempel fuumlr den LeserBetrachter des Lignum vitae auf die ihm so bdquovisualisertenldquo Geschehnisse um Christus So ent-stehen Imaginationsfiguren die das Handeln (operatio) bestimmen sollen Geleitet wird die Meditation des Betrachters durch die eindruumlcklichen Schilderungen der Begebenheiten aus dem Leben Christi in Kombination entweder direkter Ansprachen an seine Seele wie er sich verhalten was er sich als Vorbild nehmen soll oder durch in die Meditation selbst eingefuumlgte Gebetstexte welche die Affizierung entweder stuumltzen oder direkt hervorbringen koumlnnen

Die Meditationen der ersten vier Fruumlchte (Geburt Kindheit Wirken Christi) charakteri-sieren das Lignum vitae wie schon bei Hugo und in den Meditationsmodellen des 12 Jahrhun-derts als dezidiertes Reue- und Buszligschema Dies verdeutlicht allein schon die formale Anlage da sich hier vorwiegend Anweisungen zu habituellen emotionalen Dispositionen des Lesers finden Die Einmuumlndung dieser Meditationen in die Schilderung des letzten Abendmahls kon-kretisiert die Verbindung zwischen der logischen Anlage eines sukzessive aufgebauten Medita-tionsschemas die Notwendigkeit seiner fortdauernden Anwendung und somit den praktischen Bezug zum religioumlsen Leben Reue und Buszlige sind die notwendige Grundvoraussetzung fuumlr die Teilhabe an der Opferfeier des Messgeschehens es hebt die Meditationspraxis als fortdauernde Uumlbung der Affekte und Tugenden als staumlndige Gewissenspruumlfung hervor und kennzeichnet den Menschen ab diesem Punkt als muumlndigen Meditanden und Beter

So aumlndert sich dann ab der fuumlnften Frucht zu den Passionsmeditationen auch der Auf-bau Hier werden konzentriert einzelne orationes in die einzelnen Meditationen eingeflochten Bemerkenswert ist bei den fast als propaumldeutisch zu verstehenden Meditationen der ersten vier Fruumlchte findet sich eine sehr uumlberschaubare Anzahl von Psalmzitaten waumlhrend sie hier als personalisierte Gebete des LesersBetrachters gehaumluft auftreten Gezielt werden sie in den Meditationen der geschilderten Situationen und Peinigungen Christi eingesetzte um die com-passio zu erregen Hieran laumlsst sich die unmittelbare und entscheidende Zusammenwirkung

27 Bezuumlglich einer eingehenden gerade auch sprachlichen Untersuchung der Meditationen des Lignum vitae das affektsteuernde Potential herausarbeitend siehe abermals Rau (wie Anm 25)28 K Pansters Profectus Virtutum From Psalm 838 to David if Augsburgrsquos Profectus religiosorum in Studies in Spirituality 18 (2008) S 170 Zur Thematik weiterfuumlhrend N Baumann Die Demut als Grundlage aller Tugenden bei Augustinus Frankfurt 2009

278 Anselm Rau und Johanna Scheel

von meditatio und oratio beobachten die in Kombination die Lenkung der geordneten affectus bestimmen

Die von Hugo in De meditando angemahnte Unterscheidung und Betrachtung des Guten und Boumlsen findet in den Meditationen des Lignum vitae seine konkrete differenzierte Anwen-dung Heben die ersten vier Fruumlchten dezidiert Reue und Buszlige des MeditierendenBetenden und gerade die Schlechtigkeit des Menschen gegenuumlber Christus hervor so zeigen die Medita-tionen zur Passion Christi (5ndash8) die Betrachtung des Boumlsen und des Guten dahingehend wie das Boumlse in Gestalt der Peiniger Christi auf diesen einwirkt und wie Christus selbst oder wei-teres positiv konnotiertes biblisches Personal reagiert Die Grundlage des hier geforderten Mit-leidens mit Christus ist die bei den vorangegangenen Meditationen ausgearbeitete compassio Christi mit den Suumlndern Demuumltig ausgerichtet und damit ausgebildet am mitfuumlhlenden Vor-bild Christi kann der LeserBetrachter uumlber die imaginatio in der Meditation und dem Gebet hier zum Mitleidenden ausgebildet werden Zuerst wird also die demuumltige Emotionalitaumlt ob der eigenen Schlechtigkeit dem eigenen Boumlsen im Abgleich mit dem guten Vorbild in Christus herausgebildet und daraufhin die Affekte in den Meditationen zur Passion Christi an Christus selbst zum Mitleiden konstituiert

Als Beispiel der dezidiert auf die Affizierung ausgerichteten Anlage seien die Meditationen der fuumlnften Frucht umrissen Gegenstand (res) ist hier die Betrachtung von Christi Vertrauen (confidentia) in der Gefahr und umfasst die vier Meditationen zu Judasrsquo Verrat Christi Gebet auf dem Oumllberg der Umzingelung Christi durch die Haumlscher und seiner Gefangennahme29 Propaumldeutisch wird dem Verrat Judasrsquo dem abgrundtief Boumlsen (nequissum) die geradezu pa-radox erscheinende und dadurch Staunen und Bewunderung erweckende (o mira) Guumlte (be-nignitas) und Sanftmut (mansuetudo) Christi gegenuumlbergestellt30 Dieses Thema beherrscht alle Meditationen dieser Frucht und ist begleitende Grundlage aller folgenden Darstellungen der Misshandlung Christi Judas wird typologisch als lasterhafter Gegenpart zum tugendhaften Idealbild Christi stilisiert Sein Verrat gruumlndet in seiner cupiditas und bestimmt von seinen niedersten Trieben ist er die Personifikation von perfidia (Treulosigkeit Gewissenlosigkeit) in-gratitudo (Undankbarkeit) und duritia (Hartherzigkeit)31 Die angemahnte Betrachtung des Guten und des Boumlsen legt als klassisches System der Gegenuumlberstellung von Tugenden und Lastern anzustrebende bzw abzulehnende habitus durch die Ausrichtung der affectio dar

Signifikant zeigt sich die Affizierung anhand der uumlber die lectio sich konstituierende me-ditatio aufgrund der imaginierten Begebenheit in Verbindung mit der oratio die wiederum ihren Ausdruck in den Psalmen findet Als Ausweis der inneren Verletzlichkeit seiner mensch-lichen Natur (in natura sensibili)32 ist die Schilderung von Christi Gebet auf dem Oumllberg zentral Ob der Vorstellung des Todes (imaginatio mortis) die in seine empfindsame Seele eindrang wird er von affectus umschlungen (complexabatur affectu) Seine innere Bewegtheit wird mit den Tropfen blutigen Schweiszliges die seinen Koumlrper hinab rannen verdeutlicht der Affekt der

29 LV 517ndash20 S 75ndash7630 LV 517 S 7531 Ebd32 LV 518 S 75ndash76

Meditation und Gebet 279

Furcht (anxietas) als Empfindung steigt zwar in seinem Geist auf (in spiritu) der Nachvoll-zug erfolgt jedoch uumlber die aumluszligeren (imaginierten) Zeichen33 Die Meditation laumlsst den Leser darauf fragen bdquoO Herrscher und Herr Jesus woher kommt diese furchtbare Angst deiner Seele und dein angstvolles Flehen Hast du denn dem Vater dein Opfer nicht mit freiem Willen ge-brachtldquo34 Die Erklaumlrung folgt sofort Fuumlr die Bestaumlrkung des Glaubens hat Christus wahrhaft die sterbliche Natur angenommen damit der Mensch Hoffnung schoumlpfen kann sollte er aumlhn-liche Bedraumlngnis und Furcht erleiden denn aufgrund der Hoffnung richtet der Mensch seine Liebe auf Christus das Ziel wiederum willentlich (voluntas) aus Die offenkundigen (aumluszligeren) Zeichen des Leids in Christi menschlicher Natur sind das entscheidende Kriterium fuumlr die selbstreflexive Erkenntnis des LesersBetrachters Es ist die Erkenntnis dass Christus wahr-haftig die Schmerzen und das bittere Leid der Menschen mit fuumlhlbarer (sensu) Pein durchlitten hat35 Die Schilderung der Todesangst Christi ist damit Grundlage der im ersten Satz der fuumlnf-ten Frucht geforderten inneren Teilhabe (pii considereare) fuumlr die compassio den Nachvollzug seiner noch weiterhin zu durchleidenden koumlrperlichen wie seelischen Pein36

Diese Erkenntnis stuumltzt nun das ergaumlnzende Beten der Psalmen da diese einerseits die geforderten Affekte und den Affektreiz bekraumlftigen zugleich aber auch das selbstreflexive Moment herausarbeiten Die seelische Bedraumlngnis Christi auf dem Oumllberg wird begleitet und sozusagen von der Schilderung des Verrates Judasrsquo und der Bedraumlngung durch die Haumlscher umrahmt und aufgrund des Einbindens der Psalmen 38 41 und 55 in genau diese Meditationen zu einem inhaltlich kongruenten Gebet gestaltet Alle drei Psalmen wobei besonders Psalm 55 zitiert wird (Verse 13ndash15) nehmen Bosheit Verrat und Bedraumlngnis durch Freund und Feind in den Blick Hierdurch werden gerade das Verlassensein und das Ausgeliefertsein gegenuumlber den Misshandlungen in den Vordergrund gestellt die beschriebene Furcht Christi begleitet und durch das personalisierte Gebet zur emotionalen Ausrichtung des Beters selbst Nicht allein der einzelne Psalmvers wird dabei gebetet sondern ganz der mnemotechnischen Konzeptuali-sierung verpflichtet bildet der Vers den Ausgangspunkt und schlieszligt die Betrachtung und das Gebet des gesamt Psalms mit ein37 Der Klage uumlber den Vertrauensbruch durch den Freund (Ps 5513 ebenso Ps 3813 und Ps 41) und der Bedraumlngnis durch Frevler an deren Haumlnden Blut klebt (Vers 24) geht in Analogie zu Christi Gebet zum Vater auf dem Oumllberg die Anrufung Gottes voraus er moumlge das Beten und Flehen erhoumlren (exaudi orationem meam deprecationem meam)

33 Ebd34 Schlosser (wie Anm 19) S 51 LV 52 S 7635 LV 52 S 76 ndash Bereits Bernhard von Clairvaux formulierte Gott bot den Zugang zu sich selbst uumlber die Affekte weshalb die Inkarnation notwendig war um die affectiones des Menschen zuruumlckzugewinnen vgl B von Clairvaux Sermones super canticum canticorum 205 in Bernhard von Clairvaux Saumlmtliche Werke latdt hg v G Winkler Innsbruck (1996) Bd 5 S 28428536 LV 517 S 75 Nochmals abschlieszligend wird dies als identifikationsstiftendes Vorbild am Ende (vierte Meditation fuumlnften Frucht) mit dem Bild der gefesselten Haumlnde des unschuldigen Lammes und dem eingeforderten Stoumlhnen und der Beschreibung des durchdringenden Schmerzes der die Herzen der Juumlnger bei diesem Anblick durchstach (doloris aculues discipolorum vorda penetravit) vor Augen gestellt Vgl LV 520 S 7637 Zur Mnemotechnik allgemein M Carruthers The Book of Memory A Study of Memory in Medieval Culture Cambridge [ua] 122006 Zu beachten sind ebenso F A Yates The Art of Memory London 1966 M Evans The Geometry of Mind in Architectural Association Quarterly 124 (1980) S 32ndash55

280 Anselm Rau und Johanna Scheel

(Vers 1ndash8) Dabei wird die Angst (conturbatus sum) das Beben des Herzens in der Brust und das Befallenwerden vom Schrecken des Todes beschrieben (cor meum conturbatum est in me et formido mortis cecidit super me) ebenso das Erfasstsein von Furcht Zittern Schaudern und Entsetzen (timor et tremor venerunt super me et contexerunt me tenebrae) Der Nachvollzug der emotionalen Disposition Christi wird durch die kalkulierte Verknuumlpfung mit Psalm 38 zu-gleich ebenso zur detailreichen Klage in Furcht und Schrecken ob der eigenen Suumlndhaftigkeit Judas stellt natuumlrlich fuumlr den Abgleich das Negativbeispiel Doch im Gegensatz zu ihm zeigt der Betende in seiner demuumltigen Hinwendung zu Gott in Schmerz und Furcht das in ihn gesetzte Vertrauen das auch Jesus unter Beweis stellte Die Psalmen bieten hierfuumlr das passende Mittel der notwendigen Ausrichtung in der affectio

Ein interessanter Punkt sei in Bezug auf die Ausfuumlhrungen in De meditando hinsichtlich des Eifers (zelus) fuumlr die gerechte Sache noch genannt Die Sanftmut Christi wird gerade da-durch vor Augen gefuumlhrt dass er im Sinne des immerfort zur Vergebung bereiten Gott seinen Haumlschern guumltig begegnet da er sich seinen Peinigern nicht im Zorn (ira) verschloss (Ps 7710)38 Er haumllt naumlmlich sogar seinen Verteidiger ndash in der exegetischen Tradition Petrus vor allem dann auch in der bildenden Kunst ndash zuruumlck und bremst dessen gerechten zelus sein rechtmaumlszligiges eigentlich tugendhaftes eifersuumlchtiges Streben fuumlr das geliebte Objekt und heilt sogar ein abge-schlagenes Ohr Dieser Eifer der wie in De meditando beschrieben ohne Hinterlist ist nicht aus Ignoranz (repraumlsentiert durch die HaumlscherPeiniger) gegenuumlber der Wahrheit (in Christus) hervorgegangen zeigt die gute Absicht die durch Beharrlichkeit ans Ziel fuumlhrt und laumlsst somit die Liebe nicht lau werden Petrus wird als Identifikationsfigur installiert und am Ende aber-mals Judas entgegen gehalten Letzterer wurde zwar schlieszliglich aufgrund seiner Tat von Reue ergriffen jedoch war er nicht faumlhig durch die Hoffnung auf das Gute Christus Vergebung zu ersehnen und wurde von Bitterkeit (amaritudo) erfuumlllt so dass er den Tod und nicht das ewige Leben ersehnte

Meditationsschemata werden gerne aufgrund der ihnen innewohnenden Abfolge als starre Konstrukte und allein auf einen miszliginterpretierten geistigen Aufstieg abzielend hin verstan-den Doch beweist gerade das Lignum vitae eine hohe Flexibilitaumlt fuumlr den alltaumlglichen Gebrauch und zudem die eigentliche Intention die Formung von affectus

Gerard Zerbolt van Zutphen

Das stufenweise emotionale Gebet und die Meditation begegnen ebenfalls ndash allerdings weniger stark schematisiert als im Lignum Vitae ndash in einem Standardwerk der niederlaumlndischen Froumlm-migkeitsliteratur des 15 Jahrhunderts In De spiritualibus ascensionibus stellt Gerard Zerbolt

38 Im Tugend- und Lastersystem ist die Unterscheidung von zelus ira und furor sehr entscheidend bezuumlglich des guten und schlechten Strebens und damit hinsichtlich rationalen Ordnung des Geistes Zum tugendhaften und lasterhaften Zorn und seiner Aspekte vgl Richard von St Viktor Benjamin minor 40ndash44 PL 196029-033 ndash Gerade bei der Verurteilung Christi durch Pilatus (LV 624 S 77) wird das Thema der rasenden Wut (zelus invidiae) und des gerechte Zorns (zelus iustitia) nochmals differenziert

Meditation und Gebet 281

von Zutphen ein Autor der devotio moderna handbuchartig sein Aufstiegsmodell dar39 Darin vermittelt er seinen Mitbruumldern und einem frommen Laienpublikum ein ausgekluumlgeltes System von geistigen Uumlbungen die sich nicht nur auf den eigentlichen Gebetsakt beziehen sondern habituell im Alltag Anwendung finden sollen indem sie eine Transformation des Menschen be-wirken Er geht dabei von dem uumlblichen zeitgenoumlssischen theologischen Anthropologiemodell der Seele als durch Suumlnde verschmutzte imago Dei aus und stuumltzt sich auf bekannte moraltheo-logische Emotionstheorien die er jedoch stark ausweitet indem er den Emotionen eine genaue Funktion und eine Schluumlsselrolle im Erkenntnisprozess zuweist Die formula meditandi40 be-schreibt Gerard als inhaltlich verschieden konnotierte Selbstuumlberpruumlfungen in der die dadurch produzierten Emotionen wie Zerknirschung (compunctio bzw contritio) Furcht (timor) oder Hoffnung (spes) nicht nur bewusst gemacht sondern produktiv umgewandelt werden um zu Instrumenten und Stufen des weiteren Aufstiegs zu werden41 Diese Aufstiege sind ein Prozess der Selbsttransformation des Menschen der sich vollzieht indem der Mensch sowohl seinen urspruumlnglichen Zustand diese Transformation selbst als auch die Erfahrung seiner Veraumlnde-rung mit den erreichten Stufen emotional (ex affectu) erkennt (cogitare) und fuumlhlt (sentire)42 Aumlhnlich wie bei Hugo von St Viktor formuliert Gerard dass der Betende immer einen Affekt und ein Verlangen (desiderium) annehmen solle die zu den aktuellen Uumlbungen oder Medita-tionen passe43 Die Selbsttransformation im geistigen Aufstieg wird nach Gerard ebenso im uumlb-lichen Schema der lectio meditatio und oratio geuumlbt und an verschiedenen materiae meditandi44 vollzogen Die Affekte werden anhand dieser materiae erzeugt katalysiert und in das Gebet

39 Die Schrift (im Folgenden De Spir Asc) wird zitiert nach der Edition von F J LegrandN Staubach (Hgg) Gerard Zerbolt von Zutphen De Spiritualibus Ascensionibus La monteacutee du coeur Turnhout 2006 Vgl zur affektiven Konnotation von Gerards Gebetssystematik M Goossens De meditatie in de eerste tijd van de moderne devotie HaarlemAntwerpen 1954 Er stellt den Affekt als Wesensmerkmal des Gebets bei Gerard fest ebd S 118 Zur Einbindung der Schrift innerhalb der Gebetstheorien der Devotio Moderna und zum Stellenwert der affektiven Selbstreflexion auch in Beziehung zu zeitgenoumlssischer Kunst vgl J Scheel Das altniederlaumlndische Stifterbild Emotionsstrategien des Sehens und der Selbsterkenntnis Berlin 2014 bes S 155ndash171 230ndash241 414ndash42640 De Spir Asc Kap 641 Gerard spricht synonym von Aufstiegsstufen und affectus zB in Kap 27 bdquoIn hac prima ascensione vel primo affecto [hellip]ldquo Oder er benennt Affekte wie Hoffnung und Furcht als Stufen bdquo[hellip] istis duobus gradibus timoris et spei [hellip]ldquo Kap 26 Insgesamt benutzt er die Vokabeln affectus und affectio synonym zwar begegnet in Bedeutung von Strebevermoumlgen meist affectio und ersetzt also die vires durch die affectiones animae besonders wenn es um lasterhafte Affekte geht doch werden die einzelnen Affekte durchgehend als affectus nicht als affectio bezeichnet42 De Spir Asc Kap 643 Das Gebet solle nie bloszliges Lippenbekenntnis sein sondern immer aus der Wurzel des Herzens verfolgt werden und zwar stets aus den Affekten der Furcht Trauer Freude Bewunderung Dankbarkeit etc bdquo[hellip] ex affectu timoris meroris dilectionis admiracionis congratulationis etcldquo De Spir Kap 46 Diese Affektreihe stimmt mit derjenigen bei Hugo in De modo orandi uumlberein siehe oben S 273f44 Diese sind zunaumlchst die bekannten Meditationsinhalte wie man sie allenthalben in theologischer Literatur des Mittelalters findet Leben und Passion Christi das Juumlngste Gericht und die eigene Todesstunde (diese bspw bereits in Bonaventuras De Triplici Via Kap 3) Bei Gerard werden ebenfalls Houmllle und Himmelreich sowie die eigenen Suumlnden und Wohltaten Gottes eingeschlossen sowie das eigene Selbst in dem und waumlhrend des Gebets Zum Kontext der neuen Meditationswuumlrdigkeit des eigenen Selbst in den Lehren der Devotio Moderna vgl Scheel (cf Anm 39)

282 Anselm Rau und Johanna Scheel

uumlberfuumlhrt Dies macht Gerard wie Hugo anhand des Psalmengebets anschaulich indem er einerseits beispielhaft zeigt wie ex affectu ein Psalm gebetet wird waumlhrend er gleichzeitig bei vorheriger Thematisierung der lectio dessen Erregung durch die Lektuumlre betont

bdquoWenn du dich in deiner ersten Uumlberpruumlfung diskutiert hast und entdeckst dass deine Suumlnden zahlreicher sind als die Zahl des Sandes der Meere forme in dir den Affekt der Demut oder Trauer und nimm die Rolle (persona) eines Dieners an der seinen Herrn beleidigt hat Aus diesem Affekt heraus forme ein Gebet und sage sbquoGott sei mir gnaumldig nach deiner Huld tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmenlsquo (Ps 503) Wenn du in der zweiten und dritten Uumlberpruumlfung dich selbst diskutierend bemerkst dass dein Herz mit schlechten Begierden und boumlsen Verlangen gefuumlllt ist forme in dir wiederum den Affekt der Demut und nimm die Rolle eines Kranken an der nach Medizin fragt und sage sbquoHerr sei mir gnaumldig heile mich denn ich habe gegen dich gesuumlndigtlsquo (Ps 405) oder sbquoNichts blieb gesund an meinem Leib weil du mir grollst weil ich gesuumlndigt blieb an meinen Gliedern nichts heillsquo (Ebd) etc Wenn du dich im zweiten Aufstieg in Furcht durch Meditationen des Todes und des Gerichtes oder der Houmllle uumlbst nimm den Affekt der Furcht ein und die Rolle eines Suumlnders vor dem Richter an in Angst und Zittern als seist du schon uumlberfuumlhrt und der Richtspruch gegen dich gesprochen und sage sbquoVerdamme mich nicht Herr gehe nicht ins Gericht mit deinem Dienerlsquo (Ps 1422) oder sbquoHerr in deiner Wutlsquo (Ps 62) etc Wenn du dich aber in Hoffnung uumlbst durch die memoria des Him-melreiches nimm den Affekt der Liebe an und bete mit innigem Herzen und sage sbquoIch erstrebe eines Herr dieses wuumlnsche ich dass ich in dem Haus des Herrn wohnen darflsquo (Ps 264) oder sbquoWie der Hirsch lechzt nach frischem Wasserlsquo (Ps 412) etc Und ebenso kannst du mit anderen Affekten jene aus diesen formen und musst du die Rolle annehmen die deine Uumlbung erfordert und deine Meditation verlangtldquo45

Uumlber Hugo hinausgehend wird hier dem Betenden empfohlen sich konkrete Szenarien und personae zu imaginieren um die gewuumlnschten Affekte einzuuumlben Die Psalmenbeispiele mit den zugeordneten Affekten uumlberschneiden sich bei beiden Autoren bei Psalm 6 (timor) so-wie Psalm 26 (Gerard spes Hugo bona praesumptio)46 Besonders bei der Einuumlbung von timor und der Erwaumlhnung des Richtspruches in Kombination mit den Buszligpsalmen 6 und 142 stehen unmittelbar zeitgenoumlssische Darstellungen des Weltgerichts bzw der Auferstehung der Toten vor Augen wie man sie in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern in Kombination mit eben jenem Buszligpsalm 6 aber auch in der altniederlaumlndischen Malerei findet47 Psalmen koumlnnen zu den

45 bdquoUnde breviter ut modum habeas secundum predicta si te in prima examinacione discusseris et inveneris peccata tua multiplicata super numerum arene maris forma in te affectum humilitatis vel meroris et assume personam servi qui dominum suum offendit Et ex tali affectu forma oracionem dicens Secundum multitudinem miseracionum tuarum dele iniquitatem meam [hellip] Si te in secundo ascensu in timore per meditaciones mortis vel iudicii vel inferni exercueris assume affectum timoris et assume personam rei astantis coram iudice cum timore et tremore quasi iam convictus contra quem de iure proferenda est sentencia et dic Noli me condemnare Non intres in iudicium cum servo tuo Vel Domine ne in furore etc [hellip] Et sic de aliis affectibus quos ex istis formare poteris et assumere debes sicut exercicium tuum exigit et meditacio tua requiritldquo De Spir Asc Kap 4646 Zu den Psalmen die Hugo als Beispiele benutzt siehe oben S 273f47 Vgl dazu J Scheel Sich selbst sehen ndash der Betrachter in und vor dem Bild Spiegel- und Stifterfiguren in Texten und Bildern des 15 Jahrhunderts in E KochH Schlie (Hgg) Orte der Imagination ndash Raumlume des Affekts Die mediale Formierung des Sakralen Muumlnchen 2015

Meditation und Gebet 283

bdquototal memoriertenldquo48 Texten des Mittelalters gezaumlhlt werden weswegen sie sich beiden Autoren als Beispiele anbieten Sie benutzen die Buszligpsalmen (hier die Psalmen 6 31 [Hugo] 50 142) die im Stundenbuch fest als eigenstaumlndiger Gebetstext verankert sind und ebenso in der To-tenvigil ihren Platz haben ndash zusammen mit Gerards weiteren Beispielpsalmen 40 und 4149 Das Stundenbuch ist ein Medium in dem Psalmwort und bildliche Darstellung auf die Theorie des stufenweisen emotionalen Gebets und der Selbsttransformation treffen koumlnnen

Die Miniaturen die der Totenvigil bspw in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern des 15 Jahr-hunderts voranstehen zeigen oftmals eine ganzseitige Totenmesse sowie in der M-Initiale der gegenuumlberliegenden Textzeile50 zwei betende einander zugewandte Seelen im Fegefeuer (vgl

48 Zu diesen Texten gehoumlrten bspw das Pater Noster oder Ave Maria waumlhrend denen gleichzeitig auch uumlber bestimmte Aspekte zB der Passion meditiert werden konnte und sollte vgl P Saenger Books of Hours and the Reading Habits of the Later Middle Ages in R ChartierA Boureau (Hgg) The Culture of Print Power and the Uses of Print in Early Modern Europe Cambridge 1989 S 141ndash173 hier S 154 Bei den Psalmen genuumlgt wie man hier sieht allein die Nennung des Incipit oder bestimmter Verse die dem Leser so vertraut sind dass sie den gesamten Psalmentext mit assoziieren49 Zwar ist der Einsatz von Psalmen in mittelalterlichen Stundenbuumlchern mitunter verschieden doch kann man beispielhaft an einer Gruppe von Stundenbuumlchern in niederlaumlndischer Sprache diese Psalmen finden Diese Stundenbuumlcher sind mit der Uumlbersetzung des Gruumlndungsvaters des Devotio Moderna Geert Grote versehen oder stehen mit ihr in Verbindung N van Wijk Het getijdenboek van Geert Groote Naar het Haagse handschr 133 E 21 Leiden 1940 diese hauptsaumlchlich anhand einer einzigen Handschrift erarbeitete Edition wird hier in Ermangelung einer kritischen Edition genutzt Das getijdenboek enthaumllt einen Kalender des Bistums Utrecht fuumlnf Offizien (Marienoffizium Heiliggeistoffizium das lange und kurze Heiligkreuzoffizium Stunden der ewigen Weisheit) Buszligpsalmen Litanei und Totenvigil 50 Es ist der Beginn des invitatorium bdquoMi hebben ombeuanghen die suchten des dodes die pijnlike seer der hellen heben mi ombeuanghenldquo Wijk (cf Anm 49) S 156 ndash bdquoMich haben umfangen die Seufzer des Todes die qualvollen Schmerzen der Houmllle haben mich umfangenldquo

Abb 2 Meister des Hugo Jansz van Woerden Totenmesse und Seelen im Fegefeuer ca 1475ndash1500 Den Haag Koninklijke Bibliotheek Ms 76 G 13 fol 85vndash86r

284 Anselm Rau und Johanna Scheel

Abb 2)51 Das Fegefeuer bespricht Gerard eher marginal in seinem Traktat Fuumlr die affektive Meditation des eigenen Todes liefert er allerdings einerseits eine Anleitung fuumlr den Betenden die Affekte nun bereits zu erwecken die vor waumlhrend und nach dem eigentlichen Todeszeit-punkt entstuumlnden ndash und sich mit ihnen im Gebet selbst zu formen52 Andererseits raumlt er dem Glaumlubigen sich zum Zwecke des ex affectu-Gebets einen Koumlrper in seinen Verwesungsstadien vor Augen zu halten53 und was mit ihm selbst bei der Beerdigung passiere54 Das Fegefeuer ist ein im Sinne mittelalterlicher Moraltheologie produktiver Gebetsinhalt da der Glaumlubige im steten Oszillieren zwischen spes und timor besonders gut zur caritas aufzusteigen vermag Diesen Tenor findet man ebenfalls bei Geert Grote in seinem getijdenboek bei der Vorrede der Toten-vigil Hier raumlt er dem betenden Leser zum Wechsel aus Psalmen und Antiphonen in Hinblick auf die Erregung von Furcht und Angst Liebe und Hoffnung in der Ausrichtung auf Gut und Boumlse und mit Blick auf das Fegefeuer bdquoHier beginnt die Vigil in duytsche die so organisiert ist denjenigen zu helfen die von hinnen gefahren sind in der Freundschaft Gottes in das Fegefeuer Und ebenso dazu [gedacht ist] den Lebenden zu helfen die sie lesen damit ihnen das Wissen um die kommenden Dinge eingedruumlckt werde auf dass sie glauben hoffen und lieben an die Dinge in Herrlichkeit Und [sie] sich dafuumlr bereit machen und sich waumlhrenddessen die ganze Zeit fuumlrchten dass ihre Tage schnell vergehen Auf dass sie sich fuumlrchten aumlngstigen grauen und beben vor dem mannigfaltigen Leid der Angst und dem Elend die den Boumlsen ereilen werden und sie so darum ihr Leben lang ndash das hier aumluszligerst kurz ist ndash darauf hinarbeiten diesem Leid zu entgehen und [die Vigil ist auch hilfreich] weil ein Mensch diese beiden Dinge ndash Gutes in Liebe und Boumlses in Angst ndash besser ansehen (aensien) kann und erkennen und sich uumlberdenken damit er besser bitten kann und [es] mehr begehrt (begheert) und mehr liebt (myn[n]t) fuumlr diejenigen zu bitten die im Fegefeuer sind fuumlr ihre baldige Erloumlsung und dafuumlr Gottes Ehre zu vermehren [hellip] So hilft das Bitten der Lebenden den Toten und das Bitten fuumlr die Toten hilft den Lebendigen sich auf den Tod vorzubereiten [hellip] Und dazu ist das Singen dieser Psalmen heranzuziehen [und zwar] immer nach den Bedeutungen der Antiphone und den Sinn der

51 Die Darstellung von Seelen im Fegefeuer taucht als Buchillumination ab dem 13 Jahrhundert bereits vereinzelt auf und diente in Kombination mit Jenseitsvisionen Bibeltexten und moralisierenden Inhalten vor allem dem Gedenken an bereits Verstorbene wie auch zur persoumlnlichen Mediation des Lesers Oft findet eine narrative Einbindung statt Vgl dazu M Borowska Das Entfachen des Fegefeuers in der europaumlischen Miniatur des 13 Jahrhunderts in Umeni 57 (2009) S 310ndash325 Zum ikonografischen Kontext der hier gewaumlhlten Illumination vgl die Untersuchung von I M Veldman Purgatory in the Low Lands in B BukovinskaacuteL Slaviacuteček (Hgg) Pictura verba cupit Essays for Lubomiacuter Konečnyacute Prag 2006 S 169ndash180 va 170ndash17252 De Spir Asc Kap 19 In den folgenden Kapiteln stellt Gerard dem Leser dasselbe Prinzip an den Themen des Juumlngsten Gerichts der Houmllle und des Himmelreiches vor 53 bdquoItem interdum propone oculis tuis ymaginem alicuius hominis morientis et diligenter respice formam modum et ordinem quibus ad mortem deveniturldquo De Spir Asc Kap 1954 Weitere beliebte Illustrationen zum Totenoffizium im Stundenbuch des 15 Jahrhundert sind ebenfalls die Darstellung eines Toten um dessen Seele Engel und Teufel kaumlmpfen Schaumldeldarstellungen Seelen in Abrahams Schoszlig Himmel und Houmllle der Tod als Angreifer die Auferweckung des Lazarus sowie die Psychostasis mit Michael als Seelenwaumlger Diese Motive werden eher als ganzseitige Miniaturen dargestellt und bekommen zum Teil in der begleitenden Initiale jene zwei betenden Seelen im Fegefeuer hinzugefuumlgt

Meditation und Gebet 285

Antiphone soll man dazu in den Psalmen bedenken in allen Stundengebeten Dabei ist gut dass man sowohl vor als auch danach die Antiphonen spreche und schreibeldquo55

Mit der sich gegenseitig amplifizierenden Kombination von selbstreflexiven Affekt er-regendem und ausdruumlckendem Psalmentext mit der bildlichen Darstellung von Beerdigung mit Fegefeuer und mit derartigen Aufstiegsmodellen vertraut kann der betende Leser hier den eigenen Tod und die Bestrafung seiner Seele als Konsequenz der eigenen irdischen Suumlndhaftig-keit produktiv in seine Bemuumlhungen des geistigen Aufstiegs und seine Selbsttransformation kanalisieren

Imagination und Illumination

Das Gebetsleben des mittelalterlichen Glaumlubigen ist gekennzeichnet durch seine Affektivitaumlt Die affectus werden mit Gebetstexten und Psalmenreihen sowie mithilfe bildlicher Darstel-lungen sorgfaumlltig kultiviert und systematisch eingeuumlbt Dabei sind dies altbekannte ndash weil biblische ndash Text- und Bildinhalte deren affizierendes Potential auf neue Arten ausgeschoumlpft wird Texte und physische wie gerade geistige Bilder erinnern den Betenden nicht nur unver-bindlich an bereits bekannte Ereignisse Situationen und Figuren sondern lassen ihn sich mit diesen durch affektive und reflexive Meditationspraktiken identifizieren Fremde Worte und Emotionen werden darin zu den eigenen Vorbilder aus dem Kreis der Heiligen werden so zu Imaginationsfiguren das Selbst wird auf Gott ausgerichtet und in all seinen Aspekten gezielt emotional reflektiert So unterschiedlich die formale Herangehensweise dieser Praktiken bei den drei untersuchten Autoren Hugo von St Viktor Bonaventura und Gerard Zerbolt van Zutphen zu sein scheint vermitteln sie doch die selbe zentrale Maszliggabe oratio est affectus ndash bdquoGebet ist Affektldquo

Uumlbersetzung Hugo von St Viktor De meditando PL 176 993ndash99

Die Meditation ist die haumlufige Erwaumlgung (cogitatio) der Ursache (causa) und des inneren Be-weggrundes (ratio) eines einzelnen zu untersuchenden Gegenstandes (res) was seine Art sei (modus) was die Ursache und was der Beweggrund

Es gibt drei Arten (genus) der Meditation eine in Bezug auf die Schoumlpfung (in creaturis) eine hinsichtlich der Schrift (in scripturis) und eine hinsichtlich der Sitten (in moribus) Die erste erwaumlchst aus der Bewunderung (admiratio) die zweite aus der Lektuumlre (lectio) die dritte aus der umsichtigen Beobachtung (circumspectio)

Zuerst bringt die admiratio die Frage (quaestio) hervor die Frage das Erforschen (investi-gatio) und das Erforschen die Entdeckung (inventio) Dies ist damit die Bewunderung der Ord-

55 Fuumlr den altniederlaumlndischen Text vgl Wijk (cf Anm 49) S 155 Zum Antiphon das der Vigil vorangestellt ist vgl Anm 50

286 Anselm Rau und Johanna Scheel

nung (dispositio) die Frage nach der Ursache und die Entdeckung des inneren Beweggrundes Die Bewunderung beruht auf der Betrachtung der Ordnung im Himmel das ist die Gleich-artigkeit von allem und der Houmlhen und der Tiefen (alta et depressa) auf der Erde Die Frage betrifft die Ursache (causa) des irdischen Lebens auf Erden und des himmlischen Lebens im Himmel Das Erforschen fragt nach dem inneren Beweggrund dass so wie die Erde auch das irdische Leben beschaffen ist und dass der Beschaffenheit des Himmels selbst auch das himm-lische Leben gleicht

Bei der Lektuumlre (lectio) aber erfolgt die Betrachtung (considerare) folgendermaszligenAls erstes dient die lectio dazu durch die Bereitstellung des Stoffes (materia) die Wahr-

heit zu erkennen (cognoscere) die meditatio fuumlgt ihn zusammen (coaptare) die oratio hebt ihn empor (sublevare) die operatio (Ausfuumlhrung) wendet ihn an (componere) und die contemplatio frohlockt in ihm selbst (exsultare)

Es ist durch die Meditation der Schriften zu erkennen auf welche Weise es sich gehoumlrt etwas zu wissen Als Beispiel steht geschrieben Declina a malo et fac bonum (Vg Ps 3627 ndash Wende dich ab von dem Boumlsen und tue Gutes EUuml Ps 3727) Deshalb wurde zuvor gesagt die meditatio wendet sich der lectio zu um sich vom Boumlsen abzuwenden und darauf Gutes zu tun Der Grund (causa) hierfuumlr ist wenn sich nicht zuerst das Boumlse zuruumlckzoumlge wuumlrde das Gute nicht herantreten koumlnnen Der innere Beweggrund (ratio) aber ist so wie zuerst die Sproumlsslinge des Boumlsen mit ihrer Wurzel ausgerissen werden muumlssen so muss danach das Gute (ein-)ge-pflanzt werden Warum wurde daher gesagt Wende dich ab von dem Boumlsen Weil es einem auf dem Weg begegnet Man wendet sich deshalb ab weil wir es wo auch immer nicht vermoumlgen durch Staumlrke zu widerstehen wir entkommen ihm lediglich wenn wir uns mit Klugheit und Vernunft (consilio et ratio) von ihm abwenden Auch muumlssen wir uns vom Boumlsen abwenden um dem Naumlhrstoff (materia) zur Suumlnde aus dem Weg zu gehen ndash beispielsweise ist von Hochmut (superbia) Begehrlichkeit (incontinentia) Begierde (concupiscentia) Neid (invidia) und Streit (contentio) abzulassen um sich vom Reichtum (abundantia) der Schoumlnheit (species) des Flei-sches und der Besitzgier (amor possessiones) abzuwenden Dies bedeutet bdquosich abzuwendenldquo Desgleichen wenn auf diese Weise von allem Boumlsen sich abzuwenden angeraten ist so wird die Verrichtung alles Guten verlangt Und so ist also der ebenso schuldig bzw angeklagt der allein nur alles Boumlse meidet wie derjenige der nicht zugleich all das Gute tut Aber wenn dies so ist wer ist dann kein Angeklagter (reus) Folglich wird uns anbefohlen uns von allem Boumlsen loszusagen Andererseits kommt das Gute zum Einen aus dem was sich gehoumlrt (necessitas) und zum anderen aus dem Willen (voluntas) Es gehoumlren sich die Dinge einer Vorschrift (praecep-tum) und die eines Geluumlbdes (votum) alles uumlbrige wird erfuumlllt wenn eine Sache [also Schuld] mehr als nur vergolten wird (supererogare) und einem nichts mehr anlastet

Daher zielt die Meditation bei der lectio darauf ab zu ergruumlnden auf welche Weise et-was das erkannt wird gut ist warum und wie es zu erreichen ist weil es ndash ist es [ersteinmal] erkannt ndash auch zu verrichten ist Die Meditation ist das Entdeckungsvermoumlgen der vorgefassten Absicht (excogitatio consilii) zu erwaumlgen auf welche Weise das Gute das erkannt wurde erfuumlllt wird denn das Erkannte ist unbrauchbar wird es nicht vollbracht

Deshalb ist die Meditation bei der lectio eine dreifache Betrachtung nach der historia der allegoria und der tropologia Gemaumlszlig der historia erfolgt die Meditation wenn wir nach dem

Meditation und Gebet 287

vollendeten inneren Beweggrund der Dinge fragen die geschehen sind und diesen hinsichtlich seiner uumlbereinstimmenden Art und Weise (modus) bezuumlglich der Zeiten (tempora) und Orte (loci) bestaunen (admirare) Bei dieser Betrachtung der goumlttlichen Ratschluumlsse (iudicium) laumlsst man nicht davon ab daruumlber nachzudenken dass diese richtigen und gerechten (rectus et iustus) Entscheidungen zu keiner Zeit den Beistand [Gottes fuumlr die Menschen] entzogen (deesse) und durch sie das geschah was sich gehoumlrte und vergolten wurde was gerecht war (iustum fuit)

Die Meditation hinsichtlich der allegoria beschaumlftigt sich mit der Gliederung (dispositio) der vorangegangenen und zukuumlnftigen Dinge und so wie fuumlr den Verstand (intelligentia) an-gemessen richtet sie dabei ihre Aufmerksamkeit auf deren uumlbereinstimmende Bedeutung in ihrer bewundernswerten Vernunftmaumlszligigkeit (ratio) und Vorhersehung (providentia) und auf ihre fuumlr den Glauben (fides) geschaffene Gestalt (forma)

Bezuumlglich der tropologia beschaumlftigt sich die Meditation damit welche Frucht die Worte der lectio hervorbringen und erforscht (exquirere) was diese wenn sie ausgefuumlhrt werden [im Sinne des eigentlichen Aussprechens der Worte aber auch die Ausfuumlhrung ihres Inhaltes] ein-pflanzen (insinuere) und dabei zugleich lehren was zu vermeiden ist Sie stellt vor Augen was durch die lectio der Schrift zur Unterweisung (eruditio) zur Ermahnung (exhortatio) zur Troumls-tung (consolatio) und zum Schrecken (terror) dient Hierdurch erleuchtet die tropologia dahin-gehend was zum Verstehen der Tugenden (virtus) fuumlhrt sie naumlhrt (nutrire) den Affekt (affectio) und lehrt (edocere) die Lebensfuumlhrung auf dem Pfad der Tugenden

Die Meditation der Sitten (mos) erfolgt gemaumlszlig der Affekte (affectus) der Erwaumlgungen (cogi-tationes) und der Werke (opera)

Hinsichtlich der Affekte ist zu betrachten wie sie recht und aufrichtig (rectus et sincerus) zu sein vermoumlgen damit ist gemeint auf das und zu was hin sie geschuldet sein muumlssen und in welcher Weise sie zu sein haben Zu differenzieren ist naumlmlich dass das was sich nicht gehoumlrt (non oportet) boumlse ist und zugleich das was sich gehoumlrt zu lieben ist ndash das zu lieben das sich gleichwie nicht gehoumlrt ist boumlse Daher handelt es sich um einen guten Affekt wenn er auf das ausgerichtet ist auf das er verpflichtet ist und in der Weise wie es sich gehoumlrt

Amnon liebte (diligere) seine Schwester und dies war der Affekt zu dem er bestimmt war doch weil er Boumlses begehrte war es nicht der Affekt wie er ihn schuldete (vgl 2 Sam 13) So kann der Affekt auf das gerichtet sein zu was er gehoumlrt dies aber nicht in der [angemessenen] Art und Weise Niemals aber kann der Affekt so sein wie er zu sein hat wenn er nicht auf das ihm Zugehoumlrige ausgerichtet ist Auf das ausgerichtet zu was er gehoumlrt bedeutet dass er recht ist und in der Art und Weise wie es sich gehoumlrt und dementsprechend ist er rein Daher werden die Affekte in den Erwaumlgungen betrachtet damit sie rein (mundus) und geordnet (ordi-natus) sind Rein sind sie wenn weder etwas Boumlses von den Affekten hervorgebracht wird noch das Boumlse die Affekte hervorbringt Dass sie geordnet sind meint wenn sie vernuumlnftigerweise aufgrund des ihnen eigenen Anlasses (suo tempore) aufkommen (advenire) Es ist nicht ohne Schaden (vitium) [naumlmlich im Sinne des korrekten Vorgehens nicht ohne Formfehler] bereits das Gute zu einem diesem nicht angemessenen Zeitpunkt zu erwaumlgen wie etwa an die lectio waumlhrend der oratio zu denken oder auch an die oratio waumlhrend der lectio

Bei den Werken ist als erstes zu betrachten was zum Beispiel durch die gute Absicht (bona intentio) geschieht Um eine gute Absicht handelt es sich wenn sie einfach und aufrichtig ist

288 Anselm Rau und Johanna Scheel

(simplex et recta) Die bona intentio ist arglos ohne Hinterlist (malitia) und aufrichtig ohne Ignoranz (ignorantia) Die naumlmlich ohne Hinterlist ist besitzt den Eifer (zelus) Ist sie aber aus der [bewussten] Unkenntnis gegenuumlber dem Wissen (scientia) (Roumlm 102) geboren verfuumlgt sie nicht uumlber den [wahren] Eifer Daher ist es notwendig dass die Absicht aufrichtig ist in der Bescheidenheit (discretio) und arglos im Wohlwollen (benignitas) Bei den Werken ist zu be-trachten dass sie aus der aufkommenden guten Absicht heraus mit beharrlicher Leidenschaft (fervor) schlieszliglich ans Ziel gefuumlhrt werden damit nicht die Beharrlichkeit (perseverantia) ge-laumlhmt (torpere) und die Liebe (amor) nicht lau wird (tepescare)

Auf gleiche Weise erfolgt die meditatio der Sitten in einer zweifachen Betrachtung naumlmlich einer inneren und einer aumluszligeren Die aumluszligere blickt auf das Ansehen (fama) die innere auf das Gewissen (conscientia) Die aumluszligere Betrachtung erfolgt gemaumlszlig dem was ziert (decere) und was nuumltzt (expedire) was als Beispiel (exemplum) dient und was den Lohn (meritum) hervorbringt ndash uns zum Lohn und den Naumlchsten als Beispiel Die innere Betrachtung dagegen schaut auf das Gewissen damit es rein (mundus) sei ohne Anklage (accusatio) zu erleiden (pati) ob nun durch die Laumlhmung (torpor) des Guten oder die Hartnaumlckigkeit (praesumptio) des Boumlsen Rein ist aber jenes Gewissen das weder durch das Vergangene zu recht angeklagt (accusare) noch durch das Gegenwaumlrtige unrechtmaumlszligig erfreut (delectare) wird

Daher laumlsst die meditatio der Sitten ihre Betrachtung nicht ruhen damit sie jegliche Re-gungen (motus) die sich im Herzen erheben bemerkt und erwaumlgt woher sie kommen und worauf sie abzielen (tendere) Das heiszligt woher sie kommen gemaumlszlig ihrem Ursprung und wo-nach sie streben hinsichtlich ihres Ziels Alles ist naumlmlich eine Bewegung aus irgendetwas und auf irgendetwas Die Bewegungen des Herzens sind manchmal offenkundigen Ursprungs manchmal entspringen sie aber auch Verborgenem Bei denen der Ursprung offenkundig ist ist er bisweilen durch das Gute bisweilen aufgrund des Boumlsen erwiesen Was offenkundig gut ist kommt von Gott was aber deutlich boumlse erscheint entspringt entweder dem Teufel oder dem Fleisch Dies sind naumlmlich die drei Urheber (auctores) aller Vorstellungen (suggestio) und aller Eingebungen (aspiratio) die unsichtbar an das Herz herantreten und aus jenen drei hervor-gehen Entspringen die Bewegungen des Herzens daher dem Verborgenen koumlnnen sie manch-mal aus dem Guten und dem Geheimen hervorgehen und sind manchmal boumlse und zweifelhaft (dubius) Die dem Guten entspringen kommen von Gott die aber dem Boumlsen entstammen sind entweder des Teufels oder des Fleisches

Die Bewegungen die folglich offenkundig sind sei es im Guten oder Boumlsen werden auf den ersten Blick durch ihren Ursprung angezeigt Jene aber die zweifelhaft bleiben hinsichtlich ih-res Grundes sind am Ende zu uumlberpruumlfen (probare) Ihr Ergebnis [oder Ausgang] (exitus) zeigt naumlmlich deutlich was vom Ursprung her verborgen war und deswegen muss derjenige der es nicht vermochte den Ausgangspunkt seiner Herzensbewegungen zu beurteilen (iudicare) das Ziel und die Ausfuumlhrung [bzw Vollendung] (finis et consummatio) untersuchen (investigare) Die Bewegungen naumlmlich die zweifelhaft und ungewiss sind sind vom verborgenen Guten oder Boumlsen Wie gesagt wurde haben die schlechten Regungen ihren Ursprung entweder beim Teufel oder im Fleisch Diese aber sind beide boumlse sie unterscheiden sich nicht indem oder durch was sie boumlse sind doch unterscheiden sie sich dahingehend dass die Regungen des Her-zens die dem Fleisch entspringen haumlufig aus einer Notwendigkeit (necessitas) heranwachsen

Meditation und Gebet 289

die aber die tatsaumlchlich vom Teufel kommen nehmen noch oumlfter wider der Vernunft (ratio) ihren Anfang (oriri) Was naumlmlich vom Teufel eingegeben wird (suggerere) ist in der Tat dem Menschen fremd und wird deswegen haumlufig von der menschlichen Vernunft abgelehnt weil er beispielsweise unlaumlngst gesaumlttigt Hunger leidet (pati) kurz zuvor noch trunken (inebriatus) vor Durst (sitis) gluumlht (aestuare) oder wenn er nach einem ausgiebigen Schlaf (dormitio) sich erhebend vom Traum (somnus) bedruumlckt (praegravare) wird

Hieraus also werden die Werke des Teufels differenziert betrachtet weil sie ja an den Men-schen von auszligen herangetragen werden und der menschlichen Vernunft fremd sind Bei den Werken des Fleisches und ihren Eingebungen liegt der Grund des Oumlfteren in einer vorangegan-genen Notwendigkeit Aber weil sie Ziel und Maszlig (modus et mensura) uumlbersteigen wachsen sie zum Uumlberfluss (superfluitas) heran Dies ist als Beispiel eben gerade dann der Fall wenn nach der Einnahme einer Mahlzeit der Hunger hemmungslos (immoderatus) begehrt (appetere) und nach Enthaltsamkeit (abstinentia) das Maszlig (mensura) bei der Aufnahme von Speise (edulium) nicht gehalten wird

Daher wird die meditatio der Sitten aufgrund eines dreifachen Urteils betrieben Das erste urteilt zwischen Tag und Nacht das zweite zwischen Tag und Tag und das dritte schlieszliglich untersucht den gesamten Tag (vgl Roumlm 145) Zwischen Nacht und Tag zu urteilen meint das Boumlse vom Guten zu (unter-)scheiden Die Beurteilung zwischen Tag und Tag bedeutet eine Un-terscheidung zwischen etwas Gutem und etwas Besserem vorzunehmen Uumlber den gesamten Tag zu richten ist schlieszliglich das einzelne Gute fuumlr den eigenen Lohn zu ermessen (aestimare)

So hat die meditatio der Sitten bei jeglichem Umgang (conversatio) das Ziel und die Rich-tung (directio) im Blick Das Ziel ist wohin man strebt die Richtung wodurch man leichter ans Ziel gelangt Jeder naumlmlich der zu irgend etwas strebt so wie etwas seine Bahn (cursus) lenkt und unaufhoumlrlich weiterzieht kommt schneller ans Ziel Es gibt daher Gutes durch das man stark bewegt ist (moveri) zugleich gibt es aber wenig her durch das man vorankommt (pro-moveri) Anderes dagegen fuumlhrt mit etwas Muumlhe (labor) zu groszligem Gewinn (fructus) Und diese sind folglich zu unterscheiden und das Bessere das mehr nuumltzt auszuwaumlhlen Welches auch immer mehr nuumltzt ist besser und es gehoumlrt sich jedes Werk auf seinen Ertrag hin zu beurteilen Indem viele diese Unterscheidung (discretio) nicht einhielten haben sie sich zwar aufs aumluszligerste bemuumlht sind jedoch nur wenig vorangekommen weil sie das Auge aumluszligerlich so sehr auf die Gestalt (species) der Werke richteten und nicht innerlich auf den Gewinn durch die Tugenden blickten Sie ergoumltzen sich daran groszlige Taten zu verrichten anstatt dass sie das Nuumltz-liche (utilia) uumlben (exercere) um sich selbst zu bessern (emendari) Dabei schaumltzten (diligere) sie vielmehr das durch das sie den Anschein erwecken (videri) konnten [so zu sein]

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zunaumlchst das was man schuldet entweder auf-grund einer Vorschrift (praeceptum) oder eines Geluumlbdes (votum) Diesbezuumlglich ist die erste Tat der meditatio zu ermitteln ist sie oder es erfuumlllt fuumlhrt es zum Lohn und wenn nicht bringt dies den Anklagezustand (reatus) hervor Es sind also zuerst die Dinge zu tun die nicht ohne Schuld (culpa) weggelassen werden koumlnnen Danach ist die meditatio alsdann so zu verrichten dass wenn etwas durch freiwillige Uumlbung (exercitatio) noch hinzugefuumlgt wird die Pflicht-erfuumlllung [eigtl Schuld] (debitum) nicht verhindert wird (impedire) Die einen die das nicht zu leisten vermoumlgen was sie schulden wollen was sie nicht muumlssen Die anderen wenn sie im-

290 Anselm Rau und Johanna Scheel

stande sind zu tun was sie schulden bringen freiwillig Hindernisse (impedimentum) mit sich indem sie etwas wollen was sie nicht muumlssen

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zwei Dinge des Boumlsen vor denen man bei der Ver-richtung von Gutem besonders auf der Hut sein muss die Betruumlbnis [Niedergeschlagenheit] (afflictio) und die Besessenheit [Vereinnahmung] (occupatio) Die afflictio fuumlhrt zur Bitterkeit (amaritudo) die occupatio zur Zerstreuung (dissipatio) Mit der afflictio verbittert die Suumlszlige (dulcedo) des Geistes und mit der occupatio wird die Ruhe (tranquillitas) zerstoumlrt (dissipare) Es herrscht Betruumlbnis wenn man fuumlr jene Dinge die man nicht vermag aufgrund der eigenen Ungeduld (impatientia) ungluumlcklich wird (urere) Dagegen handelt es sich um Besessenheit (occupatio) wenn man in seinem Handeln (nach seinem Vermoumlgen) aufgrund der impatientia gequaumllt wird (agitare) Folglich darf die Seele (animus) nicht aufgrund des Boumlsen verbittert wer-den sie muss ihr Unvermoumlgen (impossibilitas) geduldig (patienter) aushalten Genauso darf sie aber auch nicht vom Boumlsen eingenommen werden und darf ihr Vermoumlgen (possibilitas) nicht uumlber ihr eigenes Maszlig hinaus ausdehnen (extendere) Daher muss die meditatio der Sitten in einer weiteren Betrachtung der Lebensfuumlhrung zu einem Urteil kommen und dabei billigen dass es weder gut ist die Dinge die man nicht vermag ungeduldig (impatienter) zu verlangen (appetere) noch die welche man erreicht toumlricht (insipienter) zu verschmaumlhen (fastidire) Wer naumlmlich immer das begehrt was er nicht vermag und das was er [jedoch] vermag verabscheut wird sich weder am Gegenwaumlrtigen erfreuen (frui) noch am Zukuumlnftigen saumlttigen (satiare) Er verlaumlsst naumlmlich das Gute unentwickelt vor der Vollendung und eignet sich das gerade erst Be-gonnene vorzeitig an Deswegen ist es gut aufgrund des eigenen Guten zufrieden zu sein und das gegenwaumlrtige Gute durch hinzukommendes Gutes zu vermehren und es nicht aufgrund des Zukuumlnftigen wegzuwerfen (abicere) Der Austausch (commutatio) des Guten ist naumlmlich ein Leichtes (levitas) seine Uumlbung (exercitatio) aber die Tugend Oft eilen sie auf unterschiedlichen Wegen die einen die ein fruumlheres durch ein neues Gutes fallen lassen (abicere) und die ande-ren die [sich] vom Untersten zum Houmlchsten emporschwingen (conscendere) Wer naumlmlich nach Veraumlnderung (mutatio) fragt ist uumlberdruumlssig (fastidiosus) so wie der der nach dem Voran-schreiten (profectus) strebt eifrig bemuumlht ist (studiosus) Am aufrechtesten beschreitet daher derjenige den Weg der dabei so auf das Bessere brennt (fervere) dass er des Guten nicht uumlber-druumlssig wird sondern es vorerst empor haumllt solange bis er es spaumlter zu der ihm angemessenen Zeit sich aneignet (apprehendere)

Abbildungsnachweis

Einband Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders

Farbtafeln 1 (zu Beitrag Rosenwein) Coll BNU de Strasbourg ndash 2 (zu Beitrag Ferguson) Ar-chiv der Verf ndash 3 (zu Beitrag Herding) Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preu-szligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders ndash 4 (zu Beitrag Droste) R Kahsnitz Die Groszligen Schnitzaltaumlre Spaumltgotik in Suumlddeutschland Oumlsterreich Suumldtirol Muumlnchen 2005 Taf 53 ndash 5 6 (zu Beitrag Schedl) 75 Jahre 1933ndash2008 Kirche Mutter vom Guten Rat Festschrift und Chro-nik FrankfurtM 2008 S 92 Dr Bernd Konrad Radolfzell ndash 7 8 9 (zu Beitrag Zaumlh) Archiv des Autors ndash 10 (zu Beitrag Niehr) Universitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Media-thek 11 12 (zu Beitrag Muumlller) Autorin ndash 13 14 15 (zu Beitrag Schlie) Su concessione del Ministero dei beni e delle attivitagrave culturali e del turismo ndash Galleria Nazionale delle Marche ndash Urbino Archivio fotografico Archiv der Verf F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 ndash 16 17 (zu Beitrag Stoichita) D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 ndash 18 19 20 (zu Beitrag Schmidt) London British Museum C Geissmar-BrandiE Louis (Hgg) Glaube Hoffnung Liebe Tod Wien 1995 S 149 Archiv Autor ndash 21 (zu Beitrag Jung) Autorin

Textabbildungen Droste 1 3 4 Autorin 2 E Oellermann Der Hochaltar in St Martin zu Lorch am Rhein in H KrohmE Oellermann (Hrsg) Fluumlgelaltaumlre des spaumlten Mittelalters Ber-lin 1992 Abb 2 ndash Ferguson 1ndash3 Archiv der Verf ndash Frese 1 2 3 5 M BrandtA Eggebrecht (Hgg) Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen Katalog der Ausstellung Hil-desheim 1993 Bd 1 S 386f Abb 197 u 198 Bd 2 S 583 KatNr VIIIndash32 S 604 KatNr IXndash8 4 G LutzA Weyer (Hgg) 1000 Jahre St Michael in Hildesheim Kirche ndash Kloster ndash Stifter Peterberg 2012 S 148 Abb 118 ndash Gruumlndler 1ndash4 L DomenicoA Nova (Hg) Leonardo da Vincirsquos Anatomical World Language Context and Disegno Akten der Internationalen Tagung Florenz 30ndash31 Mai 2008 Venedig 2011 S 237 S 236 S 241 S 186 5 6 Le journal de Jacopo da Pontormo traduit par Jean-Claude Lebensztejn avec la collaboration drsquoAlessandro Parronchi Paris 1992 S 46 S 50 ndash Herding 1 2 3 4 5 6 7 Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders 8 Max J Friedlaumlnder Early Netherlandish Painting 14 vols Leiden und Bruumlssel 1967ndash1974 vol II 1967 pl 10 Nr 3i 9 Wolfenbuumlttel Herzog-August-Bibliothek ndash Jung 1 2 3 4 5 Autorin ndash Kessler 1 6 7 Autor 2 3 Museo delle Terme Rom 4 British Museum London 5 Alexei Lidov ndash Maxwell 1 2 AHN 3 Autor 4 Sancho el Mayor y sus herederos ed I Bango Torviso et al 2006 cat 25 5 BNE ndash Muumlller 1 Italian painting c 1330ndash1550 I National Gallery in Prague II Collections in the Czech Repub-lic Illustrated summary catalogue Prag 2008 2 Collection of The John and Mable Ringling Museum of Art the State Art Museum of Florida Florida State University 3 2014 copy Archivio Fotografico ndash Fondazione Musei Civici di Venezia ndash Niehr 1 A Schuttwolf (Hg) Ausst-Kat Jahreszeiten der Gefuumlhle Das Gothaer Liebespaar und die Minne im Spaumltmittelalter Ostfil-

400 Abbildungsnachweis

dern-Ruit 1998 2 D de Vos Hans Memling Das Gesamtwerk AntwerpenStuttgart 1994 S 278ndash283 TH Borchert Hans Memling Portraits Stuttgart 2005 S 173f Nr 23 3 Univer-sitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Mediathek ndash Pfisterer 1 E Steinmann ldquoLa mano di Michelangeloldquo in Studien aus Kunst und Geschichte Friedrich Schneider zum siebzigsten Geburtstag Freiburg iBr 1906 unnum Taf 2 R Bernini ua La mano e il volto di Antonio Canova PossagnoQuinto di Treviso 2008 S 197 3 U Klein Zur Forschungsgeschichte des Duumlrer-Hauses in GU GroszligmannF Sonnenberger (Hgg) Das Duumlrer-Haus Neue Ergebnisse der Forschung Nuumlrnberg 2007 S 105 nach Carl A Heideloff Die Ornamentik des Mittelalters Bd 3 Nuumlrnberg 1847 S 42 4 WH Vroon Het wonderlid van Jan de Witt en andere vaderland-se relieken Nijmegen 1997 S 68 5 Autor nach GF Tomasini Petrarca Redivivus Padua sup21650 S 128 6 A Picturesque Tour Through Holland Brabant and Part of France made in the autum of 1789 by Samuel Ireland London sup21796 Bd 2 Taf nach S 13 ndash Pinkus 1 2 3 4 5 6 Autor 7 8 Institut fuumlr Kunstgeschichte Universitaumlt Wien Fotothek ndash RauScheel 1 M Gregori Uf-fizien und Palazzo Pitti Muumlnchen 1994 S 31 2 Den Haag Koninklijke Bibliotheek ndash Raeck 1 2 5 7 Fotothek des Instituts fuumlr Archaumlologische Wissenschaften AbtI Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main 3 Zeichnerische Rekonstruktion M Junghans nach H-V Herrmann Olympia ndash Heiligtum und Wettkampfstaumltte Muumlnchen 1972 Abb 95 4 Antikensammlung Staatliche Museen zu Berlin Foto Johannes Laurentius 6 W Riezler Weissgrundige attische Lekythen Muumlnchen 1914 Taf 23 8 Deutsches Archaumlologisches Institut Athen Fotothek ndash Reudenbach 1 F MuumltherichJE Gaehde Karolingische Buchmalerei Muumlnchen 1979 Taf 4 2ndash4 httpwwwbibliotheca-laureshamensis-digitalde (Zugriff 20022014) ndash Schmengler 1 2 3 Torsten Saumlnger Frankfurt 4 5 6 Eric Tschernow Berlin ndash Schedl 1ndash3 Dr Bernd Konrad Radolfzell 4 FrankfurtMain-Niederrad Pfarrarchiv der katholischen Kirchengemeinde Mut-ter zum Guten Rat ndash Schlie 1 Archiv der Verf 2 Archiv der Verf + D E Katz The Contours of Tolerance Jews and the Corpus Domini Altarpiece in Urbino in Art Bulletin 85 (2003) S 647ndash661 S 647 3 F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 Schmidt 1 2 London British Museum 3 M Geisberg Der Meister ES Leipzig 21924 4 Archiv Autor ndash Taxer 1 2 O Paumlcht Altniederlaumlndische Malerei Von Rogier van der Weyden bis Gerard David Muumlnchen 1994 Abb 91 S 118 Abb 93 S 120 3 4 E Panofsky Die altniederlaumlndische Malerei Ihr Ursprung und Wesen Bd 2 Koumlln 2006 Abb 387 S 236 Abb 358 S 214 ndash Stoichita 1 D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 2 3 J Bialostocki Les Museacutees de Pologne Bruxelles 1966 ndash Zaumlh 1 2 Archiv des Verf 3 Metropolitan Museum of Art Bulletin 58 (2001) S 17 4 G ForsythK Weitzmann The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai The Church and Fortress of Justinian Plates Ann Arbor (Mi) 1973 Plate 121

270 Anselm Rau und Johanna Scheel

Vorankommens ein Formfehler (vitium) Erleuchtendes Mittel der meditatio ist die lectio in ihren ermahnenden troumlstenden und Furcht evozierenden Unterweisungen Diese fuumlhren zu einem Verstehen der Tugenden (virtus) und naumlhren die affectio welche erst die Lebensfuumlhrung auf dem Pfad der Tugenden generiert Damit spielt Hugo auf den Aspekt des stufenweisen Vo-ranschreitens (profectus) an der sich im Erkennen und Vollzug der Affekte ausgerichtet auf das Ziel selbstreflexiv konstituiert Diesbezuumlglich ist die Ermahnung Hugos entscheidend sich vor der Betruumlbnis des anfaumlnglichen eigenen Unvermoumlgens zu huumlten um das houmlhere Gute zu erreichen Zugleich warnt er aber auch vor der Vereinnahmung durch ablenkende Zerstreu-ung die eine sprunghafte ungeduldige Betrachtung des einzelnen Guten nach sich zieht Hier spricht Hugo zwei grundlegende das Verstaumlndnis des Aufstiegs betreffende Aspekte an Man muss aufgrund des nach eigenem Vermoumlgen erreichten Guten zufrieden sein und dabei auch persoumlnliche Unzulaumlnglichkeiten ertragen (patienter) lernen Das erreichte Gute ist dabei das Fundament auf das Zukuumlnftiges aufzubauen ist eilt man unstet von einem zum naumlchsten geht das bereits Erreichte verloren Erst durch die fortwaumlhrende Uumlbung festigen sich die Tugenden was im Umkehrschluss ein Voranschreiten in der diese selbst konstituierenden affectio erst er-moumlglicht

Die Augustinische Tradition in die sich Hugo stellt macht bereits der einleitende Satz von De meditando deutlich Meditatio est frequens cogitatio modum et causam et rationem unius cuiusque rei investigans8 In dem Pseudo-Augustinischen Traktat De spiritu et anima9 findet man ihn einmal woumlrtlich einmal in einer Abwandlung Der woumlrtlich uumlbereinstimmende Satz taucht in Kapitel 38 auf das von der Definition der Seelenkraumlfte handelt die im Anschluss als ingenium ratio intellectus und intelligentia definiert und durch contemplatio und caritas flankiert werden Eingebettet ist dieser Teil in die Diskussion der Seele als Abbildung und Aumlhn-lichkeit Gottes die es wiederherzustellen gelte Die zweite abgewandelte Version des Zitats findet sich in Kapitel 50 und verbindet die Meditation mit Weisheit Zerknirschung Devotion Gebet und Affekt bdquoMeditatio siquidem parit scientiam scientia compunctionem compunctio devotionem devotio perficit orationem Meditatio est frequens cogitatio curiosa et sagax ob-scura investigare et occulta ad notitiam trahere Scientia est quando homo ad cognitionem sui assidua meditatione illuminatur Compunctio est quando ex consideratione malorum suorum cor interno dolore tangitur Devotio est pius et humilis affectus in Deum humilis ex conscientia infirmitatis propriae pius ex consideratione divinae clementiae Oratio est mentis devotio id est conversio in Deum per pium et humilem affectum Affectus est spontanea quaedam ac dul-cis ipsius animi ad Deum inclinatio Nil enim ita Deum inclinat ad pietatem et misericordiam quemadmodum purus mentis affectusldquo

Letztendlich muumlndet eingeleitet durch das schlagwortartige bdquoDevotio est pius et humilis affectus in Deumldquo die Meditation im Affekt durch den das Gebet selbst als mentis devotio auf Gott hin vollzogen wird Waumlhrend Hugo diesen letzten Part in De meditando nicht uumlbernimmt

8 Diesen Satz findet man ebenfalls in Abwandlung in dem Ps-Hugonischen Traktat De contemplatione et eius speciebus vgl zu diesem Traktat Ruh (cf Anm 2) S 370ndash3809 PL 40 Col 779

Meditation und Gebet 271

begegnet er jedoch in einem anderen Traktat Hugos De modo orandi als zentrale Aussage wie-der Fuumlr De meditando kann er als bestimmender Unterton angenommen werden

De modo orandi

In De modo orandi10 setzt Hugo von St Viktor die rhetorische Form des Gebets in Relation zu Intention und Emotion des Betenden und legt das komplex verwobene Verhaumlltnis von Wort und Emotion systematisch dar Dabei ist die starke Betonung der zentralen Rolle der Affekte innerhalb des Gebets bis dahin einzigartig Hugo aumluszligert sich sogar so dass den frommen Af-fekten die gesamte Kraft des Gebets inne wohne bdquoin affectibus pietatis est omnis virtus orandildquo11

Nach einem Abriss uumlber den generellen Aufbau des Gebets der oratio12 die ausgehend von der meditatio der zweifachen Erkenntnis naumlmlich der eigenen Fehler wie der Barmherzigkeit Gottes zur compunctio13 fuumlhrt und diese in die devotio uumlberfuumlhrt (Kap 1) werden anhand rhe-torischer Formen die verschiedenen Gebetskategorien klassifiziert (Kap 2ndash3) Hiermit gelingt es Hugo nicht nur grundlegende Bestandteile oder Uumlberbegriffe des Gebets detaillierter zu un-terscheiden sondern diese kategorisierende Herangehensweise in einen Zusammenhang mit praktisch brauchbaren Gebetstexten und -worten zu stellen Dies geschieht zunaumlchst ebenfalls in einem engen Theoriegeruumlst in dem die oratio in supplicatio (das demuumltige Gebet) postulatio (die Anrufung) und insinuatio (die versteckte Andeutung) geschieden wird und diese drei Ge-

10 266 Handschriftenexemplare von De modo orandi sind vorhanden mehr als hundert entfallen auf das 15 Jh Vgl Hugo von St Viktor 1997 (cf Anm 6) S 118 ausfuumlhrlicher dazu Goy (cf Anm 1) Laut Goy ist De modo orandi nach dem Soliloquium de arra animae das weitverbreitetste Werk Hugos (12 Jh 42 13 Jh 34 14 Jh 40 15 Jh 105 uumlberlieferte Exemplare) ebd S 506 Diese Verteilung und der prononcierte Sprung im 15 Jh entsprechen nicht der Verbreitungsintensitaumlt aller Schriften Hugos durch die Jahrhunderte die Goy S 509 mit 852 im 12 Jh 665 im 13 Jh 331 im 14 Jh und 674 im 15 Jh beziffert Im 15 Jh findet sich die hohe Verbreitung vor allem im deutschen Raum sowie durch das Gebiet zwischen Rhein und Schelde Goy sieht den Grund in den Klosterreformen der Windsheimer Kongregation und somit der Devotio Moderna an ebd S 51711 De modo orandi Kap 712 Dabei ist die oratio hier nicht eins zu eins mit dem Begriff der oratio in De meditando gleichzusetzen dies ist ein generelles Problem bei dem Versuch aus den Werken Hugos einheitliche Begriffsdefinitionen zu destillieren ndash oftmals werden Begriffe mehrfach belegt und erscheinen gerade in systematischen Abhandlungen die eigentlich von Begriffsschaumlrfe abhaumlngig sind zuweilen an verschiedenen Stellen ein und desselben Systems mit anderen Konnotationen Vgl zB De contemplatione wo dies mit dem Begriff der contemplatio geschieht oder in De modo orandi wo oratio einmal als uumlbergeordnete Kategorie und einmal als Unterkategorie der supplicatio in Form der pura oratio erscheint13 Hugo benutzt hier das Schriftwort bdquoJe mehr der Mensch seine Fehler erkennt desto mehr seufzt und klagt er (Pred 118)ldquo Compunctio bzw contritio bezeichnet die aufrichtige traumlnenreiche Reue und Zerknirschung die den Auftakt jedes Gebets sein sollten Siehe Chr Swift A Penitent Prepares Affect Contrition and Tears in E Gertsman (Hg) Crying in the Middle Ages Tears of History New York 2012 S 79ndash101 Vgl dazu auch S Grosse Heilsungewiszligheit und Scrupulositas im spaumlten Mittelalter Studien zu Johannes Gerson und Gattungen der Froumlmmigkeitstheologie seiner Zeit Tuumlbingen 1994 S 181ff Sie ist Teil der religioumlsen Praxis und erhaumllt ab dem beginnenden 13 Jh einen festen Platz als Teil des Beichtsakraments ab dem 15 Jh erfaumlhrt sie innerhalb dieses institutionalisierten Gebrauchs eine starke Bedeutungszunahme sogar die der eigentlichen satisfactio uumlberfluumlgelnd

272 Anselm Rau und Johanna Scheel

betsarten ebenfalls mit drei Unterkategorien ausgestattet werden Die Begrifflichkeiten sind der antiken Rhetorik entlehnt an der Hugo seine Rhetorik des Gebets entwickelt indem er auf eine sehr anwendungsbezogene Weise bestimmte Affekte in sie einbindet Die captatio ndash eine Unterart der supplicatio ndash soll beispielsweise in der antiken Rhetorik eine emotional positive Einstimmung des Angesprochenen ndash im Gebet waumlre dies Gott ndash bewirken14 bei Hugo dient sie jedoch daruumlber hinaus stark der eigenen emotionalen Vorbereitung des Betenden Die Gebets-worte haben nach Hugo ausdruumlcklich die Funktion im Betenden diejenigen Affekte entstehen lassen die der Bitte entsprechen

Form ndash Intention ndash Emotion

Dass festgelegte traditionelle Gebetsworte vorgegeben sind wiederspricht dieser Funktion dabei in keinster Weise Hugo zeigt dies daran dass er gerade Psalmentexte benutzt um seine Vorstellungen von affectus und davon wie dieser im Gebet erzeugt werden kann zu entwickeln (Kap IV) Waumlhrend die richtige (rhetorische) Form der Bitte fuumlr die Ansprache Gottes wichtig sei sei sie fuumlr den Betenden einerseits notwendig damit er sein eigenes Gebet besser verstehen koumlnne er nochmals in der meditatio uumlberlege worum er bitte und vor allem damit er dadurch noch hingebungsvoller mit staumlrkerer devotio bete Erst durch diese vollkommene Hinwendung der Seele des Betenden zu Gott in hingebungsvollem Affekt (affectus devotionis) wird seine Zu-stimmung erreicht Durch die Worte werde dem Beter seine Bitte und sein Zustand staumlrker bewusst er werde zum Affekt gebracht der Affekt in denselben Worten ausgedruumlckt und durch diese noch staumlrker entflammt bdquoQuaecunque ergo sunt verba orantis absurda non sunt si tan-tummodo ad hoc competenter proferri possint ut vel orantis affectum ad amorem Dei excitent vel (quod amplius est) si jam amore ejus flagrat excitatum demonstrentldquo15 Hier wird der Kern des Traktats formuliert Die Form des Gebets wird in Relation zu Intention und Emotion ge-setzt wodurch Hugo einerseits zu der Aussage kommt dass je groumlszliger die Emotion werde sie sich desto weniger in artikulierten Worten ausdruumlcken lieszlige16 Andererseits kann er zeigen dass das Verhaumlltnis von Wort und Emotion ein vielschichtiges und sich gegenseitig amplifizierendes ist Die Gebetsworte werden danach ausgesucht welchem Ziel und Affekt sie dienen sollen Im Gebet gesprochen vergegenwaumlrtigen sie oder erinnern sie den Betenden an bestimmte Affekte sie erwecken und verstaumlrken diese soweit dass zuletzt ebendiese Worte zum Affektausdruck des Beters werden Der Betende eignet sich damit fremde Worte durch den Affekt an und macht

14 ZB in De inventione von Cicero (1 17) oder RhetoricaAuctor ad Herennium (1 6) so Hugo von St Viktor (1997) S 166 Anm 28 (cf Anm 6) Vgl zur captatio ebenso B Wessel Art Captatio benevolentiae in Historisches Woumlrterbuch der Rhetorik hg v G Ueding Bd 4 Tuumlbingen 1998 Sp 121ndash12315 bdquoAber auf keine andere Weise wird Gott zur Zustimmung gebracht als wenn die Seele des Betenden in gaumlnzlich hingebungsvollem Affekt zu ihm selbst hingewandt wird Wie auch immer die Worte des Gebets sind so sind sie nicht nutzlos wenn sie ihm nur passender vorgetragen werden koumlnnten damit sie entweder den Gebetsaffekt zur Liebe Gottes entflammen oder was besser ist wenn die Liebe schon brennt sie die Erregung zeigtenldquo16 bdquoDer Affekt hat naumlmlich die Eigenschaft dass je groumlszliger und gluumlhender er im Inneren ist er desto weniger aumluszligerlich durch die Worte ausgedruumlckt werden kannldquo

Meditation und Gebet 273

sie zu seinen eigenen Das gesprochene Gebet ist so uumlber seinen affektiven Effekt auf den Beter definiert Als Beispiel benutzt Hugo Schriftworte vornehmlich Psalmen bdquoJeder Einzelne also waumlhrend er im Gebet entweder Psalmen oder irgendwelche anderen Schriften singt soll sorg-faumlltig bedenken welchem Affekt sie dienen moumlgen und durch ganze Anstrengung sein Herz zu jenem Affekt erregen Er sagt das was ihm besser zu dienen scheint denn wenn er den Affekt erregt durch die Worte die er sagt erkennt er durch den Affekt selbst besser die Kraft der Worte Er erwirbt die Einsicht und entzuumlndet durch die Einsicht der Worte umso mehr den hingebungsvollen Affektldquo (Kap V)

Psalmen ndash Wort und Affekte

Die lebenspraktische Erklaumlrung der Gebetsaffekte in De modo orandi ist bemerkenswert klar Weil in den Affekten die ganze Kraft des Gebets liege zaumlhlt Hugo beispielhaft aus den unend-lichen Affekten (Kap VII) neun von ihnen auf die er ebenfalls kurz definiert und gruppiert zunaumlchst die Affekte der Zuneigung Bewunderung und Mitfreude17 dann die Affekte der De-mut des Leides und der Furcht sowie zuletzt die Affekte der Entruumlstung der Eifersucht und der guten Erwartung Diese Gruppierungen werden jeweils auf verschiedene Schriftgattungen bezogen aus denen sie entstehen koumlnnen ndash so werden einer Gattung die zur Erinnerung des Ungluumlcks bzw der eigenen Fehler anregt drei dieser Affekte zugeordnet naumlmlich Demut die aus der Erinnerung der eigenen Fehler erwaumlchst Leid aus der Erinnerung vergangener und gegenwaumlrtiger Fehler sowie Furcht aus dem Gedanken an zukuumlnftige Vergleichbare Zuord-nungen finden sich dort auch fuumlr die uumlbrigen Affekte

Nun verknuumlpft Hugo diese mit konkreten Beispielen aus den Psalmen (Kap VII) bdquoAus dem Affekt der Zuneigung (dilectio) heraus wird Ps 182 gesungen sbquoIch will Dich ruumlhmen Herrlsquo Aus dem Affekt der Bewunderung (admiratio) heraus wird Psalm 8[2]10 gesungen sbquoHerr unser Herrlsquo Aus dem Affekt der Mitfreude (congratulatio) heraus wird Ps 472 gesungen sbquoIhr Voumllker allelsquo Und in allen diesen ist LobAus dem Affekt der Demut (humilitas) heraus wird Ps 312 gesungen sbquoHerr ich suche Zufluchtlsquo Aus dem Affekt des Leids (dolor) heraus wird Ps 131 gesungen sbquoWie lange noch Herr vergisst Du mich ganzlsquo Aus dem Affekt der Furcht (timor) heraus wird Ps 62 gesungen sbquoHerr strafe mich nicht in deinem Zornlsquo Und in all diesen ist die Fuumlrbitte mit einer Klage vermischtAus dem Affekt der Entruumlstung (indignatio) heraus wird Ps 523 gesungen sbquoWas ruumlhmst Du Dich Deiner Bosheitlsquo Aus dem Affekt des gerechten Eifers (zelus) heraus wird Ps 941 gesungen sbquoO Herr Gott der Vergebunglsquo Aus dem Affekt der guten Erwartung (bona praesumptio) heraus wird Ps 261 gesungen sbquoVerschaffe mir Recht o Herrlsquoldquo

17 Affectus congratulationis wird als Gegenpol zur compassio verstanden

274 Anselm Rau und Johanna Scheel

Hugo zeigt hier wie einerseits aus dem Affekt ein bestimmter Psalm gesungen wird Er kom-plettiert damit was er bei der Aufzaumlhlung staumlrker betonte naumlmlich aus welchen Psalmen ein Affekt erwaumlchst und gleichzeitig wie die Worte zu denjenigen der eigenen Bitte und zum Af-fektausdruck werden

Mischung und Uumlberblendung von Affekten

Allerdings wird nicht innerhalb eines Psalms je nur ein Affekt ausgedehnt sondern oftmals geht dort ein Affekt in den anderen uumlber Sie werden gemischt oder loumlsen sich kontinuierlich ab (Kap VIII) Ein Beispiel hierzu Aus der meditatio der eigenen Fehler und Gottes Barm-herzigkeit bricht man durch den Affekt des Schmerzes in die Worte aus bdquoHerr wie zahlreich sind meine Bedraumlnger so viele stehen gegen mich auf viele gibt es die von mir sagen Er findet keine Hilfe bei Gottldquo Dies sind die ersten Verse aus Psalm 3 Aus dem Affekt des Schmerzes der dadurch staumlrker entflammt und ausgedruumlckt wird kehrt der Betende mit dem naumlchsten Vers des Psalms 3 auf den Affekt der guten Erwartung zuruumlck und sagt bdquoDu aber Herr bist ein Schild fuumlr michldquo Damit wird der Schmerz von Vertrauen gelindert und der eine in den andere Affekt uumlberfuumlhrt

Die Psalmenworte vergegenwaumlrtigen oder erinnern hier an den Affekt und werden danach angewandt zugleich sind sie Anreiz und -ausdruck der vielfaumlltigen Palette wandelbarer Affekte

Diese Definition in De modo orandi ist fuumlr das Verstaumlndnis der Affekte innerhalb des Ge-bets im gesamten Mittelalter als grundlegend anzusehen Aus kunsthistorischer Sichtweise ist die Beschaumlftigung mit dieser Schrift daher nicht nur unerlaumlsslich um mittelalterliche Bildwer-ke die fuumlr den Bildbetrachter als Hilfsmittel fuumlr sein Gebet konzipiert wurden praumlziser kon-textualisieren zu koumlnnen Vielmehr ist die in De modo orandi dargelegte Reflexionsstruktur auf die Rezeption von Werken der bildenden Kunst uumlbertragbar

Das Lignum vitae

Ein Beispiel fuumlr die konkrete Anwendung der Evozierung von affectus bei Gebet und Medita-tion wie von Hugo von St Viktor konzipiert stellen die Meditationen des Lignum vitae Bona-venturas und dessen bildliche Umsetzung dar18 In seinen viel rezipierten Werken De triplici

18 Bonaventura Lignum vitae in Opera omnia Quaracchi 1848 Bd 8 Im Folgenden wird auf die lateinische Edition von Quaracchi mit dem Kuumlrzel LV verwiesen Wird nicht die eigene Uumlbersetzung verwendet ist die Grundlage M Schlosser Baum des Lebens Geistliche Betrachtungen St Ottilien 2012 Weitere deutsche Uumlbersetzung bei A Aswerus Der Lebensbaum Zuumlrich 1963Die Rezeption der Schriften Hugos bei den Franziskanern ist bekannt gerade die Verbreitung der hier besprochenen Texte Vgl Goy (cf Anm 1) S 530ndash532 In Italien und auf der iberischen Halbinsel sind mit 170 Texten nur ca 7 der Gesamtuumlberlieferung von Hugos Werken zu finden allerdings faumlllt bei den Handschriften italienischer Provenienz die bdquofuumlhrende Stellung der Franziskaner als Tradentenldquo auf Vgl ebd S 530 Die Houmlhepunkte der Tradierung liegen im 13 und 15 Jh vgl ebd S 559ndash564 bes S 563

Meditation und Gebet 275

via in dem er sein auf dem Gedankengut des 12 Jahrhunderts beruhendes Verstaumlndnis von meditatio oratio und contemplatio darlegt und dem Itinerarium mentis in Deum wendet sich Bonaventura der Formung der Seele des Menschen fuumlr den Aufstieg zu Gott zu19 Gerade aber das Lignum vitae hat maszliggeblich in seiner konkreten Form die Passionsmeditation des spaumlten Mittelalters beeinflusst20

Deutlich ist hervorzuheben dass Bonaventura diese Meditationsschrift zu Kindheit und Leben Passion und AuferstehungVerherrlichung Christi auf Grundlage mnemotechnisch strukturierter Modelle der monastischen Meditationspraxis konzipierte Der Entwurf Bona-venturas sieht die Anordnung der Meditationen anhand eines Baumschemas vor als struktur-gebende Schablone fuumlr das Einpraumlgen dieser im Herzen21 Da die Vorstellungskraft (imaginatio) die Einsicht (intelligentia) unterstuumltzt gibt Bonaventura die konkrete die Intention verdeutli-chende Anweisung bdquodescribe igitur in spiritu mentis tuae arboremldquo22 Die Meditationen selbst dienen zur Entflammung des Herzens in liebendem Empfinden zur Formung des Denkens und zur Einpraumlgung in das Gedaumlchtnis (accendatur affectus formetur cogitatus imprimatur memoria) Somit wird auch hier die Formung des Denkens durch den affectus herausgestellt23 Nach dem Entwurf Bonaventuras besitzt der Baum zwoumllf Zweige an denen jeweils vier kurze Strophen die Einleitungen bzw Uumlberschriften zu den einzelnen Meditationen angebracht sind die immer zusammen genommen eine Frucht hervorbringen So umfasst das gesamte Schema 48 Meditationen die in einer Reihenfolge von unten nach oben insgesamt zwoumllf zu erreichende Fruumlchte oder auch tugendhafte habitus hervorbringen sollen24

Die rasche und vielfaumlltige visuelle Umsetzung der Baumstruktur zeugt von der Popula-ritaumlt der Meditationen des Lignum vitae eine der heute wohl bekanntesten Darstellungen stammt von Pacino di Bonaguida der jeder einzelnen Meditation ein Bildmedaillon zuordnete

19 Bonaventura De triplici via Opera omnia Quaracchi 1948 Bd 8 S 19ndash27 ndash Bonaventura Itinerarium mentis in Deum Opera omnia Quaracchi 1891 Bd 5 S 293ndash316 ndash vgl hier auch die kritischen Edition und die Darstellung der inhaltlichen Grundkonzeption Bonaventura De triplici via Uumlber den dreifachen Weg latdt uumlbers u eingel v M Schlosser Freiburg iBr [ua] 1993 ndash Bonaventura Itinerarium mentis in Deum ndash Der Pilgerweg des Menschen zu Gott latdt uumlbers u erl v M Schlosser mit einer Einleitung von P Zahner Muumlnster 200420 R Preisinger Lignum vitae Zum Verhaumlltnis materieller Bilder und mentaler Bildpraxis im Mittelalter Paderborn 2014 21 Zu den Schablonen und dem Einpraumlgen dieser ins Herzen vgl M Carruthers Moving Images in the Mindrsquos Eye in J Hamburger M-A Boucheacute (Hgg) The Mindrsquos Eye Art and Theological Argument in the Middle Ages New Jersey 2006 S 294 FN 24 zu den Anweisungen Hugos in De arca noe S 292ndash29422 LV Prolog S 6823 Ebd24 Die uumlberkommenen Traktate belegen die angedachte Konzeption zur Verinnerlichung der einzelnen Meditationen die Uumlberschriften als Responsorium mit dem Kehrvers O crux fructus salvificus zu singen vgl hierzu M Sensi Lrsquoallegoria della Croce nel monastero di SantrsquoAnna a Foligno in B Ulianich U Parente (Hg) La Croce Iconografia e interpretazione Bd 3 La croce nella liturgia NeapelRom 2007 S 392 ebenso Preisinger (wie Anm 20) S 36ndash42

276 Anselm Rau und Johanna Scheel

(Abb 1)25 In kuumlnstlerischen Darstellungen diente das Lignum vitae als visuelle Unterstuumltzung sowohl fuumlr den Gesang als auch gerade zur Strukturierung von Predigt und Meditation26 Ein Groszligteil der Bilder zum Lignum vitae binden den Text in Form der Uumlberschriften der einzelnen Meditationen ein Eine solch detailreiche Ausgestaltung wie etwa bei Pacino ist bei den uumlber-lieferten Beispielen keine Regelmaumlszligigkeit Damit belegt allein schon das Bild selbst dass das

25 Jedoch darf diese Tatsache nicht uumlber die tatsaumlchliche Anwendung hinwegtaumluschen Auf die Diskussion um die Bildwerke zum LV kann hier nicht dezidiert eingegangen werden Die juumlngsten Publikationen zum Lignum vitae mit der entsprechenden Literatur zur Forschungslage sind Preisinger (cf Anm 20) und U Ilg Quasi lignum vitae The Tree of Life as an Image of Mendicant Identity in P SaloniusA Worm (Hgg) The Tree Symbol Allegory and Mnemonic Device in Medieval Art and Thought Turnhout 2014 S 187ndash212 ndash Siehe die Kritik an der bisherigen Auseinandersetzung mit dem Lignum vitae und seinen Darstellungen in der 2015 abgeschlossenen Dissertation von A Rau Imagination und Emotion Bildstruktur und Emotionalisierungsstrategien in der monastischen Meditation und das bdquoModell Franziskusldquo sowie A Rau Im Wechselbad der Gefuumlhle ndash das Lignum vitae in Imago 4 (2015) erscheint November 201526 L Bolzoni The Web of Images Vernacular Preaching from its Origins to Saint Bernardino da Siena Aldershot 2004 S 154ff

Abb 1 Pacino di Bonaguida Lignum vitae Florenz Galleria delllsquoAccademia um 1310 258x151cm

Meditation und Gebet 277

eigentliche affizierende Potential in der Steuerung der imaginatio des LesersBetrachters durch den Text der Meditation und des Gebet selbst liegt27

Innerhalb der jeweils einer Frucht zugeordneten vier Meditationen ist ein Aufbau und Uumlbergang festzustellen ebenso sind in der Regel die Fruumlchte durch die letzte Meditation der vorangegangenen und die erste der folgenden miteinander verknuumlpft Allen gemein ist dass zu Anfang einer jeden Frucht die in den ersten zwei Fruumlchten ausgebildeten Grundtugenden caritas und humilitas als Ausgangspunkt genommen werden Diese beiden sind wie bereits von Augustinus betont die Grundtugenden aus denen alle weiteren erst hervorgehen koumlnnen28 Die einzelnen Meditationen zeichnen sich durch das Fokussieren auf eine tugendhafte Haltung Christi aus Diese verdeutlicht er entweder selbst in einer emotionalen seinen Habitus aus-druumlckenden Disposition oder weiteres biblisches Personal reagiert als Exempel fuumlr den LeserBetrachter des Lignum vitae auf die ihm so bdquovisualisertenldquo Geschehnisse um Christus So ent-stehen Imaginationsfiguren die das Handeln (operatio) bestimmen sollen Geleitet wird die Meditation des Betrachters durch die eindruumlcklichen Schilderungen der Begebenheiten aus dem Leben Christi in Kombination entweder direkter Ansprachen an seine Seele wie er sich verhalten was er sich als Vorbild nehmen soll oder durch in die Meditation selbst eingefuumlgte Gebetstexte welche die Affizierung entweder stuumltzen oder direkt hervorbringen koumlnnen

Die Meditationen der ersten vier Fruumlchte (Geburt Kindheit Wirken Christi) charakteri-sieren das Lignum vitae wie schon bei Hugo und in den Meditationsmodellen des 12 Jahrhun-derts als dezidiertes Reue- und Buszligschema Dies verdeutlicht allein schon die formale Anlage da sich hier vorwiegend Anweisungen zu habituellen emotionalen Dispositionen des Lesers finden Die Einmuumlndung dieser Meditationen in die Schilderung des letzten Abendmahls kon-kretisiert die Verbindung zwischen der logischen Anlage eines sukzessive aufgebauten Medita-tionsschemas die Notwendigkeit seiner fortdauernden Anwendung und somit den praktischen Bezug zum religioumlsen Leben Reue und Buszlige sind die notwendige Grundvoraussetzung fuumlr die Teilhabe an der Opferfeier des Messgeschehens es hebt die Meditationspraxis als fortdauernde Uumlbung der Affekte und Tugenden als staumlndige Gewissenspruumlfung hervor und kennzeichnet den Menschen ab diesem Punkt als muumlndigen Meditanden und Beter

So aumlndert sich dann ab der fuumlnften Frucht zu den Passionsmeditationen auch der Auf-bau Hier werden konzentriert einzelne orationes in die einzelnen Meditationen eingeflochten Bemerkenswert ist bei den fast als propaumldeutisch zu verstehenden Meditationen der ersten vier Fruumlchte findet sich eine sehr uumlberschaubare Anzahl von Psalmzitaten waumlhrend sie hier als personalisierte Gebete des LesersBetrachters gehaumluft auftreten Gezielt werden sie in den Meditationen der geschilderten Situationen und Peinigungen Christi eingesetzte um die com-passio zu erregen Hieran laumlsst sich die unmittelbare und entscheidende Zusammenwirkung

27 Bezuumlglich einer eingehenden gerade auch sprachlichen Untersuchung der Meditationen des Lignum vitae das affektsteuernde Potential herausarbeitend siehe abermals Rau (wie Anm 25)28 K Pansters Profectus Virtutum From Psalm 838 to David if Augsburgrsquos Profectus religiosorum in Studies in Spirituality 18 (2008) S 170 Zur Thematik weiterfuumlhrend N Baumann Die Demut als Grundlage aller Tugenden bei Augustinus Frankfurt 2009

278 Anselm Rau und Johanna Scheel

von meditatio und oratio beobachten die in Kombination die Lenkung der geordneten affectus bestimmen

Die von Hugo in De meditando angemahnte Unterscheidung und Betrachtung des Guten und Boumlsen findet in den Meditationen des Lignum vitae seine konkrete differenzierte Anwen-dung Heben die ersten vier Fruumlchten dezidiert Reue und Buszlige des MeditierendenBetenden und gerade die Schlechtigkeit des Menschen gegenuumlber Christus hervor so zeigen die Medita-tionen zur Passion Christi (5ndash8) die Betrachtung des Boumlsen und des Guten dahingehend wie das Boumlse in Gestalt der Peiniger Christi auf diesen einwirkt und wie Christus selbst oder wei-teres positiv konnotiertes biblisches Personal reagiert Die Grundlage des hier geforderten Mit-leidens mit Christus ist die bei den vorangegangenen Meditationen ausgearbeitete compassio Christi mit den Suumlndern Demuumltig ausgerichtet und damit ausgebildet am mitfuumlhlenden Vor-bild Christi kann der LeserBetrachter uumlber die imaginatio in der Meditation und dem Gebet hier zum Mitleidenden ausgebildet werden Zuerst wird also die demuumltige Emotionalitaumlt ob der eigenen Schlechtigkeit dem eigenen Boumlsen im Abgleich mit dem guten Vorbild in Christus herausgebildet und daraufhin die Affekte in den Meditationen zur Passion Christi an Christus selbst zum Mitleiden konstituiert

Als Beispiel der dezidiert auf die Affizierung ausgerichteten Anlage seien die Meditationen der fuumlnften Frucht umrissen Gegenstand (res) ist hier die Betrachtung von Christi Vertrauen (confidentia) in der Gefahr und umfasst die vier Meditationen zu Judasrsquo Verrat Christi Gebet auf dem Oumllberg der Umzingelung Christi durch die Haumlscher und seiner Gefangennahme29 Propaumldeutisch wird dem Verrat Judasrsquo dem abgrundtief Boumlsen (nequissum) die geradezu pa-radox erscheinende und dadurch Staunen und Bewunderung erweckende (o mira) Guumlte (be-nignitas) und Sanftmut (mansuetudo) Christi gegenuumlbergestellt30 Dieses Thema beherrscht alle Meditationen dieser Frucht und ist begleitende Grundlage aller folgenden Darstellungen der Misshandlung Christi Judas wird typologisch als lasterhafter Gegenpart zum tugendhaften Idealbild Christi stilisiert Sein Verrat gruumlndet in seiner cupiditas und bestimmt von seinen niedersten Trieben ist er die Personifikation von perfidia (Treulosigkeit Gewissenlosigkeit) in-gratitudo (Undankbarkeit) und duritia (Hartherzigkeit)31 Die angemahnte Betrachtung des Guten und des Boumlsen legt als klassisches System der Gegenuumlberstellung von Tugenden und Lastern anzustrebende bzw abzulehnende habitus durch die Ausrichtung der affectio dar

Signifikant zeigt sich die Affizierung anhand der uumlber die lectio sich konstituierende me-ditatio aufgrund der imaginierten Begebenheit in Verbindung mit der oratio die wiederum ihren Ausdruck in den Psalmen findet Als Ausweis der inneren Verletzlichkeit seiner mensch-lichen Natur (in natura sensibili)32 ist die Schilderung von Christi Gebet auf dem Oumllberg zentral Ob der Vorstellung des Todes (imaginatio mortis) die in seine empfindsame Seele eindrang wird er von affectus umschlungen (complexabatur affectu) Seine innere Bewegtheit wird mit den Tropfen blutigen Schweiszliges die seinen Koumlrper hinab rannen verdeutlicht der Affekt der

29 LV 517ndash20 S 75ndash7630 LV 517 S 7531 Ebd32 LV 518 S 75ndash76

Meditation und Gebet 279

Furcht (anxietas) als Empfindung steigt zwar in seinem Geist auf (in spiritu) der Nachvoll-zug erfolgt jedoch uumlber die aumluszligeren (imaginierten) Zeichen33 Die Meditation laumlsst den Leser darauf fragen bdquoO Herrscher und Herr Jesus woher kommt diese furchtbare Angst deiner Seele und dein angstvolles Flehen Hast du denn dem Vater dein Opfer nicht mit freiem Willen ge-brachtldquo34 Die Erklaumlrung folgt sofort Fuumlr die Bestaumlrkung des Glaubens hat Christus wahrhaft die sterbliche Natur angenommen damit der Mensch Hoffnung schoumlpfen kann sollte er aumlhn-liche Bedraumlngnis und Furcht erleiden denn aufgrund der Hoffnung richtet der Mensch seine Liebe auf Christus das Ziel wiederum willentlich (voluntas) aus Die offenkundigen (aumluszligeren) Zeichen des Leids in Christi menschlicher Natur sind das entscheidende Kriterium fuumlr die selbstreflexive Erkenntnis des LesersBetrachters Es ist die Erkenntnis dass Christus wahr-haftig die Schmerzen und das bittere Leid der Menschen mit fuumlhlbarer (sensu) Pein durchlitten hat35 Die Schilderung der Todesangst Christi ist damit Grundlage der im ersten Satz der fuumlnf-ten Frucht geforderten inneren Teilhabe (pii considereare) fuumlr die compassio den Nachvollzug seiner noch weiterhin zu durchleidenden koumlrperlichen wie seelischen Pein36

Diese Erkenntnis stuumltzt nun das ergaumlnzende Beten der Psalmen da diese einerseits die geforderten Affekte und den Affektreiz bekraumlftigen zugleich aber auch das selbstreflexive Moment herausarbeiten Die seelische Bedraumlngnis Christi auf dem Oumllberg wird begleitet und sozusagen von der Schilderung des Verrates Judasrsquo und der Bedraumlngung durch die Haumlscher umrahmt und aufgrund des Einbindens der Psalmen 38 41 und 55 in genau diese Meditationen zu einem inhaltlich kongruenten Gebet gestaltet Alle drei Psalmen wobei besonders Psalm 55 zitiert wird (Verse 13ndash15) nehmen Bosheit Verrat und Bedraumlngnis durch Freund und Feind in den Blick Hierdurch werden gerade das Verlassensein und das Ausgeliefertsein gegenuumlber den Misshandlungen in den Vordergrund gestellt die beschriebene Furcht Christi begleitet und durch das personalisierte Gebet zur emotionalen Ausrichtung des Beters selbst Nicht allein der einzelne Psalmvers wird dabei gebetet sondern ganz der mnemotechnischen Konzeptuali-sierung verpflichtet bildet der Vers den Ausgangspunkt und schlieszligt die Betrachtung und das Gebet des gesamt Psalms mit ein37 Der Klage uumlber den Vertrauensbruch durch den Freund (Ps 5513 ebenso Ps 3813 und Ps 41) und der Bedraumlngnis durch Frevler an deren Haumlnden Blut klebt (Vers 24) geht in Analogie zu Christi Gebet zum Vater auf dem Oumllberg die Anrufung Gottes voraus er moumlge das Beten und Flehen erhoumlren (exaudi orationem meam deprecationem meam)

33 Ebd34 Schlosser (wie Anm 19) S 51 LV 52 S 7635 LV 52 S 76 ndash Bereits Bernhard von Clairvaux formulierte Gott bot den Zugang zu sich selbst uumlber die Affekte weshalb die Inkarnation notwendig war um die affectiones des Menschen zuruumlckzugewinnen vgl B von Clairvaux Sermones super canticum canticorum 205 in Bernhard von Clairvaux Saumlmtliche Werke latdt hg v G Winkler Innsbruck (1996) Bd 5 S 28428536 LV 517 S 75 Nochmals abschlieszligend wird dies als identifikationsstiftendes Vorbild am Ende (vierte Meditation fuumlnften Frucht) mit dem Bild der gefesselten Haumlnde des unschuldigen Lammes und dem eingeforderten Stoumlhnen und der Beschreibung des durchdringenden Schmerzes der die Herzen der Juumlnger bei diesem Anblick durchstach (doloris aculues discipolorum vorda penetravit) vor Augen gestellt Vgl LV 520 S 7637 Zur Mnemotechnik allgemein M Carruthers The Book of Memory A Study of Memory in Medieval Culture Cambridge [ua] 122006 Zu beachten sind ebenso F A Yates The Art of Memory London 1966 M Evans The Geometry of Mind in Architectural Association Quarterly 124 (1980) S 32ndash55

280 Anselm Rau und Johanna Scheel

(Vers 1ndash8) Dabei wird die Angst (conturbatus sum) das Beben des Herzens in der Brust und das Befallenwerden vom Schrecken des Todes beschrieben (cor meum conturbatum est in me et formido mortis cecidit super me) ebenso das Erfasstsein von Furcht Zittern Schaudern und Entsetzen (timor et tremor venerunt super me et contexerunt me tenebrae) Der Nachvollzug der emotionalen Disposition Christi wird durch die kalkulierte Verknuumlpfung mit Psalm 38 zu-gleich ebenso zur detailreichen Klage in Furcht und Schrecken ob der eigenen Suumlndhaftigkeit Judas stellt natuumlrlich fuumlr den Abgleich das Negativbeispiel Doch im Gegensatz zu ihm zeigt der Betende in seiner demuumltigen Hinwendung zu Gott in Schmerz und Furcht das in ihn gesetzte Vertrauen das auch Jesus unter Beweis stellte Die Psalmen bieten hierfuumlr das passende Mittel der notwendigen Ausrichtung in der affectio

Ein interessanter Punkt sei in Bezug auf die Ausfuumlhrungen in De meditando hinsichtlich des Eifers (zelus) fuumlr die gerechte Sache noch genannt Die Sanftmut Christi wird gerade da-durch vor Augen gefuumlhrt dass er im Sinne des immerfort zur Vergebung bereiten Gott seinen Haumlschern guumltig begegnet da er sich seinen Peinigern nicht im Zorn (ira) verschloss (Ps 7710)38 Er haumllt naumlmlich sogar seinen Verteidiger ndash in der exegetischen Tradition Petrus vor allem dann auch in der bildenden Kunst ndash zuruumlck und bremst dessen gerechten zelus sein rechtmaumlszligiges eigentlich tugendhaftes eifersuumlchtiges Streben fuumlr das geliebte Objekt und heilt sogar ein abge-schlagenes Ohr Dieser Eifer der wie in De meditando beschrieben ohne Hinterlist ist nicht aus Ignoranz (repraumlsentiert durch die HaumlscherPeiniger) gegenuumlber der Wahrheit (in Christus) hervorgegangen zeigt die gute Absicht die durch Beharrlichkeit ans Ziel fuumlhrt und laumlsst somit die Liebe nicht lau werden Petrus wird als Identifikationsfigur installiert und am Ende aber-mals Judas entgegen gehalten Letzterer wurde zwar schlieszliglich aufgrund seiner Tat von Reue ergriffen jedoch war er nicht faumlhig durch die Hoffnung auf das Gute Christus Vergebung zu ersehnen und wurde von Bitterkeit (amaritudo) erfuumlllt so dass er den Tod und nicht das ewige Leben ersehnte

Meditationsschemata werden gerne aufgrund der ihnen innewohnenden Abfolge als starre Konstrukte und allein auf einen miszliginterpretierten geistigen Aufstieg abzielend hin verstan-den Doch beweist gerade das Lignum vitae eine hohe Flexibilitaumlt fuumlr den alltaumlglichen Gebrauch und zudem die eigentliche Intention die Formung von affectus

Gerard Zerbolt van Zutphen

Das stufenweise emotionale Gebet und die Meditation begegnen ebenfalls ndash allerdings weniger stark schematisiert als im Lignum Vitae ndash in einem Standardwerk der niederlaumlndischen Froumlm-migkeitsliteratur des 15 Jahrhunderts In De spiritualibus ascensionibus stellt Gerard Zerbolt

38 Im Tugend- und Lastersystem ist die Unterscheidung von zelus ira und furor sehr entscheidend bezuumlglich des guten und schlechten Strebens und damit hinsichtlich rationalen Ordnung des Geistes Zum tugendhaften und lasterhaften Zorn und seiner Aspekte vgl Richard von St Viktor Benjamin minor 40ndash44 PL 196029-033 ndash Gerade bei der Verurteilung Christi durch Pilatus (LV 624 S 77) wird das Thema der rasenden Wut (zelus invidiae) und des gerechte Zorns (zelus iustitia) nochmals differenziert

Meditation und Gebet 281

von Zutphen ein Autor der devotio moderna handbuchartig sein Aufstiegsmodell dar39 Darin vermittelt er seinen Mitbruumldern und einem frommen Laienpublikum ein ausgekluumlgeltes System von geistigen Uumlbungen die sich nicht nur auf den eigentlichen Gebetsakt beziehen sondern habituell im Alltag Anwendung finden sollen indem sie eine Transformation des Menschen be-wirken Er geht dabei von dem uumlblichen zeitgenoumlssischen theologischen Anthropologiemodell der Seele als durch Suumlnde verschmutzte imago Dei aus und stuumltzt sich auf bekannte moraltheo-logische Emotionstheorien die er jedoch stark ausweitet indem er den Emotionen eine genaue Funktion und eine Schluumlsselrolle im Erkenntnisprozess zuweist Die formula meditandi40 be-schreibt Gerard als inhaltlich verschieden konnotierte Selbstuumlberpruumlfungen in der die dadurch produzierten Emotionen wie Zerknirschung (compunctio bzw contritio) Furcht (timor) oder Hoffnung (spes) nicht nur bewusst gemacht sondern produktiv umgewandelt werden um zu Instrumenten und Stufen des weiteren Aufstiegs zu werden41 Diese Aufstiege sind ein Prozess der Selbsttransformation des Menschen der sich vollzieht indem der Mensch sowohl seinen urspruumlnglichen Zustand diese Transformation selbst als auch die Erfahrung seiner Veraumlnde-rung mit den erreichten Stufen emotional (ex affectu) erkennt (cogitare) und fuumlhlt (sentire)42 Aumlhnlich wie bei Hugo von St Viktor formuliert Gerard dass der Betende immer einen Affekt und ein Verlangen (desiderium) annehmen solle die zu den aktuellen Uumlbungen oder Medita-tionen passe43 Die Selbsttransformation im geistigen Aufstieg wird nach Gerard ebenso im uumlb-lichen Schema der lectio meditatio und oratio geuumlbt und an verschiedenen materiae meditandi44 vollzogen Die Affekte werden anhand dieser materiae erzeugt katalysiert und in das Gebet

39 Die Schrift (im Folgenden De Spir Asc) wird zitiert nach der Edition von F J LegrandN Staubach (Hgg) Gerard Zerbolt von Zutphen De Spiritualibus Ascensionibus La monteacutee du coeur Turnhout 2006 Vgl zur affektiven Konnotation von Gerards Gebetssystematik M Goossens De meditatie in de eerste tijd van de moderne devotie HaarlemAntwerpen 1954 Er stellt den Affekt als Wesensmerkmal des Gebets bei Gerard fest ebd S 118 Zur Einbindung der Schrift innerhalb der Gebetstheorien der Devotio Moderna und zum Stellenwert der affektiven Selbstreflexion auch in Beziehung zu zeitgenoumlssischer Kunst vgl J Scheel Das altniederlaumlndische Stifterbild Emotionsstrategien des Sehens und der Selbsterkenntnis Berlin 2014 bes S 155ndash171 230ndash241 414ndash42640 De Spir Asc Kap 641 Gerard spricht synonym von Aufstiegsstufen und affectus zB in Kap 27 bdquoIn hac prima ascensione vel primo affecto [hellip]ldquo Oder er benennt Affekte wie Hoffnung und Furcht als Stufen bdquo[hellip] istis duobus gradibus timoris et spei [hellip]ldquo Kap 26 Insgesamt benutzt er die Vokabeln affectus und affectio synonym zwar begegnet in Bedeutung von Strebevermoumlgen meist affectio und ersetzt also die vires durch die affectiones animae besonders wenn es um lasterhafte Affekte geht doch werden die einzelnen Affekte durchgehend als affectus nicht als affectio bezeichnet42 De Spir Asc Kap 643 Das Gebet solle nie bloszliges Lippenbekenntnis sein sondern immer aus der Wurzel des Herzens verfolgt werden und zwar stets aus den Affekten der Furcht Trauer Freude Bewunderung Dankbarkeit etc bdquo[hellip] ex affectu timoris meroris dilectionis admiracionis congratulationis etcldquo De Spir Kap 46 Diese Affektreihe stimmt mit derjenigen bei Hugo in De modo orandi uumlberein siehe oben S 273f44 Diese sind zunaumlchst die bekannten Meditationsinhalte wie man sie allenthalben in theologischer Literatur des Mittelalters findet Leben und Passion Christi das Juumlngste Gericht und die eigene Todesstunde (diese bspw bereits in Bonaventuras De Triplici Via Kap 3) Bei Gerard werden ebenfalls Houmllle und Himmelreich sowie die eigenen Suumlnden und Wohltaten Gottes eingeschlossen sowie das eigene Selbst in dem und waumlhrend des Gebets Zum Kontext der neuen Meditationswuumlrdigkeit des eigenen Selbst in den Lehren der Devotio Moderna vgl Scheel (cf Anm 39)

282 Anselm Rau und Johanna Scheel

uumlberfuumlhrt Dies macht Gerard wie Hugo anhand des Psalmengebets anschaulich indem er einerseits beispielhaft zeigt wie ex affectu ein Psalm gebetet wird waumlhrend er gleichzeitig bei vorheriger Thematisierung der lectio dessen Erregung durch die Lektuumlre betont

bdquoWenn du dich in deiner ersten Uumlberpruumlfung diskutiert hast und entdeckst dass deine Suumlnden zahlreicher sind als die Zahl des Sandes der Meere forme in dir den Affekt der Demut oder Trauer und nimm die Rolle (persona) eines Dieners an der seinen Herrn beleidigt hat Aus diesem Affekt heraus forme ein Gebet und sage sbquoGott sei mir gnaumldig nach deiner Huld tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmenlsquo (Ps 503) Wenn du in der zweiten und dritten Uumlberpruumlfung dich selbst diskutierend bemerkst dass dein Herz mit schlechten Begierden und boumlsen Verlangen gefuumlllt ist forme in dir wiederum den Affekt der Demut und nimm die Rolle eines Kranken an der nach Medizin fragt und sage sbquoHerr sei mir gnaumldig heile mich denn ich habe gegen dich gesuumlndigtlsquo (Ps 405) oder sbquoNichts blieb gesund an meinem Leib weil du mir grollst weil ich gesuumlndigt blieb an meinen Gliedern nichts heillsquo (Ebd) etc Wenn du dich im zweiten Aufstieg in Furcht durch Meditationen des Todes und des Gerichtes oder der Houmllle uumlbst nimm den Affekt der Furcht ein und die Rolle eines Suumlnders vor dem Richter an in Angst und Zittern als seist du schon uumlberfuumlhrt und der Richtspruch gegen dich gesprochen und sage sbquoVerdamme mich nicht Herr gehe nicht ins Gericht mit deinem Dienerlsquo (Ps 1422) oder sbquoHerr in deiner Wutlsquo (Ps 62) etc Wenn du dich aber in Hoffnung uumlbst durch die memoria des Him-melreiches nimm den Affekt der Liebe an und bete mit innigem Herzen und sage sbquoIch erstrebe eines Herr dieses wuumlnsche ich dass ich in dem Haus des Herrn wohnen darflsquo (Ps 264) oder sbquoWie der Hirsch lechzt nach frischem Wasserlsquo (Ps 412) etc Und ebenso kannst du mit anderen Affekten jene aus diesen formen und musst du die Rolle annehmen die deine Uumlbung erfordert und deine Meditation verlangtldquo45

Uumlber Hugo hinausgehend wird hier dem Betenden empfohlen sich konkrete Szenarien und personae zu imaginieren um die gewuumlnschten Affekte einzuuumlben Die Psalmenbeispiele mit den zugeordneten Affekten uumlberschneiden sich bei beiden Autoren bei Psalm 6 (timor) so-wie Psalm 26 (Gerard spes Hugo bona praesumptio)46 Besonders bei der Einuumlbung von timor und der Erwaumlhnung des Richtspruches in Kombination mit den Buszligpsalmen 6 und 142 stehen unmittelbar zeitgenoumlssische Darstellungen des Weltgerichts bzw der Auferstehung der Toten vor Augen wie man sie in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern in Kombination mit eben jenem Buszligpsalm 6 aber auch in der altniederlaumlndischen Malerei findet47 Psalmen koumlnnen zu den

45 bdquoUnde breviter ut modum habeas secundum predicta si te in prima examinacione discusseris et inveneris peccata tua multiplicata super numerum arene maris forma in te affectum humilitatis vel meroris et assume personam servi qui dominum suum offendit Et ex tali affectu forma oracionem dicens Secundum multitudinem miseracionum tuarum dele iniquitatem meam [hellip] Si te in secundo ascensu in timore per meditaciones mortis vel iudicii vel inferni exercueris assume affectum timoris et assume personam rei astantis coram iudice cum timore et tremore quasi iam convictus contra quem de iure proferenda est sentencia et dic Noli me condemnare Non intres in iudicium cum servo tuo Vel Domine ne in furore etc [hellip] Et sic de aliis affectibus quos ex istis formare poteris et assumere debes sicut exercicium tuum exigit et meditacio tua requiritldquo De Spir Asc Kap 4646 Zu den Psalmen die Hugo als Beispiele benutzt siehe oben S 273f47 Vgl dazu J Scheel Sich selbst sehen ndash der Betrachter in und vor dem Bild Spiegel- und Stifterfiguren in Texten und Bildern des 15 Jahrhunderts in E KochH Schlie (Hgg) Orte der Imagination ndash Raumlume des Affekts Die mediale Formierung des Sakralen Muumlnchen 2015

Meditation und Gebet 283

bdquototal memoriertenldquo48 Texten des Mittelalters gezaumlhlt werden weswegen sie sich beiden Autoren als Beispiele anbieten Sie benutzen die Buszligpsalmen (hier die Psalmen 6 31 [Hugo] 50 142) die im Stundenbuch fest als eigenstaumlndiger Gebetstext verankert sind und ebenso in der To-tenvigil ihren Platz haben ndash zusammen mit Gerards weiteren Beispielpsalmen 40 und 4149 Das Stundenbuch ist ein Medium in dem Psalmwort und bildliche Darstellung auf die Theorie des stufenweisen emotionalen Gebets und der Selbsttransformation treffen koumlnnen

Die Miniaturen die der Totenvigil bspw in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern des 15 Jahr-hunderts voranstehen zeigen oftmals eine ganzseitige Totenmesse sowie in der M-Initiale der gegenuumlberliegenden Textzeile50 zwei betende einander zugewandte Seelen im Fegefeuer (vgl

48 Zu diesen Texten gehoumlrten bspw das Pater Noster oder Ave Maria waumlhrend denen gleichzeitig auch uumlber bestimmte Aspekte zB der Passion meditiert werden konnte und sollte vgl P Saenger Books of Hours and the Reading Habits of the Later Middle Ages in R ChartierA Boureau (Hgg) The Culture of Print Power and the Uses of Print in Early Modern Europe Cambridge 1989 S 141ndash173 hier S 154 Bei den Psalmen genuumlgt wie man hier sieht allein die Nennung des Incipit oder bestimmter Verse die dem Leser so vertraut sind dass sie den gesamten Psalmentext mit assoziieren49 Zwar ist der Einsatz von Psalmen in mittelalterlichen Stundenbuumlchern mitunter verschieden doch kann man beispielhaft an einer Gruppe von Stundenbuumlchern in niederlaumlndischer Sprache diese Psalmen finden Diese Stundenbuumlcher sind mit der Uumlbersetzung des Gruumlndungsvaters des Devotio Moderna Geert Grote versehen oder stehen mit ihr in Verbindung N van Wijk Het getijdenboek van Geert Groote Naar het Haagse handschr 133 E 21 Leiden 1940 diese hauptsaumlchlich anhand einer einzigen Handschrift erarbeitete Edition wird hier in Ermangelung einer kritischen Edition genutzt Das getijdenboek enthaumllt einen Kalender des Bistums Utrecht fuumlnf Offizien (Marienoffizium Heiliggeistoffizium das lange und kurze Heiligkreuzoffizium Stunden der ewigen Weisheit) Buszligpsalmen Litanei und Totenvigil 50 Es ist der Beginn des invitatorium bdquoMi hebben ombeuanghen die suchten des dodes die pijnlike seer der hellen heben mi ombeuanghenldquo Wijk (cf Anm 49) S 156 ndash bdquoMich haben umfangen die Seufzer des Todes die qualvollen Schmerzen der Houmllle haben mich umfangenldquo

Abb 2 Meister des Hugo Jansz van Woerden Totenmesse und Seelen im Fegefeuer ca 1475ndash1500 Den Haag Koninklijke Bibliotheek Ms 76 G 13 fol 85vndash86r

284 Anselm Rau und Johanna Scheel

Abb 2)51 Das Fegefeuer bespricht Gerard eher marginal in seinem Traktat Fuumlr die affektive Meditation des eigenen Todes liefert er allerdings einerseits eine Anleitung fuumlr den Betenden die Affekte nun bereits zu erwecken die vor waumlhrend und nach dem eigentlichen Todeszeit-punkt entstuumlnden ndash und sich mit ihnen im Gebet selbst zu formen52 Andererseits raumlt er dem Glaumlubigen sich zum Zwecke des ex affectu-Gebets einen Koumlrper in seinen Verwesungsstadien vor Augen zu halten53 und was mit ihm selbst bei der Beerdigung passiere54 Das Fegefeuer ist ein im Sinne mittelalterlicher Moraltheologie produktiver Gebetsinhalt da der Glaumlubige im steten Oszillieren zwischen spes und timor besonders gut zur caritas aufzusteigen vermag Diesen Tenor findet man ebenfalls bei Geert Grote in seinem getijdenboek bei der Vorrede der Toten-vigil Hier raumlt er dem betenden Leser zum Wechsel aus Psalmen und Antiphonen in Hinblick auf die Erregung von Furcht und Angst Liebe und Hoffnung in der Ausrichtung auf Gut und Boumlse und mit Blick auf das Fegefeuer bdquoHier beginnt die Vigil in duytsche die so organisiert ist denjenigen zu helfen die von hinnen gefahren sind in der Freundschaft Gottes in das Fegefeuer Und ebenso dazu [gedacht ist] den Lebenden zu helfen die sie lesen damit ihnen das Wissen um die kommenden Dinge eingedruumlckt werde auf dass sie glauben hoffen und lieben an die Dinge in Herrlichkeit Und [sie] sich dafuumlr bereit machen und sich waumlhrenddessen die ganze Zeit fuumlrchten dass ihre Tage schnell vergehen Auf dass sie sich fuumlrchten aumlngstigen grauen und beben vor dem mannigfaltigen Leid der Angst und dem Elend die den Boumlsen ereilen werden und sie so darum ihr Leben lang ndash das hier aumluszligerst kurz ist ndash darauf hinarbeiten diesem Leid zu entgehen und [die Vigil ist auch hilfreich] weil ein Mensch diese beiden Dinge ndash Gutes in Liebe und Boumlses in Angst ndash besser ansehen (aensien) kann und erkennen und sich uumlberdenken damit er besser bitten kann und [es] mehr begehrt (begheert) und mehr liebt (myn[n]t) fuumlr diejenigen zu bitten die im Fegefeuer sind fuumlr ihre baldige Erloumlsung und dafuumlr Gottes Ehre zu vermehren [hellip] So hilft das Bitten der Lebenden den Toten und das Bitten fuumlr die Toten hilft den Lebendigen sich auf den Tod vorzubereiten [hellip] Und dazu ist das Singen dieser Psalmen heranzuziehen [und zwar] immer nach den Bedeutungen der Antiphone und den Sinn der

51 Die Darstellung von Seelen im Fegefeuer taucht als Buchillumination ab dem 13 Jahrhundert bereits vereinzelt auf und diente in Kombination mit Jenseitsvisionen Bibeltexten und moralisierenden Inhalten vor allem dem Gedenken an bereits Verstorbene wie auch zur persoumlnlichen Mediation des Lesers Oft findet eine narrative Einbindung statt Vgl dazu M Borowska Das Entfachen des Fegefeuers in der europaumlischen Miniatur des 13 Jahrhunderts in Umeni 57 (2009) S 310ndash325 Zum ikonografischen Kontext der hier gewaumlhlten Illumination vgl die Untersuchung von I M Veldman Purgatory in the Low Lands in B BukovinskaacuteL Slaviacuteček (Hgg) Pictura verba cupit Essays for Lubomiacuter Konečnyacute Prag 2006 S 169ndash180 va 170ndash17252 De Spir Asc Kap 19 In den folgenden Kapiteln stellt Gerard dem Leser dasselbe Prinzip an den Themen des Juumlngsten Gerichts der Houmllle und des Himmelreiches vor 53 bdquoItem interdum propone oculis tuis ymaginem alicuius hominis morientis et diligenter respice formam modum et ordinem quibus ad mortem deveniturldquo De Spir Asc Kap 1954 Weitere beliebte Illustrationen zum Totenoffizium im Stundenbuch des 15 Jahrhundert sind ebenfalls die Darstellung eines Toten um dessen Seele Engel und Teufel kaumlmpfen Schaumldeldarstellungen Seelen in Abrahams Schoszlig Himmel und Houmllle der Tod als Angreifer die Auferweckung des Lazarus sowie die Psychostasis mit Michael als Seelenwaumlger Diese Motive werden eher als ganzseitige Miniaturen dargestellt und bekommen zum Teil in der begleitenden Initiale jene zwei betenden Seelen im Fegefeuer hinzugefuumlgt

Meditation und Gebet 285

Antiphone soll man dazu in den Psalmen bedenken in allen Stundengebeten Dabei ist gut dass man sowohl vor als auch danach die Antiphonen spreche und schreibeldquo55

Mit der sich gegenseitig amplifizierenden Kombination von selbstreflexiven Affekt er-regendem und ausdruumlckendem Psalmentext mit der bildlichen Darstellung von Beerdigung mit Fegefeuer und mit derartigen Aufstiegsmodellen vertraut kann der betende Leser hier den eigenen Tod und die Bestrafung seiner Seele als Konsequenz der eigenen irdischen Suumlndhaftig-keit produktiv in seine Bemuumlhungen des geistigen Aufstiegs und seine Selbsttransformation kanalisieren

Imagination und Illumination

Das Gebetsleben des mittelalterlichen Glaumlubigen ist gekennzeichnet durch seine Affektivitaumlt Die affectus werden mit Gebetstexten und Psalmenreihen sowie mithilfe bildlicher Darstel-lungen sorgfaumlltig kultiviert und systematisch eingeuumlbt Dabei sind dies altbekannte ndash weil biblische ndash Text- und Bildinhalte deren affizierendes Potential auf neue Arten ausgeschoumlpft wird Texte und physische wie gerade geistige Bilder erinnern den Betenden nicht nur unver-bindlich an bereits bekannte Ereignisse Situationen und Figuren sondern lassen ihn sich mit diesen durch affektive und reflexive Meditationspraktiken identifizieren Fremde Worte und Emotionen werden darin zu den eigenen Vorbilder aus dem Kreis der Heiligen werden so zu Imaginationsfiguren das Selbst wird auf Gott ausgerichtet und in all seinen Aspekten gezielt emotional reflektiert So unterschiedlich die formale Herangehensweise dieser Praktiken bei den drei untersuchten Autoren Hugo von St Viktor Bonaventura und Gerard Zerbolt van Zutphen zu sein scheint vermitteln sie doch die selbe zentrale Maszliggabe oratio est affectus ndash bdquoGebet ist Affektldquo

Uumlbersetzung Hugo von St Viktor De meditando PL 176 993ndash99

Die Meditation ist die haumlufige Erwaumlgung (cogitatio) der Ursache (causa) und des inneren Be-weggrundes (ratio) eines einzelnen zu untersuchenden Gegenstandes (res) was seine Art sei (modus) was die Ursache und was der Beweggrund

Es gibt drei Arten (genus) der Meditation eine in Bezug auf die Schoumlpfung (in creaturis) eine hinsichtlich der Schrift (in scripturis) und eine hinsichtlich der Sitten (in moribus) Die erste erwaumlchst aus der Bewunderung (admiratio) die zweite aus der Lektuumlre (lectio) die dritte aus der umsichtigen Beobachtung (circumspectio)

Zuerst bringt die admiratio die Frage (quaestio) hervor die Frage das Erforschen (investi-gatio) und das Erforschen die Entdeckung (inventio) Dies ist damit die Bewunderung der Ord-

55 Fuumlr den altniederlaumlndischen Text vgl Wijk (cf Anm 49) S 155 Zum Antiphon das der Vigil vorangestellt ist vgl Anm 50

286 Anselm Rau und Johanna Scheel

nung (dispositio) die Frage nach der Ursache und die Entdeckung des inneren Beweggrundes Die Bewunderung beruht auf der Betrachtung der Ordnung im Himmel das ist die Gleich-artigkeit von allem und der Houmlhen und der Tiefen (alta et depressa) auf der Erde Die Frage betrifft die Ursache (causa) des irdischen Lebens auf Erden und des himmlischen Lebens im Himmel Das Erforschen fragt nach dem inneren Beweggrund dass so wie die Erde auch das irdische Leben beschaffen ist und dass der Beschaffenheit des Himmels selbst auch das himm-lische Leben gleicht

Bei der Lektuumlre (lectio) aber erfolgt die Betrachtung (considerare) folgendermaszligenAls erstes dient die lectio dazu durch die Bereitstellung des Stoffes (materia) die Wahr-

heit zu erkennen (cognoscere) die meditatio fuumlgt ihn zusammen (coaptare) die oratio hebt ihn empor (sublevare) die operatio (Ausfuumlhrung) wendet ihn an (componere) und die contemplatio frohlockt in ihm selbst (exsultare)

Es ist durch die Meditation der Schriften zu erkennen auf welche Weise es sich gehoumlrt etwas zu wissen Als Beispiel steht geschrieben Declina a malo et fac bonum (Vg Ps 3627 ndash Wende dich ab von dem Boumlsen und tue Gutes EUuml Ps 3727) Deshalb wurde zuvor gesagt die meditatio wendet sich der lectio zu um sich vom Boumlsen abzuwenden und darauf Gutes zu tun Der Grund (causa) hierfuumlr ist wenn sich nicht zuerst das Boumlse zuruumlckzoumlge wuumlrde das Gute nicht herantreten koumlnnen Der innere Beweggrund (ratio) aber ist so wie zuerst die Sproumlsslinge des Boumlsen mit ihrer Wurzel ausgerissen werden muumlssen so muss danach das Gute (ein-)ge-pflanzt werden Warum wurde daher gesagt Wende dich ab von dem Boumlsen Weil es einem auf dem Weg begegnet Man wendet sich deshalb ab weil wir es wo auch immer nicht vermoumlgen durch Staumlrke zu widerstehen wir entkommen ihm lediglich wenn wir uns mit Klugheit und Vernunft (consilio et ratio) von ihm abwenden Auch muumlssen wir uns vom Boumlsen abwenden um dem Naumlhrstoff (materia) zur Suumlnde aus dem Weg zu gehen ndash beispielsweise ist von Hochmut (superbia) Begehrlichkeit (incontinentia) Begierde (concupiscentia) Neid (invidia) und Streit (contentio) abzulassen um sich vom Reichtum (abundantia) der Schoumlnheit (species) des Flei-sches und der Besitzgier (amor possessiones) abzuwenden Dies bedeutet bdquosich abzuwendenldquo Desgleichen wenn auf diese Weise von allem Boumlsen sich abzuwenden angeraten ist so wird die Verrichtung alles Guten verlangt Und so ist also der ebenso schuldig bzw angeklagt der allein nur alles Boumlse meidet wie derjenige der nicht zugleich all das Gute tut Aber wenn dies so ist wer ist dann kein Angeklagter (reus) Folglich wird uns anbefohlen uns von allem Boumlsen loszusagen Andererseits kommt das Gute zum Einen aus dem was sich gehoumlrt (necessitas) und zum anderen aus dem Willen (voluntas) Es gehoumlren sich die Dinge einer Vorschrift (praecep-tum) und die eines Geluumlbdes (votum) alles uumlbrige wird erfuumlllt wenn eine Sache [also Schuld] mehr als nur vergolten wird (supererogare) und einem nichts mehr anlastet

Daher zielt die Meditation bei der lectio darauf ab zu ergruumlnden auf welche Weise et-was das erkannt wird gut ist warum und wie es zu erreichen ist weil es ndash ist es [ersteinmal] erkannt ndash auch zu verrichten ist Die Meditation ist das Entdeckungsvermoumlgen der vorgefassten Absicht (excogitatio consilii) zu erwaumlgen auf welche Weise das Gute das erkannt wurde erfuumlllt wird denn das Erkannte ist unbrauchbar wird es nicht vollbracht

Deshalb ist die Meditation bei der lectio eine dreifache Betrachtung nach der historia der allegoria und der tropologia Gemaumlszlig der historia erfolgt die Meditation wenn wir nach dem

Meditation und Gebet 287

vollendeten inneren Beweggrund der Dinge fragen die geschehen sind und diesen hinsichtlich seiner uumlbereinstimmenden Art und Weise (modus) bezuumlglich der Zeiten (tempora) und Orte (loci) bestaunen (admirare) Bei dieser Betrachtung der goumlttlichen Ratschluumlsse (iudicium) laumlsst man nicht davon ab daruumlber nachzudenken dass diese richtigen und gerechten (rectus et iustus) Entscheidungen zu keiner Zeit den Beistand [Gottes fuumlr die Menschen] entzogen (deesse) und durch sie das geschah was sich gehoumlrte und vergolten wurde was gerecht war (iustum fuit)

Die Meditation hinsichtlich der allegoria beschaumlftigt sich mit der Gliederung (dispositio) der vorangegangenen und zukuumlnftigen Dinge und so wie fuumlr den Verstand (intelligentia) an-gemessen richtet sie dabei ihre Aufmerksamkeit auf deren uumlbereinstimmende Bedeutung in ihrer bewundernswerten Vernunftmaumlszligigkeit (ratio) und Vorhersehung (providentia) und auf ihre fuumlr den Glauben (fides) geschaffene Gestalt (forma)

Bezuumlglich der tropologia beschaumlftigt sich die Meditation damit welche Frucht die Worte der lectio hervorbringen und erforscht (exquirere) was diese wenn sie ausgefuumlhrt werden [im Sinne des eigentlichen Aussprechens der Worte aber auch die Ausfuumlhrung ihres Inhaltes] ein-pflanzen (insinuere) und dabei zugleich lehren was zu vermeiden ist Sie stellt vor Augen was durch die lectio der Schrift zur Unterweisung (eruditio) zur Ermahnung (exhortatio) zur Troumls-tung (consolatio) und zum Schrecken (terror) dient Hierdurch erleuchtet die tropologia dahin-gehend was zum Verstehen der Tugenden (virtus) fuumlhrt sie naumlhrt (nutrire) den Affekt (affectio) und lehrt (edocere) die Lebensfuumlhrung auf dem Pfad der Tugenden

Die Meditation der Sitten (mos) erfolgt gemaumlszlig der Affekte (affectus) der Erwaumlgungen (cogi-tationes) und der Werke (opera)

Hinsichtlich der Affekte ist zu betrachten wie sie recht und aufrichtig (rectus et sincerus) zu sein vermoumlgen damit ist gemeint auf das und zu was hin sie geschuldet sein muumlssen und in welcher Weise sie zu sein haben Zu differenzieren ist naumlmlich dass das was sich nicht gehoumlrt (non oportet) boumlse ist und zugleich das was sich gehoumlrt zu lieben ist ndash das zu lieben das sich gleichwie nicht gehoumlrt ist boumlse Daher handelt es sich um einen guten Affekt wenn er auf das ausgerichtet ist auf das er verpflichtet ist und in der Weise wie es sich gehoumlrt

Amnon liebte (diligere) seine Schwester und dies war der Affekt zu dem er bestimmt war doch weil er Boumlses begehrte war es nicht der Affekt wie er ihn schuldete (vgl 2 Sam 13) So kann der Affekt auf das gerichtet sein zu was er gehoumlrt dies aber nicht in der [angemessenen] Art und Weise Niemals aber kann der Affekt so sein wie er zu sein hat wenn er nicht auf das ihm Zugehoumlrige ausgerichtet ist Auf das ausgerichtet zu was er gehoumlrt bedeutet dass er recht ist und in der Art und Weise wie es sich gehoumlrt und dementsprechend ist er rein Daher werden die Affekte in den Erwaumlgungen betrachtet damit sie rein (mundus) und geordnet (ordi-natus) sind Rein sind sie wenn weder etwas Boumlses von den Affekten hervorgebracht wird noch das Boumlse die Affekte hervorbringt Dass sie geordnet sind meint wenn sie vernuumlnftigerweise aufgrund des ihnen eigenen Anlasses (suo tempore) aufkommen (advenire) Es ist nicht ohne Schaden (vitium) [naumlmlich im Sinne des korrekten Vorgehens nicht ohne Formfehler] bereits das Gute zu einem diesem nicht angemessenen Zeitpunkt zu erwaumlgen wie etwa an die lectio waumlhrend der oratio zu denken oder auch an die oratio waumlhrend der lectio

Bei den Werken ist als erstes zu betrachten was zum Beispiel durch die gute Absicht (bona intentio) geschieht Um eine gute Absicht handelt es sich wenn sie einfach und aufrichtig ist

288 Anselm Rau und Johanna Scheel

(simplex et recta) Die bona intentio ist arglos ohne Hinterlist (malitia) und aufrichtig ohne Ignoranz (ignorantia) Die naumlmlich ohne Hinterlist ist besitzt den Eifer (zelus) Ist sie aber aus der [bewussten] Unkenntnis gegenuumlber dem Wissen (scientia) (Roumlm 102) geboren verfuumlgt sie nicht uumlber den [wahren] Eifer Daher ist es notwendig dass die Absicht aufrichtig ist in der Bescheidenheit (discretio) und arglos im Wohlwollen (benignitas) Bei den Werken ist zu be-trachten dass sie aus der aufkommenden guten Absicht heraus mit beharrlicher Leidenschaft (fervor) schlieszliglich ans Ziel gefuumlhrt werden damit nicht die Beharrlichkeit (perseverantia) ge-laumlhmt (torpere) und die Liebe (amor) nicht lau wird (tepescare)

Auf gleiche Weise erfolgt die meditatio der Sitten in einer zweifachen Betrachtung naumlmlich einer inneren und einer aumluszligeren Die aumluszligere blickt auf das Ansehen (fama) die innere auf das Gewissen (conscientia) Die aumluszligere Betrachtung erfolgt gemaumlszlig dem was ziert (decere) und was nuumltzt (expedire) was als Beispiel (exemplum) dient und was den Lohn (meritum) hervorbringt ndash uns zum Lohn und den Naumlchsten als Beispiel Die innere Betrachtung dagegen schaut auf das Gewissen damit es rein (mundus) sei ohne Anklage (accusatio) zu erleiden (pati) ob nun durch die Laumlhmung (torpor) des Guten oder die Hartnaumlckigkeit (praesumptio) des Boumlsen Rein ist aber jenes Gewissen das weder durch das Vergangene zu recht angeklagt (accusare) noch durch das Gegenwaumlrtige unrechtmaumlszligig erfreut (delectare) wird

Daher laumlsst die meditatio der Sitten ihre Betrachtung nicht ruhen damit sie jegliche Re-gungen (motus) die sich im Herzen erheben bemerkt und erwaumlgt woher sie kommen und worauf sie abzielen (tendere) Das heiszligt woher sie kommen gemaumlszlig ihrem Ursprung und wo-nach sie streben hinsichtlich ihres Ziels Alles ist naumlmlich eine Bewegung aus irgendetwas und auf irgendetwas Die Bewegungen des Herzens sind manchmal offenkundigen Ursprungs manchmal entspringen sie aber auch Verborgenem Bei denen der Ursprung offenkundig ist ist er bisweilen durch das Gute bisweilen aufgrund des Boumlsen erwiesen Was offenkundig gut ist kommt von Gott was aber deutlich boumlse erscheint entspringt entweder dem Teufel oder dem Fleisch Dies sind naumlmlich die drei Urheber (auctores) aller Vorstellungen (suggestio) und aller Eingebungen (aspiratio) die unsichtbar an das Herz herantreten und aus jenen drei hervor-gehen Entspringen die Bewegungen des Herzens daher dem Verborgenen koumlnnen sie manch-mal aus dem Guten und dem Geheimen hervorgehen und sind manchmal boumlse und zweifelhaft (dubius) Die dem Guten entspringen kommen von Gott die aber dem Boumlsen entstammen sind entweder des Teufels oder des Fleisches

Die Bewegungen die folglich offenkundig sind sei es im Guten oder Boumlsen werden auf den ersten Blick durch ihren Ursprung angezeigt Jene aber die zweifelhaft bleiben hinsichtlich ih-res Grundes sind am Ende zu uumlberpruumlfen (probare) Ihr Ergebnis [oder Ausgang] (exitus) zeigt naumlmlich deutlich was vom Ursprung her verborgen war und deswegen muss derjenige der es nicht vermochte den Ausgangspunkt seiner Herzensbewegungen zu beurteilen (iudicare) das Ziel und die Ausfuumlhrung [bzw Vollendung] (finis et consummatio) untersuchen (investigare) Die Bewegungen naumlmlich die zweifelhaft und ungewiss sind sind vom verborgenen Guten oder Boumlsen Wie gesagt wurde haben die schlechten Regungen ihren Ursprung entweder beim Teufel oder im Fleisch Diese aber sind beide boumlse sie unterscheiden sich nicht indem oder durch was sie boumlse sind doch unterscheiden sie sich dahingehend dass die Regungen des Her-zens die dem Fleisch entspringen haumlufig aus einer Notwendigkeit (necessitas) heranwachsen

Meditation und Gebet 289

die aber die tatsaumlchlich vom Teufel kommen nehmen noch oumlfter wider der Vernunft (ratio) ihren Anfang (oriri) Was naumlmlich vom Teufel eingegeben wird (suggerere) ist in der Tat dem Menschen fremd und wird deswegen haumlufig von der menschlichen Vernunft abgelehnt weil er beispielsweise unlaumlngst gesaumlttigt Hunger leidet (pati) kurz zuvor noch trunken (inebriatus) vor Durst (sitis) gluumlht (aestuare) oder wenn er nach einem ausgiebigen Schlaf (dormitio) sich erhebend vom Traum (somnus) bedruumlckt (praegravare) wird

Hieraus also werden die Werke des Teufels differenziert betrachtet weil sie ja an den Men-schen von auszligen herangetragen werden und der menschlichen Vernunft fremd sind Bei den Werken des Fleisches und ihren Eingebungen liegt der Grund des Oumlfteren in einer vorangegan-genen Notwendigkeit Aber weil sie Ziel und Maszlig (modus et mensura) uumlbersteigen wachsen sie zum Uumlberfluss (superfluitas) heran Dies ist als Beispiel eben gerade dann der Fall wenn nach der Einnahme einer Mahlzeit der Hunger hemmungslos (immoderatus) begehrt (appetere) und nach Enthaltsamkeit (abstinentia) das Maszlig (mensura) bei der Aufnahme von Speise (edulium) nicht gehalten wird

Daher wird die meditatio der Sitten aufgrund eines dreifachen Urteils betrieben Das erste urteilt zwischen Tag und Nacht das zweite zwischen Tag und Tag und das dritte schlieszliglich untersucht den gesamten Tag (vgl Roumlm 145) Zwischen Nacht und Tag zu urteilen meint das Boumlse vom Guten zu (unter-)scheiden Die Beurteilung zwischen Tag und Tag bedeutet eine Un-terscheidung zwischen etwas Gutem und etwas Besserem vorzunehmen Uumlber den gesamten Tag zu richten ist schlieszliglich das einzelne Gute fuumlr den eigenen Lohn zu ermessen (aestimare)

So hat die meditatio der Sitten bei jeglichem Umgang (conversatio) das Ziel und die Rich-tung (directio) im Blick Das Ziel ist wohin man strebt die Richtung wodurch man leichter ans Ziel gelangt Jeder naumlmlich der zu irgend etwas strebt so wie etwas seine Bahn (cursus) lenkt und unaufhoumlrlich weiterzieht kommt schneller ans Ziel Es gibt daher Gutes durch das man stark bewegt ist (moveri) zugleich gibt es aber wenig her durch das man vorankommt (pro-moveri) Anderes dagegen fuumlhrt mit etwas Muumlhe (labor) zu groszligem Gewinn (fructus) Und diese sind folglich zu unterscheiden und das Bessere das mehr nuumltzt auszuwaumlhlen Welches auch immer mehr nuumltzt ist besser und es gehoumlrt sich jedes Werk auf seinen Ertrag hin zu beurteilen Indem viele diese Unterscheidung (discretio) nicht einhielten haben sie sich zwar aufs aumluszligerste bemuumlht sind jedoch nur wenig vorangekommen weil sie das Auge aumluszligerlich so sehr auf die Gestalt (species) der Werke richteten und nicht innerlich auf den Gewinn durch die Tugenden blickten Sie ergoumltzen sich daran groszlige Taten zu verrichten anstatt dass sie das Nuumltz-liche (utilia) uumlben (exercere) um sich selbst zu bessern (emendari) Dabei schaumltzten (diligere) sie vielmehr das durch das sie den Anschein erwecken (videri) konnten [so zu sein]

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zunaumlchst das was man schuldet entweder auf-grund einer Vorschrift (praeceptum) oder eines Geluumlbdes (votum) Diesbezuumlglich ist die erste Tat der meditatio zu ermitteln ist sie oder es erfuumlllt fuumlhrt es zum Lohn und wenn nicht bringt dies den Anklagezustand (reatus) hervor Es sind also zuerst die Dinge zu tun die nicht ohne Schuld (culpa) weggelassen werden koumlnnen Danach ist die meditatio alsdann so zu verrichten dass wenn etwas durch freiwillige Uumlbung (exercitatio) noch hinzugefuumlgt wird die Pflicht-erfuumlllung [eigtl Schuld] (debitum) nicht verhindert wird (impedire) Die einen die das nicht zu leisten vermoumlgen was sie schulden wollen was sie nicht muumlssen Die anderen wenn sie im-

290 Anselm Rau und Johanna Scheel

stande sind zu tun was sie schulden bringen freiwillig Hindernisse (impedimentum) mit sich indem sie etwas wollen was sie nicht muumlssen

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zwei Dinge des Boumlsen vor denen man bei der Ver-richtung von Gutem besonders auf der Hut sein muss die Betruumlbnis [Niedergeschlagenheit] (afflictio) und die Besessenheit [Vereinnahmung] (occupatio) Die afflictio fuumlhrt zur Bitterkeit (amaritudo) die occupatio zur Zerstreuung (dissipatio) Mit der afflictio verbittert die Suumlszlige (dulcedo) des Geistes und mit der occupatio wird die Ruhe (tranquillitas) zerstoumlrt (dissipare) Es herrscht Betruumlbnis wenn man fuumlr jene Dinge die man nicht vermag aufgrund der eigenen Ungeduld (impatientia) ungluumlcklich wird (urere) Dagegen handelt es sich um Besessenheit (occupatio) wenn man in seinem Handeln (nach seinem Vermoumlgen) aufgrund der impatientia gequaumllt wird (agitare) Folglich darf die Seele (animus) nicht aufgrund des Boumlsen verbittert wer-den sie muss ihr Unvermoumlgen (impossibilitas) geduldig (patienter) aushalten Genauso darf sie aber auch nicht vom Boumlsen eingenommen werden und darf ihr Vermoumlgen (possibilitas) nicht uumlber ihr eigenes Maszlig hinaus ausdehnen (extendere) Daher muss die meditatio der Sitten in einer weiteren Betrachtung der Lebensfuumlhrung zu einem Urteil kommen und dabei billigen dass es weder gut ist die Dinge die man nicht vermag ungeduldig (impatienter) zu verlangen (appetere) noch die welche man erreicht toumlricht (insipienter) zu verschmaumlhen (fastidire) Wer naumlmlich immer das begehrt was er nicht vermag und das was er [jedoch] vermag verabscheut wird sich weder am Gegenwaumlrtigen erfreuen (frui) noch am Zukuumlnftigen saumlttigen (satiare) Er verlaumlsst naumlmlich das Gute unentwickelt vor der Vollendung und eignet sich das gerade erst Be-gonnene vorzeitig an Deswegen ist es gut aufgrund des eigenen Guten zufrieden zu sein und das gegenwaumlrtige Gute durch hinzukommendes Gutes zu vermehren und es nicht aufgrund des Zukuumlnftigen wegzuwerfen (abicere) Der Austausch (commutatio) des Guten ist naumlmlich ein Leichtes (levitas) seine Uumlbung (exercitatio) aber die Tugend Oft eilen sie auf unterschiedlichen Wegen die einen die ein fruumlheres durch ein neues Gutes fallen lassen (abicere) und die ande-ren die [sich] vom Untersten zum Houmlchsten emporschwingen (conscendere) Wer naumlmlich nach Veraumlnderung (mutatio) fragt ist uumlberdruumlssig (fastidiosus) so wie der der nach dem Voran-schreiten (profectus) strebt eifrig bemuumlht ist (studiosus) Am aufrechtesten beschreitet daher derjenige den Weg der dabei so auf das Bessere brennt (fervere) dass er des Guten nicht uumlber-druumlssig wird sondern es vorerst empor haumllt solange bis er es spaumlter zu der ihm angemessenen Zeit sich aneignet (apprehendere)

Abbildungsnachweis

Einband Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders

Farbtafeln 1 (zu Beitrag Rosenwein) Coll BNU de Strasbourg ndash 2 (zu Beitrag Ferguson) Ar-chiv der Verf ndash 3 (zu Beitrag Herding) Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preu-szligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders ndash 4 (zu Beitrag Droste) R Kahsnitz Die Groszligen Schnitzaltaumlre Spaumltgotik in Suumlddeutschland Oumlsterreich Suumldtirol Muumlnchen 2005 Taf 53 ndash 5 6 (zu Beitrag Schedl) 75 Jahre 1933ndash2008 Kirche Mutter vom Guten Rat Festschrift und Chro-nik FrankfurtM 2008 S 92 Dr Bernd Konrad Radolfzell ndash 7 8 9 (zu Beitrag Zaumlh) Archiv des Autors ndash 10 (zu Beitrag Niehr) Universitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Media-thek 11 12 (zu Beitrag Muumlller) Autorin ndash 13 14 15 (zu Beitrag Schlie) Su concessione del Ministero dei beni e delle attivitagrave culturali e del turismo ndash Galleria Nazionale delle Marche ndash Urbino Archivio fotografico Archiv der Verf F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 ndash 16 17 (zu Beitrag Stoichita) D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 ndash 18 19 20 (zu Beitrag Schmidt) London British Museum C Geissmar-BrandiE Louis (Hgg) Glaube Hoffnung Liebe Tod Wien 1995 S 149 Archiv Autor ndash 21 (zu Beitrag Jung) Autorin

Textabbildungen Droste 1 3 4 Autorin 2 E Oellermann Der Hochaltar in St Martin zu Lorch am Rhein in H KrohmE Oellermann (Hrsg) Fluumlgelaltaumlre des spaumlten Mittelalters Ber-lin 1992 Abb 2 ndash Ferguson 1ndash3 Archiv der Verf ndash Frese 1 2 3 5 M BrandtA Eggebrecht (Hgg) Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen Katalog der Ausstellung Hil-desheim 1993 Bd 1 S 386f Abb 197 u 198 Bd 2 S 583 KatNr VIIIndash32 S 604 KatNr IXndash8 4 G LutzA Weyer (Hgg) 1000 Jahre St Michael in Hildesheim Kirche ndash Kloster ndash Stifter Peterberg 2012 S 148 Abb 118 ndash Gruumlndler 1ndash4 L DomenicoA Nova (Hg) Leonardo da Vincirsquos Anatomical World Language Context and Disegno Akten der Internationalen Tagung Florenz 30ndash31 Mai 2008 Venedig 2011 S 237 S 236 S 241 S 186 5 6 Le journal de Jacopo da Pontormo traduit par Jean-Claude Lebensztejn avec la collaboration drsquoAlessandro Parronchi Paris 1992 S 46 S 50 ndash Herding 1 2 3 4 5 6 7 Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders 8 Max J Friedlaumlnder Early Netherlandish Painting 14 vols Leiden und Bruumlssel 1967ndash1974 vol II 1967 pl 10 Nr 3i 9 Wolfenbuumlttel Herzog-August-Bibliothek ndash Jung 1 2 3 4 5 Autorin ndash Kessler 1 6 7 Autor 2 3 Museo delle Terme Rom 4 British Museum London 5 Alexei Lidov ndash Maxwell 1 2 AHN 3 Autor 4 Sancho el Mayor y sus herederos ed I Bango Torviso et al 2006 cat 25 5 BNE ndash Muumlller 1 Italian painting c 1330ndash1550 I National Gallery in Prague II Collections in the Czech Repub-lic Illustrated summary catalogue Prag 2008 2 Collection of The John and Mable Ringling Museum of Art the State Art Museum of Florida Florida State University 3 2014 copy Archivio Fotografico ndash Fondazione Musei Civici di Venezia ndash Niehr 1 A Schuttwolf (Hg) Ausst-Kat Jahreszeiten der Gefuumlhle Das Gothaer Liebespaar und die Minne im Spaumltmittelalter Ostfil-

400 Abbildungsnachweis

dern-Ruit 1998 2 D de Vos Hans Memling Das Gesamtwerk AntwerpenStuttgart 1994 S 278ndash283 TH Borchert Hans Memling Portraits Stuttgart 2005 S 173f Nr 23 3 Univer-sitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Mediathek ndash Pfisterer 1 E Steinmann ldquoLa mano di Michelangeloldquo in Studien aus Kunst und Geschichte Friedrich Schneider zum siebzigsten Geburtstag Freiburg iBr 1906 unnum Taf 2 R Bernini ua La mano e il volto di Antonio Canova PossagnoQuinto di Treviso 2008 S 197 3 U Klein Zur Forschungsgeschichte des Duumlrer-Hauses in GU GroszligmannF Sonnenberger (Hgg) Das Duumlrer-Haus Neue Ergebnisse der Forschung Nuumlrnberg 2007 S 105 nach Carl A Heideloff Die Ornamentik des Mittelalters Bd 3 Nuumlrnberg 1847 S 42 4 WH Vroon Het wonderlid van Jan de Witt en andere vaderland-se relieken Nijmegen 1997 S 68 5 Autor nach GF Tomasini Petrarca Redivivus Padua sup21650 S 128 6 A Picturesque Tour Through Holland Brabant and Part of France made in the autum of 1789 by Samuel Ireland London sup21796 Bd 2 Taf nach S 13 ndash Pinkus 1 2 3 4 5 6 Autor 7 8 Institut fuumlr Kunstgeschichte Universitaumlt Wien Fotothek ndash RauScheel 1 M Gregori Uf-fizien und Palazzo Pitti Muumlnchen 1994 S 31 2 Den Haag Koninklijke Bibliotheek ndash Raeck 1 2 5 7 Fotothek des Instituts fuumlr Archaumlologische Wissenschaften AbtI Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main 3 Zeichnerische Rekonstruktion M Junghans nach H-V Herrmann Olympia ndash Heiligtum und Wettkampfstaumltte Muumlnchen 1972 Abb 95 4 Antikensammlung Staatliche Museen zu Berlin Foto Johannes Laurentius 6 W Riezler Weissgrundige attische Lekythen Muumlnchen 1914 Taf 23 8 Deutsches Archaumlologisches Institut Athen Fotothek ndash Reudenbach 1 F MuumltherichJE Gaehde Karolingische Buchmalerei Muumlnchen 1979 Taf 4 2ndash4 httpwwwbibliotheca-laureshamensis-digitalde (Zugriff 20022014) ndash Schmengler 1 2 3 Torsten Saumlnger Frankfurt 4 5 6 Eric Tschernow Berlin ndash Schedl 1ndash3 Dr Bernd Konrad Radolfzell 4 FrankfurtMain-Niederrad Pfarrarchiv der katholischen Kirchengemeinde Mut-ter zum Guten Rat ndash Schlie 1 Archiv der Verf 2 Archiv der Verf + D E Katz The Contours of Tolerance Jews and the Corpus Domini Altarpiece in Urbino in Art Bulletin 85 (2003) S 647ndash661 S 647 3 F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 Schmidt 1 2 London British Museum 3 M Geisberg Der Meister ES Leipzig 21924 4 Archiv Autor ndash Taxer 1 2 O Paumlcht Altniederlaumlndische Malerei Von Rogier van der Weyden bis Gerard David Muumlnchen 1994 Abb 91 S 118 Abb 93 S 120 3 4 E Panofsky Die altniederlaumlndische Malerei Ihr Ursprung und Wesen Bd 2 Koumlln 2006 Abb 387 S 236 Abb 358 S 214 ndash Stoichita 1 D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 2 3 J Bialostocki Les Museacutees de Pologne Bruxelles 1966 ndash Zaumlh 1 2 Archiv des Verf 3 Metropolitan Museum of Art Bulletin 58 (2001) S 17 4 G ForsythK Weitzmann The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai The Church and Fortress of Justinian Plates Ann Arbor (Mi) 1973 Plate 121

Meditation und Gebet 271

begegnet er jedoch in einem anderen Traktat Hugos De modo orandi als zentrale Aussage wie-der Fuumlr De meditando kann er als bestimmender Unterton angenommen werden

De modo orandi

In De modo orandi10 setzt Hugo von St Viktor die rhetorische Form des Gebets in Relation zu Intention und Emotion des Betenden und legt das komplex verwobene Verhaumlltnis von Wort und Emotion systematisch dar Dabei ist die starke Betonung der zentralen Rolle der Affekte innerhalb des Gebets bis dahin einzigartig Hugo aumluszligert sich sogar so dass den frommen Af-fekten die gesamte Kraft des Gebets inne wohne bdquoin affectibus pietatis est omnis virtus orandildquo11

Nach einem Abriss uumlber den generellen Aufbau des Gebets der oratio12 die ausgehend von der meditatio der zweifachen Erkenntnis naumlmlich der eigenen Fehler wie der Barmherzigkeit Gottes zur compunctio13 fuumlhrt und diese in die devotio uumlberfuumlhrt (Kap 1) werden anhand rhe-torischer Formen die verschiedenen Gebetskategorien klassifiziert (Kap 2ndash3) Hiermit gelingt es Hugo nicht nur grundlegende Bestandteile oder Uumlberbegriffe des Gebets detaillierter zu un-terscheiden sondern diese kategorisierende Herangehensweise in einen Zusammenhang mit praktisch brauchbaren Gebetstexten und -worten zu stellen Dies geschieht zunaumlchst ebenfalls in einem engen Theoriegeruumlst in dem die oratio in supplicatio (das demuumltige Gebet) postulatio (die Anrufung) und insinuatio (die versteckte Andeutung) geschieden wird und diese drei Ge-

10 266 Handschriftenexemplare von De modo orandi sind vorhanden mehr als hundert entfallen auf das 15 Jh Vgl Hugo von St Viktor 1997 (cf Anm 6) S 118 ausfuumlhrlicher dazu Goy (cf Anm 1) Laut Goy ist De modo orandi nach dem Soliloquium de arra animae das weitverbreitetste Werk Hugos (12 Jh 42 13 Jh 34 14 Jh 40 15 Jh 105 uumlberlieferte Exemplare) ebd S 506 Diese Verteilung und der prononcierte Sprung im 15 Jh entsprechen nicht der Verbreitungsintensitaumlt aller Schriften Hugos durch die Jahrhunderte die Goy S 509 mit 852 im 12 Jh 665 im 13 Jh 331 im 14 Jh und 674 im 15 Jh beziffert Im 15 Jh findet sich die hohe Verbreitung vor allem im deutschen Raum sowie durch das Gebiet zwischen Rhein und Schelde Goy sieht den Grund in den Klosterreformen der Windsheimer Kongregation und somit der Devotio Moderna an ebd S 51711 De modo orandi Kap 712 Dabei ist die oratio hier nicht eins zu eins mit dem Begriff der oratio in De meditando gleichzusetzen dies ist ein generelles Problem bei dem Versuch aus den Werken Hugos einheitliche Begriffsdefinitionen zu destillieren ndash oftmals werden Begriffe mehrfach belegt und erscheinen gerade in systematischen Abhandlungen die eigentlich von Begriffsschaumlrfe abhaumlngig sind zuweilen an verschiedenen Stellen ein und desselben Systems mit anderen Konnotationen Vgl zB De contemplatione wo dies mit dem Begriff der contemplatio geschieht oder in De modo orandi wo oratio einmal als uumlbergeordnete Kategorie und einmal als Unterkategorie der supplicatio in Form der pura oratio erscheint13 Hugo benutzt hier das Schriftwort bdquoJe mehr der Mensch seine Fehler erkennt desto mehr seufzt und klagt er (Pred 118)ldquo Compunctio bzw contritio bezeichnet die aufrichtige traumlnenreiche Reue und Zerknirschung die den Auftakt jedes Gebets sein sollten Siehe Chr Swift A Penitent Prepares Affect Contrition and Tears in E Gertsman (Hg) Crying in the Middle Ages Tears of History New York 2012 S 79ndash101 Vgl dazu auch S Grosse Heilsungewiszligheit und Scrupulositas im spaumlten Mittelalter Studien zu Johannes Gerson und Gattungen der Froumlmmigkeitstheologie seiner Zeit Tuumlbingen 1994 S 181ff Sie ist Teil der religioumlsen Praxis und erhaumllt ab dem beginnenden 13 Jh einen festen Platz als Teil des Beichtsakraments ab dem 15 Jh erfaumlhrt sie innerhalb dieses institutionalisierten Gebrauchs eine starke Bedeutungszunahme sogar die der eigentlichen satisfactio uumlberfluumlgelnd

272 Anselm Rau und Johanna Scheel

betsarten ebenfalls mit drei Unterkategorien ausgestattet werden Die Begrifflichkeiten sind der antiken Rhetorik entlehnt an der Hugo seine Rhetorik des Gebets entwickelt indem er auf eine sehr anwendungsbezogene Weise bestimmte Affekte in sie einbindet Die captatio ndash eine Unterart der supplicatio ndash soll beispielsweise in der antiken Rhetorik eine emotional positive Einstimmung des Angesprochenen ndash im Gebet waumlre dies Gott ndash bewirken14 bei Hugo dient sie jedoch daruumlber hinaus stark der eigenen emotionalen Vorbereitung des Betenden Die Gebets-worte haben nach Hugo ausdruumlcklich die Funktion im Betenden diejenigen Affekte entstehen lassen die der Bitte entsprechen

Form ndash Intention ndash Emotion

Dass festgelegte traditionelle Gebetsworte vorgegeben sind wiederspricht dieser Funktion dabei in keinster Weise Hugo zeigt dies daran dass er gerade Psalmentexte benutzt um seine Vorstellungen von affectus und davon wie dieser im Gebet erzeugt werden kann zu entwickeln (Kap IV) Waumlhrend die richtige (rhetorische) Form der Bitte fuumlr die Ansprache Gottes wichtig sei sei sie fuumlr den Betenden einerseits notwendig damit er sein eigenes Gebet besser verstehen koumlnne er nochmals in der meditatio uumlberlege worum er bitte und vor allem damit er dadurch noch hingebungsvoller mit staumlrkerer devotio bete Erst durch diese vollkommene Hinwendung der Seele des Betenden zu Gott in hingebungsvollem Affekt (affectus devotionis) wird seine Zu-stimmung erreicht Durch die Worte werde dem Beter seine Bitte und sein Zustand staumlrker bewusst er werde zum Affekt gebracht der Affekt in denselben Worten ausgedruumlckt und durch diese noch staumlrker entflammt bdquoQuaecunque ergo sunt verba orantis absurda non sunt si tan-tummodo ad hoc competenter proferri possint ut vel orantis affectum ad amorem Dei excitent vel (quod amplius est) si jam amore ejus flagrat excitatum demonstrentldquo15 Hier wird der Kern des Traktats formuliert Die Form des Gebets wird in Relation zu Intention und Emotion ge-setzt wodurch Hugo einerseits zu der Aussage kommt dass je groumlszliger die Emotion werde sie sich desto weniger in artikulierten Worten ausdruumlcken lieszlige16 Andererseits kann er zeigen dass das Verhaumlltnis von Wort und Emotion ein vielschichtiges und sich gegenseitig amplifizierendes ist Die Gebetsworte werden danach ausgesucht welchem Ziel und Affekt sie dienen sollen Im Gebet gesprochen vergegenwaumlrtigen sie oder erinnern sie den Betenden an bestimmte Affekte sie erwecken und verstaumlrken diese soweit dass zuletzt ebendiese Worte zum Affektausdruck des Beters werden Der Betende eignet sich damit fremde Worte durch den Affekt an und macht

14 ZB in De inventione von Cicero (1 17) oder RhetoricaAuctor ad Herennium (1 6) so Hugo von St Viktor (1997) S 166 Anm 28 (cf Anm 6) Vgl zur captatio ebenso B Wessel Art Captatio benevolentiae in Historisches Woumlrterbuch der Rhetorik hg v G Ueding Bd 4 Tuumlbingen 1998 Sp 121ndash12315 bdquoAber auf keine andere Weise wird Gott zur Zustimmung gebracht als wenn die Seele des Betenden in gaumlnzlich hingebungsvollem Affekt zu ihm selbst hingewandt wird Wie auch immer die Worte des Gebets sind so sind sie nicht nutzlos wenn sie ihm nur passender vorgetragen werden koumlnnten damit sie entweder den Gebetsaffekt zur Liebe Gottes entflammen oder was besser ist wenn die Liebe schon brennt sie die Erregung zeigtenldquo16 bdquoDer Affekt hat naumlmlich die Eigenschaft dass je groumlszliger und gluumlhender er im Inneren ist er desto weniger aumluszligerlich durch die Worte ausgedruumlckt werden kannldquo

Meditation und Gebet 273

sie zu seinen eigenen Das gesprochene Gebet ist so uumlber seinen affektiven Effekt auf den Beter definiert Als Beispiel benutzt Hugo Schriftworte vornehmlich Psalmen bdquoJeder Einzelne also waumlhrend er im Gebet entweder Psalmen oder irgendwelche anderen Schriften singt soll sorg-faumlltig bedenken welchem Affekt sie dienen moumlgen und durch ganze Anstrengung sein Herz zu jenem Affekt erregen Er sagt das was ihm besser zu dienen scheint denn wenn er den Affekt erregt durch die Worte die er sagt erkennt er durch den Affekt selbst besser die Kraft der Worte Er erwirbt die Einsicht und entzuumlndet durch die Einsicht der Worte umso mehr den hingebungsvollen Affektldquo (Kap V)

Psalmen ndash Wort und Affekte

Die lebenspraktische Erklaumlrung der Gebetsaffekte in De modo orandi ist bemerkenswert klar Weil in den Affekten die ganze Kraft des Gebets liege zaumlhlt Hugo beispielhaft aus den unend-lichen Affekten (Kap VII) neun von ihnen auf die er ebenfalls kurz definiert und gruppiert zunaumlchst die Affekte der Zuneigung Bewunderung und Mitfreude17 dann die Affekte der De-mut des Leides und der Furcht sowie zuletzt die Affekte der Entruumlstung der Eifersucht und der guten Erwartung Diese Gruppierungen werden jeweils auf verschiedene Schriftgattungen bezogen aus denen sie entstehen koumlnnen ndash so werden einer Gattung die zur Erinnerung des Ungluumlcks bzw der eigenen Fehler anregt drei dieser Affekte zugeordnet naumlmlich Demut die aus der Erinnerung der eigenen Fehler erwaumlchst Leid aus der Erinnerung vergangener und gegenwaumlrtiger Fehler sowie Furcht aus dem Gedanken an zukuumlnftige Vergleichbare Zuord-nungen finden sich dort auch fuumlr die uumlbrigen Affekte

Nun verknuumlpft Hugo diese mit konkreten Beispielen aus den Psalmen (Kap VII) bdquoAus dem Affekt der Zuneigung (dilectio) heraus wird Ps 182 gesungen sbquoIch will Dich ruumlhmen Herrlsquo Aus dem Affekt der Bewunderung (admiratio) heraus wird Psalm 8[2]10 gesungen sbquoHerr unser Herrlsquo Aus dem Affekt der Mitfreude (congratulatio) heraus wird Ps 472 gesungen sbquoIhr Voumllker allelsquo Und in allen diesen ist LobAus dem Affekt der Demut (humilitas) heraus wird Ps 312 gesungen sbquoHerr ich suche Zufluchtlsquo Aus dem Affekt des Leids (dolor) heraus wird Ps 131 gesungen sbquoWie lange noch Herr vergisst Du mich ganzlsquo Aus dem Affekt der Furcht (timor) heraus wird Ps 62 gesungen sbquoHerr strafe mich nicht in deinem Zornlsquo Und in all diesen ist die Fuumlrbitte mit einer Klage vermischtAus dem Affekt der Entruumlstung (indignatio) heraus wird Ps 523 gesungen sbquoWas ruumlhmst Du Dich Deiner Bosheitlsquo Aus dem Affekt des gerechten Eifers (zelus) heraus wird Ps 941 gesungen sbquoO Herr Gott der Vergebunglsquo Aus dem Affekt der guten Erwartung (bona praesumptio) heraus wird Ps 261 gesungen sbquoVerschaffe mir Recht o Herrlsquoldquo

17 Affectus congratulationis wird als Gegenpol zur compassio verstanden

274 Anselm Rau und Johanna Scheel

Hugo zeigt hier wie einerseits aus dem Affekt ein bestimmter Psalm gesungen wird Er kom-plettiert damit was er bei der Aufzaumlhlung staumlrker betonte naumlmlich aus welchen Psalmen ein Affekt erwaumlchst und gleichzeitig wie die Worte zu denjenigen der eigenen Bitte und zum Af-fektausdruck werden

Mischung und Uumlberblendung von Affekten

Allerdings wird nicht innerhalb eines Psalms je nur ein Affekt ausgedehnt sondern oftmals geht dort ein Affekt in den anderen uumlber Sie werden gemischt oder loumlsen sich kontinuierlich ab (Kap VIII) Ein Beispiel hierzu Aus der meditatio der eigenen Fehler und Gottes Barm-herzigkeit bricht man durch den Affekt des Schmerzes in die Worte aus bdquoHerr wie zahlreich sind meine Bedraumlnger so viele stehen gegen mich auf viele gibt es die von mir sagen Er findet keine Hilfe bei Gottldquo Dies sind die ersten Verse aus Psalm 3 Aus dem Affekt des Schmerzes der dadurch staumlrker entflammt und ausgedruumlckt wird kehrt der Betende mit dem naumlchsten Vers des Psalms 3 auf den Affekt der guten Erwartung zuruumlck und sagt bdquoDu aber Herr bist ein Schild fuumlr michldquo Damit wird der Schmerz von Vertrauen gelindert und der eine in den andere Affekt uumlberfuumlhrt

Die Psalmenworte vergegenwaumlrtigen oder erinnern hier an den Affekt und werden danach angewandt zugleich sind sie Anreiz und -ausdruck der vielfaumlltigen Palette wandelbarer Affekte

Diese Definition in De modo orandi ist fuumlr das Verstaumlndnis der Affekte innerhalb des Ge-bets im gesamten Mittelalter als grundlegend anzusehen Aus kunsthistorischer Sichtweise ist die Beschaumlftigung mit dieser Schrift daher nicht nur unerlaumlsslich um mittelalterliche Bildwer-ke die fuumlr den Bildbetrachter als Hilfsmittel fuumlr sein Gebet konzipiert wurden praumlziser kon-textualisieren zu koumlnnen Vielmehr ist die in De modo orandi dargelegte Reflexionsstruktur auf die Rezeption von Werken der bildenden Kunst uumlbertragbar

Das Lignum vitae

Ein Beispiel fuumlr die konkrete Anwendung der Evozierung von affectus bei Gebet und Medita-tion wie von Hugo von St Viktor konzipiert stellen die Meditationen des Lignum vitae Bona-venturas und dessen bildliche Umsetzung dar18 In seinen viel rezipierten Werken De triplici

18 Bonaventura Lignum vitae in Opera omnia Quaracchi 1848 Bd 8 Im Folgenden wird auf die lateinische Edition von Quaracchi mit dem Kuumlrzel LV verwiesen Wird nicht die eigene Uumlbersetzung verwendet ist die Grundlage M Schlosser Baum des Lebens Geistliche Betrachtungen St Ottilien 2012 Weitere deutsche Uumlbersetzung bei A Aswerus Der Lebensbaum Zuumlrich 1963Die Rezeption der Schriften Hugos bei den Franziskanern ist bekannt gerade die Verbreitung der hier besprochenen Texte Vgl Goy (cf Anm 1) S 530ndash532 In Italien und auf der iberischen Halbinsel sind mit 170 Texten nur ca 7 der Gesamtuumlberlieferung von Hugos Werken zu finden allerdings faumlllt bei den Handschriften italienischer Provenienz die bdquofuumlhrende Stellung der Franziskaner als Tradentenldquo auf Vgl ebd S 530 Die Houmlhepunkte der Tradierung liegen im 13 und 15 Jh vgl ebd S 559ndash564 bes S 563

Meditation und Gebet 275

via in dem er sein auf dem Gedankengut des 12 Jahrhunderts beruhendes Verstaumlndnis von meditatio oratio und contemplatio darlegt und dem Itinerarium mentis in Deum wendet sich Bonaventura der Formung der Seele des Menschen fuumlr den Aufstieg zu Gott zu19 Gerade aber das Lignum vitae hat maszliggeblich in seiner konkreten Form die Passionsmeditation des spaumlten Mittelalters beeinflusst20

Deutlich ist hervorzuheben dass Bonaventura diese Meditationsschrift zu Kindheit und Leben Passion und AuferstehungVerherrlichung Christi auf Grundlage mnemotechnisch strukturierter Modelle der monastischen Meditationspraxis konzipierte Der Entwurf Bona-venturas sieht die Anordnung der Meditationen anhand eines Baumschemas vor als struktur-gebende Schablone fuumlr das Einpraumlgen dieser im Herzen21 Da die Vorstellungskraft (imaginatio) die Einsicht (intelligentia) unterstuumltzt gibt Bonaventura die konkrete die Intention verdeutli-chende Anweisung bdquodescribe igitur in spiritu mentis tuae arboremldquo22 Die Meditationen selbst dienen zur Entflammung des Herzens in liebendem Empfinden zur Formung des Denkens und zur Einpraumlgung in das Gedaumlchtnis (accendatur affectus formetur cogitatus imprimatur memoria) Somit wird auch hier die Formung des Denkens durch den affectus herausgestellt23 Nach dem Entwurf Bonaventuras besitzt der Baum zwoumllf Zweige an denen jeweils vier kurze Strophen die Einleitungen bzw Uumlberschriften zu den einzelnen Meditationen angebracht sind die immer zusammen genommen eine Frucht hervorbringen So umfasst das gesamte Schema 48 Meditationen die in einer Reihenfolge von unten nach oben insgesamt zwoumllf zu erreichende Fruumlchte oder auch tugendhafte habitus hervorbringen sollen24

Die rasche und vielfaumlltige visuelle Umsetzung der Baumstruktur zeugt von der Popula-ritaumlt der Meditationen des Lignum vitae eine der heute wohl bekanntesten Darstellungen stammt von Pacino di Bonaguida der jeder einzelnen Meditation ein Bildmedaillon zuordnete

19 Bonaventura De triplici via Opera omnia Quaracchi 1948 Bd 8 S 19ndash27 ndash Bonaventura Itinerarium mentis in Deum Opera omnia Quaracchi 1891 Bd 5 S 293ndash316 ndash vgl hier auch die kritischen Edition und die Darstellung der inhaltlichen Grundkonzeption Bonaventura De triplici via Uumlber den dreifachen Weg latdt uumlbers u eingel v M Schlosser Freiburg iBr [ua] 1993 ndash Bonaventura Itinerarium mentis in Deum ndash Der Pilgerweg des Menschen zu Gott latdt uumlbers u erl v M Schlosser mit einer Einleitung von P Zahner Muumlnster 200420 R Preisinger Lignum vitae Zum Verhaumlltnis materieller Bilder und mentaler Bildpraxis im Mittelalter Paderborn 2014 21 Zu den Schablonen und dem Einpraumlgen dieser ins Herzen vgl M Carruthers Moving Images in the Mindrsquos Eye in J Hamburger M-A Boucheacute (Hgg) The Mindrsquos Eye Art and Theological Argument in the Middle Ages New Jersey 2006 S 294 FN 24 zu den Anweisungen Hugos in De arca noe S 292ndash29422 LV Prolog S 6823 Ebd24 Die uumlberkommenen Traktate belegen die angedachte Konzeption zur Verinnerlichung der einzelnen Meditationen die Uumlberschriften als Responsorium mit dem Kehrvers O crux fructus salvificus zu singen vgl hierzu M Sensi Lrsquoallegoria della Croce nel monastero di SantrsquoAnna a Foligno in B Ulianich U Parente (Hg) La Croce Iconografia e interpretazione Bd 3 La croce nella liturgia NeapelRom 2007 S 392 ebenso Preisinger (wie Anm 20) S 36ndash42

276 Anselm Rau und Johanna Scheel

(Abb 1)25 In kuumlnstlerischen Darstellungen diente das Lignum vitae als visuelle Unterstuumltzung sowohl fuumlr den Gesang als auch gerade zur Strukturierung von Predigt und Meditation26 Ein Groszligteil der Bilder zum Lignum vitae binden den Text in Form der Uumlberschriften der einzelnen Meditationen ein Eine solch detailreiche Ausgestaltung wie etwa bei Pacino ist bei den uumlber-lieferten Beispielen keine Regelmaumlszligigkeit Damit belegt allein schon das Bild selbst dass das

25 Jedoch darf diese Tatsache nicht uumlber die tatsaumlchliche Anwendung hinwegtaumluschen Auf die Diskussion um die Bildwerke zum LV kann hier nicht dezidiert eingegangen werden Die juumlngsten Publikationen zum Lignum vitae mit der entsprechenden Literatur zur Forschungslage sind Preisinger (cf Anm 20) und U Ilg Quasi lignum vitae The Tree of Life as an Image of Mendicant Identity in P SaloniusA Worm (Hgg) The Tree Symbol Allegory and Mnemonic Device in Medieval Art and Thought Turnhout 2014 S 187ndash212 ndash Siehe die Kritik an der bisherigen Auseinandersetzung mit dem Lignum vitae und seinen Darstellungen in der 2015 abgeschlossenen Dissertation von A Rau Imagination und Emotion Bildstruktur und Emotionalisierungsstrategien in der monastischen Meditation und das bdquoModell Franziskusldquo sowie A Rau Im Wechselbad der Gefuumlhle ndash das Lignum vitae in Imago 4 (2015) erscheint November 201526 L Bolzoni The Web of Images Vernacular Preaching from its Origins to Saint Bernardino da Siena Aldershot 2004 S 154ff

Abb 1 Pacino di Bonaguida Lignum vitae Florenz Galleria delllsquoAccademia um 1310 258x151cm

Meditation und Gebet 277

eigentliche affizierende Potential in der Steuerung der imaginatio des LesersBetrachters durch den Text der Meditation und des Gebet selbst liegt27

Innerhalb der jeweils einer Frucht zugeordneten vier Meditationen ist ein Aufbau und Uumlbergang festzustellen ebenso sind in der Regel die Fruumlchte durch die letzte Meditation der vorangegangenen und die erste der folgenden miteinander verknuumlpft Allen gemein ist dass zu Anfang einer jeden Frucht die in den ersten zwei Fruumlchten ausgebildeten Grundtugenden caritas und humilitas als Ausgangspunkt genommen werden Diese beiden sind wie bereits von Augustinus betont die Grundtugenden aus denen alle weiteren erst hervorgehen koumlnnen28 Die einzelnen Meditationen zeichnen sich durch das Fokussieren auf eine tugendhafte Haltung Christi aus Diese verdeutlicht er entweder selbst in einer emotionalen seinen Habitus aus-druumlckenden Disposition oder weiteres biblisches Personal reagiert als Exempel fuumlr den LeserBetrachter des Lignum vitae auf die ihm so bdquovisualisertenldquo Geschehnisse um Christus So ent-stehen Imaginationsfiguren die das Handeln (operatio) bestimmen sollen Geleitet wird die Meditation des Betrachters durch die eindruumlcklichen Schilderungen der Begebenheiten aus dem Leben Christi in Kombination entweder direkter Ansprachen an seine Seele wie er sich verhalten was er sich als Vorbild nehmen soll oder durch in die Meditation selbst eingefuumlgte Gebetstexte welche die Affizierung entweder stuumltzen oder direkt hervorbringen koumlnnen

Die Meditationen der ersten vier Fruumlchte (Geburt Kindheit Wirken Christi) charakteri-sieren das Lignum vitae wie schon bei Hugo und in den Meditationsmodellen des 12 Jahrhun-derts als dezidiertes Reue- und Buszligschema Dies verdeutlicht allein schon die formale Anlage da sich hier vorwiegend Anweisungen zu habituellen emotionalen Dispositionen des Lesers finden Die Einmuumlndung dieser Meditationen in die Schilderung des letzten Abendmahls kon-kretisiert die Verbindung zwischen der logischen Anlage eines sukzessive aufgebauten Medita-tionsschemas die Notwendigkeit seiner fortdauernden Anwendung und somit den praktischen Bezug zum religioumlsen Leben Reue und Buszlige sind die notwendige Grundvoraussetzung fuumlr die Teilhabe an der Opferfeier des Messgeschehens es hebt die Meditationspraxis als fortdauernde Uumlbung der Affekte und Tugenden als staumlndige Gewissenspruumlfung hervor und kennzeichnet den Menschen ab diesem Punkt als muumlndigen Meditanden und Beter

So aumlndert sich dann ab der fuumlnften Frucht zu den Passionsmeditationen auch der Auf-bau Hier werden konzentriert einzelne orationes in die einzelnen Meditationen eingeflochten Bemerkenswert ist bei den fast als propaumldeutisch zu verstehenden Meditationen der ersten vier Fruumlchte findet sich eine sehr uumlberschaubare Anzahl von Psalmzitaten waumlhrend sie hier als personalisierte Gebete des LesersBetrachters gehaumluft auftreten Gezielt werden sie in den Meditationen der geschilderten Situationen und Peinigungen Christi eingesetzte um die com-passio zu erregen Hieran laumlsst sich die unmittelbare und entscheidende Zusammenwirkung

27 Bezuumlglich einer eingehenden gerade auch sprachlichen Untersuchung der Meditationen des Lignum vitae das affektsteuernde Potential herausarbeitend siehe abermals Rau (wie Anm 25)28 K Pansters Profectus Virtutum From Psalm 838 to David if Augsburgrsquos Profectus religiosorum in Studies in Spirituality 18 (2008) S 170 Zur Thematik weiterfuumlhrend N Baumann Die Demut als Grundlage aller Tugenden bei Augustinus Frankfurt 2009

278 Anselm Rau und Johanna Scheel

von meditatio und oratio beobachten die in Kombination die Lenkung der geordneten affectus bestimmen

Die von Hugo in De meditando angemahnte Unterscheidung und Betrachtung des Guten und Boumlsen findet in den Meditationen des Lignum vitae seine konkrete differenzierte Anwen-dung Heben die ersten vier Fruumlchten dezidiert Reue und Buszlige des MeditierendenBetenden und gerade die Schlechtigkeit des Menschen gegenuumlber Christus hervor so zeigen die Medita-tionen zur Passion Christi (5ndash8) die Betrachtung des Boumlsen und des Guten dahingehend wie das Boumlse in Gestalt der Peiniger Christi auf diesen einwirkt und wie Christus selbst oder wei-teres positiv konnotiertes biblisches Personal reagiert Die Grundlage des hier geforderten Mit-leidens mit Christus ist die bei den vorangegangenen Meditationen ausgearbeitete compassio Christi mit den Suumlndern Demuumltig ausgerichtet und damit ausgebildet am mitfuumlhlenden Vor-bild Christi kann der LeserBetrachter uumlber die imaginatio in der Meditation und dem Gebet hier zum Mitleidenden ausgebildet werden Zuerst wird also die demuumltige Emotionalitaumlt ob der eigenen Schlechtigkeit dem eigenen Boumlsen im Abgleich mit dem guten Vorbild in Christus herausgebildet und daraufhin die Affekte in den Meditationen zur Passion Christi an Christus selbst zum Mitleiden konstituiert

Als Beispiel der dezidiert auf die Affizierung ausgerichteten Anlage seien die Meditationen der fuumlnften Frucht umrissen Gegenstand (res) ist hier die Betrachtung von Christi Vertrauen (confidentia) in der Gefahr und umfasst die vier Meditationen zu Judasrsquo Verrat Christi Gebet auf dem Oumllberg der Umzingelung Christi durch die Haumlscher und seiner Gefangennahme29 Propaumldeutisch wird dem Verrat Judasrsquo dem abgrundtief Boumlsen (nequissum) die geradezu pa-radox erscheinende und dadurch Staunen und Bewunderung erweckende (o mira) Guumlte (be-nignitas) und Sanftmut (mansuetudo) Christi gegenuumlbergestellt30 Dieses Thema beherrscht alle Meditationen dieser Frucht und ist begleitende Grundlage aller folgenden Darstellungen der Misshandlung Christi Judas wird typologisch als lasterhafter Gegenpart zum tugendhaften Idealbild Christi stilisiert Sein Verrat gruumlndet in seiner cupiditas und bestimmt von seinen niedersten Trieben ist er die Personifikation von perfidia (Treulosigkeit Gewissenlosigkeit) in-gratitudo (Undankbarkeit) und duritia (Hartherzigkeit)31 Die angemahnte Betrachtung des Guten und des Boumlsen legt als klassisches System der Gegenuumlberstellung von Tugenden und Lastern anzustrebende bzw abzulehnende habitus durch die Ausrichtung der affectio dar

Signifikant zeigt sich die Affizierung anhand der uumlber die lectio sich konstituierende me-ditatio aufgrund der imaginierten Begebenheit in Verbindung mit der oratio die wiederum ihren Ausdruck in den Psalmen findet Als Ausweis der inneren Verletzlichkeit seiner mensch-lichen Natur (in natura sensibili)32 ist die Schilderung von Christi Gebet auf dem Oumllberg zentral Ob der Vorstellung des Todes (imaginatio mortis) die in seine empfindsame Seele eindrang wird er von affectus umschlungen (complexabatur affectu) Seine innere Bewegtheit wird mit den Tropfen blutigen Schweiszliges die seinen Koumlrper hinab rannen verdeutlicht der Affekt der

29 LV 517ndash20 S 75ndash7630 LV 517 S 7531 Ebd32 LV 518 S 75ndash76

Meditation und Gebet 279

Furcht (anxietas) als Empfindung steigt zwar in seinem Geist auf (in spiritu) der Nachvoll-zug erfolgt jedoch uumlber die aumluszligeren (imaginierten) Zeichen33 Die Meditation laumlsst den Leser darauf fragen bdquoO Herrscher und Herr Jesus woher kommt diese furchtbare Angst deiner Seele und dein angstvolles Flehen Hast du denn dem Vater dein Opfer nicht mit freiem Willen ge-brachtldquo34 Die Erklaumlrung folgt sofort Fuumlr die Bestaumlrkung des Glaubens hat Christus wahrhaft die sterbliche Natur angenommen damit der Mensch Hoffnung schoumlpfen kann sollte er aumlhn-liche Bedraumlngnis und Furcht erleiden denn aufgrund der Hoffnung richtet der Mensch seine Liebe auf Christus das Ziel wiederum willentlich (voluntas) aus Die offenkundigen (aumluszligeren) Zeichen des Leids in Christi menschlicher Natur sind das entscheidende Kriterium fuumlr die selbstreflexive Erkenntnis des LesersBetrachters Es ist die Erkenntnis dass Christus wahr-haftig die Schmerzen und das bittere Leid der Menschen mit fuumlhlbarer (sensu) Pein durchlitten hat35 Die Schilderung der Todesangst Christi ist damit Grundlage der im ersten Satz der fuumlnf-ten Frucht geforderten inneren Teilhabe (pii considereare) fuumlr die compassio den Nachvollzug seiner noch weiterhin zu durchleidenden koumlrperlichen wie seelischen Pein36

Diese Erkenntnis stuumltzt nun das ergaumlnzende Beten der Psalmen da diese einerseits die geforderten Affekte und den Affektreiz bekraumlftigen zugleich aber auch das selbstreflexive Moment herausarbeiten Die seelische Bedraumlngnis Christi auf dem Oumllberg wird begleitet und sozusagen von der Schilderung des Verrates Judasrsquo und der Bedraumlngung durch die Haumlscher umrahmt und aufgrund des Einbindens der Psalmen 38 41 und 55 in genau diese Meditationen zu einem inhaltlich kongruenten Gebet gestaltet Alle drei Psalmen wobei besonders Psalm 55 zitiert wird (Verse 13ndash15) nehmen Bosheit Verrat und Bedraumlngnis durch Freund und Feind in den Blick Hierdurch werden gerade das Verlassensein und das Ausgeliefertsein gegenuumlber den Misshandlungen in den Vordergrund gestellt die beschriebene Furcht Christi begleitet und durch das personalisierte Gebet zur emotionalen Ausrichtung des Beters selbst Nicht allein der einzelne Psalmvers wird dabei gebetet sondern ganz der mnemotechnischen Konzeptuali-sierung verpflichtet bildet der Vers den Ausgangspunkt und schlieszligt die Betrachtung und das Gebet des gesamt Psalms mit ein37 Der Klage uumlber den Vertrauensbruch durch den Freund (Ps 5513 ebenso Ps 3813 und Ps 41) und der Bedraumlngnis durch Frevler an deren Haumlnden Blut klebt (Vers 24) geht in Analogie zu Christi Gebet zum Vater auf dem Oumllberg die Anrufung Gottes voraus er moumlge das Beten und Flehen erhoumlren (exaudi orationem meam deprecationem meam)

33 Ebd34 Schlosser (wie Anm 19) S 51 LV 52 S 7635 LV 52 S 76 ndash Bereits Bernhard von Clairvaux formulierte Gott bot den Zugang zu sich selbst uumlber die Affekte weshalb die Inkarnation notwendig war um die affectiones des Menschen zuruumlckzugewinnen vgl B von Clairvaux Sermones super canticum canticorum 205 in Bernhard von Clairvaux Saumlmtliche Werke latdt hg v G Winkler Innsbruck (1996) Bd 5 S 28428536 LV 517 S 75 Nochmals abschlieszligend wird dies als identifikationsstiftendes Vorbild am Ende (vierte Meditation fuumlnften Frucht) mit dem Bild der gefesselten Haumlnde des unschuldigen Lammes und dem eingeforderten Stoumlhnen und der Beschreibung des durchdringenden Schmerzes der die Herzen der Juumlnger bei diesem Anblick durchstach (doloris aculues discipolorum vorda penetravit) vor Augen gestellt Vgl LV 520 S 7637 Zur Mnemotechnik allgemein M Carruthers The Book of Memory A Study of Memory in Medieval Culture Cambridge [ua] 122006 Zu beachten sind ebenso F A Yates The Art of Memory London 1966 M Evans The Geometry of Mind in Architectural Association Quarterly 124 (1980) S 32ndash55

280 Anselm Rau und Johanna Scheel

(Vers 1ndash8) Dabei wird die Angst (conturbatus sum) das Beben des Herzens in der Brust und das Befallenwerden vom Schrecken des Todes beschrieben (cor meum conturbatum est in me et formido mortis cecidit super me) ebenso das Erfasstsein von Furcht Zittern Schaudern und Entsetzen (timor et tremor venerunt super me et contexerunt me tenebrae) Der Nachvollzug der emotionalen Disposition Christi wird durch die kalkulierte Verknuumlpfung mit Psalm 38 zu-gleich ebenso zur detailreichen Klage in Furcht und Schrecken ob der eigenen Suumlndhaftigkeit Judas stellt natuumlrlich fuumlr den Abgleich das Negativbeispiel Doch im Gegensatz zu ihm zeigt der Betende in seiner demuumltigen Hinwendung zu Gott in Schmerz und Furcht das in ihn gesetzte Vertrauen das auch Jesus unter Beweis stellte Die Psalmen bieten hierfuumlr das passende Mittel der notwendigen Ausrichtung in der affectio

Ein interessanter Punkt sei in Bezug auf die Ausfuumlhrungen in De meditando hinsichtlich des Eifers (zelus) fuumlr die gerechte Sache noch genannt Die Sanftmut Christi wird gerade da-durch vor Augen gefuumlhrt dass er im Sinne des immerfort zur Vergebung bereiten Gott seinen Haumlschern guumltig begegnet da er sich seinen Peinigern nicht im Zorn (ira) verschloss (Ps 7710)38 Er haumllt naumlmlich sogar seinen Verteidiger ndash in der exegetischen Tradition Petrus vor allem dann auch in der bildenden Kunst ndash zuruumlck und bremst dessen gerechten zelus sein rechtmaumlszligiges eigentlich tugendhaftes eifersuumlchtiges Streben fuumlr das geliebte Objekt und heilt sogar ein abge-schlagenes Ohr Dieser Eifer der wie in De meditando beschrieben ohne Hinterlist ist nicht aus Ignoranz (repraumlsentiert durch die HaumlscherPeiniger) gegenuumlber der Wahrheit (in Christus) hervorgegangen zeigt die gute Absicht die durch Beharrlichkeit ans Ziel fuumlhrt und laumlsst somit die Liebe nicht lau werden Petrus wird als Identifikationsfigur installiert und am Ende aber-mals Judas entgegen gehalten Letzterer wurde zwar schlieszliglich aufgrund seiner Tat von Reue ergriffen jedoch war er nicht faumlhig durch die Hoffnung auf das Gute Christus Vergebung zu ersehnen und wurde von Bitterkeit (amaritudo) erfuumlllt so dass er den Tod und nicht das ewige Leben ersehnte

Meditationsschemata werden gerne aufgrund der ihnen innewohnenden Abfolge als starre Konstrukte und allein auf einen miszliginterpretierten geistigen Aufstieg abzielend hin verstan-den Doch beweist gerade das Lignum vitae eine hohe Flexibilitaumlt fuumlr den alltaumlglichen Gebrauch und zudem die eigentliche Intention die Formung von affectus

Gerard Zerbolt van Zutphen

Das stufenweise emotionale Gebet und die Meditation begegnen ebenfalls ndash allerdings weniger stark schematisiert als im Lignum Vitae ndash in einem Standardwerk der niederlaumlndischen Froumlm-migkeitsliteratur des 15 Jahrhunderts In De spiritualibus ascensionibus stellt Gerard Zerbolt

38 Im Tugend- und Lastersystem ist die Unterscheidung von zelus ira und furor sehr entscheidend bezuumlglich des guten und schlechten Strebens und damit hinsichtlich rationalen Ordnung des Geistes Zum tugendhaften und lasterhaften Zorn und seiner Aspekte vgl Richard von St Viktor Benjamin minor 40ndash44 PL 196029-033 ndash Gerade bei der Verurteilung Christi durch Pilatus (LV 624 S 77) wird das Thema der rasenden Wut (zelus invidiae) und des gerechte Zorns (zelus iustitia) nochmals differenziert

Meditation und Gebet 281

von Zutphen ein Autor der devotio moderna handbuchartig sein Aufstiegsmodell dar39 Darin vermittelt er seinen Mitbruumldern und einem frommen Laienpublikum ein ausgekluumlgeltes System von geistigen Uumlbungen die sich nicht nur auf den eigentlichen Gebetsakt beziehen sondern habituell im Alltag Anwendung finden sollen indem sie eine Transformation des Menschen be-wirken Er geht dabei von dem uumlblichen zeitgenoumlssischen theologischen Anthropologiemodell der Seele als durch Suumlnde verschmutzte imago Dei aus und stuumltzt sich auf bekannte moraltheo-logische Emotionstheorien die er jedoch stark ausweitet indem er den Emotionen eine genaue Funktion und eine Schluumlsselrolle im Erkenntnisprozess zuweist Die formula meditandi40 be-schreibt Gerard als inhaltlich verschieden konnotierte Selbstuumlberpruumlfungen in der die dadurch produzierten Emotionen wie Zerknirschung (compunctio bzw contritio) Furcht (timor) oder Hoffnung (spes) nicht nur bewusst gemacht sondern produktiv umgewandelt werden um zu Instrumenten und Stufen des weiteren Aufstiegs zu werden41 Diese Aufstiege sind ein Prozess der Selbsttransformation des Menschen der sich vollzieht indem der Mensch sowohl seinen urspruumlnglichen Zustand diese Transformation selbst als auch die Erfahrung seiner Veraumlnde-rung mit den erreichten Stufen emotional (ex affectu) erkennt (cogitare) und fuumlhlt (sentire)42 Aumlhnlich wie bei Hugo von St Viktor formuliert Gerard dass der Betende immer einen Affekt und ein Verlangen (desiderium) annehmen solle die zu den aktuellen Uumlbungen oder Medita-tionen passe43 Die Selbsttransformation im geistigen Aufstieg wird nach Gerard ebenso im uumlb-lichen Schema der lectio meditatio und oratio geuumlbt und an verschiedenen materiae meditandi44 vollzogen Die Affekte werden anhand dieser materiae erzeugt katalysiert und in das Gebet

39 Die Schrift (im Folgenden De Spir Asc) wird zitiert nach der Edition von F J LegrandN Staubach (Hgg) Gerard Zerbolt von Zutphen De Spiritualibus Ascensionibus La monteacutee du coeur Turnhout 2006 Vgl zur affektiven Konnotation von Gerards Gebetssystematik M Goossens De meditatie in de eerste tijd van de moderne devotie HaarlemAntwerpen 1954 Er stellt den Affekt als Wesensmerkmal des Gebets bei Gerard fest ebd S 118 Zur Einbindung der Schrift innerhalb der Gebetstheorien der Devotio Moderna und zum Stellenwert der affektiven Selbstreflexion auch in Beziehung zu zeitgenoumlssischer Kunst vgl J Scheel Das altniederlaumlndische Stifterbild Emotionsstrategien des Sehens und der Selbsterkenntnis Berlin 2014 bes S 155ndash171 230ndash241 414ndash42640 De Spir Asc Kap 641 Gerard spricht synonym von Aufstiegsstufen und affectus zB in Kap 27 bdquoIn hac prima ascensione vel primo affecto [hellip]ldquo Oder er benennt Affekte wie Hoffnung und Furcht als Stufen bdquo[hellip] istis duobus gradibus timoris et spei [hellip]ldquo Kap 26 Insgesamt benutzt er die Vokabeln affectus und affectio synonym zwar begegnet in Bedeutung von Strebevermoumlgen meist affectio und ersetzt also die vires durch die affectiones animae besonders wenn es um lasterhafte Affekte geht doch werden die einzelnen Affekte durchgehend als affectus nicht als affectio bezeichnet42 De Spir Asc Kap 643 Das Gebet solle nie bloszliges Lippenbekenntnis sein sondern immer aus der Wurzel des Herzens verfolgt werden und zwar stets aus den Affekten der Furcht Trauer Freude Bewunderung Dankbarkeit etc bdquo[hellip] ex affectu timoris meroris dilectionis admiracionis congratulationis etcldquo De Spir Kap 46 Diese Affektreihe stimmt mit derjenigen bei Hugo in De modo orandi uumlberein siehe oben S 273f44 Diese sind zunaumlchst die bekannten Meditationsinhalte wie man sie allenthalben in theologischer Literatur des Mittelalters findet Leben und Passion Christi das Juumlngste Gericht und die eigene Todesstunde (diese bspw bereits in Bonaventuras De Triplici Via Kap 3) Bei Gerard werden ebenfalls Houmllle und Himmelreich sowie die eigenen Suumlnden und Wohltaten Gottes eingeschlossen sowie das eigene Selbst in dem und waumlhrend des Gebets Zum Kontext der neuen Meditationswuumlrdigkeit des eigenen Selbst in den Lehren der Devotio Moderna vgl Scheel (cf Anm 39)

282 Anselm Rau und Johanna Scheel

uumlberfuumlhrt Dies macht Gerard wie Hugo anhand des Psalmengebets anschaulich indem er einerseits beispielhaft zeigt wie ex affectu ein Psalm gebetet wird waumlhrend er gleichzeitig bei vorheriger Thematisierung der lectio dessen Erregung durch die Lektuumlre betont

bdquoWenn du dich in deiner ersten Uumlberpruumlfung diskutiert hast und entdeckst dass deine Suumlnden zahlreicher sind als die Zahl des Sandes der Meere forme in dir den Affekt der Demut oder Trauer und nimm die Rolle (persona) eines Dieners an der seinen Herrn beleidigt hat Aus diesem Affekt heraus forme ein Gebet und sage sbquoGott sei mir gnaumldig nach deiner Huld tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmenlsquo (Ps 503) Wenn du in der zweiten und dritten Uumlberpruumlfung dich selbst diskutierend bemerkst dass dein Herz mit schlechten Begierden und boumlsen Verlangen gefuumlllt ist forme in dir wiederum den Affekt der Demut und nimm die Rolle eines Kranken an der nach Medizin fragt und sage sbquoHerr sei mir gnaumldig heile mich denn ich habe gegen dich gesuumlndigtlsquo (Ps 405) oder sbquoNichts blieb gesund an meinem Leib weil du mir grollst weil ich gesuumlndigt blieb an meinen Gliedern nichts heillsquo (Ebd) etc Wenn du dich im zweiten Aufstieg in Furcht durch Meditationen des Todes und des Gerichtes oder der Houmllle uumlbst nimm den Affekt der Furcht ein und die Rolle eines Suumlnders vor dem Richter an in Angst und Zittern als seist du schon uumlberfuumlhrt und der Richtspruch gegen dich gesprochen und sage sbquoVerdamme mich nicht Herr gehe nicht ins Gericht mit deinem Dienerlsquo (Ps 1422) oder sbquoHerr in deiner Wutlsquo (Ps 62) etc Wenn du dich aber in Hoffnung uumlbst durch die memoria des Him-melreiches nimm den Affekt der Liebe an und bete mit innigem Herzen und sage sbquoIch erstrebe eines Herr dieses wuumlnsche ich dass ich in dem Haus des Herrn wohnen darflsquo (Ps 264) oder sbquoWie der Hirsch lechzt nach frischem Wasserlsquo (Ps 412) etc Und ebenso kannst du mit anderen Affekten jene aus diesen formen und musst du die Rolle annehmen die deine Uumlbung erfordert und deine Meditation verlangtldquo45

Uumlber Hugo hinausgehend wird hier dem Betenden empfohlen sich konkrete Szenarien und personae zu imaginieren um die gewuumlnschten Affekte einzuuumlben Die Psalmenbeispiele mit den zugeordneten Affekten uumlberschneiden sich bei beiden Autoren bei Psalm 6 (timor) so-wie Psalm 26 (Gerard spes Hugo bona praesumptio)46 Besonders bei der Einuumlbung von timor und der Erwaumlhnung des Richtspruches in Kombination mit den Buszligpsalmen 6 und 142 stehen unmittelbar zeitgenoumlssische Darstellungen des Weltgerichts bzw der Auferstehung der Toten vor Augen wie man sie in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern in Kombination mit eben jenem Buszligpsalm 6 aber auch in der altniederlaumlndischen Malerei findet47 Psalmen koumlnnen zu den

45 bdquoUnde breviter ut modum habeas secundum predicta si te in prima examinacione discusseris et inveneris peccata tua multiplicata super numerum arene maris forma in te affectum humilitatis vel meroris et assume personam servi qui dominum suum offendit Et ex tali affectu forma oracionem dicens Secundum multitudinem miseracionum tuarum dele iniquitatem meam [hellip] Si te in secundo ascensu in timore per meditaciones mortis vel iudicii vel inferni exercueris assume affectum timoris et assume personam rei astantis coram iudice cum timore et tremore quasi iam convictus contra quem de iure proferenda est sentencia et dic Noli me condemnare Non intres in iudicium cum servo tuo Vel Domine ne in furore etc [hellip] Et sic de aliis affectibus quos ex istis formare poteris et assumere debes sicut exercicium tuum exigit et meditacio tua requiritldquo De Spir Asc Kap 4646 Zu den Psalmen die Hugo als Beispiele benutzt siehe oben S 273f47 Vgl dazu J Scheel Sich selbst sehen ndash der Betrachter in und vor dem Bild Spiegel- und Stifterfiguren in Texten und Bildern des 15 Jahrhunderts in E KochH Schlie (Hgg) Orte der Imagination ndash Raumlume des Affekts Die mediale Formierung des Sakralen Muumlnchen 2015

Meditation und Gebet 283

bdquototal memoriertenldquo48 Texten des Mittelalters gezaumlhlt werden weswegen sie sich beiden Autoren als Beispiele anbieten Sie benutzen die Buszligpsalmen (hier die Psalmen 6 31 [Hugo] 50 142) die im Stundenbuch fest als eigenstaumlndiger Gebetstext verankert sind und ebenso in der To-tenvigil ihren Platz haben ndash zusammen mit Gerards weiteren Beispielpsalmen 40 und 4149 Das Stundenbuch ist ein Medium in dem Psalmwort und bildliche Darstellung auf die Theorie des stufenweisen emotionalen Gebets und der Selbsttransformation treffen koumlnnen

Die Miniaturen die der Totenvigil bspw in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern des 15 Jahr-hunderts voranstehen zeigen oftmals eine ganzseitige Totenmesse sowie in der M-Initiale der gegenuumlberliegenden Textzeile50 zwei betende einander zugewandte Seelen im Fegefeuer (vgl

48 Zu diesen Texten gehoumlrten bspw das Pater Noster oder Ave Maria waumlhrend denen gleichzeitig auch uumlber bestimmte Aspekte zB der Passion meditiert werden konnte und sollte vgl P Saenger Books of Hours and the Reading Habits of the Later Middle Ages in R ChartierA Boureau (Hgg) The Culture of Print Power and the Uses of Print in Early Modern Europe Cambridge 1989 S 141ndash173 hier S 154 Bei den Psalmen genuumlgt wie man hier sieht allein die Nennung des Incipit oder bestimmter Verse die dem Leser so vertraut sind dass sie den gesamten Psalmentext mit assoziieren49 Zwar ist der Einsatz von Psalmen in mittelalterlichen Stundenbuumlchern mitunter verschieden doch kann man beispielhaft an einer Gruppe von Stundenbuumlchern in niederlaumlndischer Sprache diese Psalmen finden Diese Stundenbuumlcher sind mit der Uumlbersetzung des Gruumlndungsvaters des Devotio Moderna Geert Grote versehen oder stehen mit ihr in Verbindung N van Wijk Het getijdenboek van Geert Groote Naar het Haagse handschr 133 E 21 Leiden 1940 diese hauptsaumlchlich anhand einer einzigen Handschrift erarbeitete Edition wird hier in Ermangelung einer kritischen Edition genutzt Das getijdenboek enthaumllt einen Kalender des Bistums Utrecht fuumlnf Offizien (Marienoffizium Heiliggeistoffizium das lange und kurze Heiligkreuzoffizium Stunden der ewigen Weisheit) Buszligpsalmen Litanei und Totenvigil 50 Es ist der Beginn des invitatorium bdquoMi hebben ombeuanghen die suchten des dodes die pijnlike seer der hellen heben mi ombeuanghenldquo Wijk (cf Anm 49) S 156 ndash bdquoMich haben umfangen die Seufzer des Todes die qualvollen Schmerzen der Houmllle haben mich umfangenldquo

Abb 2 Meister des Hugo Jansz van Woerden Totenmesse und Seelen im Fegefeuer ca 1475ndash1500 Den Haag Koninklijke Bibliotheek Ms 76 G 13 fol 85vndash86r

284 Anselm Rau und Johanna Scheel

Abb 2)51 Das Fegefeuer bespricht Gerard eher marginal in seinem Traktat Fuumlr die affektive Meditation des eigenen Todes liefert er allerdings einerseits eine Anleitung fuumlr den Betenden die Affekte nun bereits zu erwecken die vor waumlhrend und nach dem eigentlichen Todeszeit-punkt entstuumlnden ndash und sich mit ihnen im Gebet selbst zu formen52 Andererseits raumlt er dem Glaumlubigen sich zum Zwecke des ex affectu-Gebets einen Koumlrper in seinen Verwesungsstadien vor Augen zu halten53 und was mit ihm selbst bei der Beerdigung passiere54 Das Fegefeuer ist ein im Sinne mittelalterlicher Moraltheologie produktiver Gebetsinhalt da der Glaumlubige im steten Oszillieren zwischen spes und timor besonders gut zur caritas aufzusteigen vermag Diesen Tenor findet man ebenfalls bei Geert Grote in seinem getijdenboek bei der Vorrede der Toten-vigil Hier raumlt er dem betenden Leser zum Wechsel aus Psalmen und Antiphonen in Hinblick auf die Erregung von Furcht und Angst Liebe und Hoffnung in der Ausrichtung auf Gut und Boumlse und mit Blick auf das Fegefeuer bdquoHier beginnt die Vigil in duytsche die so organisiert ist denjenigen zu helfen die von hinnen gefahren sind in der Freundschaft Gottes in das Fegefeuer Und ebenso dazu [gedacht ist] den Lebenden zu helfen die sie lesen damit ihnen das Wissen um die kommenden Dinge eingedruumlckt werde auf dass sie glauben hoffen und lieben an die Dinge in Herrlichkeit Und [sie] sich dafuumlr bereit machen und sich waumlhrenddessen die ganze Zeit fuumlrchten dass ihre Tage schnell vergehen Auf dass sie sich fuumlrchten aumlngstigen grauen und beben vor dem mannigfaltigen Leid der Angst und dem Elend die den Boumlsen ereilen werden und sie so darum ihr Leben lang ndash das hier aumluszligerst kurz ist ndash darauf hinarbeiten diesem Leid zu entgehen und [die Vigil ist auch hilfreich] weil ein Mensch diese beiden Dinge ndash Gutes in Liebe und Boumlses in Angst ndash besser ansehen (aensien) kann und erkennen und sich uumlberdenken damit er besser bitten kann und [es] mehr begehrt (begheert) und mehr liebt (myn[n]t) fuumlr diejenigen zu bitten die im Fegefeuer sind fuumlr ihre baldige Erloumlsung und dafuumlr Gottes Ehre zu vermehren [hellip] So hilft das Bitten der Lebenden den Toten und das Bitten fuumlr die Toten hilft den Lebendigen sich auf den Tod vorzubereiten [hellip] Und dazu ist das Singen dieser Psalmen heranzuziehen [und zwar] immer nach den Bedeutungen der Antiphone und den Sinn der

51 Die Darstellung von Seelen im Fegefeuer taucht als Buchillumination ab dem 13 Jahrhundert bereits vereinzelt auf und diente in Kombination mit Jenseitsvisionen Bibeltexten und moralisierenden Inhalten vor allem dem Gedenken an bereits Verstorbene wie auch zur persoumlnlichen Mediation des Lesers Oft findet eine narrative Einbindung statt Vgl dazu M Borowska Das Entfachen des Fegefeuers in der europaumlischen Miniatur des 13 Jahrhunderts in Umeni 57 (2009) S 310ndash325 Zum ikonografischen Kontext der hier gewaumlhlten Illumination vgl die Untersuchung von I M Veldman Purgatory in the Low Lands in B BukovinskaacuteL Slaviacuteček (Hgg) Pictura verba cupit Essays for Lubomiacuter Konečnyacute Prag 2006 S 169ndash180 va 170ndash17252 De Spir Asc Kap 19 In den folgenden Kapiteln stellt Gerard dem Leser dasselbe Prinzip an den Themen des Juumlngsten Gerichts der Houmllle und des Himmelreiches vor 53 bdquoItem interdum propone oculis tuis ymaginem alicuius hominis morientis et diligenter respice formam modum et ordinem quibus ad mortem deveniturldquo De Spir Asc Kap 1954 Weitere beliebte Illustrationen zum Totenoffizium im Stundenbuch des 15 Jahrhundert sind ebenfalls die Darstellung eines Toten um dessen Seele Engel und Teufel kaumlmpfen Schaumldeldarstellungen Seelen in Abrahams Schoszlig Himmel und Houmllle der Tod als Angreifer die Auferweckung des Lazarus sowie die Psychostasis mit Michael als Seelenwaumlger Diese Motive werden eher als ganzseitige Miniaturen dargestellt und bekommen zum Teil in der begleitenden Initiale jene zwei betenden Seelen im Fegefeuer hinzugefuumlgt

Meditation und Gebet 285

Antiphone soll man dazu in den Psalmen bedenken in allen Stundengebeten Dabei ist gut dass man sowohl vor als auch danach die Antiphonen spreche und schreibeldquo55

Mit der sich gegenseitig amplifizierenden Kombination von selbstreflexiven Affekt er-regendem und ausdruumlckendem Psalmentext mit der bildlichen Darstellung von Beerdigung mit Fegefeuer und mit derartigen Aufstiegsmodellen vertraut kann der betende Leser hier den eigenen Tod und die Bestrafung seiner Seele als Konsequenz der eigenen irdischen Suumlndhaftig-keit produktiv in seine Bemuumlhungen des geistigen Aufstiegs und seine Selbsttransformation kanalisieren

Imagination und Illumination

Das Gebetsleben des mittelalterlichen Glaumlubigen ist gekennzeichnet durch seine Affektivitaumlt Die affectus werden mit Gebetstexten und Psalmenreihen sowie mithilfe bildlicher Darstel-lungen sorgfaumlltig kultiviert und systematisch eingeuumlbt Dabei sind dies altbekannte ndash weil biblische ndash Text- und Bildinhalte deren affizierendes Potential auf neue Arten ausgeschoumlpft wird Texte und physische wie gerade geistige Bilder erinnern den Betenden nicht nur unver-bindlich an bereits bekannte Ereignisse Situationen und Figuren sondern lassen ihn sich mit diesen durch affektive und reflexive Meditationspraktiken identifizieren Fremde Worte und Emotionen werden darin zu den eigenen Vorbilder aus dem Kreis der Heiligen werden so zu Imaginationsfiguren das Selbst wird auf Gott ausgerichtet und in all seinen Aspekten gezielt emotional reflektiert So unterschiedlich die formale Herangehensweise dieser Praktiken bei den drei untersuchten Autoren Hugo von St Viktor Bonaventura und Gerard Zerbolt van Zutphen zu sein scheint vermitteln sie doch die selbe zentrale Maszliggabe oratio est affectus ndash bdquoGebet ist Affektldquo

Uumlbersetzung Hugo von St Viktor De meditando PL 176 993ndash99

Die Meditation ist die haumlufige Erwaumlgung (cogitatio) der Ursache (causa) und des inneren Be-weggrundes (ratio) eines einzelnen zu untersuchenden Gegenstandes (res) was seine Art sei (modus) was die Ursache und was der Beweggrund

Es gibt drei Arten (genus) der Meditation eine in Bezug auf die Schoumlpfung (in creaturis) eine hinsichtlich der Schrift (in scripturis) und eine hinsichtlich der Sitten (in moribus) Die erste erwaumlchst aus der Bewunderung (admiratio) die zweite aus der Lektuumlre (lectio) die dritte aus der umsichtigen Beobachtung (circumspectio)

Zuerst bringt die admiratio die Frage (quaestio) hervor die Frage das Erforschen (investi-gatio) und das Erforschen die Entdeckung (inventio) Dies ist damit die Bewunderung der Ord-

55 Fuumlr den altniederlaumlndischen Text vgl Wijk (cf Anm 49) S 155 Zum Antiphon das der Vigil vorangestellt ist vgl Anm 50

286 Anselm Rau und Johanna Scheel

nung (dispositio) die Frage nach der Ursache und die Entdeckung des inneren Beweggrundes Die Bewunderung beruht auf der Betrachtung der Ordnung im Himmel das ist die Gleich-artigkeit von allem und der Houmlhen und der Tiefen (alta et depressa) auf der Erde Die Frage betrifft die Ursache (causa) des irdischen Lebens auf Erden und des himmlischen Lebens im Himmel Das Erforschen fragt nach dem inneren Beweggrund dass so wie die Erde auch das irdische Leben beschaffen ist und dass der Beschaffenheit des Himmels selbst auch das himm-lische Leben gleicht

Bei der Lektuumlre (lectio) aber erfolgt die Betrachtung (considerare) folgendermaszligenAls erstes dient die lectio dazu durch die Bereitstellung des Stoffes (materia) die Wahr-

heit zu erkennen (cognoscere) die meditatio fuumlgt ihn zusammen (coaptare) die oratio hebt ihn empor (sublevare) die operatio (Ausfuumlhrung) wendet ihn an (componere) und die contemplatio frohlockt in ihm selbst (exsultare)

Es ist durch die Meditation der Schriften zu erkennen auf welche Weise es sich gehoumlrt etwas zu wissen Als Beispiel steht geschrieben Declina a malo et fac bonum (Vg Ps 3627 ndash Wende dich ab von dem Boumlsen und tue Gutes EUuml Ps 3727) Deshalb wurde zuvor gesagt die meditatio wendet sich der lectio zu um sich vom Boumlsen abzuwenden und darauf Gutes zu tun Der Grund (causa) hierfuumlr ist wenn sich nicht zuerst das Boumlse zuruumlckzoumlge wuumlrde das Gute nicht herantreten koumlnnen Der innere Beweggrund (ratio) aber ist so wie zuerst die Sproumlsslinge des Boumlsen mit ihrer Wurzel ausgerissen werden muumlssen so muss danach das Gute (ein-)ge-pflanzt werden Warum wurde daher gesagt Wende dich ab von dem Boumlsen Weil es einem auf dem Weg begegnet Man wendet sich deshalb ab weil wir es wo auch immer nicht vermoumlgen durch Staumlrke zu widerstehen wir entkommen ihm lediglich wenn wir uns mit Klugheit und Vernunft (consilio et ratio) von ihm abwenden Auch muumlssen wir uns vom Boumlsen abwenden um dem Naumlhrstoff (materia) zur Suumlnde aus dem Weg zu gehen ndash beispielsweise ist von Hochmut (superbia) Begehrlichkeit (incontinentia) Begierde (concupiscentia) Neid (invidia) und Streit (contentio) abzulassen um sich vom Reichtum (abundantia) der Schoumlnheit (species) des Flei-sches und der Besitzgier (amor possessiones) abzuwenden Dies bedeutet bdquosich abzuwendenldquo Desgleichen wenn auf diese Weise von allem Boumlsen sich abzuwenden angeraten ist so wird die Verrichtung alles Guten verlangt Und so ist also der ebenso schuldig bzw angeklagt der allein nur alles Boumlse meidet wie derjenige der nicht zugleich all das Gute tut Aber wenn dies so ist wer ist dann kein Angeklagter (reus) Folglich wird uns anbefohlen uns von allem Boumlsen loszusagen Andererseits kommt das Gute zum Einen aus dem was sich gehoumlrt (necessitas) und zum anderen aus dem Willen (voluntas) Es gehoumlren sich die Dinge einer Vorschrift (praecep-tum) und die eines Geluumlbdes (votum) alles uumlbrige wird erfuumlllt wenn eine Sache [also Schuld] mehr als nur vergolten wird (supererogare) und einem nichts mehr anlastet

Daher zielt die Meditation bei der lectio darauf ab zu ergruumlnden auf welche Weise et-was das erkannt wird gut ist warum und wie es zu erreichen ist weil es ndash ist es [ersteinmal] erkannt ndash auch zu verrichten ist Die Meditation ist das Entdeckungsvermoumlgen der vorgefassten Absicht (excogitatio consilii) zu erwaumlgen auf welche Weise das Gute das erkannt wurde erfuumlllt wird denn das Erkannte ist unbrauchbar wird es nicht vollbracht

Deshalb ist die Meditation bei der lectio eine dreifache Betrachtung nach der historia der allegoria und der tropologia Gemaumlszlig der historia erfolgt die Meditation wenn wir nach dem

Meditation und Gebet 287

vollendeten inneren Beweggrund der Dinge fragen die geschehen sind und diesen hinsichtlich seiner uumlbereinstimmenden Art und Weise (modus) bezuumlglich der Zeiten (tempora) und Orte (loci) bestaunen (admirare) Bei dieser Betrachtung der goumlttlichen Ratschluumlsse (iudicium) laumlsst man nicht davon ab daruumlber nachzudenken dass diese richtigen und gerechten (rectus et iustus) Entscheidungen zu keiner Zeit den Beistand [Gottes fuumlr die Menschen] entzogen (deesse) und durch sie das geschah was sich gehoumlrte und vergolten wurde was gerecht war (iustum fuit)

Die Meditation hinsichtlich der allegoria beschaumlftigt sich mit der Gliederung (dispositio) der vorangegangenen und zukuumlnftigen Dinge und so wie fuumlr den Verstand (intelligentia) an-gemessen richtet sie dabei ihre Aufmerksamkeit auf deren uumlbereinstimmende Bedeutung in ihrer bewundernswerten Vernunftmaumlszligigkeit (ratio) und Vorhersehung (providentia) und auf ihre fuumlr den Glauben (fides) geschaffene Gestalt (forma)

Bezuumlglich der tropologia beschaumlftigt sich die Meditation damit welche Frucht die Worte der lectio hervorbringen und erforscht (exquirere) was diese wenn sie ausgefuumlhrt werden [im Sinne des eigentlichen Aussprechens der Worte aber auch die Ausfuumlhrung ihres Inhaltes] ein-pflanzen (insinuere) und dabei zugleich lehren was zu vermeiden ist Sie stellt vor Augen was durch die lectio der Schrift zur Unterweisung (eruditio) zur Ermahnung (exhortatio) zur Troumls-tung (consolatio) und zum Schrecken (terror) dient Hierdurch erleuchtet die tropologia dahin-gehend was zum Verstehen der Tugenden (virtus) fuumlhrt sie naumlhrt (nutrire) den Affekt (affectio) und lehrt (edocere) die Lebensfuumlhrung auf dem Pfad der Tugenden

Die Meditation der Sitten (mos) erfolgt gemaumlszlig der Affekte (affectus) der Erwaumlgungen (cogi-tationes) und der Werke (opera)

Hinsichtlich der Affekte ist zu betrachten wie sie recht und aufrichtig (rectus et sincerus) zu sein vermoumlgen damit ist gemeint auf das und zu was hin sie geschuldet sein muumlssen und in welcher Weise sie zu sein haben Zu differenzieren ist naumlmlich dass das was sich nicht gehoumlrt (non oportet) boumlse ist und zugleich das was sich gehoumlrt zu lieben ist ndash das zu lieben das sich gleichwie nicht gehoumlrt ist boumlse Daher handelt es sich um einen guten Affekt wenn er auf das ausgerichtet ist auf das er verpflichtet ist und in der Weise wie es sich gehoumlrt

Amnon liebte (diligere) seine Schwester und dies war der Affekt zu dem er bestimmt war doch weil er Boumlses begehrte war es nicht der Affekt wie er ihn schuldete (vgl 2 Sam 13) So kann der Affekt auf das gerichtet sein zu was er gehoumlrt dies aber nicht in der [angemessenen] Art und Weise Niemals aber kann der Affekt so sein wie er zu sein hat wenn er nicht auf das ihm Zugehoumlrige ausgerichtet ist Auf das ausgerichtet zu was er gehoumlrt bedeutet dass er recht ist und in der Art und Weise wie es sich gehoumlrt und dementsprechend ist er rein Daher werden die Affekte in den Erwaumlgungen betrachtet damit sie rein (mundus) und geordnet (ordi-natus) sind Rein sind sie wenn weder etwas Boumlses von den Affekten hervorgebracht wird noch das Boumlse die Affekte hervorbringt Dass sie geordnet sind meint wenn sie vernuumlnftigerweise aufgrund des ihnen eigenen Anlasses (suo tempore) aufkommen (advenire) Es ist nicht ohne Schaden (vitium) [naumlmlich im Sinne des korrekten Vorgehens nicht ohne Formfehler] bereits das Gute zu einem diesem nicht angemessenen Zeitpunkt zu erwaumlgen wie etwa an die lectio waumlhrend der oratio zu denken oder auch an die oratio waumlhrend der lectio

Bei den Werken ist als erstes zu betrachten was zum Beispiel durch die gute Absicht (bona intentio) geschieht Um eine gute Absicht handelt es sich wenn sie einfach und aufrichtig ist

288 Anselm Rau und Johanna Scheel

(simplex et recta) Die bona intentio ist arglos ohne Hinterlist (malitia) und aufrichtig ohne Ignoranz (ignorantia) Die naumlmlich ohne Hinterlist ist besitzt den Eifer (zelus) Ist sie aber aus der [bewussten] Unkenntnis gegenuumlber dem Wissen (scientia) (Roumlm 102) geboren verfuumlgt sie nicht uumlber den [wahren] Eifer Daher ist es notwendig dass die Absicht aufrichtig ist in der Bescheidenheit (discretio) und arglos im Wohlwollen (benignitas) Bei den Werken ist zu be-trachten dass sie aus der aufkommenden guten Absicht heraus mit beharrlicher Leidenschaft (fervor) schlieszliglich ans Ziel gefuumlhrt werden damit nicht die Beharrlichkeit (perseverantia) ge-laumlhmt (torpere) und die Liebe (amor) nicht lau wird (tepescare)

Auf gleiche Weise erfolgt die meditatio der Sitten in einer zweifachen Betrachtung naumlmlich einer inneren und einer aumluszligeren Die aumluszligere blickt auf das Ansehen (fama) die innere auf das Gewissen (conscientia) Die aumluszligere Betrachtung erfolgt gemaumlszlig dem was ziert (decere) und was nuumltzt (expedire) was als Beispiel (exemplum) dient und was den Lohn (meritum) hervorbringt ndash uns zum Lohn und den Naumlchsten als Beispiel Die innere Betrachtung dagegen schaut auf das Gewissen damit es rein (mundus) sei ohne Anklage (accusatio) zu erleiden (pati) ob nun durch die Laumlhmung (torpor) des Guten oder die Hartnaumlckigkeit (praesumptio) des Boumlsen Rein ist aber jenes Gewissen das weder durch das Vergangene zu recht angeklagt (accusare) noch durch das Gegenwaumlrtige unrechtmaumlszligig erfreut (delectare) wird

Daher laumlsst die meditatio der Sitten ihre Betrachtung nicht ruhen damit sie jegliche Re-gungen (motus) die sich im Herzen erheben bemerkt und erwaumlgt woher sie kommen und worauf sie abzielen (tendere) Das heiszligt woher sie kommen gemaumlszlig ihrem Ursprung und wo-nach sie streben hinsichtlich ihres Ziels Alles ist naumlmlich eine Bewegung aus irgendetwas und auf irgendetwas Die Bewegungen des Herzens sind manchmal offenkundigen Ursprungs manchmal entspringen sie aber auch Verborgenem Bei denen der Ursprung offenkundig ist ist er bisweilen durch das Gute bisweilen aufgrund des Boumlsen erwiesen Was offenkundig gut ist kommt von Gott was aber deutlich boumlse erscheint entspringt entweder dem Teufel oder dem Fleisch Dies sind naumlmlich die drei Urheber (auctores) aller Vorstellungen (suggestio) und aller Eingebungen (aspiratio) die unsichtbar an das Herz herantreten und aus jenen drei hervor-gehen Entspringen die Bewegungen des Herzens daher dem Verborgenen koumlnnen sie manch-mal aus dem Guten und dem Geheimen hervorgehen und sind manchmal boumlse und zweifelhaft (dubius) Die dem Guten entspringen kommen von Gott die aber dem Boumlsen entstammen sind entweder des Teufels oder des Fleisches

Die Bewegungen die folglich offenkundig sind sei es im Guten oder Boumlsen werden auf den ersten Blick durch ihren Ursprung angezeigt Jene aber die zweifelhaft bleiben hinsichtlich ih-res Grundes sind am Ende zu uumlberpruumlfen (probare) Ihr Ergebnis [oder Ausgang] (exitus) zeigt naumlmlich deutlich was vom Ursprung her verborgen war und deswegen muss derjenige der es nicht vermochte den Ausgangspunkt seiner Herzensbewegungen zu beurteilen (iudicare) das Ziel und die Ausfuumlhrung [bzw Vollendung] (finis et consummatio) untersuchen (investigare) Die Bewegungen naumlmlich die zweifelhaft und ungewiss sind sind vom verborgenen Guten oder Boumlsen Wie gesagt wurde haben die schlechten Regungen ihren Ursprung entweder beim Teufel oder im Fleisch Diese aber sind beide boumlse sie unterscheiden sich nicht indem oder durch was sie boumlse sind doch unterscheiden sie sich dahingehend dass die Regungen des Her-zens die dem Fleisch entspringen haumlufig aus einer Notwendigkeit (necessitas) heranwachsen

Meditation und Gebet 289

die aber die tatsaumlchlich vom Teufel kommen nehmen noch oumlfter wider der Vernunft (ratio) ihren Anfang (oriri) Was naumlmlich vom Teufel eingegeben wird (suggerere) ist in der Tat dem Menschen fremd und wird deswegen haumlufig von der menschlichen Vernunft abgelehnt weil er beispielsweise unlaumlngst gesaumlttigt Hunger leidet (pati) kurz zuvor noch trunken (inebriatus) vor Durst (sitis) gluumlht (aestuare) oder wenn er nach einem ausgiebigen Schlaf (dormitio) sich erhebend vom Traum (somnus) bedruumlckt (praegravare) wird

Hieraus also werden die Werke des Teufels differenziert betrachtet weil sie ja an den Men-schen von auszligen herangetragen werden und der menschlichen Vernunft fremd sind Bei den Werken des Fleisches und ihren Eingebungen liegt der Grund des Oumlfteren in einer vorangegan-genen Notwendigkeit Aber weil sie Ziel und Maszlig (modus et mensura) uumlbersteigen wachsen sie zum Uumlberfluss (superfluitas) heran Dies ist als Beispiel eben gerade dann der Fall wenn nach der Einnahme einer Mahlzeit der Hunger hemmungslos (immoderatus) begehrt (appetere) und nach Enthaltsamkeit (abstinentia) das Maszlig (mensura) bei der Aufnahme von Speise (edulium) nicht gehalten wird

Daher wird die meditatio der Sitten aufgrund eines dreifachen Urteils betrieben Das erste urteilt zwischen Tag und Nacht das zweite zwischen Tag und Tag und das dritte schlieszliglich untersucht den gesamten Tag (vgl Roumlm 145) Zwischen Nacht und Tag zu urteilen meint das Boumlse vom Guten zu (unter-)scheiden Die Beurteilung zwischen Tag und Tag bedeutet eine Un-terscheidung zwischen etwas Gutem und etwas Besserem vorzunehmen Uumlber den gesamten Tag zu richten ist schlieszliglich das einzelne Gute fuumlr den eigenen Lohn zu ermessen (aestimare)

So hat die meditatio der Sitten bei jeglichem Umgang (conversatio) das Ziel und die Rich-tung (directio) im Blick Das Ziel ist wohin man strebt die Richtung wodurch man leichter ans Ziel gelangt Jeder naumlmlich der zu irgend etwas strebt so wie etwas seine Bahn (cursus) lenkt und unaufhoumlrlich weiterzieht kommt schneller ans Ziel Es gibt daher Gutes durch das man stark bewegt ist (moveri) zugleich gibt es aber wenig her durch das man vorankommt (pro-moveri) Anderes dagegen fuumlhrt mit etwas Muumlhe (labor) zu groszligem Gewinn (fructus) Und diese sind folglich zu unterscheiden und das Bessere das mehr nuumltzt auszuwaumlhlen Welches auch immer mehr nuumltzt ist besser und es gehoumlrt sich jedes Werk auf seinen Ertrag hin zu beurteilen Indem viele diese Unterscheidung (discretio) nicht einhielten haben sie sich zwar aufs aumluszligerste bemuumlht sind jedoch nur wenig vorangekommen weil sie das Auge aumluszligerlich so sehr auf die Gestalt (species) der Werke richteten und nicht innerlich auf den Gewinn durch die Tugenden blickten Sie ergoumltzen sich daran groszlige Taten zu verrichten anstatt dass sie das Nuumltz-liche (utilia) uumlben (exercere) um sich selbst zu bessern (emendari) Dabei schaumltzten (diligere) sie vielmehr das durch das sie den Anschein erwecken (videri) konnten [so zu sein]

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zunaumlchst das was man schuldet entweder auf-grund einer Vorschrift (praeceptum) oder eines Geluumlbdes (votum) Diesbezuumlglich ist die erste Tat der meditatio zu ermitteln ist sie oder es erfuumlllt fuumlhrt es zum Lohn und wenn nicht bringt dies den Anklagezustand (reatus) hervor Es sind also zuerst die Dinge zu tun die nicht ohne Schuld (culpa) weggelassen werden koumlnnen Danach ist die meditatio alsdann so zu verrichten dass wenn etwas durch freiwillige Uumlbung (exercitatio) noch hinzugefuumlgt wird die Pflicht-erfuumlllung [eigtl Schuld] (debitum) nicht verhindert wird (impedire) Die einen die das nicht zu leisten vermoumlgen was sie schulden wollen was sie nicht muumlssen Die anderen wenn sie im-

290 Anselm Rau und Johanna Scheel

stande sind zu tun was sie schulden bringen freiwillig Hindernisse (impedimentum) mit sich indem sie etwas wollen was sie nicht muumlssen

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zwei Dinge des Boumlsen vor denen man bei der Ver-richtung von Gutem besonders auf der Hut sein muss die Betruumlbnis [Niedergeschlagenheit] (afflictio) und die Besessenheit [Vereinnahmung] (occupatio) Die afflictio fuumlhrt zur Bitterkeit (amaritudo) die occupatio zur Zerstreuung (dissipatio) Mit der afflictio verbittert die Suumlszlige (dulcedo) des Geistes und mit der occupatio wird die Ruhe (tranquillitas) zerstoumlrt (dissipare) Es herrscht Betruumlbnis wenn man fuumlr jene Dinge die man nicht vermag aufgrund der eigenen Ungeduld (impatientia) ungluumlcklich wird (urere) Dagegen handelt es sich um Besessenheit (occupatio) wenn man in seinem Handeln (nach seinem Vermoumlgen) aufgrund der impatientia gequaumllt wird (agitare) Folglich darf die Seele (animus) nicht aufgrund des Boumlsen verbittert wer-den sie muss ihr Unvermoumlgen (impossibilitas) geduldig (patienter) aushalten Genauso darf sie aber auch nicht vom Boumlsen eingenommen werden und darf ihr Vermoumlgen (possibilitas) nicht uumlber ihr eigenes Maszlig hinaus ausdehnen (extendere) Daher muss die meditatio der Sitten in einer weiteren Betrachtung der Lebensfuumlhrung zu einem Urteil kommen und dabei billigen dass es weder gut ist die Dinge die man nicht vermag ungeduldig (impatienter) zu verlangen (appetere) noch die welche man erreicht toumlricht (insipienter) zu verschmaumlhen (fastidire) Wer naumlmlich immer das begehrt was er nicht vermag und das was er [jedoch] vermag verabscheut wird sich weder am Gegenwaumlrtigen erfreuen (frui) noch am Zukuumlnftigen saumlttigen (satiare) Er verlaumlsst naumlmlich das Gute unentwickelt vor der Vollendung und eignet sich das gerade erst Be-gonnene vorzeitig an Deswegen ist es gut aufgrund des eigenen Guten zufrieden zu sein und das gegenwaumlrtige Gute durch hinzukommendes Gutes zu vermehren und es nicht aufgrund des Zukuumlnftigen wegzuwerfen (abicere) Der Austausch (commutatio) des Guten ist naumlmlich ein Leichtes (levitas) seine Uumlbung (exercitatio) aber die Tugend Oft eilen sie auf unterschiedlichen Wegen die einen die ein fruumlheres durch ein neues Gutes fallen lassen (abicere) und die ande-ren die [sich] vom Untersten zum Houmlchsten emporschwingen (conscendere) Wer naumlmlich nach Veraumlnderung (mutatio) fragt ist uumlberdruumlssig (fastidiosus) so wie der der nach dem Voran-schreiten (profectus) strebt eifrig bemuumlht ist (studiosus) Am aufrechtesten beschreitet daher derjenige den Weg der dabei so auf das Bessere brennt (fervere) dass er des Guten nicht uumlber-druumlssig wird sondern es vorerst empor haumllt solange bis er es spaumlter zu der ihm angemessenen Zeit sich aneignet (apprehendere)

Abbildungsnachweis

Einband Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders

Farbtafeln 1 (zu Beitrag Rosenwein) Coll BNU de Strasbourg ndash 2 (zu Beitrag Ferguson) Ar-chiv der Verf ndash 3 (zu Beitrag Herding) Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preu-szligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders ndash 4 (zu Beitrag Droste) R Kahsnitz Die Groszligen Schnitzaltaumlre Spaumltgotik in Suumlddeutschland Oumlsterreich Suumldtirol Muumlnchen 2005 Taf 53 ndash 5 6 (zu Beitrag Schedl) 75 Jahre 1933ndash2008 Kirche Mutter vom Guten Rat Festschrift und Chro-nik FrankfurtM 2008 S 92 Dr Bernd Konrad Radolfzell ndash 7 8 9 (zu Beitrag Zaumlh) Archiv des Autors ndash 10 (zu Beitrag Niehr) Universitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Media-thek 11 12 (zu Beitrag Muumlller) Autorin ndash 13 14 15 (zu Beitrag Schlie) Su concessione del Ministero dei beni e delle attivitagrave culturali e del turismo ndash Galleria Nazionale delle Marche ndash Urbino Archivio fotografico Archiv der Verf F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 ndash 16 17 (zu Beitrag Stoichita) D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 ndash 18 19 20 (zu Beitrag Schmidt) London British Museum C Geissmar-BrandiE Louis (Hgg) Glaube Hoffnung Liebe Tod Wien 1995 S 149 Archiv Autor ndash 21 (zu Beitrag Jung) Autorin

Textabbildungen Droste 1 3 4 Autorin 2 E Oellermann Der Hochaltar in St Martin zu Lorch am Rhein in H KrohmE Oellermann (Hrsg) Fluumlgelaltaumlre des spaumlten Mittelalters Ber-lin 1992 Abb 2 ndash Ferguson 1ndash3 Archiv der Verf ndash Frese 1 2 3 5 M BrandtA Eggebrecht (Hgg) Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen Katalog der Ausstellung Hil-desheim 1993 Bd 1 S 386f Abb 197 u 198 Bd 2 S 583 KatNr VIIIndash32 S 604 KatNr IXndash8 4 G LutzA Weyer (Hgg) 1000 Jahre St Michael in Hildesheim Kirche ndash Kloster ndash Stifter Peterberg 2012 S 148 Abb 118 ndash Gruumlndler 1ndash4 L DomenicoA Nova (Hg) Leonardo da Vincirsquos Anatomical World Language Context and Disegno Akten der Internationalen Tagung Florenz 30ndash31 Mai 2008 Venedig 2011 S 237 S 236 S 241 S 186 5 6 Le journal de Jacopo da Pontormo traduit par Jean-Claude Lebensztejn avec la collaboration drsquoAlessandro Parronchi Paris 1992 S 46 S 50 ndash Herding 1 2 3 4 5 6 7 Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders 8 Max J Friedlaumlnder Early Netherlandish Painting 14 vols Leiden und Bruumlssel 1967ndash1974 vol II 1967 pl 10 Nr 3i 9 Wolfenbuumlttel Herzog-August-Bibliothek ndash Jung 1 2 3 4 5 Autorin ndash Kessler 1 6 7 Autor 2 3 Museo delle Terme Rom 4 British Museum London 5 Alexei Lidov ndash Maxwell 1 2 AHN 3 Autor 4 Sancho el Mayor y sus herederos ed I Bango Torviso et al 2006 cat 25 5 BNE ndash Muumlller 1 Italian painting c 1330ndash1550 I National Gallery in Prague II Collections in the Czech Repub-lic Illustrated summary catalogue Prag 2008 2 Collection of The John and Mable Ringling Museum of Art the State Art Museum of Florida Florida State University 3 2014 copy Archivio Fotografico ndash Fondazione Musei Civici di Venezia ndash Niehr 1 A Schuttwolf (Hg) Ausst-Kat Jahreszeiten der Gefuumlhle Das Gothaer Liebespaar und die Minne im Spaumltmittelalter Ostfil-

400 Abbildungsnachweis

dern-Ruit 1998 2 D de Vos Hans Memling Das Gesamtwerk AntwerpenStuttgart 1994 S 278ndash283 TH Borchert Hans Memling Portraits Stuttgart 2005 S 173f Nr 23 3 Univer-sitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Mediathek ndash Pfisterer 1 E Steinmann ldquoLa mano di Michelangeloldquo in Studien aus Kunst und Geschichte Friedrich Schneider zum siebzigsten Geburtstag Freiburg iBr 1906 unnum Taf 2 R Bernini ua La mano e il volto di Antonio Canova PossagnoQuinto di Treviso 2008 S 197 3 U Klein Zur Forschungsgeschichte des Duumlrer-Hauses in GU GroszligmannF Sonnenberger (Hgg) Das Duumlrer-Haus Neue Ergebnisse der Forschung Nuumlrnberg 2007 S 105 nach Carl A Heideloff Die Ornamentik des Mittelalters Bd 3 Nuumlrnberg 1847 S 42 4 WH Vroon Het wonderlid van Jan de Witt en andere vaderland-se relieken Nijmegen 1997 S 68 5 Autor nach GF Tomasini Petrarca Redivivus Padua sup21650 S 128 6 A Picturesque Tour Through Holland Brabant and Part of France made in the autum of 1789 by Samuel Ireland London sup21796 Bd 2 Taf nach S 13 ndash Pinkus 1 2 3 4 5 6 Autor 7 8 Institut fuumlr Kunstgeschichte Universitaumlt Wien Fotothek ndash RauScheel 1 M Gregori Uf-fizien und Palazzo Pitti Muumlnchen 1994 S 31 2 Den Haag Koninklijke Bibliotheek ndash Raeck 1 2 5 7 Fotothek des Instituts fuumlr Archaumlologische Wissenschaften AbtI Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main 3 Zeichnerische Rekonstruktion M Junghans nach H-V Herrmann Olympia ndash Heiligtum und Wettkampfstaumltte Muumlnchen 1972 Abb 95 4 Antikensammlung Staatliche Museen zu Berlin Foto Johannes Laurentius 6 W Riezler Weissgrundige attische Lekythen Muumlnchen 1914 Taf 23 8 Deutsches Archaumlologisches Institut Athen Fotothek ndash Reudenbach 1 F MuumltherichJE Gaehde Karolingische Buchmalerei Muumlnchen 1979 Taf 4 2ndash4 httpwwwbibliotheca-laureshamensis-digitalde (Zugriff 20022014) ndash Schmengler 1 2 3 Torsten Saumlnger Frankfurt 4 5 6 Eric Tschernow Berlin ndash Schedl 1ndash3 Dr Bernd Konrad Radolfzell 4 FrankfurtMain-Niederrad Pfarrarchiv der katholischen Kirchengemeinde Mut-ter zum Guten Rat ndash Schlie 1 Archiv der Verf 2 Archiv der Verf + D E Katz The Contours of Tolerance Jews and the Corpus Domini Altarpiece in Urbino in Art Bulletin 85 (2003) S 647ndash661 S 647 3 F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 Schmidt 1 2 London British Museum 3 M Geisberg Der Meister ES Leipzig 21924 4 Archiv Autor ndash Taxer 1 2 O Paumlcht Altniederlaumlndische Malerei Von Rogier van der Weyden bis Gerard David Muumlnchen 1994 Abb 91 S 118 Abb 93 S 120 3 4 E Panofsky Die altniederlaumlndische Malerei Ihr Ursprung und Wesen Bd 2 Koumlln 2006 Abb 387 S 236 Abb 358 S 214 ndash Stoichita 1 D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 2 3 J Bialostocki Les Museacutees de Pologne Bruxelles 1966 ndash Zaumlh 1 2 Archiv des Verf 3 Metropolitan Museum of Art Bulletin 58 (2001) S 17 4 G ForsythK Weitzmann The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai The Church and Fortress of Justinian Plates Ann Arbor (Mi) 1973 Plate 121

272 Anselm Rau und Johanna Scheel

betsarten ebenfalls mit drei Unterkategorien ausgestattet werden Die Begrifflichkeiten sind der antiken Rhetorik entlehnt an der Hugo seine Rhetorik des Gebets entwickelt indem er auf eine sehr anwendungsbezogene Weise bestimmte Affekte in sie einbindet Die captatio ndash eine Unterart der supplicatio ndash soll beispielsweise in der antiken Rhetorik eine emotional positive Einstimmung des Angesprochenen ndash im Gebet waumlre dies Gott ndash bewirken14 bei Hugo dient sie jedoch daruumlber hinaus stark der eigenen emotionalen Vorbereitung des Betenden Die Gebets-worte haben nach Hugo ausdruumlcklich die Funktion im Betenden diejenigen Affekte entstehen lassen die der Bitte entsprechen

Form ndash Intention ndash Emotion

Dass festgelegte traditionelle Gebetsworte vorgegeben sind wiederspricht dieser Funktion dabei in keinster Weise Hugo zeigt dies daran dass er gerade Psalmentexte benutzt um seine Vorstellungen von affectus und davon wie dieser im Gebet erzeugt werden kann zu entwickeln (Kap IV) Waumlhrend die richtige (rhetorische) Form der Bitte fuumlr die Ansprache Gottes wichtig sei sei sie fuumlr den Betenden einerseits notwendig damit er sein eigenes Gebet besser verstehen koumlnne er nochmals in der meditatio uumlberlege worum er bitte und vor allem damit er dadurch noch hingebungsvoller mit staumlrkerer devotio bete Erst durch diese vollkommene Hinwendung der Seele des Betenden zu Gott in hingebungsvollem Affekt (affectus devotionis) wird seine Zu-stimmung erreicht Durch die Worte werde dem Beter seine Bitte und sein Zustand staumlrker bewusst er werde zum Affekt gebracht der Affekt in denselben Worten ausgedruumlckt und durch diese noch staumlrker entflammt bdquoQuaecunque ergo sunt verba orantis absurda non sunt si tan-tummodo ad hoc competenter proferri possint ut vel orantis affectum ad amorem Dei excitent vel (quod amplius est) si jam amore ejus flagrat excitatum demonstrentldquo15 Hier wird der Kern des Traktats formuliert Die Form des Gebets wird in Relation zu Intention und Emotion ge-setzt wodurch Hugo einerseits zu der Aussage kommt dass je groumlszliger die Emotion werde sie sich desto weniger in artikulierten Worten ausdruumlcken lieszlige16 Andererseits kann er zeigen dass das Verhaumlltnis von Wort und Emotion ein vielschichtiges und sich gegenseitig amplifizierendes ist Die Gebetsworte werden danach ausgesucht welchem Ziel und Affekt sie dienen sollen Im Gebet gesprochen vergegenwaumlrtigen sie oder erinnern sie den Betenden an bestimmte Affekte sie erwecken und verstaumlrken diese soweit dass zuletzt ebendiese Worte zum Affektausdruck des Beters werden Der Betende eignet sich damit fremde Worte durch den Affekt an und macht

14 ZB in De inventione von Cicero (1 17) oder RhetoricaAuctor ad Herennium (1 6) so Hugo von St Viktor (1997) S 166 Anm 28 (cf Anm 6) Vgl zur captatio ebenso B Wessel Art Captatio benevolentiae in Historisches Woumlrterbuch der Rhetorik hg v G Ueding Bd 4 Tuumlbingen 1998 Sp 121ndash12315 bdquoAber auf keine andere Weise wird Gott zur Zustimmung gebracht als wenn die Seele des Betenden in gaumlnzlich hingebungsvollem Affekt zu ihm selbst hingewandt wird Wie auch immer die Worte des Gebets sind so sind sie nicht nutzlos wenn sie ihm nur passender vorgetragen werden koumlnnten damit sie entweder den Gebetsaffekt zur Liebe Gottes entflammen oder was besser ist wenn die Liebe schon brennt sie die Erregung zeigtenldquo16 bdquoDer Affekt hat naumlmlich die Eigenschaft dass je groumlszliger und gluumlhender er im Inneren ist er desto weniger aumluszligerlich durch die Worte ausgedruumlckt werden kannldquo

Meditation und Gebet 273

sie zu seinen eigenen Das gesprochene Gebet ist so uumlber seinen affektiven Effekt auf den Beter definiert Als Beispiel benutzt Hugo Schriftworte vornehmlich Psalmen bdquoJeder Einzelne also waumlhrend er im Gebet entweder Psalmen oder irgendwelche anderen Schriften singt soll sorg-faumlltig bedenken welchem Affekt sie dienen moumlgen und durch ganze Anstrengung sein Herz zu jenem Affekt erregen Er sagt das was ihm besser zu dienen scheint denn wenn er den Affekt erregt durch die Worte die er sagt erkennt er durch den Affekt selbst besser die Kraft der Worte Er erwirbt die Einsicht und entzuumlndet durch die Einsicht der Worte umso mehr den hingebungsvollen Affektldquo (Kap V)

Psalmen ndash Wort und Affekte

Die lebenspraktische Erklaumlrung der Gebetsaffekte in De modo orandi ist bemerkenswert klar Weil in den Affekten die ganze Kraft des Gebets liege zaumlhlt Hugo beispielhaft aus den unend-lichen Affekten (Kap VII) neun von ihnen auf die er ebenfalls kurz definiert und gruppiert zunaumlchst die Affekte der Zuneigung Bewunderung und Mitfreude17 dann die Affekte der De-mut des Leides und der Furcht sowie zuletzt die Affekte der Entruumlstung der Eifersucht und der guten Erwartung Diese Gruppierungen werden jeweils auf verschiedene Schriftgattungen bezogen aus denen sie entstehen koumlnnen ndash so werden einer Gattung die zur Erinnerung des Ungluumlcks bzw der eigenen Fehler anregt drei dieser Affekte zugeordnet naumlmlich Demut die aus der Erinnerung der eigenen Fehler erwaumlchst Leid aus der Erinnerung vergangener und gegenwaumlrtiger Fehler sowie Furcht aus dem Gedanken an zukuumlnftige Vergleichbare Zuord-nungen finden sich dort auch fuumlr die uumlbrigen Affekte

Nun verknuumlpft Hugo diese mit konkreten Beispielen aus den Psalmen (Kap VII) bdquoAus dem Affekt der Zuneigung (dilectio) heraus wird Ps 182 gesungen sbquoIch will Dich ruumlhmen Herrlsquo Aus dem Affekt der Bewunderung (admiratio) heraus wird Psalm 8[2]10 gesungen sbquoHerr unser Herrlsquo Aus dem Affekt der Mitfreude (congratulatio) heraus wird Ps 472 gesungen sbquoIhr Voumllker allelsquo Und in allen diesen ist LobAus dem Affekt der Demut (humilitas) heraus wird Ps 312 gesungen sbquoHerr ich suche Zufluchtlsquo Aus dem Affekt des Leids (dolor) heraus wird Ps 131 gesungen sbquoWie lange noch Herr vergisst Du mich ganzlsquo Aus dem Affekt der Furcht (timor) heraus wird Ps 62 gesungen sbquoHerr strafe mich nicht in deinem Zornlsquo Und in all diesen ist die Fuumlrbitte mit einer Klage vermischtAus dem Affekt der Entruumlstung (indignatio) heraus wird Ps 523 gesungen sbquoWas ruumlhmst Du Dich Deiner Bosheitlsquo Aus dem Affekt des gerechten Eifers (zelus) heraus wird Ps 941 gesungen sbquoO Herr Gott der Vergebunglsquo Aus dem Affekt der guten Erwartung (bona praesumptio) heraus wird Ps 261 gesungen sbquoVerschaffe mir Recht o Herrlsquoldquo

17 Affectus congratulationis wird als Gegenpol zur compassio verstanden

274 Anselm Rau und Johanna Scheel

Hugo zeigt hier wie einerseits aus dem Affekt ein bestimmter Psalm gesungen wird Er kom-plettiert damit was er bei der Aufzaumlhlung staumlrker betonte naumlmlich aus welchen Psalmen ein Affekt erwaumlchst und gleichzeitig wie die Worte zu denjenigen der eigenen Bitte und zum Af-fektausdruck werden

Mischung und Uumlberblendung von Affekten

Allerdings wird nicht innerhalb eines Psalms je nur ein Affekt ausgedehnt sondern oftmals geht dort ein Affekt in den anderen uumlber Sie werden gemischt oder loumlsen sich kontinuierlich ab (Kap VIII) Ein Beispiel hierzu Aus der meditatio der eigenen Fehler und Gottes Barm-herzigkeit bricht man durch den Affekt des Schmerzes in die Worte aus bdquoHerr wie zahlreich sind meine Bedraumlnger so viele stehen gegen mich auf viele gibt es die von mir sagen Er findet keine Hilfe bei Gottldquo Dies sind die ersten Verse aus Psalm 3 Aus dem Affekt des Schmerzes der dadurch staumlrker entflammt und ausgedruumlckt wird kehrt der Betende mit dem naumlchsten Vers des Psalms 3 auf den Affekt der guten Erwartung zuruumlck und sagt bdquoDu aber Herr bist ein Schild fuumlr michldquo Damit wird der Schmerz von Vertrauen gelindert und der eine in den andere Affekt uumlberfuumlhrt

Die Psalmenworte vergegenwaumlrtigen oder erinnern hier an den Affekt und werden danach angewandt zugleich sind sie Anreiz und -ausdruck der vielfaumlltigen Palette wandelbarer Affekte

Diese Definition in De modo orandi ist fuumlr das Verstaumlndnis der Affekte innerhalb des Ge-bets im gesamten Mittelalter als grundlegend anzusehen Aus kunsthistorischer Sichtweise ist die Beschaumlftigung mit dieser Schrift daher nicht nur unerlaumlsslich um mittelalterliche Bildwer-ke die fuumlr den Bildbetrachter als Hilfsmittel fuumlr sein Gebet konzipiert wurden praumlziser kon-textualisieren zu koumlnnen Vielmehr ist die in De modo orandi dargelegte Reflexionsstruktur auf die Rezeption von Werken der bildenden Kunst uumlbertragbar

Das Lignum vitae

Ein Beispiel fuumlr die konkrete Anwendung der Evozierung von affectus bei Gebet und Medita-tion wie von Hugo von St Viktor konzipiert stellen die Meditationen des Lignum vitae Bona-venturas und dessen bildliche Umsetzung dar18 In seinen viel rezipierten Werken De triplici

18 Bonaventura Lignum vitae in Opera omnia Quaracchi 1848 Bd 8 Im Folgenden wird auf die lateinische Edition von Quaracchi mit dem Kuumlrzel LV verwiesen Wird nicht die eigene Uumlbersetzung verwendet ist die Grundlage M Schlosser Baum des Lebens Geistliche Betrachtungen St Ottilien 2012 Weitere deutsche Uumlbersetzung bei A Aswerus Der Lebensbaum Zuumlrich 1963Die Rezeption der Schriften Hugos bei den Franziskanern ist bekannt gerade die Verbreitung der hier besprochenen Texte Vgl Goy (cf Anm 1) S 530ndash532 In Italien und auf der iberischen Halbinsel sind mit 170 Texten nur ca 7 der Gesamtuumlberlieferung von Hugos Werken zu finden allerdings faumlllt bei den Handschriften italienischer Provenienz die bdquofuumlhrende Stellung der Franziskaner als Tradentenldquo auf Vgl ebd S 530 Die Houmlhepunkte der Tradierung liegen im 13 und 15 Jh vgl ebd S 559ndash564 bes S 563

Meditation und Gebet 275

via in dem er sein auf dem Gedankengut des 12 Jahrhunderts beruhendes Verstaumlndnis von meditatio oratio und contemplatio darlegt und dem Itinerarium mentis in Deum wendet sich Bonaventura der Formung der Seele des Menschen fuumlr den Aufstieg zu Gott zu19 Gerade aber das Lignum vitae hat maszliggeblich in seiner konkreten Form die Passionsmeditation des spaumlten Mittelalters beeinflusst20

Deutlich ist hervorzuheben dass Bonaventura diese Meditationsschrift zu Kindheit und Leben Passion und AuferstehungVerherrlichung Christi auf Grundlage mnemotechnisch strukturierter Modelle der monastischen Meditationspraxis konzipierte Der Entwurf Bona-venturas sieht die Anordnung der Meditationen anhand eines Baumschemas vor als struktur-gebende Schablone fuumlr das Einpraumlgen dieser im Herzen21 Da die Vorstellungskraft (imaginatio) die Einsicht (intelligentia) unterstuumltzt gibt Bonaventura die konkrete die Intention verdeutli-chende Anweisung bdquodescribe igitur in spiritu mentis tuae arboremldquo22 Die Meditationen selbst dienen zur Entflammung des Herzens in liebendem Empfinden zur Formung des Denkens und zur Einpraumlgung in das Gedaumlchtnis (accendatur affectus formetur cogitatus imprimatur memoria) Somit wird auch hier die Formung des Denkens durch den affectus herausgestellt23 Nach dem Entwurf Bonaventuras besitzt der Baum zwoumllf Zweige an denen jeweils vier kurze Strophen die Einleitungen bzw Uumlberschriften zu den einzelnen Meditationen angebracht sind die immer zusammen genommen eine Frucht hervorbringen So umfasst das gesamte Schema 48 Meditationen die in einer Reihenfolge von unten nach oben insgesamt zwoumllf zu erreichende Fruumlchte oder auch tugendhafte habitus hervorbringen sollen24

Die rasche und vielfaumlltige visuelle Umsetzung der Baumstruktur zeugt von der Popula-ritaumlt der Meditationen des Lignum vitae eine der heute wohl bekanntesten Darstellungen stammt von Pacino di Bonaguida der jeder einzelnen Meditation ein Bildmedaillon zuordnete

19 Bonaventura De triplici via Opera omnia Quaracchi 1948 Bd 8 S 19ndash27 ndash Bonaventura Itinerarium mentis in Deum Opera omnia Quaracchi 1891 Bd 5 S 293ndash316 ndash vgl hier auch die kritischen Edition und die Darstellung der inhaltlichen Grundkonzeption Bonaventura De triplici via Uumlber den dreifachen Weg latdt uumlbers u eingel v M Schlosser Freiburg iBr [ua] 1993 ndash Bonaventura Itinerarium mentis in Deum ndash Der Pilgerweg des Menschen zu Gott latdt uumlbers u erl v M Schlosser mit einer Einleitung von P Zahner Muumlnster 200420 R Preisinger Lignum vitae Zum Verhaumlltnis materieller Bilder und mentaler Bildpraxis im Mittelalter Paderborn 2014 21 Zu den Schablonen und dem Einpraumlgen dieser ins Herzen vgl M Carruthers Moving Images in the Mindrsquos Eye in J Hamburger M-A Boucheacute (Hgg) The Mindrsquos Eye Art and Theological Argument in the Middle Ages New Jersey 2006 S 294 FN 24 zu den Anweisungen Hugos in De arca noe S 292ndash29422 LV Prolog S 6823 Ebd24 Die uumlberkommenen Traktate belegen die angedachte Konzeption zur Verinnerlichung der einzelnen Meditationen die Uumlberschriften als Responsorium mit dem Kehrvers O crux fructus salvificus zu singen vgl hierzu M Sensi Lrsquoallegoria della Croce nel monastero di SantrsquoAnna a Foligno in B Ulianich U Parente (Hg) La Croce Iconografia e interpretazione Bd 3 La croce nella liturgia NeapelRom 2007 S 392 ebenso Preisinger (wie Anm 20) S 36ndash42

276 Anselm Rau und Johanna Scheel

(Abb 1)25 In kuumlnstlerischen Darstellungen diente das Lignum vitae als visuelle Unterstuumltzung sowohl fuumlr den Gesang als auch gerade zur Strukturierung von Predigt und Meditation26 Ein Groszligteil der Bilder zum Lignum vitae binden den Text in Form der Uumlberschriften der einzelnen Meditationen ein Eine solch detailreiche Ausgestaltung wie etwa bei Pacino ist bei den uumlber-lieferten Beispielen keine Regelmaumlszligigkeit Damit belegt allein schon das Bild selbst dass das

25 Jedoch darf diese Tatsache nicht uumlber die tatsaumlchliche Anwendung hinwegtaumluschen Auf die Diskussion um die Bildwerke zum LV kann hier nicht dezidiert eingegangen werden Die juumlngsten Publikationen zum Lignum vitae mit der entsprechenden Literatur zur Forschungslage sind Preisinger (cf Anm 20) und U Ilg Quasi lignum vitae The Tree of Life as an Image of Mendicant Identity in P SaloniusA Worm (Hgg) The Tree Symbol Allegory and Mnemonic Device in Medieval Art and Thought Turnhout 2014 S 187ndash212 ndash Siehe die Kritik an der bisherigen Auseinandersetzung mit dem Lignum vitae und seinen Darstellungen in der 2015 abgeschlossenen Dissertation von A Rau Imagination und Emotion Bildstruktur und Emotionalisierungsstrategien in der monastischen Meditation und das bdquoModell Franziskusldquo sowie A Rau Im Wechselbad der Gefuumlhle ndash das Lignum vitae in Imago 4 (2015) erscheint November 201526 L Bolzoni The Web of Images Vernacular Preaching from its Origins to Saint Bernardino da Siena Aldershot 2004 S 154ff

Abb 1 Pacino di Bonaguida Lignum vitae Florenz Galleria delllsquoAccademia um 1310 258x151cm

Meditation und Gebet 277

eigentliche affizierende Potential in der Steuerung der imaginatio des LesersBetrachters durch den Text der Meditation und des Gebet selbst liegt27

Innerhalb der jeweils einer Frucht zugeordneten vier Meditationen ist ein Aufbau und Uumlbergang festzustellen ebenso sind in der Regel die Fruumlchte durch die letzte Meditation der vorangegangenen und die erste der folgenden miteinander verknuumlpft Allen gemein ist dass zu Anfang einer jeden Frucht die in den ersten zwei Fruumlchten ausgebildeten Grundtugenden caritas und humilitas als Ausgangspunkt genommen werden Diese beiden sind wie bereits von Augustinus betont die Grundtugenden aus denen alle weiteren erst hervorgehen koumlnnen28 Die einzelnen Meditationen zeichnen sich durch das Fokussieren auf eine tugendhafte Haltung Christi aus Diese verdeutlicht er entweder selbst in einer emotionalen seinen Habitus aus-druumlckenden Disposition oder weiteres biblisches Personal reagiert als Exempel fuumlr den LeserBetrachter des Lignum vitae auf die ihm so bdquovisualisertenldquo Geschehnisse um Christus So ent-stehen Imaginationsfiguren die das Handeln (operatio) bestimmen sollen Geleitet wird die Meditation des Betrachters durch die eindruumlcklichen Schilderungen der Begebenheiten aus dem Leben Christi in Kombination entweder direkter Ansprachen an seine Seele wie er sich verhalten was er sich als Vorbild nehmen soll oder durch in die Meditation selbst eingefuumlgte Gebetstexte welche die Affizierung entweder stuumltzen oder direkt hervorbringen koumlnnen

Die Meditationen der ersten vier Fruumlchte (Geburt Kindheit Wirken Christi) charakteri-sieren das Lignum vitae wie schon bei Hugo und in den Meditationsmodellen des 12 Jahrhun-derts als dezidiertes Reue- und Buszligschema Dies verdeutlicht allein schon die formale Anlage da sich hier vorwiegend Anweisungen zu habituellen emotionalen Dispositionen des Lesers finden Die Einmuumlndung dieser Meditationen in die Schilderung des letzten Abendmahls kon-kretisiert die Verbindung zwischen der logischen Anlage eines sukzessive aufgebauten Medita-tionsschemas die Notwendigkeit seiner fortdauernden Anwendung und somit den praktischen Bezug zum religioumlsen Leben Reue und Buszlige sind die notwendige Grundvoraussetzung fuumlr die Teilhabe an der Opferfeier des Messgeschehens es hebt die Meditationspraxis als fortdauernde Uumlbung der Affekte und Tugenden als staumlndige Gewissenspruumlfung hervor und kennzeichnet den Menschen ab diesem Punkt als muumlndigen Meditanden und Beter

So aumlndert sich dann ab der fuumlnften Frucht zu den Passionsmeditationen auch der Auf-bau Hier werden konzentriert einzelne orationes in die einzelnen Meditationen eingeflochten Bemerkenswert ist bei den fast als propaumldeutisch zu verstehenden Meditationen der ersten vier Fruumlchte findet sich eine sehr uumlberschaubare Anzahl von Psalmzitaten waumlhrend sie hier als personalisierte Gebete des LesersBetrachters gehaumluft auftreten Gezielt werden sie in den Meditationen der geschilderten Situationen und Peinigungen Christi eingesetzte um die com-passio zu erregen Hieran laumlsst sich die unmittelbare und entscheidende Zusammenwirkung

27 Bezuumlglich einer eingehenden gerade auch sprachlichen Untersuchung der Meditationen des Lignum vitae das affektsteuernde Potential herausarbeitend siehe abermals Rau (wie Anm 25)28 K Pansters Profectus Virtutum From Psalm 838 to David if Augsburgrsquos Profectus religiosorum in Studies in Spirituality 18 (2008) S 170 Zur Thematik weiterfuumlhrend N Baumann Die Demut als Grundlage aller Tugenden bei Augustinus Frankfurt 2009

278 Anselm Rau und Johanna Scheel

von meditatio und oratio beobachten die in Kombination die Lenkung der geordneten affectus bestimmen

Die von Hugo in De meditando angemahnte Unterscheidung und Betrachtung des Guten und Boumlsen findet in den Meditationen des Lignum vitae seine konkrete differenzierte Anwen-dung Heben die ersten vier Fruumlchten dezidiert Reue und Buszlige des MeditierendenBetenden und gerade die Schlechtigkeit des Menschen gegenuumlber Christus hervor so zeigen die Medita-tionen zur Passion Christi (5ndash8) die Betrachtung des Boumlsen und des Guten dahingehend wie das Boumlse in Gestalt der Peiniger Christi auf diesen einwirkt und wie Christus selbst oder wei-teres positiv konnotiertes biblisches Personal reagiert Die Grundlage des hier geforderten Mit-leidens mit Christus ist die bei den vorangegangenen Meditationen ausgearbeitete compassio Christi mit den Suumlndern Demuumltig ausgerichtet und damit ausgebildet am mitfuumlhlenden Vor-bild Christi kann der LeserBetrachter uumlber die imaginatio in der Meditation und dem Gebet hier zum Mitleidenden ausgebildet werden Zuerst wird also die demuumltige Emotionalitaumlt ob der eigenen Schlechtigkeit dem eigenen Boumlsen im Abgleich mit dem guten Vorbild in Christus herausgebildet und daraufhin die Affekte in den Meditationen zur Passion Christi an Christus selbst zum Mitleiden konstituiert

Als Beispiel der dezidiert auf die Affizierung ausgerichteten Anlage seien die Meditationen der fuumlnften Frucht umrissen Gegenstand (res) ist hier die Betrachtung von Christi Vertrauen (confidentia) in der Gefahr und umfasst die vier Meditationen zu Judasrsquo Verrat Christi Gebet auf dem Oumllberg der Umzingelung Christi durch die Haumlscher und seiner Gefangennahme29 Propaumldeutisch wird dem Verrat Judasrsquo dem abgrundtief Boumlsen (nequissum) die geradezu pa-radox erscheinende und dadurch Staunen und Bewunderung erweckende (o mira) Guumlte (be-nignitas) und Sanftmut (mansuetudo) Christi gegenuumlbergestellt30 Dieses Thema beherrscht alle Meditationen dieser Frucht und ist begleitende Grundlage aller folgenden Darstellungen der Misshandlung Christi Judas wird typologisch als lasterhafter Gegenpart zum tugendhaften Idealbild Christi stilisiert Sein Verrat gruumlndet in seiner cupiditas und bestimmt von seinen niedersten Trieben ist er die Personifikation von perfidia (Treulosigkeit Gewissenlosigkeit) in-gratitudo (Undankbarkeit) und duritia (Hartherzigkeit)31 Die angemahnte Betrachtung des Guten und des Boumlsen legt als klassisches System der Gegenuumlberstellung von Tugenden und Lastern anzustrebende bzw abzulehnende habitus durch die Ausrichtung der affectio dar

Signifikant zeigt sich die Affizierung anhand der uumlber die lectio sich konstituierende me-ditatio aufgrund der imaginierten Begebenheit in Verbindung mit der oratio die wiederum ihren Ausdruck in den Psalmen findet Als Ausweis der inneren Verletzlichkeit seiner mensch-lichen Natur (in natura sensibili)32 ist die Schilderung von Christi Gebet auf dem Oumllberg zentral Ob der Vorstellung des Todes (imaginatio mortis) die in seine empfindsame Seele eindrang wird er von affectus umschlungen (complexabatur affectu) Seine innere Bewegtheit wird mit den Tropfen blutigen Schweiszliges die seinen Koumlrper hinab rannen verdeutlicht der Affekt der

29 LV 517ndash20 S 75ndash7630 LV 517 S 7531 Ebd32 LV 518 S 75ndash76

Meditation und Gebet 279

Furcht (anxietas) als Empfindung steigt zwar in seinem Geist auf (in spiritu) der Nachvoll-zug erfolgt jedoch uumlber die aumluszligeren (imaginierten) Zeichen33 Die Meditation laumlsst den Leser darauf fragen bdquoO Herrscher und Herr Jesus woher kommt diese furchtbare Angst deiner Seele und dein angstvolles Flehen Hast du denn dem Vater dein Opfer nicht mit freiem Willen ge-brachtldquo34 Die Erklaumlrung folgt sofort Fuumlr die Bestaumlrkung des Glaubens hat Christus wahrhaft die sterbliche Natur angenommen damit der Mensch Hoffnung schoumlpfen kann sollte er aumlhn-liche Bedraumlngnis und Furcht erleiden denn aufgrund der Hoffnung richtet der Mensch seine Liebe auf Christus das Ziel wiederum willentlich (voluntas) aus Die offenkundigen (aumluszligeren) Zeichen des Leids in Christi menschlicher Natur sind das entscheidende Kriterium fuumlr die selbstreflexive Erkenntnis des LesersBetrachters Es ist die Erkenntnis dass Christus wahr-haftig die Schmerzen und das bittere Leid der Menschen mit fuumlhlbarer (sensu) Pein durchlitten hat35 Die Schilderung der Todesangst Christi ist damit Grundlage der im ersten Satz der fuumlnf-ten Frucht geforderten inneren Teilhabe (pii considereare) fuumlr die compassio den Nachvollzug seiner noch weiterhin zu durchleidenden koumlrperlichen wie seelischen Pein36

Diese Erkenntnis stuumltzt nun das ergaumlnzende Beten der Psalmen da diese einerseits die geforderten Affekte und den Affektreiz bekraumlftigen zugleich aber auch das selbstreflexive Moment herausarbeiten Die seelische Bedraumlngnis Christi auf dem Oumllberg wird begleitet und sozusagen von der Schilderung des Verrates Judasrsquo und der Bedraumlngung durch die Haumlscher umrahmt und aufgrund des Einbindens der Psalmen 38 41 und 55 in genau diese Meditationen zu einem inhaltlich kongruenten Gebet gestaltet Alle drei Psalmen wobei besonders Psalm 55 zitiert wird (Verse 13ndash15) nehmen Bosheit Verrat und Bedraumlngnis durch Freund und Feind in den Blick Hierdurch werden gerade das Verlassensein und das Ausgeliefertsein gegenuumlber den Misshandlungen in den Vordergrund gestellt die beschriebene Furcht Christi begleitet und durch das personalisierte Gebet zur emotionalen Ausrichtung des Beters selbst Nicht allein der einzelne Psalmvers wird dabei gebetet sondern ganz der mnemotechnischen Konzeptuali-sierung verpflichtet bildet der Vers den Ausgangspunkt und schlieszligt die Betrachtung und das Gebet des gesamt Psalms mit ein37 Der Klage uumlber den Vertrauensbruch durch den Freund (Ps 5513 ebenso Ps 3813 und Ps 41) und der Bedraumlngnis durch Frevler an deren Haumlnden Blut klebt (Vers 24) geht in Analogie zu Christi Gebet zum Vater auf dem Oumllberg die Anrufung Gottes voraus er moumlge das Beten und Flehen erhoumlren (exaudi orationem meam deprecationem meam)

33 Ebd34 Schlosser (wie Anm 19) S 51 LV 52 S 7635 LV 52 S 76 ndash Bereits Bernhard von Clairvaux formulierte Gott bot den Zugang zu sich selbst uumlber die Affekte weshalb die Inkarnation notwendig war um die affectiones des Menschen zuruumlckzugewinnen vgl B von Clairvaux Sermones super canticum canticorum 205 in Bernhard von Clairvaux Saumlmtliche Werke latdt hg v G Winkler Innsbruck (1996) Bd 5 S 28428536 LV 517 S 75 Nochmals abschlieszligend wird dies als identifikationsstiftendes Vorbild am Ende (vierte Meditation fuumlnften Frucht) mit dem Bild der gefesselten Haumlnde des unschuldigen Lammes und dem eingeforderten Stoumlhnen und der Beschreibung des durchdringenden Schmerzes der die Herzen der Juumlnger bei diesem Anblick durchstach (doloris aculues discipolorum vorda penetravit) vor Augen gestellt Vgl LV 520 S 7637 Zur Mnemotechnik allgemein M Carruthers The Book of Memory A Study of Memory in Medieval Culture Cambridge [ua] 122006 Zu beachten sind ebenso F A Yates The Art of Memory London 1966 M Evans The Geometry of Mind in Architectural Association Quarterly 124 (1980) S 32ndash55

280 Anselm Rau und Johanna Scheel

(Vers 1ndash8) Dabei wird die Angst (conturbatus sum) das Beben des Herzens in der Brust und das Befallenwerden vom Schrecken des Todes beschrieben (cor meum conturbatum est in me et formido mortis cecidit super me) ebenso das Erfasstsein von Furcht Zittern Schaudern und Entsetzen (timor et tremor venerunt super me et contexerunt me tenebrae) Der Nachvollzug der emotionalen Disposition Christi wird durch die kalkulierte Verknuumlpfung mit Psalm 38 zu-gleich ebenso zur detailreichen Klage in Furcht und Schrecken ob der eigenen Suumlndhaftigkeit Judas stellt natuumlrlich fuumlr den Abgleich das Negativbeispiel Doch im Gegensatz zu ihm zeigt der Betende in seiner demuumltigen Hinwendung zu Gott in Schmerz und Furcht das in ihn gesetzte Vertrauen das auch Jesus unter Beweis stellte Die Psalmen bieten hierfuumlr das passende Mittel der notwendigen Ausrichtung in der affectio

Ein interessanter Punkt sei in Bezug auf die Ausfuumlhrungen in De meditando hinsichtlich des Eifers (zelus) fuumlr die gerechte Sache noch genannt Die Sanftmut Christi wird gerade da-durch vor Augen gefuumlhrt dass er im Sinne des immerfort zur Vergebung bereiten Gott seinen Haumlschern guumltig begegnet da er sich seinen Peinigern nicht im Zorn (ira) verschloss (Ps 7710)38 Er haumllt naumlmlich sogar seinen Verteidiger ndash in der exegetischen Tradition Petrus vor allem dann auch in der bildenden Kunst ndash zuruumlck und bremst dessen gerechten zelus sein rechtmaumlszligiges eigentlich tugendhaftes eifersuumlchtiges Streben fuumlr das geliebte Objekt und heilt sogar ein abge-schlagenes Ohr Dieser Eifer der wie in De meditando beschrieben ohne Hinterlist ist nicht aus Ignoranz (repraumlsentiert durch die HaumlscherPeiniger) gegenuumlber der Wahrheit (in Christus) hervorgegangen zeigt die gute Absicht die durch Beharrlichkeit ans Ziel fuumlhrt und laumlsst somit die Liebe nicht lau werden Petrus wird als Identifikationsfigur installiert und am Ende aber-mals Judas entgegen gehalten Letzterer wurde zwar schlieszliglich aufgrund seiner Tat von Reue ergriffen jedoch war er nicht faumlhig durch die Hoffnung auf das Gute Christus Vergebung zu ersehnen und wurde von Bitterkeit (amaritudo) erfuumlllt so dass er den Tod und nicht das ewige Leben ersehnte

Meditationsschemata werden gerne aufgrund der ihnen innewohnenden Abfolge als starre Konstrukte und allein auf einen miszliginterpretierten geistigen Aufstieg abzielend hin verstan-den Doch beweist gerade das Lignum vitae eine hohe Flexibilitaumlt fuumlr den alltaumlglichen Gebrauch und zudem die eigentliche Intention die Formung von affectus

Gerard Zerbolt van Zutphen

Das stufenweise emotionale Gebet und die Meditation begegnen ebenfalls ndash allerdings weniger stark schematisiert als im Lignum Vitae ndash in einem Standardwerk der niederlaumlndischen Froumlm-migkeitsliteratur des 15 Jahrhunderts In De spiritualibus ascensionibus stellt Gerard Zerbolt

38 Im Tugend- und Lastersystem ist die Unterscheidung von zelus ira und furor sehr entscheidend bezuumlglich des guten und schlechten Strebens und damit hinsichtlich rationalen Ordnung des Geistes Zum tugendhaften und lasterhaften Zorn und seiner Aspekte vgl Richard von St Viktor Benjamin minor 40ndash44 PL 196029-033 ndash Gerade bei der Verurteilung Christi durch Pilatus (LV 624 S 77) wird das Thema der rasenden Wut (zelus invidiae) und des gerechte Zorns (zelus iustitia) nochmals differenziert

Meditation und Gebet 281

von Zutphen ein Autor der devotio moderna handbuchartig sein Aufstiegsmodell dar39 Darin vermittelt er seinen Mitbruumldern und einem frommen Laienpublikum ein ausgekluumlgeltes System von geistigen Uumlbungen die sich nicht nur auf den eigentlichen Gebetsakt beziehen sondern habituell im Alltag Anwendung finden sollen indem sie eine Transformation des Menschen be-wirken Er geht dabei von dem uumlblichen zeitgenoumlssischen theologischen Anthropologiemodell der Seele als durch Suumlnde verschmutzte imago Dei aus und stuumltzt sich auf bekannte moraltheo-logische Emotionstheorien die er jedoch stark ausweitet indem er den Emotionen eine genaue Funktion und eine Schluumlsselrolle im Erkenntnisprozess zuweist Die formula meditandi40 be-schreibt Gerard als inhaltlich verschieden konnotierte Selbstuumlberpruumlfungen in der die dadurch produzierten Emotionen wie Zerknirschung (compunctio bzw contritio) Furcht (timor) oder Hoffnung (spes) nicht nur bewusst gemacht sondern produktiv umgewandelt werden um zu Instrumenten und Stufen des weiteren Aufstiegs zu werden41 Diese Aufstiege sind ein Prozess der Selbsttransformation des Menschen der sich vollzieht indem der Mensch sowohl seinen urspruumlnglichen Zustand diese Transformation selbst als auch die Erfahrung seiner Veraumlnde-rung mit den erreichten Stufen emotional (ex affectu) erkennt (cogitare) und fuumlhlt (sentire)42 Aumlhnlich wie bei Hugo von St Viktor formuliert Gerard dass der Betende immer einen Affekt und ein Verlangen (desiderium) annehmen solle die zu den aktuellen Uumlbungen oder Medita-tionen passe43 Die Selbsttransformation im geistigen Aufstieg wird nach Gerard ebenso im uumlb-lichen Schema der lectio meditatio und oratio geuumlbt und an verschiedenen materiae meditandi44 vollzogen Die Affekte werden anhand dieser materiae erzeugt katalysiert und in das Gebet

39 Die Schrift (im Folgenden De Spir Asc) wird zitiert nach der Edition von F J LegrandN Staubach (Hgg) Gerard Zerbolt von Zutphen De Spiritualibus Ascensionibus La monteacutee du coeur Turnhout 2006 Vgl zur affektiven Konnotation von Gerards Gebetssystematik M Goossens De meditatie in de eerste tijd van de moderne devotie HaarlemAntwerpen 1954 Er stellt den Affekt als Wesensmerkmal des Gebets bei Gerard fest ebd S 118 Zur Einbindung der Schrift innerhalb der Gebetstheorien der Devotio Moderna und zum Stellenwert der affektiven Selbstreflexion auch in Beziehung zu zeitgenoumlssischer Kunst vgl J Scheel Das altniederlaumlndische Stifterbild Emotionsstrategien des Sehens und der Selbsterkenntnis Berlin 2014 bes S 155ndash171 230ndash241 414ndash42640 De Spir Asc Kap 641 Gerard spricht synonym von Aufstiegsstufen und affectus zB in Kap 27 bdquoIn hac prima ascensione vel primo affecto [hellip]ldquo Oder er benennt Affekte wie Hoffnung und Furcht als Stufen bdquo[hellip] istis duobus gradibus timoris et spei [hellip]ldquo Kap 26 Insgesamt benutzt er die Vokabeln affectus und affectio synonym zwar begegnet in Bedeutung von Strebevermoumlgen meist affectio und ersetzt also die vires durch die affectiones animae besonders wenn es um lasterhafte Affekte geht doch werden die einzelnen Affekte durchgehend als affectus nicht als affectio bezeichnet42 De Spir Asc Kap 643 Das Gebet solle nie bloszliges Lippenbekenntnis sein sondern immer aus der Wurzel des Herzens verfolgt werden und zwar stets aus den Affekten der Furcht Trauer Freude Bewunderung Dankbarkeit etc bdquo[hellip] ex affectu timoris meroris dilectionis admiracionis congratulationis etcldquo De Spir Kap 46 Diese Affektreihe stimmt mit derjenigen bei Hugo in De modo orandi uumlberein siehe oben S 273f44 Diese sind zunaumlchst die bekannten Meditationsinhalte wie man sie allenthalben in theologischer Literatur des Mittelalters findet Leben und Passion Christi das Juumlngste Gericht und die eigene Todesstunde (diese bspw bereits in Bonaventuras De Triplici Via Kap 3) Bei Gerard werden ebenfalls Houmllle und Himmelreich sowie die eigenen Suumlnden und Wohltaten Gottes eingeschlossen sowie das eigene Selbst in dem und waumlhrend des Gebets Zum Kontext der neuen Meditationswuumlrdigkeit des eigenen Selbst in den Lehren der Devotio Moderna vgl Scheel (cf Anm 39)

282 Anselm Rau und Johanna Scheel

uumlberfuumlhrt Dies macht Gerard wie Hugo anhand des Psalmengebets anschaulich indem er einerseits beispielhaft zeigt wie ex affectu ein Psalm gebetet wird waumlhrend er gleichzeitig bei vorheriger Thematisierung der lectio dessen Erregung durch die Lektuumlre betont

bdquoWenn du dich in deiner ersten Uumlberpruumlfung diskutiert hast und entdeckst dass deine Suumlnden zahlreicher sind als die Zahl des Sandes der Meere forme in dir den Affekt der Demut oder Trauer und nimm die Rolle (persona) eines Dieners an der seinen Herrn beleidigt hat Aus diesem Affekt heraus forme ein Gebet und sage sbquoGott sei mir gnaumldig nach deiner Huld tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmenlsquo (Ps 503) Wenn du in der zweiten und dritten Uumlberpruumlfung dich selbst diskutierend bemerkst dass dein Herz mit schlechten Begierden und boumlsen Verlangen gefuumlllt ist forme in dir wiederum den Affekt der Demut und nimm die Rolle eines Kranken an der nach Medizin fragt und sage sbquoHerr sei mir gnaumldig heile mich denn ich habe gegen dich gesuumlndigtlsquo (Ps 405) oder sbquoNichts blieb gesund an meinem Leib weil du mir grollst weil ich gesuumlndigt blieb an meinen Gliedern nichts heillsquo (Ebd) etc Wenn du dich im zweiten Aufstieg in Furcht durch Meditationen des Todes und des Gerichtes oder der Houmllle uumlbst nimm den Affekt der Furcht ein und die Rolle eines Suumlnders vor dem Richter an in Angst und Zittern als seist du schon uumlberfuumlhrt und der Richtspruch gegen dich gesprochen und sage sbquoVerdamme mich nicht Herr gehe nicht ins Gericht mit deinem Dienerlsquo (Ps 1422) oder sbquoHerr in deiner Wutlsquo (Ps 62) etc Wenn du dich aber in Hoffnung uumlbst durch die memoria des Him-melreiches nimm den Affekt der Liebe an und bete mit innigem Herzen und sage sbquoIch erstrebe eines Herr dieses wuumlnsche ich dass ich in dem Haus des Herrn wohnen darflsquo (Ps 264) oder sbquoWie der Hirsch lechzt nach frischem Wasserlsquo (Ps 412) etc Und ebenso kannst du mit anderen Affekten jene aus diesen formen und musst du die Rolle annehmen die deine Uumlbung erfordert und deine Meditation verlangtldquo45

Uumlber Hugo hinausgehend wird hier dem Betenden empfohlen sich konkrete Szenarien und personae zu imaginieren um die gewuumlnschten Affekte einzuuumlben Die Psalmenbeispiele mit den zugeordneten Affekten uumlberschneiden sich bei beiden Autoren bei Psalm 6 (timor) so-wie Psalm 26 (Gerard spes Hugo bona praesumptio)46 Besonders bei der Einuumlbung von timor und der Erwaumlhnung des Richtspruches in Kombination mit den Buszligpsalmen 6 und 142 stehen unmittelbar zeitgenoumlssische Darstellungen des Weltgerichts bzw der Auferstehung der Toten vor Augen wie man sie in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern in Kombination mit eben jenem Buszligpsalm 6 aber auch in der altniederlaumlndischen Malerei findet47 Psalmen koumlnnen zu den

45 bdquoUnde breviter ut modum habeas secundum predicta si te in prima examinacione discusseris et inveneris peccata tua multiplicata super numerum arene maris forma in te affectum humilitatis vel meroris et assume personam servi qui dominum suum offendit Et ex tali affectu forma oracionem dicens Secundum multitudinem miseracionum tuarum dele iniquitatem meam [hellip] Si te in secundo ascensu in timore per meditaciones mortis vel iudicii vel inferni exercueris assume affectum timoris et assume personam rei astantis coram iudice cum timore et tremore quasi iam convictus contra quem de iure proferenda est sentencia et dic Noli me condemnare Non intres in iudicium cum servo tuo Vel Domine ne in furore etc [hellip] Et sic de aliis affectibus quos ex istis formare poteris et assumere debes sicut exercicium tuum exigit et meditacio tua requiritldquo De Spir Asc Kap 4646 Zu den Psalmen die Hugo als Beispiele benutzt siehe oben S 273f47 Vgl dazu J Scheel Sich selbst sehen ndash der Betrachter in und vor dem Bild Spiegel- und Stifterfiguren in Texten und Bildern des 15 Jahrhunderts in E KochH Schlie (Hgg) Orte der Imagination ndash Raumlume des Affekts Die mediale Formierung des Sakralen Muumlnchen 2015

Meditation und Gebet 283

bdquototal memoriertenldquo48 Texten des Mittelalters gezaumlhlt werden weswegen sie sich beiden Autoren als Beispiele anbieten Sie benutzen die Buszligpsalmen (hier die Psalmen 6 31 [Hugo] 50 142) die im Stundenbuch fest als eigenstaumlndiger Gebetstext verankert sind und ebenso in der To-tenvigil ihren Platz haben ndash zusammen mit Gerards weiteren Beispielpsalmen 40 und 4149 Das Stundenbuch ist ein Medium in dem Psalmwort und bildliche Darstellung auf die Theorie des stufenweisen emotionalen Gebets und der Selbsttransformation treffen koumlnnen

Die Miniaturen die der Totenvigil bspw in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern des 15 Jahr-hunderts voranstehen zeigen oftmals eine ganzseitige Totenmesse sowie in der M-Initiale der gegenuumlberliegenden Textzeile50 zwei betende einander zugewandte Seelen im Fegefeuer (vgl

48 Zu diesen Texten gehoumlrten bspw das Pater Noster oder Ave Maria waumlhrend denen gleichzeitig auch uumlber bestimmte Aspekte zB der Passion meditiert werden konnte und sollte vgl P Saenger Books of Hours and the Reading Habits of the Later Middle Ages in R ChartierA Boureau (Hgg) The Culture of Print Power and the Uses of Print in Early Modern Europe Cambridge 1989 S 141ndash173 hier S 154 Bei den Psalmen genuumlgt wie man hier sieht allein die Nennung des Incipit oder bestimmter Verse die dem Leser so vertraut sind dass sie den gesamten Psalmentext mit assoziieren49 Zwar ist der Einsatz von Psalmen in mittelalterlichen Stundenbuumlchern mitunter verschieden doch kann man beispielhaft an einer Gruppe von Stundenbuumlchern in niederlaumlndischer Sprache diese Psalmen finden Diese Stundenbuumlcher sind mit der Uumlbersetzung des Gruumlndungsvaters des Devotio Moderna Geert Grote versehen oder stehen mit ihr in Verbindung N van Wijk Het getijdenboek van Geert Groote Naar het Haagse handschr 133 E 21 Leiden 1940 diese hauptsaumlchlich anhand einer einzigen Handschrift erarbeitete Edition wird hier in Ermangelung einer kritischen Edition genutzt Das getijdenboek enthaumllt einen Kalender des Bistums Utrecht fuumlnf Offizien (Marienoffizium Heiliggeistoffizium das lange und kurze Heiligkreuzoffizium Stunden der ewigen Weisheit) Buszligpsalmen Litanei und Totenvigil 50 Es ist der Beginn des invitatorium bdquoMi hebben ombeuanghen die suchten des dodes die pijnlike seer der hellen heben mi ombeuanghenldquo Wijk (cf Anm 49) S 156 ndash bdquoMich haben umfangen die Seufzer des Todes die qualvollen Schmerzen der Houmllle haben mich umfangenldquo

Abb 2 Meister des Hugo Jansz van Woerden Totenmesse und Seelen im Fegefeuer ca 1475ndash1500 Den Haag Koninklijke Bibliotheek Ms 76 G 13 fol 85vndash86r

284 Anselm Rau und Johanna Scheel

Abb 2)51 Das Fegefeuer bespricht Gerard eher marginal in seinem Traktat Fuumlr die affektive Meditation des eigenen Todes liefert er allerdings einerseits eine Anleitung fuumlr den Betenden die Affekte nun bereits zu erwecken die vor waumlhrend und nach dem eigentlichen Todeszeit-punkt entstuumlnden ndash und sich mit ihnen im Gebet selbst zu formen52 Andererseits raumlt er dem Glaumlubigen sich zum Zwecke des ex affectu-Gebets einen Koumlrper in seinen Verwesungsstadien vor Augen zu halten53 und was mit ihm selbst bei der Beerdigung passiere54 Das Fegefeuer ist ein im Sinne mittelalterlicher Moraltheologie produktiver Gebetsinhalt da der Glaumlubige im steten Oszillieren zwischen spes und timor besonders gut zur caritas aufzusteigen vermag Diesen Tenor findet man ebenfalls bei Geert Grote in seinem getijdenboek bei der Vorrede der Toten-vigil Hier raumlt er dem betenden Leser zum Wechsel aus Psalmen und Antiphonen in Hinblick auf die Erregung von Furcht und Angst Liebe und Hoffnung in der Ausrichtung auf Gut und Boumlse und mit Blick auf das Fegefeuer bdquoHier beginnt die Vigil in duytsche die so organisiert ist denjenigen zu helfen die von hinnen gefahren sind in der Freundschaft Gottes in das Fegefeuer Und ebenso dazu [gedacht ist] den Lebenden zu helfen die sie lesen damit ihnen das Wissen um die kommenden Dinge eingedruumlckt werde auf dass sie glauben hoffen und lieben an die Dinge in Herrlichkeit Und [sie] sich dafuumlr bereit machen und sich waumlhrenddessen die ganze Zeit fuumlrchten dass ihre Tage schnell vergehen Auf dass sie sich fuumlrchten aumlngstigen grauen und beben vor dem mannigfaltigen Leid der Angst und dem Elend die den Boumlsen ereilen werden und sie so darum ihr Leben lang ndash das hier aumluszligerst kurz ist ndash darauf hinarbeiten diesem Leid zu entgehen und [die Vigil ist auch hilfreich] weil ein Mensch diese beiden Dinge ndash Gutes in Liebe und Boumlses in Angst ndash besser ansehen (aensien) kann und erkennen und sich uumlberdenken damit er besser bitten kann und [es] mehr begehrt (begheert) und mehr liebt (myn[n]t) fuumlr diejenigen zu bitten die im Fegefeuer sind fuumlr ihre baldige Erloumlsung und dafuumlr Gottes Ehre zu vermehren [hellip] So hilft das Bitten der Lebenden den Toten und das Bitten fuumlr die Toten hilft den Lebendigen sich auf den Tod vorzubereiten [hellip] Und dazu ist das Singen dieser Psalmen heranzuziehen [und zwar] immer nach den Bedeutungen der Antiphone und den Sinn der

51 Die Darstellung von Seelen im Fegefeuer taucht als Buchillumination ab dem 13 Jahrhundert bereits vereinzelt auf und diente in Kombination mit Jenseitsvisionen Bibeltexten und moralisierenden Inhalten vor allem dem Gedenken an bereits Verstorbene wie auch zur persoumlnlichen Mediation des Lesers Oft findet eine narrative Einbindung statt Vgl dazu M Borowska Das Entfachen des Fegefeuers in der europaumlischen Miniatur des 13 Jahrhunderts in Umeni 57 (2009) S 310ndash325 Zum ikonografischen Kontext der hier gewaumlhlten Illumination vgl die Untersuchung von I M Veldman Purgatory in the Low Lands in B BukovinskaacuteL Slaviacuteček (Hgg) Pictura verba cupit Essays for Lubomiacuter Konečnyacute Prag 2006 S 169ndash180 va 170ndash17252 De Spir Asc Kap 19 In den folgenden Kapiteln stellt Gerard dem Leser dasselbe Prinzip an den Themen des Juumlngsten Gerichts der Houmllle und des Himmelreiches vor 53 bdquoItem interdum propone oculis tuis ymaginem alicuius hominis morientis et diligenter respice formam modum et ordinem quibus ad mortem deveniturldquo De Spir Asc Kap 1954 Weitere beliebte Illustrationen zum Totenoffizium im Stundenbuch des 15 Jahrhundert sind ebenfalls die Darstellung eines Toten um dessen Seele Engel und Teufel kaumlmpfen Schaumldeldarstellungen Seelen in Abrahams Schoszlig Himmel und Houmllle der Tod als Angreifer die Auferweckung des Lazarus sowie die Psychostasis mit Michael als Seelenwaumlger Diese Motive werden eher als ganzseitige Miniaturen dargestellt und bekommen zum Teil in der begleitenden Initiale jene zwei betenden Seelen im Fegefeuer hinzugefuumlgt

Meditation und Gebet 285

Antiphone soll man dazu in den Psalmen bedenken in allen Stundengebeten Dabei ist gut dass man sowohl vor als auch danach die Antiphonen spreche und schreibeldquo55

Mit der sich gegenseitig amplifizierenden Kombination von selbstreflexiven Affekt er-regendem und ausdruumlckendem Psalmentext mit der bildlichen Darstellung von Beerdigung mit Fegefeuer und mit derartigen Aufstiegsmodellen vertraut kann der betende Leser hier den eigenen Tod und die Bestrafung seiner Seele als Konsequenz der eigenen irdischen Suumlndhaftig-keit produktiv in seine Bemuumlhungen des geistigen Aufstiegs und seine Selbsttransformation kanalisieren

Imagination und Illumination

Das Gebetsleben des mittelalterlichen Glaumlubigen ist gekennzeichnet durch seine Affektivitaumlt Die affectus werden mit Gebetstexten und Psalmenreihen sowie mithilfe bildlicher Darstel-lungen sorgfaumlltig kultiviert und systematisch eingeuumlbt Dabei sind dies altbekannte ndash weil biblische ndash Text- und Bildinhalte deren affizierendes Potential auf neue Arten ausgeschoumlpft wird Texte und physische wie gerade geistige Bilder erinnern den Betenden nicht nur unver-bindlich an bereits bekannte Ereignisse Situationen und Figuren sondern lassen ihn sich mit diesen durch affektive und reflexive Meditationspraktiken identifizieren Fremde Worte und Emotionen werden darin zu den eigenen Vorbilder aus dem Kreis der Heiligen werden so zu Imaginationsfiguren das Selbst wird auf Gott ausgerichtet und in all seinen Aspekten gezielt emotional reflektiert So unterschiedlich die formale Herangehensweise dieser Praktiken bei den drei untersuchten Autoren Hugo von St Viktor Bonaventura und Gerard Zerbolt van Zutphen zu sein scheint vermitteln sie doch die selbe zentrale Maszliggabe oratio est affectus ndash bdquoGebet ist Affektldquo

Uumlbersetzung Hugo von St Viktor De meditando PL 176 993ndash99

Die Meditation ist die haumlufige Erwaumlgung (cogitatio) der Ursache (causa) und des inneren Be-weggrundes (ratio) eines einzelnen zu untersuchenden Gegenstandes (res) was seine Art sei (modus) was die Ursache und was der Beweggrund

Es gibt drei Arten (genus) der Meditation eine in Bezug auf die Schoumlpfung (in creaturis) eine hinsichtlich der Schrift (in scripturis) und eine hinsichtlich der Sitten (in moribus) Die erste erwaumlchst aus der Bewunderung (admiratio) die zweite aus der Lektuumlre (lectio) die dritte aus der umsichtigen Beobachtung (circumspectio)

Zuerst bringt die admiratio die Frage (quaestio) hervor die Frage das Erforschen (investi-gatio) und das Erforschen die Entdeckung (inventio) Dies ist damit die Bewunderung der Ord-

55 Fuumlr den altniederlaumlndischen Text vgl Wijk (cf Anm 49) S 155 Zum Antiphon das der Vigil vorangestellt ist vgl Anm 50

286 Anselm Rau und Johanna Scheel

nung (dispositio) die Frage nach der Ursache und die Entdeckung des inneren Beweggrundes Die Bewunderung beruht auf der Betrachtung der Ordnung im Himmel das ist die Gleich-artigkeit von allem und der Houmlhen und der Tiefen (alta et depressa) auf der Erde Die Frage betrifft die Ursache (causa) des irdischen Lebens auf Erden und des himmlischen Lebens im Himmel Das Erforschen fragt nach dem inneren Beweggrund dass so wie die Erde auch das irdische Leben beschaffen ist und dass der Beschaffenheit des Himmels selbst auch das himm-lische Leben gleicht

Bei der Lektuumlre (lectio) aber erfolgt die Betrachtung (considerare) folgendermaszligenAls erstes dient die lectio dazu durch die Bereitstellung des Stoffes (materia) die Wahr-

heit zu erkennen (cognoscere) die meditatio fuumlgt ihn zusammen (coaptare) die oratio hebt ihn empor (sublevare) die operatio (Ausfuumlhrung) wendet ihn an (componere) und die contemplatio frohlockt in ihm selbst (exsultare)

Es ist durch die Meditation der Schriften zu erkennen auf welche Weise es sich gehoumlrt etwas zu wissen Als Beispiel steht geschrieben Declina a malo et fac bonum (Vg Ps 3627 ndash Wende dich ab von dem Boumlsen und tue Gutes EUuml Ps 3727) Deshalb wurde zuvor gesagt die meditatio wendet sich der lectio zu um sich vom Boumlsen abzuwenden und darauf Gutes zu tun Der Grund (causa) hierfuumlr ist wenn sich nicht zuerst das Boumlse zuruumlckzoumlge wuumlrde das Gute nicht herantreten koumlnnen Der innere Beweggrund (ratio) aber ist so wie zuerst die Sproumlsslinge des Boumlsen mit ihrer Wurzel ausgerissen werden muumlssen so muss danach das Gute (ein-)ge-pflanzt werden Warum wurde daher gesagt Wende dich ab von dem Boumlsen Weil es einem auf dem Weg begegnet Man wendet sich deshalb ab weil wir es wo auch immer nicht vermoumlgen durch Staumlrke zu widerstehen wir entkommen ihm lediglich wenn wir uns mit Klugheit und Vernunft (consilio et ratio) von ihm abwenden Auch muumlssen wir uns vom Boumlsen abwenden um dem Naumlhrstoff (materia) zur Suumlnde aus dem Weg zu gehen ndash beispielsweise ist von Hochmut (superbia) Begehrlichkeit (incontinentia) Begierde (concupiscentia) Neid (invidia) und Streit (contentio) abzulassen um sich vom Reichtum (abundantia) der Schoumlnheit (species) des Flei-sches und der Besitzgier (amor possessiones) abzuwenden Dies bedeutet bdquosich abzuwendenldquo Desgleichen wenn auf diese Weise von allem Boumlsen sich abzuwenden angeraten ist so wird die Verrichtung alles Guten verlangt Und so ist also der ebenso schuldig bzw angeklagt der allein nur alles Boumlse meidet wie derjenige der nicht zugleich all das Gute tut Aber wenn dies so ist wer ist dann kein Angeklagter (reus) Folglich wird uns anbefohlen uns von allem Boumlsen loszusagen Andererseits kommt das Gute zum Einen aus dem was sich gehoumlrt (necessitas) und zum anderen aus dem Willen (voluntas) Es gehoumlren sich die Dinge einer Vorschrift (praecep-tum) und die eines Geluumlbdes (votum) alles uumlbrige wird erfuumlllt wenn eine Sache [also Schuld] mehr als nur vergolten wird (supererogare) und einem nichts mehr anlastet

Daher zielt die Meditation bei der lectio darauf ab zu ergruumlnden auf welche Weise et-was das erkannt wird gut ist warum und wie es zu erreichen ist weil es ndash ist es [ersteinmal] erkannt ndash auch zu verrichten ist Die Meditation ist das Entdeckungsvermoumlgen der vorgefassten Absicht (excogitatio consilii) zu erwaumlgen auf welche Weise das Gute das erkannt wurde erfuumlllt wird denn das Erkannte ist unbrauchbar wird es nicht vollbracht

Deshalb ist die Meditation bei der lectio eine dreifache Betrachtung nach der historia der allegoria und der tropologia Gemaumlszlig der historia erfolgt die Meditation wenn wir nach dem

Meditation und Gebet 287

vollendeten inneren Beweggrund der Dinge fragen die geschehen sind und diesen hinsichtlich seiner uumlbereinstimmenden Art und Weise (modus) bezuumlglich der Zeiten (tempora) und Orte (loci) bestaunen (admirare) Bei dieser Betrachtung der goumlttlichen Ratschluumlsse (iudicium) laumlsst man nicht davon ab daruumlber nachzudenken dass diese richtigen und gerechten (rectus et iustus) Entscheidungen zu keiner Zeit den Beistand [Gottes fuumlr die Menschen] entzogen (deesse) und durch sie das geschah was sich gehoumlrte und vergolten wurde was gerecht war (iustum fuit)

Die Meditation hinsichtlich der allegoria beschaumlftigt sich mit der Gliederung (dispositio) der vorangegangenen und zukuumlnftigen Dinge und so wie fuumlr den Verstand (intelligentia) an-gemessen richtet sie dabei ihre Aufmerksamkeit auf deren uumlbereinstimmende Bedeutung in ihrer bewundernswerten Vernunftmaumlszligigkeit (ratio) und Vorhersehung (providentia) und auf ihre fuumlr den Glauben (fides) geschaffene Gestalt (forma)

Bezuumlglich der tropologia beschaumlftigt sich die Meditation damit welche Frucht die Worte der lectio hervorbringen und erforscht (exquirere) was diese wenn sie ausgefuumlhrt werden [im Sinne des eigentlichen Aussprechens der Worte aber auch die Ausfuumlhrung ihres Inhaltes] ein-pflanzen (insinuere) und dabei zugleich lehren was zu vermeiden ist Sie stellt vor Augen was durch die lectio der Schrift zur Unterweisung (eruditio) zur Ermahnung (exhortatio) zur Troumls-tung (consolatio) und zum Schrecken (terror) dient Hierdurch erleuchtet die tropologia dahin-gehend was zum Verstehen der Tugenden (virtus) fuumlhrt sie naumlhrt (nutrire) den Affekt (affectio) und lehrt (edocere) die Lebensfuumlhrung auf dem Pfad der Tugenden

Die Meditation der Sitten (mos) erfolgt gemaumlszlig der Affekte (affectus) der Erwaumlgungen (cogi-tationes) und der Werke (opera)

Hinsichtlich der Affekte ist zu betrachten wie sie recht und aufrichtig (rectus et sincerus) zu sein vermoumlgen damit ist gemeint auf das und zu was hin sie geschuldet sein muumlssen und in welcher Weise sie zu sein haben Zu differenzieren ist naumlmlich dass das was sich nicht gehoumlrt (non oportet) boumlse ist und zugleich das was sich gehoumlrt zu lieben ist ndash das zu lieben das sich gleichwie nicht gehoumlrt ist boumlse Daher handelt es sich um einen guten Affekt wenn er auf das ausgerichtet ist auf das er verpflichtet ist und in der Weise wie es sich gehoumlrt

Amnon liebte (diligere) seine Schwester und dies war der Affekt zu dem er bestimmt war doch weil er Boumlses begehrte war es nicht der Affekt wie er ihn schuldete (vgl 2 Sam 13) So kann der Affekt auf das gerichtet sein zu was er gehoumlrt dies aber nicht in der [angemessenen] Art und Weise Niemals aber kann der Affekt so sein wie er zu sein hat wenn er nicht auf das ihm Zugehoumlrige ausgerichtet ist Auf das ausgerichtet zu was er gehoumlrt bedeutet dass er recht ist und in der Art und Weise wie es sich gehoumlrt und dementsprechend ist er rein Daher werden die Affekte in den Erwaumlgungen betrachtet damit sie rein (mundus) und geordnet (ordi-natus) sind Rein sind sie wenn weder etwas Boumlses von den Affekten hervorgebracht wird noch das Boumlse die Affekte hervorbringt Dass sie geordnet sind meint wenn sie vernuumlnftigerweise aufgrund des ihnen eigenen Anlasses (suo tempore) aufkommen (advenire) Es ist nicht ohne Schaden (vitium) [naumlmlich im Sinne des korrekten Vorgehens nicht ohne Formfehler] bereits das Gute zu einem diesem nicht angemessenen Zeitpunkt zu erwaumlgen wie etwa an die lectio waumlhrend der oratio zu denken oder auch an die oratio waumlhrend der lectio

Bei den Werken ist als erstes zu betrachten was zum Beispiel durch die gute Absicht (bona intentio) geschieht Um eine gute Absicht handelt es sich wenn sie einfach und aufrichtig ist

288 Anselm Rau und Johanna Scheel

(simplex et recta) Die bona intentio ist arglos ohne Hinterlist (malitia) und aufrichtig ohne Ignoranz (ignorantia) Die naumlmlich ohne Hinterlist ist besitzt den Eifer (zelus) Ist sie aber aus der [bewussten] Unkenntnis gegenuumlber dem Wissen (scientia) (Roumlm 102) geboren verfuumlgt sie nicht uumlber den [wahren] Eifer Daher ist es notwendig dass die Absicht aufrichtig ist in der Bescheidenheit (discretio) und arglos im Wohlwollen (benignitas) Bei den Werken ist zu be-trachten dass sie aus der aufkommenden guten Absicht heraus mit beharrlicher Leidenschaft (fervor) schlieszliglich ans Ziel gefuumlhrt werden damit nicht die Beharrlichkeit (perseverantia) ge-laumlhmt (torpere) und die Liebe (amor) nicht lau wird (tepescare)

Auf gleiche Weise erfolgt die meditatio der Sitten in einer zweifachen Betrachtung naumlmlich einer inneren und einer aumluszligeren Die aumluszligere blickt auf das Ansehen (fama) die innere auf das Gewissen (conscientia) Die aumluszligere Betrachtung erfolgt gemaumlszlig dem was ziert (decere) und was nuumltzt (expedire) was als Beispiel (exemplum) dient und was den Lohn (meritum) hervorbringt ndash uns zum Lohn und den Naumlchsten als Beispiel Die innere Betrachtung dagegen schaut auf das Gewissen damit es rein (mundus) sei ohne Anklage (accusatio) zu erleiden (pati) ob nun durch die Laumlhmung (torpor) des Guten oder die Hartnaumlckigkeit (praesumptio) des Boumlsen Rein ist aber jenes Gewissen das weder durch das Vergangene zu recht angeklagt (accusare) noch durch das Gegenwaumlrtige unrechtmaumlszligig erfreut (delectare) wird

Daher laumlsst die meditatio der Sitten ihre Betrachtung nicht ruhen damit sie jegliche Re-gungen (motus) die sich im Herzen erheben bemerkt und erwaumlgt woher sie kommen und worauf sie abzielen (tendere) Das heiszligt woher sie kommen gemaumlszlig ihrem Ursprung und wo-nach sie streben hinsichtlich ihres Ziels Alles ist naumlmlich eine Bewegung aus irgendetwas und auf irgendetwas Die Bewegungen des Herzens sind manchmal offenkundigen Ursprungs manchmal entspringen sie aber auch Verborgenem Bei denen der Ursprung offenkundig ist ist er bisweilen durch das Gute bisweilen aufgrund des Boumlsen erwiesen Was offenkundig gut ist kommt von Gott was aber deutlich boumlse erscheint entspringt entweder dem Teufel oder dem Fleisch Dies sind naumlmlich die drei Urheber (auctores) aller Vorstellungen (suggestio) und aller Eingebungen (aspiratio) die unsichtbar an das Herz herantreten und aus jenen drei hervor-gehen Entspringen die Bewegungen des Herzens daher dem Verborgenen koumlnnen sie manch-mal aus dem Guten und dem Geheimen hervorgehen und sind manchmal boumlse und zweifelhaft (dubius) Die dem Guten entspringen kommen von Gott die aber dem Boumlsen entstammen sind entweder des Teufels oder des Fleisches

Die Bewegungen die folglich offenkundig sind sei es im Guten oder Boumlsen werden auf den ersten Blick durch ihren Ursprung angezeigt Jene aber die zweifelhaft bleiben hinsichtlich ih-res Grundes sind am Ende zu uumlberpruumlfen (probare) Ihr Ergebnis [oder Ausgang] (exitus) zeigt naumlmlich deutlich was vom Ursprung her verborgen war und deswegen muss derjenige der es nicht vermochte den Ausgangspunkt seiner Herzensbewegungen zu beurteilen (iudicare) das Ziel und die Ausfuumlhrung [bzw Vollendung] (finis et consummatio) untersuchen (investigare) Die Bewegungen naumlmlich die zweifelhaft und ungewiss sind sind vom verborgenen Guten oder Boumlsen Wie gesagt wurde haben die schlechten Regungen ihren Ursprung entweder beim Teufel oder im Fleisch Diese aber sind beide boumlse sie unterscheiden sich nicht indem oder durch was sie boumlse sind doch unterscheiden sie sich dahingehend dass die Regungen des Her-zens die dem Fleisch entspringen haumlufig aus einer Notwendigkeit (necessitas) heranwachsen

Meditation und Gebet 289

die aber die tatsaumlchlich vom Teufel kommen nehmen noch oumlfter wider der Vernunft (ratio) ihren Anfang (oriri) Was naumlmlich vom Teufel eingegeben wird (suggerere) ist in der Tat dem Menschen fremd und wird deswegen haumlufig von der menschlichen Vernunft abgelehnt weil er beispielsweise unlaumlngst gesaumlttigt Hunger leidet (pati) kurz zuvor noch trunken (inebriatus) vor Durst (sitis) gluumlht (aestuare) oder wenn er nach einem ausgiebigen Schlaf (dormitio) sich erhebend vom Traum (somnus) bedruumlckt (praegravare) wird

Hieraus also werden die Werke des Teufels differenziert betrachtet weil sie ja an den Men-schen von auszligen herangetragen werden und der menschlichen Vernunft fremd sind Bei den Werken des Fleisches und ihren Eingebungen liegt der Grund des Oumlfteren in einer vorangegan-genen Notwendigkeit Aber weil sie Ziel und Maszlig (modus et mensura) uumlbersteigen wachsen sie zum Uumlberfluss (superfluitas) heran Dies ist als Beispiel eben gerade dann der Fall wenn nach der Einnahme einer Mahlzeit der Hunger hemmungslos (immoderatus) begehrt (appetere) und nach Enthaltsamkeit (abstinentia) das Maszlig (mensura) bei der Aufnahme von Speise (edulium) nicht gehalten wird

Daher wird die meditatio der Sitten aufgrund eines dreifachen Urteils betrieben Das erste urteilt zwischen Tag und Nacht das zweite zwischen Tag und Tag und das dritte schlieszliglich untersucht den gesamten Tag (vgl Roumlm 145) Zwischen Nacht und Tag zu urteilen meint das Boumlse vom Guten zu (unter-)scheiden Die Beurteilung zwischen Tag und Tag bedeutet eine Un-terscheidung zwischen etwas Gutem und etwas Besserem vorzunehmen Uumlber den gesamten Tag zu richten ist schlieszliglich das einzelne Gute fuumlr den eigenen Lohn zu ermessen (aestimare)

So hat die meditatio der Sitten bei jeglichem Umgang (conversatio) das Ziel und die Rich-tung (directio) im Blick Das Ziel ist wohin man strebt die Richtung wodurch man leichter ans Ziel gelangt Jeder naumlmlich der zu irgend etwas strebt so wie etwas seine Bahn (cursus) lenkt und unaufhoumlrlich weiterzieht kommt schneller ans Ziel Es gibt daher Gutes durch das man stark bewegt ist (moveri) zugleich gibt es aber wenig her durch das man vorankommt (pro-moveri) Anderes dagegen fuumlhrt mit etwas Muumlhe (labor) zu groszligem Gewinn (fructus) Und diese sind folglich zu unterscheiden und das Bessere das mehr nuumltzt auszuwaumlhlen Welches auch immer mehr nuumltzt ist besser und es gehoumlrt sich jedes Werk auf seinen Ertrag hin zu beurteilen Indem viele diese Unterscheidung (discretio) nicht einhielten haben sie sich zwar aufs aumluszligerste bemuumlht sind jedoch nur wenig vorangekommen weil sie das Auge aumluszligerlich so sehr auf die Gestalt (species) der Werke richteten und nicht innerlich auf den Gewinn durch die Tugenden blickten Sie ergoumltzen sich daran groszlige Taten zu verrichten anstatt dass sie das Nuumltz-liche (utilia) uumlben (exercere) um sich selbst zu bessern (emendari) Dabei schaumltzten (diligere) sie vielmehr das durch das sie den Anschein erwecken (videri) konnten [so zu sein]

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zunaumlchst das was man schuldet entweder auf-grund einer Vorschrift (praeceptum) oder eines Geluumlbdes (votum) Diesbezuumlglich ist die erste Tat der meditatio zu ermitteln ist sie oder es erfuumlllt fuumlhrt es zum Lohn und wenn nicht bringt dies den Anklagezustand (reatus) hervor Es sind also zuerst die Dinge zu tun die nicht ohne Schuld (culpa) weggelassen werden koumlnnen Danach ist die meditatio alsdann so zu verrichten dass wenn etwas durch freiwillige Uumlbung (exercitatio) noch hinzugefuumlgt wird die Pflicht-erfuumlllung [eigtl Schuld] (debitum) nicht verhindert wird (impedire) Die einen die das nicht zu leisten vermoumlgen was sie schulden wollen was sie nicht muumlssen Die anderen wenn sie im-

290 Anselm Rau und Johanna Scheel

stande sind zu tun was sie schulden bringen freiwillig Hindernisse (impedimentum) mit sich indem sie etwas wollen was sie nicht muumlssen

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zwei Dinge des Boumlsen vor denen man bei der Ver-richtung von Gutem besonders auf der Hut sein muss die Betruumlbnis [Niedergeschlagenheit] (afflictio) und die Besessenheit [Vereinnahmung] (occupatio) Die afflictio fuumlhrt zur Bitterkeit (amaritudo) die occupatio zur Zerstreuung (dissipatio) Mit der afflictio verbittert die Suumlszlige (dulcedo) des Geistes und mit der occupatio wird die Ruhe (tranquillitas) zerstoumlrt (dissipare) Es herrscht Betruumlbnis wenn man fuumlr jene Dinge die man nicht vermag aufgrund der eigenen Ungeduld (impatientia) ungluumlcklich wird (urere) Dagegen handelt es sich um Besessenheit (occupatio) wenn man in seinem Handeln (nach seinem Vermoumlgen) aufgrund der impatientia gequaumllt wird (agitare) Folglich darf die Seele (animus) nicht aufgrund des Boumlsen verbittert wer-den sie muss ihr Unvermoumlgen (impossibilitas) geduldig (patienter) aushalten Genauso darf sie aber auch nicht vom Boumlsen eingenommen werden und darf ihr Vermoumlgen (possibilitas) nicht uumlber ihr eigenes Maszlig hinaus ausdehnen (extendere) Daher muss die meditatio der Sitten in einer weiteren Betrachtung der Lebensfuumlhrung zu einem Urteil kommen und dabei billigen dass es weder gut ist die Dinge die man nicht vermag ungeduldig (impatienter) zu verlangen (appetere) noch die welche man erreicht toumlricht (insipienter) zu verschmaumlhen (fastidire) Wer naumlmlich immer das begehrt was er nicht vermag und das was er [jedoch] vermag verabscheut wird sich weder am Gegenwaumlrtigen erfreuen (frui) noch am Zukuumlnftigen saumlttigen (satiare) Er verlaumlsst naumlmlich das Gute unentwickelt vor der Vollendung und eignet sich das gerade erst Be-gonnene vorzeitig an Deswegen ist es gut aufgrund des eigenen Guten zufrieden zu sein und das gegenwaumlrtige Gute durch hinzukommendes Gutes zu vermehren und es nicht aufgrund des Zukuumlnftigen wegzuwerfen (abicere) Der Austausch (commutatio) des Guten ist naumlmlich ein Leichtes (levitas) seine Uumlbung (exercitatio) aber die Tugend Oft eilen sie auf unterschiedlichen Wegen die einen die ein fruumlheres durch ein neues Gutes fallen lassen (abicere) und die ande-ren die [sich] vom Untersten zum Houmlchsten emporschwingen (conscendere) Wer naumlmlich nach Veraumlnderung (mutatio) fragt ist uumlberdruumlssig (fastidiosus) so wie der der nach dem Voran-schreiten (profectus) strebt eifrig bemuumlht ist (studiosus) Am aufrechtesten beschreitet daher derjenige den Weg der dabei so auf das Bessere brennt (fervere) dass er des Guten nicht uumlber-druumlssig wird sondern es vorerst empor haumllt solange bis er es spaumlter zu der ihm angemessenen Zeit sich aneignet (apprehendere)

Abbildungsnachweis

Einband Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders

Farbtafeln 1 (zu Beitrag Rosenwein) Coll BNU de Strasbourg ndash 2 (zu Beitrag Ferguson) Ar-chiv der Verf ndash 3 (zu Beitrag Herding) Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preu-szligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders ndash 4 (zu Beitrag Droste) R Kahsnitz Die Groszligen Schnitzaltaumlre Spaumltgotik in Suumlddeutschland Oumlsterreich Suumldtirol Muumlnchen 2005 Taf 53 ndash 5 6 (zu Beitrag Schedl) 75 Jahre 1933ndash2008 Kirche Mutter vom Guten Rat Festschrift und Chro-nik FrankfurtM 2008 S 92 Dr Bernd Konrad Radolfzell ndash 7 8 9 (zu Beitrag Zaumlh) Archiv des Autors ndash 10 (zu Beitrag Niehr) Universitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Media-thek 11 12 (zu Beitrag Muumlller) Autorin ndash 13 14 15 (zu Beitrag Schlie) Su concessione del Ministero dei beni e delle attivitagrave culturali e del turismo ndash Galleria Nazionale delle Marche ndash Urbino Archivio fotografico Archiv der Verf F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 ndash 16 17 (zu Beitrag Stoichita) D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 ndash 18 19 20 (zu Beitrag Schmidt) London British Museum C Geissmar-BrandiE Louis (Hgg) Glaube Hoffnung Liebe Tod Wien 1995 S 149 Archiv Autor ndash 21 (zu Beitrag Jung) Autorin

Textabbildungen Droste 1 3 4 Autorin 2 E Oellermann Der Hochaltar in St Martin zu Lorch am Rhein in H KrohmE Oellermann (Hrsg) Fluumlgelaltaumlre des spaumlten Mittelalters Ber-lin 1992 Abb 2 ndash Ferguson 1ndash3 Archiv der Verf ndash Frese 1 2 3 5 M BrandtA Eggebrecht (Hgg) Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen Katalog der Ausstellung Hil-desheim 1993 Bd 1 S 386f Abb 197 u 198 Bd 2 S 583 KatNr VIIIndash32 S 604 KatNr IXndash8 4 G LutzA Weyer (Hgg) 1000 Jahre St Michael in Hildesheim Kirche ndash Kloster ndash Stifter Peterberg 2012 S 148 Abb 118 ndash Gruumlndler 1ndash4 L DomenicoA Nova (Hg) Leonardo da Vincirsquos Anatomical World Language Context and Disegno Akten der Internationalen Tagung Florenz 30ndash31 Mai 2008 Venedig 2011 S 237 S 236 S 241 S 186 5 6 Le journal de Jacopo da Pontormo traduit par Jean-Claude Lebensztejn avec la collaboration drsquoAlessandro Parronchi Paris 1992 S 46 S 50 ndash Herding 1 2 3 4 5 6 7 Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders 8 Max J Friedlaumlnder Early Netherlandish Painting 14 vols Leiden und Bruumlssel 1967ndash1974 vol II 1967 pl 10 Nr 3i 9 Wolfenbuumlttel Herzog-August-Bibliothek ndash Jung 1 2 3 4 5 Autorin ndash Kessler 1 6 7 Autor 2 3 Museo delle Terme Rom 4 British Museum London 5 Alexei Lidov ndash Maxwell 1 2 AHN 3 Autor 4 Sancho el Mayor y sus herederos ed I Bango Torviso et al 2006 cat 25 5 BNE ndash Muumlller 1 Italian painting c 1330ndash1550 I National Gallery in Prague II Collections in the Czech Repub-lic Illustrated summary catalogue Prag 2008 2 Collection of The John and Mable Ringling Museum of Art the State Art Museum of Florida Florida State University 3 2014 copy Archivio Fotografico ndash Fondazione Musei Civici di Venezia ndash Niehr 1 A Schuttwolf (Hg) Ausst-Kat Jahreszeiten der Gefuumlhle Das Gothaer Liebespaar und die Minne im Spaumltmittelalter Ostfil-

400 Abbildungsnachweis

dern-Ruit 1998 2 D de Vos Hans Memling Das Gesamtwerk AntwerpenStuttgart 1994 S 278ndash283 TH Borchert Hans Memling Portraits Stuttgart 2005 S 173f Nr 23 3 Univer-sitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Mediathek ndash Pfisterer 1 E Steinmann ldquoLa mano di Michelangeloldquo in Studien aus Kunst und Geschichte Friedrich Schneider zum siebzigsten Geburtstag Freiburg iBr 1906 unnum Taf 2 R Bernini ua La mano e il volto di Antonio Canova PossagnoQuinto di Treviso 2008 S 197 3 U Klein Zur Forschungsgeschichte des Duumlrer-Hauses in GU GroszligmannF Sonnenberger (Hgg) Das Duumlrer-Haus Neue Ergebnisse der Forschung Nuumlrnberg 2007 S 105 nach Carl A Heideloff Die Ornamentik des Mittelalters Bd 3 Nuumlrnberg 1847 S 42 4 WH Vroon Het wonderlid van Jan de Witt en andere vaderland-se relieken Nijmegen 1997 S 68 5 Autor nach GF Tomasini Petrarca Redivivus Padua sup21650 S 128 6 A Picturesque Tour Through Holland Brabant and Part of France made in the autum of 1789 by Samuel Ireland London sup21796 Bd 2 Taf nach S 13 ndash Pinkus 1 2 3 4 5 6 Autor 7 8 Institut fuumlr Kunstgeschichte Universitaumlt Wien Fotothek ndash RauScheel 1 M Gregori Uf-fizien und Palazzo Pitti Muumlnchen 1994 S 31 2 Den Haag Koninklijke Bibliotheek ndash Raeck 1 2 5 7 Fotothek des Instituts fuumlr Archaumlologische Wissenschaften AbtI Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main 3 Zeichnerische Rekonstruktion M Junghans nach H-V Herrmann Olympia ndash Heiligtum und Wettkampfstaumltte Muumlnchen 1972 Abb 95 4 Antikensammlung Staatliche Museen zu Berlin Foto Johannes Laurentius 6 W Riezler Weissgrundige attische Lekythen Muumlnchen 1914 Taf 23 8 Deutsches Archaumlologisches Institut Athen Fotothek ndash Reudenbach 1 F MuumltherichJE Gaehde Karolingische Buchmalerei Muumlnchen 1979 Taf 4 2ndash4 httpwwwbibliotheca-laureshamensis-digitalde (Zugriff 20022014) ndash Schmengler 1 2 3 Torsten Saumlnger Frankfurt 4 5 6 Eric Tschernow Berlin ndash Schedl 1ndash3 Dr Bernd Konrad Radolfzell 4 FrankfurtMain-Niederrad Pfarrarchiv der katholischen Kirchengemeinde Mut-ter zum Guten Rat ndash Schlie 1 Archiv der Verf 2 Archiv der Verf + D E Katz The Contours of Tolerance Jews and the Corpus Domini Altarpiece in Urbino in Art Bulletin 85 (2003) S 647ndash661 S 647 3 F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 Schmidt 1 2 London British Museum 3 M Geisberg Der Meister ES Leipzig 21924 4 Archiv Autor ndash Taxer 1 2 O Paumlcht Altniederlaumlndische Malerei Von Rogier van der Weyden bis Gerard David Muumlnchen 1994 Abb 91 S 118 Abb 93 S 120 3 4 E Panofsky Die altniederlaumlndische Malerei Ihr Ursprung und Wesen Bd 2 Koumlln 2006 Abb 387 S 236 Abb 358 S 214 ndash Stoichita 1 D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 2 3 J Bialostocki Les Museacutees de Pologne Bruxelles 1966 ndash Zaumlh 1 2 Archiv des Verf 3 Metropolitan Museum of Art Bulletin 58 (2001) S 17 4 G ForsythK Weitzmann The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai The Church and Fortress of Justinian Plates Ann Arbor (Mi) 1973 Plate 121

Meditation und Gebet 273

sie zu seinen eigenen Das gesprochene Gebet ist so uumlber seinen affektiven Effekt auf den Beter definiert Als Beispiel benutzt Hugo Schriftworte vornehmlich Psalmen bdquoJeder Einzelne also waumlhrend er im Gebet entweder Psalmen oder irgendwelche anderen Schriften singt soll sorg-faumlltig bedenken welchem Affekt sie dienen moumlgen und durch ganze Anstrengung sein Herz zu jenem Affekt erregen Er sagt das was ihm besser zu dienen scheint denn wenn er den Affekt erregt durch die Worte die er sagt erkennt er durch den Affekt selbst besser die Kraft der Worte Er erwirbt die Einsicht und entzuumlndet durch die Einsicht der Worte umso mehr den hingebungsvollen Affektldquo (Kap V)

Psalmen ndash Wort und Affekte

Die lebenspraktische Erklaumlrung der Gebetsaffekte in De modo orandi ist bemerkenswert klar Weil in den Affekten die ganze Kraft des Gebets liege zaumlhlt Hugo beispielhaft aus den unend-lichen Affekten (Kap VII) neun von ihnen auf die er ebenfalls kurz definiert und gruppiert zunaumlchst die Affekte der Zuneigung Bewunderung und Mitfreude17 dann die Affekte der De-mut des Leides und der Furcht sowie zuletzt die Affekte der Entruumlstung der Eifersucht und der guten Erwartung Diese Gruppierungen werden jeweils auf verschiedene Schriftgattungen bezogen aus denen sie entstehen koumlnnen ndash so werden einer Gattung die zur Erinnerung des Ungluumlcks bzw der eigenen Fehler anregt drei dieser Affekte zugeordnet naumlmlich Demut die aus der Erinnerung der eigenen Fehler erwaumlchst Leid aus der Erinnerung vergangener und gegenwaumlrtiger Fehler sowie Furcht aus dem Gedanken an zukuumlnftige Vergleichbare Zuord-nungen finden sich dort auch fuumlr die uumlbrigen Affekte

Nun verknuumlpft Hugo diese mit konkreten Beispielen aus den Psalmen (Kap VII) bdquoAus dem Affekt der Zuneigung (dilectio) heraus wird Ps 182 gesungen sbquoIch will Dich ruumlhmen Herrlsquo Aus dem Affekt der Bewunderung (admiratio) heraus wird Psalm 8[2]10 gesungen sbquoHerr unser Herrlsquo Aus dem Affekt der Mitfreude (congratulatio) heraus wird Ps 472 gesungen sbquoIhr Voumllker allelsquo Und in allen diesen ist LobAus dem Affekt der Demut (humilitas) heraus wird Ps 312 gesungen sbquoHerr ich suche Zufluchtlsquo Aus dem Affekt des Leids (dolor) heraus wird Ps 131 gesungen sbquoWie lange noch Herr vergisst Du mich ganzlsquo Aus dem Affekt der Furcht (timor) heraus wird Ps 62 gesungen sbquoHerr strafe mich nicht in deinem Zornlsquo Und in all diesen ist die Fuumlrbitte mit einer Klage vermischtAus dem Affekt der Entruumlstung (indignatio) heraus wird Ps 523 gesungen sbquoWas ruumlhmst Du Dich Deiner Bosheitlsquo Aus dem Affekt des gerechten Eifers (zelus) heraus wird Ps 941 gesungen sbquoO Herr Gott der Vergebunglsquo Aus dem Affekt der guten Erwartung (bona praesumptio) heraus wird Ps 261 gesungen sbquoVerschaffe mir Recht o Herrlsquoldquo

17 Affectus congratulationis wird als Gegenpol zur compassio verstanden

274 Anselm Rau und Johanna Scheel

Hugo zeigt hier wie einerseits aus dem Affekt ein bestimmter Psalm gesungen wird Er kom-plettiert damit was er bei der Aufzaumlhlung staumlrker betonte naumlmlich aus welchen Psalmen ein Affekt erwaumlchst und gleichzeitig wie die Worte zu denjenigen der eigenen Bitte und zum Af-fektausdruck werden

Mischung und Uumlberblendung von Affekten

Allerdings wird nicht innerhalb eines Psalms je nur ein Affekt ausgedehnt sondern oftmals geht dort ein Affekt in den anderen uumlber Sie werden gemischt oder loumlsen sich kontinuierlich ab (Kap VIII) Ein Beispiel hierzu Aus der meditatio der eigenen Fehler und Gottes Barm-herzigkeit bricht man durch den Affekt des Schmerzes in die Worte aus bdquoHerr wie zahlreich sind meine Bedraumlnger so viele stehen gegen mich auf viele gibt es die von mir sagen Er findet keine Hilfe bei Gottldquo Dies sind die ersten Verse aus Psalm 3 Aus dem Affekt des Schmerzes der dadurch staumlrker entflammt und ausgedruumlckt wird kehrt der Betende mit dem naumlchsten Vers des Psalms 3 auf den Affekt der guten Erwartung zuruumlck und sagt bdquoDu aber Herr bist ein Schild fuumlr michldquo Damit wird der Schmerz von Vertrauen gelindert und der eine in den andere Affekt uumlberfuumlhrt

Die Psalmenworte vergegenwaumlrtigen oder erinnern hier an den Affekt und werden danach angewandt zugleich sind sie Anreiz und -ausdruck der vielfaumlltigen Palette wandelbarer Affekte

Diese Definition in De modo orandi ist fuumlr das Verstaumlndnis der Affekte innerhalb des Ge-bets im gesamten Mittelalter als grundlegend anzusehen Aus kunsthistorischer Sichtweise ist die Beschaumlftigung mit dieser Schrift daher nicht nur unerlaumlsslich um mittelalterliche Bildwer-ke die fuumlr den Bildbetrachter als Hilfsmittel fuumlr sein Gebet konzipiert wurden praumlziser kon-textualisieren zu koumlnnen Vielmehr ist die in De modo orandi dargelegte Reflexionsstruktur auf die Rezeption von Werken der bildenden Kunst uumlbertragbar

Das Lignum vitae

Ein Beispiel fuumlr die konkrete Anwendung der Evozierung von affectus bei Gebet und Medita-tion wie von Hugo von St Viktor konzipiert stellen die Meditationen des Lignum vitae Bona-venturas und dessen bildliche Umsetzung dar18 In seinen viel rezipierten Werken De triplici

18 Bonaventura Lignum vitae in Opera omnia Quaracchi 1848 Bd 8 Im Folgenden wird auf die lateinische Edition von Quaracchi mit dem Kuumlrzel LV verwiesen Wird nicht die eigene Uumlbersetzung verwendet ist die Grundlage M Schlosser Baum des Lebens Geistliche Betrachtungen St Ottilien 2012 Weitere deutsche Uumlbersetzung bei A Aswerus Der Lebensbaum Zuumlrich 1963Die Rezeption der Schriften Hugos bei den Franziskanern ist bekannt gerade die Verbreitung der hier besprochenen Texte Vgl Goy (cf Anm 1) S 530ndash532 In Italien und auf der iberischen Halbinsel sind mit 170 Texten nur ca 7 der Gesamtuumlberlieferung von Hugos Werken zu finden allerdings faumlllt bei den Handschriften italienischer Provenienz die bdquofuumlhrende Stellung der Franziskaner als Tradentenldquo auf Vgl ebd S 530 Die Houmlhepunkte der Tradierung liegen im 13 und 15 Jh vgl ebd S 559ndash564 bes S 563

Meditation und Gebet 275

via in dem er sein auf dem Gedankengut des 12 Jahrhunderts beruhendes Verstaumlndnis von meditatio oratio und contemplatio darlegt und dem Itinerarium mentis in Deum wendet sich Bonaventura der Formung der Seele des Menschen fuumlr den Aufstieg zu Gott zu19 Gerade aber das Lignum vitae hat maszliggeblich in seiner konkreten Form die Passionsmeditation des spaumlten Mittelalters beeinflusst20

Deutlich ist hervorzuheben dass Bonaventura diese Meditationsschrift zu Kindheit und Leben Passion und AuferstehungVerherrlichung Christi auf Grundlage mnemotechnisch strukturierter Modelle der monastischen Meditationspraxis konzipierte Der Entwurf Bona-venturas sieht die Anordnung der Meditationen anhand eines Baumschemas vor als struktur-gebende Schablone fuumlr das Einpraumlgen dieser im Herzen21 Da die Vorstellungskraft (imaginatio) die Einsicht (intelligentia) unterstuumltzt gibt Bonaventura die konkrete die Intention verdeutli-chende Anweisung bdquodescribe igitur in spiritu mentis tuae arboremldquo22 Die Meditationen selbst dienen zur Entflammung des Herzens in liebendem Empfinden zur Formung des Denkens und zur Einpraumlgung in das Gedaumlchtnis (accendatur affectus formetur cogitatus imprimatur memoria) Somit wird auch hier die Formung des Denkens durch den affectus herausgestellt23 Nach dem Entwurf Bonaventuras besitzt der Baum zwoumllf Zweige an denen jeweils vier kurze Strophen die Einleitungen bzw Uumlberschriften zu den einzelnen Meditationen angebracht sind die immer zusammen genommen eine Frucht hervorbringen So umfasst das gesamte Schema 48 Meditationen die in einer Reihenfolge von unten nach oben insgesamt zwoumllf zu erreichende Fruumlchte oder auch tugendhafte habitus hervorbringen sollen24

Die rasche und vielfaumlltige visuelle Umsetzung der Baumstruktur zeugt von der Popula-ritaumlt der Meditationen des Lignum vitae eine der heute wohl bekanntesten Darstellungen stammt von Pacino di Bonaguida der jeder einzelnen Meditation ein Bildmedaillon zuordnete

19 Bonaventura De triplici via Opera omnia Quaracchi 1948 Bd 8 S 19ndash27 ndash Bonaventura Itinerarium mentis in Deum Opera omnia Quaracchi 1891 Bd 5 S 293ndash316 ndash vgl hier auch die kritischen Edition und die Darstellung der inhaltlichen Grundkonzeption Bonaventura De triplici via Uumlber den dreifachen Weg latdt uumlbers u eingel v M Schlosser Freiburg iBr [ua] 1993 ndash Bonaventura Itinerarium mentis in Deum ndash Der Pilgerweg des Menschen zu Gott latdt uumlbers u erl v M Schlosser mit einer Einleitung von P Zahner Muumlnster 200420 R Preisinger Lignum vitae Zum Verhaumlltnis materieller Bilder und mentaler Bildpraxis im Mittelalter Paderborn 2014 21 Zu den Schablonen und dem Einpraumlgen dieser ins Herzen vgl M Carruthers Moving Images in the Mindrsquos Eye in J Hamburger M-A Boucheacute (Hgg) The Mindrsquos Eye Art and Theological Argument in the Middle Ages New Jersey 2006 S 294 FN 24 zu den Anweisungen Hugos in De arca noe S 292ndash29422 LV Prolog S 6823 Ebd24 Die uumlberkommenen Traktate belegen die angedachte Konzeption zur Verinnerlichung der einzelnen Meditationen die Uumlberschriften als Responsorium mit dem Kehrvers O crux fructus salvificus zu singen vgl hierzu M Sensi Lrsquoallegoria della Croce nel monastero di SantrsquoAnna a Foligno in B Ulianich U Parente (Hg) La Croce Iconografia e interpretazione Bd 3 La croce nella liturgia NeapelRom 2007 S 392 ebenso Preisinger (wie Anm 20) S 36ndash42

276 Anselm Rau und Johanna Scheel

(Abb 1)25 In kuumlnstlerischen Darstellungen diente das Lignum vitae als visuelle Unterstuumltzung sowohl fuumlr den Gesang als auch gerade zur Strukturierung von Predigt und Meditation26 Ein Groszligteil der Bilder zum Lignum vitae binden den Text in Form der Uumlberschriften der einzelnen Meditationen ein Eine solch detailreiche Ausgestaltung wie etwa bei Pacino ist bei den uumlber-lieferten Beispielen keine Regelmaumlszligigkeit Damit belegt allein schon das Bild selbst dass das

25 Jedoch darf diese Tatsache nicht uumlber die tatsaumlchliche Anwendung hinwegtaumluschen Auf die Diskussion um die Bildwerke zum LV kann hier nicht dezidiert eingegangen werden Die juumlngsten Publikationen zum Lignum vitae mit der entsprechenden Literatur zur Forschungslage sind Preisinger (cf Anm 20) und U Ilg Quasi lignum vitae The Tree of Life as an Image of Mendicant Identity in P SaloniusA Worm (Hgg) The Tree Symbol Allegory and Mnemonic Device in Medieval Art and Thought Turnhout 2014 S 187ndash212 ndash Siehe die Kritik an der bisherigen Auseinandersetzung mit dem Lignum vitae und seinen Darstellungen in der 2015 abgeschlossenen Dissertation von A Rau Imagination und Emotion Bildstruktur und Emotionalisierungsstrategien in der monastischen Meditation und das bdquoModell Franziskusldquo sowie A Rau Im Wechselbad der Gefuumlhle ndash das Lignum vitae in Imago 4 (2015) erscheint November 201526 L Bolzoni The Web of Images Vernacular Preaching from its Origins to Saint Bernardino da Siena Aldershot 2004 S 154ff

Abb 1 Pacino di Bonaguida Lignum vitae Florenz Galleria delllsquoAccademia um 1310 258x151cm

Meditation und Gebet 277

eigentliche affizierende Potential in der Steuerung der imaginatio des LesersBetrachters durch den Text der Meditation und des Gebet selbst liegt27

Innerhalb der jeweils einer Frucht zugeordneten vier Meditationen ist ein Aufbau und Uumlbergang festzustellen ebenso sind in der Regel die Fruumlchte durch die letzte Meditation der vorangegangenen und die erste der folgenden miteinander verknuumlpft Allen gemein ist dass zu Anfang einer jeden Frucht die in den ersten zwei Fruumlchten ausgebildeten Grundtugenden caritas und humilitas als Ausgangspunkt genommen werden Diese beiden sind wie bereits von Augustinus betont die Grundtugenden aus denen alle weiteren erst hervorgehen koumlnnen28 Die einzelnen Meditationen zeichnen sich durch das Fokussieren auf eine tugendhafte Haltung Christi aus Diese verdeutlicht er entweder selbst in einer emotionalen seinen Habitus aus-druumlckenden Disposition oder weiteres biblisches Personal reagiert als Exempel fuumlr den LeserBetrachter des Lignum vitae auf die ihm so bdquovisualisertenldquo Geschehnisse um Christus So ent-stehen Imaginationsfiguren die das Handeln (operatio) bestimmen sollen Geleitet wird die Meditation des Betrachters durch die eindruumlcklichen Schilderungen der Begebenheiten aus dem Leben Christi in Kombination entweder direkter Ansprachen an seine Seele wie er sich verhalten was er sich als Vorbild nehmen soll oder durch in die Meditation selbst eingefuumlgte Gebetstexte welche die Affizierung entweder stuumltzen oder direkt hervorbringen koumlnnen

Die Meditationen der ersten vier Fruumlchte (Geburt Kindheit Wirken Christi) charakteri-sieren das Lignum vitae wie schon bei Hugo und in den Meditationsmodellen des 12 Jahrhun-derts als dezidiertes Reue- und Buszligschema Dies verdeutlicht allein schon die formale Anlage da sich hier vorwiegend Anweisungen zu habituellen emotionalen Dispositionen des Lesers finden Die Einmuumlndung dieser Meditationen in die Schilderung des letzten Abendmahls kon-kretisiert die Verbindung zwischen der logischen Anlage eines sukzessive aufgebauten Medita-tionsschemas die Notwendigkeit seiner fortdauernden Anwendung und somit den praktischen Bezug zum religioumlsen Leben Reue und Buszlige sind die notwendige Grundvoraussetzung fuumlr die Teilhabe an der Opferfeier des Messgeschehens es hebt die Meditationspraxis als fortdauernde Uumlbung der Affekte und Tugenden als staumlndige Gewissenspruumlfung hervor und kennzeichnet den Menschen ab diesem Punkt als muumlndigen Meditanden und Beter

So aumlndert sich dann ab der fuumlnften Frucht zu den Passionsmeditationen auch der Auf-bau Hier werden konzentriert einzelne orationes in die einzelnen Meditationen eingeflochten Bemerkenswert ist bei den fast als propaumldeutisch zu verstehenden Meditationen der ersten vier Fruumlchte findet sich eine sehr uumlberschaubare Anzahl von Psalmzitaten waumlhrend sie hier als personalisierte Gebete des LesersBetrachters gehaumluft auftreten Gezielt werden sie in den Meditationen der geschilderten Situationen und Peinigungen Christi eingesetzte um die com-passio zu erregen Hieran laumlsst sich die unmittelbare und entscheidende Zusammenwirkung

27 Bezuumlglich einer eingehenden gerade auch sprachlichen Untersuchung der Meditationen des Lignum vitae das affektsteuernde Potential herausarbeitend siehe abermals Rau (wie Anm 25)28 K Pansters Profectus Virtutum From Psalm 838 to David if Augsburgrsquos Profectus religiosorum in Studies in Spirituality 18 (2008) S 170 Zur Thematik weiterfuumlhrend N Baumann Die Demut als Grundlage aller Tugenden bei Augustinus Frankfurt 2009

278 Anselm Rau und Johanna Scheel

von meditatio und oratio beobachten die in Kombination die Lenkung der geordneten affectus bestimmen

Die von Hugo in De meditando angemahnte Unterscheidung und Betrachtung des Guten und Boumlsen findet in den Meditationen des Lignum vitae seine konkrete differenzierte Anwen-dung Heben die ersten vier Fruumlchten dezidiert Reue und Buszlige des MeditierendenBetenden und gerade die Schlechtigkeit des Menschen gegenuumlber Christus hervor so zeigen die Medita-tionen zur Passion Christi (5ndash8) die Betrachtung des Boumlsen und des Guten dahingehend wie das Boumlse in Gestalt der Peiniger Christi auf diesen einwirkt und wie Christus selbst oder wei-teres positiv konnotiertes biblisches Personal reagiert Die Grundlage des hier geforderten Mit-leidens mit Christus ist die bei den vorangegangenen Meditationen ausgearbeitete compassio Christi mit den Suumlndern Demuumltig ausgerichtet und damit ausgebildet am mitfuumlhlenden Vor-bild Christi kann der LeserBetrachter uumlber die imaginatio in der Meditation und dem Gebet hier zum Mitleidenden ausgebildet werden Zuerst wird also die demuumltige Emotionalitaumlt ob der eigenen Schlechtigkeit dem eigenen Boumlsen im Abgleich mit dem guten Vorbild in Christus herausgebildet und daraufhin die Affekte in den Meditationen zur Passion Christi an Christus selbst zum Mitleiden konstituiert

Als Beispiel der dezidiert auf die Affizierung ausgerichteten Anlage seien die Meditationen der fuumlnften Frucht umrissen Gegenstand (res) ist hier die Betrachtung von Christi Vertrauen (confidentia) in der Gefahr und umfasst die vier Meditationen zu Judasrsquo Verrat Christi Gebet auf dem Oumllberg der Umzingelung Christi durch die Haumlscher und seiner Gefangennahme29 Propaumldeutisch wird dem Verrat Judasrsquo dem abgrundtief Boumlsen (nequissum) die geradezu pa-radox erscheinende und dadurch Staunen und Bewunderung erweckende (o mira) Guumlte (be-nignitas) und Sanftmut (mansuetudo) Christi gegenuumlbergestellt30 Dieses Thema beherrscht alle Meditationen dieser Frucht und ist begleitende Grundlage aller folgenden Darstellungen der Misshandlung Christi Judas wird typologisch als lasterhafter Gegenpart zum tugendhaften Idealbild Christi stilisiert Sein Verrat gruumlndet in seiner cupiditas und bestimmt von seinen niedersten Trieben ist er die Personifikation von perfidia (Treulosigkeit Gewissenlosigkeit) in-gratitudo (Undankbarkeit) und duritia (Hartherzigkeit)31 Die angemahnte Betrachtung des Guten und des Boumlsen legt als klassisches System der Gegenuumlberstellung von Tugenden und Lastern anzustrebende bzw abzulehnende habitus durch die Ausrichtung der affectio dar

Signifikant zeigt sich die Affizierung anhand der uumlber die lectio sich konstituierende me-ditatio aufgrund der imaginierten Begebenheit in Verbindung mit der oratio die wiederum ihren Ausdruck in den Psalmen findet Als Ausweis der inneren Verletzlichkeit seiner mensch-lichen Natur (in natura sensibili)32 ist die Schilderung von Christi Gebet auf dem Oumllberg zentral Ob der Vorstellung des Todes (imaginatio mortis) die in seine empfindsame Seele eindrang wird er von affectus umschlungen (complexabatur affectu) Seine innere Bewegtheit wird mit den Tropfen blutigen Schweiszliges die seinen Koumlrper hinab rannen verdeutlicht der Affekt der

29 LV 517ndash20 S 75ndash7630 LV 517 S 7531 Ebd32 LV 518 S 75ndash76

Meditation und Gebet 279

Furcht (anxietas) als Empfindung steigt zwar in seinem Geist auf (in spiritu) der Nachvoll-zug erfolgt jedoch uumlber die aumluszligeren (imaginierten) Zeichen33 Die Meditation laumlsst den Leser darauf fragen bdquoO Herrscher und Herr Jesus woher kommt diese furchtbare Angst deiner Seele und dein angstvolles Flehen Hast du denn dem Vater dein Opfer nicht mit freiem Willen ge-brachtldquo34 Die Erklaumlrung folgt sofort Fuumlr die Bestaumlrkung des Glaubens hat Christus wahrhaft die sterbliche Natur angenommen damit der Mensch Hoffnung schoumlpfen kann sollte er aumlhn-liche Bedraumlngnis und Furcht erleiden denn aufgrund der Hoffnung richtet der Mensch seine Liebe auf Christus das Ziel wiederum willentlich (voluntas) aus Die offenkundigen (aumluszligeren) Zeichen des Leids in Christi menschlicher Natur sind das entscheidende Kriterium fuumlr die selbstreflexive Erkenntnis des LesersBetrachters Es ist die Erkenntnis dass Christus wahr-haftig die Schmerzen und das bittere Leid der Menschen mit fuumlhlbarer (sensu) Pein durchlitten hat35 Die Schilderung der Todesangst Christi ist damit Grundlage der im ersten Satz der fuumlnf-ten Frucht geforderten inneren Teilhabe (pii considereare) fuumlr die compassio den Nachvollzug seiner noch weiterhin zu durchleidenden koumlrperlichen wie seelischen Pein36

Diese Erkenntnis stuumltzt nun das ergaumlnzende Beten der Psalmen da diese einerseits die geforderten Affekte und den Affektreiz bekraumlftigen zugleich aber auch das selbstreflexive Moment herausarbeiten Die seelische Bedraumlngnis Christi auf dem Oumllberg wird begleitet und sozusagen von der Schilderung des Verrates Judasrsquo und der Bedraumlngung durch die Haumlscher umrahmt und aufgrund des Einbindens der Psalmen 38 41 und 55 in genau diese Meditationen zu einem inhaltlich kongruenten Gebet gestaltet Alle drei Psalmen wobei besonders Psalm 55 zitiert wird (Verse 13ndash15) nehmen Bosheit Verrat und Bedraumlngnis durch Freund und Feind in den Blick Hierdurch werden gerade das Verlassensein und das Ausgeliefertsein gegenuumlber den Misshandlungen in den Vordergrund gestellt die beschriebene Furcht Christi begleitet und durch das personalisierte Gebet zur emotionalen Ausrichtung des Beters selbst Nicht allein der einzelne Psalmvers wird dabei gebetet sondern ganz der mnemotechnischen Konzeptuali-sierung verpflichtet bildet der Vers den Ausgangspunkt und schlieszligt die Betrachtung und das Gebet des gesamt Psalms mit ein37 Der Klage uumlber den Vertrauensbruch durch den Freund (Ps 5513 ebenso Ps 3813 und Ps 41) und der Bedraumlngnis durch Frevler an deren Haumlnden Blut klebt (Vers 24) geht in Analogie zu Christi Gebet zum Vater auf dem Oumllberg die Anrufung Gottes voraus er moumlge das Beten und Flehen erhoumlren (exaudi orationem meam deprecationem meam)

33 Ebd34 Schlosser (wie Anm 19) S 51 LV 52 S 7635 LV 52 S 76 ndash Bereits Bernhard von Clairvaux formulierte Gott bot den Zugang zu sich selbst uumlber die Affekte weshalb die Inkarnation notwendig war um die affectiones des Menschen zuruumlckzugewinnen vgl B von Clairvaux Sermones super canticum canticorum 205 in Bernhard von Clairvaux Saumlmtliche Werke latdt hg v G Winkler Innsbruck (1996) Bd 5 S 28428536 LV 517 S 75 Nochmals abschlieszligend wird dies als identifikationsstiftendes Vorbild am Ende (vierte Meditation fuumlnften Frucht) mit dem Bild der gefesselten Haumlnde des unschuldigen Lammes und dem eingeforderten Stoumlhnen und der Beschreibung des durchdringenden Schmerzes der die Herzen der Juumlnger bei diesem Anblick durchstach (doloris aculues discipolorum vorda penetravit) vor Augen gestellt Vgl LV 520 S 7637 Zur Mnemotechnik allgemein M Carruthers The Book of Memory A Study of Memory in Medieval Culture Cambridge [ua] 122006 Zu beachten sind ebenso F A Yates The Art of Memory London 1966 M Evans The Geometry of Mind in Architectural Association Quarterly 124 (1980) S 32ndash55

280 Anselm Rau und Johanna Scheel

(Vers 1ndash8) Dabei wird die Angst (conturbatus sum) das Beben des Herzens in der Brust und das Befallenwerden vom Schrecken des Todes beschrieben (cor meum conturbatum est in me et formido mortis cecidit super me) ebenso das Erfasstsein von Furcht Zittern Schaudern und Entsetzen (timor et tremor venerunt super me et contexerunt me tenebrae) Der Nachvollzug der emotionalen Disposition Christi wird durch die kalkulierte Verknuumlpfung mit Psalm 38 zu-gleich ebenso zur detailreichen Klage in Furcht und Schrecken ob der eigenen Suumlndhaftigkeit Judas stellt natuumlrlich fuumlr den Abgleich das Negativbeispiel Doch im Gegensatz zu ihm zeigt der Betende in seiner demuumltigen Hinwendung zu Gott in Schmerz und Furcht das in ihn gesetzte Vertrauen das auch Jesus unter Beweis stellte Die Psalmen bieten hierfuumlr das passende Mittel der notwendigen Ausrichtung in der affectio

Ein interessanter Punkt sei in Bezug auf die Ausfuumlhrungen in De meditando hinsichtlich des Eifers (zelus) fuumlr die gerechte Sache noch genannt Die Sanftmut Christi wird gerade da-durch vor Augen gefuumlhrt dass er im Sinne des immerfort zur Vergebung bereiten Gott seinen Haumlschern guumltig begegnet da er sich seinen Peinigern nicht im Zorn (ira) verschloss (Ps 7710)38 Er haumllt naumlmlich sogar seinen Verteidiger ndash in der exegetischen Tradition Petrus vor allem dann auch in der bildenden Kunst ndash zuruumlck und bremst dessen gerechten zelus sein rechtmaumlszligiges eigentlich tugendhaftes eifersuumlchtiges Streben fuumlr das geliebte Objekt und heilt sogar ein abge-schlagenes Ohr Dieser Eifer der wie in De meditando beschrieben ohne Hinterlist ist nicht aus Ignoranz (repraumlsentiert durch die HaumlscherPeiniger) gegenuumlber der Wahrheit (in Christus) hervorgegangen zeigt die gute Absicht die durch Beharrlichkeit ans Ziel fuumlhrt und laumlsst somit die Liebe nicht lau werden Petrus wird als Identifikationsfigur installiert und am Ende aber-mals Judas entgegen gehalten Letzterer wurde zwar schlieszliglich aufgrund seiner Tat von Reue ergriffen jedoch war er nicht faumlhig durch die Hoffnung auf das Gute Christus Vergebung zu ersehnen und wurde von Bitterkeit (amaritudo) erfuumlllt so dass er den Tod und nicht das ewige Leben ersehnte

Meditationsschemata werden gerne aufgrund der ihnen innewohnenden Abfolge als starre Konstrukte und allein auf einen miszliginterpretierten geistigen Aufstieg abzielend hin verstan-den Doch beweist gerade das Lignum vitae eine hohe Flexibilitaumlt fuumlr den alltaumlglichen Gebrauch und zudem die eigentliche Intention die Formung von affectus

Gerard Zerbolt van Zutphen

Das stufenweise emotionale Gebet und die Meditation begegnen ebenfalls ndash allerdings weniger stark schematisiert als im Lignum Vitae ndash in einem Standardwerk der niederlaumlndischen Froumlm-migkeitsliteratur des 15 Jahrhunderts In De spiritualibus ascensionibus stellt Gerard Zerbolt

38 Im Tugend- und Lastersystem ist die Unterscheidung von zelus ira und furor sehr entscheidend bezuumlglich des guten und schlechten Strebens und damit hinsichtlich rationalen Ordnung des Geistes Zum tugendhaften und lasterhaften Zorn und seiner Aspekte vgl Richard von St Viktor Benjamin minor 40ndash44 PL 196029-033 ndash Gerade bei der Verurteilung Christi durch Pilatus (LV 624 S 77) wird das Thema der rasenden Wut (zelus invidiae) und des gerechte Zorns (zelus iustitia) nochmals differenziert

Meditation und Gebet 281

von Zutphen ein Autor der devotio moderna handbuchartig sein Aufstiegsmodell dar39 Darin vermittelt er seinen Mitbruumldern und einem frommen Laienpublikum ein ausgekluumlgeltes System von geistigen Uumlbungen die sich nicht nur auf den eigentlichen Gebetsakt beziehen sondern habituell im Alltag Anwendung finden sollen indem sie eine Transformation des Menschen be-wirken Er geht dabei von dem uumlblichen zeitgenoumlssischen theologischen Anthropologiemodell der Seele als durch Suumlnde verschmutzte imago Dei aus und stuumltzt sich auf bekannte moraltheo-logische Emotionstheorien die er jedoch stark ausweitet indem er den Emotionen eine genaue Funktion und eine Schluumlsselrolle im Erkenntnisprozess zuweist Die formula meditandi40 be-schreibt Gerard als inhaltlich verschieden konnotierte Selbstuumlberpruumlfungen in der die dadurch produzierten Emotionen wie Zerknirschung (compunctio bzw contritio) Furcht (timor) oder Hoffnung (spes) nicht nur bewusst gemacht sondern produktiv umgewandelt werden um zu Instrumenten und Stufen des weiteren Aufstiegs zu werden41 Diese Aufstiege sind ein Prozess der Selbsttransformation des Menschen der sich vollzieht indem der Mensch sowohl seinen urspruumlnglichen Zustand diese Transformation selbst als auch die Erfahrung seiner Veraumlnde-rung mit den erreichten Stufen emotional (ex affectu) erkennt (cogitare) und fuumlhlt (sentire)42 Aumlhnlich wie bei Hugo von St Viktor formuliert Gerard dass der Betende immer einen Affekt und ein Verlangen (desiderium) annehmen solle die zu den aktuellen Uumlbungen oder Medita-tionen passe43 Die Selbsttransformation im geistigen Aufstieg wird nach Gerard ebenso im uumlb-lichen Schema der lectio meditatio und oratio geuumlbt und an verschiedenen materiae meditandi44 vollzogen Die Affekte werden anhand dieser materiae erzeugt katalysiert und in das Gebet

39 Die Schrift (im Folgenden De Spir Asc) wird zitiert nach der Edition von F J LegrandN Staubach (Hgg) Gerard Zerbolt von Zutphen De Spiritualibus Ascensionibus La monteacutee du coeur Turnhout 2006 Vgl zur affektiven Konnotation von Gerards Gebetssystematik M Goossens De meditatie in de eerste tijd van de moderne devotie HaarlemAntwerpen 1954 Er stellt den Affekt als Wesensmerkmal des Gebets bei Gerard fest ebd S 118 Zur Einbindung der Schrift innerhalb der Gebetstheorien der Devotio Moderna und zum Stellenwert der affektiven Selbstreflexion auch in Beziehung zu zeitgenoumlssischer Kunst vgl J Scheel Das altniederlaumlndische Stifterbild Emotionsstrategien des Sehens und der Selbsterkenntnis Berlin 2014 bes S 155ndash171 230ndash241 414ndash42640 De Spir Asc Kap 641 Gerard spricht synonym von Aufstiegsstufen und affectus zB in Kap 27 bdquoIn hac prima ascensione vel primo affecto [hellip]ldquo Oder er benennt Affekte wie Hoffnung und Furcht als Stufen bdquo[hellip] istis duobus gradibus timoris et spei [hellip]ldquo Kap 26 Insgesamt benutzt er die Vokabeln affectus und affectio synonym zwar begegnet in Bedeutung von Strebevermoumlgen meist affectio und ersetzt also die vires durch die affectiones animae besonders wenn es um lasterhafte Affekte geht doch werden die einzelnen Affekte durchgehend als affectus nicht als affectio bezeichnet42 De Spir Asc Kap 643 Das Gebet solle nie bloszliges Lippenbekenntnis sein sondern immer aus der Wurzel des Herzens verfolgt werden und zwar stets aus den Affekten der Furcht Trauer Freude Bewunderung Dankbarkeit etc bdquo[hellip] ex affectu timoris meroris dilectionis admiracionis congratulationis etcldquo De Spir Kap 46 Diese Affektreihe stimmt mit derjenigen bei Hugo in De modo orandi uumlberein siehe oben S 273f44 Diese sind zunaumlchst die bekannten Meditationsinhalte wie man sie allenthalben in theologischer Literatur des Mittelalters findet Leben und Passion Christi das Juumlngste Gericht und die eigene Todesstunde (diese bspw bereits in Bonaventuras De Triplici Via Kap 3) Bei Gerard werden ebenfalls Houmllle und Himmelreich sowie die eigenen Suumlnden und Wohltaten Gottes eingeschlossen sowie das eigene Selbst in dem und waumlhrend des Gebets Zum Kontext der neuen Meditationswuumlrdigkeit des eigenen Selbst in den Lehren der Devotio Moderna vgl Scheel (cf Anm 39)

282 Anselm Rau und Johanna Scheel

uumlberfuumlhrt Dies macht Gerard wie Hugo anhand des Psalmengebets anschaulich indem er einerseits beispielhaft zeigt wie ex affectu ein Psalm gebetet wird waumlhrend er gleichzeitig bei vorheriger Thematisierung der lectio dessen Erregung durch die Lektuumlre betont

bdquoWenn du dich in deiner ersten Uumlberpruumlfung diskutiert hast und entdeckst dass deine Suumlnden zahlreicher sind als die Zahl des Sandes der Meere forme in dir den Affekt der Demut oder Trauer und nimm die Rolle (persona) eines Dieners an der seinen Herrn beleidigt hat Aus diesem Affekt heraus forme ein Gebet und sage sbquoGott sei mir gnaumldig nach deiner Huld tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmenlsquo (Ps 503) Wenn du in der zweiten und dritten Uumlberpruumlfung dich selbst diskutierend bemerkst dass dein Herz mit schlechten Begierden und boumlsen Verlangen gefuumlllt ist forme in dir wiederum den Affekt der Demut und nimm die Rolle eines Kranken an der nach Medizin fragt und sage sbquoHerr sei mir gnaumldig heile mich denn ich habe gegen dich gesuumlndigtlsquo (Ps 405) oder sbquoNichts blieb gesund an meinem Leib weil du mir grollst weil ich gesuumlndigt blieb an meinen Gliedern nichts heillsquo (Ebd) etc Wenn du dich im zweiten Aufstieg in Furcht durch Meditationen des Todes und des Gerichtes oder der Houmllle uumlbst nimm den Affekt der Furcht ein und die Rolle eines Suumlnders vor dem Richter an in Angst und Zittern als seist du schon uumlberfuumlhrt und der Richtspruch gegen dich gesprochen und sage sbquoVerdamme mich nicht Herr gehe nicht ins Gericht mit deinem Dienerlsquo (Ps 1422) oder sbquoHerr in deiner Wutlsquo (Ps 62) etc Wenn du dich aber in Hoffnung uumlbst durch die memoria des Him-melreiches nimm den Affekt der Liebe an und bete mit innigem Herzen und sage sbquoIch erstrebe eines Herr dieses wuumlnsche ich dass ich in dem Haus des Herrn wohnen darflsquo (Ps 264) oder sbquoWie der Hirsch lechzt nach frischem Wasserlsquo (Ps 412) etc Und ebenso kannst du mit anderen Affekten jene aus diesen formen und musst du die Rolle annehmen die deine Uumlbung erfordert und deine Meditation verlangtldquo45

Uumlber Hugo hinausgehend wird hier dem Betenden empfohlen sich konkrete Szenarien und personae zu imaginieren um die gewuumlnschten Affekte einzuuumlben Die Psalmenbeispiele mit den zugeordneten Affekten uumlberschneiden sich bei beiden Autoren bei Psalm 6 (timor) so-wie Psalm 26 (Gerard spes Hugo bona praesumptio)46 Besonders bei der Einuumlbung von timor und der Erwaumlhnung des Richtspruches in Kombination mit den Buszligpsalmen 6 und 142 stehen unmittelbar zeitgenoumlssische Darstellungen des Weltgerichts bzw der Auferstehung der Toten vor Augen wie man sie in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern in Kombination mit eben jenem Buszligpsalm 6 aber auch in der altniederlaumlndischen Malerei findet47 Psalmen koumlnnen zu den

45 bdquoUnde breviter ut modum habeas secundum predicta si te in prima examinacione discusseris et inveneris peccata tua multiplicata super numerum arene maris forma in te affectum humilitatis vel meroris et assume personam servi qui dominum suum offendit Et ex tali affectu forma oracionem dicens Secundum multitudinem miseracionum tuarum dele iniquitatem meam [hellip] Si te in secundo ascensu in timore per meditaciones mortis vel iudicii vel inferni exercueris assume affectum timoris et assume personam rei astantis coram iudice cum timore et tremore quasi iam convictus contra quem de iure proferenda est sentencia et dic Noli me condemnare Non intres in iudicium cum servo tuo Vel Domine ne in furore etc [hellip] Et sic de aliis affectibus quos ex istis formare poteris et assumere debes sicut exercicium tuum exigit et meditacio tua requiritldquo De Spir Asc Kap 4646 Zu den Psalmen die Hugo als Beispiele benutzt siehe oben S 273f47 Vgl dazu J Scheel Sich selbst sehen ndash der Betrachter in und vor dem Bild Spiegel- und Stifterfiguren in Texten und Bildern des 15 Jahrhunderts in E KochH Schlie (Hgg) Orte der Imagination ndash Raumlume des Affekts Die mediale Formierung des Sakralen Muumlnchen 2015

Meditation und Gebet 283

bdquototal memoriertenldquo48 Texten des Mittelalters gezaumlhlt werden weswegen sie sich beiden Autoren als Beispiele anbieten Sie benutzen die Buszligpsalmen (hier die Psalmen 6 31 [Hugo] 50 142) die im Stundenbuch fest als eigenstaumlndiger Gebetstext verankert sind und ebenso in der To-tenvigil ihren Platz haben ndash zusammen mit Gerards weiteren Beispielpsalmen 40 und 4149 Das Stundenbuch ist ein Medium in dem Psalmwort und bildliche Darstellung auf die Theorie des stufenweisen emotionalen Gebets und der Selbsttransformation treffen koumlnnen

Die Miniaturen die der Totenvigil bspw in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern des 15 Jahr-hunderts voranstehen zeigen oftmals eine ganzseitige Totenmesse sowie in der M-Initiale der gegenuumlberliegenden Textzeile50 zwei betende einander zugewandte Seelen im Fegefeuer (vgl

48 Zu diesen Texten gehoumlrten bspw das Pater Noster oder Ave Maria waumlhrend denen gleichzeitig auch uumlber bestimmte Aspekte zB der Passion meditiert werden konnte und sollte vgl P Saenger Books of Hours and the Reading Habits of the Later Middle Ages in R ChartierA Boureau (Hgg) The Culture of Print Power and the Uses of Print in Early Modern Europe Cambridge 1989 S 141ndash173 hier S 154 Bei den Psalmen genuumlgt wie man hier sieht allein die Nennung des Incipit oder bestimmter Verse die dem Leser so vertraut sind dass sie den gesamten Psalmentext mit assoziieren49 Zwar ist der Einsatz von Psalmen in mittelalterlichen Stundenbuumlchern mitunter verschieden doch kann man beispielhaft an einer Gruppe von Stundenbuumlchern in niederlaumlndischer Sprache diese Psalmen finden Diese Stundenbuumlcher sind mit der Uumlbersetzung des Gruumlndungsvaters des Devotio Moderna Geert Grote versehen oder stehen mit ihr in Verbindung N van Wijk Het getijdenboek van Geert Groote Naar het Haagse handschr 133 E 21 Leiden 1940 diese hauptsaumlchlich anhand einer einzigen Handschrift erarbeitete Edition wird hier in Ermangelung einer kritischen Edition genutzt Das getijdenboek enthaumllt einen Kalender des Bistums Utrecht fuumlnf Offizien (Marienoffizium Heiliggeistoffizium das lange und kurze Heiligkreuzoffizium Stunden der ewigen Weisheit) Buszligpsalmen Litanei und Totenvigil 50 Es ist der Beginn des invitatorium bdquoMi hebben ombeuanghen die suchten des dodes die pijnlike seer der hellen heben mi ombeuanghenldquo Wijk (cf Anm 49) S 156 ndash bdquoMich haben umfangen die Seufzer des Todes die qualvollen Schmerzen der Houmllle haben mich umfangenldquo

Abb 2 Meister des Hugo Jansz van Woerden Totenmesse und Seelen im Fegefeuer ca 1475ndash1500 Den Haag Koninklijke Bibliotheek Ms 76 G 13 fol 85vndash86r

284 Anselm Rau und Johanna Scheel

Abb 2)51 Das Fegefeuer bespricht Gerard eher marginal in seinem Traktat Fuumlr die affektive Meditation des eigenen Todes liefert er allerdings einerseits eine Anleitung fuumlr den Betenden die Affekte nun bereits zu erwecken die vor waumlhrend und nach dem eigentlichen Todeszeit-punkt entstuumlnden ndash und sich mit ihnen im Gebet selbst zu formen52 Andererseits raumlt er dem Glaumlubigen sich zum Zwecke des ex affectu-Gebets einen Koumlrper in seinen Verwesungsstadien vor Augen zu halten53 und was mit ihm selbst bei der Beerdigung passiere54 Das Fegefeuer ist ein im Sinne mittelalterlicher Moraltheologie produktiver Gebetsinhalt da der Glaumlubige im steten Oszillieren zwischen spes und timor besonders gut zur caritas aufzusteigen vermag Diesen Tenor findet man ebenfalls bei Geert Grote in seinem getijdenboek bei der Vorrede der Toten-vigil Hier raumlt er dem betenden Leser zum Wechsel aus Psalmen und Antiphonen in Hinblick auf die Erregung von Furcht und Angst Liebe und Hoffnung in der Ausrichtung auf Gut und Boumlse und mit Blick auf das Fegefeuer bdquoHier beginnt die Vigil in duytsche die so organisiert ist denjenigen zu helfen die von hinnen gefahren sind in der Freundschaft Gottes in das Fegefeuer Und ebenso dazu [gedacht ist] den Lebenden zu helfen die sie lesen damit ihnen das Wissen um die kommenden Dinge eingedruumlckt werde auf dass sie glauben hoffen und lieben an die Dinge in Herrlichkeit Und [sie] sich dafuumlr bereit machen und sich waumlhrenddessen die ganze Zeit fuumlrchten dass ihre Tage schnell vergehen Auf dass sie sich fuumlrchten aumlngstigen grauen und beben vor dem mannigfaltigen Leid der Angst und dem Elend die den Boumlsen ereilen werden und sie so darum ihr Leben lang ndash das hier aumluszligerst kurz ist ndash darauf hinarbeiten diesem Leid zu entgehen und [die Vigil ist auch hilfreich] weil ein Mensch diese beiden Dinge ndash Gutes in Liebe und Boumlses in Angst ndash besser ansehen (aensien) kann und erkennen und sich uumlberdenken damit er besser bitten kann und [es] mehr begehrt (begheert) und mehr liebt (myn[n]t) fuumlr diejenigen zu bitten die im Fegefeuer sind fuumlr ihre baldige Erloumlsung und dafuumlr Gottes Ehre zu vermehren [hellip] So hilft das Bitten der Lebenden den Toten und das Bitten fuumlr die Toten hilft den Lebendigen sich auf den Tod vorzubereiten [hellip] Und dazu ist das Singen dieser Psalmen heranzuziehen [und zwar] immer nach den Bedeutungen der Antiphone und den Sinn der

51 Die Darstellung von Seelen im Fegefeuer taucht als Buchillumination ab dem 13 Jahrhundert bereits vereinzelt auf und diente in Kombination mit Jenseitsvisionen Bibeltexten und moralisierenden Inhalten vor allem dem Gedenken an bereits Verstorbene wie auch zur persoumlnlichen Mediation des Lesers Oft findet eine narrative Einbindung statt Vgl dazu M Borowska Das Entfachen des Fegefeuers in der europaumlischen Miniatur des 13 Jahrhunderts in Umeni 57 (2009) S 310ndash325 Zum ikonografischen Kontext der hier gewaumlhlten Illumination vgl die Untersuchung von I M Veldman Purgatory in the Low Lands in B BukovinskaacuteL Slaviacuteček (Hgg) Pictura verba cupit Essays for Lubomiacuter Konečnyacute Prag 2006 S 169ndash180 va 170ndash17252 De Spir Asc Kap 19 In den folgenden Kapiteln stellt Gerard dem Leser dasselbe Prinzip an den Themen des Juumlngsten Gerichts der Houmllle und des Himmelreiches vor 53 bdquoItem interdum propone oculis tuis ymaginem alicuius hominis morientis et diligenter respice formam modum et ordinem quibus ad mortem deveniturldquo De Spir Asc Kap 1954 Weitere beliebte Illustrationen zum Totenoffizium im Stundenbuch des 15 Jahrhundert sind ebenfalls die Darstellung eines Toten um dessen Seele Engel und Teufel kaumlmpfen Schaumldeldarstellungen Seelen in Abrahams Schoszlig Himmel und Houmllle der Tod als Angreifer die Auferweckung des Lazarus sowie die Psychostasis mit Michael als Seelenwaumlger Diese Motive werden eher als ganzseitige Miniaturen dargestellt und bekommen zum Teil in der begleitenden Initiale jene zwei betenden Seelen im Fegefeuer hinzugefuumlgt

Meditation und Gebet 285

Antiphone soll man dazu in den Psalmen bedenken in allen Stundengebeten Dabei ist gut dass man sowohl vor als auch danach die Antiphonen spreche und schreibeldquo55

Mit der sich gegenseitig amplifizierenden Kombination von selbstreflexiven Affekt er-regendem und ausdruumlckendem Psalmentext mit der bildlichen Darstellung von Beerdigung mit Fegefeuer und mit derartigen Aufstiegsmodellen vertraut kann der betende Leser hier den eigenen Tod und die Bestrafung seiner Seele als Konsequenz der eigenen irdischen Suumlndhaftig-keit produktiv in seine Bemuumlhungen des geistigen Aufstiegs und seine Selbsttransformation kanalisieren

Imagination und Illumination

Das Gebetsleben des mittelalterlichen Glaumlubigen ist gekennzeichnet durch seine Affektivitaumlt Die affectus werden mit Gebetstexten und Psalmenreihen sowie mithilfe bildlicher Darstel-lungen sorgfaumlltig kultiviert und systematisch eingeuumlbt Dabei sind dies altbekannte ndash weil biblische ndash Text- und Bildinhalte deren affizierendes Potential auf neue Arten ausgeschoumlpft wird Texte und physische wie gerade geistige Bilder erinnern den Betenden nicht nur unver-bindlich an bereits bekannte Ereignisse Situationen und Figuren sondern lassen ihn sich mit diesen durch affektive und reflexive Meditationspraktiken identifizieren Fremde Worte und Emotionen werden darin zu den eigenen Vorbilder aus dem Kreis der Heiligen werden so zu Imaginationsfiguren das Selbst wird auf Gott ausgerichtet und in all seinen Aspekten gezielt emotional reflektiert So unterschiedlich die formale Herangehensweise dieser Praktiken bei den drei untersuchten Autoren Hugo von St Viktor Bonaventura und Gerard Zerbolt van Zutphen zu sein scheint vermitteln sie doch die selbe zentrale Maszliggabe oratio est affectus ndash bdquoGebet ist Affektldquo

Uumlbersetzung Hugo von St Viktor De meditando PL 176 993ndash99

Die Meditation ist die haumlufige Erwaumlgung (cogitatio) der Ursache (causa) und des inneren Be-weggrundes (ratio) eines einzelnen zu untersuchenden Gegenstandes (res) was seine Art sei (modus) was die Ursache und was der Beweggrund

Es gibt drei Arten (genus) der Meditation eine in Bezug auf die Schoumlpfung (in creaturis) eine hinsichtlich der Schrift (in scripturis) und eine hinsichtlich der Sitten (in moribus) Die erste erwaumlchst aus der Bewunderung (admiratio) die zweite aus der Lektuumlre (lectio) die dritte aus der umsichtigen Beobachtung (circumspectio)

Zuerst bringt die admiratio die Frage (quaestio) hervor die Frage das Erforschen (investi-gatio) und das Erforschen die Entdeckung (inventio) Dies ist damit die Bewunderung der Ord-

55 Fuumlr den altniederlaumlndischen Text vgl Wijk (cf Anm 49) S 155 Zum Antiphon das der Vigil vorangestellt ist vgl Anm 50

286 Anselm Rau und Johanna Scheel

nung (dispositio) die Frage nach der Ursache und die Entdeckung des inneren Beweggrundes Die Bewunderung beruht auf der Betrachtung der Ordnung im Himmel das ist die Gleich-artigkeit von allem und der Houmlhen und der Tiefen (alta et depressa) auf der Erde Die Frage betrifft die Ursache (causa) des irdischen Lebens auf Erden und des himmlischen Lebens im Himmel Das Erforschen fragt nach dem inneren Beweggrund dass so wie die Erde auch das irdische Leben beschaffen ist und dass der Beschaffenheit des Himmels selbst auch das himm-lische Leben gleicht

Bei der Lektuumlre (lectio) aber erfolgt die Betrachtung (considerare) folgendermaszligenAls erstes dient die lectio dazu durch die Bereitstellung des Stoffes (materia) die Wahr-

heit zu erkennen (cognoscere) die meditatio fuumlgt ihn zusammen (coaptare) die oratio hebt ihn empor (sublevare) die operatio (Ausfuumlhrung) wendet ihn an (componere) und die contemplatio frohlockt in ihm selbst (exsultare)

Es ist durch die Meditation der Schriften zu erkennen auf welche Weise es sich gehoumlrt etwas zu wissen Als Beispiel steht geschrieben Declina a malo et fac bonum (Vg Ps 3627 ndash Wende dich ab von dem Boumlsen und tue Gutes EUuml Ps 3727) Deshalb wurde zuvor gesagt die meditatio wendet sich der lectio zu um sich vom Boumlsen abzuwenden und darauf Gutes zu tun Der Grund (causa) hierfuumlr ist wenn sich nicht zuerst das Boumlse zuruumlckzoumlge wuumlrde das Gute nicht herantreten koumlnnen Der innere Beweggrund (ratio) aber ist so wie zuerst die Sproumlsslinge des Boumlsen mit ihrer Wurzel ausgerissen werden muumlssen so muss danach das Gute (ein-)ge-pflanzt werden Warum wurde daher gesagt Wende dich ab von dem Boumlsen Weil es einem auf dem Weg begegnet Man wendet sich deshalb ab weil wir es wo auch immer nicht vermoumlgen durch Staumlrke zu widerstehen wir entkommen ihm lediglich wenn wir uns mit Klugheit und Vernunft (consilio et ratio) von ihm abwenden Auch muumlssen wir uns vom Boumlsen abwenden um dem Naumlhrstoff (materia) zur Suumlnde aus dem Weg zu gehen ndash beispielsweise ist von Hochmut (superbia) Begehrlichkeit (incontinentia) Begierde (concupiscentia) Neid (invidia) und Streit (contentio) abzulassen um sich vom Reichtum (abundantia) der Schoumlnheit (species) des Flei-sches und der Besitzgier (amor possessiones) abzuwenden Dies bedeutet bdquosich abzuwendenldquo Desgleichen wenn auf diese Weise von allem Boumlsen sich abzuwenden angeraten ist so wird die Verrichtung alles Guten verlangt Und so ist also der ebenso schuldig bzw angeklagt der allein nur alles Boumlse meidet wie derjenige der nicht zugleich all das Gute tut Aber wenn dies so ist wer ist dann kein Angeklagter (reus) Folglich wird uns anbefohlen uns von allem Boumlsen loszusagen Andererseits kommt das Gute zum Einen aus dem was sich gehoumlrt (necessitas) und zum anderen aus dem Willen (voluntas) Es gehoumlren sich die Dinge einer Vorschrift (praecep-tum) und die eines Geluumlbdes (votum) alles uumlbrige wird erfuumlllt wenn eine Sache [also Schuld] mehr als nur vergolten wird (supererogare) und einem nichts mehr anlastet

Daher zielt die Meditation bei der lectio darauf ab zu ergruumlnden auf welche Weise et-was das erkannt wird gut ist warum und wie es zu erreichen ist weil es ndash ist es [ersteinmal] erkannt ndash auch zu verrichten ist Die Meditation ist das Entdeckungsvermoumlgen der vorgefassten Absicht (excogitatio consilii) zu erwaumlgen auf welche Weise das Gute das erkannt wurde erfuumlllt wird denn das Erkannte ist unbrauchbar wird es nicht vollbracht

Deshalb ist die Meditation bei der lectio eine dreifache Betrachtung nach der historia der allegoria und der tropologia Gemaumlszlig der historia erfolgt die Meditation wenn wir nach dem

Meditation und Gebet 287

vollendeten inneren Beweggrund der Dinge fragen die geschehen sind und diesen hinsichtlich seiner uumlbereinstimmenden Art und Weise (modus) bezuumlglich der Zeiten (tempora) und Orte (loci) bestaunen (admirare) Bei dieser Betrachtung der goumlttlichen Ratschluumlsse (iudicium) laumlsst man nicht davon ab daruumlber nachzudenken dass diese richtigen und gerechten (rectus et iustus) Entscheidungen zu keiner Zeit den Beistand [Gottes fuumlr die Menschen] entzogen (deesse) und durch sie das geschah was sich gehoumlrte und vergolten wurde was gerecht war (iustum fuit)

Die Meditation hinsichtlich der allegoria beschaumlftigt sich mit der Gliederung (dispositio) der vorangegangenen und zukuumlnftigen Dinge und so wie fuumlr den Verstand (intelligentia) an-gemessen richtet sie dabei ihre Aufmerksamkeit auf deren uumlbereinstimmende Bedeutung in ihrer bewundernswerten Vernunftmaumlszligigkeit (ratio) und Vorhersehung (providentia) und auf ihre fuumlr den Glauben (fides) geschaffene Gestalt (forma)

Bezuumlglich der tropologia beschaumlftigt sich die Meditation damit welche Frucht die Worte der lectio hervorbringen und erforscht (exquirere) was diese wenn sie ausgefuumlhrt werden [im Sinne des eigentlichen Aussprechens der Worte aber auch die Ausfuumlhrung ihres Inhaltes] ein-pflanzen (insinuere) und dabei zugleich lehren was zu vermeiden ist Sie stellt vor Augen was durch die lectio der Schrift zur Unterweisung (eruditio) zur Ermahnung (exhortatio) zur Troumls-tung (consolatio) und zum Schrecken (terror) dient Hierdurch erleuchtet die tropologia dahin-gehend was zum Verstehen der Tugenden (virtus) fuumlhrt sie naumlhrt (nutrire) den Affekt (affectio) und lehrt (edocere) die Lebensfuumlhrung auf dem Pfad der Tugenden

Die Meditation der Sitten (mos) erfolgt gemaumlszlig der Affekte (affectus) der Erwaumlgungen (cogi-tationes) und der Werke (opera)

Hinsichtlich der Affekte ist zu betrachten wie sie recht und aufrichtig (rectus et sincerus) zu sein vermoumlgen damit ist gemeint auf das und zu was hin sie geschuldet sein muumlssen und in welcher Weise sie zu sein haben Zu differenzieren ist naumlmlich dass das was sich nicht gehoumlrt (non oportet) boumlse ist und zugleich das was sich gehoumlrt zu lieben ist ndash das zu lieben das sich gleichwie nicht gehoumlrt ist boumlse Daher handelt es sich um einen guten Affekt wenn er auf das ausgerichtet ist auf das er verpflichtet ist und in der Weise wie es sich gehoumlrt

Amnon liebte (diligere) seine Schwester und dies war der Affekt zu dem er bestimmt war doch weil er Boumlses begehrte war es nicht der Affekt wie er ihn schuldete (vgl 2 Sam 13) So kann der Affekt auf das gerichtet sein zu was er gehoumlrt dies aber nicht in der [angemessenen] Art und Weise Niemals aber kann der Affekt so sein wie er zu sein hat wenn er nicht auf das ihm Zugehoumlrige ausgerichtet ist Auf das ausgerichtet zu was er gehoumlrt bedeutet dass er recht ist und in der Art und Weise wie es sich gehoumlrt und dementsprechend ist er rein Daher werden die Affekte in den Erwaumlgungen betrachtet damit sie rein (mundus) und geordnet (ordi-natus) sind Rein sind sie wenn weder etwas Boumlses von den Affekten hervorgebracht wird noch das Boumlse die Affekte hervorbringt Dass sie geordnet sind meint wenn sie vernuumlnftigerweise aufgrund des ihnen eigenen Anlasses (suo tempore) aufkommen (advenire) Es ist nicht ohne Schaden (vitium) [naumlmlich im Sinne des korrekten Vorgehens nicht ohne Formfehler] bereits das Gute zu einem diesem nicht angemessenen Zeitpunkt zu erwaumlgen wie etwa an die lectio waumlhrend der oratio zu denken oder auch an die oratio waumlhrend der lectio

Bei den Werken ist als erstes zu betrachten was zum Beispiel durch die gute Absicht (bona intentio) geschieht Um eine gute Absicht handelt es sich wenn sie einfach und aufrichtig ist

288 Anselm Rau und Johanna Scheel

(simplex et recta) Die bona intentio ist arglos ohne Hinterlist (malitia) und aufrichtig ohne Ignoranz (ignorantia) Die naumlmlich ohne Hinterlist ist besitzt den Eifer (zelus) Ist sie aber aus der [bewussten] Unkenntnis gegenuumlber dem Wissen (scientia) (Roumlm 102) geboren verfuumlgt sie nicht uumlber den [wahren] Eifer Daher ist es notwendig dass die Absicht aufrichtig ist in der Bescheidenheit (discretio) und arglos im Wohlwollen (benignitas) Bei den Werken ist zu be-trachten dass sie aus der aufkommenden guten Absicht heraus mit beharrlicher Leidenschaft (fervor) schlieszliglich ans Ziel gefuumlhrt werden damit nicht die Beharrlichkeit (perseverantia) ge-laumlhmt (torpere) und die Liebe (amor) nicht lau wird (tepescare)

Auf gleiche Weise erfolgt die meditatio der Sitten in einer zweifachen Betrachtung naumlmlich einer inneren und einer aumluszligeren Die aumluszligere blickt auf das Ansehen (fama) die innere auf das Gewissen (conscientia) Die aumluszligere Betrachtung erfolgt gemaumlszlig dem was ziert (decere) und was nuumltzt (expedire) was als Beispiel (exemplum) dient und was den Lohn (meritum) hervorbringt ndash uns zum Lohn und den Naumlchsten als Beispiel Die innere Betrachtung dagegen schaut auf das Gewissen damit es rein (mundus) sei ohne Anklage (accusatio) zu erleiden (pati) ob nun durch die Laumlhmung (torpor) des Guten oder die Hartnaumlckigkeit (praesumptio) des Boumlsen Rein ist aber jenes Gewissen das weder durch das Vergangene zu recht angeklagt (accusare) noch durch das Gegenwaumlrtige unrechtmaumlszligig erfreut (delectare) wird

Daher laumlsst die meditatio der Sitten ihre Betrachtung nicht ruhen damit sie jegliche Re-gungen (motus) die sich im Herzen erheben bemerkt und erwaumlgt woher sie kommen und worauf sie abzielen (tendere) Das heiszligt woher sie kommen gemaumlszlig ihrem Ursprung und wo-nach sie streben hinsichtlich ihres Ziels Alles ist naumlmlich eine Bewegung aus irgendetwas und auf irgendetwas Die Bewegungen des Herzens sind manchmal offenkundigen Ursprungs manchmal entspringen sie aber auch Verborgenem Bei denen der Ursprung offenkundig ist ist er bisweilen durch das Gute bisweilen aufgrund des Boumlsen erwiesen Was offenkundig gut ist kommt von Gott was aber deutlich boumlse erscheint entspringt entweder dem Teufel oder dem Fleisch Dies sind naumlmlich die drei Urheber (auctores) aller Vorstellungen (suggestio) und aller Eingebungen (aspiratio) die unsichtbar an das Herz herantreten und aus jenen drei hervor-gehen Entspringen die Bewegungen des Herzens daher dem Verborgenen koumlnnen sie manch-mal aus dem Guten und dem Geheimen hervorgehen und sind manchmal boumlse und zweifelhaft (dubius) Die dem Guten entspringen kommen von Gott die aber dem Boumlsen entstammen sind entweder des Teufels oder des Fleisches

Die Bewegungen die folglich offenkundig sind sei es im Guten oder Boumlsen werden auf den ersten Blick durch ihren Ursprung angezeigt Jene aber die zweifelhaft bleiben hinsichtlich ih-res Grundes sind am Ende zu uumlberpruumlfen (probare) Ihr Ergebnis [oder Ausgang] (exitus) zeigt naumlmlich deutlich was vom Ursprung her verborgen war und deswegen muss derjenige der es nicht vermochte den Ausgangspunkt seiner Herzensbewegungen zu beurteilen (iudicare) das Ziel und die Ausfuumlhrung [bzw Vollendung] (finis et consummatio) untersuchen (investigare) Die Bewegungen naumlmlich die zweifelhaft und ungewiss sind sind vom verborgenen Guten oder Boumlsen Wie gesagt wurde haben die schlechten Regungen ihren Ursprung entweder beim Teufel oder im Fleisch Diese aber sind beide boumlse sie unterscheiden sich nicht indem oder durch was sie boumlse sind doch unterscheiden sie sich dahingehend dass die Regungen des Her-zens die dem Fleisch entspringen haumlufig aus einer Notwendigkeit (necessitas) heranwachsen

Meditation und Gebet 289

die aber die tatsaumlchlich vom Teufel kommen nehmen noch oumlfter wider der Vernunft (ratio) ihren Anfang (oriri) Was naumlmlich vom Teufel eingegeben wird (suggerere) ist in der Tat dem Menschen fremd und wird deswegen haumlufig von der menschlichen Vernunft abgelehnt weil er beispielsweise unlaumlngst gesaumlttigt Hunger leidet (pati) kurz zuvor noch trunken (inebriatus) vor Durst (sitis) gluumlht (aestuare) oder wenn er nach einem ausgiebigen Schlaf (dormitio) sich erhebend vom Traum (somnus) bedruumlckt (praegravare) wird

Hieraus also werden die Werke des Teufels differenziert betrachtet weil sie ja an den Men-schen von auszligen herangetragen werden und der menschlichen Vernunft fremd sind Bei den Werken des Fleisches und ihren Eingebungen liegt der Grund des Oumlfteren in einer vorangegan-genen Notwendigkeit Aber weil sie Ziel und Maszlig (modus et mensura) uumlbersteigen wachsen sie zum Uumlberfluss (superfluitas) heran Dies ist als Beispiel eben gerade dann der Fall wenn nach der Einnahme einer Mahlzeit der Hunger hemmungslos (immoderatus) begehrt (appetere) und nach Enthaltsamkeit (abstinentia) das Maszlig (mensura) bei der Aufnahme von Speise (edulium) nicht gehalten wird

Daher wird die meditatio der Sitten aufgrund eines dreifachen Urteils betrieben Das erste urteilt zwischen Tag und Nacht das zweite zwischen Tag und Tag und das dritte schlieszliglich untersucht den gesamten Tag (vgl Roumlm 145) Zwischen Nacht und Tag zu urteilen meint das Boumlse vom Guten zu (unter-)scheiden Die Beurteilung zwischen Tag und Tag bedeutet eine Un-terscheidung zwischen etwas Gutem und etwas Besserem vorzunehmen Uumlber den gesamten Tag zu richten ist schlieszliglich das einzelne Gute fuumlr den eigenen Lohn zu ermessen (aestimare)

So hat die meditatio der Sitten bei jeglichem Umgang (conversatio) das Ziel und die Rich-tung (directio) im Blick Das Ziel ist wohin man strebt die Richtung wodurch man leichter ans Ziel gelangt Jeder naumlmlich der zu irgend etwas strebt so wie etwas seine Bahn (cursus) lenkt und unaufhoumlrlich weiterzieht kommt schneller ans Ziel Es gibt daher Gutes durch das man stark bewegt ist (moveri) zugleich gibt es aber wenig her durch das man vorankommt (pro-moveri) Anderes dagegen fuumlhrt mit etwas Muumlhe (labor) zu groszligem Gewinn (fructus) Und diese sind folglich zu unterscheiden und das Bessere das mehr nuumltzt auszuwaumlhlen Welches auch immer mehr nuumltzt ist besser und es gehoumlrt sich jedes Werk auf seinen Ertrag hin zu beurteilen Indem viele diese Unterscheidung (discretio) nicht einhielten haben sie sich zwar aufs aumluszligerste bemuumlht sind jedoch nur wenig vorangekommen weil sie das Auge aumluszligerlich so sehr auf die Gestalt (species) der Werke richteten und nicht innerlich auf den Gewinn durch die Tugenden blickten Sie ergoumltzen sich daran groszlige Taten zu verrichten anstatt dass sie das Nuumltz-liche (utilia) uumlben (exercere) um sich selbst zu bessern (emendari) Dabei schaumltzten (diligere) sie vielmehr das durch das sie den Anschein erwecken (videri) konnten [so zu sein]

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zunaumlchst das was man schuldet entweder auf-grund einer Vorschrift (praeceptum) oder eines Geluumlbdes (votum) Diesbezuumlglich ist die erste Tat der meditatio zu ermitteln ist sie oder es erfuumlllt fuumlhrt es zum Lohn und wenn nicht bringt dies den Anklagezustand (reatus) hervor Es sind also zuerst die Dinge zu tun die nicht ohne Schuld (culpa) weggelassen werden koumlnnen Danach ist die meditatio alsdann so zu verrichten dass wenn etwas durch freiwillige Uumlbung (exercitatio) noch hinzugefuumlgt wird die Pflicht-erfuumlllung [eigtl Schuld] (debitum) nicht verhindert wird (impedire) Die einen die das nicht zu leisten vermoumlgen was sie schulden wollen was sie nicht muumlssen Die anderen wenn sie im-

290 Anselm Rau und Johanna Scheel

stande sind zu tun was sie schulden bringen freiwillig Hindernisse (impedimentum) mit sich indem sie etwas wollen was sie nicht muumlssen

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zwei Dinge des Boumlsen vor denen man bei der Ver-richtung von Gutem besonders auf der Hut sein muss die Betruumlbnis [Niedergeschlagenheit] (afflictio) und die Besessenheit [Vereinnahmung] (occupatio) Die afflictio fuumlhrt zur Bitterkeit (amaritudo) die occupatio zur Zerstreuung (dissipatio) Mit der afflictio verbittert die Suumlszlige (dulcedo) des Geistes und mit der occupatio wird die Ruhe (tranquillitas) zerstoumlrt (dissipare) Es herrscht Betruumlbnis wenn man fuumlr jene Dinge die man nicht vermag aufgrund der eigenen Ungeduld (impatientia) ungluumlcklich wird (urere) Dagegen handelt es sich um Besessenheit (occupatio) wenn man in seinem Handeln (nach seinem Vermoumlgen) aufgrund der impatientia gequaumllt wird (agitare) Folglich darf die Seele (animus) nicht aufgrund des Boumlsen verbittert wer-den sie muss ihr Unvermoumlgen (impossibilitas) geduldig (patienter) aushalten Genauso darf sie aber auch nicht vom Boumlsen eingenommen werden und darf ihr Vermoumlgen (possibilitas) nicht uumlber ihr eigenes Maszlig hinaus ausdehnen (extendere) Daher muss die meditatio der Sitten in einer weiteren Betrachtung der Lebensfuumlhrung zu einem Urteil kommen und dabei billigen dass es weder gut ist die Dinge die man nicht vermag ungeduldig (impatienter) zu verlangen (appetere) noch die welche man erreicht toumlricht (insipienter) zu verschmaumlhen (fastidire) Wer naumlmlich immer das begehrt was er nicht vermag und das was er [jedoch] vermag verabscheut wird sich weder am Gegenwaumlrtigen erfreuen (frui) noch am Zukuumlnftigen saumlttigen (satiare) Er verlaumlsst naumlmlich das Gute unentwickelt vor der Vollendung und eignet sich das gerade erst Be-gonnene vorzeitig an Deswegen ist es gut aufgrund des eigenen Guten zufrieden zu sein und das gegenwaumlrtige Gute durch hinzukommendes Gutes zu vermehren und es nicht aufgrund des Zukuumlnftigen wegzuwerfen (abicere) Der Austausch (commutatio) des Guten ist naumlmlich ein Leichtes (levitas) seine Uumlbung (exercitatio) aber die Tugend Oft eilen sie auf unterschiedlichen Wegen die einen die ein fruumlheres durch ein neues Gutes fallen lassen (abicere) und die ande-ren die [sich] vom Untersten zum Houmlchsten emporschwingen (conscendere) Wer naumlmlich nach Veraumlnderung (mutatio) fragt ist uumlberdruumlssig (fastidiosus) so wie der der nach dem Voran-schreiten (profectus) strebt eifrig bemuumlht ist (studiosus) Am aufrechtesten beschreitet daher derjenige den Weg der dabei so auf das Bessere brennt (fervere) dass er des Guten nicht uumlber-druumlssig wird sondern es vorerst empor haumllt solange bis er es spaumlter zu der ihm angemessenen Zeit sich aneignet (apprehendere)

Abbildungsnachweis

Einband Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders

Farbtafeln 1 (zu Beitrag Rosenwein) Coll BNU de Strasbourg ndash 2 (zu Beitrag Ferguson) Ar-chiv der Verf ndash 3 (zu Beitrag Herding) Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preu-szligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders ndash 4 (zu Beitrag Droste) R Kahsnitz Die Groszligen Schnitzaltaumlre Spaumltgotik in Suumlddeutschland Oumlsterreich Suumldtirol Muumlnchen 2005 Taf 53 ndash 5 6 (zu Beitrag Schedl) 75 Jahre 1933ndash2008 Kirche Mutter vom Guten Rat Festschrift und Chro-nik FrankfurtM 2008 S 92 Dr Bernd Konrad Radolfzell ndash 7 8 9 (zu Beitrag Zaumlh) Archiv des Autors ndash 10 (zu Beitrag Niehr) Universitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Media-thek 11 12 (zu Beitrag Muumlller) Autorin ndash 13 14 15 (zu Beitrag Schlie) Su concessione del Ministero dei beni e delle attivitagrave culturali e del turismo ndash Galleria Nazionale delle Marche ndash Urbino Archivio fotografico Archiv der Verf F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 ndash 16 17 (zu Beitrag Stoichita) D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 ndash 18 19 20 (zu Beitrag Schmidt) London British Museum C Geissmar-BrandiE Louis (Hgg) Glaube Hoffnung Liebe Tod Wien 1995 S 149 Archiv Autor ndash 21 (zu Beitrag Jung) Autorin

Textabbildungen Droste 1 3 4 Autorin 2 E Oellermann Der Hochaltar in St Martin zu Lorch am Rhein in H KrohmE Oellermann (Hrsg) Fluumlgelaltaumlre des spaumlten Mittelalters Ber-lin 1992 Abb 2 ndash Ferguson 1ndash3 Archiv der Verf ndash Frese 1 2 3 5 M BrandtA Eggebrecht (Hgg) Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen Katalog der Ausstellung Hil-desheim 1993 Bd 1 S 386f Abb 197 u 198 Bd 2 S 583 KatNr VIIIndash32 S 604 KatNr IXndash8 4 G LutzA Weyer (Hgg) 1000 Jahre St Michael in Hildesheim Kirche ndash Kloster ndash Stifter Peterberg 2012 S 148 Abb 118 ndash Gruumlndler 1ndash4 L DomenicoA Nova (Hg) Leonardo da Vincirsquos Anatomical World Language Context and Disegno Akten der Internationalen Tagung Florenz 30ndash31 Mai 2008 Venedig 2011 S 237 S 236 S 241 S 186 5 6 Le journal de Jacopo da Pontormo traduit par Jean-Claude Lebensztejn avec la collaboration drsquoAlessandro Parronchi Paris 1992 S 46 S 50 ndash Herding 1 2 3 4 5 6 7 Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders 8 Max J Friedlaumlnder Early Netherlandish Painting 14 vols Leiden und Bruumlssel 1967ndash1974 vol II 1967 pl 10 Nr 3i 9 Wolfenbuumlttel Herzog-August-Bibliothek ndash Jung 1 2 3 4 5 Autorin ndash Kessler 1 6 7 Autor 2 3 Museo delle Terme Rom 4 British Museum London 5 Alexei Lidov ndash Maxwell 1 2 AHN 3 Autor 4 Sancho el Mayor y sus herederos ed I Bango Torviso et al 2006 cat 25 5 BNE ndash Muumlller 1 Italian painting c 1330ndash1550 I National Gallery in Prague II Collections in the Czech Repub-lic Illustrated summary catalogue Prag 2008 2 Collection of The John and Mable Ringling Museum of Art the State Art Museum of Florida Florida State University 3 2014 copy Archivio Fotografico ndash Fondazione Musei Civici di Venezia ndash Niehr 1 A Schuttwolf (Hg) Ausst-Kat Jahreszeiten der Gefuumlhle Das Gothaer Liebespaar und die Minne im Spaumltmittelalter Ostfil-

400 Abbildungsnachweis

dern-Ruit 1998 2 D de Vos Hans Memling Das Gesamtwerk AntwerpenStuttgart 1994 S 278ndash283 TH Borchert Hans Memling Portraits Stuttgart 2005 S 173f Nr 23 3 Univer-sitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Mediathek ndash Pfisterer 1 E Steinmann ldquoLa mano di Michelangeloldquo in Studien aus Kunst und Geschichte Friedrich Schneider zum siebzigsten Geburtstag Freiburg iBr 1906 unnum Taf 2 R Bernini ua La mano e il volto di Antonio Canova PossagnoQuinto di Treviso 2008 S 197 3 U Klein Zur Forschungsgeschichte des Duumlrer-Hauses in GU GroszligmannF Sonnenberger (Hgg) Das Duumlrer-Haus Neue Ergebnisse der Forschung Nuumlrnberg 2007 S 105 nach Carl A Heideloff Die Ornamentik des Mittelalters Bd 3 Nuumlrnberg 1847 S 42 4 WH Vroon Het wonderlid van Jan de Witt en andere vaderland-se relieken Nijmegen 1997 S 68 5 Autor nach GF Tomasini Petrarca Redivivus Padua sup21650 S 128 6 A Picturesque Tour Through Holland Brabant and Part of France made in the autum of 1789 by Samuel Ireland London sup21796 Bd 2 Taf nach S 13 ndash Pinkus 1 2 3 4 5 6 Autor 7 8 Institut fuumlr Kunstgeschichte Universitaumlt Wien Fotothek ndash RauScheel 1 M Gregori Uf-fizien und Palazzo Pitti Muumlnchen 1994 S 31 2 Den Haag Koninklijke Bibliotheek ndash Raeck 1 2 5 7 Fotothek des Instituts fuumlr Archaumlologische Wissenschaften AbtI Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main 3 Zeichnerische Rekonstruktion M Junghans nach H-V Herrmann Olympia ndash Heiligtum und Wettkampfstaumltte Muumlnchen 1972 Abb 95 4 Antikensammlung Staatliche Museen zu Berlin Foto Johannes Laurentius 6 W Riezler Weissgrundige attische Lekythen Muumlnchen 1914 Taf 23 8 Deutsches Archaumlologisches Institut Athen Fotothek ndash Reudenbach 1 F MuumltherichJE Gaehde Karolingische Buchmalerei Muumlnchen 1979 Taf 4 2ndash4 httpwwwbibliotheca-laureshamensis-digitalde (Zugriff 20022014) ndash Schmengler 1 2 3 Torsten Saumlnger Frankfurt 4 5 6 Eric Tschernow Berlin ndash Schedl 1ndash3 Dr Bernd Konrad Radolfzell 4 FrankfurtMain-Niederrad Pfarrarchiv der katholischen Kirchengemeinde Mut-ter zum Guten Rat ndash Schlie 1 Archiv der Verf 2 Archiv der Verf + D E Katz The Contours of Tolerance Jews and the Corpus Domini Altarpiece in Urbino in Art Bulletin 85 (2003) S 647ndash661 S 647 3 F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 Schmidt 1 2 London British Museum 3 M Geisberg Der Meister ES Leipzig 21924 4 Archiv Autor ndash Taxer 1 2 O Paumlcht Altniederlaumlndische Malerei Von Rogier van der Weyden bis Gerard David Muumlnchen 1994 Abb 91 S 118 Abb 93 S 120 3 4 E Panofsky Die altniederlaumlndische Malerei Ihr Ursprung und Wesen Bd 2 Koumlln 2006 Abb 387 S 236 Abb 358 S 214 ndash Stoichita 1 D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 2 3 J Bialostocki Les Museacutees de Pologne Bruxelles 1966 ndash Zaumlh 1 2 Archiv des Verf 3 Metropolitan Museum of Art Bulletin 58 (2001) S 17 4 G ForsythK Weitzmann The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai The Church and Fortress of Justinian Plates Ann Arbor (Mi) 1973 Plate 121

274 Anselm Rau und Johanna Scheel

Hugo zeigt hier wie einerseits aus dem Affekt ein bestimmter Psalm gesungen wird Er kom-plettiert damit was er bei der Aufzaumlhlung staumlrker betonte naumlmlich aus welchen Psalmen ein Affekt erwaumlchst und gleichzeitig wie die Worte zu denjenigen der eigenen Bitte und zum Af-fektausdruck werden

Mischung und Uumlberblendung von Affekten

Allerdings wird nicht innerhalb eines Psalms je nur ein Affekt ausgedehnt sondern oftmals geht dort ein Affekt in den anderen uumlber Sie werden gemischt oder loumlsen sich kontinuierlich ab (Kap VIII) Ein Beispiel hierzu Aus der meditatio der eigenen Fehler und Gottes Barm-herzigkeit bricht man durch den Affekt des Schmerzes in die Worte aus bdquoHerr wie zahlreich sind meine Bedraumlnger so viele stehen gegen mich auf viele gibt es die von mir sagen Er findet keine Hilfe bei Gottldquo Dies sind die ersten Verse aus Psalm 3 Aus dem Affekt des Schmerzes der dadurch staumlrker entflammt und ausgedruumlckt wird kehrt der Betende mit dem naumlchsten Vers des Psalms 3 auf den Affekt der guten Erwartung zuruumlck und sagt bdquoDu aber Herr bist ein Schild fuumlr michldquo Damit wird der Schmerz von Vertrauen gelindert und der eine in den andere Affekt uumlberfuumlhrt

Die Psalmenworte vergegenwaumlrtigen oder erinnern hier an den Affekt und werden danach angewandt zugleich sind sie Anreiz und -ausdruck der vielfaumlltigen Palette wandelbarer Affekte

Diese Definition in De modo orandi ist fuumlr das Verstaumlndnis der Affekte innerhalb des Ge-bets im gesamten Mittelalter als grundlegend anzusehen Aus kunsthistorischer Sichtweise ist die Beschaumlftigung mit dieser Schrift daher nicht nur unerlaumlsslich um mittelalterliche Bildwer-ke die fuumlr den Bildbetrachter als Hilfsmittel fuumlr sein Gebet konzipiert wurden praumlziser kon-textualisieren zu koumlnnen Vielmehr ist die in De modo orandi dargelegte Reflexionsstruktur auf die Rezeption von Werken der bildenden Kunst uumlbertragbar

Das Lignum vitae

Ein Beispiel fuumlr die konkrete Anwendung der Evozierung von affectus bei Gebet und Medita-tion wie von Hugo von St Viktor konzipiert stellen die Meditationen des Lignum vitae Bona-venturas und dessen bildliche Umsetzung dar18 In seinen viel rezipierten Werken De triplici

18 Bonaventura Lignum vitae in Opera omnia Quaracchi 1848 Bd 8 Im Folgenden wird auf die lateinische Edition von Quaracchi mit dem Kuumlrzel LV verwiesen Wird nicht die eigene Uumlbersetzung verwendet ist die Grundlage M Schlosser Baum des Lebens Geistliche Betrachtungen St Ottilien 2012 Weitere deutsche Uumlbersetzung bei A Aswerus Der Lebensbaum Zuumlrich 1963Die Rezeption der Schriften Hugos bei den Franziskanern ist bekannt gerade die Verbreitung der hier besprochenen Texte Vgl Goy (cf Anm 1) S 530ndash532 In Italien und auf der iberischen Halbinsel sind mit 170 Texten nur ca 7 der Gesamtuumlberlieferung von Hugos Werken zu finden allerdings faumlllt bei den Handschriften italienischer Provenienz die bdquofuumlhrende Stellung der Franziskaner als Tradentenldquo auf Vgl ebd S 530 Die Houmlhepunkte der Tradierung liegen im 13 und 15 Jh vgl ebd S 559ndash564 bes S 563

Meditation und Gebet 275

via in dem er sein auf dem Gedankengut des 12 Jahrhunderts beruhendes Verstaumlndnis von meditatio oratio und contemplatio darlegt und dem Itinerarium mentis in Deum wendet sich Bonaventura der Formung der Seele des Menschen fuumlr den Aufstieg zu Gott zu19 Gerade aber das Lignum vitae hat maszliggeblich in seiner konkreten Form die Passionsmeditation des spaumlten Mittelalters beeinflusst20

Deutlich ist hervorzuheben dass Bonaventura diese Meditationsschrift zu Kindheit und Leben Passion und AuferstehungVerherrlichung Christi auf Grundlage mnemotechnisch strukturierter Modelle der monastischen Meditationspraxis konzipierte Der Entwurf Bona-venturas sieht die Anordnung der Meditationen anhand eines Baumschemas vor als struktur-gebende Schablone fuumlr das Einpraumlgen dieser im Herzen21 Da die Vorstellungskraft (imaginatio) die Einsicht (intelligentia) unterstuumltzt gibt Bonaventura die konkrete die Intention verdeutli-chende Anweisung bdquodescribe igitur in spiritu mentis tuae arboremldquo22 Die Meditationen selbst dienen zur Entflammung des Herzens in liebendem Empfinden zur Formung des Denkens und zur Einpraumlgung in das Gedaumlchtnis (accendatur affectus formetur cogitatus imprimatur memoria) Somit wird auch hier die Formung des Denkens durch den affectus herausgestellt23 Nach dem Entwurf Bonaventuras besitzt der Baum zwoumllf Zweige an denen jeweils vier kurze Strophen die Einleitungen bzw Uumlberschriften zu den einzelnen Meditationen angebracht sind die immer zusammen genommen eine Frucht hervorbringen So umfasst das gesamte Schema 48 Meditationen die in einer Reihenfolge von unten nach oben insgesamt zwoumllf zu erreichende Fruumlchte oder auch tugendhafte habitus hervorbringen sollen24

Die rasche und vielfaumlltige visuelle Umsetzung der Baumstruktur zeugt von der Popula-ritaumlt der Meditationen des Lignum vitae eine der heute wohl bekanntesten Darstellungen stammt von Pacino di Bonaguida der jeder einzelnen Meditation ein Bildmedaillon zuordnete

19 Bonaventura De triplici via Opera omnia Quaracchi 1948 Bd 8 S 19ndash27 ndash Bonaventura Itinerarium mentis in Deum Opera omnia Quaracchi 1891 Bd 5 S 293ndash316 ndash vgl hier auch die kritischen Edition und die Darstellung der inhaltlichen Grundkonzeption Bonaventura De triplici via Uumlber den dreifachen Weg latdt uumlbers u eingel v M Schlosser Freiburg iBr [ua] 1993 ndash Bonaventura Itinerarium mentis in Deum ndash Der Pilgerweg des Menschen zu Gott latdt uumlbers u erl v M Schlosser mit einer Einleitung von P Zahner Muumlnster 200420 R Preisinger Lignum vitae Zum Verhaumlltnis materieller Bilder und mentaler Bildpraxis im Mittelalter Paderborn 2014 21 Zu den Schablonen und dem Einpraumlgen dieser ins Herzen vgl M Carruthers Moving Images in the Mindrsquos Eye in J Hamburger M-A Boucheacute (Hgg) The Mindrsquos Eye Art and Theological Argument in the Middle Ages New Jersey 2006 S 294 FN 24 zu den Anweisungen Hugos in De arca noe S 292ndash29422 LV Prolog S 6823 Ebd24 Die uumlberkommenen Traktate belegen die angedachte Konzeption zur Verinnerlichung der einzelnen Meditationen die Uumlberschriften als Responsorium mit dem Kehrvers O crux fructus salvificus zu singen vgl hierzu M Sensi Lrsquoallegoria della Croce nel monastero di SantrsquoAnna a Foligno in B Ulianich U Parente (Hg) La Croce Iconografia e interpretazione Bd 3 La croce nella liturgia NeapelRom 2007 S 392 ebenso Preisinger (wie Anm 20) S 36ndash42

276 Anselm Rau und Johanna Scheel

(Abb 1)25 In kuumlnstlerischen Darstellungen diente das Lignum vitae als visuelle Unterstuumltzung sowohl fuumlr den Gesang als auch gerade zur Strukturierung von Predigt und Meditation26 Ein Groszligteil der Bilder zum Lignum vitae binden den Text in Form der Uumlberschriften der einzelnen Meditationen ein Eine solch detailreiche Ausgestaltung wie etwa bei Pacino ist bei den uumlber-lieferten Beispielen keine Regelmaumlszligigkeit Damit belegt allein schon das Bild selbst dass das

25 Jedoch darf diese Tatsache nicht uumlber die tatsaumlchliche Anwendung hinwegtaumluschen Auf die Diskussion um die Bildwerke zum LV kann hier nicht dezidiert eingegangen werden Die juumlngsten Publikationen zum Lignum vitae mit der entsprechenden Literatur zur Forschungslage sind Preisinger (cf Anm 20) und U Ilg Quasi lignum vitae The Tree of Life as an Image of Mendicant Identity in P SaloniusA Worm (Hgg) The Tree Symbol Allegory and Mnemonic Device in Medieval Art and Thought Turnhout 2014 S 187ndash212 ndash Siehe die Kritik an der bisherigen Auseinandersetzung mit dem Lignum vitae und seinen Darstellungen in der 2015 abgeschlossenen Dissertation von A Rau Imagination und Emotion Bildstruktur und Emotionalisierungsstrategien in der monastischen Meditation und das bdquoModell Franziskusldquo sowie A Rau Im Wechselbad der Gefuumlhle ndash das Lignum vitae in Imago 4 (2015) erscheint November 201526 L Bolzoni The Web of Images Vernacular Preaching from its Origins to Saint Bernardino da Siena Aldershot 2004 S 154ff

Abb 1 Pacino di Bonaguida Lignum vitae Florenz Galleria delllsquoAccademia um 1310 258x151cm

Meditation und Gebet 277

eigentliche affizierende Potential in der Steuerung der imaginatio des LesersBetrachters durch den Text der Meditation und des Gebet selbst liegt27

Innerhalb der jeweils einer Frucht zugeordneten vier Meditationen ist ein Aufbau und Uumlbergang festzustellen ebenso sind in der Regel die Fruumlchte durch die letzte Meditation der vorangegangenen und die erste der folgenden miteinander verknuumlpft Allen gemein ist dass zu Anfang einer jeden Frucht die in den ersten zwei Fruumlchten ausgebildeten Grundtugenden caritas und humilitas als Ausgangspunkt genommen werden Diese beiden sind wie bereits von Augustinus betont die Grundtugenden aus denen alle weiteren erst hervorgehen koumlnnen28 Die einzelnen Meditationen zeichnen sich durch das Fokussieren auf eine tugendhafte Haltung Christi aus Diese verdeutlicht er entweder selbst in einer emotionalen seinen Habitus aus-druumlckenden Disposition oder weiteres biblisches Personal reagiert als Exempel fuumlr den LeserBetrachter des Lignum vitae auf die ihm so bdquovisualisertenldquo Geschehnisse um Christus So ent-stehen Imaginationsfiguren die das Handeln (operatio) bestimmen sollen Geleitet wird die Meditation des Betrachters durch die eindruumlcklichen Schilderungen der Begebenheiten aus dem Leben Christi in Kombination entweder direkter Ansprachen an seine Seele wie er sich verhalten was er sich als Vorbild nehmen soll oder durch in die Meditation selbst eingefuumlgte Gebetstexte welche die Affizierung entweder stuumltzen oder direkt hervorbringen koumlnnen

Die Meditationen der ersten vier Fruumlchte (Geburt Kindheit Wirken Christi) charakteri-sieren das Lignum vitae wie schon bei Hugo und in den Meditationsmodellen des 12 Jahrhun-derts als dezidiertes Reue- und Buszligschema Dies verdeutlicht allein schon die formale Anlage da sich hier vorwiegend Anweisungen zu habituellen emotionalen Dispositionen des Lesers finden Die Einmuumlndung dieser Meditationen in die Schilderung des letzten Abendmahls kon-kretisiert die Verbindung zwischen der logischen Anlage eines sukzessive aufgebauten Medita-tionsschemas die Notwendigkeit seiner fortdauernden Anwendung und somit den praktischen Bezug zum religioumlsen Leben Reue und Buszlige sind die notwendige Grundvoraussetzung fuumlr die Teilhabe an der Opferfeier des Messgeschehens es hebt die Meditationspraxis als fortdauernde Uumlbung der Affekte und Tugenden als staumlndige Gewissenspruumlfung hervor und kennzeichnet den Menschen ab diesem Punkt als muumlndigen Meditanden und Beter

So aumlndert sich dann ab der fuumlnften Frucht zu den Passionsmeditationen auch der Auf-bau Hier werden konzentriert einzelne orationes in die einzelnen Meditationen eingeflochten Bemerkenswert ist bei den fast als propaumldeutisch zu verstehenden Meditationen der ersten vier Fruumlchte findet sich eine sehr uumlberschaubare Anzahl von Psalmzitaten waumlhrend sie hier als personalisierte Gebete des LesersBetrachters gehaumluft auftreten Gezielt werden sie in den Meditationen der geschilderten Situationen und Peinigungen Christi eingesetzte um die com-passio zu erregen Hieran laumlsst sich die unmittelbare und entscheidende Zusammenwirkung

27 Bezuumlglich einer eingehenden gerade auch sprachlichen Untersuchung der Meditationen des Lignum vitae das affektsteuernde Potential herausarbeitend siehe abermals Rau (wie Anm 25)28 K Pansters Profectus Virtutum From Psalm 838 to David if Augsburgrsquos Profectus religiosorum in Studies in Spirituality 18 (2008) S 170 Zur Thematik weiterfuumlhrend N Baumann Die Demut als Grundlage aller Tugenden bei Augustinus Frankfurt 2009

278 Anselm Rau und Johanna Scheel

von meditatio und oratio beobachten die in Kombination die Lenkung der geordneten affectus bestimmen

Die von Hugo in De meditando angemahnte Unterscheidung und Betrachtung des Guten und Boumlsen findet in den Meditationen des Lignum vitae seine konkrete differenzierte Anwen-dung Heben die ersten vier Fruumlchten dezidiert Reue und Buszlige des MeditierendenBetenden und gerade die Schlechtigkeit des Menschen gegenuumlber Christus hervor so zeigen die Medita-tionen zur Passion Christi (5ndash8) die Betrachtung des Boumlsen und des Guten dahingehend wie das Boumlse in Gestalt der Peiniger Christi auf diesen einwirkt und wie Christus selbst oder wei-teres positiv konnotiertes biblisches Personal reagiert Die Grundlage des hier geforderten Mit-leidens mit Christus ist die bei den vorangegangenen Meditationen ausgearbeitete compassio Christi mit den Suumlndern Demuumltig ausgerichtet und damit ausgebildet am mitfuumlhlenden Vor-bild Christi kann der LeserBetrachter uumlber die imaginatio in der Meditation und dem Gebet hier zum Mitleidenden ausgebildet werden Zuerst wird also die demuumltige Emotionalitaumlt ob der eigenen Schlechtigkeit dem eigenen Boumlsen im Abgleich mit dem guten Vorbild in Christus herausgebildet und daraufhin die Affekte in den Meditationen zur Passion Christi an Christus selbst zum Mitleiden konstituiert

Als Beispiel der dezidiert auf die Affizierung ausgerichteten Anlage seien die Meditationen der fuumlnften Frucht umrissen Gegenstand (res) ist hier die Betrachtung von Christi Vertrauen (confidentia) in der Gefahr und umfasst die vier Meditationen zu Judasrsquo Verrat Christi Gebet auf dem Oumllberg der Umzingelung Christi durch die Haumlscher und seiner Gefangennahme29 Propaumldeutisch wird dem Verrat Judasrsquo dem abgrundtief Boumlsen (nequissum) die geradezu pa-radox erscheinende und dadurch Staunen und Bewunderung erweckende (o mira) Guumlte (be-nignitas) und Sanftmut (mansuetudo) Christi gegenuumlbergestellt30 Dieses Thema beherrscht alle Meditationen dieser Frucht und ist begleitende Grundlage aller folgenden Darstellungen der Misshandlung Christi Judas wird typologisch als lasterhafter Gegenpart zum tugendhaften Idealbild Christi stilisiert Sein Verrat gruumlndet in seiner cupiditas und bestimmt von seinen niedersten Trieben ist er die Personifikation von perfidia (Treulosigkeit Gewissenlosigkeit) in-gratitudo (Undankbarkeit) und duritia (Hartherzigkeit)31 Die angemahnte Betrachtung des Guten und des Boumlsen legt als klassisches System der Gegenuumlberstellung von Tugenden und Lastern anzustrebende bzw abzulehnende habitus durch die Ausrichtung der affectio dar

Signifikant zeigt sich die Affizierung anhand der uumlber die lectio sich konstituierende me-ditatio aufgrund der imaginierten Begebenheit in Verbindung mit der oratio die wiederum ihren Ausdruck in den Psalmen findet Als Ausweis der inneren Verletzlichkeit seiner mensch-lichen Natur (in natura sensibili)32 ist die Schilderung von Christi Gebet auf dem Oumllberg zentral Ob der Vorstellung des Todes (imaginatio mortis) die in seine empfindsame Seele eindrang wird er von affectus umschlungen (complexabatur affectu) Seine innere Bewegtheit wird mit den Tropfen blutigen Schweiszliges die seinen Koumlrper hinab rannen verdeutlicht der Affekt der

29 LV 517ndash20 S 75ndash7630 LV 517 S 7531 Ebd32 LV 518 S 75ndash76

Meditation und Gebet 279

Furcht (anxietas) als Empfindung steigt zwar in seinem Geist auf (in spiritu) der Nachvoll-zug erfolgt jedoch uumlber die aumluszligeren (imaginierten) Zeichen33 Die Meditation laumlsst den Leser darauf fragen bdquoO Herrscher und Herr Jesus woher kommt diese furchtbare Angst deiner Seele und dein angstvolles Flehen Hast du denn dem Vater dein Opfer nicht mit freiem Willen ge-brachtldquo34 Die Erklaumlrung folgt sofort Fuumlr die Bestaumlrkung des Glaubens hat Christus wahrhaft die sterbliche Natur angenommen damit der Mensch Hoffnung schoumlpfen kann sollte er aumlhn-liche Bedraumlngnis und Furcht erleiden denn aufgrund der Hoffnung richtet der Mensch seine Liebe auf Christus das Ziel wiederum willentlich (voluntas) aus Die offenkundigen (aumluszligeren) Zeichen des Leids in Christi menschlicher Natur sind das entscheidende Kriterium fuumlr die selbstreflexive Erkenntnis des LesersBetrachters Es ist die Erkenntnis dass Christus wahr-haftig die Schmerzen und das bittere Leid der Menschen mit fuumlhlbarer (sensu) Pein durchlitten hat35 Die Schilderung der Todesangst Christi ist damit Grundlage der im ersten Satz der fuumlnf-ten Frucht geforderten inneren Teilhabe (pii considereare) fuumlr die compassio den Nachvollzug seiner noch weiterhin zu durchleidenden koumlrperlichen wie seelischen Pein36

Diese Erkenntnis stuumltzt nun das ergaumlnzende Beten der Psalmen da diese einerseits die geforderten Affekte und den Affektreiz bekraumlftigen zugleich aber auch das selbstreflexive Moment herausarbeiten Die seelische Bedraumlngnis Christi auf dem Oumllberg wird begleitet und sozusagen von der Schilderung des Verrates Judasrsquo und der Bedraumlngung durch die Haumlscher umrahmt und aufgrund des Einbindens der Psalmen 38 41 und 55 in genau diese Meditationen zu einem inhaltlich kongruenten Gebet gestaltet Alle drei Psalmen wobei besonders Psalm 55 zitiert wird (Verse 13ndash15) nehmen Bosheit Verrat und Bedraumlngnis durch Freund und Feind in den Blick Hierdurch werden gerade das Verlassensein und das Ausgeliefertsein gegenuumlber den Misshandlungen in den Vordergrund gestellt die beschriebene Furcht Christi begleitet und durch das personalisierte Gebet zur emotionalen Ausrichtung des Beters selbst Nicht allein der einzelne Psalmvers wird dabei gebetet sondern ganz der mnemotechnischen Konzeptuali-sierung verpflichtet bildet der Vers den Ausgangspunkt und schlieszligt die Betrachtung und das Gebet des gesamt Psalms mit ein37 Der Klage uumlber den Vertrauensbruch durch den Freund (Ps 5513 ebenso Ps 3813 und Ps 41) und der Bedraumlngnis durch Frevler an deren Haumlnden Blut klebt (Vers 24) geht in Analogie zu Christi Gebet zum Vater auf dem Oumllberg die Anrufung Gottes voraus er moumlge das Beten und Flehen erhoumlren (exaudi orationem meam deprecationem meam)

33 Ebd34 Schlosser (wie Anm 19) S 51 LV 52 S 7635 LV 52 S 76 ndash Bereits Bernhard von Clairvaux formulierte Gott bot den Zugang zu sich selbst uumlber die Affekte weshalb die Inkarnation notwendig war um die affectiones des Menschen zuruumlckzugewinnen vgl B von Clairvaux Sermones super canticum canticorum 205 in Bernhard von Clairvaux Saumlmtliche Werke latdt hg v G Winkler Innsbruck (1996) Bd 5 S 28428536 LV 517 S 75 Nochmals abschlieszligend wird dies als identifikationsstiftendes Vorbild am Ende (vierte Meditation fuumlnften Frucht) mit dem Bild der gefesselten Haumlnde des unschuldigen Lammes und dem eingeforderten Stoumlhnen und der Beschreibung des durchdringenden Schmerzes der die Herzen der Juumlnger bei diesem Anblick durchstach (doloris aculues discipolorum vorda penetravit) vor Augen gestellt Vgl LV 520 S 7637 Zur Mnemotechnik allgemein M Carruthers The Book of Memory A Study of Memory in Medieval Culture Cambridge [ua] 122006 Zu beachten sind ebenso F A Yates The Art of Memory London 1966 M Evans The Geometry of Mind in Architectural Association Quarterly 124 (1980) S 32ndash55

280 Anselm Rau und Johanna Scheel

(Vers 1ndash8) Dabei wird die Angst (conturbatus sum) das Beben des Herzens in der Brust und das Befallenwerden vom Schrecken des Todes beschrieben (cor meum conturbatum est in me et formido mortis cecidit super me) ebenso das Erfasstsein von Furcht Zittern Schaudern und Entsetzen (timor et tremor venerunt super me et contexerunt me tenebrae) Der Nachvollzug der emotionalen Disposition Christi wird durch die kalkulierte Verknuumlpfung mit Psalm 38 zu-gleich ebenso zur detailreichen Klage in Furcht und Schrecken ob der eigenen Suumlndhaftigkeit Judas stellt natuumlrlich fuumlr den Abgleich das Negativbeispiel Doch im Gegensatz zu ihm zeigt der Betende in seiner demuumltigen Hinwendung zu Gott in Schmerz und Furcht das in ihn gesetzte Vertrauen das auch Jesus unter Beweis stellte Die Psalmen bieten hierfuumlr das passende Mittel der notwendigen Ausrichtung in der affectio

Ein interessanter Punkt sei in Bezug auf die Ausfuumlhrungen in De meditando hinsichtlich des Eifers (zelus) fuumlr die gerechte Sache noch genannt Die Sanftmut Christi wird gerade da-durch vor Augen gefuumlhrt dass er im Sinne des immerfort zur Vergebung bereiten Gott seinen Haumlschern guumltig begegnet da er sich seinen Peinigern nicht im Zorn (ira) verschloss (Ps 7710)38 Er haumllt naumlmlich sogar seinen Verteidiger ndash in der exegetischen Tradition Petrus vor allem dann auch in der bildenden Kunst ndash zuruumlck und bremst dessen gerechten zelus sein rechtmaumlszligiges eigentlich tugendhaftes eifersuumlchtiges Streben fuumlr das geliebte Objekt und heilt sogar ein abge-schlagenes Ohr Dieser Eifer der wie in De meditando beschrieben ohne Hinterlist ist nicht aus Ignoranz (repraumlsentiert durch die HaumlscherPeiniger) gegenuumlber der Wahrheit (in Christus) hervorgegangen zeigt die gute Absicht die durch Beharrlichkeit ans Ziel fuumlhrt und laumlsst somit die Liebe nicht lau werden Petrus wird als Identifikationsfigur installiert und am Ende aber-mals Judas entgegen gehalten Letzterer wurde zwar schlieszliglich aufgrund seiner Tat von Reue ergriffen jedoch war er nicht faumlhig durch die Hoffnung auf das Gute Christus Vergebung zu ersehnen und wurde von Bitterkeit (amaritudo) erfuumlllt so dass er den Tod und nicht das ewige Leben ersehnte

Meditationsschemata werden gerne aufgrund der ihnen innewohnenden Abfolge als starre Konstrukte und allein auf einen miszliginterpretierten geistigen Aufstieg abzielend hin verstan-den Doch beweist gerade das Lignum vitae eine hohe Flexibilitaumlt fuumlr den alltaumlglichen Gebrauch und zudem die eigentliche Intention die Formung von affectus

Gerard Zerbolt van Zutphen

Das stufenweise emotionale Gebet und die Meditation begegnen ebenfalls ndash allerdings weniger stark schematisiert als im Lignum Vitae ndash in einem Standardwerk der niederlaumlndischen Froumlm-migkeitsliteratur des 15 Jahrhunderts In De spiritualibus ascensionibus stellt Gerard Zerbolt

38 Im Tugend- und Lastersystem ist die Unterscheidung von zelus ira und furor sehr entscheidend bezuumlglich des guten und schlechten Strebens und damit hinsichtlich rationalen Ordnung des Geistes Zum tugendhaften und lasterhaften Zorn und seiner Aspekte vgl Richard von St Viktor Benjamin minor 40ndash44 PL 196029-033 ndash Gerade bei der Verurteilung Christi durch Pilatus (LV 624 S 77) wird das Thema der rasenden Wut (zelus invidiae) und des gerechte Zorns (zelus iustitia) nochmals differenziert

Meditation und Gebet 281

von Zutphen ein Autor der devotio moderna handbuchartig sein Aufstiegsmodell dar39 Darin vermittelt er seinen Mitbruumldern und einem frommen Laienpublikum ein ausgekluumlgeltes System von geistigen Uumlbungen die sich nicht nur auf den eigentlichen Gebetsakt beziehen sondern habituell im Alltag Anwendung finden sollen indem sie eine Transformation des Menschen be-wirken Er geht dabei von dem uumlblichen zeitgenoumlssischen theologischen Anthropologiemodell der Seele als durch Suumlnde verschmutzte imago Dei aus und stuumltzt sich auf bekannte moraltheo-logische Emotionstheorien die er jedoch stark ausweitet indem er den Emotionen eine genaue Funktion und eine Schluumlsselrolle im Erkenntnisprozess zuweist Die formula meditandi40 be-schreibt Gerard als inhaltlich verschieden konnotierte Selbstuumlberpruumlfungen in der die dadurch produzierten Emotionen wie Zerknirschung (compunctio bzw contritio) Furcht (timor) oder Hoffnung (spes) nicht nur bewusst gemacht sondern produktiv umgewandelt werden um zu Instrumenten und Stufen des weiteren Aufstiegs zu werden41 Diese Aufstiege sind ein Prozess der Selbsttransformation des Menschen der sich vollzieht indem der Mensch sowohl seinen urspruumlnglichen Zustand diese Transformation selbst als auch die Erfahrung seiner Veraumlnde-rung mit den erreichten Stufen emotional (ex affectu) erkennt (cogitare) und fuumlhlt (sentire)42 Aumlhnlich wie bei Hugo von St Viktor formuliert Gerard dass der Betende immer einen Affekt und ein Verlangen (desiderium) annehmen solle die zu den aktuellen Uumlbungen oder Medita-tionen passe43 Die Selbsttransformation im geistigen Aufstieg wird nach Gerard ebenso im uumlb-lichen Schema der lectio meditatio und oratio geuumlbt und an verschiedenen materiae meditandi44 vollzogen Die Affekte werden anhand dieser materiae erzeugt katalysiert und in das Gebet

39 Die Schrift (im Folgenden De Spir Asc) wird zitiert nach der Edition von F J LegrandN Staubach (Hgg) Gerard Zerbolt von Zutphen De Spiritualibus Ascensionibus La monteacutee du coeur Turnhout 2006 Vgl zur affektiven Konnotation von Gerards Gebetssystematik M Goossens De meditatie in de eerste tijd van de moderne devotie HaarlemAntwerpen 1954 Er stellt den Affekt als Wesensmerkmal des Gebets bei Gerard fest ebd S 118 Zur Einbindung der Schrift innerhalb der Gebetstheorien der Devotio Moderna und zum Stellenwert der affektiven Selbstreflexion auch in Beziehung zu zeitgenoumlssischer Kunst vgl J Scheel Das altniederlaumlndische Stifterbild Emotionsstrategien des Sehens und der Selbsterkenntnis Berlin 2014 bes S 155ndash171 230ndash241 414ndash42640 De Spir Asc Kap 641 Gerard spricht synonym von Aufstiegsstufen und affectus zB in Kap 27 bdquoIn hac prima ascensione vel primo affecto [hellip]ldquo Oder er benennt Affekte wie Hoffnung und Furcht als Stufen bdquo[hellip] istis duobus gradibus timoris et spei [hellip]ldquo Kap 26 Insgesamt benutzt er die Vokabeln affectus und affectio synonym zwar begegnet in Bedeutung von Strebevermoumlgen meist affectio und ersetzt also die vires durch die affectiones animae besonders wenn es um lasterhafte Affekte geht doch werden die einzelnen Affekte durchgehend als affectus nicht als affectio bezeichnet42 De Spir Asc Kap 643 Das Gebet solle nie bloszliges Lippenbekenntnis sein sondern immer aus der Wurzel des Herzens verfolgt werden und zwar stets aus den Affekten der Furcht Trauer Freude Bewunderung Dankbarkeit etc bdquo[hellip] ex affectu timoris meroris dilectionis admiracionis congratulationis etcldquo De Spir Kap 46 Diese Affektreihe stimmt mit derjenigen bei Hugo in De modo orandi uumlberein siehe oben S 273f44 Diese sind zunaumlchst die bekannten Meditationsinhalte wie man sie allenthalben in theologischer Literatur des Mittelalters findet Leben und Passion Christi das Juumlngste Gericht und die eigene Todesstunde (diese bspw bereits in Bonaventuras De Triplici Via Kap 3) Bei Gerard werden ebenfalls Houmllle und Himmelreich sowie die eigenen Suumlnden und Wohltaten Gottes eingeschlossen sowie das eigene Selbst in dem und waumlhrend des Gebets Zum Kontext der neuen Meditationswuumlrdigkeit des eigenen Selbst in den Lehren der Devotio Moderna vgl Scheel (cf Anm 39)

282 Anselm Rau und Johanna Scheel

uumlberfuumlhrt Dies macht Gerard wie Hugo anhand des Psalmengebets anschaulich indem er einerseits beispielhaft zeigt wie ex affectu ein Psalm gebetet wird waumlhrend er gleichzeitig bei vorheriger Thematisierung der lectio dessen Erregung durch die Lektuumlre betont

bdquoWenn du dich in deiner ersten Uumlberpruumlfung diskutiert hast und entdeckst dass deine Suumlnden zahlreicher sind als die Zahl des Sandes der Meere forme in dir den Affekt der Demut oder Trauer und nimm die Rolle (persona) eines Dieners an der seinen Herrn beleidigt hat Aus diesem Affekt heraus forme ein Gebet und sage sbquoGott sei mir gnaumldig nach deiner Huld tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmenlsquo (Ps 503) Wenn du in der zweiten und dritten Uumlberpruumlfung dich selbst diskutierend bemerkst dass dein Herz mit schlechten Begierden und boumlsen Verlangen gefuumlllt ist forme in dir wiederum den Affekt der Demut und nimm die Rolle eines Kranken an der nach Medizin fragt und sage sbquoHerr sei mir gnaumldig heile mich denn ich habe gegen dich gesuumlndigtlsquo (Ps 405) oder sbquoNichts blieb gesund an meinem Leib weil du mir grollst weil ich gesuumlndigt blieb an meinen Gliedern nichts heillsquo (Ebd) etc Wenn du dich im zweiten Aufstieg in Furcht durch Meditationen des Todes und des Gerichtes oder der Houmllle uumlbst nimm den Affekt der Furcht ein und die Rolle eines Suumlnders vor dem Richter an in Angst und Zittern als seist du schon uumlberfuumlhrt und der Richtspruch gegen dich gesprochen und sage sbquoVerdamme mich nicht Herr gehe nicht ins Gericht mit deinem Dienerlsquo (Ps 1422) oder sbquoHerr in deiner Wutlsquo (Ps 62) etc Wenn du dich aber in Hoffnung uumlbst durch die memoria des Him-melreiches nimm den Affekt der Liebe an und bete mit innigem Herzen und sage sbquoIch erstrebe eines Herr dieses wuumlnsche ich dass ich in dem Haus des Herrn wohnen darflsquo (Ps 264) oder sbquoWie der Hirsch lechzt nach frischem Wasserlsquo (Ps 412) etc Und ebenso kannst du mit anderen Affekten jene aus diesen formen und musst du die Rolle annehmen die deine Uumlbung erfordert und deine Meditation verlangtldquo45

Uumlber Hugo hinausgehend wird hier dem Betenden empfohlen sich konkrete Szenarien und personae zu imaginieren um die gewuumlnschten Affekte einzuuumlben Die Psalmenbeispiele mit den zugeordneten Affekten uumlberschneiden sich bei beiden Autoren bei Psalm 6 (timor) so-wie Psalm 26 (Gerard spes Hugo bona praesumptio)46 Besonders bei der Einuumlbung von timor und der Erwaumlhnung des Richtspruches in Kombination mit den Buszligpsalmen 6 und 142 stehen unmittelbar zeitgenoumlssische Darstellungen des Weltgerichts bzw der Auferstehung der Toten vor Augen wie man sie in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern in Kombination mit eben jenem Buszligpsalm 6 aber auch in der altniederlaumlndischen Malerei findet47 Psalmen koumlnnen zu den

45 bdquoUnde breviter ut modum habeas secundum predicta si te in prima examinacione discusseris et inveneris peccata tua multiplicata super numerum arene maris forma in te affectum humilitatis vel meroris et assume personam servi qui dominum suum offendit Et ex tali affectu forma oracionem dicens Secundum multitudinem miseracionum tuarum dele iniquitatem meam [hellip] Si te in secundo ascensu in timore per meditaciones mortis vel iudicii vel inferni exercueris assume affectum timoris et assume personam rei astantis coram iudice cum timore et tremore quasi iam convictus contra quem de iure proferenda est sentencia et dic Noli me condemnare Non intres in iudicium cum servo tuo Vel Domine ne in furore etc [hellip] Et sic de aliis affectibus quos ex istis formare poteris et assumere debes sicut exercicium tuum exigit et meditacio tua requiritldquo De Spir Asc Kap 4646 Zu den Psalmen die Hugo als Beispiele benutzt siehe oben S 273f47 Vgl dazu J Scheel Sich selbst sehen ndash der Betrachter in und vor dem Bild Spiegel- und Stifterfiguren in Texten und Bildern des 15 Jahrhunderts in E KochH Schlie (Hgg) Orte der Imagination ndash Raumlume des Affekts Die mediale Formierung des Sakralen Muumlnchen 2015

Meditation und Gebet 283

bdquototal memoriertenldquo48 Texten des Mittelalters gezaumlhlt werden weswegen sie sich beiden Autoren als Beispiele anbieten Sie benutzen die Buszligpsalmen (hier die Psalmen 6 31 [Hugo] 50 142) die im Stundenbuch fest als eigenstaumlndiger Gebetstext verankert sind und ebenso in der To-tenvigil ihren Platz haben ndash zusammen mit Gerards weiteren Beispielpsalmen 40 und 4149 Das Stundenbuch ist ein Medium in dem Psalmwort und bildliche Darstellung auf die Theorie des stufenweisen emotionalen Gebets und der Selbsttransformation treffen koumlnnen

Die Miniaturen die der Totenvigil bspw in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern des 15 Jahr-hunderts voranstehen zeigen oftmals eine ganzseitige Totenmesse sowie in der M-Initiale der gegenuumlberliegenden Textzeile50 zwei betende einander zugewandte Seelen im Fegefeuer (vgl

48 Zu diesen Texten gehoumlrten bspw das Pater Noster oder Ave Maria waumlhrend denen gleichzeitig auch uumlber bestimmte Aspekte zB der Passion meditiert werden konnte und sollte vgl P Saenger Books of Hours and the Reading Habits of the Later Middle Ages in R ChartierA Boureau (Hgg) The Culture of Print Power and the Uses of Print in Early Modern Europe Cambridge 1989 S 141ndash173 hier S 154 Bei den Psalmen genuumlgt wie man hier sieht allein die Nennung des Incipit oder bestimmter Verse die dem Leser so vertraut sind dass sie den gesamten Psalmentext mit assoziieren49 Zwar ist der Einsatz von Psalmen in mittelalterlichen Stundenbuumlchern mitunter verschieden doch kann man beispielhaft an einer Gruppe von Stundenbuumlchern in niederlaumlndischer Sprache diese Psalmen finden Diese Stundenbuumlcher sind mit der Uumlbersetzung des Gruumlndungsvaters des Devotio Moderna Geert Grote versehen oder stehen mit ihr in Verbindung N van Wijk Het getijdenboek van Geert Groote Naar het Haagse handschr 133 E 21 Leiden 1940 diese hauptsaumlchlich anhand einer einzigen Handschrift erarbeitete Edition wird hier in Ermangelung einer kritischen Edition genutzt Das getijdenboek enthaumllt einen Kalender des Bistums Utrecht fuumlnf Offizien (Marienoffizium Heiliggeistoffizium das lange und kurze Heiligkreuzoffizium Stunden der ewigen Weisheit) Buszligpsalmen Litanei und Totenvigil 50 Es ist der Beginn des invitatorium bdquoMi hebben ombeuanghen die suchten des dodes die pijnlike seer der hellen heben mi ombeuanghenldquo Wijk (cf Anm 49) S 156 ndash bdquoMich haben umfangen die Seufzer des Todes die qualvollen Schmerzen der Houmllle haben mich umfangenldquo

Abb 2 Meister des Hugo Jansz van Woerden Totenmesse und Seelen im Fegefeuer ca 1475ndash1500 Den Haag Koninklijke Bibliotheek Ms 76 G 13 fol 85vndash86r

284 Anselm Rau und Johanna Scheel

Abb 2)51 Das Fegefeuer bespricht Gerard eher marginal in seinem Traktat Fuumlr die affektive Meditation des eigenen Todes liefert er allerdings einerseits eine Anleitung fuumlr den Betenden die Affekte nun bereits zu erwecken die vor waumlhrend und nach dem eigentlichen Todeszeit-punkt entstuumlnden ndash und sich mit ihnen im Gebet selbst zu formen52 Andererseits raumlt er dem Glaumlubigen sich zum Zwecke des ex affectu-Gebets einen Koumlrper in seinen Verwesungsstadien vor Augen zu halten53 und was mit ihm selbst bei der Beerdigung passiere54 Das Fegefeuer ist ein im Sinne mittelalterlicher Moraltheologie produktiver Gebetsinhalt da der Glaumlubige im steten Oszillieren zwischen spes und timor besonders gut zur caritas aufzusteigen vermag Diesen Tenor findet man ebenfalls bei Geert Grote in seinem getijdenboek bei der Vorrede der Toten-vigil Hier raumlt er dem betenden Leser zum Wechsel aus Psalmen und Antiphonen in Hinblick auf die Erregung von Furcht und Angst Liebe und Hoffnung in der Ausrichtung auf Gut und Boumlse und mit Blick auf das Fegefeuer bdquoHier beginnt die Vigil in duytsche die so organisiert ist denjenigen zu helfen die von hinnen gefahren sind in der Freundschaft Gottes in das Fegefeuer Und ebenso dazu [gedacht ist] den Lebenden zu helfen die sie lesen damit ihnen das Wissen um die kommenden Dinge eingedruumlckt werde auf dass sie glauben hoffen und lieben an die Dinge in Herrlichkeit Und [sie] sich dafuumlr bereit machen und sich waumlhrenddessen die ganze Zeit fuumlrchten dass ihre Tage schnell vergehen Auf dass sie sich fuumlrchten aumlngstigen grauen und beben vor dem mannigfaltigen Leid der Angst und dem Elend die den Boumlsen ereilen werden und sie so darum ihr Leben lang ndash das hier aumluszligerst kurz ist ndash darauf hinarbeiten diesem Leid zu entgehen und [die Vigil ist auch hilfreich] weil ein Mensch diese beiden Dinge ndash Gutes in Liebe und Boumlses in Angst ndash besser ansehen (aensien) kann und erkennen und sich uumlberdenken damit er besser bitten kann und [es] mehr begehrt (begheert) und mehr liebt (myn[n]t) fuumlr diejenigen zu bitten die im Fegefeuer sind fuumlr ihre baldige Erloumlsung und dafuumlr Gottes Ehre zu vermehren [hellip] So hilft das Bitten der Lebenden den Toten und das Bitten fuumlr die Toten hilft den Lebendigen sich auf den Tod vorzubereiten [hellip] Und dazu ist das Singen dieser Psalmen heranzuziehen [und zwar] immer nach den Bedeutungen der Antiphone und den Sinn der

51 Die Darstellung von Seelen im Fegefeuer taucht als Buchillumination ab dem 13 Jahrhundert bereits vereinzelt auf und diente in Kombination mit Jenseitsvisionen Bibeltexten und moralisierenden Inhalten vor allem dem Gedenken an bereits Verstorbene wie auch zur persoumlnlichen Mediation des Lesers Oft findet eine narrative Einbindung statt Vgl dazu M Borowska Das Entfachen des Fegefeuers in der europaumlischen Miniatur des 13 Jahrhunderts in Umeni 57 (2009) S 310ndash325 Zum ikonografischen Kontext der hier gewaumlhlten Illumination vgl die Untersuchung von I M Veldman Purgatory in the Low Lands in B BukovinskaacuteL Slaviacuteček (Hgg) Pictura verba cupit Essays for Lubomiacuter Konečnyacute Prag 2006 S 169ndash180 va 170ndash17252 De Spir Asc Kap 19 In den folgenden Kapiteln stellt Gerard dem Leser dasselbe Prinzip an den Themen des Juumlngsten Gerichts der Houmllle und des Himmelreiches vor 53 bdquoItem interdum propone oculis tuis ymaginem alicuius hominis morientis et diligenter respice formam modum et ordinem quibus ad mortem deveniturldquo De Spir Asc Kap 1954 Weitere beliebte Illustrationen zum Totenoffizium im Stundenbuch des 15 Jahrhundert sind ebenfalls die Darstellung eines Toten um dessen Seele Engel und Teufel kaumlmpfen Schaumldeldarstellungen Seelen in Abrahams Schoszlig Himmel und Houmllle der Tod als Angreifer die Auferweckung des Lazarus sowie die Psychostasis mit Michael als Seelenwaumlger Diese Motive werden eher als ganzseitige Miniaturen dargestellt und bekommen zum Teil in der begleitenden Initiale jene zwei betenden Seelen im Fegefeuer hinzugefuumlgt

Meditation und Gebet 285

Antiphone soll man dazu in den Psalmen bedenken in allen Stundengebeten Dabei ist gut dass man sowohl vor als auch danach die Antiphonen spreche und schreibeldquo55

Mit der sich gegenseitig amplifizierenden Kombination von selbstreflexiven Affekt er-regendem und ausdruumlckendem Psalmentext mit der bildlichen Darstellung von Beerdigung mit Fegefeuer und mit derartigen Aufstiegsmodellen vertraut kann der betende Leser hier den eigenen Tod und die Bestrafung seiner Seele als Konsequenz der eigenen irdischen Suumlndhaftig-keit produktiv in seine Bemuumlhungen des geistigen Aufstiegs und seine Selbsttransformation kanalisieren

Imagination und Illumination

Das Gebetsleben des mittelalterlichen Glaumlubigen ist gekennzeichnet durch seine Affektivitaumlt Die affectus werden mit Gebetstexten und Psalmenreihen sowie mithilfe bildlicher Darstel-lungen sorgfaumlltig kultiviert und systematisch eingeuumlbt Dabei sind dies altbekannte ndash weil biblische ndash Text- und Bildinhalte deren affizierendes Potential auf neue Arten ausgeschoumlpft wird Texte und physische wie gerade geistige Bilder erinnern den Betenden nicht nur unver-bindlich an bereits bekannte Ereignisse Situationen und Figuren sondern lassen ihn sich mit diesen durch affektive und reflexive Meditationspraktiken identifizieren Fremde Worte und Emotionen werden darin zu den eigenen Vorbilder aus dem Kreis der Heiligen werden so zu Imaginationsfiguren das Selbst wird auf Gott ausgerichtet und in all seinen Aspekten gezielt emotional reflektiert So unterschiedlich die formale Herangehensweise dieser Praktiken bei den drei untersuchten Autoren Hugo von St Viktor Bonaventura und Gerard Zerbolt van Zutphen zu sein scheint vermitteln sie doch die selbe zentrale Maszliggabe oratio est affectus ndash bdquoGebet ist Affektldquo

Uumlbersetzung Hugo von St Viktor De meditando PL 176 993ndash99

Die Meditation ist die haumlufige Erwaumlgung (cogitatio) der Ursache (causa) und des inneren Be-weggrundes (ratio) eines einzelnen zu untersuchenden Gegenstandes (res) was seine Art sei (modus) was die Ursache und was der Beweggrund

Es gibt drei Arten (genus) der Meditation eine in Bezug auf die Schoumlpfung (in creaturis) eine hinsichtlich der Schrift (in scripturis) und eine hinsichtlich der Sitten (in moribus) Die erste erwaumlchst aus der Bewunderung (admiratio) die zweite aus der Lektuumlre (lectio) die dritte aus der umsichtigen Beobachtung (circumspectio)

Zuerst bringt die admiratio die Frage (quaestio) hervor die Frage das Erforschen (investi-gatio) und das Erforschen die Entdeckung (inventio) Dies ist damit die Bewunderung der Ord-

55 Fuumlr den altniederlaumlndischen Text vgl Wijk (cf Anm 49) S 155 Zum Antiphon das der Vigil vorangestellt ist vgl Anm 50

286 Anselm Rau und Johanna Scheel

nung (dispositio) die Frage nach der Ursache und die Entdeckung des inneren Beweggrundes Die Bewunderung beruht auf der Betrachtung der Ordnung im Himmel das ist die Gleich-artigkeit von allem und der Houmlhen und der Tiefen (alta et depressa) auf der Erde Die Frage betrifft die Ursache (causa) des irdischen Lebens auf Erden und des himmlischen Lebens im Himmel Das Erforschen fragt nach dem inneren Beweggrund dass so wie die Erde auch das irdische Leben beschaffen ist und dass der Beschaffenheit des Himmels selbst auch das himm-lische Leben gleicht

Bei der Lektuumlre (lectio) aber erfolgt die Betrachtung (considerare) folgendermaszligenAls erstes dient die lectio dazu durch die Bereitstellung des Stoffes (materia) die Wahr-

heit zu erkennen (cognoscere) die meditatio fuumlgt ihn zusammen (coaptare) die oratio hebt ihn empor (sublevare) die operatio (Ausfuumlhrung) wendet ihn an (componere) und die contemplatio frohlockt in ihm selbst (exsultare)

Es ist durch die Meditation der Schriften zu erkennen auf welche Weise es sich gehoumlrt etwas zu wissen Als Beispiel steht geschrieben Declina a malo et fac bonum (Vg Ps 3627 ndash Wende dich ab von dem Boumlsen und tue Gutes EUuml Ps 3727) Deshalb wurde zuvor gesagt die meditatio wendet sich der lectio zu um sich vom Boumlsen abzuwenden und darauf Gutes zu tun Der Grund (causa) hierfuumlr ist wenn sich nicht zuerst das Boumlse zuruumlckzoumlge wuumlrde das Gute nicht herantreten koumlnnen Der innere Beweggrund (ratio) aber ist so wie zuerst die Sproumlsslinge des Boumlsen mit ihrer Wurzel ausgerissen werden muumlssen so muss danach das Gute (ein-)ge-pflanzt werden Warum wurde daher gesagt Wende dich ab von dem Boumlsen Weil es einem auf dem Weg begegnet Man wendet sich deshalb ab weil wir es wo auch immer nicht vermoumlgen durch Staumlrke zu widerstehen wir entkommen ihm lediglich wenn wir uns mit Klugheit und Vernunft (consilio et ratio) von ihm abwenden Auch muumlssen wir uns vom Boumlsen abwenden um dem Naumlhrstoff (materia) zur Suumlnde aus dem Weg zu gehen ndash beispielsweise ist von Hochmut (superbia) Begehrlichkeit (incontinentia) Begierde (concupiscentia) Neid (invidia) und Streit (contentio) abzulassen um sich vom Reichtum (abundantia) der Schoumlnheit (species) des Flei-sches und der Besitzgier (amor possessiones) abzuwenden Dies bedeutet bdquosich abzuwendenldquo Desgleichen wenn auf diese Weise von allem Boumlsen sich abzuwenden angeraten ist so wird die Verrichtung alles Guten verlangt Und so ist also der ebenso schuldig bzw angeklagt der allein nur alles Boumlse meidet wie derjenige der nicht zugleich all das Gute tut Aber wenn dies so ist wer ist dann kein Angeklagter (reus) Folglich wird uns anbefohlen uns von allem Boumlsen loszusagen Andererseits kommt das Gute zum Einen aus dem was sich gehoumlrt (necessitas) und zum anderen aus dem Willen (voluntas) Es gehoumlren sich die Dinge einer Vorschrift (praecep-tum) und die eines Geluumlbdes (votum) alles uumlbrige wird erfuumlllt wenn eine Sache [also Schuld] mehr als nur vergolten wird (supererogare) und einem nichts mehr anlastet

Daher zielt die Meditation bei der lectio darauf ab zu ergruumlnden auf welche Weise et-was das erkannt wird gut ist warum und wie es zu erreichen ist weil es ndash ist es [ersteinmal] erkannt ndash auch zu verrichten ist Die Meditation ist das Entdeckungsvermoumlgen der vorgefassten Absicht (excogitatio consilii) zu erwaumlgen auf welche Weise das Gute das erkannt wurde erfuumlllt wird denn das Erkannte ist unbrauchbar wird es nicht vollbracht

Deshalb ist die Meditation bei der lectio eine dreifache Betrachtung nach der historia der allegoria und der tropologia Gemaumlszlig der historia erfolgt die Meditation wenn wir nach dem

Meditation und Gebet 287

vollendeten inneren Beweggrund der Dinge fragen die geschehen sind und diesen hinsichtlich seiner uumlbereinstimmenden Art und Weise (modus) bezuumlglich der Zeiten (tempora) und Orte (loci) bestaunen (admirare) Bei dieser Betrachtung der goumlttlichen Ratschluumlsse (iudicium) laumlsst man nicht davon ab daruumlber nachzudenken dass diese richtigen und gerechten (rectus et iustus) Entscheidungen zu keiner Zeit den Beistand [Gottes fuumlr die Menschen] entzogen (deesse) und durch sie das geschah was sich gehoumlrte und vergolten wurde was gerecht war (iustum fuit)

Die Meditation hinsichtlich der allegoria beschaumlftigt sich mit der Gliederung (dispositio) der vorangegangenen und zukuumlnftigen Dinge und so wie fuumlr den Verstand (intelligentia) an-gemessen richtet sie dabei ihre Aufmerksamkeit auf deren uumlbereinstimmende Bedeutung in ihrer bewundernswerten Vernunftmaumlszligigkeit (ratio) und Vorhersehung (providentia) und auf ihre fuumlr den Glauben (fides) geschaffene Gestalt (forma)

Bezuumlglich der tropologia beschaumlftigt sich die Meditation damit welche Frucht die Worte der lectio hervorbringen und erforscht (exquirere) was diese wenn sie ausgefuumlhrt werden [im Sinne des eigentlichen Aussprechens der Worte aber auch die Ausfuumlhrung ihres Inhaltes] ein-pflanzen (insinuere) und dabei zugleich lehren was zu vermeiden ist Sie stellt vor Augen was durch die lectio der Schrift zur Unterweisung (eruditio) zur Ermahnung (exhortatio) zur Troumls-tung (consolatio) und zum Schrecken (terror) dient Hierdurch erleuchtet die tropologia dahin-gehend was zum Verstehen der Tugenden (virtus) fuumlhrt sie naumlhrt (nutrire) den Affekt (affectio) und lehrt (edocere) die Lebensfuumlhrung auf dem Pfad der Tugenden

Die Meditation der Sitten (mos) erfolgt gemaumlszlig der Affekte (affectus) der Erwaumlgungen (cogi-tationes) und der Werke (opera)

Hinsichtlich der Affekte ist zu betrachten wie sie recht und aufrichtig (rectus et sincerus) zu sein vermoumlgen damit ist gemeint auf das und zu was hin sie geschuldet sein muumlssen und in welcher Weise sie zu sein haben Zu differenzieren ist naumlmlich dass das was sich nicht gehoumlrt (non oportet) boumlse ist und zugleich das was sich gehoumlrt zu lieben ist ndash das zu lieben das sich gleichwie nicht gehoumlrt ist boumlse Daher handelt es sich um einen guten Affekt wenn er auf das ausgerichtet ist auf das er verpflichtet ist und in der Weise wie es sich gehoumlrt

Amnon liebte (diligere) seine Schwester und dies war der Affekt zu dem er bestimmt war doch weil er Boumlses begehrte war es nicht der Affekt wie er ihn schuldete (vgl 2 Sam 13) So kann der Affekt auf das gerichtet sein zu was er gehoumlrt dies aber nicht in der [angemessenen] Art und Weise Niemals aber kann der Affekt so sein wie er zu sein hat wenn er nicht auf das ihm Zugehoumlrige ausgerichtet ist Auf das ausgerichtet zu was er gehoumlrt bedeutet dass er recht ist und in der Art und Weise wie es sich gehoumlrt und dementsprechend ist er rein Daher werden die Affekte in den Erwaumlgungen betrachtet damit sie rein (mundus) und geordnet (ordi-natus) sind Rein sind sie wenn weder etwas Boumlses von den Affekten hervorgebracht wird noch das Boumlse die Affekte hervorbringt Dass sie geordnet sind meint wenn sie vernuumlnftigerweise aufgrund des ihnen eigenen Anlasses (suo tempore) aufkommen (advenire) Es ist nicht ohne Schaden (vitium) [naumlmlich im Sinne des korrekten Vorgehens nicht ohne Formfehler] bereits das Gute zu einem diesem nicht angemessenen Zeitpunkt zu erwaumlgen wie etwa an die lectio waumlhrend der oratio zu denken oder auch an die oratio waumlhrend der lectio

Bei den Werken ist als erstes zu betrachten was zum Beispiel durch die gute Absicht (bona intentio) geschieht Um eine gute Absicht handelt es sich wenn sie einfach und aufrichtig ist

288 Anselm Rau und Johanna Scheel

(simplex et recta) Die bona intentio ist arglos ohne Hinterlist (malitia) und aufrichtig ohne Ignoranz (ignorantia) Die naumlmlich ohne Hinterlist ist besitzt den Eifer (zelus) Ist sie aber aus der [bewussten] Unkenntnis gegenuumlber dem Wissen (scientia) (Roumlm 102) geboren verfuumlgt sie nicht uumlber den [wahren] Eifer Daher ist es notwendig dass die Absicht aufrichtig ist in der Bescheidenheit (discretio) und arglos im Wohlwollen (benignitas) Bei den Werken ist zu be-trachten dass sie aus der aufkommenden guten Absicht heraus mit beharrlicher Leidenschaft (fervor) schlieszliglich ans Ziel gefuumlhrt werden damit nicht die Beharrlichkeit (perseverantia) ge-laumlhmt (torpere) und die Liebe (amor) nicht lau wird (tepescare)

Auf gleiche Weise erfolgt die meditatio der Sitten in einer zweifachen Betrachtung naumlmlich einer inneren und einer aumluszligeren Die aumluszligere blickt auf das Ansehen (fama) die innere auf das Gewissen (conscientia) Die aumluszligere Betrachtung erfolgt gemaumlszlig dem was ziert (decere) und was nuumltzt (expedire) was als Beispiel (exemplum) dient und was den Lohn (meritum) hervorbringt ndash uns zum Lohn und den Naumlchsten als Beispiel Die innere Betrachtung dagegen schaut auf das Gewissen damit es rein (mundus) sei ohne Anklage (accusatio) zu erleiden (pati) ob nun durch die Laumlhmung (torpor) des Guten oder die Hartnaumlckigkeit (praesumptio) des Boumlsen Rein ist aber jenes Gewissen das weder durch das Vergangene zu recht angeklagt (accusare) noch durch das Gegenwaumlrtige unrechtmaumlszligig erfreut (delectare) wird

Daher laumlsst die meditatio der Sitten ihre Betrachtung nicht ruhen damit sie jegliche Re-gungen (motus) die sich im Herzen erheben bemerkt und erwaumlgt woher sie kommen und worauf sie abzielen (tendere) Das heiszligt woher sie kommen gemaumlszlig ihrem Ursprung und wo-nach sie streben hinsichtlich ihres Ziels Alles ist naumlmlich eine Bewegung aus irgendetwas und auf irgendetwas Die Bewegungen des Herzens sind manchmal offenkundigen Ursprungs manchmal entspringen sie aber auch Verborgenem Bei denen der Ursprung offenkundig ist ist er bisweilen durch das Gute bisweilen aufgrund des Boumlsen erwiesen Was offenkundig gut ist kommt von Gott was aber deutlich boumlse erscheint entspringt entweder dem Teufel oder dem Fleisch Dies sind naumlmlich die drei Urheber (auctores) aller Vorstellungen (suggestio) und aller Eingebungen (aspiratio) die unsichtbar an das Herz herantreten und aus jenen drei hervor-gehen Entspringen die Bewegungen des Herzens daher dem Verborgenen koumlnnen sie manch-mal aus dem Guten und dem Geheimen hervorgehen und sind manchmal boumlse und zweifelhaft (dubius) Die dem Guten entspringen kommen von Gott die aber dem Boumlsen entstammen sind entweder des Teufels oder des Fleisches

Die Bewegungen die folglich offenkundig sind sei es im Guten oder Boumlsen werden auf den ersten Blick durch ihren Ursprung angezeigt Jene aber die zweifelhaft bleiben hinsichtlich ih-res Grundes sind am Ende zu uumlberpruumlfen (probare) Ihr Ergebnis [oder Ausgang] (exitus) zeigt naumlmlich deutlich was vom Ursprung her verborgen war und deswegen muss derjenige der es nicht vermochte den Ausgangspunkt seiner Herzensbewegungen zu beurteilen (iudicare) das Ziel und die Ausfuumlhrung [bzw Vollendung] (finis et consummatio) untersuchen (investigare) Die Bewegungen naumlmlich die zweifelhaft und ungewiss sind sind vom verborgenen Guten oder Boumlsen Wie gesagt wurde haben die schlechten Regungen ihren Ursprung entweder beim Teufel oder im Fleisch Diese aber sind beide boumlse sie unterscheiden sich nicht indem oder durch was sie boumlse sind doch unterscheiden sie sich dahingehend dass die Regungen des Her-zens die dem Fleisch entspringen haumlufig aus einer Notwendigkeit (necessitas) heranwachsen

Meditation und Gebet 289

die aber die tatsaumlchlich vom Teufel kommen nehmen noch oumlfter wider der Vernunft (ratio) ihren Anfang (oriri) Was naumlmlich vom Teufel eingegeben wird (suggerere) ist in der Tat dem Menschen fremd und wird deswegen haumlufig von der menschlichen Vernunft abgelehnt weil er beispielsweise unlaumlngst gesaumlttigt Hunger leidet (pati) kurz zuvor noch trunken (inebriatus) vor Durst (sitis) gluumlht (aestuare) oder wenn er nach einem ausgiebigen Schlaf (dormitio) sich erhebend vom Traum (somnus) bedruumlckt (praegravare) wird

Hieraus also werden die Werke des Teufels differenziert betrachtet weil sie ja an den Men-schen von auszligen herangetragen werden und der menschlichen Vernunft fremd sind Bei den Werken des Fleisches und ihren Eingebungen liegt der Grund des Oumlfteren in einer vorangegan-genen Notwendigkeit Aber weil sie Ziel und Maszlig (modus et mensura) uumlbersteigen wachsen sie zum Uumlberfluss (superfluitas) heran Dies ist als Beispiel eben gerade dann der Fall wenn nach der Einnahme einer Mahlzeit der Hunger hemmungslos (immoderatus) begehrt (appetere) und nach Enthaltsamkeit (abstinentia) das Maszlig (mensura) bei der Aufnahme von Speise (edulium) nicht gehalten wird

Daher wird die meditatio der Sitten aufgrund eines dreifachen Urteils betrieben Das erste urteilt zwischen Tag und Nacht das zweite zwischen Tag und Tag und das dritte schlieszliglich untersucht den gesamten Tag (vgl Roumlm 145) Zwischen Nacht und Tag zu urteilen meint das Boumlse vom Guten zu (unter-)scheiden Die Beurteilung zwischen Tag und Tag bedeutet eine Un-terscheidung zwischen etwas Gutem und etwas Besserem vorzunehmen Uumlber den gesamten Tag zu richten ist schlieszliglich das einzelne Gute fuumlr den eigenen Lohn zu ermessen (aestimare)

So hat die meditatio der Sitten bei jeglichem Umgang (conversatio) das Ziel und die Rich-tung (directio) im Blick Das Ziel ist wohin man strebt die Richtung wodurch man leichter ans Ziel gelangt Jeder naumlmlich der zu irgend etwas strebt so wie etwas seine Bahn (cursus) lenkt und unaufhoumlrlich weiterzieht kommt schneller ans Ziel Es gibt daher Gutes durch das man stark bewegt ist (moveri) zugleich gibt es aber wenig her durch das man vorankommt (pro-moveri) Anderes dagegen fuumlhrt mit etwas Muumlhe (labor) zu groszligem Gewinn (fructus) Und diese sind folglich zu unterscheiden und das Bessere das mehr nuumltzt auszuwaumlhlen Welches auch immer mehr nuumltzt ist besser und es gehoumlrt sich jedes Werk auf seinen Ertrag hin zu beurteilen Indem viele diese Unterscheidung (discretio) nicht einhielten haben sie sich zwar aufs aumluszligerste bemuumlht sind jedoch nur wenig vorangekommen weil sie das Auge aumluszligerlich so sehr auf die Gestalt (species) der Werke richteten und nicht innerlich auf den Gewinn durch die Tugenden blickten Sie ergoumltzen sich daran groszlige Taten zu verrichten anstatt dass sie das Nuumltz-liche (utilia) uumlben (exercere) um sich selbst zu bessern (emendari) Dabei schaumltzten (diligere) sie vielmehr das durch das sie den Anschein erwecken (videri) konnten [so zu sein]

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zunaumlchst das was man schuldet entweder auf-grund einer Vorschrift (praeceptum) oder eines Geluumlbdes (votum) Diesbezuumlglich ist die erste Tat der meditatio zu ermitteln ist sie oder es erfuumlllt fuumlhrt es zum Lohn und wenn nicht bringt dies den Anklagezustand (reatus) hervor Es sind also zuerst die Dinge zu tun die nicht ohne Schuld (culpa) weggelassen werden koumlnnen Danach ist die meditatio alsdann so zu verrichten dass wenn etwas durch freiwillige Uumlbung (exercitatio) noch hinzugefuumlgt wird die Pflicht-erfuumlllung [eigtl Schuld] (debitum) nicht verhindert wird (impedire) Die einen die das nicht zu leisten vermoumlgen was sie schulden wollen was sie nicht muumlssen Die anderen wenn sie im-

290 Anselm Rau und Johanna Scheel

stande sind zu tun was sie schulden bringen freiwillig Hindernisse (impedimentum) mit sich indem sie etwas wollen was sie nicht muumlssen

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zwei Dinge des Boumlsen vor denen man bei der Ver-richtung von Gutem besonders auf der Hut sein muss die Betruumlbnis [Niedergeschlagenheit] (afflictio) und die Besessenheit [Vereinnahmung] (occupatio) Die afflictio fuumlhrt zur Bitterkeit (amaritudo) die occupatio zur Zerstreuung (dissipatio) Mit der afflictio verbittert die Suumlszlige (dulcedo) des Geistes und mit der occupatio wird die Ruhe (tranquillitas) zerstoumlrt (dissipare) Es herrscht Betruumlbnis wenn man fuumlr jene Dinge die man nicht vermag aufgrund der eigenen Ungeduld (impatientia) ungluumlcklich wird (urere) Dagegen handelt es sich um Besessenheit (occupatio) wenn man in seinem Handeln (nach seinem Vermoumlgen) aufgrund der impatientia gequaumllt wird (agitare) Folglich darf die Seele (animus) nicht aufgrund des Boumlsen verbittert wer-den sie muss ihr Unvermoumlgen (impossibilitas) geduldig (patienter) aushalten Genauso darf sie aber auch nicht vom Boumlsen eingenommen werden und darf ihr Vermoumlgen (possibilitas) nicht uumlber ihr eigenes Maszlig hinaus ausdehnen (extendere) Daher muss die meditatio der Sitten in einer weiteren Betrachtung der Lebensfuumlhrung zu einem Urteil kommen und dabei billigen dass es weder gut ist die Dinge die man nicht vermag ungeduldig (impatienter) zu verlangen (appetere) noch die welche man erreicht toumlricht (insipienter) zu verschmaumlhen (fastidire) Wer naumlmlich immer das begehrt was er nicht vermag und das was er [jedoch] vermag verabscheut wird sich weder am Gegenwaumlrtigen erfreuen (frui) noch am Zukuumlnftigen saumlttigen (satiare) Er verlaumlsst naumlmlich das Gute unentwickelt vor der Vollendung und eignet sich das gerade erst Be-gonnene vorzeitig an Deswegen ist es gut aufgrund des eigenen Guten zufrieden zu sein und das gegenwaumlrtige Gute durch hinzukommendes Gutes zu vermehren und es nicht aufgrund des Zukuumlnftigen wegzuwerfen (abicere) Der Austausch (commutatio) des Guten ist naumlmlich ein Leichtes (levitas) seine Uumlbung (exercitatio) aber die Tugend Oft eilen sie auf unterschiedlichen Wegen die einen die ein fruumlheres durch ein neues Gutes fallen lassen (abicere) und die ande-ren die [sich] vom Untersten zum Houmlchsten emporschwingen (conscendere) Wer naumlmlich nach Veraumlnderung (mutatio) fragt ist uumlberdruumlssig (fastidiosus) so wie der der nach dem Voran-schreiten (profectus) strebt eifrig bemuumlht ist (studiosus) Am aufrechtesten beschreitet daher derjenige den Weg der dabei so auf das Bessere brennt (fervere) dass er des Guten nicht uumlber-druumlssig wird sondern es vorerst empor haumllt solange bis er es spaumlter zu der ihm angemessenen Zeit sich aneignet (apprehendere)

Abbildungsnachweis

Einband Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders

Farbtafeln 1 (zu Beitrag Rosenwein) Coll BNU de Strasbourg ndash 2 (zu Beitrag Ferguson) Ar-chiv der Verf ndash 3 (zu Beitrag Herding) Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preu-szligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders ndash 4 (zu Beitrag Droste) R Kahsnitz Die Groszligen Schnitzaltaumlre Spaumltgotik in Suumlddeutschland Oumlsterreich Suumldtirol Muumlnchen 2005 Taf 53 ndash 5 6 (zu Beitrag Schedl) 75 Jahre 1933ndash2008 Kirche Mutter vom Guten Rat Festschrift und Chro-nik FrankfurtM 2008 S 92 Dr Bernd Konrad Radolfzell ndash 7 8 9 (zu Beitrag Zaumlh) Archiv des Autors ndash 10 (zu Beitrag Niehr) Universitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Media-thek 11 12 (zu Beitrag Muumlller) Autorin ndash 13 14 15 (zu Beitrag Schlie) Su concessione del Ministero dei beni e delle attivitagrave culturali e del turismo ndash Galleria Nazionale delle Marche ndash Urbino Archivio fotografico Archiv der Verf F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 ndash 16 17 (zu Beitrag Stoichita) D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 ndash 18 19 20 (zu Beitrag Schmidt) London British Museum C Geissmar-BrandiE Louis (Hgg) Glaube Hoffnung Liebe Tod Wien 1995 S 149 Archiv Autor ndash 21 (zu Beitrag Jung) Autorin

Textabbildungen Droste 1 3 4 Autorin 2 E Oellermann Der Hochaltar in St Martin zu Lorch am Rhein in H KrohmE Oellermann (Hrsg) Fluumlgelaltaumlre des spaumlten Mittelalters Ber-lin 1992 Abb 2 ndash Ferguson 1ndash3 Archiv der Verf ndash Frese 1 2 3 5 M BrandtA Eggebrecht (Hgg) Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen Katalog der Ausstellung Hil-desheim 1993 Bd 1 S 386f Abb 197 u 198 Bd 2 S 583 KatNr VIIIndash32 S 604 KatNr IXndash8 4 G LutzA Weyer (Hgg) 1000 Jahre St Michael in Hildesheim Kirche ndash Kloster ndash Stifter Peterberg 2012 S 148 Abb 118 ndash Gruumlndler 1ndash4 L DomenicoA Nova (Hg) Leonardo da Vincirsquos Anatomical World Language Context and Disegno Akten der Internationalen Tagung Florenz 30ndash31 Mai 2008 Venedig 2011 S 237 S 236 S 241 S 186 5 6 Le journal de Jacopo da Pontormo traduit par Jean-Claude Lebensztejn avec la collaboration drsquoAlessandro Parronchi Paris 1992 S 46 S 50 ndash Herding 1 2 3 4 5 6 7 Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders 8 Max J Friedlaumlnder Early Netherlandish Painting 14 vols Leiden und Bruumlssel 1967ndash1974 vol II 1967 pl 10 Nr 3i 9 Wolfenbuumlttel Herzog-August-Bibliothek ndash Jung 1 2 3 4 5 Autorin ndash Kessler 1 6 7 Autor 2 3 Museo delle Terme Rom 4 British Museum London 5 Alexei Lidov ndash Maxwell 1 2 AHN 3 Autor 4 Sancho el Mayor y sus herederos ed I Bango Torviso et al 2006 cat 25 5 BNE ndash Muumlller 1 Italian painting c 1330ndash1550 I National Gallery in Prague II Collections in the Czech Repub-lic Illustrated summary catalogue Prag 2008 2 Collection of The John and Mable Ringling Museum of Art the State Art Museum of Florida Florida State University 3 2014 copy Archivio Fotografico ndash Fondazione Musei Civici di Venezia ndash Niehr 1 A Schuttwolf (Hg) Ausst-Kat Jahreszeiten der Gefuumlhle Das Gothaer Liebespaar und die Minne im Spaumltmittelalter Ostfil-

400 Abbildungsnachweis

dern-Ruit 1998 2 D de Vos Hans Memling Das Gesamtwerk AntwerpenStuttgart 1994 S 278ndash283 TH Borchert Hans Memling Portraits Stuttgart 2005 S 173f Nr 23 3 Univer-sitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Mediathek ndash Pfisterer 1 E Steinmann ldquoLa mano di Michelangeloldquo in Studien aus Kunst und Geschichte Friedrich Schneider zum siebzigsten Geburtstag Freiburg iBr 1906 unnum Taf 2 R Bernini ua La mano e il volto di Antonio Canova PossagnoQuinto di Treviso 2008 S 197 3 U Klein Zur Forschungsgeschichte des Duumlrer-Hauses in GU GroszligmannF Sonnenberger (Hgg) Das Duumlrer-Haus Neue Ergebnisse der Forschung Nuumlrnberg 2007 S 105 nach Carl A Heideloff Die Ornamentik des Mittelalters Bd 3 Nuumlrnberg 1847 S 42 4 WH Vroon Het wonderlid van Jan de Witt en andere vaderland-se relieken Nijmegen 1997 S 68 5 Autor nach GF Tomasini Petrarca Redivivus Padua sup21650 S 128 6 A Picturesque Tour Through Holland Brabant and Part of France made in the autum of 1789 by Samuel Ireland London sup21796 Bd 2 Taf nach S 13 ndash Pinkus 1 2 3 4 5 6 Autor 7 8 Institut fuumlr Kunstgeschichte Universitaumlt Wien Fotothek ndash RauScheel 1 M Gregori Uf-fizien und Palazzo Pitti Muumlnchen 1994 S 31 2 Den Haag Koninklijke Bibliotheek ndash Raeck 1 2 5 7 Fotothek des Instituts fuumlr Archaumlologische Wissenschaften AbtI Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main 3 Zeichnerische Rekonstruktion M Junghans nach H-V Herrmann Olympia ndash Heiligtum und Wettkampfstaumltte Muumlnchen 1972 Abb 95 4 Antikensammlung Staatliche Museen zu Berlin Foto Johannes Laurentius 6 W Riezler Weissgrundige attische Lekythen Muumlnchen 1914 Taf 23 8 Deutsches Archaumlologisches Institut Athen Fotothek ndash Reudenbach 1 F MuumltherichJE Gaehde Karolingische Buchmalerei Muumlnchen 1979 Taf 4 2ndash4 httpwwwbibliotheca-laureshamensis-digitalde (Zugriff 20022014) ndash Schmengler 1 2 3 Torsten Saumlnger Frankfurt 4 5 6 Eric Tschernow Berlin ndash Schedl 1ndash3 Dr Bernd Konrad Radolfzell 4 FrankfurtMain-Niederrad Pfarrarchiv der katholischen Kirchengemeinde Mut-ter zum Guten Rat ndash Schlie 1 Archiv der Verf 2 Archiv der Verf + D E Katz The Contours of Tolerance Jews and the Corpus Domini Altarpiece in Urbino in Art Bulletin 85 (2003) S 647ndash661 S 647 3 F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 Schmidt 1 2 London British Museum 3 M Geisberg Der Meister ES Leipzig 21924 4 Archiv Autor ndash Taxer 1 2 O Paumlcht Altniederlaumlndische Malerei Von Rogier van der Weyden bis Gerard David Muumlnchen 1994 Abb 91 S 118 Abb 93 S 120 3 4 E Panofsky Die altniederlaumlndische Malerei Ihr Ursprung und Wesen Bd 2 Koumlln 2006 Abb 387 S 236 Abb 358 S 214 ndash Stoichita 1 D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 2 3 J Bialostocki Les Museacutees de Pologne Bruxelles 1966 ndash Zaumlh 1 2 Archiv des Verf 3 Metropolitan Museum of Art Bulletin 58 (2001) S 17 4 G ForsythK Weitzmann The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai The Church and Fortress of Justinian Plates Ann Arbor (Mi) 1973 Plate 121

Meditation und Gebet 275

via in dem er sein auf dem Gedankengut des 12 Jahrhunderts beruhendes Verstaumlndnis von meditatio oratio und contemplatio darlegt und dem Itinerarium mentis in Deum wendet sich Bonaventura der Formung der Seele des Menschen fuumlr den Aufstieg zu Gott zu19 Gerade aber das Lignum vitae hat maszliggeblich in seiner konkreten Form die Passionsmeditation des spaumlten Mittelalters beeinflusst20

Deutlich ist hervorzuheben dass Bonaventura diese Meditationsschrift zu Kindheit und Leben Passion und AuferstehungVerherrlichung Christi auf Grundlage mnemotechnisch strukturierter Modelle der monastischen Meditationspraxis konzipierte Der Entwurf Bona-venturas sieht die Anordnung der Meditationen anhand eines Baumschemas vor als struktur-gebende Schablone fuumlr das Einpraumlgen dieser im Herzen21 Da die Vorstellungskraft (imaginatio) die Einsicht (intelligentia) unterstuumltzt gibt Bonaventura die konkrete die Intention verdeutli-chende Anweisung bdquodescribe igitur in spiritu mentis tuae arboremldquo22 Die Meditationen selbst dienen zur Entflammung des Herzens in liebendem Empfinden zur Formung des Denkens und zur Einpraumlgung in das Gedaumlchtnis (accendatur affectus formetur cogitatus imprimatur memoria) Somit wird auch hier die Formung des Denkens durch den affectus herausgestellt23 Nach dem Entwurf Bonaventuras besitzt der Baum zwoumllf Zweige an denen jeweils vier kurze Strophen die Einleitungen bzw Uumlberschriften zu den einzelnen Meditationen angebracht sind die immer zusammen genommen eine Frucht hervorbringen So umfasst das gesamte Schema 48 Meditationen die in einer Reihenfolge von unten nach oben insgesamt zwoumllf zu erreichende Fruumlchte oder auch tugendhafte habitus hervorbringen sollen24

Die rasche und vielfaumlltige visuelle Umsetzung der Baumstruktur zeugt von der Popula-ritaumlt der Meditationen des Lignum vitae eine der heute wohl bekanntesten Darstellungen stammt von Pacino di Bonaguida der jeder einzelnen Meditation ein Bildmedaillon zuordnete

19 Bonaventura De triplici via Opera omnia Quaracchi 1948 Bd 8 S 19ndash27 ndash Bonaventura Itinerarium mentis in Deum Opera omnia Quaracchi 1891 Bd 5 S 293ndash316 ndash vgl hier auch die kritischen Edition und die Darstellung der inhaltlichen Grundkonzeption Bonaventura De triplici via Uumlber den dreifachen Weg latdt uumlbers u eingel v M Schlosser Freiburg iBr [ua] 1993 ndash Bonaventura Itinerarium mentis in Deum ndash Der Pilgerweg des Menschen zu Gott latdt uumlbers u erl v M Schlosser mit einer Einleitung von P Zahner Muumlnster 200420 R Preisinger Lignum vitae Zum Verhaumlltnis materieller Bilder und mentaler Bildpraxis im Mittelalter Paderborn 2014 21 Zu den Schablonen und dem Einpraumlgen dieser ins Herzen vgl M Carruthers Moving Images in the Mindrsquos Eye in J Hamburger M-A Boucheacute (Hgg) The Mindrsquos Eye Art and Theological Argument in the Middle Ages New Jersey 2006 S 294 FN 24 zu den Anweisungen Hugos in De arca noe S 292ndash29422 LV Prolog S 6823 Ebd24 Die uumlberkommenen Traktate belegen die angedachte Konzeption zur Verinnerlichung der einzelnen Meditationen die Uumlberschriften als Responsorium mit dem Kehrvers O crux fructus salvificus zu singen vgl hierzu M Sensi Lrsquoallegoria della Croce nel monastero di SantrsquoAnna a Foligno in B Ulianich U Parente (Hg) La Croce Iconografia e interpretazione Bd 3 La croce nella liturgia NeapelRom 2007 S 392 ebenso Preisinger (wie Anm 20) S 36ndash42

276 Anselm Rau und Johanna Scheel

(Abb 1)25 In kuumlnstlerischen Darstellungen diente das Lignum vitae als visuelle Unterstuumltzung sowohl fuumlr den Gesang als auch gerade zur Strukturierung von Predigt und Meditation26 Ein Groszligteil der Bilder zum Lignum vitae binden den Text in Form der Uumlberschriften der einzelnen Meditationen ein Eine solch detailreiche Ausgestaltung wie etwa bei Pacino ist bei den uumlber-lieferten Beispielen keine Regelmaumlszligigkeit Damit belegt allein schon das Bild selbst dass das

25 Jedoch darf diese Tatsache nicht uumlber die tatsaumlchliche Anwendung hinwegtaumluschen Auf die Diskussion um die Bildwerke zum LV kann hier nicht dezidiert eingegangen werden Die juumlngsten Publikationen zum Lignum vitae mit der entsprechenden Literatur zur Forschungslage sind Preisinger (cf Anm 20) und U Ilg Quasi lignum vitae The Tree of Life as an Image of Mendicant Identity in P SaloniusA Worm (Hgg) The Tree Symbol Allegory and Mnemonic Device in Medieval Art and Thought Turnhout 2014 S 187ndash212 ndash Siehe die Kritik an der bisherigen Auseinandersetzung mit dem Lignum vitae und seinen Darstellungen in der 2015 abgeschlossenen Dissertation von A Rau Imagination und Emotion Bildstruktur und Emotionalisierungsstrategien in der monastischen Meditation und das bdquoModell Franziskusldquo sowie A Rau Im Wechselbad der Gefuumlhle ndash das Lignum vitae in Imago 4 (2015) erscheint November 201526 L Bolzoni The Web of Images Vernacular Preaching from its Origins to Saint Bernardino da Siena Aldershot 2004 S 154ff

Abb 1 Pacino di Bonaguida Lignum vitae Florenz Galleria delllsquoAccademia um 1310 258x151cm

Meditation und Gebet 277

eigentliche affizierende Potential in der Steuerung der imaginatio des LesersBetrachters durch den Text der Meditation und des Gebet selbst liegt27

Innerhalb der jeweils einer Frucht zugeordneten vier Meditationen ist ein Aufbau und Uumlbergang festzustellen ebenso sind in der Regel die Fruumlchte durch die letzte Meditation der vorangegangenen und die erste der folgenden miteinander verknuumlpft Allen gemein ist dass zu Anfang einer jeden Frucht die in den ersten zwei Fruumlchten ausgebildeten Grundtugenden caritas und humilitas als Ausgangspunkt genommen werden Diese beiden sind wie bereits von Augustinus betont die Grundtugenden aus denen alle weiteren erst hervorgehen koumlnnen28 Die einzelnen Meditationen zeichnen sich durch das Fokussieren auf eine tugendhafte Haltung Christi aus Diese verdeutlicht er entweder selbst in einer emotionalen seinen Habitus aus-druumlckenden Disposition oder weiteres biblisches Personal reagiert als Exempel fuumlr den LeserBetrachter des Lignum vitae auf die ihm so bdquovisualisertenldquo Geschehnisse um Christus So ent-stehen Imaginationsfiguren die das Handeln (operatio) bestimmen sollen Geleitet wird die Meditation des Betrachters durch die eindruumlcklichen Schilderungen der Begebenheiten aus dem Leben Christi in Kombination entweder direkter Ansprachen an seine Seele wie er sich verhalten was er sich als Vorbild nehmen soll oder durch in die Meditation selbst eingefuumlgte Gebetstexte welche die Affizierung entweder stuumltzen oder direkt hervorbringen koumlnnen

Die Meditationen der ersten vier Fruumlchte (Geburt Kindheit Wirken Christi) charakteri-sieren das Lignum vitae wie schon bei Hugo und in den Meditationsmodellen des 12 Jahrhun-derts als dezidiertes Reue- und Buszligschema Dies verdeutlicht allein schon die formale Anlage da sich hier vorwiegend Anweisungen zu habituellen emotionalen Dispositionen des Lesers finden Die Einmuumlndung dieser Meditationen in die Schilderung des letzten Abendmahls kon-kretisiert die Verbindung zwischen der logischen Anlage eines sukzessive aufgebauten Medita-tionsschemas die Notwendigkeit seiner fortdauernden Anwendung und somit den praktischen Bezug zum religioumlsen Leben Reue und Buszlige sind die notwendige Grundvoraussetzung fuumlr die Teilhabe an der Opferfeier des Messgeschehens es hebt die Meditationspraxis als fortdauernde Uumlbung der Affekte und Tugenden als staumlndige Gewissenspruumlfung hervor und kennzeichnet den Menschen ab diesem Punkt als muumlndigen Meditanden und Beter

So aumlndert sich dann ab der fuumlnften Frucht zu den Passionsmeditationen auch der Auf-bau Hier werden konzentriert einzelne orationes in die einzelnen Meditationen eingeflochten Bemerkenswert ist bei den fast als propaumldeutisch zu verstehenden Meditationen der ersten vier Fruumlchte findet sich eine sehr uumlberschaubare Anzahl von Psalmzitaten waumlhrend sie hier als personalisierte Gebete des LesersBetrachters gehaumluft auftreten Gezielt werden sie in den Meditationen der geschilderten Situationen und Peinigungen Christi eingesetzte um die com-passio zu erregen Hieran laumlsst sich die unmittelbare und entscheidende Zusammenwirkung

27 Bezuumlglich einer eingehenden gerade auch sprachlichen Untersuchung der Meditationen des Lignum vitae das affektsteuernde Potential herausarbeitend siehe abermals Rau (wie Anm 25)28 K Pansters Profectus Virtutum From Psalm 838 to David if Augsburgrsquos Profectus religiosorum in Studies in Spirituality 18 (2008) S 170 Zur Thematik weiterfuumlhrend N Baumann Die Demut als Grundlage aller Tugenden bei Augustinus Frankfurt 2009

278 Anselm Rau und Johanna Scheel

von meditatio und oratio beobachten die in Kombination die Lenkung der geordneten affectus bestimmen

Die von Hugo in De meditando angemahnte Unterscheidung und Betrachtung des Guten und Boumlsen findet in den Meditationen des Lignum vitae seine konkrete differenzierte Anwen-dung Heben die ersten vier Fruumlchten dezidiert Reue und Buszlige des MeditierendenBetenden und gerade die Schlechtigkeit des Menschen gegenuumlber Christus hervor so zeigen die Medita-tionen zur Passion Christi (5ndash8) die Betrachtung des Boumlsen und des Guten dahingehend wie das Boumlse in Gestalt der Peiniger Christi auf diesen einwirkt und wie Christus selbst oder wei-teres positiv konnotiertes biblisches Personal reagiert Die Grundlage des hier geforderten Mit-leidens mit Christus ist die bei den vorangegangenen Meditationen ausgearbeitete compassio Christi mit den Suumlndern Demuumltig ausgerichtet und damit ausgebildet am mitfuumlhlenden Vor-bild Christi kann der LeserBetrachter uumlber die imaginatio in der Meditation und dem Gebet hier zum Mitleidenden ausgebildet werden Zuerst wird also die demuumltige Emotionalitaumlt ob der eigenen Schlechtigkeit dem eigenen Boumlsen im Abgleich mit dem guten Vorbild in Christus herausgebildet und daraufhin die Affekte in den Meditationen zur Passion Christi an Christus selbst zum Mitleiden konstituiert

Als Beispiel der dezidiert auf die Affizierung ausgerichteten Anlage seien die Meditationen der fuumlnften Frucht umrissen Gegenstand (res) ist hier die Betrachtung von Christi Vertrauen (confidentia) in der Gefahr und umfasst die vier Meditationen zu Judasrsquo Verrat Christi Gebet auf dem Oumllberg der Umzingelung Christi durch die Haumlscher und seiner Gefangennahme29 Propaumldeutisch wird dem Verrat Judasrsquo dem abgrundtief Boumlsen (nequissum) die geradezu pa-radox erscheinende und dadurch Staunen und Bewunderung erweckende (o mira) Guumlte (be-nignitas) und Sanftmut (mansuetudo) Christi gegenuumlbergestellt30 Dieses Thema beherrscht alle Meditationen dieser Frucht und ist begleitende Grundlage aller folgenden Darstellungen der Misshandlung Christi Judas wird typologisch als lasterhafter Gegenpart zum tugendhaften Idealbild Christi stilisiert Sein Verrat gruumlndet in seiner cupiditas und bestimmt von seinen niedersten Trieben ist er die Personifikation von perfidia (Treulosigkeit Gewissenlosigkeit) in-gratitudo (Undankbarkeit) und duritia (Hartherzigkeit)31 Die angemahnte Betrachtung des Guten und des Boumlsen legt als klassisches System der Gegenuumlberstellung von Tugenden und Lastern anzustrebende bzw abzulehnende habitus durch die Ausrichtung der affectio dar

Signifikant zeigt sich die Affizierung anhand der uumlber die lectio sich konstituierende me-ditatio aufgrund der imaginierten Begebenheit in Verbindung mit der oratio die wiederum ihren Ausdruck in den Psalmen findet Als Ausweis der inneren Verletzlichkeit seiner mensch-lichen Natur (in natura sensibili)32 ist die Schilderung von Christi Gebet auf dem Oumllberg zentral Ob der Vorstellung des Todes (imaginatio mortis) die in seine empfindsame Seele eindrang wird er von affectus umschlungen (complexabatur affectu) Seine innere Bewegtheit wird mit den Tropfen blutigen Schweiszliges die seinen Koumlrper hinab rannen verdeutlicht der Affekt der

29 LV 517ndash20 S 75ndash7630 LV 517 S 7531 Ebd32 LV 518 S 75ndash76

Meditation und Gebet 279

Furcht (anxietas) als Empfindung steigt zwar in seinem Geist auf (in spiritu) der Nachvoll-zug erfolgt jedoch uumlber die aumluszligeren (imaginierten) Zeichen33 Die Meditation laumlsst den Leser darauf fragen bdquoO Herrscher und Herr Jesus woher kommt diese furchtbare Angst deiner Seele und dein angstvolles Flehen Hast du denn dem Vater dein Opfer nicht mit freiem Willen ge-brachtldquo34 Die Erklaumlrung folgt sofort Fuumlr die Bestaumlrkung des Glaubens hat Christus wahrhaft die sterbliche Natur angenommen damit der Mensch Hoffnung schoumlpfen kann sollte er aumlhn-liche Bedraumlngnis und Furcht erleiden denn aufgrund der Hoffnung richtet der Mensch seine Liebe auf Christus das Ziel wiederum willentlich (voluntas) aus Die offenkundigen (aumluszligeren) Zeichen des Leids in Christi menschlicher Natur sind das entscheidende Kriterium fuumlr die selbstreflexive Erkenntnis des LesersBetrachters Es ist die Erkenntnis dass Christus wahr-haftig die Schmerzen und das bittere Leid der Menschen mit fuumlhlbarer (sensu) Pein durchlitten hat35 Die Schilderung der Todesangst Christi ist damit Grundlage der im ersten Satz der fuumlnf-ten Frucht geforderten inneren Teilhabe (pii considereare) fuumlr die compassio den Nachvollzug seiner noch weiterhin zu durchleidenden koumlrperlichen wie seelischen Pein36

Diese Erkenntnis stuumltzt nun das ergaumlnzende Beten der Psalmen da diese einerseits die geforderten Affekte und den Affektreiz bekraumlftigen zugleich aber auch das selbstreflexive Moment herausarbeiten Die seelische Bedraumlngnis Christi auf dem Oumllberg wird begleitet und sozusagen von der Schilderung des Verrates Judasrsquo und der Bedraumlngung durch die Haumlscher umrahmt und aufgrund des Einbindens der Psalmen 38 41 und 55 in genau diese Meditationen zu einem inhaltlich kongruenten Gebet gestaltet Alle drei Psalmen wobei besonders Psalm 55 zitiert wird (Verse 13ndash15) nehmen Bosheit Verrat und Bedraumlngnis durch Freund und Feind in den Blick Hierdurch werden gerade das Verlassensein und das Ausgeliefertsein gegenuumlber den Misshandlungen in den Vordergrund gestellt die beschriebene Furcht Christi begleitet und durch das personalisierte Gebet zur emotionalen Ausrichtung des Beters selbst Nicht allein der einzelne Psalmvers wird dabei gebetet sondern ganz der mnemotechnischen Konzeptuali-sierung verpflichtet bildet der Vers den Ausgangspunkt und schlieszligt die Betrachtung und das Gebet des gesamt Psalms mit ein37 Der Klage uumlber den Vertrauensbruch durch den Freund (Ps 5513 ebenso Ps 3813 und Ps 41) und der Bedraumlngnis durch Frevler an deren Haumlnden Blut klebt (Vers 24) geht in Analogie zu Christi Gebet zum Vater auf dem Oumllberg die Anrufung Gottes voraus er moumlge das Beten und Flehen erhoumlren (exaudi orationem meam deprecationem meam)

33 Ebd34 Schlosser (wie Anm 19) S 51 LV 52 S 7635 LV 52 S 76 ndash Bereits Bernhard von Clairvaux formulierte Gott bot den Zugang zu sich selbst uumlber die Affekte weshalb die Inkarnation notwendig war um die affectiones des Menschen zuruumlckzugewinnen vgl B von Clairvaux Sermones super canticum canticorum 205 in Bernhard von Clairvaux Saumlmtliche Werke latdt hg v G Winkler Innsbruck (1996) Bd 5 S 28428536 LV 517 S 75 Nochmals abschlieszligend wird dies als identifikationsstiftendes Vorbild am Ende (vierte Meditation fuumlnften Frucht) mit dem Bild der gefesselten Haumlnde des unschuldigen Lammes und dem eingeforderten Stoumlhnen und der Beschreibung des durchdringenden Schmerzes der die Herzen der Juumlnger bei diesem Anblick durchstach (doloris aculues discipolorum vorda penetravit) vor Augen gestellt Vgl LV 520 S 7637 Zur Mnemotechnik allgemein M Carruthers The Book of Memory A Study of Memory in Medieval Culture Cambridge [ua] 122006 Zu beachten sind ebenso F A Yates The Art of Memory London 1966 M Evans The Geometry of Mind in Architectural Association Quarterly 124 (1980) S 32ndash55

280 Anselm Rau und Johanna Scheel

(Vers 1ndash8) Dabei wird die Angst (conturbatus sum) das Beben des Herzens in der Brust und das Befallenwerden vom Schrecken des Todes beschrieben (cor meum conturbatum est in me et formido mortis cecidit super me) ebenso das Erfasstsein von Furcht Zittern Schaudern und Entsetzen (timor et tremor venerunt super me et contexerunt me tenebrae) Der Nachvollzug der emotionalen Disposition Christi wird durch die kalkulierte Verknuumlpfung mit Psalm 38 zu-gleich ebenso zur detailreichen Klage in Furcht und Schrecken ob der eigenen Suumlndhaftigkeit Judas stellt natuumlrlich fuumlr den Abgleich das Negativbeispiel Doch im Gegensatz zu ihm zeigt der Betende in seiner demuumltigen Hinwendung zu Gott in Schmerz und Furcht das in ihn gesetzte Vertrauen das auch Jesus unter Beweis stellte Die Psalmen bieten hierfuumlr das passende Mittel der notwendigen Ausrichtung in der affectio

Ein interessanter Punkt sei in Bezug auf die Ausfuumlhrungen in De meditando hinsichtlich des Eifers (zelus) fuumlr die gerechte Sache noch genannt Die Sanftmut Christi wird gerade da-durch vor Augen gefuumlhrt dass er im Sinne des immerfort zur Vergebung bereiten Gott seinen Haumlschern guumltig begegnet da er sich seinen Peinigern nicht im Zorn (ira) verschloss (Ps 7710)38 Er haumllt naumlmlich sogar seinen Verteidiger ndash in der exegetischen Tradition Petrus vor allem dann auch in der bildenden Kunst ndash zuruumlck und bremst dessen gerechten zelus sein rechtmaumlszligiges eigentlich tugendhaftes eifersuumlchtiges Streben fuumlr das geliebte Objekt und heilt sogar ein abge-schlagenes Ohr Dieser Eifer der wie in De meditando beschrieben ohne Hinterlist ist nicht aus Ignoranz (repraumlsentiert durch die HaumlscherPeiniger) gegenuumlber der Wahrheit (in Christus) hervorgegangen zeigt die gute Absicht die durch Beharrlichkeit ans Ziel fuumlhrt und laumlsst somit die Liebe nicht lau werden Petrus wird als Identifikationsfigur installiert und am Ende aber-mals Judas entgegen gehalten Letzterer wurde zwar schlieszliglich aufgrund seiner Tat von Reue ergriffen jedoch war er nicht faumlhig durch die Hoffnung auf das Gute Christus Vergebung zu ersehnen und wurde von Bitterkeit (amaritudo) erfuumlllt so dass er den Tod und nicht das ewige Leben ersehnte

Meditationsschemata werden gerne aufgrund der ihnen innewohnenden Abfolge als starre Konstrukte und allein auf einen miszliginterpretierten geistigen Aufstieg abzielend hin verstan-den Doch beweist gerade das Lignum vitae eine hohe Flexibilitaumlt fuumlr den alltaumlglichen Gebrauch und zudem die eigentliche Intention die Formung von affectus

Gerard Zerbolt van Zutphen

Das stufenweise emotionale Gebet und die Meditation begegnen ebenfalls ndash allerdings weniger stark schematisiert als im Lignum Vitae ndash in einem Standardwerk der niederlaumlndischen Froumlm-migkeitsliteratur des 15 Jahrhunderts In De spiritualibus ascensionibus stellt Gerard Zerbolt

38 Im Tugend- und Lastersystem ist die Unterscheidung von zelus ira und furor sehr entscheidend bezuumlglich des guten und schlechten Strebens und damit hinsichtlich rationalen Ordnung des Geistes Zum tugendhaften und lasterhaften Zorn und seiner Aspekte vgl Richard von St Viktor Benjamin minor 40ndash44 PL 196029-033 ndash Gerade bei der Verurteilung Christi durch Pilatus (LV 624 S 77) wird das Thema der rasenden Wut (zelus invidiae) und des gerechte Zorns (zelus iustitia) nochmals differenziert

Meditation und Gebet 281

von Zutphen ein Autor der devotio moderna handbuchartig sein Aufstiegsmodell dar39 Darin vermittelt er seinen Mitbruumldern und einem frommen Laienpublikum ein ausgekluumlgeltes System von geistigen Uumlbungen die sich nicht nur auf den eigentlichen Gebetsakt beziehen sondern habituell im Alltag Anwendung finden sollen indem sie eine Transformation des Menschen be-wirken Er geht dabei von dem uumlblichen zeitgenoumlssischen theologischen Anthropologiemodell der Seele als durch Suumlnde verschmutzte imago Dei aus und stuumltzt sich auf bekannte moraltheo-logische Emotionstheorien die er jedoch stark ausweitet indem er den Emotionen eine genaue Funktion und eine Schluumlsselrolle im Erkenntnisprozess zuweist Die formula meditandi40 be-schreibt Gerard als inhaltlich verschieden konnotierte Selbstuumlberpruumlfungen in der die dadurch produzierten Emotionen wie Zerknirschung (compunctio bzw contritio) Furcht (timor) oder Hoffnung (spes) nicht nur bewusst gemacht sondern produktiv umgewandelt werden um zu Instrumenten und Stufen des weiteren Aufstiegs zu werden41 Diese Aufstiege sind ein Prozess der Selbsttransformation des Menschen der sich vollzieht indem der Mensch sowohl seinen urspruumlnglichen Zustand diese Transformation selbst als auch die Erfahrung seiner Veraumlnde-rung mit den erreichten Stufen emotional (ex affectu) erkennt (cogitare) und fuumlhlt (sentire)42 Aumlhnlich wie bei Hugo von St Viktor formuliert Gerard dass der Betende immer einen Affekt und ein Verlangen (desiderium) annehmen solle die zu den aktuellen Uumlbungen oder Medita-tionen passe43 Die Selbsttransformation im geistigen Aufstieg wird nach Gerard ebenso im uumlb-lichen Schema der lectio meditatio und oratio geuumlbt und an verschiedenen materiae meditandi44 vollzogen Die Affekte werden anhand dieser materiae erzeugt katalysiert und in das Gebet

39 Die Schrift (im Folgenden De Spir Asc) wird zitiert nach der Edition von F J LegrandN Staubach (Hgg) Gerard Zerbolt von Zutphen De Spiritualibus Ascensionibus La monteacutee du coeur Turnhout 2006 Vgl zur affektiven Konnotation von Gerards Gebetssystematik M Goossens De meditatie in de eerste tijd van de moderne devotie HaarlemAntwerpen 1954 Er stellt den Affekt als Wesensmerkmal des Gebets bei Gerard fest ebd S 118 Zur Einbindung der Schrift innerhalb der Gebetstheorien der Devotio Moderna und zum Stellenwert der affektiven Selbstreflexion auch in Beziehung zu zeitgenoumlssischer Kunst vgl J Scheel Das altniederlaumlndische Stifterbild Emotionsstrategien des Sehens und der Selbsterkenntnis Berlin 2014 bes S 155ndash171 230ndash241 414ndash42640 De Spir Asc Kap 641 Gerard spricht synonym von Aufstiegsstufen und affectus zB in Kap 27 bdquoIn hac prima ascensione vel primo affecto [hellip]ldquo Oder er benennt Affekte wie Hoffnung und Furcht als Stufen bdquo[hellip] istis duobus gradibus timoris et spei [hellip]ldquo Kap 26 Insgesamt benutzt er die Vokabeln affectus und affectio synonym zwar begegnet in Bedeutung von Strebevermoumlgen meist affectio und ersetzt also die vires durch die affectiones animae besonders wenn es um lasterhafte Affekte geht doch werden die einzelnen Affekte durchgehend als affectus nicht als affectio bezeichnet42 De Spir Asc Kap 643 Das Gebet solle nie bloszliges Lippenbekenntnis sein sondern immer aus der Wurzel des Herzens verfolgt werden und zwar stets aus den Affekten der Furcht Trauer Freude Bewunderung Dankbarkeit etc bdquo[hellip] ex affectu timoris meroris dilectionis admiracionis congratulationis etcldquo De Spir Kap 46 Diese Affektreihe stimmt mit derjenigen bei Hugo in De modo orandi uumlberein siehe oben S 273f44 Diese sind zunaumlchst die bekannten Meditationsinhalte wie man sie allenthalben in theologischer Literatur des Mittelalters findet Leben und Passion Christi das Juumlngste Gericht und die eigene Todesstunde (diese bspw bereits in Bonaventuras De Triplici Via Kap 3) Bei Gerard werden ebenfalls Houmllle und Himmelreich sowie die eigenen Suumlnden und Wohltaten Gottes eingeschlossen sowie das eigene Selbst in dem und waumlhrend des Gebets Zum Kontext der neuen Meditationswuumlrdigkeit des eigenen Selbst in den Lehren der Devotio Moderna vgl Scheel (cf Anm 39)

282 Anselm Rau und Johanna Scheel

uumlberfuumlhrt Dies macht Gerard wie Hugo anhand des Psalmengebets anschaulich indem er einerseits beispielhaft zeigt wie ex affectu ein Psalm gebetet wird waumlhrend er gleichzeitig bei vorheriger Thematisierung der lectio dessen Erregung durch die Lektuumlre betont

bdquoWenn du dich in deiner ersten Uumlberpruumlfung diskutiert hast und entdeckst dass deine Suumlnden zahlreicher sind als die Zahl des Sandes der Meere forme in dir den Affekt der Demut oder Trauer und nimm die Rolle (persona) eines Dieners an der seinen Herrn beleidigt hat Aus diesem Affekt heraus forme ein Gebet und sage sbquoGott sei mir gnaumldig nach deiner Huld tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmenlsquo (Ps 503) Wenn du in der zweiten und dritten Uumlberpruumlfung dich selbst diskutierend bemerkst dass dein Herz mit schlechten Begierden und boumlsen Verlangen gefuumlllt ist forme in dir wiederum den Affekt der Demut und nimm die Rolle eines Kranken an der nach Medizin fragt und sage sbquoHerr sei mir gnaumldig heile mich denn ich habe gegen dich gesuumlndigtlsquo (Ps 405) oder sbquoNichts blieb gesund an meinem Leib weil du mir grollst weil ich gesuumlndigt blieb an meinen Gliedern nichts heillsquo (Ebd) etc Wenn du dich im zweiten Aufstieg in Furcht durch Meditationen des Todes und des Gerichtes oder der Houmllle uumlbst nimm den Affekt der Furcht ein und die Rolle eines Suumlnders vor dem Richter an in Angst und Zittern als seist du schon uumlberfuumlhrt und der Richtspruch gegen dich gesprochen und sage sbquoVerdamme mich nicht Herr gehe nicht ins Gericht mit deinem Dienerlsquo (Ps 1422) oder sbquoHerr in deiner Wutlsquo (Ps 62) etc Wenn du dich aber in Hoffnung uumlbst durch die memoria des Him-melreiches nimm den Affekt der Liebe an und bete mit innigem Herzen und sage sbquoIch erstrebe eines Herr dieses wuumlnsche ich dass ich in dem Haus des Herrn wohnen darflsquo (Ps 264) oder sbquoWie der Hirsch lechzt nach frischem Wasserlsquo (Ps 412) etc Und ebenso kannst du mit anderen Affekten jene aus diesen formen und musst du die Rolle annehmen die deine Uumlbung erfordert und deine Meditation verlangtldquo45

Uumlber Hugo hinausgehend wird hier dem Betenden empfohlen sich konkrete Szenarien und personae zu imaginieren um die gewuumlnschten Affekte einzuuumlben Die Psalmenbeispiele mit den zugeordneten Affekten uumlberschneiden sich bei beiden Autoren bei Psalm 6 (timor) so-wie Psalm 26 (Gerard spes Hugo bona praesumptio)46 Besonders bei der Einuumlbung von timor und der Erwaumlhnung des Richtspruches in Kombination mit den Buszligpsalmen 6 und 142 stehen unmittelbar zeitgenoumlssische Darstellungen des Weltgerichts bzw der Auferstehung der Toten vor Augen wie man sie in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern in Kombination mit eben jenem Buszligpsalm 6 aber auch in der altniederlaumlndischen Malerei findet47 Psalmen koumlnnen zu den

45 bdquoUnde breviter ut modum habeas secundum predicta si te in prima examinacione discusseris et inveneris peccata tua multiplicata super numerum arene maris forma in te affectum humilitatis vel meroris et assume personam servi qui dominum suum offendit Et ex tali affectu forma oracionem dicens Secundum multitudinem miseracionum tuarum dele iniquitatem meam [hellip] Si te in secundo ascensu in timore per meditaciones mortis vel iudicii vel inferni exercueris assume affectum timoris et assume personam rei astantis coram iudice cum timore et tremore quasi iam convictus contra quem de iure proferenda est sentencia et dic Noli me condemnare Non intres in iudicium cum servo tuo Vel Domine ne in furore etc [hellip] Et sic de aliis affectibus quos ex istis formare poteris et assumere debes sicut exercicium tuum exigit et meditacio tua requiritldquo De Spir Asc Kap 4646 Zu den Psalmen die Hugo als Beispiele benutzt siehe oben S 273f47 Vgl dazu J Scheel Sich selbst sehen ndash der Betrachter in und vor dem Bild Spiegel- und Stifterfiguren in Texten und Bildern des 15 Jahrhunderts in E KochH Schlie (Hgg) Orte der Imagination ndash Raumlume des Affekts Die mediale Formierung des Sakralen Muumlnchen 2015

Meditation und Gebet 283

bdquototal memoriertenldquo48 Texten des Mittelalters gezaumlhlt werden weswegen sie sich beiden Autoren als Beispiele anbieten Sie benutzen die Buszligpsalmen (hier die Psalmen 6 31 [Hugo] 50 142) die im Stundenbuch fest als eigenstaumlndiger Gebetstext verankert sind und ebenso in der To-tenvigil ihren Platz haben ndash zusammen mit Gerards weiteren Beispielpsalmen 40 und 4149 Das Stundenbuch ist ein Medium in dem Psalmwort und bildliche Darstellung auf die Theorie des stufenweisen emotionalen Gebets und der Selbsttransformation treffen koumlnnen

Die Miniaturen die der Totenvigil bspw in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern des 15 Jahr-hunderts voranstehen zeigen oftmals eine ganzseitige Totenmesse sowie in der M-Initiale der gegenuumlberliegenden Textzeile50 zwei betende einander zugewandte Seelen im Fegefeuer (vgl

48 Zu diesen Texten gehoumlrten bspw das Pater Noster oder Ave Maria waumlhrend denen gleichzeitig auch uumlber bestimmte Aspekte zB der Passion meditiert werden konnte und sollte vgl P Saenger Books of Hours and the Reading Habits of the Later Middle Ages in R ChartierA Boureau (Hgg) The Culture of Print Power and the Uses of Print in Early Modern Europe Cambridge 1989 S 141ndash173 hier S 154 Bei den Psalmen genuumlgt wie man hier sieht allein die Nennung des Incipit oder bestimmter Verse die dem Leser so vertraut sind dass sie den gesamten Psalmentext mit assoziieren49 Zwar ist der Einsatz von Psalmen in mittelalterlichen Stundenbuumlchern mitunter verschieden doch kann man beispielhaft an einer Gruppe von Stundenbuumlchern in niederlaumlndischer Sprache diese Psalmen finden Diese Stundenbuumlcher sind mit der Uumlbersetzung des Gruumlndungsvaters des Devotio Moderna Geert Grote versehen oder stehen mit ihr in Verbindung N van Wijk Het getijdenboek van Geert Groote Naar het Haagse handschr 133 E 21 Leiden 1940 diese hauptsaumlchlich anhand einer einzigen Handschrift erarbeitete Edition wird hier in Ermangelung einer kritischen Edition genutzt Das getijdenboek enthaumllt einen Kalender des Bistums Utrecht fuumlnf Offizien (Marienoffizium Heiliggeistoffizium das lange und kurze Heiligkreuzoffizium Stunden der ewigen Weisheit) Buszligpsalmen Litanei und Totenvigil 50 Es ist der Beginn des invitatorium bdquoMi hebben ombeuanghen die suchten des dodes die pijnlike seer der hellen heben mi ombeuanghenldquo Wijk (cf Anm 49) S 156 ndash bdquoMich haben umfangen die Seufzer des Todes die qualvollen Schmerzen der Houmllle haben mich umfangenldquo

Abb 2 Meister des Hugo Jansz van Woerden Totenmesse und Seelen im Fegefeuer ca 1475ndash1500 Den Haag Koninklijke Bibliotheek Ms 76 G 13 fol 85vndash86r

284 Anselm Rau und Johanna Scheel

Abb 2)51 Das Fegefeuer bespricht Gerard eher marginal in seinem Traktat Fuumlr die affektive Meditation des eigenen Todes liefert er allerdings einerseits eine Anleitung fuumlr den Betenden die Affekte nun bereits zu erwecken die vor waumlhrend und nach dem eigentlichen Todeszeit-punkt entstuumlnden ndash und sich mit ihnen im Gebet selbst zu formen52 Andererseits raumlt er dem Glaumlubigen sich zum Zwecke des ex affectu-Gebets einen Koumlrper in seinen Verwesungsstadien vor Augen zu halten53 und was mit ihm selbst bei der Beerdigung passiere54 Das Fegefeuer ist ein im Sinne mittelalterlicher Moraltheologie produktiver Gebetsinhalt da der Glaumlubige im steten Oszillieren zwischen spes und timor besonders gut zur caritas aufzusteigen vermag Diesen Tenor findet man ebenfalls bei Geert Grote in seinem getijdenboek bei der Vorrede der Toten-vigil Hier raumlt er dem betenden Leser zum Wechsel aus Psalmen und Antiphonen in Hinblick auf die Erregung von Furcht und Angst Liebe und Hoffnung in der Ausrichtung auf Gut und Boumlse und mit Blick auf das Fegefeuer bdquoHier beginnt die Vigil in duytsche die so organisiert ist denjenigen zu helfen die von hinnen gefahren sind in der Freundschaft Gottes in das Fegefeuer Und ebenso dazu [gedacht ist] den Lebenden zu helfen die sie lesen damit ihnen das Wissen um die kommenden Dinge eingedruumlckt werde auf dass sie glauben hoffen und lieben an die Dinge in Herrlichkeit Und [sie] sich dafuumlr bereit machen und sich waumlhrenddessen die ganze Zeit fuumlrchten dass ihre Tage schnell vergehen Auf dass sie sich fuumlrchten aumlngstigen grauen und beben vor dem mannigfaltigen Leid der Angst und dem Elend die den Boumlsen ereilen werden und sie so darum ihr Leben lang ndash das hier aumluszligerst kurz ist ndash darauf hinarbeiten diesem Leid zu entgehen und [die Vigil ist auch hilfreich] weil ein Mensch diese beiden Dinge ndash Gutes in Liebe und Boumlses in Angst ndash besser ansehen (aensien) kann und erkennen und sich uumlberdenken damit er besser bitten kann und [es] mehr begehrt (begheert) und mehr liebt (myn[n]t) fuumlr diejenigen zu bitten die im Fegefeuer sind fuumlr ihre baldige Erloumlsung und dafuumlr Gottes Ehre zu vermehren [hellip] So hilft das Bitten der Lebenden den Toten und das Bitten fuumlr die Toten hilft den Lebendigen sich auf den Tod vorzubereiten [hellip] Und dazu ist das Singen dieser Psalmen heranzuziehen [und zwar] immer nach den Bedeutungen der Antiphone und den Sinn der

51 Die Darstellung von Seelen im Fegefeuer taucht als Buchillumination ab dem 13 Jahrhundert bereits vereinzelt auf und diente in Kombination mit Jenseitsvisionen Bibeltexten und moralisierenden Inhalten vor allem dem Gedenken an bereits Verstorbene wie auch zur persoumlnlichen Mediation des Lesers Oft findet eine narrative Einbindung statt Vgl dazu M Borowska Das Entfachen des Fegefeuers in der europaumlischen Miniatur des 13 Jahrhunderts in Umeni 57 (2009) S 310ndash325 Zum ikonografischen Kontext der hier gewaumlhlten Illumination vgl die Untersuchung von I M Veldman Purgatory in the Low Lands in B BukovinskaacuteL Slaviacuteček (Hgg) Pictura verba cupit Essays for Lubomiacuter Konečnyacute Prag 2006 S 169ndash180 va 170ndash17252 De Spir Asc Kap 19 In den folgenden Kapiteln stellt Gerard dem Leser dasselbe Prinzip an den Themen des Juumlngsten Gerichts der Houmllle und des Himmelreiches vor 53 bdquoItem interdum propone oculis tuis ymaginem alicuius hominis morientis et diligenter respice formam modum et ordinem quibus ad mortem deveniturldquo De Spir Asc Kap 1954 Weitere beliebte Illustrationen zum Totenoffizium im Stundenbuch des 15 Jahrhundert sind ebenfalls die Darstellung eines Toten um dessen Seele Engel und Teufel kaumlmpfen Schaumldeldarstellungen Seelen in Abrahams Schoszlig Himmel und Houmllle der Tod als Angreifer die Auferweckung des Lazarus sowie die Psychostasis mit Michael als Seelenwaumlger Diese Motive werden eher als ganzseitige Miniaturen dargestellt und bekommen zum Teil in der begleitenden Initiale jene zwei betenden Seelen im Fegefeuer hinzugefuumlgt

Meditation und Gebet 285

Antiphone soll man dazu in den Psalmen bedenken in allen Stundengebeten Dabei ist gut dass man sowohl vor als auch danach die Antiphonen spreche und schreibeldquo55

Mit der sich gegenseitig amplifizierenden Kombination von selbstreflexiven Affekt er-regendem und ausdruumlckendem Psalmentext mit der bildlichen Darstellung von Beerdigung mit Fegefeuer und mit derartigen Aufstiegsmodellen vertraut kann der betende Leser hier den eigenen Tod und die Bestrafung seiner Seele als Konsequenz der eigenen irdischen Suumlndhaftig-keit produktiv in seine Bemuumlhungen des geistigen Aufstiegs und seine Selbsttransformation kanalisieren

Imagination und Illumination

Das Gebetsleben des mittelalterlichen Glaumlubigen ist gekennzeichnet durch seine Affektivitaumlt Die affectus werden mit Gebetstexten und Psalmenreihen sowie mithilfe bildlicher Darstel-lungen sorgfaumlltig kultiviert und systematisch eingeuumlbt Dabei sind dies altbekannte ndash weil biblische ndash Text- und Bildinhalte deren affizierendes Potential auf neue Arten ausgeschoumlpft wird Texte und physische wie gerade geistige Bilder erinnern den Betenden nicht nur unver-bindlich an bereits bekannte Ereignisse Situationen und Figuren sondern lassen ihn sich mit diesen durch affektive und reflexive Meditationspraktiken identifizieren Fremde Worte und Emotionen werden darin zu den eigenen Vorbilder aus dem Kreis der Heiligen werden so zu Imaginationsfiguren das Selbst wird auf Gott ausgerichtet und in all seinen Aspekten gezielt emotional reflektiert So unterschiedlich die formale Herangehensweise dieser Praktiken bei den drei untersuchten Autoren Hugo von St Viktor Bonaventura und Gerard Zerbolt van Zutphen zu sein scheint vermitteln sie doch die selbe zentrale Maszliggabe oratio est affectus ndash bdquoGebet ist Affektldquo

Uumlbersetzung Hugo von St Viktor De meditando PL 176 993ndash99

Die Meditation ist die haumlufige Erwaumlgung (cogitatio) der Ursache (causa) und des inneren Be-weggrundes (ratio) eines einzelnen zu untersuchenden Gegenstandes (res) was seine Art sei (modus) was die Ursache und was der Beweggrund

Es gibt drei Arten (genus) der Meditation eine in Bezug auf die Schoumlpfung (in creaturis) eine hinsichtlich der Schrift (in scripturis) und eine hinsichtlich der Sitten (in moribus) Die erste erwaumlchst aus der Bewunderung (admiratio) die zweite aus der Lektuumlre (lectio) die dritte aus der umsichtigen Beobachtung (circumspectio)

Zuerst bringt die admiratio die Frage (quaestio) hervor die Frage das Erforschen (investi-gatio) und das Erforschen die Entdeckung (inventio) Dies ist damit die Bewunderung der Ord-

55 Fuumlr den altniederlaumlndischen Text vgl Wijk (cf Anm 49) S 155 Zum Antiphon das der Vigil vorangestellt ist vgl Anm 50

286 Anselm Rau und Johanna Scheel

nung (dispositio) die Frage nach der Ursache und die Entdeckung des inneren Beweggrundes Die Bewunderung beruht auf der Betrachtung der Ordnung im Himmel das ist die Gleich-artigkeit von allem und der Houmlhen und der Tiefen (alta et depressa) auf der Erde Die Frage betrifft die Ursache (causa) des irdischen Lebens auf Erden und des himmlischen Lebens im Himmel Das Erforschen fragt nach dem inneren Beweggrund dass so wie die Erde auch das irdische Leben beschaffen ist und dass der Beschaffenheit des Himmels selbst auch das himm-lische Leben gleicht

Bei der Lektuumlre (lectio) aber erfolgt die Betrachtung (considerare) folgendermaszligenAls erstes dient die lectio dazu durch die Bereitstellung des Stoffes (materia) die Wahr-

heit zu erkennen (cognoscere) die meditatio fuumlgt ihn zusammen (coaptare) die oratio hebt ihn empor (sublevare) die operatio (Ausfuumlhrung) wendet ihn an (componere) und die contemplatio frohlockt in ihm selbst (exsultare)

Es ist durch die Meditation der Schriften zu erkennen auf welche Weise es sich gehoumlrt etwas zu wissen Als Beispiel steht geschrieben Declina a malo et fac bonum (Vg Ps 3627 ndash Wende dich ab von dem Boumlsen und tue Gutes EUuml Ps 3727) Deshalb wurde zuvor gesagt die meditatio wendet sich der lectio zu um sich vom Boumlsen abzuwenden und darauf Gutes zu tun Der Grund (causa) hierfuumlr ist wenn sich nicht zuerst das Boumlse zuruumlckzoumlge wuumlrde das Gute nicht herantreten koumlnnen Der innere Beweggrund (ratio) aber ist so wie zuerst die Sproumlsslinge des Boumlsen mit ihrer Wurzel ausgerissen werden muumlssen so muss danach das Gute (ein-)ge-pflanzt werden Warum wurde daher gesagt Wende dich ab von dem Boumlsen Weil es einem auf dem Weg begegnet Man wendet sich deshalb ab weil wir es wo auch immer nicht vermoumlgen durch Staumlrke zu widerstehen wir entkommen ihm lediglich wenn wir uns mit Klugheit und Vernunft (consilio et ratio) von ihm abwenden Auch muumlssen wir uns vom Boumlsen abwenden um dem Naumlhrstoff (materia) zur Suumlnde aus dem Weg zu gehen ndash beispielsweise ist von Hochmut (superbia) Begehrlichkeit (incontinentia) Begierde (concupiscentia) Neid (invidia) und Streit (contentio) abzulassen um sich vom Reichtum (abundantia) der Schoumlnheit (species) des Flei-sches und der Besitzgier (amor possessiones) abzuwenden Dies bedeutet bdquosich abzuwendenldquo Desgleichen wenn auf diese Weise von allem Boumlsen sich abzuwenden angeraten ist so wird die Verrichtung alles Guten verlangt Und so ist also der ebenso schuldig bzw angeklagt der allein nur alles Boumlse meidet wie derjenige der nicht zugleich all das Gute tut Aber wenn dies so ist wer ist dann kein Angeklagter (reus) Folglich wird uns anbefohlen uns von allem Boumlsen loszusagen Andererseits kommt das Gute zum Einen aus dem was sich gehoumlrt (necessitas) und zum anderen aus dem Willen (voluntas) Es gehoumlren sich die Dinge einer Vorschrift (praecep-tum) und die eines Geluumlbdes (votum) alles uumlbrige wird erfuumlllt wenn eine Sache [also Schuld] mehr als nur vergolten wird (supererogare) und einem nichts mehr anlastet

Daher zielt die Meditation bei der lectio darauf ab zu ergruumlnden auf welche Weise et-was das erkannt wird gut ist warum und wie es zu erreichen ist weil es ndash ist es [ersteinmal] erkannt ndash auch zu verrichten ist Die Meditation ist das Entdeckungsvermoumlgen der vorgefassten Absicht (excogitatio consilii) zu erwaumlgen auf welche Weise das Gute das erkannt wurde erfuumlllt wird denn das Erkannte ist unbrauchbar wird es nicht vollbracht

Deshalb ist die Meditation bei der lectio eine dreifache Betrachtung nach der historia der allegoria und der tropologia Gemaumlszlig der historia erfolgt die Meditation wenn wir nach dem

Meditation und Gebet 287

vollendeten inneren Beweggrund der Dinge fragen die geschehen sind und diesen hinsichtlich seiner uumlbereinstimmenden Art und Weise (modus) bezuumlglich der Zeiten (tempora) und Orte (loci) bestaunen (admirare) Bei dieser Betrachtung der goumlttlichen Ratschluumlsse (iudicium) laumlsst man nicht davon ab daruumlber nachzudenken dass diese richtigen und gerechten (rectus et iustus) Entscheidungen zu keiner Zeit den Beistand [Gottes fuumlr die Menschen] entzogen (deesse) und durch sie das geschah was sich gehoumlrte und vergolten wurde was gerecht war (iustum fuit)

Die Meditation hinsichtlich der allegoria beschaumlftigt sich mit der Gliederung (dispositio) der vorangegangenen und zukuumlnftigen Dinge und so wie fuumlr den Verstand (intelligentia) an-gemessen richtet sie dabei ihre Aufmerksamkeit auf deren uumlbereinstimmende Bedeutung in ihrer bewundernswerten Vernunftmaumlszligigkeit (ratio) und Vorhersehung (providentia) und auf ihre fuumlr den Glauben (fides) geschaffene Gestalt (forma)

Bezuumlglich der tropologia beschaumlftigt sich die Meditation damit welche Frucht die Worte der lectio hervorbringen und erforscht (exquirere) was diese wenn sie ausgefuumlhrt werden [im Sinne des eigentlichen Aussprechens der Worte aber auch die Ausfuumlhrung ihres Inhaltes] ein-pflanzen (insinuere) und dabei zugleich lehren was zu vermeiden ist Sie stellt vor Augen was durch die lectio der Schrift zur Unterweisung (eruditio) zur Ermahnung (exhortatio) zur Troumls-tung (consolatio) und zum Schrecken (terror) dient Hierdurch erleuchtet die tropologia dahin-gehend was zum Verstehen der Tugenden (virtus) fuumlhrt sie naumlhrt (nutrire) den Affekt (affectio) und lehrt (edocere) die Lebensfuumlhrung auf dem Pfad der Tugenden

Die Meditation der Sitten (mos) erfolgt gemaumlszlig der Affekte (affectus) der Erwaumlgungen (cogi-tationes) und der Werke (opera)

Hinsichtlich der Affekte ist zu betrachten wie sie recht und aufrichtig (rectus et sincerus) zu sein vermoumlgen damit ist gemeint auf das und zu was hin sie geschuldet sein muumlssen und in welcher Weise sie zu sein haben Zu differenzieren ist naumlmlich dass das was sich nicht gehoumlrt (non oportet) boumlse ist und zugleich das was sich gehoumlrt zu lieben ist ndash das zu lieben das sich gleichwie nicht gehoumlrt ist boumlse Daher handelt es sich um einen guten Affekt wenn er auf das ausgerichtet ist auf das er verpflichtet ist und in der Weise wie es sich gehoumlrt

Amnon liebte (diligere) seine Schwester und dies war der Affekt zu dem er bestimmt war doch weil er Boumlses begehrte war es nicht der Affekt wie er ihn schuldete (vgl 2 Sam 13) So kann der Affekt auf das gerichtet sein zu was er gehoumlrt dies aber nicht in der [angemessenen] Art und Weise Niemals aber kann der Affekt so sein wie er zu sein hat wenn er nicht auf das ihm Zugehoumlrige ausgerichtet ist Auf das ausgerichtet zu was er gehoumlrt bedeutet dass er recht ist und in der Art und Weise wie es sich gehoumlrt und dementsprechend ist er rein Daher werden die Affekte in den Erwaumlgungen betrachtet damit sie rein (mundus) und geordnet (ordi-natus) sind Rein sind sie wenn weder etwas Boumlses von den Affekten hervorgebracht wird noch das Boumlse die Affekte hervorbringt Dass sie geordnet sind meint wenn sie vernuumlnftigerweise aufgrund des ihnen eigenen Anlasses (suo tempore) aufkommen (advenire) Es ist nicht ohne Schaden (vitium) [naumlmlich im Sinne des korrekten Vorgehens nicht ohne Formfehler] bereits das Gute zu einem diesem nicht angemessenen Zeitpunkt zu erwaumlgen wie etwa an die lectio waumlhrend der oratio zu denken oder auch an die oratio waumlhrend der lectio

Bei den Werken ist als erstes zu betrachten was zum Beispiel durch die gute Absicht (bona intentio) geschieht Um eine gute Absicht handelt es sich wenn sie einfach und aufrichtig ist

288 Anselm Rau und Johanna Scheel

(simplex et recta) Die bona intentio ist arglos ohne Hinterlist (malitia) und aufrichtig ohne Ignoranz (ignorantia) Die naumlmlich ohne Hinterlist ist besitzt den Eifer (zelus) Ist sie aber aus der [bewussten] Unkenntnis gegenuumlber dem Wissen (scientia) (Roumlm 102) geboren verfuumlgt sie nicht uumlber den [wahren] Eifer Daher ist es notwendig dass die Absicht aufrichtig ist in der Bescheidenheit (discretio) und arglos im Wohlwollen (benignitas) Bei den Werken ist zu be-trachten dass sie aus der aufkommenden guten Absicht heraus mit beharrlicher Leidenschaft (fervor) schlieszliglich ans Ziel gefuumlhrt werden damit nicht die Beharrlichkeit (perseverantia) ge-laumlhmt (torpere) und die Liebe (amor) nicht lau wird (tepescare)

Auf gleiche Weise erfolgt die meditatio der Sitten in einer zweifachen Betrachtung naumlmlich einer inneren und einer aumluszligeren Die aumluszligere blickt auf das Ansehen (fama) die innere auf das Gewissen (conscientia) Die aumluszligere Betrachtung erfolgt gemaumlszlig dem was ziert (decere) und was nuumltzt (expedire) was als Beispiel (exemplum) dient und was den Lohn (meritum) hervorbringt ndash uns zum Lohn und den Naumlchsten als Beispiel Die innere Betrachtung dagegen schaut auf das Gewissen damit es rein (mundus) sei ohne Anklage (accusatio) zu erleiden (pati) ob nun durch die Laumlhmung (torpor) des Guten oder die Hartnaumlckigkeit (praesumptio) des Boumlsen Rein ist aber jenes Gewissen das weder durch das Vergangene zu recht angeklagt (accusare) noch durch das Gegenwaumlrtige unrechtmaumlszligig erfreut (delectare) wird

Daher laumlsst die meditatio der Sitten ihre Betrachtung nicht ruhen damit sie jegliche Re-gungen (motus) die sich im Herzen erheben bemerkt und erwaumlgt woher sie kommen und worauf sie abzielen (tendere) Das heiszligt woher sie kommen gemaumlszlig ihrem Ursprung und wo-nach sie streben hinsichtlich ihres Ziels Alles ist naumlmlich eine Bewegung aus irgendetwas und auf irgendetwas Die Bewegungen des Herzens sind manchmal offenkundigen Ursprungs manchmal entspringen sie aber auch Verborgenem Bei denen der Ursprung offenkundig ist ist er bisweilen durch das Gute bisweilen aufgrund des Boumlsen erwiesen Was offenkundig gut ist kommt von Gott was aber deutlich boumlse erscheint entspringt entweder dem Teufel oder dem Fleisch Dies sind naumlmlich die drei Urheber (auctores) aller Vorstellungen (suggestio) und aller Eingebungen (aspiratio) die unsichtbar an das Herz herantreten und aus jenen drei hervor-gehen Entspringen die Bewegungen des Herzens daher dem Verborgenen koumlnnen sie manch-mal aus dem Guten und dem Geheimen hervorgehen und sind manchmal boumlse und zweifelhaft (dubius) Die dem Guten entspringen kommen von Gott die aber dem Boumlsen entstammen sind entweder des Teufels oder des Fleisches

Die Bewegungen die folglich offenkundig sind sei es im Guten oder Boumlsen werden auf den ersten Blick durch ihren Ursprung angezeigt Jene aber die zweifelhaft bleiben hinsichtlich ih-res Grundes sind am Ende zu uumlberpruumlfen (probare) Ihr Ergebnis [oder Ausgang] (exitus) zeigt naumlmlich deutlich was vom Ursprung her verborgen war und deswegen muss derjenige der es nicht vermochte den Ausgangspunkt seiner Herzensbewegungen zu beurteilen (iudicare) das Ziel und die Ausfuumlhrung [bzw Vollendung] (finis et consummatio) untersuchen (investigare) Die Bewegungen naumlmlich die zweifelhaft und ungewiss sind sind vom verborgenen Guten oder Boumlsen Wie gesagt wurde haben die schlechten Regungen ihren Ursprung entweder beim Teufel oder im Fleisch Diese aber sind beide boumlse sie unterscheiden sich nicht indem oder durch was sie boumlse sind doch unterscheiden sie sich dahingehend dass die Regungen des Her-zens die dem Fleisch entspringen haumlufig aus einer Notwendigkeit (necessitas) heranwachsen

Meditation und Gebet 289

die aber die tatsaumlchlich vom Teufel kommen nehmen noch oumlfter wider der Vernunft (ratio) ihren Anfang (oriri) Was naumlmlich vom Teufel eingegeben wird (suggerere) ist in der Tat dem Menschen fremd und wird deswegen haumlufig von der menschlichen Vernunft abgelehnt weil er beispielsweise unlaumlngst gesaumlttigt Hunger leidet (pati) kurz zuvor noch trunken (inebriatus) vor Durst (sitis) gluumlht (aestuare) oder wenn er nach einem ausgiebigen Schlaf (dormitio) sich erhebend vom Traum (somnus) bedruumlckt (praegravare) wird

Hieraus also werden die Werke des Teufels differenziert betrachtet weil sie ja an den Men-schen von auszligen herangetragen werden und der menschlichen Vernunft fremd sind Bei den Werken des Fleisches und ihren Eingebungen liegt der Grund des Oumlfteren in einer vorangegan-genen Notwendigkeit Aber weil sie Ziel und Maszlig (modus et mensura) uumlbersteigen wachsen sie zum Uumlberfluss (superfluitas) heran Dies ist als Beispiel eben gerade dann der Fall wenn nach der Einnahme einer Mahlzeit der Hunger hemmungslos (immoderatus) begehrt (appetere) und nach Enthaltsamkeit (abstinentia) das Maszlig (mensura) bei der Aufnahme von Speise (edulium) nicht gehalten wird

Daher wird die meditatio der Sitten aufgrund eines dreifachen Urteils betrieben Das erste urteilt zwischen Tag und Nacht das zweite zwischen Tag und Tag und das dritte schlieszliglich untersucht den gesamten Tag (vgl Roumlm 145) Zwischen Nacht und Tag zu urteilen meint das Boumlse vom Guten zu (unter-)scheiden Die Beurteilung zwischen Tag und Tag bedeutet eine Un-terscheidung zwischen etwas Gutem und etwas Besserem vorzunehmen Uumlber den gesamten Tag zu richten ist schlieszliglich das einzelne Gute fuumlr den eigenen Lohn zu ermessen (aestimare)

So hat die meditatio der Sitten bei jeglichem Umgang (conversatio) das Ziel und die Rich-tung (directio) im Blick Das Ziel ist wohin man strebt die Richtung wodurch man leichter ans Ziel gelangt Jeder naumlmlich der zu irgend etwas strebt so wie etwas seine Bahn (cursus) lenkt und unaufhoumlrlich weiterzieht kommt schneller ans Ziel Es gibt daher Gutes durch das man stark bewegt ist (moveri) zugleich gibt es aber wenig her durch das man vorankommt (pro-moveri) Anderes dagegen fuumlhrt mit etwas Muumlhe (labor) zu groszligem Gewinn (fructus) Und diese sind folglich zu unterscheiden und das Bessere das mehr nuumltzt auszuwaumlhlen Welches auch immer mehr nuumltzt ist besser und es gehoumlrt sich jedes Werk auf seinen Ertrag hin zu beurteilen Indem viele diese Unterscheidung (discretio) nicht einhielten haben sie sich zwar aufs aumluszligerste bemuumlht sind jedoch nur wenig vorangekommen weil sie das Auge aumluszligerlich so sehr auf die Gestalt (species) der Werke richteten und nicht innerlich auf den Gewinn durch die Tugenden blickten Sie ergoumltzen sich daran groszlige Taten zu verrichten anstatt dass sie das Nuumltz-liche (utilia) uumlben (exercere) um sich selbst zu bessern (emendari) Dabei schaumltzten (diligere) sie vielmehr das durch das sie den Anschein erwecken (videri) konnten [so zu sein]

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zunaumlchst das was man schuldet entweder auf-grund einer Vorschrift (praeceptum) oder eines Geluumlbdes (votum) Diesbezuumlglich ist die erste Tat der meditatio zu ermitteln ist sie oder es erfuumlllt fuumlhrt es zum Lohn und wenn nicht bringt dies den Anklagezustand (reatus) hervor Es sind also zuerst die Dinge zu tun die nicht ohne Schuld (culpa) weggelassen werden koumlnnen Danach ist die meditatio alsdann so zu verrichten dass wenn etwas durch freiwillige Uumlbung (exercitatio) noch hinzugefuumlgt wird die Pflicht-erfuumlllung [eigtl Schuld] (debitum) nicht verhindert wird (impedire) Die einen die das nicht zu leisten vermoumlgen was sie schulden wollen was sie nicht muumlssen Die anderen wenn sie im-

290 Anselm Rau und Johanna Scheel

stande sind zu tun was sie schulden bringen freiwillig Hindernisse (impedimentum) mit sich indem sie etwas wollen was sie nicht muumlssen

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zwei Dinge des Boumlsen vor denen man bei der Ver-richtung von Gutem besonders auf der Hut sein muss die Betruumlbnis [Niedergeschlagenheit] (afflictio) und die Besessenheit [Vereinnahmung] (occupatio) Die afflictio fuumlhrt zur Bitterkeit (amaritudo) die occupatio zur Zerstreuung (dissipatio) Mit der afflictio verbittert die Suumlszlige (dulcedo) des Geistes und mit der occupatio wird die Ruhe (tranquillitas) zerstoumlrt (dissipare) Es herrscht Betruumlbnis wenn man fuumlr jene Dinge die man nicht vermag aufgrund der eigenen Ungeduld (impatientia) ungluumlcklich wird (urere) Dagegen handelt es sich um Besessenheit (occupatio) wenn man in seinem Handeln (nach seinem Vermoumlgen) aufgrund der impatientia gequaumllt wird (agitare) Folglich darf die Seele (animus) nicht aufgrund des Boumlsen verbittert wer-den sie muss ihr Unvermoumlgen (impossibilitas) geduldig (patienter) aushalten Genauso darf sie aber auch nicht vom Boumlsen eingenommen werden und darf ihr Vermoumlgen (possibilitas) nicht uumlber ihr eigenes Maszlig hinaus ausdehnen (extendere) Daher muss die meditatio der Sitten in einer weiteren Betrachtung der Lebensfuumlhrung zu einem Urteil kommen und dabei billigen dass es weder gut ist die Dinge die man nicht vermag ungeduldig (impatienter) zu verlangen (appetere) noch die welche man erreicht toumlricht (insipienter) zu verschmaumlhen (fastidire) Wer naumlmlich immer das begehrt was er nicht vermag und das was er [jedoch] vermag verabscheut wird sich weder am Gegenwaumlrtigen erfreuen (frui) noch am Zukuumlnftigen saumlttigen (satiare) Er verlaumlsst naumlmlich das Gute unentwickelt vor der Vollendung und eignet sich das gerade erst Be-gonnene vorzeitig an Deswegen ist es gut aufgrund des eigenen Guten zufrieden zu sein und das gegenwaumlrtige Gute durch hinzukommendes Gutes zu vermehren und es nicht aufgrund des Zukuumlnftigen wegzuwerfen (abicere) Der Austausch (commutatio) des Guten ist naumlmlich ein Leichtes (levitas) seine Uumlbung (exercitatio) aber die Tugend Oft eilen sie auf unterschiedlichen Wegen die einen die ein fruumlheres durch ein neues Gutes fallen lassen (abicere) und die ande-ren die [sich] vom Untersten zum Houmlchsten emporschwingen (conscendere) Wer naumlmlich nach Veraumlnderung (mutatio) fragt ist uumlberdruumlssig (fastidiosus) so wie der der nach dem Voran-schreiten (profectus) strebt eifrig bemuumlht ist (studiosus) Am aufrechtesten beschreitet daher derjenige den Weg der dabei so auf das Bessere brennt (fervere) dass er des Guten nicht uumlber-druumlssig wird sondern es vorerst empor haumllt solange bis er es spaumlter zu der ihm angemessenen Zeit sich aneignet (apprehendere)

Abbildungsnachweis

Einband Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders

Farbtafeln 1 (zu Beitrag Rosenwein) Coll BNU de Strasbourg ndash 2 (zu Beitrag Ferguson) Ar-chiv der Verf ndash 3 (zu Beitrag Herding) Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preu-szligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders ndash 4 (zu Beitrag Droste) R Kahsnitz Die Groszligen Schnitzaltaumlre Spaumltgotik in Suumlddeutschland Oumlsterreich Suumldtirol Muumlnchen 2005 Taf 53 ndash 5 6 (zu Beitrag Schedl) 75 Jahre 1933ndash2008 Kirche Mutter vom Guten Rat Festschrift und Chro-nik FrankfurtM 2008 S 92 Dr Bernd Konrad Radolfzell ndash 7 8 9 (zu Beitrag Zaumlh) Archiv des Autors ndash 10 (zu Beitrag Niehr) Universitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Media-thek 11 12 (zu Beitrag Muumlller) Autorin ndash 13 14 15 (zu Beitrag Schlie) Su concessione del Ministero dei beni e delle attivitagrave culturali e del turismo ndash Galleria Nazionale delle Marche ndash Urbino Archivio fotografico Archiv der Verf F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 ndash 16 17 (zu Beitrag Stoichita) D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 ndash 18 19 20 (zu Beitrag Schmidt) London British Museum C Geissmar-BrandiE Louis (Hgg) Glaube Hoffnung Liebe Tod Wien 1995 S 149 Archiv Autor ndash 21 (zu Beitrag Jung) Autorin

Textabbildungen Droste 1 3 4 Autorin 2 E Oellermann Der Hochaltar in St Martin zu Lorch am Rhein in H KrohmE Oellermann (Hrsg) Fluumlgelaltaumlre des spaumlten Mittelalters Ber-lin 1992 Abb 2 ndash Ferguson 1ndash3 Archiv der Verf ndash Frese 1 2 3 5 M BrandtA Eggebrecht (Hgg) Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen Katalog der Ausstellung Hil-desheim 1993 Bd 1 S 386f Abb 197 u 198 Bd 2 S 583 KatNr VIIIndash32 S 604 KatNr IXndash8 4 G LutzA Weyer (Hgg) 1000 Jahre St Michael in Hildesheim Kirche ndash Kloster ndash Stifter Peterberg 2012 S 148 Abb 118 ndash Gruumlndler 1ndash4 L DomenicoA Nova (Hg) Leonardo da Vincirsquos Anatomical World Language Context and Disegno Akten der Internationalen Tagung Florenz 30ndash31 Mai 2008 Venedig 2011 S 237 S 236 S 241 S 186 5 6 Le journal de Jacopo da Pontormo traduit par Jean-Claude Lebensztejn avec la collaboration drsquoAlessandro Parronchi Paris 1992 S 46 S 50 ndash Herding 1 2 3 4 5 6 7 Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders 8 Max J Friedlaumlnder Early Netherlandish Painting 14 vols Leiden und Bruumlssel 1967ndash1974 vol II 1967 pl 10 Nr 3i 9 Wolfenbuumlttel Herzog-August-Bibliothek ndash Jung 1 2 3 4 5 Autorin ndash Kessler 1 6 7 Autor 2 3 Museo delle Terme Rom 4 British Museum London 5 Alexei Lidov ndash Maxwell 1 2 AHN 3 Autor 4 Sancho el Mayor y sus herederos ed I Bango Torviso et al 2006 cat 25 5 BNE ndash Muumlller 1 Italian painting c 1330ndash1550 I National Gallery in Prague II Collections in the Czech Repub-lic Illustrated summary catalogue Prag 2008 2 Collection of The John and Mable Ringling Museum of Art the State Art Museum of Florida Florida State University 3 2014 copy Archivio Fotografico ndash Fondazione Musei Civici di Venezia ndash Niehr 1 A Schuttwolf (Hg) Ausst-Kat Jahreszeiten der Gefuumlhle Das Gothaer Liebespaar und die Minne im Spaumltmittelalter Ostfil-

400 Abbildungsnachweis

dern-Ruit 1998 2 D de Vos Hans Memling Das Gesamtwerk AntwerpenStuttgart 1994 S 278ndash283 TH Borchert Hans Memling Portraits Stuttgart 2005 S 173f Nr 23 3 Univer-sitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Mediathek ndash Pfisterer 1 E Steinmann ldquoLa mano di Michelangeloldquo in Studien aus Kunst und Geschichte Friedrich Schneider zum siebzigsten Geburtstag Freiburg iBr 1906 unnum Taf 2 R Bernini ua La mano e il volto di Antonio Canova PossagnoQuinto di Treviso 2008 S 197 3 U Klein Zur Forschungsgeschichte des Duumlrer-Hauses in GU GroszligmannF Sonnenberger (Hgg) Das Duumlrer-Haus Neue Ergebnisse der Forschung Nuumlrnberg 2007 S 105 nach Carl A Heideloff Die Ornamentik des Mittelalters Bd 3 Nuumlrnberg 1847 S 42 4 WH Vroon Het wonderlid van Jan de Witt en andere vaderland-se relieken Nijmegen 1997 S 68 5 Autor nach GF Tomasini Petrarca Redivivus Padua sup21650 S 128 6 A Picturesque Tour Through Holland Brabant and Part of France made in the autum of 1789 by Samuel Ireland London sup21796 Bd 2 Taf nach S 13 ndash Pinkus 1 2 3 4 5 6 Autor 7 8 Institut fuumlr Kunstgeschichte Universitaumlt Wien Fotothek ndash RauScheel 1 M Gregori Uf-fizien und Palazzo Pitti Muumlnchen 1994 S 31 2 Den Haag Koninklijke Bibliotheek ndash Raeck 1 2 5 7 Fotothek des Instituts fuumlr Archaumlologische Wissenschaften AbtI Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main 3 Zeichnerische Rekonstruktion M Junghans nach H-V Herrmann Olympia ndash Heiligtum und Wettkampfstaumltte Muumlnchen 1972 Abb 95 4 Antikensammlung Staatliche Museen zu Berlin Foto Johannes Laurentius 6 W Riezler Weissgrundige attische Lekythen Muumlnchen 1914 Taf 23 8 Deutsches Archaumlologisches Institut Athen Fotothek ndash Reudenbach 1 F MuumltherichJE Gaehde Karolingische Buchmalerei Muumlnchen 1979 Taf 4 2ndash4 httpwwwbibliotheca-laureshamensis-digitalde (Zugriff 20022014) ndash Schmengler 1 2 3 Torsten Saumlnger Frankfurt 4 5 6 Eric Tschernow Berlin ndash Schedl 1ndash3 Dr Bernd Konrad Radolfzell 4 FrankfurtMain-Niederrad Pfarrarchiv der katholischen Kirchengemeinde Mut-ter zum Guten Rat ndash Schlie 1 Archiv der Verf 2 Archiv der Verf + D E Katz The Contours of Tolerance Jews and the Corpus Domini Altarpiece in Urbino in Art Bulletin 85 (2003) S 647ndash661 S 647 3 F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 Schmidt 1 2 London British Museum 3 M Geisberg Der Meister ES Leipzig 21924 4 Archiv Autor ndash Taxer 1 2 O Paumlcht Altniederlaumlndische Malerei Von Rogier van der Weyden bis Gerard David Muumlnchen 1994 Abb 91 S 118 Abb 93 S 120 3 4 E Panofsky Die altniederlaumlndische Malerei Ihr Ursprung und Wesen Bd 2 Koumlln 2006 Abb 387 S 236 Abb 358 S 214 ndash Stoichita 1 D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 2 3 J Bialostocki Les Museacutees de Pologne Bruxelles 1966 ndash Zaumlh 1 2 Archiv des Verf 3 Metropolitan Museum of Art Bulletin 58 (2001) S 17 4 G ForsythK Weitzmann The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai The Church and Fortress of Justinian Plates Ann Arbor (Mi) 1973 Plate 121

276 Anselm Rau und Johanna Scheel

(Abb 1)25 In kuumlnstlerischen Darstellungen diente das Lignum vitae als visuelle Unterstuumltzung sowohl fuumlr den Gesang als auch gerade zur Strukturierung von Predigt und Meditation26 Ein Groszligteil der Bilder zum Lignum vitae binden den Text in Form der Uumlberschriften der einzelnen Meditationen ein Eine solch detailreiche Ausgestaltung wie etwa bei Pacino ist bei den uumlber-lieferten Beispielen keine Regelmaumlszligigkeit Damit belegt allein schon das Bild selbst dass das

25 Jedoch darf diese Tatsache nicht uumlber die tatsaumlchliche Anwendung hinwegtaumluschen Auf die Diskussion um die Bildwerke zum LV kann hier nicht dezidiert eingegangen werden Die juumlngsten Publikationen zum Lignum vitae mit der entsprechenden Literatur zur Forschungslage sind Preisinger (cf Anm 20) und U Ilg Quasi lignum vitae The Tree of Life as an Image of Mendicant Identity in P SaloniusA Worm (Hgg) The Tree Symbol Allegory and Mnemonic Device in Medieval Art and Thought Turnhout 2014 S 187ndash212 ndash Siehe die Kritik an der bisherigen Auseinandersetzung mit dem Lignum vitae und seinen Darstellungen in der 2015 abgeschlossenen Dissertation von A Rau Imagination und Emotion Bildstruktur und Emotionalisierungsstrategien in der monastischen Meditation und das bdquoModell Franziskusldquo sowie A Rau Im Wechselbad der Gefuumlhle ndash das Lignum vitae in Imago 4 (2015) erscheint November 201526 L Bolzoni The Web of Images Vernacular Preaching from its Origins to Saint Bernardino da Siena Aldershot 2004 S 154ff

Abb 1 Pacino di Bonaguida Lignum vitae Florenz Galleria delllsquoAccademia um 1310 258x151cm

Meditation und Gebet 277

eigentliche affizierende Potential in der Steuerung der imaginatio des LesersBetrachters durch den Text der Meditation und des Gebet selbst liegt27

Innerhalb der jeweils einer Frucht zugeordneten vier Meditationen ist ein Aufbau und Uumlbergang festzustellen ebenso sind in der Regel die Fruumlchte durch die letzte Meditation der vorangegangenen und die erste der folgenden miteinander verknuumlpft Allen gemein ist dass zu Anfang einer jeden Frucht die in den ersten zwei Fruumlchten ausgebildeten Grundtugenden caritas und humilitas als Ausgangspunkt genommen werden Diese beiden sind wie bereits von Augustinus betont die Grundtugenden aus denen alle weiteren erst hervorgehen koumlnnen28 Die einzelnen Meditationen zeichnen sich durch das Fokussieren auf eine tugendhafte Haltung Christi aus Diese verdeutlicht er entweder selbst in einer emotionalen seinen Habitus aus-druumlckenden Disposition oder weiteres biblisches Personal reagiert als Exempel fuumlr den LeserBetrachter des Lignum vitae auf die ihm so bdquovisualisertenldquo Geschehnisse um Christus So ent-stehen Imaginationsfiguren die das Handeln (operatio) bestimmen sollen Geleitet wird die Meditation des Betrachters durch die eindruumlcklichen Schilderungen der Begebenheiten aus dem Leben Christi in Kombination entweder direkter Ansprachen an seine Seele wie er sich verhalten was er sich als Vorbild nehmen soll oder durch in die Meditation selbst eingefuumlgte Gebetstexte welche die Affizierung entweder stuumltzen oder direkt hervorbringen koumlnnen

Die Meditationen der ersten vier Fruumlchte (Geburt Kindheit Wirken Christi) charakteri-sieren das Lignum vitae wie schon bei Hugo und in den Meditationsmodellen des 12 Jahrhun-derts als dezidiertes Reue- und Buszligschema Dies verdeutlicht allein schon die formale Anlage da sich hier vorwiegend Anweisungen zu habituellen emotionalen Dispositionen des Lesers finden Die Einmuumlndung dieser Meditationen in die Schilderung des letzten Abendmahls kon-kretisiert die Verbindung zwischen der logischen Anlage eines sukzessive aufgebauten Medita-tionsschemas die Notwendigkeit seiner fortdauernden Anwendung und somit den praktischen Bezug zum religioumlsen Leben Reue und Buszlige sind die notwendige Grundvoraussetzung fuumlr die Teilhabe an der Opferfeier des Messgeschehens es hebt die Meditationspraxis als fortdauernde Uumlbung der Affekte und Tugenden als staumlndige Gewissenspruumlfung hervor und kennzeichnet den Menschen ab diesem Punkt als muumlndigen Meditanden und Beter

So aumlndert sich dann ab der fuumlnften Frucht zu den Passionsmeditationen auch der Auf-bau Hier werden konzentriert einzelne orationes in die einzelnen Meditationen eingeflochten Bemerkenswert ist bei den fast als propaumldeutisch zu verstehenden Meditationen der ersten vier Fruumlchte findet sich eine sehr uumlberschaubare Anzahl von Psalmzitaten waumlhrend sie hier als personalisierte Gebete des LesersBetrachters gehaumluft auftreten Gezielt werden sie in den Meditationen der geschilderten Situationen und Peinigungen Christi eingesetzte um die com-passio zu erregen Hieran laumlsst sich die unmittelbare und entscheidende Zusammenwirkung

27 Bezuumlglich einer eingehenden gerade auch sprachlichen Untersuchung der Meditationen des Lignum vitae das affektsteuernde Potential herausarbeitend siehe abermals Rau (wie Anm 25)28 K Pansters Profectus Virtutum From Psalm 838 to David if Augsburgrsquos Profectus religiosorum in Studies in Spirituality 18 (2008) S 170 Zur Thematik weiterfuumlhrend N Baumann Die Demut als Grundlage aller Tugenden bei Augustinus Frankfurt 2009

278 Anselm Rau und Johanna Scheel

von meditatio und oratio beobachten die in Kombination die Lenkung der geordneten affectus bestimmen

Die von Hugo in De meditando angemahnte Unterscheidung und Betrachtung des Guten und Boumlsen findet in den Meditationen des Lignum vitae seine konkrete differenzierte Anwen-dung Heben die ersten vier Fruumlchten dezidiert Reue und Buszlige des MeditierendenBetenden und gerade die Schlechtigkeit des Menschen gegenuumlber Christus hervor so zeigen die Medita-tionen zur Passion Christi (5ndash8) die Betrachtung des Boumlsen und des Guten dahingehend wie das Boumlse in Gestalt der Peiniger Christi auf diesen einwirkt und wie Christus selbst oder wei-teres positiv konnotiertes biblisches Personal reagiert Die Grundlage des hier geforderten Mit-leidens mit Christus ist die bei den vorangegangenen Meditationen ausgearbeitete compassio Christi mit den Suumlndern Demuumltig ausgerichtet und damit ausgebildet am mitfuumlhlenden Vor-bild Christi kann der LeserBetrachter uumlber die imaginatio in der Meditation und dem Gebet hier zum Mitleidenden ausgebildet werden Zuerst wird also die demuumltige Emotionalitaumlt ob der eigenen Schlechtigkeit dem eigenen Boumlsen im Abgleich mit dem guten Vorbild in Christus herausgebildet und daraufhin die Affekte in den Meditationen zur Passion Christi an Christus selbst zum Mitleiden konstituiert

Als Beispiel der dezidiert auf die Affizierung ausgerichteten Anlage seien die Meditationen der fuumlnften Frucht umrissen Gegenstand (res) ist hier die Betrachtung von Christi Vertrauen (confidentia) in der Gefahr und umfasst die vier Meditationen zu Judasrsquo Verrat Christi Gebet auf dem Oumllberg der Umzingelung Christi durch die Haumlscher und seiner Gefangennahme29 Propaumldeutisch wird dem Verrat Judasrsquo dem abgrundtief Boumlsen (nequissum) die geradezu pa-radox erscheinende und dadurch Staunen und Bewunderung erweckende (o mira) Guumlte (be-nignitas) und Sanftmut (mansuetudo) Christi gegenuumlbergestellt30 Dieses Thema beherrscht alle Meditationen dieser Frucht und ist begleitende Grundlage aller folgenden Darstellungen der Misshandlung Christi Judas wird typologisch als lasterhafter Gegenpart zum tugendhaften Idealbild Christi stilisiert Sein Verrat gruumlndet in seiner cupiditas und bestimmt von seinen niedersten Trieben ist er die Personifikation von perfidia (Treulosigkeit Gewissenlosigkeit) in-gratitudo (Undankbarkeit) und duritia (Hartherzigkeit)31 Die angemahnte Betrachtung des Guten und des Boumlsen legt als klassisches System der Gegenuumlberstellung von Tugenden und Lastern anzustrebende bzw abzulehnende habitus durch die Ausrichtung der affectio dar

Signifikant zeigt sich die Affizierung anhand der uumlber die lectio sich konstituierende me-ditatio aufgrund der imaginierten Begebenheit in Verbindung mit der oratio die wiederum ihren Ausdruck in den Psalmen findet Als Ausweis der inneren Verletzlichkeit seiner mensch-lichen Natur (in natura sensibili)32 ist die Schilderung von Christi Gebet auf dem Oumllberg zentral Ob der Vorstellung des Todes (imaginatio mortis) die in seine empfindsame Seele eindrang wird er von affectus umschlungen (complexabatur affectu) Seine innere Bewegtheit wird mit den Tropfen blutigen Schweiszliges die seinen Koumlrper hinab rannen verdeutlicht der Affekt der

29 LV 517ndash20 S 75ndash7630 LV 517 S 7531 Ebd32 LV 518 S 75ndash76

Meditation und Gebet 279

Furcht (anxietas) als Empfindung steigt zwar in seinem Geist auf (in spiritu) der Nachvoll-zug erfolgt jedoch uumlber die aumluszligeren (imaginierten) Zeichen33 Die Meditation laumlsst den Leser darauf fragen bdquoO Herrscher und Herr Jesus woher kommt diese furchtbare Angst deiner Seele und dein angstvolles Flehen Hast du denn dem Vater dein Opfer nicht mit freiem Willen ge-brachtldquo34 Die Erklaumlrung folgt sofort Fuumlr die Bestaumlrkung des Glaubens hat Christus wahrhaft die sterbliche Natur angenommen damit der Mensch Hoffnung schoumlpfen kann sollte er aumlhn-liche Bedraumlngnis und Furcht erleiden denn aufgrund der Hoffnung richtet der Mensch seine Liebe auf Christus das Ziel wiederum willentlich (voluntas) aus Die offenkundigen (aumluszligeren) Zeichen des Leids in Christi menschlicher Natur sind das entscheidende Kriterium fuumlr die selbstreflexive Erkenntnis des LesersBetrachters Es ist die Erkenntnis dass Christus wahr-haftig die Schmerzen und das bittere Leid der Menschen mit fuumlhlbarer (sensu) Pein durchlitten hat35 Die Schilderung der Todesangst Christi ist damit Grundlage der im ersten Satz der fuumlnf-ten Frucht geforderten inneren Teilhabe (pii considereare) fuumlr die compassio den Nachvollzug seiner noch weiterhin zu durchleidenden koumlrperlichen wie seelischen Pein36

Diese Erkenntnis stuumltzt nun das ergaumlnzende Beten der Psalmen da diese einerseits die geforderten Affekte und den Affektreiz bekraumlftigen zugleich aber auch das selbstreflexive Moment herausarbeiten Die seelische Bedraumlngnis Christi auf dem Oumllberg wird begleitet und sozusagen von der Schilderung des Verrates Judasrsquo und der Bedraumlngung durch die Haumlscher umrahmt und aufgrund des Einbindens der Psalmen 38 41 und 55 in genau diese Meditationen zu einem inhaltlich kongruenten Gebet gestaltet Alle drei Psalmen wobei besonders Psalm 55 zitiert wird (Verse 13ndash15) nehmen Bosheit Verrat und Bedraumlngnis durch Freund und Feind in den Blick Hierdurch werden gerade das Verlassensein und das Ausgeliefertsein gegenuumlber den Misshandlungen in den Vordergrund gestellt die beschriebene Furcht Christi begleitet und durch das personalisierte Gebet zur emotionalen Ausrichtung des Beters selbst Nicht allein der einzelne Psalmvers wird dabei gebetet sondern ganz der mnemotechnischen Konzeptuali-sierung verpflichtet bildet der Vers den Ausgangspunkt und schlieszligt die Betrachtung und das Gebet des gesamt Psalms mit ein37 Der Klage uumlber den Vertrauensbruch durch den Freund (Ps 5513 ebenso Ps 3813 und Ps 41) und der Bedraumlngnis durch Frevler an deren Haumlnden Blut klebt (Vers 24) geht in Analogie zu Christi Gebet zum Vater auf dem Oumllberg die Anrufung Gottes voraus er moumlge das Beten und Flehen erhoumlren (exaudi orationem meam deprecationem meam)

33 Ebd34 Schlosser (wie Anm 19) S 51 LV 52 S 7635 LV 52 S 76 ndash Bereits Bernhard von Clairvaux formulierte Gott bot den Zugang zu sich selbst uumlber die Affekte weshalb die Inkarnation notwendig war um die affectiones des Menschen zuruumlckzugewinnen vgl B von Clairvaux Sermones super canticum canticorum 205 in Bernhard von Clairvaux Saumlmtliche Werke latdt hg v G Winkler Innsbruck (1996) Bd 5 S 28428536 LV 517 S 75 Nochmals abschlieszligend wird dies als identifikationsstiftendes Vorbild am Ende (vierte Meditation fuumlnften Frucht) mit dem Bild der gefesselten Haumlnde des unschuldigen Lammes und dem eingeforderten Stoumlhnen und der Beschreibung des durchdringenden Schmerzes der die Herzen der Juumlnger bei diesem Anblick durchstach (doloris aculues discipolorum vorda penetravit) vor Augen gestellt Vgl LV 520 S 7637 Zur Mnemotechnik allgemein M Carruthers The Book of Memory A Study of Memory in Medieval Culture Cambridge [ua] 122006 Zu beachten sind ebenso F A Yates The Art of Memory London 1966 M Evans The Geometry of Mind in Architectural Association Quarterly 124 (1980) S 32ndash55

280 Anselm Rau und Johanna Scheel

(Vers 1ndash8) Dabei wird die Angst (conturbatus sum) das Beben des Herzens in der Brust und das Befallenwerden vom Schrecken des Todes beschrieben (cor meum conturbatum est in me et formido mortis cecidit super me) ebenso das Erfasstsein von Furcht Zittern Schaudern und Entsetzen (timor et tremor venerunt super me et contexerunt me tenebrae) Der Nachvollzug der emotionalen Disposition Christi wird durch die kalkulierte Verknuumlpfung mit Psalm 38 zu-gleich ebenso zur detailreichen Klage in Furcht und Schrecken ob der eigenen Suumlndhaftigkeit Judas stellt natuumlrlich fuumlr den Abgleich das Negativbeispiel Doch im Gegensatz zu ihm zeigt der Betende in seiner demuumltigen Hinwendung zu Gott in Schmerz und Furcht das in ihn gesetzte Vertrauen das auch Jesus unter Beweis stellte Die Psalmen bieten hierfuumlr das passende Mittel der notwendigen Ausrichtung in der affectio

Ein interessanter Punkt sei in Bezug auf die Ausfuumlhrungen in De meditando hinsichtlich des Eifers (zelus) fuumlr die gerechte Sache noch genannt Die Sanftmut Christi wird gerade da-durch vor Augen gefuumlhrt dass er im Sinne des immerfort zur Vergebung bereiten Gott seinen Haumlschern guumltig begegnet da er sich seinen Peinigern nicht im Zorn (ira) verschloss (Ps 7710)38 Er haumllt naumlmlich sogar seinen Verteidiger ndash in der exegetischen Tradition Petrus vor allem dann auch in der bildenden Kunst ndash zuruumlck und bremst dessen gerechten zelus sein rechtmaumlszligiges eigentlich tugendhaftes eifersuumlchtiges Streben fuumlr das geliebte Objekt und heilt sogar ein abge-schlagenes Ohr Dieser Eifer der wie in De meditando beschrieben ohne Hinterlist ist nicht aus Ignoranz (repraumlsentiert durch die HaumlscherPeiniger) gegenuumlber der Wahrheit (in Christus) hervorgegangen zeigt die gute Absicht die durch Beharrlichkeit ans Ziel fuumlhrt und laumlsst somit die Liebe nicht lau werden Petrus wird als Identifikationsfigur installiert und am Ende aber-mals Judas entgegen gehalten Letzterer wurde zwar schlieszliglich aufgrund seiner Tat von Reue ergriffen jedoch war er nicht faumlhig durch die Hoffnung auf das Gute Christus Vergebung zu ersehnen und wurde von Bitterkeit (amaritudo) erfuumlllt so dass er den Tod und nicht das ewige Leben ersehnte

Meditationsschemata werden gerne aufgrund der ihnen innewohnenden Abfolge als starre Konstrukte und allein auf einen miszliginterpretierten geistigen Aufstieg abzielend hin verstan-den Doch beweist gerade das Lignum vitae eine hohe Flexibilitaumlt fuumlr den alltaumlglichen Gebrauch und zudem die eigentliche Intention die Formung von affectus

Gerard Zerbolt van Zutphen

Das stufenweise emotionale Gebet und die Meditation begegnen ebenfalls ndash allerdings weniger stark schematisiert als im Lignum Vitae ndash in einem Standardwerk der niederlaumlndischen Froumlm-migkeitsliteratur des 15 Jahrhunderts In De spiritualibus ascensionibus stellt Gerard Zerbolt

38 Im Tugend- und Lastersystem ist die Unterscheidung von zelus ira und furor sehr entscheidend bezuumlglich des guten und schlechten Strebens und damit hinsichtlich rationalen Ordnung des Geistes Zum tugendhaften und lasterhaften Zorn und seiner Aspekte vgl Richard von St Viktor Benjamin minor 40ndash44 PL 196029-033 ndash Gerade bei der Verurteilung Christi durch Pilatus (LV 624 S 77) wird das Thema der rasenden Wut (zelus invidiae) und des gerechte Zorns (zelus iustitia) nochmals differenziert

Meditation und Gebet 281

von Zutphen ein Autor der devotio moderna handbuchartig sein Aufstiegsmodell dar39 Darin vermittelt er seinen Mitbruumldern und einem frommen Laienpublikum ein ausgekluumlgeltes System von geistigen Uumlbungen die sich nicht nur auf den eigentlichen Gebetsakt beziehen sondern habituell im Alltag Anwendung finden sollen indem sie eine Transformation des Menschen be-wirken Er geht dabei von dem uumlblichen zeitgenoumlssischen theologischen Anthropologiemodell der Seele als durch Suumlnde verschmutzte imago Dei aus und stuumltzt sich auf bekannte moraltheo-logische Emotionstheorien die er jedoch stark ausweitet indem er den Emotionen eine genaue Funktion und eine Schluumlsselrolle im Erkenntnisprozess zuweist Die formula meditandi40 be-schreibt Gerard als inhaltlich verschieden konnotierte Selbstuumlberpruumlfungen in der die dadurch produzierten Emotionen wie Zerknirschung (compunctio bzw contritio) Furcht (timor) oder Hoffnung (spes) nicht nur bewusst gemacht sondern produktiv umgewandelt werden um zu Instrumenten und Stufen des weiteren Aufstiegs zu werden41 Diese Aufstiege sind ein Prozess der Selbsttransformation des Menschen der sich vollzieht indem der Mensch sowohl seinen urspruumlnglichen Zustand diese Transformation selbst als auch die Erfahrung seiner Veraumlnde-rung mit den erreichten Stufen emotional (ex affectu) erkennt (cogitare) und fuumlhlt (sentire)42 Aumlhnlich wie bei Hugo von St Viktor formuliert Gerard dass der Betende immer einen Affekt und ein Verlangen (desiderium) annehmen solle die zu den aktuellen Uumlbungen oder Medita-tionen passe43 Die Selbsttransformation im geistigen Aufstieg wird nach Gerard ebenso im uumlb-lichen Schema der lectio meditatio und oratio geuumlbt und an verschiedenen materiae meditandi44 vollzogen Die Affekte werden anhand dieser materiae erzeugt katalysiert und in das Gebet

39 Die Schrift (im Folgenden De Spir Asc) wird zitiert nach der Edition von F J LegrandN Staubach (Hgg) Gerard Zerbolt von Zutphen De Spiritualibus Ascensionibus La monteacutee du coeur Turnhout 2006 Vgl zur affektiven Konnotation von Gerards Gebetssystematik M Goossens De meditatie in de eerste tijd van de moderne devotie HaarlemAntwerpen 1954 Er stellt den Affekt als Wesensmerkmal des Gebets bei Gerard fest ebd S 118 Zur Einbindung der Schrift innerhalb der Gebetstheorien der Devotio Moderna und zum Stellenwert der affektiven Selbstreflexion auch in Beziehung zu zeitgenoumlssischer Kunst vgl J Scheel Das altniederlaumlndische Stifterbild Emotionsstrategien des Sehens und der Selbsterkenntnis Berlin 2014 bes S 155ndash171 230ndash241 414ndash42640 De Spir Asc Kap 641 Gerard spricht synonym von Aufstiegsstufen und affectus zB in Kap 27 bdquoIn hac prima ascensione vel primo affecto [hellip]ldquo Oder er benennt Affekte wie Hoffnung und Furcht als Stufen bdquo[hellip] istis duobus gradibus timoris et spei [hellip]ldquo Kap 26 Insgesamt benutzt er die Vokabeln affectus und affectio synonym zwar begegnet in Bedeutung von Strebevermoumlgen meist affectio und ersetzt also die vires durch die affectiones animae besonders wenn es um lasterhafte Affekte geht doch werden die einzelnen Affekte durchgehend als affectus nicht als affectio bezeichnet42 De Spir Asc Kap 643 Das Gebet solle nie bloszliges Lippenbekenntnis sein sondern immer aus der Wurzel des Herzens verfolgt werden und zwar stets aus den Affekten der Furcht Trauer Freude Bewunderung Dankbarkeit etc bdquo[hellip] ex affectu timoris meroris dilectionis admiracionis congratulationis etcldquo De Spir Kap 46 Diese Affektreihe stimmt mit derjenigen bei Hugo in De modo orandi uumlberein siehe oben S 273f44 Diese sind zunaumlchst die bekannten Meditationsinhalte wie man sie allenthalben in theologischer Literatur des Mittelalters findet Leben und Passion Christi das Juumlngste Gericht und die eigene Todesstunde (diese bspw bereits in Bonaventuras De Triplici Via Kap 3) Bei Gerard werden ebenfalls Houmllle und Himmelreich sowie die eigenen Suumlnden und Wohltaten Gottes eingeschlossen sowie das eigene Selbst in dem und waumlhrend des Gebets Zum Kontext der neuen Meditationswuumlrdigkeit des eigenen Selbst in den Lehren der Devotio Moderna vgl Scheel (cf Anm 39)

282 Anselm Rau und Johanna Scheel

uumlberfuumlhrt Dies macht Gerard wie Hugo anhand des Psalmengebets anschaulich indem er einerseits beispielhaft zeigt wie ex affectu ein Psalm gebetet wird waumlhrend er gleichzeitig bei vorheriger Thematisierung der lectio dessen Erregung durch die Lektuumlre betont

bdquoWenn du dich in deiner ersten Uumlberpruumlfung diskutiert hast und entdeckst dass deine Suumlnden zahlreicher sind als die Zahl des Sandes der Meere forme in dir den Affekt der Demut oder Trauer und nimm die Rolle (persona) eines Dieners an der seinen Herrn beleidigt hat Aus diesem Affekt heraus forme ein Gebet und sage sbquoGott sei mir gnaumldig nach deiner Huld tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmenlsquo (Ps 503) Wenn du in der zweiten und dritten Uumlberpruumlfung dich selbst diskutierend bemerkst dass dein Herz mit schlechten Begierden und boumlsen Verlangen gefuumlllt ist forme in dir wiederum den Affekt der Demut und nimm die Rolle eines Kranken an der nach Medizin fragt und sage sbquoHerr sei mir gnaumldig heile mich denn ich habe gegen dich gesuumlndigtlsquo (Ps 405) oder sbquoNichts blieb gesund an meinem Leib weil du mir grollst weil ich gesuumlndigt blieb an meinen Gliedern nichts heillsquo (Ebd) etc Wenn du dich im zweiten Aufstieg in Furcht durch Meditationen des Todes und des Gerichtes oder der Houmllle uumlbst nimm den Affekt der Furcht ein und die Rolle eines Suumlnders vor dem Richter an in Angst und Zittern als seist du schon uumlberfuumlhrt und der Richtspruch gegen dich gesprochen und sage sbquoVerdamme mich nicht Herr gehe nicht ins Gericht mit deinem Dienerlsquo (Ps 1422) oder sbquoHerr in deiner Wutlsquo (Ps 62) etc Wenn du dich aber in Hoffnung uumlbst durch die memoria des Him-melreiches nimm den Affekt der Liebe an und bete mit innigem Herzen und sage sbquoIch erstrebe eines Herr dieses wuumlnsche ich dass ich in dem Haus des Herrn wohnen darflsquo (Ps 264) oder sbquoWie der Hirsch lechzt nach frischem Wasserlsquo (Ps 412) etc Und ebenso kannst du mit anderen Affekten jene aus diesen formen und musst du die Rolle annehmen die deine Uumlbung erfordert und deine Meditation verlangtldquo45

Uumlber Hugo hinausgehend wird hier dem Betenden empfohlen sich konkrete Szenarien und personae zu imaginieren um die gewuumlnschten Affekte einzuuumlben Die Psalmenbeispiele mit den zugeordneten Affekten uumlberschneiden sich bei beiden Autoren bei Psalm 6 (timor) so-wie Psalm 26 (Gerard spes Hugo bona praesumptio)46 Besonders bei der Einuumlbung von timor und der Erwaumlhnung des Richtspruches in Kombination mit den Buszligpsalmen 6 und 142 stehen unmittelbar zeitgenoumlssische Darstellungen des Weltgerichts bzw der Auferstehung der Toten vor Augen wie man sie in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern in Kombination mit eben jenem Buszligpsalm 6 aber auch in der altniederlaumlndischen Malerei findet47 Psalmen koumlnnen zu den

45 bdquoUnde breviter ut modum habeas secundum predicta si te in prima examinacione discusseris et inveneris peccata tua multiplicata super numerum arene maris forma in te affectum humilitatis vel meroris et assume personam servi qui dominum suum offendit Et ex tali affectu forma oracionem dicens Secundum multitudinem miseracionum tuarum dele iniquitatem meam [hellip] Si te in secundo ascensu in timore per meditaciones mortis vel iudicii vel inferni exercueris assume affectum timoris et assume personam rei astantis coram iudice cum timore et tremore quasi iam convictus contra quem de iure proferenda est sentencia et dic Noli me condemnare Non intres in iudicium cum servo tuo Vel Domine ne in furore etc [hellip] Et sic de aliis affectibus quos ex istis formare poteris et assumere debes sicut exercicium tuum exigit et meditacio tua requiritldquo De Spir Asc Kap 4646 Zu den Psalmen die Hugo als Beispiele benutzt siehe oben S 273f47 Vgl dazu J Scheel Sich selbst sehen ndash der Betrachter in und vor dem Bild Spiegel- und Stifterfiguren in Texten und Bildern des 15 Jahrhunderts in E KochH Schlie (Hgg) Orte der Imagination ndash Raumlume des Affekts Die mediale Formierung des Sakralen Muumlnchen 2015

Meditation und Gebet 283

bdquototal memoriertenldquo48 Texten des Mittelalters gezaumlhlt werden weswegen sie sich beiden Autoren als Beispiele anbieten Sie benutzen die Buszligpsalmen (hier die Psalmen 6 31 [Hugo] 50 142) die im Stundenbuch fest als eigenstaumlndiger Gebetstext verankert sind und ebenso in der To-tenvigil ihren Platz haben ndash zusammen mit Gerards weiteren Beispielpsalmen 40 und 4149 Das Stundenbuch ist ein Medium in dem Psalmwort und bildliche Darstellung auf die Theorie des stufenweisen emotionalen Gebets und der Selbsttransformation treffen koumlnnen

Die Miniaturen die der Totenvigil bspw in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern des 15 Jahr-hunderts voranstehen zeigen oftmals eine ganzseitige Totenmesse sowie in der M-Initiale der gegenuumlberliegenden Textzeile50 zwei betende einander zugewandte Seelen im Fegefeuer (vgl

48 Zu diesen Texten gehoumlrten bspw das Pater Noster oder Ave Maria waumlhrend denen gleichzeitig auch uumlber bestimmte Aspekte zB der Passion meditiert werden konnte und sollte vgl P Saenger Books of Hours and the Reading Habits of the Later Middle Ages in R ChartierA Boureau (Hgg) The Culture of Print Power and the Uses of Print in Early Modern Europe Cambridge 1989 S 141ndash173 hier S 154 Bei den Psalmen genuumlgt wie man hier sieht allein die Nennung des Incipit oder bestimmter Verse die dem Leser so vertraut sind dass sie den gesamten Psalmentext mit assoziieren49 Zwar ist der Einsatz von Psalmen in mittelalterlichen Stundenbuumlchern mitunter verschieden doch kann man beispielhaft an einer Gruppe von Stundenbuumlchern in niederlaumlndischer Sprache diese Psalmen finden Diese Stundenbuumlcher sind mit der Uumlbersetzung des Gruumlndungsvaters des Devotio Moderna Geert Grote versehen oder stehen mit ihr in Verbindung N van Wijk Het getijdenboek van Geert Groote Naar het Haagse handschr 133 E 21 Leiden 1940 diese hauptsaumlchlich anhand einer einzigen Handschrift erarbeitete Edition wird hier in Ermangelung einer kritischen Edition genutzt Das getijdenboek enthaumllt einen Kalender des Bistums Utrecht fuumlnf Offizien (Marienoffizium Heiliggeistoffizium das lange und kurze Heiligkreuzoffizium Stunden der ewigen Weisheit) Buszligpsalmen Litanei und Totenvigil 50 Es ist der Beginn des invitatorium bdquoMi hebben ombeuanghen die suchten des dodes die pijnlike seer der hellen heben mi ombeuanghenldquo Wijk (cf Anm 49) S 156 ndash bdquoMich haben umfangen die Seufzer des Todes die qualvollen Schmerzen der Houmllle haben mich umfangenldquo

Abb 2 Meister des Hugo Jansz van Woerden Totenmesse und Seelen im Fegefeuer ca 1475ndash1500 Den Haag Koninklijke Bibliotheek Ms 76 G 13 fol 85vndash86r

284 Anselm Rau und Johanna Scheel

Abb 2)51 Das Fegefeuer bespricht Gerard eher marginal in seinem Traktat Fuumlr die affektive Meditation des eigenen Todes liefert er allerdings einerseits eine Anleitung fuumlr den Betenden die Affekte nun bereits zu erwecken die vor waumlhrend und nach dem eigentlichen Todeszeit-punkt entstuumlnden ndash und sich mit ihnen im Gebet selbst zu formen52 Andererseits raumlt er dem Glaumlubigen sich zum Zwecke des ex affectu-Gebets einen Koumlrper in seinen Verwesungsstadien vor Augen zu halten53 und was mit ihm selbst bei der Beerdigung passiere54 Das Fegefeuer ist ein im Sinne mittelalterlicher Moraltheologie produktiver Gebetsinhalt da der Glaumlubige im steten Oszillieren zwischen spes und timor besonders gut zur caritas aufzusteigen vermag Diesen Tenor findet man ebenfalls bei Geert Grote in seinem getijdenboek bei der Vorrede der Toten-vigil Hier raumlt er dem betenden Leser zum Wechsel aus Psalmen und Antiphonen in Hinblick auf die Erregung von Furcht und Angst Liebe und Hoffnung in der Ausrichtung auf Gut und Boumlse und mit Blick auf das Fegefeuer bdquoHier beginnt die Vigil in duytsche die so organisiert ist denjenigen zu helfen die von hinnen gefahren sind in der Freundschaft Gottes in das Fegefeuer Und ebenso dazu [gedacht ist] den Lebenden zu helfen die sie lesen damit ihnen das Wissen um die kommenden Dinge eingedruumlckt werde auf dass sie glauben hoffen und lieben an die Dinge in Herrlichkeit Und [sie] sich dafuumlr bereit machen und sich waumlhrenddessen die ganze Zeit fuumlrchten dass ihre Tage schnell vergehen Auf dass sie sich fuumlrchten aumlngstigen grauen und beben vor dem mannigfaltigen Leid der Angst und dem Elend die den Boumlsen ereilen werden und sie so darum ihr Leben lang ndash das hier aumluszligerst kurz ist ndash darauf hinarbeiten diesem Leid zu entgehen und [die Vigil ist auch hilfreich] weil ein Mensch diese beiden Dinge ndash Gutes in Liebe und Boumlses in Angst ndash besser ansehen (aensien) kann und erkennen und sich uumlberdenken damit er besser bitten kann und [es] mehr begehrt (begheert) und mehr liebt (myn[n]t) fuumlr diejenigen zu bitten die im Fegefeuer sind fuumlr ihre baldige Erloumlsung und dafuumlr Gottes Ehre zu vermehren [hellip] So hilft das Bitten der Lebenden den Toten und das Bitten fuumlr die Toten hilft den Lebendigen sich auf den Tod vorzubereiten [hellip] Und dazu ist das Singen dieser Psalmen heranzuziehen [und zwar] immer nach den Bedeutungen der Antiphone und den Sinn der

51 Die Darstellung von Seelen im Fegefeuer taucht als Buchillumination ab dem 13 Jahrhundert bereits vereinzelt auf und diente in Kombination mit Jenseitsvisionen Bibeltexten und moralisierenden Inhalten vor allem dem Gedenken an bereits Verstorbene wie auch zur persoumlnlichen Mediation des Lesers Oft findet eine narrative Einbindung statt Vgl dazu M Borowska Das Entfachen des Fegefeuers in der europaumlischen Miniatur des 13 Jahrhunderts in Umeni 57 (2009) S 310ndash325 Zum ikonografischen Kontext der hier gewaumlhlten Illumination vgl die Untersuchung von I M Veldman Purgatory in the Low Lands in B BukovinskaacuteL Slaviacuteček (Hgg) Pictura verba cupit Essays for Lubomiacuter Konečnyacute Prag 2006 S 169ndash180 va 170ndash17252 De Spir Asc Kap 19 In den folgenden Kapiteln stellt Gerard dem Leser dasselbe Prinzip an den Themen des Juumlngsten Gerichts der Houmllle und des Himmelreiches vor 53 bdquoItem interdum propone oculis tuis ymaginem alicuius hominis morientis et diligenter respice formam modum et ordinem quibus ad mortem deveniturldquo De Spir Asc Kap 1954 Weitere beliebte Illustrationen zum Totenoffizium im Stundenbuch des 15 Jahrhundert sind ebenfalls die Darstellung eines Toten um dessen Seele Engel und Teufel kaumlmpfen Schaumldeldarstellungen Seelen in Abrahams Schoszlig Himmel und Houmllle der Tod als Angreifer die Auferweckung des Lazarus sowie die Psychostasis mit Michael als Seelenwaumlger Diese Motive werden eher als ganzseitige Miniaturen dargestellt und bekommen zum Teil in der begleitenden Initiale jene zwei betenden Seelen im Fegefeuer hinzugefuumlgt

Meditation und Gebet 285

Antiphone soll man dazu in den Psalmen bedenken in allen Stundengebeten Dabei ist gut dass man sowohl vor als auch danach die Antiphonen spreche und schreibeldquo55

Mit der sich gegenseitig amplifizierenden Kombination von selbstreflexiven Affekt er-regendem und ausdruumlckendem Psalmentext mit der bildlichen Darstellung von Beerdigung mit Fegefeuer und mit derartigen Aufstiegsmodellen vertraut kann der betende Leser hier den eigenen Tod und die Bestrafung seiner Seele als Konsequenz der eigenen irdischen Suumlndhaftig-keit produktiv in seine Bemuumlhungen des geistigen Aufstiegs und seine Selbsttransformation kanalisieren

Imagination und Illumination

Das Gebetsleben des mittelalterlichen Glaumlubigen ist gekennzeichnet durch seine Affektivitaumlt Die affectus werden mit Gebetstexten und Psalmenreihen sowie mithilfe bildlicher Darstel-lungen sorgfaumlltig kultiviert und systematisch eingeuumlbt Dabei sind dies altbekannte ndash weil biblische ndash Text- und Bildinhalte deren affizierendes Potential auf neue Arten ausgeschoumlpft wird Texte und physische wie gerade geistige Bilder erinnern den Betenden nicht nur unver-bindlich an bereits bekannte Ereignisse Situationen und Figuren sondern lassen ihn sich mit diesen durch affektive und reflexive Meditationspraktiken identifizieren Fremde Worte und Emotionen werden darin zu den eigenen Vorbilder aus dem Kreis der Heiligen werden so zu Imaginationsfiguren das Selbst wird auf Gott ausgerichtet und in all seinen Aspekten gezielt emotional reflektiert So unterschiedlich die formale Herangehensweise dieser Praktiken bei den drei untersuchten Autoren Hugo von St Viktor Bonaventura und Gerard Zerbolt van Zutphen zu sein scheint vermitteln sie doch die selbe zentrale Maszliggabe oratio est affectus ndash bdquoGebet ist Affektldquo

Uumlbersetzung Hugo von St Viktor De meditando PL 176 993ndash99

Die Meditation ist die haumlufige Erwaumlgung (cogitatio) der Ursache (causa) und des inneren Be-weggrundes (ratio) eines einzelnen zu untersuchenden Gegenstandes (res) was seine Art sei (modus) was die Ursache und was der Beweggrund

Es gibt drei Arten (genus) der Meditation eine in Bezug auf die Schoumlpfung (in creaturis) eine hinsichtlich der Schrift (in scripturis) und eine hinsichtlich der Sitten (in moribus) Die erste erwaumlchst aus der Bewunderung (admiratio) die zweite aus der Lektuumlre (lectio) die dritte aus der umsichtigen Beobachtung (circumspectio)

Zuerst bringt die admiratio die Frage (quaestio) hervor die Frage das Erforschen (investi-gatio) und das Erforschen die Entdeckung (inventio) Dies ist damit die Bewunderung der Ord-

55 Fuumlr den altniederlaumlndischen Text vgl Wijk (cf Anm 49) S 155 Zum Antiphon das der Vigil vorangestellt ist vgl Anm 50

286 Anselm Rau und Johanna Scheel

nung (dispositio) die Frage nach der Ursache und die Entdeckung des inneren Beweggrundes Die Bewunderung beruht auf der Betrachtung der Ordnung im Himmel das ist die Gleich-artigkeit von allem und der Houmlhen und der Tiefen (alta et depressa) auf der Erde Die Frage betrifft die Ursache (causa) des irdischen Lebens auf Erden und des himmlischen Lebens im Himmel Das Erforschen fragt nach dem inneren Beweggrund dass so wie die Erde auch das irdische Leben beschaffen ist und dass der Beschaffenheit des Himmels selbst auch das himm-lische Leben gleicht

Bei der Lektuumlre (lectio) aber erfolgt die Betrachtung (considerare) folgendermaszligenAls erstes dient die lectio dazu durch die Bereitstellung des Stoffes (materia) die Wahr-

heit zu erkennen (cognoscere) die meditatio fuumlgt ihn zusammen (coaptare) die oratio hebt ihn empor (sublevare) die operatio (Ausfuumlhrung) wendet ihn an (componere) und die contemplatio frohlockt in ihm selbst (exsultare)

Es ist durch die Meditation der Schriften zu erkennen auf welche Weise es sich gehoumlrt etwas zu wissen Als Beispiel steht geschrieben Declina a malo et fac bonum (Vg Ps 3627 ndash Wende dich ab von dem Boumlsen und tue Gutes EUuml Ps 3727) Deshalb wurde zuvor gesagt die meditatio wendet sich der lectio zu um sich vom Boumlsen abzuwenden und darauf Gutes zu tun Der Grund (causa) hierfuumlr ist wenn sich nicht zuerst das Boumlse zuruumlckzoumlge wuumlrde das Gute nicht herantreten koumlnnen Der innere Beweggrund (ratio) aber ist so wie zuerst die Sproumlsslinge des Boumlsen mit ihrer Wurzel ausgerissen werden muumlssen so muss danach das Gute (ein-)ge-pflanzt werden Warum wurde daher gesagt Wende dich ab von dem Boumlsen Weil es einem auf dem Weg begegnet Man wendet sich deshalb ab weil wir es wo auch immer nicht vermoumlgen durch Staumlrke zu widerstehen wir entkommen ihm lediglich wenn wir uns mit Klugheit und Vernunft (consilio et ratio) von ihm abwenden Auch muumlssen wir uns vom Boumlsen abwenden um dem Naumlhrstoff (materia) zur Suumlnde aus dem Weg zu gehen ndash beispielsweise ist von Hochmut (superbia) Begehrlichkeit (incontinentia) Begierde (concupiscentia) Neid (invidia) und Streit (contentio) abzulassen um sich vom Reichtum (abundantia) der Schoumlnheit (species) des Flei-sches und der Besitzgier (amor possessiones) abzuwenden Dies bedeutet bdquosich abzuwendenldquo Desgleichen wenn auf diese Weise von allem Boumlsen sich abzuwenden angeraten ist so wird die Verrichtung alles Guten verlangt Und so ist also der ebenso schuldig bzw angeklagt der allein nur alles Boumlse meidet wie derjenige der nicht zugleich all das Gute tut Aber wenn dies so ist wer ist dann kein Angeklagter (reus) Folglich wird uns anbefohlen uns von allem Boumlsen loszusagen Andererseits kommt das Gute zum Einen aus dem was sich gehoumlrt (necessitas) und zum anderen aus dem Willen (voluntas) Es gehoumlren sich die Dinge einer Vorschrift (praecep-tum) und die eines Geluumlbdes (votum) alles uumlbrige wird erfuumlllt wenn eine Sache [also Schuld] mehr als nur vergolten wird (supererogare) und einem nichts mehr anlastet

Daher zielt die Meditation bei der lectio darauf ab zu ergruumlnden auf welche Weise et-was das erkannt wird gut ist warum und wie es zu erreichen ist weil es ndash ist es [ersteinmal] erkannt ndash auch zu verrichten ist Die Meditation ist das Entdeckungsvermoumlgen der vorgefassten Absicht (excogitatio consilii) zu erwaumlgen auf welche Weise das Gute das erkannt wurde erfuumlllt wird denn das Erkannte ist unbrauchbar wird es nicht vollbracht

Deshalb ist die Meditation bei der lectio eine dreifache Betrachtung nach der historia der allegoria und der tropologia Gemaumlszlig der historia erfolgt die Meditation wenn wir nach dem

Meditation und Gebet 287

vollendeten inneren Beweggrund der Dinge fragen die geschehen sind und diesen hinsichtlich seiner uumlbereinstimmenden Art und Weise (modus) bezuumlglich der Zeiten (tempora) und Orte (loci) bestaunen (admirare) Bei dieser Betrachtung der goumlttlichen Ratschluumlsse (iudicium) laumlsst man nicht davon ab daruumlber nachzudenken dass diese richtigen und gerechten (rectus et iustus) Entscheidungen zu keiner Zeit den Beistand [Gottes fuumlr die Menschen] entzogen (deesse) und durch sie das geschah was sich gehoumlrte und vergolten wurde was gerecht war (iustum fuit)

Die Meditation hinsichtlich der allegoria beschaumlftigt sich mit der Gliederung (dispositio) der vorangegangenen und zukuumlnftigen Dinge und so wie fuumlr den Verstand (intelligentia) an-gemessen richtet sie dabei ihre Aufmerksamkeit auf deren uumlbereinstimmende Bedeutung in ihrer bewundernswerten Vernunftmaumlszligigkeit (ratio) und Vorhersehung (providentia) und auf ihre fuumlr den Glauben (fides) geschaffene Gestalt (forma)

Bezuumlglich der tropologia beschaumlftigt sich die Meditation damit welche Frucht die Worte der lectio hervorbringen und erforscht (exquirere) was diese wenn sie ausgefuumlhrt werden [im Sinne des eigentlichen Aussprechens der Worte aber auch die Ausfuumlhrung ihres Inhaltes] ein-pflanzen (insinuere) und dabei zugleich lehren was zu vermeiden ist Sie stellt vor Augen was durch die lectio der Schrift zur Unterweisung (eruditio) zur Ermahnung (exhortatio) zur Troumls-tung (consolatio) und zum Schrecken (terror) dient Hierdurch erleuchtet die tropologia dahin-gehend was zum Verstehen der Tugenden (virtus) fuumlhrt sie naumlhrt (nutrire) den Affekt (affectio) und lehrt (edocere) die Lebensfuumlhrung auf dem Pfad der Tugenden

Die Meditation der Sitten (mos) erfolgt gemaumlszlig der Affekte (affectus) der Erwaumlgungen (cogi-tationes) und der Werke (opera)

Hinsichtlich der Affekte ist zu betrachten wie sie recht und aufrichtig (rectus et sincerus) zu sein vermoumlgen damit ist gemeint auf das und zu was hin sie geschuldet sein muumlssen und in welcher Weise sie zu sein haben Zu differenzieren ist naumlmlich dass das was sich nicht gehoumlrt (non oportet) boumlse ist und zugleich das was sich gehoumlrt zu lieben ist ndash das zu lieben das sich gleichwie nicht gehoumlrt ist boumlse Daher handelt es sich um einen guten Affekt wenn er auf das ausgerichtet ist auf das er verpflichtet ist und in der Weise wie es sich gehoumlrt

Amnon liebte (diligere) seine Schwester und dies war der Affekt zu dem er bestimmt war doch weil er Boumlses begehrte war es nicht der Affekt wie er ihn schuldete (vgl 2 Sam 13) So kann der Affekt auf das gerichtet sein zu was er gehoumlrt dies aber nicht in der [angemessenen] Art und Weise Niemals aber kann der Affekt so sein wie er zu sein hat wenn er nicht auf das ihm Zugehoumlrige ausgerichtet ist Auf das ausgerichtet zu was er gehoumlrt bedeutet dass er recht ist und in der Art und Weise wie es sich gehoumlrt und dementsprechend ist er rein Daher werden die Affekte in den Erwaumlgungen betrachtet damit sie rein (mundus) und geordnet (ordi-natus) sind Rein sind sie wenn weder etwas Boumlses von den Affekten hervorgebracht wird noch das Boumlse die Affekte hervorbringt Dass sie geordnet sind meint wenn sie vernuumlnftigerweise aufgrund des ihnen eigenen Anlasses (suo tempore) aufkommen (advenire) Es ist nicht ohne Schaden (vitium) [naumlmlich im Sinne des korrekten Vorgehens nicht ohne Formfehler] bereits das Gute zu einem diesem nicht angemessenen Zeitpunkt zu erwaumlgen wie etwa an die lectio waumlhrend der oratio zu denken oder auch an die oratio waumlhrend der lectio

Bei den Werken ist als erstes zu betrachten was zum Beispiel durch die gute Absicht (bona intentio) geschieht Um eine gute Absicht handelt es sich wenn sie einfach und aufrichtig ist

288 Anselm Rau und Johanna Scheel

(simplex et recta) Die bona intentio ist arglos ohne Hinterlist (malitia) und aufrichtig ohne Ignoranz (ignorantia) Die naumlmlich ohne Hinterlist ist besitzt den Eifer (zelus) Ist sie aber aus der [bewussten] Unkenntnis gegenuumlber dem Wissen (scientia) (Roumlm 102) geboren verfuumlgt sie nicht uumlber den [wahren] Eifer Daher ist es notwendig dass die Absicht aufrichtig ist in der Bescheidenheit (discretio) und arglos im Wohlwollen (benignitas) Bei den Werken ist zu be-trachten dass sie aus der aufkommenden guten Absicht heraus mit beharrlicher Leidenschaft (fervor) schlieszliglich ans Ziel gefuumlhrt werden damit nicht die Beharrlichkeit (perseverantia) ge-laumlhmt (torpere) und die Liebe (amor) nicht lau wird (tepescare)

Auf gleiche Weise erfolgt die meditatio der Sitten in einer zweifachen Betrachtung naumlmlich einer inneren und einer aumluszligeren Die aumluszligere blickt auf das Ansehen (fama) die innere auf das Gewissen (conscientia) Die aumluszligere Betrachtung erfolgt gemaumlszlig dem was ziert (decere) und was nuumltzt (expedire) was als Beispiel (exemplum) dient und was den Lohn (meritum) hervorbringt ndash uns zum Lohn und den Naumlchsten als Beispiel Die innere Betrachtung dagegen schaut auf das Gewissen damit es rein (mundus) sei ohne Anklage (accusatio) zu erleiden (pati) ob nun durch die Laumlhmung (torpor) des Guten oder die Hartnaumlckigkeit (praesumptio) des Boumlsen Rein ist aber jenes Gewissen das weder durch das Vergangene zu recht angeklagt (accusare) noch durch das Gegenwaumlrtige unrechtmaumlszligig erfreut (delectare) wird

Daher laumlsst die meditatio der Sitten ihre Betrachtung nicht ruhen damit sie jegliche Re-gungen (motus) die sich im Herzen erheben bemerkt und erwaumlgt woher sie kommen und worauf sie abzielen (tendere) Das heiszligt woher sie kommen gemaumlszlig ihrem Ursprung und wo-nach sie streben hinsichtlich ihres Ziels Alles ist naumlmlich eine Bewegung aus irgendetwas und auf irgendetwas Die Bewegungen des Herzens sind manchmal offenkundigen Ursprungs manchmal entspringen sie aber auch Verborgenem Bei denen der Ursprung offenkundig ist ist er bisweilen durch das Gute bisweilen aufgrund des Boumlsen erwiesen Was offenkundig gut ist kommt von Gott was aber deutlich boumlse erscheint entspringt entweder dem Teufel oder dem Fleisch Dies sind naumlmlich die drei Urheber (auctores) aller Vorstellungen (suggestio) und aller Eingebungen (aspiratio) die unsichtbar an das Herz herantreten und aus jenen drei hervor-gehen Entspringen die Bewegungen des Herzens daher dem Verborgenen koumlnnen sie manch-mal aus dem Guten und dem Geheimen hervorgehen und sind manchmal boumlse und zweifelhaft (dubius) Die dem Guten entspringen kommen von Gott die aber dem Boumlsen entstammen sind entweder des Teufels oder des Fleisches

Die Bewegungen die folglich offenkundig sind sei es im Guten oder Boumlsen werden auf den ersten Blick durch ihren Ursprung angezeigt Jene aber die zweifelhaft bleiben hinsichtlich ih-res Grundes sind am Ende zu uumlberpruumlfen (probare) Ihr Ergebnis [oder Ausgang] (exitus) zeigt naumlmlich deutlich was vom Ursprung her verborgen war und deswegen muss derjenige der es nicht vermochte den Ausgangspunkt seiner Herzensbewegungen zu beurteilen (iudicare) das Ziel und die Ausfuumlhrung [bzw Vollendung] (finis et consummatio) untersuchen (investigare) Die Bewegungen naumlmlich die zweifelhaft und ungewiss sind sind vom verborgenen Guten oder Boumlsen Wie gesagt wurde haben die schlechten Regungen ihren Ursprung entweder beim Teufel oder im Fleisch Diese aber sind beide boumlse sie unterscheiden sich nicht indem oder durch was sie boumlse sind doch unterscheiden sie sich dahingehend dass die Regungen des Her-zens die dem Fleisch entspringen haumlufig aus einer Notwendigkeit (necessitas) heranwachsen

Meditation und Gebet 289

die aber die tatsaumlchlich vom Teufel kommen nehmen noch oumlfter wider der Vernunft (ratio) ihren Anfang (oriri) Was naumlmlich vom Teufel eingegeben wird (suggerere) ist in der Tat dem Menschen fremd und wird deswegen haumlufig von der menschlichen Vernunft abgelehnt weil er beispielsweise unlaumlngst gesaumlttigt Hunger leidet (pati) kurz zuvor noch trunken (inebriatus) vor Durst (sitis) gluumlht (aestuare) oder wenn er nach einem ausgiebigen Schlaf (dormitio) sich erhebend vom Traum (somnus) bedruumlckt (praegravare) wird

Hieraus also werden die Werke des Teufels differenziert betrachtet weil sie ja an den Men-schen von auszligen herangetragen werden und der menschlichen Vernunft fremd sind Bei den Werken des Fleisches und ihren Eingebungen liegt der Grund des Oumlfteren in einer vorangegan-genen Notwendigkeit Aber weil sie Ziel und Maszlig (modus et mensura) uumlbersteigen wachsen sie zum Uumlberfluss (superfluitas) heran Dies ist als Beispiel eben gerade dann der Fall wenn nach der Einnahme einer Mahlzeit der Hunger hemmungslos (immoderatus) begehrt (appetere) und nach Enthaltsamkeit (abstinentia) das Maszlig (mensura) bei der Aufnahme von Speise (edulium) nicht gehalten wird

Daher wird die meditatio der Sitten aufgrund eines dreifachen Urteils betrieben Das erste urteilt zwischen Tag und Nacht das zweite zwischen Tag und Tag und das dritte schlieszliglich untersucht den gesamten Tag (vgl Roumlm 145) Zwischen Nacht und Tag zu urteilen meint das Boumlse vom Guten zu (unter-)scheiden Die Beurteilung zwischen Tag und Tag bedeutet eine Un-terscheidung zwischen etwas Gutem und etwas Besserem vorzunehmen Uumlber den gesamten Tag zu richten ist schlieszliglich das einzelne Gute fuumlr den eigenen Lohn zu ermessen (aestimare)

So hat die meditatio der Sitten bei jeglichem Umgang (conversatio) das Ziel und die Rich-tung (directio) im Blick Das Ziel ist wohin man strebt die Richtung wodurch man leichter ans Ziel gelangt Jeder naumlmlich der zu irgend etwas strebt so wie etwas seine Bahn (cursus) lenkt und unaufhoumlrlich weiterzieht kommt schneller ans Ziel Es gibt daher Gutes durch das man stark bewegt ist (moveri) zugleich gibt es aber wenig her durch das man vorankommt (pro-moveri) Anderes dagegen fuumlhrt mit etwas Muumlhe (labor) zu groszligem Gewinn (fructus) Und diese sind folglich zu unterscheiden und das Bessere das mehr nuumltzt auszuwaumlhlen Welches auch immer mehr nuumltzt ist besser und es gehoumlrt sich jedes Werk auf seinen Ertrag hin zu beurteilen Indem viele diese Unterscheidung (discretio) nicht einhielten haben sie sich zwar aufs aumluszligerste bemuumlht sind jedoch nur wenig vorangekommen weil sie das Auge aumluszligerlich so sehr auf die Gestalt (species) der Werke richteten und nicht innerlich auf den Gewinn durch die Tugenden blickten Sie ergoumltzen sich daran groszlige Taten zu verrichten anstatt dass sie das Nuumltz-liche (utilia) uumlben (exercere) um sich selbst zu bessern (emendari) Dabei schaumltzten (diligere) sie vielmehr das durch das sie den Anschein erwecken (videri) konnten [so zu sein]

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zunaumlchst das was man schuldet entweder auf-grund einer Vorschrift (praeceptum) oder eines Geluumlbdes (votum) Diesbezuumlglich ist die erste Tat der meditatio zu ermitteln ist sie oder es erfuumlllt fuumlhrt es zum Lohn und wenn nicht bringt dies den Anklagezustand (reatus) hervor Es sind also zuerst die Dinge zu tun die nicht ohne Schuld (culpa) weggelassen werden koumlnnen Danach ist die meditatio alsdann so zu verrichten dass wenn etwas durch freiwillige Uumlbung (exercitatio) noch hinzugefuumlgt wird die Pflicht-erfuumlllung [eigtl Schuld] (debitum) nicht verhindert wird (impedire) Die einen die das nicht zu leisten vermoumlgen was sie schulden wollen was sie nicht muumlssen Die anderen wenn sie im-

290 Anselm Rau und Johanna Scheel

stande sind zu tun was sie schulden bringen freiwillig Hindernisse (impedimentum) mit sich indem sie etwas wollen was sie nicht muumlssen

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zwei Dinge des Boumlsen vor denen man bei der Ver-richtung von Gutem besonders auf der Hut sein muss die Betruumlbnis [Niedergeschlagenheit] (afflictio) und die Besessenheit [Vereinnahmung] (occupatio) Die afflictio fuumlhrt zur Bitterkeit (amaritudo) die occupatio zur Zerstreuung (dissipatio) Mit der afflictio verbittert die Suumlszlige (dulcedo) des Geistes und mit der occupatio wird die Ruhe (tranquillitas) zerstoumlrt (dissipare) Es herrscht Betruumlbnis wenn man fuumlr jene Dinge die man nicht vermag aufgrund der eigenen Ungeduld (impatientia) ungluumlcklich wird (urere) Dagegen handelt es sich um Besessenheit (occupatio) wenn man in seinem Handeln (nach seinem Vermoumlgen) aufgrund der impatientia gequaumllt wird (agitare) Folglich darf die Seele (animus) nicht aufgrund des Boumlsen verbittert wer-den sie muss ihr Unvermoumlgen (impossibilitas) geduldig (patienter) aushalten Genauso darf sie aber auch nicht vom Boumlsen eingenommen werden und darf ihr Vermoumlgen (possibilitas) nicht uumlber ihr eigenes Maszlig hinaus ausdehnen (extendere) Daher muss die meditatio der Sitten in einer weiteren Betrachtung der Lebensfuumlhrung zu einem Urteil kommen und dabei billigen dass es weder gut ist die Dinge die man nicht vermag ungeduldig (impatienter) zu verlangen (appetere) noch die welche man erreicht toumlricht (insipienter) zu verschmaumlhen (fastidire) Wer naumlmlich immer das begehrt was er nicht vermag und das was er [jedoch] vermag verabscheut wird sich weder am Gegenwaumlrtigen erfreuen (frui) noch am Zukuumlnftigen saumlttigen (satiare) Er verlaumlsst naumlmlich das Gute unentwickelt vor der Vollendung und eignet sich das gerade erst Be-gonnene vorzeitig an Deswegen ist es gut aufgrund des eigenen Guten zufrieden zu sein und das gegenwaumlrtige Gute durch hinzukommendes Gutes zu vermehren und es nicht aufgrund des Zukuumlnftigen wegzuwerfen (abicere) Der Austausch (commutatio) des Guten ist naumlmlich ein Leichtes (levitas) seine Uumlbung (exercitatio) aber die Tugend Oft eilen sie auf unterschiedlichen Wegen die einen die ein fruumlheres durch ein neues Gutes fallen lassen (abicere) und die ande-ren die [sich] vom Untersten zum Houmlchsten emporschwingen (conscendere) Wer naumlmlich nach Veraumlnderung (mutatio) fragt ist uumlberdruumlssig (fastidiosus) so wie der der nach dem Voran-schreiten (profectus) strebt eifrig bemuumlht ist (studiosus) Am aufrechtesten beschreitet daher derjenige den Weg der dabei so auf das Bessere brennt (fervere) dass er des Guten nicht uumlber-druumlssig wird sondern es vorerst empor haumllt solange bis er es spaumlter zu der ihm angemessenen Zeit sich aneignet (apprehendere)

Abbildungsnachweis

Einband Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders

Farbtafeln 1 (zu Beitrag Rosenwein) Coll BNU de Strasbourg ndash 2 (zu Beitrag Ferguson) Ar-chiv der Verf ndash 3 (zu Beitrag Herding) Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preu-szligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders ndash 4 (zu Beitrag Droste) R Kahsnitz Die Groszligen Schnitzaltaumlre Spaumltgotik in Suumlddeutschland Oumlsterreich Suumldtirol Muumlnchen 2005 Taf 53 ndash 5 6 (zu Beitrag Schedl) 75 Jahre 1933ndash2008 Kirche Mutter vom Guten Rat Festschrift und Chro-nik FrankfurtM 2008 S 92 Dr Bernd Konrad Radolfzell ndash 7 8 9 (zu Beitrag Zaumlh) Archiv des Autors ndash 10 (zu Beitrag Niehr) Universitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Media-thek 11 12 (zu Beitrag Muumlller) Autorin ndash 13 14 15 (zu Beitrag Schlie) Su concessione del Ministero dei beni e delle attivitagrave culturali e del turismo ndash Galleria Nazionale delle Marche ndash Urbino Archivio fotografico Archiv der Verf F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 ndash 16 17 (zu Beitrag Stoichita) D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 ndash 18 19 20 (zu Beitrag Schmidt) London British Museum C Geissmar-BrandiE Louis (Hgg) Glaube Hoffnung Liebe Tod Wien 1995 S 149 Archiv Autor ndash 21 (zu Beitrag Jung) Autorin

Textabbildungen Droste 1 3 4 Autorin 2 E Oellermann Der Hochaltar in St Martin zu Lorch am Rhein in H KrohmE Oellermann (Hrsg) Fluumlgelaltaumlre des spaumlten Mittelalters Ber-lin 1992 Abb 2 ndash Ferguson 1ndash3 Archiv der Verf ndash Frese 1 2 3 5 M BrandtA Eggebrecht (Hgg) Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen Katalog der Ausstellung Hil-desheim 1993 Bd 1 S 386f Abb 197 u 198 Bd 2 S 583 KatNr VIIIndash32 S 604 KatNr IXndash8 4 G LutzA Weyer (Hgg) 1000 Jahre St Michael in Hildesheim Kirche ndash Kloster ndash Stifter Peterberg 2012 S 148 Abb 118 ndash Gruumlndler 1ndash4 L DomenicoA Nova (Hg) Leonardo da Vincirsquos Anatomical World Language Context and Disegno Akten der Internationalen Tagung Florenz 30ndash31 Mai 2008 Venedig 2011 S 237 S 236 S 241 S 186 5 6 Le journal de Jacopo da Pontormo traduit par Jean-Claude Lebensztejn avec la collaboration drsquoAlessandro Parronchi Paris 1992 S 46 S 50 ndash Herding 1 2 3 4 5 6 7 Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders 8 Max J Friedlaumlnder Early Netherlandish Painting 14 vols Leiden und Bruumlssel 1967ndash1974 vol II 1967 pl 10 Nr 3i 9 Wolfenbuumlttel Herzog-August-Bibliothek ndash Jung 1 2 3 4 5 Autorin ndash Kessler 1 6 7 Autor 2 3 Museo delle Terme Rom 4 British Museum London 5 Alexei Lidov ndash Maxwell 1 2 AHN 3 Autor 4 Sancho el Mayor y sus herederos ed I Bango Torviso et al 2006 cat 25 5 BNE ndash Muumlller 1 Italian painting c 1330ndash1550 I National Gallery in Prague II Collections in the Czech Repub-lic Illustrated summary catalogue Prag 2008 2 Collection of The John and Mable Ringling Museum of Art the State Art Museum of Florida Florida State University 3 2014 copy Archivio Fotografico ndash Fondazione Musei Civici di Venezia ndash Niehr 1 A Schuttwolf (Hg) Ausst-Kat Jahreszeiten der Gefuumlhle Das Gothaer Liebespaar und die Minne im Spaumltmittelalter Ostfil-

400 Abbildungsnachweis

dern-Ruit 1998 2 D de Vos Hans Memling Das Gesamtwerk AntwerpenStuttgart 1994 S 278ndash283 TH Borchert Hans Memling Portraits Stuttgart 2005 S 173f Nr 23 3 Univer-sitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Mediathek ndash Pfisterer 1 E Steinmann ldquoLa mano di Michelangeloldquo in Studien aus Kunst und Geschichte Friedrich Schneider zum siebzigsten Geburtstag Freiburg iBr 1906 unnum Taf 2 R Bernini ua La mano e il volto di Antonio Canova PossagnoQuinto di Treviso 2008 S 197 3 U Klein Zur Forschungsgeschichte des Duumlrer-Hauses in GU GroszligmannF Sonnenberger (Hgg) Das Duumlrer-Haus Neue Ergebnisse der Forschung Nuumlrnberg 2007 S 105 nach Carl A Heideloff Die Ornamentik des Mittelalters Bd 3 Nuumlrnberg 1847 S 42 4 WH Vroon Het wonderlid van Jan de Witt en andere vaderland-se relieken Nijmegen 1997 S 68 5 Autor nach GF Tomasini Petrarca Redivivus Padua sup21650 S 128 6 A Picturesque Tour Through Holland Brabant and Part of France made in the autum of 1789 by Samuel Ireland London sup21796 Bd 2 Taf nach S 13 ndash Pinkus 1 2 3 4 5 6 Autor 7 8 Institut fuumlr Kunstgeschichte Universitaumlt Wien Fotothek ndash RauScheel 1 M Gregori Uf-fizien und Palazzo Pitti Muumlnchen 1994 S 31 2 Den Haag Koninklijke Bibliotheek ndash Raeck 1 2 5 7 Fotothek des Instituts fuumlr Archaumlologische Wissenschaften AbtI Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main 3 Zeichnerische Rekonstruktion M Junghans nach H-V Herrmann Olympia ndash Heiligtum und Wettkampfstaumltte Muumlnchen 1972 Abb 95 4 Antikensammlung Staatliche Museen zu Berlin Foto Johannes Laurentius 6 W Riezler Weissgrundige attische Lekythen Muumlnchen 1914 Taf 23 8 Deutsches Archaumlologisches Institut Athen Fotothek ndash Reudenbach 1 F MuumltherichJE Gaehde Karolingische Buchmalerei Muumlnchen 1979 Taf 4 2ndash4 httpwwwbibliotheca-laureshamensis-digitalde (Zugriff 20022014) ndash Schmengler 1 2 3 Torsten Saumlnger Frankfurt 4 5 6 Eric Tschernow Berlin ndash Schedl 1ndash3 Dr Bernd Konrad Radolfzell 4 FrankfurtMain-Niederrad Pfarrarchiv der katholischen Kirchengemeinde Mut-ter zum Guten Rat ndash Schlie 1 Archiv der Verf 2 Archiv der Verf + D E Katz The Contours of Tolerance Jews and the Corpus Domini Altarpiece in Urbino in Art Bulletin 85 (2003) S 647ndash661 S 647 3 F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 Schmidt 1 2 London British Museum 3 M Geisberg Der Meister ES Leipzig 21924 4 Archiv Autor ndash Taxer 1 2 O Paumlcht Altniederlaumlndische Malerei Von Rogier van der Weyden bis Gerard David Muumlnchen 1994 Abb 91 S 118 Abb 93 S 120 3 4 E Panofsky Die altniederlaumlndische Malerei Ihr Ursprung und Wesen Bd 2 Koumlln 2006 Abb 387 S 236 Abb 358 S 214 ndash Stoichita 1 D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 2 3 J Bialostocki Les Museacutees de Pologne Bruxelles 1966 ndash Zaumlh 1 2 Archiv des Verf 3 Metropolitan Museum of Art Bulletin 58 (2001) S 17 4 G ForsythK Weitzmann The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai The Church and Fortress of Justinian Plates Ann Arbor (Mi) 1973 Plate 121

Meditation und Gebet 277

eigentliche affizierende Potential in der Steuerung der imaginatio des LesersBetrachters durch den Text der Meditation und des Gebet selbst liegt27

Innerhalb der jeweils einer Frucht zugeordneten vier Meditationen ist ein Aufbau und Uumlbergang festzustellen ebenso sind in der Regel die Fruumlchte durch die letzte Meditation der vorangegangenen und die erste der folgenden miteinander verknuumlpft Allen gemein ist dass zu Anfang einer jeden Frucht die in den ersten zwei Fruumlchten ausgebildeten Grundtugenden caritas und humilitas als Ausgangspunkt genommen werden Diese beiden sind wie bereits von Augustinus betont die Grundtugenden aus denen alle weiteren erst hervorgehen koumlnnen28 Die einzelnen Meditationen zeichnen sich durch das Fokussieren auf eine tugendhafte Haltung Christi aus Diese verdeutlicht er entweder selbst in einer emotionalen seinen Habitus aus-druumlckenden Disposition oder weiteres biblisches Personal reagiert als Exempel fuumlr den LeserBetrachter des Lignum vitae auf die ihm so bdquovisualisertenldquo Geschehnisse um Christus So ent-stehen Imaginationsfiguren die das Handeln (operatio) bestimmen sollen Geleitet wird die Meditation des Betrachters durch die eindruumlcklichen Schilderungen der Begebenheiten aus dem Leben Christi in Kombination entweder direkter Ansprachen an seine Seele wie er sich verhalten was er sich als Vorbild nehmen soll oder durch in die Meditation selbst eingefuumlgte Gebetstexte welche die Affizierung entweder stuumltzen oder direkt hervorbringen koumlnnen

Die Meditationen der ersten vier Fruumlchte (Geburt Kindheit Wirken Christi) charakteri-sieren das Lignum vitae wie schon bei Hugo und in den Meditationsmodellen des 12 Jahrhun-derts als dezidiertes Reue- und Buszligschema Dies verdeutlicht allein schon die formale Anlage da sich hier vorwiegend Anweisungen zu habituellen emotionalen Dispositionen des Lesers finden Die Einmuumlndung dieser Meditationen in die Schilderung des letzten Abendmahls kon-kretisiert die Verbindung zwischen der logischen Anlage eines sukzessive aufgebauten Medita-tionsschemas die Notwendigkeit seiner fortdauernden Anwendung und somit den praktischen Bezug zum religioumlsen Leben Reue und Buszlige sind die notwendige Grundvoraussetzung fuumlr die Teilhabe an der Opferfeier des Messgeschehens es hebt die Meditationspraxis als fortdauernde Uumlbung der Affekte und Tugenden als staumlndige Gewissenspruumlfung hervor und kennzeichnet den Menschen ab diesem Punkt als muumlndigen Meditanden und Beter

So aumlndert sich dann ab der fuumlnften Frucht zu den Passionsmeditationen auch der Auf-bau Hier werden konzentriert einzelne orationes in die einzelnen Meditationen eingeflochten Bemerkenswert ist bei den fast als propaumldeutisch zu verstehenden Meditationen der ersten vier Fruumlchte findet sich eine sehr uumlberschaubare Anzahl von Psalmzitaten waumlhrend sie hier als personalisierte Gebete des LesersBetrachters gehaumluft auftreten Gezielt werden sie in den Meditationen der geschilderten Situationen und Peinigungen Christi eingesetzte um die com-passio zu erregen Hieran laumlsst sich die unmittelbare und entscheidende Zusammenwirkung

27 Bezuumlglich einer eingehenden gerade auch sprachlichen Untersuchung der Meditationen des Lignum vitae das affektsteuernde Potential herausarbeitend siehe abermals Rau (wie Anm 25)28 K Pansters Profectus Virtutum From Psalm 838 to David if Augsburgrsquos Profectus religiosorum in Studies in Spirituality 18 (2008) S 170 Zur Thematik weiterfuumlhrend N Baumann Die Demut als Grundlage aller Tugenden bei Augustinus Frankfurt 2009

278 Anselm Rau und Johanna Scheel

von meditatio und oratio beobachten die in Kombination die Lenkung der geordneten affectus bestimmen

Die von Hugo in De meditando angemahnte Unterscheidung und Betrachtung des Guten und Boumlsen findet in den Meditationen des Lignum vitae seine konkrete differenzierte Anwen-dung Heben die ersten vier Fruumlchten dezidiert Reue und Buszlige des MeditierendenBetenden und gerade die Schlechtigkeit des Menschen gegenuumlber Christus hervor so zeigen die Medita-tionen zur Passion Christi (5ndash8) die Betrachtung des Boumlsen und des Guten dahingehend wie das Boumlse in Gestalt der Peiniger Christi auf diesen einwirkt und wie Christus selbst oder wei-teres positiv konnotiertes biblisches Personal reagiert Die Grundlage des hier geforderten Mit-leidens mit Christus ist die bei den vorangegangenen Meditationen ausgearbeitete compassio Christi mit den Suumlndern Demuumltig ausgerichtet und damit ausgebildet am mitfuumlhlenden Vor-bild Christi kann der LeserBetrachter uumlber die imaginatio in der Meditation und dem Gebet hier zum Mitleidenden ausgebildet werden Zuerst wird also die demuumltige Emotionalitaumlt ob der eigenen Schlechtigkeit dem eigenen Boumlsen im Abgleich mit dem guten Vorbild in Christus herausgebildet und daraufhin die Affekte in den Meditationen zur Passion Christi an Christus selbst zum Mitleiden konstituiert

Als Beispiel der dezidiert auf die Affizierung ausgerichteten Anlage seien die Meditationen der fuumlnften Frucht umrissen Gegenstand (res) ist hier die Betrachtung von Christi Vertrauen (confidentia) in der Gefahr und umfasst die vier Meditationen zu Judasrsquo Verrat Christi Gebet auf dem Oumllberg der Umzingelung Christi durch die Haumlscher und seiner Gefangennahme29 Propaumldeutisch wird dem Verrat Judasrsquo dem abgrundtief Boumlsen (nequissum) die geradezu pa-radox erscheinende und dadurch Staunen und Bewunderung erweckende (o mira) Guumlte (be-nignitas) und Sanftmut (mansuetudo) Christi gegenuumlbergestellt30 Dieses Thema beherrscht alle Meditationen dieser Frucht und ist begleitende Grundlage aller folgenden Darstellungen der Misshandlung Christi Judas wird typologisch als lasterhafter Gegenpart zum tugendhaften Idealbild Christi stilisiert Sein Verrat gruumlndet in seiner cupiditas und bestimmt von seinen niedersten Trieben ist er die Personifikation von perfidia (Treulosigkeit Gewissenlosigkeit) in-gratitudo (Undankbarkeit) und duritia (Hartherzigkeit)31 Die angemahnte Betrachtung des Guten und des Boumlsen legt als klassisches System der Gegenuumlberstellung von Tugenden und Lastern anzustrebende bzw abzulehnende habitus durch die Ausrichtung der affectio dar

Signifikant zeigt sich die Affizierung anhand der uumlber die lectio sich konstituierende me-ditatio aufgrund der imaginierten Begebenheit in Verbindung mit der oratio die wiederum ihren Ausdruck in den Psalmen findet Als Ausweis der inneren Verletzlichkeit seiner mensch-lichen Natur (in natura sensibili)32 ist die Schilderung von Christi Gebet auf dem Oumllberg zentral Ob der Vorstellung des Todes (imaginatio mortis) die in seine empfindsame Seele eindrang wird er von affectus umschlungen (complexabatur affectu) Seine innere Bewegtheit wird mit den Tropfen blutigen Schweiszliges die seinen Koumlrper hinab rannen verdeutlicht der Affekt der

29 LV 517ndash20 S 75ndash7630 LV 517 S 7531 Ebd32 LV 518 S 75ndash76

Meditation und Gebet 279

Furcht (anxietas) als Empfindung steigt zwar in seinem Geist auf (in spiritu) der Nachvoll-zug erfolgt jedoch uumlber die aumluszligeren (imaginierten) Zeichen33 Die Meditation laumlsst den Leser darauf fragen bdquoO Herrscher und Herr Jesus woher kommt diese furchtbare Angst deiner Seele und dein angstvolles Flehen Hast du denn dem Vater dein Opfer nicht mit freiem Willen ge-brachtldquo34 Die Erklaumlrung folgt sofort Fuumlr die Bestaumlrkung des Glaubens hat Christus wahrhaft die sterbliche Natur angenommen damit der Mensch Hoffnung schoumlpfen kann sollte er aumlhn-liche Bedraumlngnis und Furcht erleiden denn aufgrund der Hoffnung richtet der Mensch seine Liebe auf Christus das Ziel wiederum willentlich (voluntas) aus Die offenkundigen (aumluszligeren) Zeichen des Leids in Christi menschlicher Natur sind das entscheidende Kriterium fuumlr die selbstreflexive Erkenntnis des LesersBetrachters Es ist die Erkenntnis dass Christus wahr-haftig die Schmerzen und das bittere Leid der Menschen mit fuumlhlbarer (sensu) Pein durchlitten hat35 Die Schilderung der Todesangst Christi ist damit Grundlage der im ersten Satz der fuumlnf-ten Frucht geforderten inneren Teilhabe (pii considereare) fuumlr die compassio den Nachvollzug seiner noch weiterhin zu durchleidenden koumlrperlichen wie seelischen Pein36

Diese Erkenntnis stuumltzt nun das ergaumlnzende Beten der Psalmen da diese einerseits die geforderten Affekte und den Affektreiz bekraumlftigen zugleich aber auch das selbstreflexive Moment herausarbeiten Die seelische Bedraumlngnis Christi auf dem Oumllberg wird begleitet und sozusagen von der Schilderung des Verrates Judasrsquo und der Bedraumlngung durch die Haumlscher umrahmt und aufgrund des Einbindens der Psalmen 38 41 und 55 in genau diese Meditationen zu einem inhaltlich kongruenten Gebet gestaltet Alle drei Psalmen wobei besonders Psalm 55 zitiert wird (Verse 13ndash15) nehmen Bosheit Verrat und Bedraumlngnis durch Freund und Feind in den Blick Hierdurch werden gerade das Verlassensein und das Ausgeliefertsein gegenuumlber den Misshandlungen in den Vordergrund gestellt die beschriebene Furcht Christi begleitet und durch das personalisierte Gebet zur emotionalen Ausrichtung des Beters selbst Nicht allein der einzelne Psalmvers wird dabei gebetet sondern ganz der mnemotechnischen Konzeptuali-sierung verpflichtet bildet der Vers den Ausgangspunkt und schlieszligt die Betrachtung und das Gebet des gesamt Psalms mit ein37 Der Klage uumlber den Vertrauensbruch durch den Freund (Ps 5513 ebenso Ps 3813 und Ps 41) und der Bedraumlngnis durch Frevler an deren Haumlnden Blut klebt (Vers 24) geht in Analogie zu Christi Gebet zum Vater auf dem Oumllberg die Anrufung Gottes voraus er moumlge das Beten und Flehen erhoumlren (exaudi orationem meam deprecationem meam)

33 Ebd34 Schlosser (wie Anm 19) S 51 LV 52 S 7635 LV 52 S 76 ndash Bereits Bernhard von Clairvaux formulierte Gott bot den Zugang zu sich selbst uumlber die Affekte weshalb die Inkarnation notwendig war um die affectiones des Menschen zuruumlckzugewinnen vgl B von Clairvaux Sermones super canticum canticorum 205 in Bernhard von Clairvaux Saumlmtliche Werke latdt hg v G Winkler Innsbruck (1996) Bd 5 S 28428536 LV 517 S 75 Nochmals abschlieszligend wird dies als identifikationsstiftendes Vorbild am Ende (vierte Meditation fuumlnften Frucht) mit dem Bild der gefesselten Haumlnde des unschuldigen Lammes und dem eingeforderten Stoumlhnen und der Beschreibung des durchdringenden Schmerzes der die Herzen der Juumlnger bei diesem Anblick durchstach (doloris aculues discipolorum vorda penetravit) vor Augen gestellt Vgl LV 520 S 7637 Zur Mnemotechnik allgemein M Carruthers The Book of Memory A Study of Memory in Medieval Culture Cambridge [ua] 122006 Zu beachten sind ebenso F A Yates The Art of Memory London 1966 M Evans The Geometry of Mind in Architectural Association Quarterly 124 (1980) S 32ndash55

280 Anselm Rau und Johanna Scheel

(Vers 1ndash8) Dabei wird die Angst (conturbatus sum) das Beben des Herzens in der Brust und das Befallenwerden vom Schrecken des Todes beschrieben (cor meum conturbatum est in me et formido mortis cecidit super me) ebenso das Erfasstsein von Furcht Zittern Schaudern und Entsetzen (timor et tremor venerunt super me et contexerunt me tenebrae) Der Nachvollzug der emotionalen Disposition Christi wird durch die kalkulierte Verknuumlpfung mit Psalm 38 zu-gleich ebenso zur detailreichen Klage in Furcht und Schrecken ob der eigenen Suumlndhaftigkeit Judas stellt natuumlrlich fuumlr den Abgleich das Negativbeispiel Doch im Gegensatz zu ihm zeigt der Betende in seiner demuumltigen Hinwendung zu Gott in Schmerz und Furcht das in ihn gesetzte Vertrauen das auch Jesus unter Beweis stellte Die Psalmen bieten hierfuumlr das passende Mittel der notwendigen Ausrichtung in der affectio

Ein interessanter Punkt sei in Bezug auf die Ausfuumlhrungen in De meditando hinsichtlich des Eifers (zelus) fuumlr die gerechte Sache noch genannt Die Sanftmut Christi wird gerade da-durch vor Augen gefuumlhrt dass er im Sinne des immerfort zur Vergebung bereiten Gott seinen Haumlschern guumltig begegnet da er sich seinen Peinigern nicht im Zorn (ira) verschloss (Ps 7710)38 Er haumllt naumlmlich sogar seinen Verteidiger ndash in der exegetischen Tradition Petrus vor allem dann auch in der bildenden Kunst ndash zuruumlck und bremst dessen gerechten zelus sein rechtmaumlszligiges eigentlich tugendhaftes eifersuumlchtiges Streben fuumlr das geliebte Objekt und heilt sogar ein abge-schlagenes Ohr Dieser Eifer der wie in De meditando beschrieben ohne Hinterlist ist nicht aus Ignoranz (repraumlsentiert durch die HaumlscherPeiniger) gegenuumlber der Wahrheit (in Christus) hervorgegangen zeigt die gute Absicht die durch Beharrlichkeit ans Ziel fuumlhrt und laumlsst somit die Liebe nicht lau werden Petrus wird als Identifikationsfigur installiert und am Ende aber-mals Judas entgegen gehalten Letzterer wurde zwar schlieszliglich aufgrund seiner Tat von Reue ergriffen jedoch war er nicht faumlhig durch die Hoffnung auf das Gute Christus Vergebung zu ersehnen und wurde von Bitterkeit (amaritudo) erfuumlllt so dass er den Tod und nicht das ewige Leben ersehnte

Meditationsschemata werden gerne aufgrund der ihnen innewohnenden Abfolge als starre Konstrukte und allein auf einen miszliginterpretierten geistigen Aufstieg abzielend hin verstan-den Doch beweist gerade das Lignum vitae eine hohe Flexibilitaumlt fuumlr den alltaumlglichen Gebrauch und zudem die eigentliche Intention die Formung von affectus

Gerard Zerbolt van Zutphen

Das stufenweise emotionale Gebet und die Meditation begegnen ebenfalls ndash allerdings weniger stark schematisiert als im Lignum Vitae ndash in einem Standardwerk der niederlaumlndischen Froumlm-migkeitsliteratur des 15 Jahrhunderts In De spiritualibus ascensionibus stellt Gerard Zerbolt

38 Im Tugend- und Lastersystem ist die Unterscheidung von zelus ira und furor sehr entscheidend bezuumlglich des guten und schlechten Strebens und damit hinsichtlich rationalen Ordnung des Geistes Zum tugendhaften und lasterhaften Zorn und seiner Aspekte vgl Richard von St Viktor Benjamin minor 40ndash44 PL 196029-033 ndash Gerade bei der Verurteilung Christi durch Pilatus (LV 624 S 77) wird das Thema der rasenden Wut (zelus invidiae) und des gerechte Zorns (zelus iustitia) nochmals differenziert

Meditation und Gebet 281

von Zutphen ein Autor der devotio moderna handbuchartig sein Aufstiegsmodell dar39 Darin vermittelt er seinen Mitbruumldern und einem frommen Laienpublikum ein ausgekluumlgeltes System von geistigen Uumlbungen die sich nicht nur auf den eigentlichen Gebetsakt beziehen sondern habituell im Alltag Anwendung finden sollen indem sie eine Transformation des Menschen be-wirken Er geht dabei von dem uumlblichen zeitgenoumlssischen theologischen Anthropologiemodell der Seele als durch Suumlnde verschmutzte imago Dei aus und stuumltzt sich auf bekannte moraltheo-logische Emotionstheorien die er jedoch stark ausweitet indem er den Emotionen eine genaue Funktion und eine Schluumlsselrolle im Erkenntnisprozess zuweist Die formula meditandi40 be-schreibt Gerard als inhaltlich verschieden konnotierte Selbstuumlberpruumlfungen in der die dadurch produzierten Emotionen wie Zerknirschung (compunctio bzw contritio) Furcht (timor) oder Hoffnung (spes) nicht nur bewusst gemacht sondern produktiv umgewandelt werden um zu Instrumenten und Stufen des weiteren Aufstiegs zu werden41 Diese Aufstiege sind ein Prozess der Selbsttransformation des Menschen der sich vollzieht indem der Mensch sowohl seinen urspruumlnglichen Zustand diese Transformation selbst als auch die Erfahrung seiner Veraumlnde-rung mit den erreichten Stufen emotional (ex affectu) erkennt (cogitare) und fuumlhlt (sentire)42 Aumlhnlich wie bei Hugo von St Viktor formuliert Gerard dass der Betende immer einen Affekt und ein Verlangen (desiderium) annehmen solle die zu den aktuellen Uumlbungen oder Medita-tionen passe43 Die Selbsttransformation im geistigen Aufstieg wird nach Gerard ebenso im uumlb-lichen Schema der lectio meditatio und oratio geuumlbt und an verschiedenen materiae meditandi44 vollzogen Die Affekte werden anhand dieser materiae erzeugt katalysiert und in das Gebet

39 Die Schrift (im Folgenden De Spir Asc) wird zitiert nach der Edition von F J LegrandN Staubach (Hgg) Gerard Zerbolt von Zutphen De Spiritualibus Ascensionibus La monteacutee du coeur Turnhout 2006 Vgl zur affektiven Konnotation von Gerards Gebetssystematik M Goossens De meditatie in de eerste tijd van de moderne devotie HaarlemAntwerpen 1954 Er stellt den Affekt als Wesensmerkmal des Gebets bei Gerard fest ebd S 118 Zur Einbindung der Schrift innerhalb der Gebetstheorien der Devotio Moderna und zum Stellenwert der affektiven Selbstreflexion auch in Beziehung zu zeitgenoumlssischer Kunst vgl J Scheel Das altniederlaumlndische Stifterbild Emotionsstrategien des Sehens und der Selbsterkenntnis Berlin 2014 bes S 155ndash171 230ndash241 414ndash42640 De Spir Asc Kap 641 Gerard spricht synonym von Aufstiegsstufen und affectus zB in Kap 27 bdquoIn hac prima ascensione vel primo affecto [hellip]ldquo Oder er benennt Affekte wie Hoffnung und Furcht als Stufen bdquo[hellip] istis duobus gradibus timoris et spei [hellip]ldquo Kap 26 Insgesamt benutzt er die Vokabeln affectus und affectio synonym zwar begegnet in Bedeutung von Strebevermoumlgen meist affectio und ersetzt also die vires durch die affectiones animae besonders wenn es um lasterhafte Affekte geht doch werden die einzelnen Affekte durchgehend als affectus nicht als affectio bezeichnet42 De Spir Asc Kap 643 Das Gebet solle nie bloszliges Lippenbekenntnis sein sondern immer aus der Wurzel des Herzens verfolgt werden und zwar stets aus den Affekten der Furcht Trauer Freude Bewunderung Dankbarkeit etc bdquo[hellip] ex affectu timoris meroris dilectionis admiracionis congratulationis etcldquo De Spir Kap 46 Diese Affektreihe stimmt mit derjenigen bei Hugo in De modo orandi uumlberein siehe oben S 273f44 Diese sind zunaumlchst die bekannten Meditationsinhalte wie man sie allenthalben in theologischer Literatur des Mittelalters findet Leben und Passion Christi das Juumlngste Gericht und die eigene Todesstunde (diese bspw bereits in Bonaventuras De Triplici Via Kap 3) Bei Gerard werden ebenfalls Houmllle und Himmelreich sowie die eigenen Suumlnden und Wohltaten Gottes eingeschlossen sowie das eigene Selbst in dem und waumlhrend des Gebets Zum Kontext der neuen Meditationswuumlrdigkeit des eigenen Selbst in den Lehren der Devotio Moderna vgl Scheel (cf Anm 39)

282 Anselm Rau und Johanna Scheel

uumlberfuumlhrt Dies macht Gerard wie Hugo anhand des Psalmengebets anschaulich indem er einerseits beispielhaft zeigt wie ex affectu ein Psalm gebetet wird waumlhrend er gleichzeitig bei vorheriger Thematisierung der lectio dessen Erregung durch die Lektuumlre betont

bdquoWenn du dich in deiner ersten Uumlberpruumlfung diskutiert hast und entdeckst dass deine Suumlnden zahlreicher sind als die Zahl des Sandes der Meere forme in dir den Affekt der Demut oder Trauer und nimm die Rolle (persona) eines Dieners an der seinen Herrn beleidigt hat Aus diesem Affekt heraus forme ein Gebet und sage sbquoGott sei mir gnaumldig nach deiner Huld tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmenlsquo (Ps 503) Wenn du in der zweiten und dritten Uumlberpruumlfung dich selbst diskutierend bemerkst dass dein Herz mit schlechten Begierden und boumlsen Verlangen gefuumlllt ist forme in dir wiederum den Affekt der Demut und nimm die Rolle eines Kranken an der nach Medizin fragt und sage sbquoHerr sei mir gnaumldig heile mich denn ich habe gegen dich gesuumlndigtlsquo (Ps 405) oder sbquoNichts blieb gesund an meinem Leib weil du mir grollst weil ich gesuumlndigt blieb an meinen Gliedern nichts heillsquo (Ebd) etc Wenn du dich im zweiten Aufstieg in Furcht durch Meditationen des Todes und des Gerichtes oder der Houmllle uumlbst nimm den Affekt der Furcht ein und die Rolle eines Suumlnders vor dem Richter an in Angst und Zittern als seist du schon uumlberfuumlhrt und der Richtspruch gegen dich gesprochen und sage sbquoVerdamme mich nicht Herr gehe nicht ins Gericht mit deinem Dienerlsquo (Ps 1422) oder sbquoHerr in deiner Wutlsquo (Ps 62) etc Wenn du dich aber in Hoffnung uumlbst durch die memoria des Him-melreiches nimm den Affekt der Liebe an und bete mit innigem Herzen und sage sbquoIch erstrebe eines Herr dieses wuumlnsche ich dass ich in dem Haus des Herrn wohnen darflsquo (Ps 264) oder sbquoWie der Hirsch lechzt nach frischem Wasserlsquo (Ps 412) etc Und ebenso kannst du mit anderen Affekten jene aus diesen formen und musst du die Rolle annehmen die deine Uumlbung erfordert und deine Meditation verlangtldquo45

Uumlber Hugo hinausgehend wird hier dem Betenden empfohlen sich konkrete Szenarien und personae zu imaginieren um die gewuumlnschten Affekte einzuuumlben Die Psalmenbeispiele mit den zugeordneten Affekten uumlberschneiden sich bei beiden Autoren bei Psalm 6 (timor) so-wie Psalm 26 (Gerard spes Hugo bona praesumptio)46 Besonders bei der Einuumlbung von timor und der Erwaumlhnung des Richtspruches in Kombination mit den Buszligpsalmen 6 und 142 stehen unmittelbar zeitgenoumlssische Darstellungen des Weltgerichts bzw der Auferstehung der Toten vor Augen wie man sie in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern in Kombination mit eben jenem Buszligpsalm 6 aber auch in der altniederlaumlndischen Malerei findet47 Psalmen koumlnnen zu den

45 bdquoUnde breviter ut modum habeas secundum predicta si te in prima examinacione discusseris et inveneris peccata tua multiplicata super numerum arene maris forma in te affectum humilitatis vel meroris et assume personam servi qui dominum suum offendit Et ex tali affectu forma oracionem dicens Secundum multitudinem miseracionum tuarum dele iniquitatem meam [hellip] Si te in secundo ascensu in timore per meditaciones mortis vel iudicii vel inferni exercueris assume affectum timoris et assume personam rei astantis coram iudice cum timore et tremore quasi iam convictus contra quem de iure proferenda est sentencia et dic Noli me condemnare Non intres in iudicium cum servo tuo Vel Domine ne in furore etc [hellip] Et sic de aliis affectibus quos ex istis formare poteris et assumere debes sicut exercicium tuum exigit et meditacio tua requiritldquo De Spir Asc Kap 4646 Zu den Psalmen die Hugo als Beispiele benutzt siehe oben S 273f47 Vgl dazu J Scheel Sich selbst sehen ndash der Betrachter in und vor dem Bild Spiegel- und Stifterfiguren in Texten und Bildern des 15 Jahrhunderts in E KochH Schlie (Hgg) Orte der Imagination ndash Raumlume des Affekts Die mediale Formierung des Sakralen Muumlnchen 2015

Meditation und Gebet 283

bdquototal memoriertenldquo48 Texten des Mittelalters gezaumlhlt werden weswegen sie sich beiden Autoren als Beispiele anbieten Sie benutzen die Buszligpsalmen (hier die Psalmen 6 31 [Hugo] 50 142) die im Stundenbuch fest als eigenstaumlndiger Gebetstext verankert sind und ebenso in der To-tenvigil ihren Platz haben ndash zusammen mit Gerards weiteren Beispielpsalmen 40 und 4149 Das Stundenbuch ist ein Medium in dem Psalmwort und bildliche Darstellung auf die Theorie des stufenweisen emotionalen Gebets und der Selbsttransformation treffen koumlnnen

Die Miniaturen die der Totenvigil bspw in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern des 15 Jahr-hunderts voranstehen zeigen oftmals eine ganzseitige Totenmesse sowie in der M-Initiale der gegenuumlberliegenden Textzeile50 zwei betende einander zugewandte Seelen im Fegefeuer (vgl

48 Zu diesen Texten gehoumlrten bspw das Pater Noster oder Ave Maria waumlhrend denen gleichzeitig auch uumlber bestimmte Aspekte zB der Passion meditiert werden konnte und sollte vgl P Saenger Books of Hours and the Reading Habits of the Later Middle Ages in R ChartierA Boureau (Hgg) The Culture of Print Power and the Uses of Print in Early Modern Europe Cambridge 1989 S 141ndash173 hier S 154 Bei den Psalmen genuumlgt wie man hier sieht allein die Nennung des Incipit oder bestimmter Verse die dem Leser so vertraut sind dass sie den gesamten Psalmentext mit assoziieren49 Zwar ist der Einsatz von Psalmen in mittelalterlichen Stundenbuumlchern mitunter verschieden doch kann man beispielhaft an einer Gruppe von Stundenbuumlchern in niederlaumlndischer Sprache diese Psalmen finden Diese Stundenbuumlcher sind mit der Uumlbersetzung des Gruumlndungsvaters des Devotio Moderna Geert Grote versehen oder stehen mit ihr in Verbindung N van Wijk Het getijdenboek van Geert Groote Naar het Haagse handschr 133 E 21 Leiden 1940 diese hauptsaumlchlich anhand einer einzigen Handschrift erarbeitete Edition wird hier in Ermangelung einer kritischen Edition genutzt Das getijdenboek enthaumllt einen Kalender des Bistums Utrecht fuumlnf Offizien (Marienoffizium Heiliggeistoffizium das lange und kurze Heiligkreuzoffizium Stunden der ewigen Weisheit) Buszligpsalmen Litanei und Totenvigil 50 Es ist der Beginn des invitatorium bdquoMi hebben ombeuanghen die suchten des dodes die pijnlike seer der hellen heben mi ombeuanghenldquo Wijk (cf Anm 49) S 156 ndash bdquoMich haben umfangen die Seufzer des Todes die qualvollen Schmerzen der Houmllle haben mich umfangenldquo

Abb 2 Meister des Hugo Jansz van Woerden Totenmesse und Seelen im Fegefeuer ca 1475ndash1500 Den Haag Koninklijke Bibliotheek Ms 76 G 13 fol 85vndash86r

284 Anselm Rau und Johanna Scheel

Abb 2)51 Das Fegefeuer bespricht Gerard eher marginal in seinem Traktat Fuumlr die affektive Meditation des eigenen Todes liefert er allerdings einerseits eine Anleitung fuumlr den Betenden die Affekte nun bereits zu erwecken die vor waumlhrend und nach dem eigentlichen Todeszeit-punkt entstuumlnden ndash und sich mit ihnen im Gebet selbst zu formen52 Andererseits raumlt er dem Glaumlubigen sich zum Zwecke des ex affectu-Gebets einen Koumlrper in seinen Verwesungsstadien vor Augen zu halten53 und was mit ihm selbst bei der Beerdigung passiere54 Das Fegefeuer ist ein im Sinne mittelalterlicher Moraltheologie produktiver Gebetsinhalt da der Glaumlubige im steten Oszillieren zwischen spes und timor besonders gut zur caritas aufzusteigen vermag Diesen Tenor findet man ebenfalls bei Geert Grote in seinem getijdenboek bei der Vorrede der Toten-vigil Hier raumlt er dem betenden Leser zum Wechsel aus Psalmen und Antiphonen in Hinblick auf die Erregung von Furcht und Angst Liebe und Hoffnung in der Ausrichtung auf Gut und Boumlse und mit Blick auf das Fegefeuer bdquoHier beginnt die Vigil in duytsche die so organisiert ist denjenigen zu helfen die von hinnen gefahren sind in der Freundschaft Gottes in das Fegefeuer Und ebenso dazu [gedacht ist] den Lebenden zu helfen die sie lesen damit ihnen das Wissen um die kommenden Dinge eingedruumlckt werde auf dass sie glauben hoffen und lieben an die Dinge in Herrlichkeit Und [sie] sich dafuumlr bereit machen und sich waumlhrenddessen die ganze Zeit fuumlrchten dass ihre Tage schnell vergehen Auf dass sie sich fuumlrchten aumlngstigen grauen und beben vor dem mannigfaltigen Leid der Angst und dem Elend die den Boumlsen ereilen werden und sie so darum ihr Leben lang ndash das hier aumluszligerst kurz ist ndash darauf hinarbeiten diesem Leid zu entgehen und [die Vigil ist auch hilfreich] weil ein Mensch diese beiden Dinge ndash Gutes in Liebe und Boumlses in Angst ndash besser ansehen (aensien) kann und erkennen und sich uumlberdenken damit er besser bitten kann und [es] mehr begehrt (begheert) und mehr liebt (myn[n]t) fuumlr diejenigen zu bitten die im Fegefeuer sind fuumlr ihre baldige Erloumlsung und dafuumlr Gottes Ehre zu vermehren [hellip] So hilft das Bitten der Lebenden den Toten und das Bitten fuumlr die Toten hilft den Lebendigen sich auf den Tod vorzubereiten [hellip] Und dazu ist das Singen dieser Psalmen heranzuziehen [und zwar] immer nach den Bedeutungen der Antiphone und den Sinn der

51 Die Darstellung von Seelen im Fegefeuer taucht als Buchillumination ab dem 13 Jahrhundert bereits vereinzelt auf und diente in Kombination mit Jenseitsvisionen Bibeltexten und moralisierenden Inhalten vor allem dem Gedenken an bereits Verstorbene wie auch zur persoumlnlichen Mediation des Lesers Oft findet eine narrative Einbindung statt Vgl dazu M Borowska Das Entfachen des Fegefeuers in der europaumlischen Miniatur des 13 Jahrhunderts in Umeni 57 (2009) S 310ndash325 Zum ikonografischen Kontext der hier gewaumlhlten Illumination vgl die Untersuchung von I M Veldman Purgatory in the Low Lands in B BukovinskaacuteL Slaviacuteček (Hgg) Pictura verba cupit Essays for Lubomiacuter Konečnyacute Prag 2006 S 169ndash180 va 170ndash17252 De Spir Asc Kap 19 In den folgenden Kapiteln stellt Gerard dem Leser dasselbe Prinzip an den Themen des Juumlngsten Gerichts der Houmllle und des Himmelreiches vor 53 bdquoItem interdum propone oculis tuis ymaginem alicuius hominis morientis et diligenter respice formam modum et ordinem quibus ad mortem deveniturldquo De Spir Asc Kap 1954 Weitere beliebte Illustrationen zum Totenoffizium im Stundenbuch des 15 Jahrhundert sind ebenfalls die Darstellung eines Toten um dessen Seele Engel und Teufel kaumlmpfen Schaumldeldarstellungen Seelen in Abrahams Schoszlig Himmel und Houmllle der Tod als Angreifer die Auferweckung des Lazarus sowie die Psychostasis mit Michael als Seelenwaumlger Diese Motive werden eher als ganzseitige Miniaturen dargestellt und bekommen zum Teil in der begleitenden Initiale jene zwei betenden Seelen im Fegefeuer hinzugefuumlgt

Meditation und Gebet 285

Antiphone soll man dazu in den Psalmen bedenken in allen Stundengebeten Dabei ist gut dass man sowohl vor als auch danach die Antiphonen spreche und schreibeldquo55

Mit der sich gegenseitig amplifizierenden Kombination von selbstreflexiven Affekt er-regendem und ausdruumlckendem Psalmentext mit der bildlichen Darstellung von Beerdigung mit Fegefeuer und mit derartigen Aufstiegsmodellen vertraut kann der betende Leser hier den eigenen Tod und die Bestrafung seiner Seele als Konsequenz der eigenen irdischen Suumlndhaftig-keit produktiv in seine Bemuumlhungen des geistigen Aufstiegs und seine Selbsttransformation kanalisieren

Imagination und Illumination

Das Gebetsleben des mittelalterlichen Glaumlubigen ist gekennzeichnet durch seine Affektivitaumlt Die affectus werden mit Gebetstexten und Psalmenreihen sowie mithilfe bildlicher Darstel-lungen sorgfaumlltig kultiviert und systematisch eingeuumlbt Dabei sind dies altbekannte ndash weil biblische ndash Text- und Bildinhalte deren affizierendes Potential auf neue Arten ausgeschoumlpft wird Texte und physische wie gerade geistige Bilder erinnern den Betenden nicht nur unver-bindlich an bereits bekannte Ereignisse Situationen und Figuren sondern lassen ihn sich mit diesen durch affektive und reflexive Meditationspraktiken identifizieren Fremde Worte und Emotionen werden darin zu den eigenen Vorbilder aus dem Kreis der Heiligen werden so zu Imaginationsfiguren das Selbst wird auf Gott ausgerichtet und in all seinen Aspekten gezielt emotional reflektiert So unterschiedlich die formale Herangehensweise dieser Praktiken bei den drei untersuchten Autoren Hugo von St Viktor Bonaventura und Gerard Zerbolt van Zutphen zu sein scheint vermitteln sie doch die selbe zentrale Maszliggabe oratio est affectus ndash bdquoGebet ist Affektldquo

Uumlbersetzung Hugo von St Viktor De meditando PL 176 993ndash99

Die Meditation ist die haumlufige Erwaumlgung (cogitatio) der Ursache (causa) und des inneren Be-weggrundes (ratio) eines einzelnen zu untersuchenden Gegenstandes (res) was seine Art sei (modus) was die Ursache und was der Beweggrund

Es gibt drei Arten (genus) der Meditation eine in Bezug auf die Schoumlpfung (in creaturis) eine hinsichtlich der Schrift (in scripturis) und eine hinsichtlich der Sitten (in moribus) Die erste erwaumlchst aus der Bewunderung (admiratio) die zweite aus der Lektuumlre (lectio) die dritte aus der umsichtigen Beobachtung (circumspectio)

Zuerst bringt die admiratio die Frage (quaestio) hervor die Frage das Erforschen (investi-gatio) und das Erforschen die Entdeckung (inventio) Dies ist damit die Bewunderung der Ord-

55 Fuumlr den altniederlaumlndischen Text vgl Wijk (cf Anm 49) S 155 Zum Antiphon das der Vigil vorangestellt ist vgl Anm 50

286 Anselm Rau und Johanna Scheel

nung (dispositio) die Frage nach der Ursache und die Entdeckung des inneren Beweggrundes Die Bewunderung beruht auf der Betrachtung der Ordnung im Himmel das ist die Gleich-artigkeit von allem und der Houmlhen und der Tiefen (alta et depressa) auf der Erde Die Frage betrifft die Ursache (causa) des irdischen Lebens auf Erden und des himmlischen Lebens im Himmel Das Erforschen fragt nach dem inneren Beweggrund dass so wie die Erde auch das irdische Leben beschaffen ist und dass der Beschaffenheit des Himmels selbst auch das himm-lische Leben gleicht

Bei der Lektuumlre (lectio) aber erfolgt die Betrachtung (considerare) folgendermaszligenAls erstes dient die lectio dazu durch die Bereitstellung des Stoffes (materia) die Wahr-

heit zu erkennen (cognoscere) die meditatio fuumlgt ihn zusammen (coaptare) die oratio hebt ihn empor (sublevare) die operatio (Ausfuumlhrung) wendet ihn an (componere) und die contemplatio frohlockt in ihm selbst (exsultare)

Es ist durch die Meditation der Schriften zu erkennen auf welche Weise es sich gehoumlrt etwas zu wissen Als Beispiel steht geschrieben Declina a malo et fac bonum (Vg Ps 3627 ndash Wende dich ab von dem Boumlsen und tue Gutes EUuml Ps 3727) Deshalb wurde zuvor gesagt die meditatio wendet sich der lectio zu um sich vom Boumlsen abzuwenden und darauf Gutes zu tun Der Grund (causa) hierfuumlr ist wenn sich nicht zuerst das Boumlse zuruumlckzoumlge wuumlrde das Gute nicht herantreten koumlnnen Der innere Beweggrund (ratio) aber ist so wie zuerst die Sproumlsslinge des Boumlsen mit ihrer Wurzel ausgerissen werden muumlssen so muss danach das Gute (ein-)ge-pflanzt werden Warum wurde daher gesagt Wende dich ab von dem Boumlsen Weil es einem auf dem Weg begegnet Man wendet sich deshalb ab weil wir es wo auch immer nicht vermoumlgen durch Staumlrke zu widerstehen wir entkommen ihm lediglich wenn wir uns mit Klugheit und Vernunft (consilio et ratio) von ihm abwenden Auch muumlssen wir uns vom Boumlsen abwenden um dem Naumlhrstoff (materia) zur Suumlnde aus dem Weg zu gehen ndash beispielsweise ist von Hochmut (superbia) Begehrlichkeit (incontinentia) Begierde (concupiscentia) Neid (invidia) und Streit (contentio) abzulassen um sich vom Reichtum (abundantia) der Schoumlnheit (species) des Flei-sches und der Besitzgier (amor possessiones) abzuwenden Dies bedeutet bdquosich abzuwendenldquo Desgleichen wenn auf diese Weise von allem Boumlsen sich abzuwenden angeraten ist so wird die Verrichtung alles Guten verlangt Und so ist also der ebenso schuldig bzw angeklagt der allein nur alles Boumlse meidet wie derjenige der nicht zugleich all das Gute tut Aber wenn dies so ist wer ist dann kein Angeklagter (reus) Folglich wird uns anbefohlen uns von allem Boumlsen loszusagen Andererseits kommt das Gute zum Einen aus dem was sich gehoumlrt (necessitas) und zum anderen aus dem Willen (voluntas) Es gehoumlren sich die Dinge einer Vorschrift (praecep-tum) und die eines Geluumlbdes (votum) alles uumlbrige wird erfuumlllt wenn eine Sache [also Schuld] mehr als nur vergolten wird (supererogare) und einem nichts mehr anlastet

Daher zielt die Meditation bei der lectio darauf ab zu ergruumlnden auf welche Weise et-was das erkannt wird gut ist warum und wie es zu erreichen ist weil es ndash ist es [ersteinmal] erkannt ndash auch zu verrichten ist Die Meditation ist das Entdeckungsvermoumlgen der vorgefassten Absicht (excogitatio consilii) zu erwaumlgen auf welche Weise das Gute das erkannt wurde erfuumlllt wird denn das Erkannte ist unbrauchbar wird es nicht vollbracht

Deshalb ist die Meditation bei der lectio eine dreifache Betrachtung nach der historia der allegoria und der tropologia Gemaumlszlig der historia erfolgt die Meditation wenn wir nach dem

Meditation und Gebet 287

vollendeten inneren Beweggrund der Dinge fragen die geschehen sind und diesen hinsichtlich seiner uumlbereinstimmenden Art und Weise (modus) bezuumlglich der Zeiten (tempora) und Orte (loci) bestaunen (admirare) Bei dieser Betrachtung der goumlttlichen Ratschluumlsse (iudicium) laumlsst man nicht davon ab daruumlber nachzudenken dass diese richtigen und gerechten (rectus et iustus) Entscheidungen zu keiner Zeit den Beistand [Gottes fuumlr die Menschen] entzogen (deesse) und durch sie das geschah was sich gehoumlrte und vergolten wurde was gerecht war (iustum fuit)

Die Meditation hinsichtlich der allegoria beschaumlftigt sich mit der Gliederung (dispositio) der vorangegangenen und zukuumlnftigen Dinge und so wie fuumlr den Verstand (intelligentia) an-gemessen richtet sie dabei ihre Aufmerksamkeit auf deren uumlbereinstimmende Bedeutung in ihrer bewundernswerten Vernunftmaumlszligigkeit (ratio) und Vorhersehung (providentia) und auf ihre fuumlr den Glauben (fides) geschaffene Gestalt (forma)

Bezuumlglich der tropologia beschaumlftigt sich die Meditation damit welche Frucht die Worte der lectio hervorbringen und erforscht (exquirere) was diese wenn sie ausgefuumlhrt werden [im Sinne des eigentlichen Aussprechens der Worte aber auch die Ausfuumlhrung ihres Inhaltes] ein-pflanzen (insinuere) und dabei zugleich lehren was zu vermeiden ist Sie stellt vor Augen was durch die lectio der Schrift zur Unterweisung (eruditio) zur Ermahnung (exhortatio) zur Troumls-tung (consolatio) und zum Schrecken (terror) dient Hierdurch erleuchtet die tropologia dahin-gehend was zum Verstehen der Tugenden (virtus) fuumlhrt sie naumlhrt (nutrire) den Affekt (affectio) und lehrt (edocere) die Lebensfuumlhrung auf dem Pfad der Tugenden

Die Meditation der Sitten (mos) erfolgt gemaumlszlig der Affekte (affectus) der Erwaumlgungen (cogi-tationes) und der Werke (opera)

Hinsichtlich der Affekte ist zu betrachten wie sie recht und aufrichtig (rectus et sincerus) zu sein vermoumlgen damit ist gemeint auf das und zu was hin sie geschuldet sein muumlssen und in welcher Weise sie zu sein haben Zu differenzieren ist naumlmlich dass das was sich nicht gehoumlrt (non oportet) boumlse ist und zugleich das was sich gehoumlrt zu lieben ist ndash das zu lieben das sich gleichwie nicht gehoumlrt ist boumlse Daher handelt es sich um einen guten Affekt wenn er auf das ausgerichtet ist auf das er verpflichtet ist und in der Weise wie es sich gehoumlrt

Amnon liebte (diligere) seine Schwester und dies war der Affekt zu dem er bestimmt war doch weil er Boumlses begehrte war es nicht der Affekt wie er ihn schuldete (vgl 2 Sam 13) So kann der Affekt auf das gerichtet sein zu was er gehoumlrt dies aber nicht in der [angemessenen] Art und Weise Niemals aber kann der Affekt so sein wie er zu sein hat wenn er nicht auf das ihm Zugehoumlrige ausgerichtet ist Auf das ausgerichtet zu was er gehoumlrt bedeutet dass er recht ist und in der Art und Weise wie es sich gehoumlrt und dementsprechend ist er rein Daher werden die Affekte in den Erwaumlgungen betrachtet damit sie rein (mundus) und geordnet (ordi-natus) sind Rein sind sie wenn weder etwas Boumlses von den Affekten hervorgebracht wird noch das Boumlse die Affekte hervorbringt Dass sie geordnet sind meint wenn sie vernuumlnftigerweise aufgrund des ihnen eigenen Anlasses (suo tempore) aufkommen (advenire) Es ist nicht ohne Schaden (vitium) [naumlmlich im Sinne des korrekten Vorgehens nicht ohne Formfehler] bereits das Gute zu einem diesem nicht angemessenen Zeitpunkt zu erwaumlgen wie etwa an die lectio waumlhrend der oratio zu denken oder auch an die oratio waumlhrend der lectio

Bei den Werken ist als erstes zu betrachten was zum Beispiel durch die gute Absicht (bona intentio) geschieht Um eine gute Absicht handelt es sich wenn sie einfach und aufrichtig ist

288 Anselm Rau und Johanna Scheel

(simplex et recta) Die bona intentio ist arglos ohne Hinterlist (malitia) und aufrichtig ohne Ignoranz (ignorantia) Die naumlmlich ohne Hinterlist ist besitzt den Eifer (zelus) Ist sie aber aus der [bewussten] Unkenntnis gegenuumlber dem Wissen (scientia) (Roumlm 102) geboren verfuumlgt sie nicht uumlber den [wahren] Eifer Daher ist es notwendig dass die Absicht aufrichtig ist in der Bescheidenheit (discretio) und arglos im Wohlwollen (benignitas) Bei den Werken ist zu be-trachten dass sie aus der aufkommenden guten Absicht heraus mit beharrlicher Leidenschaft (fervor) schlieszliglich ans Ziel gefuumlhrt werden damit nicht die Beharrlichkeit (perseverantia) ge-laumlhmt (torpere) und die Liebe (amor) nicht lau wird (tepescare)

Auf gleiche Weise erfolgt die meditatio der Sitten in einer zweifachen Betrachtung naumlmlich einer inneren und einer aumluszligeren Die aumluszligere blickt auf das Ansehen (fama) die innere auf das Gewissen (conscientia) Die aumluszligere Betrachtung erfolgt gemaumlszlig dem was ziert (decere) und was nuumltzt (expedire) was als Beispiel (exemplum) dient und was den Lohn (meritum) hervorbringt ndash uns zum Lohn und den Naumlchsten als Beispiel Die innere Betrachtung dagegen schaut auf das Gewissen damit es rein (mundus) sei ohne Anklage (accusatio) zu erleiden (pati) ob nun durch die Laumlhmung (torpor) des Guten oder die Hartnaumlckigkeit (praesumptio) des Boumlsen Rein ist aber jenes Gewissen das weder durch das Vergangene zu recht angeklagt (accusare) noch durch das Gegenwaumlrtige unrechtmaumlszligig erfreut (delectare) wird

Daher laumlsst die meditatio der Sitten ihre Betrachtung nicht ruhen damit sie jegliche Re-gungen (motus) die sich im Herzen erheben bemerkt und erwaumlgt woher sie kommen und worauf sie abzielen (tendere) Das heiszligt woher sie kommen gemaumlszlig ihrem Ursprung und wo-nach sie streben hinsichtlich ihres Ziels Alles ist naumlmlich eine Bewegung aus irgendetwas und auf irgendetwas Die Bewegungen des Herzens sind manchmal offenkundigen Ursprungs manchmal entspringen sie aber auch Verborgenem Bei denen der Ursprung offenkundig ist ist er bisweilen durch das Gute bisweilen aufgrund des Boumlsen erwiesen Was offenkundig gut ist kommt von Gott was aber deutlich boumlse erscheint entspringt entweder dem Teufel oder dem Fleisch Dies sind naumlmlich die drei Urheber (auctores) aller Vorstellungen (suggestio) und aller Eingebungen (aspiratio) die unsichtbar an das Herz herantreten und aus jenen drei hervor-gehen Entspringen die Bewegungen des Herzens daher dem Verborgenen koumlnnen sie manch-mal aus dem Guten und dem Geheimen hervorgehen und sind manchmal boumlse und zweifelhaft (dubius) Die dem Guten entspringen kommen von Gott die aber dem Boumlsen entstammen sind entweder des Teufels oder des Fleisches

Die Bewegungen die folglich offenkundig sind sei es im Guten oder Boumlsen werden auf den ersten Blick durch ihren Ursprung angezeigt Jene aber die zweifelhaft bleiben hinsichtlich ih-res Grundes sind am Ende zu uumlberpruumlfen (probare) Ihr Ergebnis [oder Ausgang] (exitus) zeigt naumlmlich deutlich was vom Ursprung her verborgen war und deswegen muss derjenige der es nicht vermochte den Ausgangspunkt seiner Herzensbewegungen zu beurteilen (iudicare) das Ziel und die Ausfuumlhrung [bzw Vollendung] (finis et consummatio) untersuchen (investigare) Die Bewegungen naumlmlich die zweifelhaft und ungewiss sind sind vom verborgenen Guten oder Boumlsen Wie gesagt wurde haben die schlechten Regungen ihren Ursprung entweder beim Teufel oder im Fleisch Diese aber sind beide boumlse sie unterscheiden sich nicht indem oder durch was sie boumlse sind doch unterscheiden sie sich dahingehend dass die Regungen des Her-zens die dem Fleisch entspringen haumlufig aus einer Notwendigkeit (necessitas) heranwachsen

Meditation und Gebet 289

die aber die tatsaumlchlich vom Teufel kommen nehmen noch oumlfter wider der Vernunft (ratio) ihren Anfang (oriri) Was naumlmlich vom Teufel eingegeben wird (suggerere) ist in der Tat dem Menschen fremd und wird deswegen haumlufig von der menschlichen Vernunft abgelehnt weil er beispielsweise unlaumlngst gesaumlttigt Hunger leidet (pati) kurz zuvor noch trunken (inebriatus) vor Durst (sitis) gluumlht (aestuare) oder wenn er nach einem ausgiebigen Schlaf (dormitio) sich erhebend vom Traum (somnus) bedruumlckt (praegravare) wird

Hieraus also werden die Werke des Teufels differenziert betrachtet weil sie ja an den Men-schen von auszligen herangetragen werden und der menschlichen Vernunft fremd sind Bei den Werken des Fleisches und ihren Eingebungen liegt der Grund des Oumlfteren in einer vorangegan-genen Notwendigkeit Aber weil sie Ziel und Maszlig (modus et mensura) uumlbersteigen wachsen sie zum Uumlberfluss (superfluitas) heran Dies ist als Beispiel eben gerade dann der Fall wenn nach der Einnahme einer Mahlzeit der Hunger hemmungslos (immoderatus) begehrt (appetere) und nach Enthaltsamkeit (abstinentia) das Maszlig (mensura) bei der Aufnahme von Speise (edulium) nicht gehalten wird

Daher wird die meditatio der Sitten aufgrund eines dreifachen Urteils betrieben Das erste urteilt zwischen Tag und Nacht das zweite zwischen Tag und Tag und das dritte schlieszliglich untersucht den gesamten Tag (vgl Roumlm 145) Zwischen Nacht und Tag zu urteilen meint das Boumlse vom Guten zu (unter-)scheiden Die Beurteilung zwischen Tag und Tag bedeutet eine Un-terscheidung zwischen etwas Gutem und etwas Besserem vorzunehmen Uumlber den gesamten Tag zu richten ist schlieszliglich das einzelne Gute fuumlr den eigenen Lohn zu ermessen (aestimare)

So hat die meditatio der Sitten bei jeglichem Umgang (conversatio) das Ziel und die Rich-tung (directio) im Blick Das Ziel ist wohin man strebt die Richtung wodurch man leichter ans Ziel gelangt Jeder naumlmlich der zu irgend etwas strebt so wie etwas seine Bahn (cursus) lenkt und unaufhoumlrlich weiterzieht kommt schneller ans Ziel Es gibt daher Gutes durch das man stark bewegt ist (moveri) zugleich gibt es aber wenig her durch das man vorankommt (pro-moveri) Anderes dagegen fuumlhrt mit etwas Muumlhe (labor) zu groszligem Gewinn (fructus) Und diese sind folglich zu unterscheiden und das Bessere das mehr nuumltzt auszuwaumlhlen Welches auch immer mehr nuumltzt ist besser und es gehoumlrt sich jedes Werk auf seinen Ertrag hin zu beurteilen Indem viele diese Unterscheidung (discretio) nicht einhielten haben sie sich zwar aufs aumluszligerste bemuumlht sind jedoch nur wenig vorangekommen weil sie das Auge aumluszligerlich so sehr auf die Gestalt (species) der Werke richteten und nicht innerlich auf den Gewinn durch die Tugenden blickten Sie ergoumltzen sich daran groszlige Taten zu verrichten anstatt dass sie das Nuumltz-liche (utilia) uumlben (exercere) um sich selbst zu bessern (emendari) Dabei schaumltzten (diligere) sie vielmehr das durch das sie den Anschein erwecken (videri) konnten [so zu sein]

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zunaumlchst das was man schuldet entweder auf-grund einer Vorschrift (praeceptum) oder eines Geluumlbdes (votum) Diesbezuumlglich ist die erste Tat der meditatio zu ermitteln ist sie oder es erfuumlllt fuumlhrt es zum Lohn und wenn nicht bringt dies den Anklagezustand (reatus) hervor Es sind also zuerst die Dinge zu tun die nicht ohne Schuld (culpa) weggelassen werden koumlnnen Danach ist die meditatio alsdann so zu verrichten dass wenn etwas durch freiwillige Uumlbung (exercitatio) noch hinzugefuumlgt wird die Pflicht-erfuumlllung [eigtl Schuld] (debitum) nicht verhindert wird (impedire) Die einen die das nicht zu leisten vermoumlgen was sie schulden wollen was sie nicht muumlssen Die anderen wenn sie im-

290 Anselm Rau und Johanna Scheel

stande sind zu tun was sie schulden bringen freiwillig Hindernisse (impedimentum) mit sich indem sie etwas wollen was sie nicht muumlssen

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zwei Dinge des Boumlsen vor denen man bei der Ver-richtung von Gutem besonders auf der Hut sein muss die Betruumlbnis [Niedergeschlagenheit] (afflictio) und die Besessenheit [Vereinnahmung] (occupatio) Die afflictio fuumlhrt zur Bitterkeit (amaritudo) die occupatio zur Zerstreuung (dissipatio) Mit der afflictio verbittert die Suumlszlige (dulcedo) des Geistes und mit der occupatio wird die Ruhe (tranquillitas) zerstoumlrt (dissipare) Es herrscht Betruumlbnis wenn man fuumlr jene Dinge die man nicht vermag aufgrund der eigenen Ungeduld (impatientia) ungluumlcklich wird (urere) Dagegen handelt es sich um Besessenheit (occupatio) wenn man in seinem Handeln (nach seinem Vermoumlgen) aufgrund der impatientia gequaumllt wird (agitare) Folglich darf die Seele (animus) nicht aufgrund des Boumlsen verbittert wer-den sie muss ihr Unvermoumlgen (impossibilitas) geduldig (patienter) aushalten Genauso darf sie aber auch nicht vom Boumlsen eingenommen werden und darf ihr Vermoumlgen (possibilitas) nicht uumlber ihr eigenes Maszlig hinaus ausdehnen (extendere) Daher muss die meditatio der Sitten in einer weiteren Betrachtung der Lebensfuumlhrung zu einem Urteil kommen und dabei billigen dass es weder gut ist die Dinge die man nicht vermag ungeduldig (impatienter) zu verlangen (appetere) noch die welche man erreicht toumlricht (insipienter) zu verschmaumlhen (fastidire) Wer naumlmlich immer das begehrt was er nicht vermag und das was er [jedoch] vermag verabscheut wird sich weder am Gegenwaumlrtigen erfreuen (frui) noch am Zukuumlnftigen saumlttigen (satiare) Er verlaumlsst naumlmlich das Gute unentwickelt vor der Vollendung und eignet sich das gerade erst Be-gonnene vorzeitig an Deswegen ist es gut aufgrund des eigenen Guten zufrieden zu sein und das gegenwaumlrtige Gute durch hinzukommendes Gutes zu vermehren und es nicht aufgrund des Zukuumlnftigen wegzuwerfen (abicere) Der Austausch (commutatio) des Guten ist naumlmlich ein Leichtes (levitas) seine Uumlbung (exercitatio) aber die Tugend Oft eilen sie auf unterschiedlichen Wegen die einen die ein fruumlheres durch ein neues Gutes fallen lassen (abicere) und die ande-ren die [sich] vom Untersten zum Houmlchsten emporschwingen (conscendere) Wer naumlmlich nach Veraumlnderung (mutatio) fragt ist uumlberdruumlssig (fastidiosus) so wie der der nach dem Voran-schreiten (profectus) strebt eifrig bemuumlht ist (studiosus) Am aufrechtesten beschreitet daher derjenige den Weg der dabei so auf das Bessere brennt (fervere) dass er des Guten nicht uumlber-druumlssig wird sondern es vorerst empor haumllt solange bis er es spaumlter zu der ihm angemessenen Zeit sich aneignet (apprehendere)

Abbildungsnachweis

Einband Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders

Farbtafeln 1 (zu Beitrag Rosenwein) Coll BNU de Strasbourg ndash 2 (zu Beitrag Ferguson) Ar-chiv der Verf ndash 3 (zu Beitrag Herding) Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preu-szligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders ndash 4 (zu Beitrag Droste) R Kahsnitz Die Groszligen Schnitzaltaumlre Spaumltgotik in Suumlddeutschland Oumlsterreich Suumldtirol Muumlnchen 2005 Taf 53 ndash 5 6 (zu Beitrag Schedl) 75 Jahre 1933ndash2008 Kirche Mutter vom Guten Rat Festschrift und Chro-nik FrankfurtM 2008 S 92 Dr Bernd Konrad Radolfzell ndash 7 8 9 (zu Beitrag Zaumlh) Archiv des Autors ndash 10 (zu Beitrag Niehr) Universitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Media-thek 11 12 (zu Beitrag Muumlller) Autorin ndash 13 14 15 (zu Beitrag Schlie) Su concessione del Ministero dei beni e delle attivitagrave culturali e del turismo ndash Galleria Nazionale delle Marche ndash Urbino Archivio fotografico Archiv der Verf F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 ndash 16 17 (zu Beitrag Stoichita) D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 ndash 18 19 20 (zu Beitrag Schmidt) London British Museum C Geissmar-BrandiE Louis (Hgg) Glaube Hoffnung Liebe Tod Wien 1995 S 149 Archiv Autor ndash 21 (zu Beitrag Jung) Autorin

Textabbildungen Droste 1 3 4 Autorin 2 E Oellermann Der Hochaltar in St Martin zu Lorch am Rhein in H KrohmE Oellermann (Hrsg) Fluumlgelaltaumlre des spaumlten Mittelalters Ber-lin 1992 Abb 2 ndash Ferguson 1ndash3 Archiv der Verf ndash Frese 1 2 3 5 M BrandtA Eggebrecht (Hgg) Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen Katalog der Ausstellung Hil-desheim 1993 Bd 1 S 386f Abb 197 u 198 Bd 2 S 583 KatNr VIIIndash32 S 604 KatNr IXndash8 4 G LutzA Weyer (Hgg) 1000 Jahre St Michael in Hildesheim Kirche ndash Kloster ndash Stifter Peterberg 2012 S 148 Abb 118 ndash Gruumlndler 1ndash4 L DomenicoA Nova (Hg) Leonardo da Vincirsquos Anatomical World Language Context and Disegno Akten der Internationalen Tagung Florenz 30ndash31 Mai 2008 Venedig 2011 S 237 S 236 S 241 S 186 5 6 Le journal de Jacopo da Pontormo traduit par Jean-Claude Lebensztejn avec la collaboration drsquoAlessandro Parronchi Paris 1992 S 46 S 50 ndash Herding 1 2 3 4 5 6 7 Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders 8 Max J Friedlaumlnder Early Netherlandish Painting 14 vols Leiden und Bruumlssel 1967ndash1974 vol II 1967 pl 10 Nr 3i 9 Wolfenbuumlttel Herzog-August-Bibliothek ndash Jung 1 2 3 4 5 Autorin ndash Kessler 1 6 7 Autor 2 3 Museo delle Terme Rom 4 British Museum London 5 Alexei Lidov ndash Maxwell 1 2 AHN 3 Autor 4 Sancho el Mayor y sus herederos ed I Bango Torviso et al 2006 cat 25 5 BNE ndash Muumlller 1 Italian painting c 1330ndash1550 I National Gallery in Prague II Collections in the Czech Repub-lic Illustrated summary catalogue Prag 2008 2 Collection of The John and Mable Ringling Museum of Art the State Art Museum of Florida Florida State University 3 2014 copy Archivio Fotografico ndash Fondazione Musei Civici di Venezia ndash Niehr 1 A Schuttwolf (Hg) Ausst-Kat Jahreszeiten der Gefuumlhle Das Gothaer Liebespaar und die Minne im Spaumltmittelalter Ostfil-

400 Abbildungsnachweis

dern-Ruit 1998 2 D de Vos Hans Memling Das Gesamtwerk AntwerpenStuttgart 1994 S 278ndash283 TH Borchert Hans Memling Portraits Stuttgart 2005 S 173f Nr 23 3 Univer-sitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Mediathek ndash Pfisterer 1 E Steinmann ldquoLa mano di Michelangeloldquo in Studien aus Kunst und Geschichte Friedrich Schneider zum siebzigsten Geburtstag Freiburg iBr 1906 unnum Taf 2 R Bernini ua La mano e il volto di Antonio Canova PossagnoQuinto di Treviso 2008 S 197 3 U Klein Zur Forschungsgeschichte des Duumlrer-Hauses in GU GroszligmannF Sonnenberger (Hgg) Das Duumlrer-Haus Neue Ergebnisse der Forschung Nuumlrnberg 2007 S 105 nach Carl A Heideloff Die Ornamentik des Mittelalters Bd 3 Nuumlrnberg 1847 S 42 4 WH Vroon Het wonderlid van Jan de Witt en andere vaderland-se relieken Nijmegen 1997 S 68 5 Autor nach GF Tomasini Petrarca Redivivus Padua sup21650 S 128 6 A Picturesque Tour Through Holland Brabant and Part of France made in the autum of 1789 by Samuel Ireland London sup21796 Bd 2 Taf nach S 13 ndash Pinkus 1 2 3 4 5 6 Autor 7 8 Institut fuumlr Kunstgeschichte Universitaumlt Wien Fotothek ndash RauScheel 1 M Gregori Uf-fizien und Palazzo Pitti Muumlnchen 1994 S 31 2 Den Haag Koninklijke Bibliotheek ndash Raeck 1 2 5 7 Fotothek des Instituts fuumlr Archaumlologische Wissenschaften AbtI Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main 3 Zeichnerische Rekonstruktion M Junghans nach H-V Herrmann Olympia ndash Heiligtum und Wettkampfstaumltte Muumlnchen 1972 Abb 95 4 Antikensammlung Staatliche Museen zu Berlin Foto Johannes Laurentius 6 W Riezler Weissgrundige attische Lekythen Muumlnchen 1914 Taf 23 8 Deutsches Archaumlologisches Institut Athen Fotothek ndash Reudenbach 1 F MuumltherichJE Gaehde Karolingische Buchmalerei Muumlnchen 1979 Taf 4 2ndash4 httpwwwbibliotheca-laureshamensis-digitalde (Zugriff 20022014) ndash Schmengler 1 2 3 Torsten Saumlnger Frankfurt 4 5 6 Eric Tschernow Berlin ndash Schedl 1ndash3 Dr Bernd Konrad Radolfzell 4 FrankfurtMain-Niederrad Pfarrarchiv der katholischen Kirchengemeinde Mut-ter zum Guten Rat ndash Schlie 1 Archiv der Verf 2 Archiv der Verf + D E Katz The Contours of Tolerance Jews and the Corpus Domini Altarpiece in Urbino in Art Bulletin 85 (2003) S 647ndash661 S 647 3 F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 Schmidt 1 2 London British Museum 3 M Geisberg Der Meister ES Leipzig 21924 4 Archiv Autor ndash Taxer 1 2 O Paumlcht Altniederlaumlndische Malerei Von Rogier van der Weyden bis Gerard David Muumlnchen 1994 Abb 91 S 118 Abb 93 S 120 3 4 E Panofsky Die altniederlaumlndische Malerei Ihr Ursprung und Wesen Bd 2 Koumlln 2006 Abb 387 S 236 Abb 358 S 214 ndash Stoichita 1 D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 2 3 J Bialostocki Les Museacutees de Pologne Bruxelles 1966 ndash Zaumlh 1 2 Archiv des Verf 3 Metropolitan Museum of Art Bulletin 58 (2001) S 17 4 G ForsythK Weitzmann The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai The Church and Fortress of Justinian Plates Ann Arbor (Mi) 1973 Plate 121

278 Anselm Rau und Johanna Scheel

von meditatio und oratio beobachten die in Kombination die Lenkung der geordneten affectus bestimmen

Die von Hugo in De meditando angemahnte Unterscheidung und Betrachtung des Guten und Boumlsen findet in den Meditationen des Lignum vitae seine konkrete differenzierte Anwen-dung Heben die ersten vier Fruumlchten dezidiert Reue und Buszlige des MeditierendenBetenden und gerade die Schlechtigkeit des Menschen gegenuumlber Christus hervor so zeigen die Medita-tionen zur Passion Christi (5ndash8) die Betrachtung des Boumlsen und des Guten dahingehend wie das Boumlse in Gestalt der Peiniger Christi auf diesen einwirkt und wie Christus selbst oder wei-teres positiv konnotiertes biblisches Personal reagiert Die Grundlage des hier geforderten Mit-leidens mit Christus ist die bei den vorangegangenen Meditationen ausgearbeitete compassio Christi mit den Suumlndern Demuumltig ausgerichtet und damit ausgebildet am mitfuumlhlenden Vor-bild Christi kann der LeserBetrachter uumlber die imaginatio in der Meditation und dem Gebet hier zum Mitleidenden ausgebildet werden Zuerst wird also die demuumltige Emotionalitaumlt ob der eigenen Schlechtigkeit dem eigenen Boumlsen im Abgleich mit dem guten Vorbild in Christus herausgebildet und daraufhin die Affekte in den Meditationen zur Passion Christi an Christus selbst zum Mitleiden konstituiert

Als Beispiel der dezidiert auf die Affizierung ausgerichteten Anlage seien die Meditationen der fuumlnften Frucht umrissen Gegenstand (res) ist hier die Betrachtung von Christi Vertrauen (confidentia) in der Gefahr und umfasst die vier Meditationen zu Judasrsquo Verrat Christi Gebet auf dem Oumllberg der Umzingelung Christi durch die Haumlscher und seiner Gefangennahme29 Propaumldeutisch wird dem Verrat Judasrsquo dem abgrundtief Boumlsen (nequissum) die geradezu pa-radox erscheinende und dadurch Staunen und Bewunderung erweckende (o mira) Guumlte (be-nignitas) und Sanftmut (mansuetudo) Christi gegenuumlbergestellt30 Dieses Thema beherrscht alle Meditationen dieser Frucht und ist begleitende Grundlage aller folgenden Darstellungen der Misshandlung Christi Judas wird typologisch als lasterhafter Gegenpart zum tugendhaften Idealbild Christi stilisiert Sein Verrat gruumlndet in seiner cupiditas und bestimmt von seinen niedersten Trieben ist er die Personifikation von perfidia (Treulosigkeit Gewissenlosigkeit) in-gratitudo (Undankbarkeit) und duritia (Hartherzigkeit)31 Die angemahnte Betrachtung des Guten und des Boumlsen legt als klassisches System der Gegenuumlberstellung von Tugenden und Lastern anzustrebende bzw abzulehnende habitus durch die Ausrichtung der affectio dar

Signifikant zeigt sich die Affizierung anhand der uumlber die lectio sich konstituierende me-ditatio aufgrund der imaginierten Begebenheit in Verbindung mit der oratio die wiederum ihren Ausdruck in den Psalmen findet Als Ausweis der inneren Verletzlichkeit seiner mensch-lichen Natur (in natura sensibili)32 ist die Schilderung von Christi Gebet auf dem Oumllberg zentral Ob der Vorstellung des Todes (imaginatio mortis) die in seine empfindsame Seele eindrang wird er von affectus umschlungen (complexabatur affectu) Seine innere Bewegtheit wird mit den Tropfen blutigen Schweiszliges die seinen Koumlrper hinab rannen verdeutlicht der Affekt der

29 LV 517ndash20 S 75ndash7630 LV 517 S 7531 Ebd32 LV 518 S 75ndash76

Meditation und Gebet 279

Furcht (anxietas) als Empfindung steigt zwar in seinem Geist auf (in spiritu) der Nachvoll-zug erfolgt jedoch uumlber die aumluszligeren (imaginierten) Zeichen33 Die Meditation laumlsst den Leser darauf fragen bdquoO Herrscher und Herr Jesus woher kommt diese furchtbare Angst deiner Seele und dein angstvolles Flehen Hast du denn dem Vater dein Opfer nicht mit freiem Willen ge-brachtldquo34 Die Erklaumlrung folgt sofort Fuumlr die Bestaumlrkung des Glaubens hat Christus wahrhaft die sterbliche Natur angenommen damit der Mensch Hoffnung schoumlpfen kann sollte er aumlhn-liche Bedraumlngnis und Furcht erleiden denn aufgrund der Hoffnung richtet der Mensch seine Liebe auf Christus das Ziel wiederum willentlich (voluntas) aus Die offenkundigen (aumluszligeren) Zeichen des Leids in Christi menschlicher Natur sind das entscheidende Kriterium fuumlr die selbstreflexive Erkenntnis des LesersBetrachters Es ist die Erkenntnis dass Christus wahr-haftig die Schmerzen und das bittere Leid der Menschen mit fuumlhlbarer (sensu) Pein durchlitten hat35 Die Schilderung der Todesangst Christi ist damit Grundlage der im ersten Satz der fuumlnf-ten Frucht geforderten inneren Teilhabe (pii considereare) fuumlr die compassio den Nachvollzug seiner noch weiterhin zu durchleidenden koumlrperlichen wie seelischen Pein36

Diese Erkenntnis stuumltzt nun das ergaumlnzende Beten der Psalmen da diese einerseits die geforderten Affekte und den Affektreiz bekraumlftigen zugleich aber auch das selbstreflexive Moment herausarbeiten Die seelische Bedraumlngnis Christi auf dem Oumllberg wird begleitet und sozusagen von der Schilderung des Verrates Judasrsquo und der Bedraumlngung durch die Haumlscher umrahmt und aufgrund des Einbindens der Psalmen 38 41 und 55 in genau diese Meditationen zu einem inhaltlich kongruenten Gebet gestaltet Alle drei Psalmen wobei besonders Psalm 55 zitiert wird (Verse 13ndash15) nehmen Bosheit Verrat und Bedraumlngnis durch Freund und Feind in den Blick Hierdurch werden gerade das Verlassensein und das Ausgeliefertsein gegenuumlber den Misshandlungen in den Vordergrund gestellt die beschriebene Furcht Christi begleitet und durch das personalisierte Gebet zur emotionalen Ausrichtung des Beters selbst Nicht allein der einzelne Psalmvers wird dabei gebetet sondern ganz der mnemotechnischen Konzeptuali-sierung verpflichtet bildet der Vers den Ausgangspunkt und schlieszligt die Betrachtung und das Gebet des gesamt Psalms mit ein37 Der Klage uumlber den Vertrauensbruch durch den Freund (Ps 5513 ebenso Ps 3813 und Ps 41) und der Bedraumlngnis durch Frevler an deren Haumlnden Blut klebt (Vers 24) geht in Analogie zu Christi Gebet zum Vater auf dem Oumllberg die Anrufung Gottes voraus er moumlge das Beten und Flehen erhoumlren (exaudi orationem meam deprecationem meam)

33 Ebd34 Schlosser (wie Anm 19) S 51 LV 52 S 7635 LV 52 S 76 ndash Bereits Bernhard von Clairvaux formulierte Gott bot den Zugang zu sich selbst uumlber die Affekte weshalb die Inkarnation notwendig war um die affectiones des Menschen zuruumlckzugewinnen vgl B von Clairvaux Sermones super canticum canticorum 205 in Bernhard von Clairvaux Saumlmtliche Werke latdt hg v G Winkler Innsbruck (1996) Bd 5 S 28428536 LV 517 S 75 Nochmals abschlieszligend wird dies als identifikationsstiftendes Vorbild am Ende (vierte Meditation fuumlnften Frucht) mit dem Bild der gefesselten Haumlnde des unschuldigen Lammes und dem eingeforderten Stoumlhnen und der Beschreibung des durchdringenden Schmerzes der die Herzen der Juumlnger bei diesem Anblick durchstach (doloris aculues discipolorum vorda penetravit) vor Augen gestellt Vgl LV 520 S 7637 Zur Mnemotechnik allgemein M Carruthers The Book of Memory A Study of Memory in Medieval Culture Cambridge [ua] 122006 Zu beachten sind ebenso F A Yates The Art of Memory London 1966 M Evans The Geometry of Mind in Architectural Association Quarterly 124 (1980) S 32ndash55

280 Anselm Rau und Johanna Scheel

(Vers 1ndash8) Dabei wird die Angst (conturbatus sum) das Beben des Herzens in der Brust und das Befallenwerden vom Schrecken des Todes beschrieben (cor meum conturbatum est in me et formido mortis cecidit super me) ebenso das Erfasstsein von Furcht Zittern Schaudern und Entsetzen (timor et tremor venerunt super me et contexerunt me tenebrae) Der Nachvollzug der emotionalen Disposition Christi wird durch die kalkulierte Verknuumlpfung mit Psalm 38 zu-gleich ebenso zur detailreichen Klage in Furcht und Schrecken ob der eigenen Suumlndhaftigkeit Judas stellt natuumlrlich fuumlr den Abgleich das Negativbeispiel Doch im Gegensatz zu ihm zeigt der Betende in seiner demuumltigen Hinwendung zu Gott in Schmerz und Furcht das in ihn gesetzte Vertrauen das auch Jesus unter Beweis stellte Die Psalmen bieten hierfuumlr das passende Mittel der notwendigen Ausrichtung in der affectio

Ein interessanter Punkt sei in Bezug auf die Ausfuumlhrungen in De meditando hinsichtlich des Eifers (zelus) fuumlr die gerechte Sache noch genannt Die Sanftmut Christi wird gerade da-durch vor Augen gefuumlhrt dass er im Sinne des immerfort zur Vergebung bereiten Gott seinen Haumlschern guumltig begegnet da er sich seinen Peinigern nicht im Zorn (ira) verschloss (Ps 7710)38 Er haumllt naumlmlich sogar seinen Verteidiger ndash in der exegetischen Tradition Petrus vor allem dann auch in der bildenden Kunst ndash zuruumlck und bremst dessen gerechten zelus sein rechtmaumlszligiges eigentlich tugendhaftes eifersuumlchtiges Streben fuumlr das geliebte Objekt und heilt sogar ein abge-schlagenes Ohr Dieser Eifer der wie in De meditando beschrieben ohne Hinterlist ist nicht aus Ignoranz (repraumlsentiert durch die HaumlscherPeiniger) gegenuumlber der Wahrheit (in Christus) hervorgegangen zeigt die gute Absicht die durch Beharrlichkeit ans Ziel fuumlhrt und laumlsst somit die Liebe nicht lau werden Petrus wird als Identifikationsfigur installiert und am Ende aber-mals Judas entgegen gehalten Letzterer wurde zwar schlieszliglich aufgrund seiner Tat von Reue ergriffen jedoch war er nicht faumlhig durch die Hoffnung auf das Gute Christus Vergebung zu ersehnen und wurde von Bitterkeit (amaritudo) erfuumlllt so dass er den Tod und nicht das ewige Leben ersehnte

Meditationsschemata werden gerne aufgrund der ihnen innewohnenden Abfolge als starre Konstrukte und allein auf einen miszliginterpretierten geistigen Aufstieg abzielend hin verstan-den Doch beweist gerade das Lignum vitae eine hohe Flexibilitaumlt fuumlr den alltaumlglichen Gebrauch und zudem die eigentliche Intention die Formung von affectus

Gerard Zerbolt van Zutphen

Das stufenweise emotionale Gebet und die Meditation begegnen ebenfalls ndash allerdings weniger stark schematisiert als im Lignum Vitae ndash in einem Standardwerk der niederlaumlndischen Froumlm-migkeitsliteratur des 15 Jahrhunderts In De spiritualibus ascensionibus stellt Gerard Zerbolt

38 Im Tugend- und Lastersystem ist die Unterscheidung von zelus ira und furor sehr entscheidend bezuumlglich des guten und schlechten Strebens und damit hinsichtlich rationalen Ordnung des Geistes Zum tugendhaften und lasterhaften Zorn und seiner Aspekte vgl Richard von St Viktor Benjamin minor 40ndash44 PL 196029-033 ndash Gerade bei der Verurteilung Christi durch Pilatus (LV 624 S 77) wird das Thema der rasenden Wut (zelus invidiae) und des gerechte Zorns (zelus iustitia) nochmals differenziert

Meditation und Gebet 281

von Zutphen ein Autor der devotio moderna handbuchartig sein Aufstiegsmodell dar39 Darin vermittelt er seinen Mitbruumldern und einem frommen Laienpublikum ein ausgekluumlgeltes System von geistigen Uumlbungen die sich nicht nur auf den eigentlichen Gebetsakt beziehen sondern habituell im Alltag Anwendung finden sollen indem sie eine Transformation des Menschen be-wirken Er geht dabei von dem uumlblichen zeitgenoumlssischen theologischen Anthropologiemodell der Seele als durch Suumlnde verschmutzte imago Dei aus und stuumltzt sich auf bekannte moraltheo-logische Emotionstheorien die er jedoch stark ausweitet indem er den Emotionen eine genaue Funktion und eine Schluumlsselrolle im Erkenntnisprozess zuweist Die formula meditandi40 be-schreibt Gerard als inhaltlich verschieden konnotierte Selbstuumlberpruumlfungen in der die dadurch produzierten Emotionen wie Zerknirschung (compunctio bzw contritio) Furcht (timor) oder Hoffnung (spes) nicht nur bewusst gemacht sondern produktiv umgewandelt werden um zu Instrumenten und Stufen des weiteren Aufstiegs zu werden41 Diese Aufstiege sind ein Prozess der Selbsttransformation des Menschen der sich vollzieht indem der Mensch sowohl seinen urspruumlnglichen Zustand diese Transformation selbst als auch die Erfahrung seiner Veraumlnde-rung mit den erreichten Stufen emotional (ex affectu) erkennt (cogitare) und fuumlhlt (sentire)42 Aumlhnlich wie bei Hugo von St Viktor formuliert Gerard dass der Betende immer einen Affekt und ein Verlangen (desiderium) annehmen solle die zu den aktuellen Uumlbungen oder Medita-tionen passe43 Die Selbsttransformation im geistigen Aufstieg wird nach Gerard ebenso im uumlb-lichen Schema der lectio meditatio und oratio geuumlbt und an verschiedenen materiae meditandi44 vollzogen Die Affekte werden anhand dieser materiae erzeugt katalysiert und in das Gebet

39 Die Schrift (im Folgenden De Spir Asc) wird zitiert nach der Edition von F J LegrandN Staubach (Hgg) Gerard Zerbolt von Zutphen De Spiritualibus Ascensionibus La monteacutee du coeur Turnhout 2006 Vgl zur affektiven Konnotation von Gerards Gebetssystematik M Goossens De meditatie in de eerste tijd van de moderne devotie HaarlemAntwerpen 1954 Er stellt den Affekt als Wesensmerkmal des Gebets bei Gerard fest ebd S 118 Zur Einbindung der Schrift innerhalb der Gebetstheorien der Devotio Moderna und zum Stellenwert der affektiven Selbstreflexion auch in Beziehung zu zeitgenoumlssischer Kunst vgl J Scheel Das altniederlaumlndische Stifterbild Emotionsstrategien des Sehens und der Selbsterkenntnis Berlin 2014 bes S 155ndash171 230ndash241 414ndash42640 De Spir Asc Kap 641 Gerard spricht synonym von Aufstiegsstufen und affectus zB in Kap 27 bdquoIn hac prima ascensione vel primo affecto [hellip]ldquo Oder er benennt Affekte wie Hoffnung und Furcht als Stufen bdquo[hellip] istis duobus gradibus timoris et spei [hellip]ldquo Kap 26 Insgesamt benutzt er die Vokabeln affectus und affectio synonym zwar begegnet in Bedeutung von Strebevermoumlgen meist affectio und ersetzt also die vires durch die affectiones animae besonders wenn es um lasterhafte Affekte geht doch werden die einzelnen Affekte durchgehend als affectus nicht als affectio bezeichnet42 De Spir Asc Kap 643 Das Gebet solle nie bloszliges Lippenbekenntnis sein sondern immer aus der Wurzel des Herzens verfolgt werden und zwar stets aus den Affekten der Furcht Trauer Freude Bewunderung Dankbarkeit etc bdquo[hellip] ex affectu timoris meroris dilectionis admiracionis congratulationis etcldquo De Spir Kap 46 Diese Affektreihe stimmt mit derjenigen bei Hugo in De modo orandi uumlberein siehe oben S 273f44 Diese sind zunaumlchst die bekannten Meditationsinhalte wie man sie allenthalben in theologischer Literatur des Mittelalters findet Leben und Passion Christi das Juumlngste Gericht und die eigene Todesstunde (diese bspw bereits in Bonaventuras De Triplici Via Kap 3) Bei Gerard werden ebenfalls Houmllle und Himmelreich sowie die eigenen Suumlnden und Wohltaten Gottes eingeschlossen sowie das eigene Selbst in dem und waumlhrend des Gebets Zum Kontext der neuen Meditationswuumlrdigkeit des eigenen Selbst in den Lehren der Devotio Moderna vgl Scheel (cf Anm 39)

282 Anselm Rau und Johanna Scheel

uumlberfuumlhrt Dies macht Gerard wie Hugo anhand des Psalmengebets anschaulich indem er einerseits beispielhaft zeigt wie ex affectu ein Psalm gebetet wird waumlhrend er gleichzeitig bei vorheriger Thematisierung der lectio dessen Erregung durch die Lektuumlre betont

bdquoWenn du dich in deiner ersten Uumlberpruumlfung diskutiert hast und entdeckst dass deine Suumlnden zahlreicher sind als die Zahl des Sandes der Meere forme in dir den Affekt der Demut oder Trauer und nimm die Rolle (persona) eines Dieners an der seinen Herrn beleidigt hat Aus diesem Affekt heraus forme ein Gebet und sage sbquoGott sei mir gnaumldig nach deiner Huld tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmenlsquo (Ps 503) Wenn du in der zweiten und dritten Uumlberpruumlfung dich selbst diskutierend bemerkst dass dein Herz mit schlechten Begierden und boumlsen Verlangen gefuumlllt ist forme in dir wiederum den Affekt der Demut und nimm die Rolle eines Kranken an der nach Medizin fragt und sage sbquoHerr sei mir gnaumldig heile mich denn ich habe gegen dich gesuumlndigtlsquo (Ps 405) oder sbquoNichts blieb gesund an meinem Leib weil du mir grollst weil ich gesuumlndigt blieb an meinen Gliedern nichts heillsquo (Ebd) etc Wenn du dich im zweiten Aufstieg in Furcht durch Meditationen des Todes und des Gerichtes oder der Houmllle uumlbst nimm den Affekt der Furcht ein und die Rolle eines Suumlnders vor dem Richter an in Angst und Zittern als seist du schon uumlberfuumlhrt und der Richtspruch gegen dich gesprochen und sage sbquoVerdamme mich nicht Herr gehe nicht ins Gericht mit deinem Dienerlsquo (Ps 1422) oder sbquoHerr in deiner Wutlsquo (Ps 62) etc Wenn du dich aber in Hoffnung uumlbst durch die memoria des Him-melreiches nimm den Affekt der Liebe an und bete mit innigem Herzen und sage sbquoIch erstrebe eines Herr dieses wuumlnsche ich dass ich in dem Haus des Herrn wohnen darflsquo (Ps 264) oder sbquoWie der Hirsch lechzt nach frischem Wasserlsquo (Ps 412) etc Und ebenso kannst du mit anderen Affekten jene aus diesen formen und musst du die Rolle annehmen die deine Uumlbung erfordert und deine Meditation verlangtldquo45

Uumlber Hugo hinausgehend wird hier dem Betenden empfohlen sich konkrete Szenarien und personae zu imaginieren um die gewuumlnschten Affekte einzuuumlben Die Psalmenbeispiele mit den zugeordneten Affekten uumlberschneiden sich bei beiden Autoren bei Psalm 6 (timor) so-wie Psalm 26 (Gerard spes Hugo bona praesumptio)46 Besonders bei der Einuumlbung von timor und der Erwaumlhnung des Richtspruches in Kombination mit den Buszligpsalmen 6 und 142 stehen unmittelbar zeitgenoumlssische Darstellungen des Weltgerichts bzw der Auferstehung der Toten vor Augen wie man sie in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern in Kombination mit eben jenem Buszligpsalm 6 aber auch in der altniederlaumlndischen Malerei findet47 Psalmen koumlnnen zu den

45 bdquoUnde breviter ut modum habeas secundum predicta si te in prima examinacione discusseris et inveneris peccata tua multiplicata super numerum arene maris forma in te affectum humilitatis vel meroris et assume personam servi qui dominum suum offendit Et ex tali affectu forma oracionem dicens Secundum multitudinem miseracionum tuarum dele iniquitatem meam [hellip] Si te in secundo ascensu in timore per meditaciones mortis vel iudicii vel inferni exercueris assume affectum timoris et assume personam rei astantis coram iudice cum timore et tremore quasi iam convictus contra quem de iure proferenda est sentencia et dic Noli me condemnare Non intres in iudicium cum servo tuo Vel Domine ne in furore etc [hellip] Et sic de aliis affectibus quos ex istis formare poteris et assumere debes sicut exercicium tuum exigit et meditacio tua requiritldquo De Spir Asc Kap 4646 Zu den Psalmen die Hugo als Beispiele benutzt siehe oben S 273f47 Vgl dazu J Scheel Sich selbst sehen ndash der Betrachter in und vor dem Bild Spiegel- und Stifterfiguren in Texten und Bildern des 15 Jahrhunderts in E KochH Schlie (Hgg) Orte der Imagination ndash Raumlume des Affekts Die mediale Formierung des Sakralen Muumlnchen 2015

Meditation und Gebet 283

bdquototal memoriertenldquo48 Texten des Mittelalters gezaumlhlt werden weswegen sie sich beiden Autoren als Beispiele anbieten Sie benutzen die Buszligpsalmen (hier die Psalmen 6 31 [Hugo] 50 142) die im Stundenbuch fest als eigenstaumlndiger Gebetstext verankert sind und ebenso in der To-tenvigil ihren Platz haben ndash zusammen mit Gerards weiteren Beispielpsalmen 40 und 4149 Das Stundenbuch ist ein Medium in dem Psalmwort und bildliche Darstellung auf die Theorie des stufenweisen emotionalen Gebets und der Selbsttransformation treffen koumlnnen

Die Miniaturen die der Totenvigil bspw in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern des 15 Jahr-hunderts voranstehen zeigen oftmals eine ganzseitige Totenmesse sowie in der M-Initiale der gegenuumlberliegenden Textzeile50 zwei betende einander zugewandte Seelen im Fegefeuer (vgl

48 Zu diesen Texten gehoumlrten bspw das Pater Noster oder Ave Maria waumlhrend denen gleichzeitig auch uumlber bestimmte Aspekte zB der Passion meditiert werden konnte und sollte vgl P Saenger Books of Hours and the Reading Habits of the Later Middle Ages in R ChartierA Boureau (Hgg) The Culture of Print Power and the Uses of Print in Early Modern Europe Cambridge 1989 S 141ndash173 hier S 154 Bei den Psalmen genuumlgt wie man hier sieht allein die Nennung des Incipit oder bestimmter Verse die dem Leser so vertraut sind dass sie den gesamten Psalmentext mit assoziieren49 Zwar ist der Einsatz von Psalmen in mittelalterlichen Stundenbuumlchern mitunter verschieden doch kann man beispielhaft an einer Gruppe von Stundenbuumlchern in niederlaumlndischer Sprache diese Psalmen finden Diese Stundenbuumlcher sind mit der Uumlbersetzung des Gruumlndungsvaters des Devotio Moderna Geert Grote versehen oder stehen mit ihr in Verbindung N van Wijk Het getijdenboek van Geert Groote Naar het Haagse handschr 133 E 21 Leiden 1940 diese hauptsaumlchlich anhand einer einzigen Handschrift erarbeitete Edition wird hier in Ermangelung einer kritischen Edition genutzt Das getijdenboek enthaumllt einen Kalender des Bistums Utrecht fuumlnf Offizien (Marienoffizium Heiliggeistoffizium das lange und kurze Heiligkreuzoffizium Stunden der ewigen Weisheit) Buszligpsalmen Litanei und Totenvigil 50 Es ist der Beginn des invitatorium bdquoMi hebben ombeuanghen die suchten des dodes die pijnlike seer der hellen heben mi ombeuanghenldquo Wijk (cf Anm 49) S 156 ndash bdquoMich haben umfangen die Seufzer des Todes die qualvollen Schmerzen der Houmllle haben mich umfangenldquo

Abb 2 Meister des Hugo Jansz van Woerden Totenmesse und Seelen im Fegefeuer ca 1475ndash1500 Den Haag Koninklijke Bibliotheek Ms 76 G 13 fol 85vndash86r

284 Anselm Rau und Johanna Scheel

Abb 2)51 Das Fegefeuer bespricht Gerard eher marginal in seinem Traktat Fuumlr die affektive Meditation des eigenen Todes liefert er allerdings einerseits eine Anleitung fuumlr den Betenden die Affekte nun bereits zu erwecken die vor waumlhrend und nach dem eigentlichen Todeszeit-punkt entstuumlnden ndash und sich mit ihnen im Gebet selbst zu formen52 Andererseits raumlt er dem Glaumlubigen sich zum Zwecke des ex affectu-Gebets einen Koumlrper in seinen Verwesungsstadien vor Augen zu halten53 und was mit ihm selbst bei der Beerdigung passiere54 Das Fegefeuer ist ein im Sinne mittelalterlicher Moraltheologie produktiver Gebetsinhalt da der Glaumlubige im steten Oszillieren zwischen spes und timor besonders gut zur caritas aufzusteigen vermag Diesen Tenor findet man ebenfalls bei Geert Grote in seinem getijdenboek bei der Vorrede der Toten-vigil Hier raumlt er dem betenden Leser zum Wechsel aus Psalmen und Antiphonen in Hinblick auf die Erregung von Furcht und Angst Liebe und Hoffnung in der Ausrichtung auf Gut und Boumlse und mit Blick auf das Fegefeuer bdquoHier beginnt die Vigil in duytsche die so organisiert ist denjenigen zu helfen die von hinnen gefahren sind in der Freundschaft Gottes in das Fegefeuer Und ebenso dazu [gedacht ist] den Lebenden zu helfen die sie lesen damit ihnen das Wissen um die kommenden Dinge eingedruumlckt werde auf dass sie glauben hoffen und lieben an die Dinge in Herrlichkeit Und [sie] sich dafuumlr bereit machen und sich waumlhrenddessen die ganze Zeit fuumlrchten dass ihre Tage schnell vergehen Auf dass sie sich fuumlrchten aumlngstigen grauen und beben vor dem mannigfaltigen Leid der Angst und dem Elend die den Boumlsen ereilen werden und sie so darum ihr Leben lang ndash das hier aumluszligerst kurz ist ndash darauf hinarbeiten diesem Leid zu entgehen und [die Vigil ist auch hilfreich] weil ein Mensch diese beiden Dinge ndash Gutes in Liebe und Boumlses in Angst ndash besser ansehen (aensien) kann und erkennen und sich uumlberdenken damit er besser bitten kann und [es] mehr begehrt (begheert) und mehr liebt (myn[n]t) fuumlr diejenigen zu bitten die im Fegefeuer sind fuumlr ihre baldige Erloumlsung und dafuumlr Gottes Ehre zu vermehren [hellip] So hilft das Bitten der Lebenden den Toten und das Bitten fuumlr die Toten hilft den Lebendigen sich auf den Tod vorzubereiten [hellip] Und dazu ist das Singen dieser Psalmen heranzuziehen [und zwar] immer nach den Bedeutungen der Antiphone und den Sinn der

51 Die Darstellung von Seelen im Fegefeuer taucht als Buchillumination ab dem 13 Jahrhundert bereits vereinzelt auf und diente in Kombination mit Jenseitsvisionen Bibeltexten und moralisierenden Inhalten vor allem dem Gedenken an bereits Verstorbene wie auch zur persoumlnlichen Mediation des Lesers Oft findet eine narrative Einbindung statt Vgl dazu M Borowska Das Entfachen des Fegefeuers in der europaumlischen Miniatur des 13 Jahrhunderts in Umeni 57 (2009) S 310ndash325 Zum ikonografischen Kontext der hier gewaumlhlten Illumination vgl die Untersuchung von I M Veldman Purgatory in the Low Lands in B BukovinskaacuteL Slaviacuteček (Hgg) Pictura verba cupit Essays for Lubomiacuter Konečnyacute Prag 2006 S 169ndash180 va 170ndash17252 De Spir Asc Kap 19 In den folgenden Kapiteln stellt Gerard dem Leser dasselbe Prinzip an den Themen des Juumlngsten Gerichts der Houmllle und des Himmelreiches vor 53 bdquoItem interdum propone oculis tuis ymaginem alicuius hominis morientis et diligenter respice formam modum et ordinem quibus ad mortem deveniturldquo De Spir Asc Kap 1954 Weitere beliebte Illustrationen zum Totenoffizium im Stundenbuch des 15 Jahrhundert sind ebenfalls die Darstellung eines Toten um dessen Seele Engel und Teufel kaumlmpfen Schaumldeldarstellungen Seelen in Abrahams Schoszlig Himmel und Houmllle der Tod als Angreifer die Auferweckung des Lazarus sowie die Psychostasis mit Michael als Seelenwaumlger Diese Motive werden eher als ganzseitige Miniaturen dargestellt und bekommen zum Teil in der begleitenden Initiale jene zwei betenden Seelen im Fegefeuer hinzugefuumlgt

Meditation und Gebet 285

Antiphone soll man dazu in den Psalmen bedenken in allen Stundengebeten Dabei ist gut dass man sowohl vor als auch danach die Antiphonen spreche und schreibeldquo55

Mit der sich gegenseitig amplifizierenden Kombination von selbstreflexiven Affekt er-regendem und ausdruumlckendem Psalmentext mit der bildlichen Darstellung von Beerdigung mit Fegefeuer und mit derartigen Aufstiegsmodellen vertraut kann der betende Leser hier den eigenen Tod und die Bestrafung seiner Seele als Konsequenz der eigenen irdischen Suumlndhaftig-keit produktiv in seine Bemuumlhungen des geistigen Aufstiegs und seine Selbsttransformation kanalisieren

Imagination und Illumination

Das Gebetsleben des mittelalterlichen Glaumlubigen ist gekennzeichnet durch seine Affektivitaumlt Die affectus werden mit Gebetstexten und Psalmenreihen sowie mithilfe bildlicher Darstel-lungen sorgfaumlltig kultiviert und systematisch eingeuumlbt Dabei sind dies altbekannte ndash weil biblische ndash Text- und Bildinhalte deren affizierendes Potential auf neue Arten ausgeschoumlpft wird Texte und physische wie gerade geistige Bilder erinnern den Betenden nicht nur unver-bindlich an bereits bekannte Ereignisse Situationen und Figuren sondern lassen ihn sich mit diesen durch affektive und reflexive Meditationspraktiken identifizieren Fremde Worte und Emotionen werden darin zu den eigenen Vorbilder aus dem Kreis der Heiligen werden so zu Imaginationsfiguren das Selbst wird auf Gott ausgerichtet und in all seinen Aspekten gezielt emotional reflektiert So unterschiedlich die formale Herangehensweise dieser Praktiken bei den drei untersuchten Autoren Hugo von St Viktor Bonaventura und Gerard Zerbolt van Zutphen zu sein scheint vermitteln sie doch die selbe zentrale Maszliggabe oratio est affectus ndash bdquoGebet ist Affektldquo

Uumlbersetzung Hugo von St Viktor De meditando PL 176 993ndash99

Die Meditation ist die haumlufige Erwaumlgung (cogitatio) der Ursache (causa) und des inneren Be-weggrundes (ratio) eines einzelnen zu untersuchenden Gegenstandes (res) was seine Art sei (modus) was die Ursache und was der Beweggrund

Es gibt drei Arten (genus) der Meditation eine in Bezug auf die Schoumlpfung (in creaturis) eine hinsichtlich der Schrift (in scripturis) und eine hinsichtlich der Sitten (in moribus) Die erste erwaumlchst aus der Bewunderung (admiratio) die zweite aus der Lektuumlre (lectio) die dritte aus der umsichtigen Beobachtung (circumspectio)

Zuerst bringt die admiratio die Frage (quaestio) hervor die Frage das Erforschen (investi-gatio) und das Erforschen die Entdeckung (inventio) Dies ist damit die Bewunderung der Ord-

55 Fuumlr den altniederlaumlndischen Text vgl Wijk (cf Anm 49) S 155 Zum Antiphon das der Vigil vorangestellt ist vgl Anm 50

286 Anselm Rau und Johanna Scheel

nung (dispositio) die Frage nach der Ursache und die Entdeckung des inneren Beweggrundes Die Bewunderung beruht auf der Betrachtung der Ordnung im Himmel das ist die Gleich-artigkeit von allem und der Houmlhen und der Tiefen (alta et depressa) auf der Erde Die Frage betrifft die Ursache (causa) des irdischen Lebens auf Erden und des himmlischen Lebens im Himmel Das Erforschen fragt nach dem inneren Beweggrund dass so wie die Erde auch das irdische Leben beschaffen ist und dass der Beschaffenheit des Himmels selbst auch das himm-lische Leben gleicht

Bei der Lektuumlre (lectio) aber erfolgt die Betrachtung (considerare) folgendermaszligenAls erstes dient die lectio dazu durch die Bereitstellung des Stoffes (materia) die Wahr-

heit zu erkennen (cognoscere) die meditatio fuumlgt ihn zusammen (coaptare) die oratio hebt ihn empor (sublevare) die operatio (Ausfuumlhrung) wendet ihn an (componere) und die contemplatio frohlockt in ihm selbst (exsultare)

Es ist durch die Meditation der Schriften zu erkennen auf welche Weise es sich gehoumlrt etwas zu wissen Als Beispiel steht geschrieben Declina a malo et fac bonum (Vg Ps 3627 ndash Wende dich ab von dem Boumlsen und tue Gutes EUuml Ps 3727) Deshalb wurde zuvor gesagt die meditatio wendet sich der lectio zu um sich vom Boumlsen abzuwenden und darauf Gutes zu tun Der Grund (causa) hierfuumlr ist wenn sich nicht zuerst das Boumlse zuruumlckzoumlge wuumlrde das Gute nicht herantreten koumlnnen Der innere Beweggrund (ratio) aber ist so wie zuerst die Sproumlsslinge des Boumlsen mit ihrer Wurzel ausgerissen werden muumlssen so muss danach das Gute (ein-)ge-pflanzt werden Warum wurde daher gesagt Wende dich ab von dem Boumlsen Weil es einem auf dem Weg begegnet Man wendet sich deshalb ab weil wir es wo auch immer nicht vermoumlgen durch Staumlrke zu widerstehen wir entkommen ihm lediglich wenn wir uns mit Klugheit und Vernunft (consilio et ratio) von ihm abwenden Auch muumlssen wir uns vom Boumlsen abwenden um dem Naumlhrstoff (materia) zur Suumlnde aus dem Weg zu gehen ndash beispielsweise ist von Hochmut (superbia) Begehrlichkeit (incontinentia) Begierde (concupiscentia) Neid (invidia) und Streit (contentio) abzulassen um sich vom Reichtum (abundantia) der Schoumlnheit (species) des Flei-sches und der Besitzgier (amor possessiones) abzuwenden Dies bedeutet bdquosich abzuwendenldquo Desgleichen wenn auf diese Weise von allem Boumlsen sich abzuwenden angeraten ist so wird die Verrichtung alles Guten verlangt Und so ist also der ebenso schuldig bzw angeklagt der allein nur alles Boumlse meidet wie derjenige der nicht zugleich all das Gute tut Aber wenn dies so ist wer ist dann kein Angeklagter (reus) Folglich wird uns anbefohlen uns von allem Boumlsen loszusagen Andererseits kommt das Gute zum Einen aus dem was sich gehoumlrt (necessitas) und zum anderen aus dem Willen (voluntas) Es gehoumlren sich die Dinge einer Vorschrift (praecep-tum) und die eines Geluumlbdes (votum) alles uumlbrige wird erfuumlllt wenn eine Sache [also Schuld] mehr als nur vergolten wird (supererogare) und einem nichts mehr anlastet

Daher zielt die Meditation bei der lectio darauf ab zu ergruumlnden auf welche Weise et-was das erkannt wird gut ist warum und wie es zu erreichen ist weil es ndash ist es [ersteinmal] erkannt ndash auch zu verrichten ist Die Meditation ist das Entdeckungsvermoumlgen der vorgefassten Absicht (excogitatio consilii) zu erwaumlgen auf welche Weise das Gute das erkannt wurde erfuumlllt wird denn das Erkannte ist unbrauchbar wird es nicht vollbracht

Deshalb ist die Meditation bei der lectio eine dreifache Betrachtung nach der historia der allegoria und der tropologia Gemaumlszlig der historia erfolgt die Meditation wenn wir nach dem

Meditation und Gebet 287

vollendeten inneren Beweggrund der Dinge fragen die geschehen sind und diesen hinsichtlich seiner uumlbereinstimmenden Art und Weise (modus) bezuumlglich der Zeiten (tempora) und Orte (loci) bestaunen (admirare) Bei dieser Betrachtung der goumlttlichen Ratschluumlsse (iudicium) laumlsst man nicht davon ab daruumlber nachzudenken dass diese richtigen und gerechten (rectus et iustus) Entscheidungen zu keiner Zeit den Beistand [Gottes fuumlr die Menschen] entzogen (deesse) und durch sie das geschah was sich gehoumlrte und vergolten wurde was gerecht war (iustum fuit)

Die Meditation hinsichtlich der allegoria beschaumlftigt sich mit der Gliederung (dispositio) der vorangegangenen und zukuumlnftigen Dinge und so wie fuumlr den Verstand (intelligentia) an-gemessen richtet sie dabei ihre Aufmerksamkeit auf deren uumlbereinstimmende Bedeutung in ihrer bewundernswerten Vernunftmaumlszligigkeit (ratio) und Vorhersehung (providentia) und auf ihre fuumlr den Glauben (fides) geschaffene Gestalt (forma)

Bezuumlglich der tropologia beschaumlftigt sich die Meditation damit welche Frucht die Worte der lectio hervorbringen und erforscht (exquirere) was diese wenn sie ausgefuumlhrt werden [im Sinne des eigentlichen Aussprechens der Worte aber auch die Ausfuumlhrung ihres Inhaltes] ein-pflanzen (insinuere) und dabei zugleich lehren was zu vermeiden ist Sie stellt vor Augen was durch die lectio der Schrift zur Unterweisung (eruditio) zur Ermahnung (exhortatio) zur Troumls-tung (consolatio) und zum Schrecken (terror) dient Hierdurch erleuchtet die tropologia dahin-gehend was zum Verstehen der Tugenden (virtus) fuumlhrt sie naumlhrt (nutrire) den Affekt (affectio) und lehrt (edocere) die Lebensfuumlhrung auf dem Pfad der Tugenden

Die Meditation der Sitten (mos) erfolgt gemaumlszlig der Affekte (affectus) der Erwaumlgungen (cogi-tationes) und der Werke (opera)

Hinsichtlich der Affekte ist zu betrachten wie sie recht und aufrichtig (rectus et sincerus) zu sein vermoumlgen damit ist gemeint auf das und zu was hin sie geschuldet sein muumlssen und in welcher Weise sie zu sein haben Zu differenzieren ist naumlmlich dass das was sich nicht gehoumlrt (non oportet) boumlse ist und zugleich das was sich gehoumlrt zu lieben ist ndash das zu lieben das sich gleichwie nicht gehoumlrt ist boumlse Daher handelt es sich um einen guten Affekt wenn er auf das ausgerichtet ist auf das er verpflichtet ist und in der Weise wie es sich gehoumlrt

Amnon liebte (diligere) seine Schwester und dies war der Affekt zu dem er bestimmt war doch weil er Boumlses begehrte war es nicht der Affekt wie er ihn schuldete (vgl 2 Sam 13) So kann der Affekt auf das gerichtet sein zu was er gehoumlrt dies aber nicht in der [angemessenen] Art und Weise Niemals aber kann der Affekt so sein wie er zu sein hat wenn er nicht auf das ihm Zugehoumlrige ausgerichtet ist Auf das ausgerichtet zu was er gehoumlrt bedeutet dass er recht ist und in der Art und Weise wie es sich gehoumlrt und dementsprechend ist er rein Daher werden die Affekte in den Erwaumlgungen betrachtet damit sie rein (mundus) und geordnet (ordi-natus) sind Rein sind sie wenn weder etwas Boumlses von den Affekten hervorgebracht wird noch das Boumlse die Affekte hervorbringt Dass sie geordnet sind meint wenn sie vernuumlnftigerweise aufgrund des ihnen eigenen Anlasses (suo tempore) aufkommen (advenire) Es ist nicht ohne Schaden (vitium) [naumlmlich im Sinne des korrekten Vorgehens nicht ohne Formfehler] bereits das Gute zu einem diesem nicht angemessenen Zeitpunkt zu erwaumlgen wie etwa an die lectio waumlhrend der oratio zu denken oder auch an die oratio waumlhrend der lectio

Bei den Werken ist als erstes zu betrachten was zum Beispiel durch die gute Absicht (bona intentio) geschieht Um eine gute Absicht handelt es sich wenn sie einfach und aufrichtig ist

288 Anselm Rau und Johanna Scheel

(simplex et recta) Die bona intentio ist arglos ohne Hinterlist (malitia) und aufrichtig ohne Ignoranz (ignorantia) Die naumlmlich ohne Hinterlist ist besitzt den Eifer (zelus) Ist sie aber aus der [bewussten] Unkenntnis gegenuumlber dem Wissen (scientia) (Roumlm 102) geboren verfuumlgt sie nicht uumlber den [wahren] Eifer Daher ist es notwendig dass die Absicht aufrichtig ist in der Bescheidenheit (discretio) und arglos im Wohlwollen (benignitas) Bei den Werken ist zu be-trachten dass sie aus der aufkommenden guten Absicht heraus mit beharrlicher Leidenschaft (fervor) schlieszliglich ans Ziel gefuumlhrt werden damit nicht die Beharrlichkeit (perseverantia) ge-laumlhmt (torpere) und die Liebe (amor) nicht lau wird (tepescare)

Auf gleiche Weise erfolgt die meditatio der Sitten in einer zweifachen Betrachtung naumlmlich einer inneren und einer aumluszligeren Die aumluszligere blickt auf das Ansehen (fama) die innere auf das Gewissen (conscientia) Die aumluszligere Betrachtung erfolgt gemaumlszlig dem was ziert (decere) und was nuumltzt (expedire) was als Beispiel (exemplum) dient und was den Lohn (meritum) hervorbringt ndash uns zum Lohn und den Naumlchsten als Beispiel Die innere Betrachtung dagegen schaut auf das Gewissen damit es rein (mundus) sei ohne Anklage (accusatio) zu erleiden (pati) ob nun durch die Laumlhmung (torpor) des Guten oder die Hartnaumlckigkeit (praesumptio) des Boumlsen Rein ist aber jenes Gewissen das weder durch das Vergangene zu recht angeklagt (accusare) noch durch das Gegenwaumlrtige unrechtmaumlszligig erfreut (delectare) wird

Daher laumlsst die meditatio der Sitten ihre Betrachtung nicht ruhen damit sie jegliche Re-gungen (motus) die sich im Herzen erheben bemerkt und erwaumlgt woher sie kommen und worauf sie abzielen (tendere) Das heiszligt woher sie kommen gemaumlszlig ihrem Ursprung und wo-nach sie streben hinsichtlich ihres Ziels Alles ist naumlmlich eine Bewegung aus irgendetwas und auf irgendetwas Die Bewegungen des Herzens sind manchmal offenkundigen Ursprungs manchmal entspringen sie aber auch Verborgenem Bei denen der Ursprung offenkundig ist ist er bisweilen durch das Gute bisweilen aufgrund des Boumlsen erwiesen Was offenkundig gut ist kommt von Gott was aber deutlich boumlse erscheint entspringt entweder dem Teufel oder dem Fleisch Dies sind naumlmlich die drei Urheber (auctores) aller Vorstellungen (suggestio) und aller Eingebungen (aspiratio) die unsichtbar an das Herz herantreten und aus jenen drei hervor-gehen Entspringen die Bewegungen des Herzens daher dem Verborgenen koumlnnen sie manch-mal aus dem Guten und dem Geheimen hervorgehen und sind manchmal boumlse und zweifelhaft (dubius) Die dem Guten entspringen kommen von Gott die aber dem Boumlsen entstammen sind entweder des Teufels oder des Fleisches

Die Bewegungen die folglich offenkundig sind sei es im Guten oder Boumlsen werden auf den ersten Blick durch ihren Ursprung angezeigt Jene aber die zweifelhaft bleiben hinsichtlich ih-res Grundes sind am Ende zu uumlberpruumlfen (probare) Ihr Ergebnis [oder Ausgang] (exitus) zeigt naumlmlich deutlich was vom Ursprung her verborgen war und deswegen muss derjenige der es nicht vermochte den Ausgangspunkt seiner Herzensbewegungen zu beurteilen (iudicare) das Ziel und die Ausfuumlhrung [bzw Vollendung] (finis et consummatio) untersuchen (investigare) Die Bewegungen naumlmlich die zweifelhaft und ungewiss sind sind vom verborgenen Guten oder Boumlsen Wie gesagt wurde haben die schlechten Regungen ihren Ursprung entweder beim Teufel oder im Fleisch Diese aber sind beide boumlse sie unterscheiden sich nicht indem oder durch was sie boumlse sind doch unterscheiden sie sich dahingehend dass die Regungen des Her-zens die dem Fleisch entspringen haumlufig aus einer Notwendigkeit (necessitas) heranwachsen

Meditation und Gebet 289

die aber die tatsaumlchlich vom Teufel kommen nehmen noch oumlfter wider der Vernunft (ratio) ihren Anfang (oriri) Was naumlmlich vom Teufel eingegeben wird (suggerere) ist in der Tat dem Menschen fremd und wird deswegen haumlufig von der menschlichen Vernunft abgelehnt weil er beispielsweise unlaumlngst gesaumlttigt Hunger leidet (pati) kurz zuvor noch trunken (inebriatus) vor Durst (sitis) gluumlht (aestuare) oder wenn er nach einem ausgiebigen Schlaf (dormitio) sich erhebend vom Traum (somnus) bedruumlckt (praegravare) wird

Hieraus also werden die Werke des Teufels differenziert betrachtet weil sie ja an den Men-schen von auszligen herangetragen werden und der menschlichen Vernunft fremd sind Bei den Werken des Fleisches und ihren Eingebungen liegt der Grund des Oumlfteren in einer vorangegan-genen Notwendigkeit Aber weil sie Ziel und Maszlig (modus et mensura) uumlbersteigen wachsen sie zum Uumlberfluss (superfluitas) heran Dies ist als Beispiel eben gerade dann der Fall wenn nach der Einnahme einer Mahlzeit der Hunger hemmungslos (immoderatus) begehrt (appetere) und nach Enthaltsamkeit (abstinentia) das Maszlig (mensura) bei der Aufnahme von Speise (edulium) nicht gehalten wird

Daher wird die meditatio der Sitten aufgrund eines dreifachen Urteils betrieben Das erste urteilt zwischen Tag und Nacht das zweite zwischen Tag und Tag und das dritte schlieszliglich untersucht den gesamten Tag (vgl Roumlm 145) Zwischen Nacht und Tag zu urteilen meint das Boumlse vom Guten zu (unter-)scheiden Die Beurteilung zwischen Tag und Tag bedeutet eine Un-terscheidung zwischen etwas Gutem und etwas Besserem vorzunehmen Uumlber den gesamten Tag zu richten ist schlieszliglich das einzelne Gute fuumlr den eigenen Lohn zu ermessen (aestimare)

So hat die meditatio der Sitten bei jeglichem Umgang (conversatio) das Ziel und die Rich-tung (directio) im Blick Das Ziel ist wohin man strebt die Richtung wodurch man leichter ans Ziel gelangt Jeder naumlmlich der zu irgend etwas strebt so wie etwas seine Bahn (cursus) lenkt und unaufhoumlrlich weiterzieht kommt schneller ans Ziel Es gibt daher Gutes durch das man stark bewegt ist (moveri) zugleich gibt es aber wenig her durch das man vorankommt (pro-moveri) Anderes dagegen fuumlhrt mit etwas Muumlhe (labor) zu groszligem Gewinn (fructus) Und diese sind folglich zu unterscheiden und das Bessere das mehr nuumltzt auszuwaumlhlen Welches auch immer mehr nuumltzt ist besser und es gehoumlrt sich jedes Werk auf seinen Ertrag hin zu beurteilen Indem viele diese Unterscheidung (discretio) nicht einhielten haben sie sich zwar aufs aumluszligerste bemuumlht sind jedoch nur wenig vorangekommen weil sie das Auge aumluszligerlich so sehr auf die Gestalt (species) der Werke richteten und nicht innerlich auf den Gewinn durch die Tugenden blickten Sie ergoumltzen sich daran groszlige Taten zu verrichten anstatt dass sie das Nuumltz-liche (utilia) uumlben (exercere) um sich selbst zu bessern (emendari) Dabei schaumltzten (diligere) sie vielmehr das durch das sie den Anschein erwecken (videri) konnten [so zu sein]

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zunaumlchst das was man schuldet entweder auf-grund einer Vorschrift (praeceptum) oder eines Geluumlbdes (votum) Diesbezuumlglich ist die erste Tat der meditatio zu ermitteln ist sie oder es erfuumlllt fuumlhrt es zum Lohn und wenn nicht bringt dies den Anklagezustand (reatus) hervor Es sind also zuerst die Dinge zu tun die nicht ohne Schuld (culpa) weggelassen werden koumlnnen Danach ist die meditatio alsdann so zu verrichten dass wenn etwas durch freiwillige Uumlbung (exercitatio) noch hinzugefuumlgt wird die Pflicht-erfuumlllung [eigtl Schuld] (debitum) nicht verhindert wird (impedire) Die einen die das nicht zu leisten vermoumlgen was sie schulden wollen was sie nicht muumlssen Die anderen wenn sie im-

290 Anselm Rau und Johanna Scheel

stande sind zu tun was sie schulden bringen freiwillig Hindernisse (impedimentum) mit sich indem sie etwas wollen was sie nicht muumlssen

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zwei Dinge des Boumlsen vor denen man bei der Ver-richtung von Gutem besonders auf der Hut sein muss die Betruumlbnis [Niedergeschlagenheit] (afflictio) und die Besessenheit [Vereinnahmung] (occupatio) Die afflictio fuumlhrt zur Bitterkeit (amaritudo) die occupatio zur Zerstreuung (dissipatio) Mit der afflictio verbittert die Suumlszlige (dulcedo) des Geistes und mit der occupatio wird die Ruhe (tranquillitas) zerstoumlrt (dissipare) Es herrscht Betruumlbnis wenn man fuumlr jene Dinge die man nicht vermag aufgrund der eigenen Ungeduld (impatientia) ungluumlcklich wird (urere) Dagegen handelt es sich um Besessenheit (occupatio) wenn man in seinem Handeln (nach seinem Vermoumlgen) aufgrund der impatientia gequaumllt wird (agitare) Folglich darf die Seele (animus) nicht aufgrund des Boumlsen verbittert wer-den sie muss ihr Unvermoumlgen (impossibilitas) geduldig (patienter) aushalten Genauso darf sie aber auch nicht vom Boumlsen eingenommen werden und darf ihr Vermoumlgen (possibilitas) nicht uumlber ihr eigenes Maszlig hinaus ausdehnen (extendere) Daher muss die meditatio der Sitten in einer weiteren Betrachtung der Lebensfuumlhrung zu einem Urteil kommen und dabei billigen dass es weder gut ist die Dinge die man nicht vermag ungeduldig (impatienter) zu verlangen (appetere) noch die welche man erreicht toumlricht (insipienter) zu verschmaumlhen (fastidire) Wer naumlmlich immer das begehrt was er nicht vermag und das was er [jedoch] vermag verabscheut wird sich weder am Gegenwaumlrtigen erfreuen (frui) noch am Zukuumlnftigen saumlttigen (satiare) Er verlaumlsst naumlmlich das Gute unentwickelt vor der Vollendung und eignet sich das gerade erst Be-gonnene vorzeitig an Deswegen ist es gut aufgrund des eigenen Guten zufrieden zu sein und das gegenwaumlrtige Gute durch hinzukommendes Gutes zu vermehren und es nicht aufgrund des Zukuumlnftigen wegzuwerfen (abicere) Der Austausch (commutatio) des Guten ist naumlmlich ein Leichtes (levitas) seine Uumlbung (exercitatio) aber die Tugend Oft eilen sie auf unterschiedlichen Wegen die einen die ein fruumlheres durch ein neues Gutes fallen lassen (abicere) und die ande-ren die [sich] vom Untersten zum Houmlchsten emporschwingen (conscendere) Wer naumlmlich nach Veraumlnderung (mutatio) fragt ist uumlberdruumlssig (fastidiosus) so wie der der nach dem Voran-schreiten (profectus) strebt eifrig bemuumlht ist (studiosus) Am aufrechtesten beschreitet daher derjenige den Weg der dabei so auf das Bessere brennt (fervere) dass er des Guten nicht uumlber-druumlssig wird sondern es vorerst empor haumllt solange bis er es spaumlter zu der ihm angemessenen Zeit sich aneignet (apprehendere)

Abbildungsnachweis

Einband Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders

Farbtafeln 1 (zu Beitrag Rosenwein) Coll BNU de Strasbourg ndash 2 (zu Beitrag Ferguson) Ar-chiv der Verf ndash 3 (zu Beitrag Herding) Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preu-szligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders ndash 4 (zu Beitrag Droste) R Kahsnitz Die Groszligen Schnitzaltaumlre Spaumltgotik in Suumlddeutschland Oumlsterreich Suumldtirol Muumlnchen 2005 Taf 53 ndash 5 6 (zu Beitrag Schedl) 75 Jahre 1933ndash2008 Kirche Mutter vom Guten Rat Festschrift und Chro-nik FrankfurtM 2008 S 92 Dr Bernd Konrad Radolfzell ndash 7 8 9 (zu Beitrag Zaumlh) Archiv des Autors ndash 10 (zu Beitrag Niehr) Universitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Media-thek 11 12 (zu Beitrag Muumlller) Autorin ndash 13 14 15 (zu Beitrag Schlie) Su concessione del Ministero dei beni e delle attivitagrave culturali e del turismo ndash Galleria Nazionale delle Marche ndash Urbino Archivio fotografico Archiv der Verf F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 ndash 16 17 (zu Beitrag Stoichita) D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 ndash 18 19 20 (zu Beitrag Schmidt) London British Museum C Geissmar-BrandiE Louis (Hgg) Glaube Hoffnung Liebe Tod Wien 1995 S 149 Archiv Autor ndash 21 (zu Beitrag Jung) Autorin

Textabbildungen Droste 1 3 4 Autorin 2 E Oellermann Der Hochaltar in St Martin zu Lorch am Rhein in H KrohmE Oellermann (Hrsg) Fluumlgelaltaumlre des spaumlten Mittelalters Ber-lin 1992 Abb 2 ndash Ferguson 1ndash3 Archiv der Verf ndash Frese 1 2 3 5 M BrandtA Eggebrecht (Hgg) Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen Katalog der Ausstellung Hil-desheim 1993 Bd 1 S 386f Abb 197 u 198 Bd 2 S 583 KatNr VIIIndash32 S 604 KatNr IXndash8 4 G LutzA Weyer (Hgg) 1000 Jahre St Michael in Hildesheim Kirche ndash Kloster ndash Stifter Peterberg 2012 S 148 Abb 118 ndash Gruumlndler 1ndash4 L DomenicoA Nova (Hg) Leonardo da Vincirsquos Anatomical World Language Context and Disegno Akten der Internationalen Tagung Florenz 30ndash31 Mai 2008 Venedig 2011 S 237 S 236 S 241 S 186 5 6 Le journal de Jacopo da Pontormo traduit par Jean-Claude Lebensztejn avec la collaboration drsquoAlessandro Parronchi Paris 1992 S 46 S 50 ndash Herding 1 2 3 4 5 6 7 Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders 8 Max J Friedlaumlnder Early Netherlandish Painting 14 vols Leiden und Bruumlssel 1967ndash1974 vol II 1967 pl 10 Nr 3i 9 Wolfenbuumlttel Herzog-August-Bibliothek ndash Jung 1 2 3 4 5 Autorin ndash Kessler 1 6 7 Autor 2 3 Museo delle Terme Rom 4 British Museum London 5 Alexei Lidov ndash Maxwell 1 2 AHN 3 Autor 4 Sancho el Mayor y sus herederos ed I Bango Torviso et al 2006 cat 25 5 BNE ndash Muumlller 1 Italian painting c 1330ndash1550 I National Gallery in Prague II Collections in the Czech Repub-lic Illustrated summary catalogue Prag 2008 2 Collection of The John and Mable Ringling Museum of Art the State Art Museum of Florida Florida State University 3 2014 copy Archivio Fotografico ndash Fondazione Musei Civici di Venezia ndash Niehr 1 A Schuttwolf (Hg) Ausst-Kat Jahreszeiten der Gefuumlhle Das Gothaer Liebespaar und die Minne im Spaumltmittelalter Ostfil-

400 Abbildungsnachweis

dern-Ruit 1998 2 D de Vos Hans Memling Das Gesamtwerk AntwerpenStuttgart 1994 S 278ndash283 TH Borchert Hans Memling Portraits Stuttgart 2005 S 173f Nr 23 3 Univer-sitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Mediathek ndash Pfisterer 1 E Steinmann ldquoLa mano di Michelangeloldquo in Studien aus Kunst und Geschichte Friedrich Schneider zum siebzigsten Geburtstag Freiburg iBr 1906 unnum Taf 2 R Bernini ua La mano e il volto di Antonio Canova PossagnoQuinto di Treviso 2008 S 197 3 U Klein Zur Forschungsgeschichte des Duumlrer-Hauses in GU GroszligmannF Sonnenberger (Hgg) Das Duumlrer-Haus Neue Ergebnisse der Forschung Nuumlrnberg 2007 S 105 nach Carl A Heideloff Die Ornamentik des Mittelalters Bd 3 Nuumlrnberg 1847 S 42 4 WH Vroon Het wonderlid van Jan de Witt en andere vaderland-se relieken Nijmegen 1997 S 68 5 Autor nach GF Tomasini Petrarca Redivivus Padua sup21650 S 128 6 A Picturesque Tour Through Holland Brabant and Part of France made in the autum of 1789 by Samuel Ireland London sup21796 Bd 2 Taf nach S 13 ndash Pinkus 1 2 3 4 5 6 Autor 7 8 Institut fuumlr Kunstgeschichte Universitaumlt Wien Fotothek ndash RauScheel 1 M Gregori Uf-fizien und Palazzo Pitti Muumlnchen 1994 S 31 2 Den Haag Koninklijke Bibliotheek ndash Raeck 1 2 5 7 Fotothek des Instituts fuumlr Archaumlologische Wissenschaften AbtI Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main 3 Zeichnerische Rekonstruktion M Junghans nach H-V Herrmann Olympia ndash Heiligtum und Wettkampfstaumltte Muumlnchen 1972 Abb 95 4 Antikensammlung Staatliche Museen zu Berlin Foto Johannes Laurentius 6 W Riezler Weissgrundige attische Lekythen Muumlnchen 1914 Taf 23 8 Deutsches Archaumlologisches Institut Athen Fotothek ndash Reudenbach 1 F MuumltherichJE Gaehde Karolingische Buchmalerei Muumlnchen 1979 Taf 4 2ndash4 httpwwwbibliotheca-laureshamensis-digitalde (Zugriff 20022014) ndash Schmengler 1 2 3 Torsten Saumlnger Frankfurt 4 5 6 Eric Tschernow Berlin ndash Schedl 1ndash3 Dr Bernd Konrad Radolfzell 4 FrankfurtMain-Niederrad Pfarrarchiv der katholischen Kirchengemeinde Mut-ter zum Guten Rat ndash Schlie 1 Archiv der Verf 2 Archiv der Verf + D E Katz The Contours of Tolerance Jews and the Corpus Domini Altarpiece in Urbino in Art Bulletin 85 (2003) S 647ndash661 S 647 3 F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 Schmidt 1 2 London British Museum 3 M Geisberg Der Meister ES Leipzig 21924 4 Archiv Autor ndash Taxer 1 2 O Paumlcht Altniederlaumlndische Malerei Von Rogier van der Weyden bis Gerard David Muumlnchen 1994 Abb 91 S 118 Abb 93 S 120 3 4 E Panofsky Die altniederlaumlndische Malerei Ihr Ursprung und Wesen Bd 2 Koumlln 2006 Abb 387 S 236 Abb 358 S 214 ndash Stoichita 1 D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 2 3 J Bialostocki Les Museacutees de Pologne Bruxelles 1966 ndash Zaumlh 1 2 Archiv des Verf 3 Metropolitan Museum of Art Bulletin 58 (2001) S 17 4 G ForsythK Weitzmann The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai The Church and Fortress of Justinian Plates Ann Arbor (Mi) 1973 Plate 121

Meditation und Gebet 279

Furcht (anxietas) als Empfindung steigt zwar in seinem Geist auf (in spiritu) der Nachvoll-zug erfolgt jedoch uumlber die aumluszligeren (imaginierten) Zeichen33 Die Meditation laumlsst den Leser darauf fragen bdquoO Herrscher und Herr Jesus woher kommt diese furchtbare Angst deiner Seele und dein angstvolles Flehen Hast du denn dem Vater dein Opfer nicht mit freiem Willen ge-brachtldquo34 Die Erklaumlrung folgt sofort Fuumlr die Bestaumlrkung des Glaubens hat Christus wahrhaft die sterbliche Natur angenommen damit der Mensch Hoffnung schoumlpfen kann sollte er aumlhn-liche Bedraumlngnis und Furcht erleiden denn aufgrund der Hoffnung richtet der Mensch seine Liebe auf Christus das Ziel wiederum willentlich (voluntas) aus Die offenkundigen (aumluszligeren) Zeichen des Leids in Christi menschlicher Natur sind das entscheidende Kriterium fuumlr die selbstreflexive Erkenntnis des LesersBetrachters Es ist die Erkenntnis dass Christus wahr-haftig die Schmerzen und das bittere Leid der Menschen mit fuumlhlbarer (sensu) Pein durchlitten hat35 Die Schilderung der Todesangst Christi ist damit Grundlage der im ersten Satz der fuumlnf-ten Frucht geforderten inneren Teilhabe (pii considereare) fuumlr die compassio den Nachvollzug seiner noch weiterhin zu durchleidenden koumlrperlichen wie seelischen Pein36

Diese Erkenntnis stuumltzt nun das ergaumlnzende Beten der Psalmen da diese einerseits die geforderten Affekte und den Affektreiz bekraumlftigen zugleich aber auch das selbstreflexive Moment herausarbeiten Die seelische Bedraumlngnis Christi auf dem Oumllberg wird begleitet und sozusagen von der Schilderung des Verrates Judasrsquo und der Bedraumlngung durch die Haumlscher umrahmt und aufgrund des Einbindens der Psalmen 38 41 und 55 in genau diese Meditationen zu einem inhaltlich kongruenten Gebet gestaltet Alle drei Psalmen wobei besonders Psalm 55 zitiert wird (Verse 13ndash15) nehmen Bosheit Verrat und Bedraumlngnis durch Freund und Feind in den Blick Hierdurch werden gerade das Verlassensein und das Ausgeliefertsein gegenuumlber den Misshandlungen in den Vordergrund gestellt die beschriebene Furcht Christi begleitet und durch das personalisierte Gebet zur emotionalen Ausrichtung des Beters selbst Nicht allein der einzelne Psalmvers wird dabei gebetet sondern ganz der mnemotechnischen Konzeptuali-sierung verpflichtet bildet der Vers den Ausgangspunkt und schlieszligt die Betrachtung und das Gebet des gesamt Psalms mit ein37 Der Klage uumlber den Vertrauensbruch durch den Freund (Ps 5513 ebenso Ps 3813 und Ps 41) und der Bedraumlngnis durch Frevler an deren Haumlnden Blut klebt (Vers 24) geht in Analogie zu Christi Gebet zum Vater auf dem Oumllberg die Anrufung Gottes voraus er moumlge das Beten und Flehen erhoumlren (exaudi orationem meam deprecationem meam)

33 Ebd34 Schlosser (wie Anm 19) S 51 LV 52 S 7635 LV 52 S 76 ndash Bereits Bernhard von Clairvaux formulierte Gott bot den Zugang zu sich selbst uumlber die Affekte weshalb die Inkarnation notwendig war um die affectiones des Menschen zuruumlckzugewinnen vgl B von Clairvaux Sermones super canticum canticorum 205 in Bernhard von Clairvaux Saumlmtliche Werke latdt hg v G Winkler Innsbruck (1996) Bd 5 S 28428536 LV 517 S 75 Nochmals abschlieszligend wird dies als identifikationsstiftendes Vorbild am Ende (vierte Meditation fuumlnften Frucht) mit dem Bild der gefesselten Haumlnde des unschuldigen Lammes und dem eingeforderten Stoumlhnen und der Beschreibung des durchdringenden Schmerzes der die Herzen der Juumlnger bei diesem Anblick durchstach (doloris aculues discipolorum vorda penetravit) vor Augen gestellt Vgl LV 520 S 7637 Zur Mnemotechnik allgemein M Carruthers The Book of Memory A Study of Memory in Medieval Culture Cambridge [ua] 122006 Zu beachten sind ebenso F A Yates The Art of Memory London 1966 M Evans The Geometry of Mind in Architectural Association Quarterly 124 (1980) S 32ndash55

280 Anselm Rau und Johanna Scheel

(Vers 1ndash8) Dabei wird die Angst (conturbatus sum) das Beben des Herzens in der Brust und das Befallenwerden vom Schrecken des Todes beschrieben (cor meum conturbatum est in me et formido mortis cecidit super me) ebenso das Erfasstsein von Furcht Zittern Schaudern und Entsetzen (timor et tremor venerunt super me et contexerunt me tenebrae) Der Nachvollzug der emotionalen Disposition Christi wird durch die kalkulierte Verknuumlpfung mit Psalm 38 zu-gleich ebenso zur detailreichen Klage in Furcht und Schrecken ob der eigenen Suumlndhaftigkeit Judas stellt natuumlrlich fuumlr den Abgleich das Negativbeispiel Doch im Gegensatz zu ihm zeigt der Betende in seiner demuumltigen Hinwendung zu Gott in Schmerz und Furcht das in ihn gesetzte Vertrauen das auch Jesus unter Beweis stellte Die Psalmen bieten hierfuumlr das passende Mittel der notwendigen Ausrichtung in der affectio

Ein interessanter Punkt sei in Bezug auf die Ausfuumlhrungen in De meditando hinsichtlich des Eifers (zelus) fuumlr die gerechte Sache noch genannt Die Sanftmut Christi wird gerade da-durch vor Augen gefuumlhrt dass er im Sinne des immerfort zur Vergebung bereiten Gott seinen Haumlschern guumltig begegnet da er sich seinen Peinigern nicht im Zorn (ira) verschloss (Ps 7710)38 Er haumllt naumlmlich sogar seinen Verteidiger ndash in der exegetischen Tradition Petrus vor allem dann auch in der bildenden Kunst ndash zuruumlck und bremst dessen gerechten zelus sein rechtmaumlszligiges eigentlich tugendhaftes eifersuumlchtiges Streben fuumlr das geliebte Objekt und heilt sogar ein abge-schlagenes Ohr Dieser Eifer der wie in De meditando beschrieben ohne Hinterlist ist nicht aus Ignoranz (repraumlsentiert durch die HaumlscherPeiniger) gegenuumlber der Wahrheit (in Christus) hervorgegangen zeigt die gute Absicht die durch Beharrlichkeit ans Ziel fuumlhrt und laumlsst somit die Liebe nicht lau werden Petrus wird als Identifikationsfigur installiert und am Ende aber-mals Judas entgegen gehalten Letzterer wurde zwar schlieszliglich aufgrund seiner Tat von Reue ergriffen jedoch war er nicht faumlhig durch die Hoffnung auf das Gute Christus Vergebung zu ersehnen und wurde von Bitterkeit (amaritudo) erfuumlllt so dass er den Tod und nicht das ewige Leben ersehnte

Meditationsschemata werden gerne aufgrund der ihnen innewohnenden Abfolge als starre Konstrukte und allein auf einen miszliginterpretierten geistigen Aufstieg abzielend hin verstan-den Doch beweist gerade das Lignum vitae eine hohe Flexibilitaumlt fuumlr den alltaumlglichen Gebrauch und zudem die eigentliche Intention die Formung von affectus

Gerard Zerbolt van Zutphen

Das stufenweise emotionale Gebet und die Meditation begegnen ebenfalls ndash allerdings weniger stark schematisiert als im Lignum Vitae ndash in einem Standardwerk der niederlaumlndischen Froumlm-migkeitsliteratur des 15 Jahrhunderts In De spiritualibus ascensionibus stellt Gerard Zerbolt

38 Im Tugend- und Lastersystem ist die Unterscheidung von zelus ira und furor sehr entscheidend bezuumlglich des guten und schlechten Strebens und damit hinsichtlich rationalen Ordnung des Geistes Zum tugendhaften und lasterhaften Zorn und seiner Aspekte vgl Richard von St Viktor Benjamin minor 40ndash44 PL 196029-033 ndash Gerade bei der Verurteilung Christi durch Pilatus (LV 624 S 77) wird das Thema der rasenden Wut (zelus invidiae) und des gerechte Zorns (zelus iustitia) nochmals differenziert

Meditation und Gebet 281

von Zutphen ein Autor der devotio moderna handbuchartig sein Aufstiegsmodell dar39 Darin vermittelt er seinen Mitbruumldern und einem frommen Laienpublikum ein ausgekluumlgeltes System von geistigen Uumlbungen die sich nicht nur auf den eigentlichen Gebetsakt beziehen sondern habituell im Alltag Anwendung finden sollen indem sie eine Transformation des Menschen be-wirken Er geht dabei von dem uumlblichen zeitgenoumlssischen theologischen Anthropologiemodell der Seele als durch Suumlnde verschmutzte imago Dei aus und stuumltzt sich auf bekannte moraltheo-logische Emotionstheorien die er jedoch stark ausweitet indem er den Emotionen eine genaue Funktion und eine Schluumlsselrolle im Erkenntnisprozess zuweist Die formula meditandi40 be-schreibt Gerard als inhaltlich verschieden konnotierte Selbstuumlberpruumlfungen in der die dadurch produzierten Emotionen wie Zerknirschung (compunctio bzw contritio) Furcht (timor) oder Hoffnung (spes) nicht nur bewusst gemacht sondern produktiv umgewandelt werden um zu Instrumenten und Stufen des weiteren Aufstiegs zu werden41 Diese Aufstiege sind ein Prozess der Selbsttransformation des Menschen der sich vollzieht indem der Mensch sowohl seinen urspruumlnglichen Zustand diese Transformation selbst als auch die Erfahrung seiner Veraumlnde-rung mit den erreichten Stufen emotional (ex affectu) erkennt (cogitare) und fuumlhlt (sentire)42 Aumlhnlich wie bei Hugo von St Viktor formuliert Gerard dass der Betende immer einen Affekt und ein Verlangen (desiderium) annehmen solle die zu den aktuellen Uumlbungen oder Medita-tionen passe43 Die Selbsttransformation im geistigen Aufstieg wird nach Gerard ebenso im uumlb-lichen Schema der lectio meditatio und oratio geuumlbt und an verschiedenen materiae meditandi44 vollzogen Die Affekte werden anhand dieser materiae erzeugt katalysiert und in das Gebet

39 Die Schrift (im Folgenden De Spir Asc) wird zitiert nach der Edition von F J LegrandN Staubach (Hgg) Gerard Zerbolt von Zutphen De Spiritualibus Ascensionibus La monteacutee du coeur Turnhout 2006 Vgl zur affektiven Konnotation von Gerards Gebetssystematik M Goossens De meditatie in de eerste tijd van de moderne devotie HaarlemAntwerpen 1954 Er stellt den Affekt als Wesensmerkmal des Gebets bei Gerard fest ebd S 118 Zur Einbindung der Schrift innerhalb der Gebetstheorien der Devotio Moderna und zum Stellenwert der affektiven Selbstreflexion auch in Beziehung zu zeitgenoumlssischer Kunst vgl J Scheel Das altniederlaumlndische Stifterbild Emotionsstrategien des Sehens und der Selbsterkenntnis Berlin 2014 bes S 155ndash171 230ndash241 414ndash42640 De Spir Asc Kap 641 Gerard spricht synonym von Aufstiegsstufen und affectus zB in Kap 27 bdquoIn hac prima ascensione vel primo affecto [hellip]ldquo Oder er benennt Affekte wie Hoffnung und Furcht als Stufen bdquo[hellip] istis duobus gradibus timoris et spei [hellip]ldquo Kap 26 Insgesamt benutzt er die Vokabeln affectus und affectio synonym zwar begegnet in Bedeutung von Strebevermoumlgen meist affectio und ersetzt also die vires durch die affectiones animae besonders wenn es um lasterhafte Affekte geht doch werden die einzelnen Affekte durchgehend als affectus nicht als affectio bezeichnet42 De Spir Asc Kap 643 Das Gebet solle nie bloszliges Lippenbekenntnis sein sondern immer aus der Wurzel des Herzens verfolgt werden und zwar stets aus den Affekten der Furcht Trauer Freude Bewunderung Dankbarkeit etc bdquo[hellip] ex affectu timoris meroris dilectionis admiracionis congratulationis etcldquo De Spir Kap 46 Diese Affektreihe stimmt mit derjenigen bei Hugo in De modo orandi uumlberein siehe oben S 273f44 Diese sind zunaumlchst die bekannten Meditationsinhalte wie man sie allenthalben in theologischer Literatur des Mittelalters findet Leben und Passion Christi das Juumlngste Gericht und die eigene Todesstunde (diese bspw bereits in Bonaventuras De Triplici Via Kap 3) Bei Gerard werden ebenfalls Houmllle und Himmelreich sowie die eigenen Suumlnden und Wohltaten Gottes eingeschlossen sowie das eigene Selbst in dem und waumlhrend des Gebets Zum Kontext der neuen Meditationswuumlrdigkeit des eigenen Selbst in den Lehren der Devotio Moderna vgl Scheel (cf Anm 39)

282 Anselm Rau und Johanna Scheel

uumlberfuumlhrt Dies macht Gerard wie Hugo anhand des Psalmengebets anschaulich indem er einerseits beispielhaft zeigt wie ex affectu ein Psalm gebetet wird waumlhrend er gleichzeitig bei vorheriger Thematisierung der lectio dessen Erregung durch die Lektuumlre betont

bdquoWenn du dich in deiner ersten Uumlberpruumlfung diskutiert hast und entdeckst dass deine Suumlnden zahlreicher sind als die Zahl des Sandes der Meere forme in dir den Affekt der Demut oder Trauer und nimm die Rolle (persona) eines Dieners an der seinen Herrn beleidigt hat Aus diesem Affekt heraus forme ein Gebet und sage sbquoGott sei mir gnaumldig nach deiner Huld tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmenlsquo (Ps 503) Wenn du in der zweiten und dritten Uumlberpruumlfung dich selbst diskutierend bemerkst dass dein Herz mit schlechten Begierden und boumlsen Verlangen gefuumlllt ist forme in dir wiederum den Affekt der Demut und nimm die Rolle eines Kranken an der nach Medizin fragt und sage sbquoHerr sei mir gnaumldig heile mich denn ich habe gegen dich gesuumlndigtlsquo (Ps 405) oder sbquoNichts blieb gesund an meinem Leib weil du mir grollst weil ich gesuumlndigt blieb an meinen Gliedern nichts heillsquo (Ebd) etc Wenn du dich im zweiten Aufstieg in Furcht durch Meditationen des Todes und des Gerichtes oder der Houmllle uumlbst nimm den Affekt der Furcht ein und die Rolle eines Suumlnders vor dem Richter an in Angst und Zittern als seist du schon uumlberfuumlhrt und der Richtspruch gegen dich gesprochen und sage sbquoVerdamme mich nicht Herr gehe nicht ins Gericht mit deinem Dienerlsquo (Ps 1422) oder sbquoHerr in deiner Wutlsquo (Ps 62) etc Wenn du dich aber in Hoffnung uumlbst durch die memoria des Him-melreiches nimm den Affekt der Liebe an und bete mit innigem Herzen und sage sbquoIch erstrebe eines Herr dieses wuumlnsche ich dass ich in dem Haus des Herrn wohnen darflsquo (Ps 264) oder sbquoWie der Hirsch lechzt nach frischem Wasserlsquo (Ps 412) etc Und ebenso kannst du mit anderen Affekten jene aus diesen formen und musst du die Rolle annehmen die deine Uumlbung erfordert und deine Meditation verlangtldquo45

Uumlber Hugo hinausgehend wird hier dem Betenden empfohlen sich konkrete Szenarien und personae zu imaginieren um die gewuumlnschten Affekte einzuuumlben Die Psalmenbeispiele mit den zugeordneten Affekten uumlberschneiden sich bei beiden Autoren bei Psalm 6 (timor) so-wie Psalm 26 (Gerard spes Hugo bona praesumptio)46 Besonders bei der Einuumlbung von timor und der Erwaumlhnung des Richtspruches in Kombination mit den Buszligpsalmen 6 und 142 stehen unmittelbar zeitgenoumlssische Darstellungen des Weltgerichts bzw der Auferstehung der Toten vor Augen wie man sie in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern in Kombination mit eben jenem Buszligpsalm 6 aber auch in der altniederlaumlndischen Malerei findet47 Psalmen koumlnnen zu den

45 bdquoUnde breviter ut modum habeas secundum predicta si te in prima examinacione discusseris et inveneris peccata tua multiplicata super numerum arene maris forma in te affectum humilitatis vel meroris et assume personam servi qui dominum suum offendit Et ex tali affectu forma oracionem dicens Secundum multitudinem miseracionum tuarum dele iniquitatem meam [hellip] Si te in secundo ascensu in timore per meditaciones mortis vel iudicii vel inferni exercueris assume affectum timoris et assume personam rei astantis coram iudice cum timore et tremore quasi iam convictus contra quem de iure proferenda est sentencia et dic Noli me condemnare Non intres in iudicium cum servo tuo Vel Domine ne in furore etc [hellip] Et sic de aliis affectibus quos ex istis formare poteris et assumere debes sicut exercicium tuum exigit et meditacio tua requiritldquo De Spir Asc Kap 4646 Zu den Psalmen die Hugo als Beispiele benutzt siehe oben S 273f47 Vgl dazu J Scheel Sich selbst sehen ndash der Betrachter in und vor dem Bild Spiegel- und Stifterfiguren in Texten und Bildern des 15 Jahrhunderts in E KochH Schlie (Hgg) Orte der Imagination ndash Raumlume des Affekts Die mediale Formierung des Sakralen Muumlnchen 2015

Meditation und Gebet 283

bdquototal memoriertenldquo48 Texten des Mittelalters gezaumlhlt werden weswegen sie sich beiden Autoren als Beispiele anbieten Sie benutzen die Buszligpsalmen (hier die Psalmen 6 31 [Hugo] 50 142) die im Stundenbuch fest als eigenstaumlndiger Gebetstext verankert sind und ebenso in der To-tenvigil ihren Platz haben ndash zusammen mit Gerards weiteren Beispielpsalmen 40 und 4149 Das Stundenbuch ist ein Medium in dem Psalmwort und bildliche Darstellung auf die Theorie des stufenweisen emotionalen Gebets und der Selbsttransformation treffen koumlnnen

Die Miniaturen die der Totenvigil bspw in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern des 15 Jahr-hunderts voranstehen zeigen oftmals eine ganzseitige Totenmesse sowie in der M-Initiale der gegenuumlberliegenden Textzeile50 zwei betende einander zugewandte Seelen im Fegefeuer (vgl

48 Zu diesen Texten gehoumlrten bspw das Pater Noster oder Ave Maria waumlhrend denen gleichzeitig auch uumlber bestimmte Aspekte zB der Passion meditiert werden konnte und sollte vgl P Saenger Books of Hours and the Reading Habits of the Later Middle Ages in R ChartierA Boureau (Hgg) The Culture of Print Power and the Uses of Print in Early Modern Europe Cambridge 1989 S 141ndash173 hier S 154 Bei den Psalmen genuumlgt wie man hier sieht allein die Nennung des Incipit oder bestimmter Verse die dem Leser so vertraut sind dass sie den gesamten Psalmentext mit assoziieren49 Zwar ist der Einsatz von Psalmen in mittelalterlichen Stundenbuumlchern mitunter verschieden doch kann man beispielhaft an einer Gruppe von Stundenbuumlchern in niederlaumlndischer Sprache diese Psalmen finden Diese Stundenbuumlcher sind mit der Uumlbersetzung des Gruumlndungsvaters des Devotio Moderna Geert Grote versehen oder stehen mit ihr in Verbindung N van Wijk Het getijdenboek van Geert Groote Naar het Haagse handschr 133 E 21 Leiden 1940 diese hauptsaumlchlich anhand einer einzigen Handschrift erarbeitete Edition wird hier in Ermangelung einer kritischen Edition genutzt Das getijdenboek enthaumllt einen Kalender des Bistums Utrecht fuumlnf Offizien (Marienoffizium Heiliggeistoffizium das lange und kurze Heiligkreuzoffizium Stunden der ewigen Weisheit) Buszligpsalmen Litanei und Totenvigil 50 Es ist der Beginn des invitatorium bdquoMi hebben ombeuanghen die suchten des dodes die pijnlike seer der hellen heben mi ombeuanghenldquo Wijk (cf Anm 49) S 156 ndash bdquoMich haben umfangen die Seufzer des Todes die qualvollen Schmerzen der Houmllle haben mich umfangenldquo

Abb 2 Meister des Hugo Jansz van Woerden Totenmesse und Seelen im Fegefeuer ca 1475ndash1500 Den Haag Koninklijke Bibliotheek Ms 76 G 13 fol 85vndash86r

284 Anselm Rau und Johanna Scheel

Abb 2)51 Das Fegefeuer bespricht Gerard eher marginal in seinem Traktat Fuumlr die affektive Meditation des eigenen Todes liefert er allerdings einerseits eine Anleitung fuumlr den Betenden die Affekte nun bereits zu erwecken die vor waumlhrend und nach dem eigentlichen Todeszeit-punkt entstuumlnden ndash und sich mit ihnen im Gebet selbst zu formen52 Andererseits raumlt er dem Glaumlubigen sich zum Zwecke des ex affectu-Gebets einen Koumlrper in seinen Verwesungsstadien vor Augen zu halten53 und was mit ihm selbst bei der Beerdigung passiere54 Das Fegefeuer ist ein im Sinne mittelalterlicher Moraltheologie produktiver Gebetsinhalt da der Glaumlubige im steten Oszillieren zwischen spes und timor besonders gut zur caritas aufzusteigen vermag Diesen Tenor findet man ebenfalls bei Geert Grote in seinem getijdenboek bei der Vorrede der Toten-vigil Hier raumlt er dem betenden Leser zum Wechsel aus Psalmen und Antiphonen in Hinblick auf die Erregung von Furcht und Angst Liebe und Hoffnung in der Ausrichtung auf Gut und Boumlse und mit Blick auf das Fegefeuer bdquoHier beginnt die Vigil in duytsche die so organisiert ist denjenigen zu helfen die von hinnen gefahren sind in der Freundschaft Gottes in das Fegefeuer Und ebenso dazu [gedacht ist] den Lebenden zu helfen die sie lesen damit ihnen das Wissen um die kommenden Dinge eingedruumlckt werde auf dass sie glauben hoffen und lieben an die Dinge in Herrlichkeit Und [sie] sich dafuumlr bereit machen und sich waumlhrenddessen die ganze Zeit fuumlrchten dass ihre Tage schnell vergehen Auf dass sie sich fuumlrchten aumlngstigen grauen und beben vor dem mannigfaltigen Leid der Angst und dem Elend die den Boumlsen ereilen werden und sie so darum ihr Leben lang ndash das hier aumluszligerst kurz ist ndash darauf hinarbeiten diesem Leid zu entgehen und [die Vigil ist auch hilfreich] weil ein Mensch diese beiden Dinge ndash Gutes in Liebe und Boumlses in Angst ndash besser ansehen (aensien) kann und erkennen und sich uumlberdenken damit er besser bitten kann und [es] mehr begehrt (begheert) und mehr liebt (myn[n]t) fuumlr diejenigen zu bitten die im Fegefeuer sind fuumlr ihre baldige Erloumlsung und dafuumlr Gottes Ehre zu vermehren [hellip] So hilft das Bitten der Lebenden den Toten und das Bitten fuumlr die Toten hilft den Lebendigen sich auf den Tod vorzubereiten [hellip] Und dazu ist das Singen dieser Psalmen heranzuziehen [und zwar] immer nach den Bedeutungen der Antiphone und den Sinn der

51 Die Darstellung von Seelen im Fegefeuer taucht als Buchillumination ab dem 13 Jahrhundert bereits vereinzelt auf und diente in Kombination mit Jenseitsvisionen Bibeltexten und moralisierenden Inhalten vor allem dem Gedenken an bereits Verstorbene wie auch zur persoumlnlichen Mediation des Lesers Oft findet eine narrative Einbindung statt Vgl dazu M Borowska Das Entfachen des Fegefeuers in der europaumlischen Miniatur des 13 Jahrhunderts in Umeni 57 (2009) S 310ndash325 Zum ikonografischen Kontext der hier gewaumlhlten Illumination vgl die Untersuchung von I M Veldman Purgatory in the Low Lands in B BukovinskaacuteL Slaviacuteček (Hgg) Pictura verba cupit Essays for Lubomiacuter Konečnyacute Prag 2006 S 169ndash180 va 170ndash17252 De Spir Asc Kap 19 In den folgenden Kapiteln stellt Gerard dem Leser dasselbe Prinzip an den Themen des Juumlngsten Gerichts der Houmllle und des Himmelreiches vor 53 bdquoItem interdum propone oculis tuis ymaginem alicuius hominis morientis et diligenter respice formam modum et ordinem quibus ad mortem deveniturldquo De Spir Asc Kap 1954 Weitere beliebte Illustrationen zum Totenoffizium im Stundenbuch des 15 Jahrhundert sind ebenfalls die Darstellung eines Toten um dessen Seele Engel und Teufel kaumlmpfen Schaumldeldarstellungen Seelen in Abrahams Schoszlig Himmel und Houmllle der Tod als Angreifer die Auferweckung des Lazarus sowie die Psychostasis mit Michael als Seelenwaumlger Diese Motive werden eher als ganzseitige Miniaturen dargestellt und bekommen zum Teil in der begleitenden Initiale jene zwei betenden Seelen im Fegefeuer hinzugefuumlgt

Meditation und Gebet 285

Antiphone soll man dazu in den Psalmen bedenken in allen Stundengebeten Dabei ist gut dass man sowohl vor als auch danach die Antiphonen spreche und schreibeldquo55

Mit der sich gegenseitig amplifizierenden Kombination von selbstreflexiven Affekt er-regendem und ausdruumlckendem Psalmentext mit der bildlichen Darstellung von Beerdigung mit Fegefeuer und mit derartigen Aufstiegsmodellen vertraut kann der betende Leser hier den eigenen Tod und die Bestrafung seiner Seele als Konsequenz der eigenen irdischen Suumlndhaftig-keit produktiv in seine Bemuumlhungen des geistigen Aufstiegs und seine Selbsttransformation kanalisieren

Imagination und Illumination

Das Gebetsleben des mittelalterlichen Glaumlubigen ist gekennzeichnet durch seine Affektivitaumlt Die affectus werden mit Gebetstexten und Psalmenreihen sowie mithilfe bildlicher Darstel-lungen sorgfaumlltig kultiviert und systematisch eingeuumlbt Dabei sind dies altbekannte ndash weil biblische ndash Text- und Bildinhalte deren affizierendes Potential auf neue Arten ausgeschoumlpft wird Texte und physische wie gerade geistige Bilder erinnern den Betenden nicht nur unver-bindlich an bereits bekannte Ereignisse Situationen und Figuren sondern lassen ihn sich mit diesen durch affektive und reflexive Meditationspraktiken identifizieren Fremde Worte und Emotionen werden darin zu den eigenen Vorbilder aus dem Kreis der Heiligen werden so zu Imaginationsfiguren das Selbst wird auf Gott ausgerichtet und in all seinen Aspekten gezielt emotional reflektiert So unterschiedlich die formale Herangehensweise dieser Praktiken bei den drei untersuchten Autoren Hugo von St Viktor Bonaventura und Gerard Zerbolt van Zutphen zu sein scheint vermitteln sie doch die selbe zentrale Maszliggabe oratio est affectus ndash bdquoGebet ist Affektldquo

Uumlbersetzung Hugo von St Viktor De meditando PL 176 993ndash99

Die Meditation ist die haumlufige Erwaumlgung (cogitatio) der Ursache (causa) und des inneren Be-weggrundes (ratio) eines einzelnen zu untersuchenden Gegenstandes (res) was seine Art sei (modus) was die Ursache und was der Beweggrund

Es gibt drei Arten (genus) der Meditation eine in Bezug auf die Schoumlpfung (in creaturis) eine hinsichtlich der Schrift (in scripturis) und eine hinsichtlich der Sitten (in moribus) Die erste erwaumlchst aus der Bewunderung (admiratio) die zweite aus der Lektuumlre (lectio) die dritte aus der umsichtigen Beobachtung (circumspectio)

Zuerst bringt die admiratio die Frage (quaestio) hervor die Frage das Erforschen (investi-gatio) und das Erforschen die Entdeckung (inventio) Dies ist damit die Bewunderung der Ord-

55 Fuumlr den altniederlaumlndischen Text vgl Wijk (cf Anm 49) S 155 Zum Antiphon das der Vigil vorangestellt ist vgl Anm 50

286 Anselm Rau und Johanna Scheel

nung (dispositio) die Frage nach der Ursache und die Entdeckung des inneren Beweggrundes Die Bewunderung beruht auf der Betrachtung der Ordnung im Himmel das ist die Gleich-artigkeit von allem und der Houmlhen und der Tiefen (alta et depressa) auf der Erde Die Frage betrifft die Ursache (causa) des irdischen Lebens auf Erden und des himmlischen Lebens im Himmel Das Erforschen fragt nach dem inneren Beweggrund dass so wie die Erde auch das irdische Leben beschaffen ist und dass der Beschaffenheit des Himmels selbst auch das himm-lische Leben gleicht

Bei der Lektuumlre (lectio) aber erfolgt die Betrachtung (considerare) folgendermaszligenAls erstes dient die lectio dazu durch die Bereitstellung des Stoffes (materia) die Wahr-

heit zu erkennen (cognoscere) die meditatio fuumlgt ihn zusammen (coaptare) die oratio hebt ihn empor (sublevare) die operatio (Ausfuumlhrung) wendet ihn an (componere) und die contemplatio frohlockt in ihm selbst (exsultare)

Es ist durch die Meditation der Schriften zu erkennen auf welche Weise es sich gehoumlrt etwas zu wissen Als Beispiel steht geschrieben Declina a malo et fac bonum (Vg Ps 3627 ndash Wende dich ab von dem Boumlsen und tue Gutes EUuml Ps 3727) Deshalb wurde zuvor gesagt die meditatio wendet sich der lectio zu um sich vom Boumlsen abzuwenden und darauf Gutes zu tun Der Grund (causa) hierfuumlr ist wenn sich nicht zuerst das Boumlse zuruumlckzoumlge wuumlrde das Gute nicht herantreten koumlnnen Der innere Beweggrund (ratio) aber ist so wie zuerst die Sproumlsslinge des Boumlsen mit ihrer Wurzel ausgerissen werden muumlssen so muss danach das Gute (ein-)ge-pflanzt werden Warum wurde daher gesagt Wende dich ab von dem Boumlsen Weil es einem auf dem Weg begegnet Man wendet sich deshalb ab weil wir es wo auch immer nicht vermoumlgen durch Staumlrke zu widerstehen wir entkommen ihm lediglich wenn wir uns mit Klugheit und Vernunft (consilio et ratio) von ihm abwenden Auch muumlssen wir uns vom Boumlsen abwenden um dem Naumlhrstoff (materia) zur Suumlnde aus dem Weg zu gehen ndash beispielsweise ist von Hochmut (superbia) Begehrlichkeit (incontinentia) Begierde (concupiscentia) Neid (invidia) und Streit (contentio) abzulassen um sich vom Reichtum (abundantia) der Schoumlnheit (species) des Flei-sches und der Besitzgier (amor possessiones) abzuwenden Dies bedeutet bdquosich abzuwendenldquo Desgleichen wenn auf diese Weise von allem Boumlsen sich abzuwenden angeraten ist so wird die Verrichtung alles Guten verlangt Und so ist also der ebenso schuldig bzw angeklagt der allein nur alles Boumlse meidet wie derjenige der nicht zugleich all das Gute tut Aber wenn dies so ist wer ist dann kein Angeklagter (reus) Folglich wird uns anbefohlen uns von allem Boumlsen loszusagen Andererseits kommt das Gute zum Einen aus dem was sich gehoumlrt (necessitas) und zum anderen aus dem Willen (voluntas) Es gehoumlren sich die Dinge einer Vorschrift (praecep-tum) und die eines Geluumlbdes (votum) alles uumlbrige wird erfuumlllt wenn eine Sache [also Schuld] mehr als nur vergolten wird (supererogare) und einem nichts mehr anlastet

Daher zielt die Meditation bei der lectio darauf ab zu ergruumlnden auf welche Weise et-was das erkannt wird gut ist warum und wie es zu erreichen ist weil es ndash ist es [ersteinmal] erkannt ndash auch zu verrichten ist Die Meditation ist das Entdeckungsvermoumlgen der vorgefassten Absicht (excogitatio consilii) zu erwaumlgen auf welche Weise das Gute das erkannt wurde erfuumlllt wird denn das Erkannte ist unbrauchbar wird es nicht vollbracht

Deshalb ist die Meditation bei der lectio eine dreifache Betrachtung nach der historia der allegoria und der tropologia Gemaumlszlig der historia erfolgt die Meditation wenn wir nach dem

Meditation und Gebet 287

vollendeten inneren Beweggrund der Dinge fragen die geschehen sind und diesen hinsichtlich seiner uumlbereinstimmenden Art und Weise (modus) bezuumlglich der Zeiten (tempora) und Orte (loci) bestaunen (admirare) Bei dieser Betrachtung der goumlttlichen Ratschluumlsse (iudicium) laumlsst man nicht davon ab daruumlber nachzudenken dass diese richtigen und gerechten (rectus et iustus) Entscheidungen zu keiner Zeit den Beistand [Gottes fuumlr die Menschen] entzogen (deesse) und durch sie das geschah was sich gehoumlrte und vergolten wurde was gerecht war (iustum fuit)

Die Meditation hinsichtlich der allegoria beschaumlftigt sich mit der Gliederung (dispositio) der vorangegangenen und zukuumlnftigen Dinge und so wie fuumlr den Verstand (intelligentia) an-gemessen richtet sie dabei ihre Aufmerksamkeit auf deren uumlbereinstimmende Bedeutung in ihrer bewundernswerten Vernunftmaumlszligigkeit (ratio) und Vorhersehung (providentia) und auf ihre fuumlr den Glauben (fides) geschaffene Gestalt (forma)

Bezuumlglich der tropologia beschaumlftigt sich die Meditation damit welche Frucht die Worte der lectio hervorbringen und erforscht (exquirere) was diese wenn sie ausgefuumlhrt werden [im Sinne des eigentlichen Aussprechens der Worte aber auch die Ausfuumlhrung ihres Inhaltes] ein-pflanzen (insinuere) und dabei zugleich lehren was zu vermeiden ist Sie stellt vor Augen was durch die lectio der Schrift zur Unterweisung (eruditio) zur Ermahnung (exhortatio) zur Troumls-tung (consolatio) und zum Schrecken (terror) dient Hierdurch erleuchtet die tropologia dahin-gehend was zum Verstehen der Tugenden (virtus) fuumlhrt sie naumlhrt (nutrire) den Affekt (affectio) und lehrt (edocere) die Lebensfuumlhrung auf dem Pfad der Tugenden

Die Meditation der Sitten (mos) erfolgt gemaumlszlig der Affekte (affectus) der Erwaumlgungen (cogi-tationes) und der Werke (opera)

Hinsichtlich der Affekte ist zu betrachten wie sie recht und aufrichtig (rectus et sincerus) zu sein vermoumlgen damit ist gemeint auf das und zu was hin sie geschuldet sein muumlssen und in welcher Weise sie zu sein haben Zu differenzieren ist naumlmlich dass das was sich nicht gehoumlrt (non oportet) boumlse ist und zugleich das was sich gehoumlrt zu lieben ist ndash das zu lieben das sich gleichwie nicht gehoumlrt ist boumlse Daher handelt es sich um einen guten Affekt wenn er auf das ausgerichtet ist auf das er verpflichtet ist und in der Weise wie es sich gehoumlrt

Amnon liebte (diligere) seine Schwester und dies war der Affekt zu dem er bestimmt war doch weil er Boumlses begehrte war es nicht der Affekt wie er ihn schuldete (vgl 2 Sam 13) So kann der Affekt auf das gerichtet sein zu was er gehoumlrt dies aber nicht in der [angemessenen] Art und Weise Niemals aber kann der Affekt so sein wie er zu sein hat wenn er nicht auf das ihm Zugehoumlrige ausgerichtet ist Auf das ausgerichtet zu was er gehoumlrt bedeutet dass er recht ist und in der Art und Weise wie es sich gehoumlrt und dementsprechend ist er rein Daher werden die Affekte in den Erwaumlgungen betrachtet damit sie rein (mundus) und geordnet (ordi-natus) sind Rein sind sie wenn weder etwas Boumlses von den Affekten hervorgebracht wird noch das Boumlse die Affekte hervorbringt Dass sie geordnet sind meint wenn sie vernuumlnftigerweise aufgrund des ihnen eigenen Anlasses (suo tempore) aufkommen (advenire) Es ist nicht ohne Schaden (vitium) [naumlmlich im Sinne des korrekten Vorgehens nicht ohne Formfehler] bereits das Gute zu einem diesem nicht angemessenen Zeitpunkt zu erwaumlgen wie etwa an die lectio waumlhrend der oratio zu denken oder auch an die oratio waumlhrend der lectio

Bei den Werken ist als erstes zu betrachten was zum Beispiel durch die gute Absicht (bona intentio) geschieht Um eine gute Absicht handelt es sich wenn sie einfach und aufrichtig ist

288 Anselm Rau und Johanna Scheel

(simplex et recta) Die bona intentio ist arglos ohne Hinterlist (malitia) und aufrichtig ohne Ignoranz (ignorantia) Die naumlmlich ohne Hinterlist ist besitzt den Eifer (zelus) Ist sie aber aus der [bewussten] Unkenntnis gegenuumlber dem Wissen (scientia) (Roumlm 102) geboren verfuumlgt sie nicht uumlber den [wahren] Eifer Daher ist es notwendig dass die Absicht aufrichtig ist in der Bescheidenheit (discretio) und arglos im Wohlwollen (benignitas) Bei den Werken ist zu be-trachten dass sie aus der aufkommenden guten Absicht heraus mit beharrlicher Leidenschaft (fervor) schlieszliglich ans Ziel gefuumlhrt werden damit nicht die Beharrlichkeit (perseverantia) ge-laumlhmt (torpere) und die Liebe (amor) nicht lau wird (tepescare)

Auf gleiche Weise erfolgt die meditatio der Sitten in einer zweifachen Betrachtung naumlmlich einer inneren und einer aumluszligeren Die aumluszligere blickt auf das Ansehen (fama) die innere auf das Gewissen (conscientia) Die aumluszligere Betrachtung erfolgt gemaumlszlig dem was ziert (decere) und was nuumltzt (expedire) was als Beispiel (exemplum) dient und was den Lohn (meritum) hervorbringt ndash uns zum Lohn und den Naumlchsten als Beispiel Die innere Betrachtung dagegen schaut auf das Gewissen damit es rein (mundus) sei ohne Anklage (accusatio) zu erleiden (pati) ob nun durch die Laumlhmung (torpor) des Guten oder die Hartnaumlckigkeit (praesumptio) des Boumlsen Rein ist aber jenes Gewissen das weder durch das Vergangene zu recht angeklagt (accusare) noch durch das Gegenwaumlrtige unrechtmaumlszligig erfreut (delectare) wird

Daher laumlsst die meditatio der Sitten ihre Betrachtung nicht ruhen damit sie jegliche Re-gungen (motus) die sich im Herzen erheben bemerkt und erwaumlgt woher sie kommen und worauf sie abzielen (tendere) Das heiszligt woher sie kommen gemaumlszlig ihrem Ursprung und wo-nach sie streben hinsichtlich ihres Ziels Alles ist naumlmlich eine Bewegung aus irgendetwas und auf irgendetwas Die Bewegungen des Herzens sind manchmal offenkundigen Ursprungs manchmal entspringen sie aber auch Verborgenem Bei denen der Ursprung offenkundig ist ist er bisweilen durch das Gute bisweilen aufgrund des Boumlsen erwiesen Was offenkundig gut ist kommt von Gott was aber deutlich boumlse erscheint entspringt entweder dem Teufel oder dem Fleisch Dies sind naumlmlich die drei Urheber (auctores) aller Vorstellungen (suggestio) und aller Eingebungen (aspiratio) die unsichtbar an das Herz herantreten und aus jenen drei hervor-gehen Entspringen die Bewegungen des Herzens daher dem Verborgenen koumlnnen sie manch-mal aus dem Guten und dem Geheimen hervorgehen und sind manchmal boumlse und zweifelhaft (dubius) Die dem Guten entspringen kommen von Gott die aber dem Boumlsen entstammen sind entweder des Teufels oder des Fleisches

Die Bewegungen die folglich offenkundig sind sei es im Guten oder Boumlsen werden auf den ersten Blick durch ihren Ursprung angezeigt Jene aber die zweifelhaft bleiben hinsichtlich ih-res Grundes sind am Ende zu uumlberpruumlfen (probare) Ihr Ergebnis [oder Ausgang] (exitus) zeigt naumlmlich deutlich was vom Ursprung her verborgen war und deswegen muss derjenige der es nicht vermochte den Ausgangspunkt seiner Herzensbewegungen zu beurteilen (iudicare) das Ziel und die Ausfuumlhrung [bzw Vollendung] (finis et consummatio) untersuchen (investigare) Die Bewegungen naumlmlich die zweifelhaft und ungewiss sind sind vom verborgenen Guten oder Boumlsen Wie gesagt wurde haben die schlechten Regungen ihren Ursprung entweder beim Teufel oder im Fleisch Diese aber sind beide boumlse sie unterscheiden sich nicht indem oder durch was sie boumlse sind doch unterscheiden sie sich dahingehend dass die Regungen des Her-zens die dem Fleisch entspringen haumlufig aus einer Notwendigkeit (necessitas) heranwachsen

Meditation und Gebet 289

die aber die tatsaumlchlich vom Teufel kommen nehmen noch oumlfter wider der Vernunft (ratio) ihren Anfang (oriri) Was naumlmlich vom Teufel eingegeben wird (suggerere) ist in der Tat dem Menschen fremd und wird deswegen haumlufig von der menschlichen Vernunft abgelehnt weil er beispielsweise unlaumlngst gesaumlttigt Hunger leidet (pati) kurz zuvor noch trunken (inebriatus) vor Durst (sitis) gluumlht (aestuare) oder wenn er nach einem ausgiebigen Schlaf (dormitio) sich erhebend vom Traum (somnus) bedruumlckt (praegravare) wird

Hieraus also werden die Werke des Teufels differenziert betrachtet weil sie ja an den Men-schen von auszligen herangetragen werden und der menschlichen Vernunft fremd sind Bei den Werken des Fleisches und ihren Eingebungen liegt der Grund des Oumlfteren in einer vorangegan-genen Notwendigkeit Aber weil sie Ziel und Maszlig (modus et mensura) uumlbersteigen wachsen sie zum Uumlberfluss (superfluitas) heran Dies ist als Beispiel eben gerade dann der Fall wenn nach der Einnahme einer Mahlzeit der Hunger hemmungslos (immoderatus) begehrt (appetere) und nach Enthaltsamkeit (abstinentia) das Maszlig (mensura) bei der Aufnahme von Speise (edulium) nicht gehalten wird

Daher wird die meditatio der Sitten aufgrund eines dreifachen Urteils betrieben Das erste urteilt zwischen Tag und Nacht das zweite zwischen Tag und Tag und das dritte schlieszliglich untersucht den gesamten Tag (vgl Roumlm 145) Zwischen Nacht und Tag zu urteilen meint das Boumlse vom Guten zu (unter-)scheiden Die Beurteilung zwischen Tag und Tag bedeutet eine Un-terscheidung zwischen etwas Gutem und etwas Besserem vorzunehmen Uumlber den gesamten Tag zu richten ist schlieszliglich das einzelne Gute fuumlr den eigenen Lohn zu ermessen (aestimare)

So hat die meditatio der Sitten bei jeglichem Umgang (conversatio) das Ziel und die Rich-tung (directio) im Blick Das Ziel ist wohin man strebt die Richtung wodurch man leichter ans Ziel gelangt Jeder naumlmlich der zu irgend etwas strebt so wie etwas seine Bahn (cursus) lenkt und unaufhoumlrlich weiterzieht kommt schneller ans Ziel Es gibt daher Gutes durch das man stark bewegt ist (moveri) zugleich gibt es aber wenig her durch das man vorankommt (pro-moveri) Anderes dagegen fuumlhrt mit etwas Muumlhe (labor) zu groszligem Gewinn (fructus) Und diese sind folglich zu unterscheiden und das Bessere das mehr nuumltzt auszuwaumlhlen Welches auch immer mehr nuumltzt ist besser und es gehoumlrt sich jedes Werk auf seinen Ertrag hin zu beurteilen Indem viele diese Unterscheidung (discretio) nicht einhielten haben sie sich zwar aufs aumluszligerste bemuumlht sind jedoch nur wenig vorangekommen weil sie das Auge aumluszligerlich so sehr auf die Gestalt (species) der Werke richteten und nicht innerlich auf den Gewinn durch die Tugenden blickten Sie ergoumltzen sich daran groszlige Taten zu verrichten anstatt dass sie das Nuumltz-liche (utilia) uumlben (exercere) um sich selbst zu bessern (emendari) Dabei schaumltzten (diligere) sie vielmehr das durch das sie den Anschein erwecken (videri) konnten [so zu sein]

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zunaumlchst das was man schuldet entweder auf-grund einer Vorschrift (praeceptum) oder eines Geluumlbdes (votum) Diesbezuumlglich ist die erste Tat der meditatio zu ermitteln ist sie oder es erfuumlllt fuumlhrt es zum Lohn und wenn nicht bringt dies den Anklagezustand (reatus) hervor Es sind also zuerst die Dinge zu tun die nicht ohne Schuld (culpa) weggelassen werden koumlnnen Danach ist die meditatio alsdann so zu verrichten dass wenn etwas durch freiwillige Uumlbung (exercitatio) noch hinzugefuumlgt wird die Pflicht-erfuumlllung [eigtl Schuld] (debitum) nicht verhindert wird (impedire) Die einen die das nicht zu leisten vermoumlgen was sie schulden wollen was sie nicht muumlssen Die anderen wenn sie im-

290 Anselm Rau und Johanna Scheel

stande sind zu tun was sie schulden bringen freiwillig Hindernisse (impedimentum) mit sich indem sie etwas wollen was sie nicht muumlssen

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zwei Dinge des Boumlsen vor denen man bei der Ver-richtung von Gutem besonders auf der Hut sein muss die Betruumlbnis [Niedergeschlagenheit] (afflictio) und die Besessenheit [Vereinnahmung] (occupatio) Die afflictio fuumlhrt zur Bitterkeit (amaritudo) die occupatio zur Zerstreuung (dissipatio) Mit der afflictio verbittert die Suumlszlige (dulcedo) des Geistes und mit der occupatio wird die Ruhe (tranquillitas) zerstoumlrt (dissipare) Es herrscht Betruumlbnis wenn man fuumlr jene Dinge die man nicht vermag aufgrund der eigenen Ungeduld (impatientia) ungluumlcklich wird (urere) Dagegen handelt es sich um Besessenheit (occupatio) wenn man in seinem Handeln (nach seinem Vermoumlgen) aufgrund der impatientia gequaumllt wird (agitare) Folglich darf die Seele (animus) nicht aufgrund des Boumlsen verbittert wer-den sie muss ihr Unvermoumlgen (impossibilitas) geduldig (patienter) aushalten Genauso darf sie aber auch nicht vom Boumlsen eingenommen werden und darf ihr Vermoumlgen (possibilitas) nicht uumlber ihr eigenes Maszlig hinaus ausdehnen (extendere) Daher muss die meditatio der Sitten in einer weiteren Betrachtung der Lebensfuumlhrung zu einem Urteil kommen und dabei billigen dass es weder gut ist die Dinge die man nicht vermag ungeduldig (impatienter) zu verlangen (appetere) noch die welche man erreicht toumlricht (insipienter) zu verschmaumlhen (fastidire) Wer naumlmlich immer das begehrt was er nicht vermag und das was er [jedoch] vermag verabscheut wird sich weder am Gegenwaumlrtigen erfreuen (frui) noch am Zukuumlnftigen saumlttigen (satiare) Er verlaumlsst naumlmlich das Gute unentwickelt vor der Vollendung und eignet sich das gerade erst Be-gonnene vorzeitig an Deswegen ist es gut aufgrund des eigenen Guten zufrieden zu sein und das gegenwaumlrtige Gute durch hinzukommendes Gutes zu vermehren und es nicht aufgrund des Zukuumlnftigen wegzuwerfen (abicere) Der Austausch (commutatio) des Guten ist naumlmlich ein Leichtes (levitas) seine Uumlbung (exercitatio) aber die Tugend Oft eilen sie auf unterschiedlichen Wegen die einen die ein fruumlheres durch ein neues Gutes fallen lassen (abicere) und die ande-ren die [sich] vom Untersten zum Houmlchsten emporschwingen (conscendere) Wer naumlmlich nach Veraumlnderung (mutatio) fragt ist uumlberdruumlssig (fastidiosus) so wie der der nach dem Voran-schreiten (profectus) strebt eifrig bemuumlht ist (studiosus) Am aufrechtesten beschreitet daher derjenige den Weg der dabei so auf das Bessere brennt (fervere) dass er des Guten nicht uumlber-druumlssig wird sondern es vorerst empor haumllt solange bis er es spaumlter zu der ihm angemessenen Zeit sich aneignet (apprehendere)

Abbildungsnachweis

Einband Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders

Farbtafeln 1 (zu Beitrag Rosenwein) Coll BNU de Strasbourg ndash 2 (zu Beitrag Ferguson) Ar-chiv der Verf ndash 3 (zu Beitrag Herding) Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preu-szligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders ndash 4 (zu Beitrag Droste) R Kahsnitz Die Groszligen Schnitzaltaumlre Spaumltgotik in Suumlddeutschland Oumlsterreich Suumldtirol Muumlnchen 2005 Taf 53 ndash 5 6 (zu Beitrag Schedl) 75 Jahre 1933ndash2008 Kirche Mutter vom Guten Rat Festschrift und Chro-nik FrankfurtM 2008 S 92 Dr Bernd Konrad Radolfzell ndash 7 8 9 (zu Beitrag Zaumlh) Archiv des Autors ndash 10 (zu Beitrag Niehr) Universitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Media-thek 11 12 (zu Beitrag Muumlller) Autorin ndash 13 14 15 (zu Beitrag Schlie) Su concessione del Ministero dei beni e delle attivitagrave culturali e del turismo ndash Galleria Nazionale delle Marche ndash Urbino Archivio fotografico Archiv der Verf F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 ndash 16 17 (zu Beitrag Stoichita) D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 ndash 18 19 20 (zu Beitrag Schmidt) London British Museum C Geissmar-BrandiE Louis (Hgg) Glaube Hoffnung Liebe Tod Wien 1995 S 149 Archiv Autor ndash 21 (zu Beitrag Jung) Autorin

Textabbildungen Droste 1 3 4 Autorin 2 E Oellermann Der Hochaltar in St Martin zu Lorch am Rhein in H KrohmE Oellermann (Hrsg) Fluumlgelaltaumlre des spaumlten Mittelalters Ber-lin 1992 Abb 2 ndash Ferguson 1ndash3 Archiv der Verf ndash Frese 1 2 3 5 M BrandtA Eggebrecht (Hgg) Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen Katalog der Ausstellung Hil-desheim 1993 Bd 1 S 386f Abb 197 u 198 Bd 2 S 583 KatNr VIIIndash32 S 604 KatNr IXndash8 4 G LutzA Weyer (Hgg) 1000 Jahre St Michael in Hildesheim Kirche ndash Kloster ndash Stifter Peterberg 2012 S 148 Abb 118 ndash Gruumlndler 1ndash4 L DomenicoA Nova (Hg) Leonardo da Vincirsquos Anatomical World Language Context and Disegno Akten der Internationalen Tagung Florenz 30ndash31 Mai 2008 Venedig 2011 S 237 S 236 S 241 S 186 5 6 Le journal de Jacopo da Pontormo traduit par Jean-Claude Lebensztejn avec la collaboration drsquoAlessandro Parronchi Paris 1992 S 46 S 50 ndash Herding 1 2 3 4 5 6 7 Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders 8 Max J Friedlaumlnder Early Netherlandish Painting 14 vols Leiden und Bruumlssel 1967ndash1974 vol II 1967 pl 10 Nr 3i 9 Wolfenbuumlttel Herzog-August-Bibliothek ndash Jung 1 2 3 4 5 Autorin ndash Kessler 1 6 7 Autor 2 3 Museo delle Terme Rom 4 British Museum London 5 Alexei Lidov ndash Maxwell 1 2 AHN 3 Autor 4 Sancho el Mayor y sus herederos ed I Bango Torviso et al 2006 cat 25 5 BNE ndash Muumlller 1 Italian painting c 1330ndash1550 I National Gallery in Prague II Collections in the Czech Repub-lic Illustrated summary catalogue Prag 2008 2 Collection of The John and Mable Ringling Museum of Art the State Art Museum of Florida Florida State University 3 2014 copy Archivio Fotografico ndash Fondazione Musei Civici di Venezia ndash Niehr 1 A Schuttwolf (Hg) Ausst-Kat Jahreszeiten der Gefuumlhle Das Gothaer Liebespaar und die Minne im Spaumltmittelalter Ostfil-

400 Abbildungsnachweis

dern-Ruit 1998 2 D de Vos Hans Memling Das Gesamtwerk AntwerpenStuttgart 1994 S 278ndash283 TH Borchert Hans Memling Portraits Stuttgart 2005 S 173f Nr 23 3 Univer-sitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Mediathek ndash Pfisterer 1 E Steinmann ldquoLa mano di Michelangeloldquo in Studien aus Kunst und Geschichte Friedrich Schneider zum siebzigsten Geburtstag Freiburg iBr 1906 unnum Taf 2 R Bernini ua La mano e il volto di Antonio Canova PossagnoQuinto di Treviso 2008 S 197 3 U Klein Zur Forschungsgeschichte des Duumlrer-Hauses in GU GroszligmannF Sonnenberger (Hgg) Das Duumlrer-Haus Neue Ergebnisse der Forschung Nuumlrnberg 2007 S 105 nach Carl A Heideloff Die Ornamentik des Mittelalters Bd 3 Nuumlrnberg 1847 S 42 4 WH Vroon Het wonderlid van Jan de Witt en andere vaderland-se relieken Nijmegen 1997 S 68 5 Autor nach GF Tomasini Petrarca Redivivus Padua sup21650 S 128 6 A Picturesque Tour Through Holland Brabant and Part of France made in the autum of 1789 by Samuel Ireland London sup21796 Bd 2 Taf nach S 13 ndash Pinkus 1 2 3 4 5 6 Autor 7 8 Institut fuumlr Kunstgeschichte Universitaumlt Wien Fotothek ndash RauScheel 1 M Gregori Uf-fizien und Palazzo Pitti Muumlnchen 1994 S 31 2 Den Haag Koninklijke Bibliotheek ndash Raeck 1 2 5 7 Fotothek des Instituts fuumlr Archaumlologische Wissenschaften AbtI Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main 3 Zeichnerische Rekonstruktion M Junghans nach H-V Herrmann Olympia ndash Heiligtum und Wettkampfstaumltte Muumlnchen 1972 Abb 95 4 Antikensammlung Staatliche Museen zu Berlin Foto Johannes Laurentius 6 W Riezler Weissgrundige attische Lekythen Muumlnchen 1914 Taf 23 8 Deutsches Archaumlologisches Institut Athen Fotothek ndash Reudenbach 1 F MuumltherichJE Gaehde Karolingische Buchmalerei Muumlnchen 1979 Taf 4 2ndash4 httpwwwbibliotheca-laureshamensis-digitalde (Zugriff 20022014) ndash Schmengler 1 2 3 Torsten Saumlnger Frankfurt 4 5 6 Eric Tschernow Berlin ndash Schedl 1ndash3 Dr Bernd Konrad Radolfzell 4 FrankfurtMain-Niederrad Pfarrarchiv der katholischen Kirchengemeinde Mut-ter zum Guten Rat ndash Schlie 1 Archiv der Verf 2 Archiv der Verf + D E Katz The Contours of Tolerance Jews and the Corpus Domini Altarpiece in Urbino in Art Bulletin 85 (2003) S 647ndash661 S 647 3 F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 Schmidt 1 2 London British Museum 3 M Geisberg Der Meister ES Leipzig 21924 4 Archiv Autor ndash Taxer 1 2 O Paumlcht Altniederlaumlndische Malerei Von Rogier van der Weyden bis Gerard David Muumlnchen 1994 Abb 91 S 118 Abb 93 S 120 3 4 E Panofsky Die altniederlaumlndische Malerei Ihr Ursprung und Wesen Bd 2 Koumlln 2006 Abb 387 S 236 Abb 358 S 214 ndash Stoichita 1 D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 2 3 J Bialostocki Les Museacutees de Pologne Bruxelles 1966 ndash Zaumlh 1 2 Archiv des Verf 3 Metropolitan Museum of Art Bulletin 58 (2001) S 17 4 G ForsythK Weitzmann The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai The Church and Fortress of Justinian Plates Ann Arbor (Mi) 1973 Plate 121

280 Anselm Rau und Johanna Scheel

(Vers 1ndash8) Dabei wird die Angst (conturbatus sum) das Beben des Herzens in der Brust und das Befallenwerden vom Schrecken des Todes beschrieben (cor meum conturbatum est in me et formido mortis cecidit super me) ebenso das Erfasstsein von Furcht Zittern Schaudern und Entsetzen (timor et tremor venerunt super me et contexerunt me tenebrae) Der Nachvollzug der emotionalen Disposition Christi wird durch die kalkulierte Verknuumlpfung mit Psalm 38 zu-gleich ebenso zur detailreichen Klage in Furcht und Schrecken ob der eigenen Suumlndhaftigkeit Judas stellt natuumlrlich fuumlr den Abgleich das Negativbeispiel Doch im Gegensatz zu ihm zeigt der Betende in seiner demuumltigen Hinwendung zu Gott in Schmerz und Furcht das in ihn gesetzte Vertrauen das auch Jesus unter Beweis stellte Die Psalmen bieten hierfuumlr das passende Mittel der notwendigen Ausrichtung in der affectio

Ein interessanter Punkt sei in Bezug auf die Ausfuumlhrungen in De meditando hinsichtlich des Eifers (zelus) fuumlr die gerechte Sache noch genannt Die Sanftmut Christi wird gerade da-durch vor Augen gefuumlhrt dass er im Sinne des immerfort zur Vergebung bereiten Gott seinen Haumlschern guumltig begegnet da er sich seinen Peinigern nicht im Zorn (ira) verschloss (Ps 7710)38 Er haumllt naumlmlich sogar seinen Verteidiger ndash in der exegetischen Tradition Petrus vor allem dann auch in der bildenden Kunst ndash zuruumlck und bremst dessen gerechten zelus sein rechtmaumlszligiges eigentlich tugendhaftes eifersuumlchtiges Streben fuumlr das geliebte Objekt und heilt sogar ein abge-schlagenes Ohr Dieser Eifer der wie in De meditando beschrieben ohne Hinterlist ist nicht aus Ignoranz (repraumlsentiert durch die HaumlscherPeiniger) gegenuumlber der Wahrheit (in Christus) hervorgegangen zeigt die gute Absicht die durch Beharrlichkeit ans Ziel fuumlhrt und laumlsst somit die Liebe nicht lau werden Petrus wird als Identifikationsfigur installiert und am Ende aber-mals Judas entgegen gehalten Letzterer wurde zwar schlieszliglich aufgrund seiner Tat von Reue ergriffen jedoch war er nicht faumlhig durch die Hoffnung auf das Gute Christus Vergebung zu ersehnen und wurde von Bitterkeit (amaritudo) erfuumlllt so dass er den Tod und nicht das ewige Leben ersehnte

Meditationsschemata werden gerne aufgrund der ihnen innewohnenden Abfolge als starre Konstrukte und allein auf einen miszliginterpretierten geistigen Aufstieg abzielend hin verstan-den Doch beweist gerade das Lignum vitae eine hohe Flexibilitaumlt fuumlr den alltaumlglichen Gebrauch und zudem die eigentliche Intention die Formung von affectus

Gerard Zerbolt van Zutphen

Das stufenweise emotionale Gebet und die Meditation begegnen ebenfalls ndash allerdings weniger stark schematisiert als im Lignum Vitae ndash in einem Standardwerk der niederlaumlndischen Froumlm-migkeitsliteratur des 15 Jahrhunderts In De spiritualibus ascensionibus stellt Gerard Zerbolt

38 Im Tugend- und Lastersystem ist die Unterscheidung von zelus ira und furor sehr entscheidend bezuumlglich des guten und schlechten Strebens und damit hinsichtlich rationalen Ordnung des Geistes Zum tugendhaften und lasterhaften Zorn und seiner Aspekte vgl Richard von St Viktor Benjamin minor 40ndash44 PL 196029-033 ndash Gerade bei der Verurteilung Christi durch Pilatus (LV 624 S 77) wird das Thema der rasenden Wut (zelus invidiae) und des gerechte Zorns (zelus iustitia) nochmals differenziert

Meditation und Gebet 281

von Zutphen ein Autor der devotio moderna handbuchartig sein Aufstiegsmodell dar39 Darin vermittelt er seinen Mitbruumldern und einem frommen Laienpublikum ein ausgekluumlgeltes System von geistigen Uumlbungen die sich nicht nur auf den eigentlichen Gebetsakt beziehen sondern habituell im Alltag Anwendung finden sollen indem sie eine Transformation des Menschen be-wirken Er geht dabei von dem uumlblichen zeitgenoumlssischen theologischen Anthropologiemodell der Seele als durch Suumlnde verschmutzte imago Dei aus und stuumltzt sich auf bekannte moraltheo-logische Emotionstheorien die er jedoch stark ausweitet indem er den Emotionen eine genaue Funktion und eine Schluumlsselrolle im Erkenntnisprozess zuweist Die formula meditandi40 be-schreibt Gerard als inhaltlich verschieden konnotierte Selbstuumlberpruumlfungen in der die dadurch produzierten Emotionen wie Zerknirschung (compunctio bzw contritio) Furcht (timor) oder Hoffnung (spes) nicht nur bewusst gemacht sondern produktiv umgewandelt werden um zu Instrumenten und Stufen des weiteren Aufstiegs zu werden41 Diese Aufstiege sind ein Prozess der Selbsttransformation des Menschen der sich vollzieht indem der Mensch sowohl seinen urspruumlnglichen Zustand diese Transformation selbst als auch die Erfahrung seiner Veraumlnde-rung mit den erreichten Stufen emotional (ex affectu) erkennt (cogitare) und fuumlhlt (sentire)42 Aumlhnlich wie bei Hugo von St Viktor formuliert Gerard dass der Betende immer einen Affekt und ein Verlangen (desiderium) annehmen solle die zu den aktuellen Uumlbungen oder Medita-tionen passe43 Die Selbsttransformation im geistigen Aufstieg wird nach Gerard ebenso im uumlb-lichen Schema der lectio meditatio und oratio geuumlbt und an verschiedenen materiae meditandi44 vollzogen Die Affekte werden anhand dieser materiae erzeugt katalysiert und in das Gebet

39 Die Schrift (im Folgenden De Spir Asc) wird zitiert nach der Edition von F J LegrandN Staubach (Hgg) Gerard Zerbolt von Zutphen De Spiritualibus Ascensionibus La monteacutee du coeur Turnhout 2006 Vgl zur affektiven Konnotation von Gerards Gebetssystematik M Goossens De meditatie in de eerste tijd van de moderne devotie HaarlemAntwerpen 1954 Er stellt den Affekt als Wesensmerkmal des Gebets bei Gerard fest ebd S 118 Zur Einbindung der Schrift innerhalb der Gebetstheorien der Devotio Moderna und zum Stellenwert der affektiven Selbstreflexion auch in Beziehung zu zeitgenoumlssischer Kunst vgl J Scheel Das altniederlaumlndische Stifterbild Emotionsstrategien des Sehens und der Selbsterkenntnis Berlin 2014 bes S 155ndash171 230ndash241 414ndash42640 De Spir Asc Kap 641 Gerard spricht synonym von Aufstiegsstufen und affectus zB in Kap 27 bdquoIn hac prima ascensione vel primo affecto [hellip]ldquo Oder er benennt Affekte wie Hoffnung und Furcht als Stufen bdquo[hellip] istis duobus gradibus timoris et spei [hellip]ldquo Kap 26 Insgesamt benutzt er die Vokabeln affectus und affectio synonym zwar begegnet in Bedeutung von Strebevermoumlgen meist affectio und ersetzt also die vires durch die affectiones animae besonders wenn es um lasterhafte Affekte geht doch werden die einzelnen Affekte durchgehend als affectus nicht als affectio bezeichnet42 De Spir Asc Kap 643 Das Gebet solle nie bloszliges Lippenbekenntnis sein sondern immer aus der Wurzel des Herzens verfolgt werden und zwar stets aus den Affekten der Furcht Trauer Freude Bewunderung Dankbarkeit etc bdquo[hellip] ex affectu timoris meroris dilectionis admiracionis congratulationis etcldquo De Spir Kap 46 Diese Affektreihe stimmt mit derjenigen bei Hugo in De modo orandi uumlberein siehe oben S 273f44 Diese sind zunaumlchst die bekannten Meditationsinhalte wie man sie allenthalben in theologischer Literatur des Mittelalters findet Leben und Passion Christi das Juumlngste Gericht und die eigene Todesstunde (diese bspw bereits in Bonaventuras De Triplici Via Kap 3) Bei Gerard werden ebenfalls Houmllle und Himmelreich sowie die eigenen Suumlnden und Wohltaten Gottes eingeschlossen sowie das eigene Selbst in dem und waumlhrend des Gebets Zum Kontext der neuen Meditationswuumlrdigkeit des eigenen Selbst in den Lehren der Devotio Moderna vgl Scheel (cf Anm 39)

282 Anselm Rau und Johanna Scheel

uumlberfuumlhrt Dies macht Gerard wie Hugo anhand des Psalmengebets anschaulich indem er einerseits beispielhaft zeigt wie ex affectu ein Psalm gebetet wird waumlhrend er gleichzeitig bei vorheriger Thematisierung der lectio dessen Erregung durch die Lektuumlre betont

bdquoWenn du dich in deiner ersten Uumlberpruumlfung diskutiert hast und entdeckst dass deine Suumlnden zahlreicher sind als die Zahl des Sandes der Meere forme in dir den Affekt der Demut oder Trauer und nimm die Rolle (persona) eines Dieners an der seinen Herrn beleidigt hat Aus diesem Affekt heraus forme ein Gebet und sage sbquoGott sei mir gnaumldig nach deiner Huld tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmenlsquo (Ps 503) Wenn du in der zweiten und dritten Uumlberpruumlfung dich selbst diskutierend bemerkst dass dein Herz mit schlechten Begierden und boumlsen Verlangen gefuumlllt ist forme in dir wiederum den Affekt der Demut und nimm die Rolle eines Kranken an der nach Medizin fragt und sage sbquoHerr sei mir gnaumldig heile mich denn ich habe gegen dich gesuumlndigtlsquo (Ps 405) oder sbquoNichts blieb gesund an meinem Leib weil du mir grollst weil ich gesuumlndigt blieb an meinen Gliedern nichts heillsquo (Ebd) etc Wenn du dich im zweiten Aufstieg in Furcht durch Meditationen des Todes und des Gerichtes oder der Houmllle uumlbst nimm den Affekt der Furcht ein und die Rolle eines Suumlnders vor dem Richter an in Angst und Zittern als seist du schon uumlberfuumlhrt und der Richtspruch gegen dich gesprochen und sage sbquoVerdamme mich nicht Herr gehe nicht ins Gericht mit deinem Dienerlsquo (Ps 1422) oder sbquoHerr in deiner Wutlsquo (Ps 62) etc Wenn du dich aber in Hoffnung uumlbst durch die memoria des Him-melreiches nimm den Affekt der Liebe an und bete mit innigem Herzen und sage sbquoIch erstrebe eines Herr dieses wuumlnsche ich dass ich in dem Haus des Herrn wohnen darflsquo (Ps 264) oder sbquoWie der Hirsch lechzt nach frischem Wasserlsquo (Ps 412) etc Und ebenso kannst du mit anderen Affekten jene aus diesen formen und musst du die Rolle annehmen die deine Uumlbung erfordert und deine Meditation verlangtldquo45

Uumlber Hugo hinausgehend wird hier dem Betenden empfohlen sich konkrete Szenarien und personae zu imaginieren um die gewuumlnschten Affekte einzuuumlben Die Psalmenbeispiele mit den zugeordneten Affekten uumlberschneiden sich bei beiden Autoren bei Psalm 6 (timor) so-wie Psalm 26 (Gerard spes Hugo bona praesumptio)46 Besonders bei der Einuumlbung von timor und der Erwaumlhnung des Richtspruches in Kombination mit den Buszligpsalmen 6 und 142 stehen unmittelbar zeitgenoumlssische Darstellungen des Weltgerichts bzw der Auferstehung der Toten vor Augen wie man sie in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern in Kombination mit eben jenem Buszligpsalm 6 aber auch in der altniederlaumlndischen Malerei findet47 Psalmen koumlnnen zu den

45 bdquoUnde breviter ut modum habeas secundum predicta si te in prima examinacione discusseris et inveneris peccata tua multiplicata super numerum arene maris forma in te affectum humilitatis vel meroris et assume personam servi qui dominum suum offendit Et ex tali affectu forma oracionem dicens Secundum multitudinem miseracionum tuarum dele iniquitatem meam [hellip] Si te in secundo ascensu in timore per meditaciones mortis vel iudicii vel inferni exercueris assume affectum timoris et assume personam rei astantis coram iudice cum timore et tremore quasi iam convictus contra quem de iure proferenda est sentencia et dic Noli me condemnare Non intres in iudicium cum servo tuo Vel Domine ne in furore etc [hellip] Et sic de aliis affectibus quos ex istis formare poteris et assumere debes sicut exercicium tuum exigit et meditacio tua requiritldquo De Spir Asc Kap 4646 Zu den Psalmen die Hugo als Beispiele benutzt siehe oben S 273f47 Vgl dazu J Scheel Sich selbst sehen ndash der Betrachter in und vor dem Bild Spiegel- und Stifterfiguren in Texten und Bildern des 15 Jahrhunderts in E KochH Schlie (Hgg) Orte der Imagination ndash Raumlume des Affekts Die mediale Formierung des Sakralen Muumlnchen 2015

Meditation und Gebet 283

bdquototal memoriertenldquo48 Texten des Mittelalters gezaumlhlt werden weswegen sie sich beiden Autoren als Beispiele anbieten Sie benutzen die Buszligpsalmen (hier die Psalmen 6 31 [Hugo] 50 142) die im Stundenbuch fest als eigenstaumlndiger Gebetstext verankert sind und ebenso in der To-tenvigil ihren Platz haben ndash zusammen mit Gerards weiteren Beispielpsalmen 40 und 4149 Das Stundenbuch ist ein Medium in dem Psalmwort und bildliche Darstellung auf die Theorie des stufenweisen emotionalen Gebets und der Selbsttransformation treffen koumlnnen

Die Miniaturen die der Totenvigil bspw in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern des 15 Jahr-hunderts voranstehen zeigen oftmals eine ganzseitige Totenmesse sowie in der M-Initiale der gegenuumlberliegenden Textzeile50 zwei betende einander zugewandte Seelen im Fegefeuer (vgl

48 Zu diesen Texten gehoumlrten bspw das Pater Noster oder Ave Maria waumlhrend denen gleichzeitig auch uumlber bestimmte Aspekte zB der Passion meditiert werden konnte und sollte vgl P Saenger Books of Hours and the Reading Habits of the Later Middle Ages in R ChartierA Boureau (Hgg) The Culture of Print Power and the Uses of Print in Early Modern Europe Cambridge 1989 S 141ndash173 hier S 154 Bei den Psalmen genuumlgt wie man hier sieht allein die Nennung des Incipit oder bestimmter Verse die dem Leser so vertraut sind dass sie den gesamten Psalmentext mit assoziieren49 Zwar ist der Einsatz von Psalmen in mittelalterlichen Stundenbuumlchern mitunter verschieden doch kann man beispielhaft an einer Gruppe von Stundenbuumlchern in niederlaumlndischer Sprache diese Psalmen finden Diese Stundenbuumlcher sind mit der Uumlbersetzung des Gruumlndungsvaters des Devotio Moderna Geert Grote versehen oder stehen mit ihr in Verbindung N van Wijk Het getijdenboek van Geert Groote Naar het Haagse handschr 133 E 21 Leiden 1940 diese hauptsaumlchlich anhand einer einzigen Handschrift erarbeitete Edition wird hier in Ermangelung einer kritischen Edition genutzt Das getijdenboek enthaumllt einen Kalender des Bistums Utrecht fuumlnf Offizien (Marienoffizium Heiliggeistoffizium das lange und kurze Heiligkreuzoffizium Stunden der ewigen Weisheit) Buszligpsalmen Litanei und Totenvigil 50 Es ist der Beginn des invitatorium bdquoMi hebben ombeuanghen die suchten des dodes die pijnlike seer der hellen heben mi ombeuanghenldquo Wijk (cf Anm 49) S 156 ndash bdquoMich haben umfangen die Seufzer des Todes die qualvollen Schmerzen der Houmllle haben mich umfangenldquo

Abb 2 Meister des Hugo Jansz van Woerden Totenmesse und Seelen im Fegefeuer ca 1475ndash1500 Den Haag Koninklijke Bibliotheek Ms 76 G 13 fol 85vndash86r

284 Anselm Rau und Johanna Scheel

Abb 2)51 Das Fegefeuer bespricht Gerard eher marginal in seinem Traktat Fuumlr die affektive Meditation des eigenen Todes liefert er allerdings einerseits eine Anleitung fuumlr den Betenden die Affekte nun bereits zu erwecken die vor waumlhrend und nach dem eigentlichen Todeszeit-punkt entstuumlnden ndash und sich mit ihnen im Gebet selbst zu formen52 Andererseits raumlt er dem Glaumlubigen sich zum Zwecke des ex affectu-Gebets einen Koumlrper in seinen Verwesungsstadien vor Augen zu halten53 und was mit ihm selbst bei der Beerdigung passiere54 Das Fegefeuer ist ein im Sinne mittelalterlicher Moraltheologie produktiver Gebetsinhalt da der Glaumlubige im steten Oszillieren zwischen spes und timor besonders gut zur caritas aufzusteigen vermag Diesen Tenor findet man ebenfalls bei Geert Grote in seinem getijdenboek bei der Vorrede der Toten-vigil Hier raumlt er dem betenden Leser zum Wechsel aus Psalmen und Antiphonen in Hinblick auf die Erregung von Furcht und Angst Liebe und Hoffnung in der Ausrichtung auf Gut und Boumlse und mit Blick auf das Fegefeuer bdquoHier beginnt die Vigil in duytsche die so organisiert ist denjenigen zu helfen die von hinnen gefahren sind in der Freundschaft Gottes in das Fegefeuer Und ebenso dazu [gedacht ist] den Lebenden zu helfen die sie lesen damit ihnen das Wissen um die kommenden Dinge eingedruumlckt werde auf dass sie glauben hoffen und lieben an die Dinge in Herrlichkeit Und [sie] sich dafuumlr bereit machen und sich waumlhrenddessen die ganze Zeit fuumlrchten dass ihre Tage schnell vergehen Auf dass sie sich fuumlrchten aumlngstigen grauen und beben vor dem mannigfaltigen Leid der Angst und dem Elend die den Boumlsen ereilen werden und sie so darum ihr Leben lang ndash das hier aumluszligerst kurz ist ndash darauf hinarbeiten diesem Leid zu entgehen und [die Vigil ist auch hilfreich] weil ein Mensch diese beiden Dinge ndash Gutes in Liebe und Boumlses in Angst ndash besser ansehen (aensien) kann und erkennen und sich uumlberdenken damit er besser bitten kann und [es] mehr begehrt (begheert) und mehr liebt (myn[n]t) fuumlr diejenigen zu bitten die im Fegefeuer sind fuumlr ihre baldige Erloumlsung und dafuumlr Gottes Ehre zu vermehren [hellip] So hilft das Bitten der Lebenden den Toten und das Bitten fuumlr die Toten hilft den Lebendigen sich auf den Tod vorzubereiten [hellip] Und dazu ist das Singen dieser Psalmen heranzuziehen [und zwar] immer nach den Bedeutungen der Antiphone und den Sinn der

51 Die Darstellung von Seelen im Fegefeuer taucht als Buchillumination ab dem 13 Jahrhundert bereits vereinzelt auf und diente in Kombination mit Jenseitsvisionen Bibeltexten und moralisierenden Inhalten vor allem dem Gedenken an bereits Verstorbene wie auch zur persoumlnlichen Mediation des Lesers Oft findet eine narrative Einbindung statt Vgl dazu M Borowska Das Entfachen des Fegefeuers in der europaumlischen Miniatur des 13 Jahrhunderts in Umeni 57 (2009) S 310ndash325 Zum ikonografischen Kontext der hier gewaumlhlten Illumination vgl die Untersuchung von I M Veldman Purgatory in the Low Lands in B BukovinskaacuteL Slaviacuteček (Hgg) Pictura verba cupit Essays for Lubomiacuter Konečnyacute Prag 2006 S 169ndash180 va 170ndash17252 De Spir Asc Kap 19 In den folgenden Kapiteln stellt Gerard dem Leser dasselbe Prinzip an den Themen des Juumlngsten Gerichts der Houmllle und des Himmelreiches vor 53 bdquoItem interdum propone oculis tuis ymaginem alicuius hominis morientis et diligenter respice formam modum et ordinem quibus ad mortem deveniturldquo De Spir Asc Kap 1954 Weitere beliebte Illustrationen zum Totenoffizium im Stundenbuch des 15 Jahrhundert sind ebenfalls die Darstellung eines Toten um dessen Seele Engel und Teufel kaumlmpfen Schaumldeldarstellungen Seelen in Abrahams Schoszlig Himmel und Houmllle der Tod als Angreifer die Auferweckung des Lazarus sowie die Psychostasis mit Michael als Seelenwaumlger Diese Motive werden eher als ganzseitige Miniaturen dargestellt und bekommen zum Teil in der begleitenden Initiale jene zwei betenden Seelen im Fegefeuer hinzugefuumlgt

Meditation und Gebet 285

Antiphone soll man dazu in den Psalmen bedenken in allen Stundengebeten Dabei ist gut dass man sowohl vor als auch danach die Antiphonen spreche und schreibeldquo55

Mit der sich gegenseitig amplifizierenden Kombination von selbstreflexiven Affekt er-regendem und ausdruumlckendem Psalmentext mit der bildlichen Darstellung von Beerdigung mit Fegefeuer und mit derartigen Aufstiegsmodellen vertraut kann der betende Leser hier den eigenen Tod und die Bestrafung seiner Seele als Konsequenz der eigenen irdischen Suumlndhaftig-keit produktiv in seine Bemuumlhungen des geistigen Aufstiegs und seine Selbsttransformation kanalisieren

Imagination und Illumination

Das Gebetsleben des mittelalterlichen Glaumlubigen ist gekennzeichnet durch seine Affektivitaumlt Die affectus werden mit Gebetstexten und Psalmenreihen sowie mithilfe bildlicher Darstel-lungen sorgfaumlltig kultiviert und systematisch eingeuumlbt Dabei sind dies altbekannte ndash weil biblische ndash Text- und Bildinhalte deren affizierendes Potential auf neue Arten ausgeschoumlpft wird Texte und physische wie gerade geistige Bilder erinnern den Betenden nicht nur unver-bindlich an bereits bekannte Ereignisse Situationen und Figuren sondern lassen ihn sich mit diesen durch affektive und reflexive Meditationspraktiken identifizieren Fremde Worte und Emotionen werden darin zu den eigenen Vorbilder aus dem Kreis der Heiligen werden so zu Imaginationsfiguren das Selbst wird auf Gott ausgerichtet und in all seinen Aspekten gezielt emotional reflektiert So unterschiedlich die formale Herangehensweise dieser Praktiken bei den drei untersuchten Autoren Hugo von St Viktor Bonaventura und Gerard Zerbolt van Zutphen zu sein scheint vermitteln sie doch die selbe zentrale Maszliggabe oratio est affectus ndash bdquoGebet ist Affektldquo

Uumlbersetzung Hugo von St Viktor De meditando PL 176 993ndash99

Die Meditation ist die haumlufige Erwaumlgung (cogitatio) der Ursache (causa) und des inneren Be-weggrundes (ratio) eines einzelnen zu untersuchenden Gegenstandes (res) was seine Art sei (modus) was die Ursache und was der Beweggrund

Es gibt drei Arten (genus) der Meditation eine in Bezug auf die Schoumlpfung (in creaturis) eine hinsichtlich der Schrift (in scripturis) und eine hinsichtlich der Sitten (in moribus) Die erste erwaumlchst aus der Bewunderung (admiratio) die zweite aus der Lektuumlre (lectio) die dritte aus der umsichtigen Beobachtung (circumspectio)

Zuerst bringt die admiratio die Frage (quaestio) hervor die Frage das Erforschen (investi-gatio) und das Erforschen die Entdeckung (inventio) Dies ist damit die Bewunderung der Ord-

55 Fuumlr den altniederlaumlndischen Text vgl Wijk (cf Anm 49) S 155 Zum Antiphon das der Vigil vorangestellt ist vgl Anm 50

286 Anselm Rau und Johanna Scheel

nung (dispositio) die Frage nach der Ursache und die Entdeckung des inneren Beweggrundes Die Bewunderung beruht auf der Betrachtung der Ordnung im Himmel das ist die Gleich-artigkeit von allem und der Houmlhen und der Tiefen (alta et depressa) auf der Erde Die Frage betrifft die Ursache (causa) des irdischen Lebens auf Erden und des himmlischen Lebens im Himmel Das Erforschen fragt nach dem inneren Beweggrund dass so wie die Erde auch das irdische Leben beschaffen ist und dass der Beschaffenheit des Himmels selbst auch das himm-lische Leben gleicht

Bei der Lektuumlre (lectio) aber erfolgt die Betrachtung (considerare) folgendermaszligenAls erstes dient die lectio dazu durch die Bereitstellung des Stoffes (materia) die Wahr-

heit zu erkennen (cognoscere) die meditatio fuumlgt ihn zusammen (coaptare) die oratio hebt ihn empor (sublevare) die operatio (Ausfuumlhrung) wendet ihn an (componere) und die contemplatio frohlockt in ihm selbst (exsultare)

Es ist durch die Meditation der Schriften zu erkennen auf welche Weise es sich gehoumlrt etwas zu wissen Als Beispiel steht geschrieben Declina a malo et fac bonum (Vg Ps 3627 ndash Wende dich ab von dem Boumlsen und tue Gutes EUuml Ps 3727) Deshalb wurde zuvor gesagt die meditatio wendet sich der lectio zu um sich vom Boumlsen abzuwenden und darauf Gutes zu tun Der Grund (causa) hierfuumlr ist wenn sich nicht zuerst das Boumlse zuruumlckzoumlge wuumlrde das Gute nicht herantreten koumlnnen Der innere Beweggrund (ratio) aber ist so wie zuerst die Sproumlsslinge des Boumlsen mit ihrer Wurzel ausgerissen werden muumlssen so muss danach das Gute (ein-)ge-pflanzt werden Warum wurde daher gesagt Wende dich ab von dem Boumlsen Weil es einem auf dem Weg begegnet Man wendet sich deshalb ab weil wir es wo auch immer nicht vermoumlgen durch Staumlrke zu widerstehen wir entkommen ihm lediglich wenn wir uns mit Klugheit und Vernunft (consilio et ratio) von ihm abwenden Auch muumlssen wir uns vom Boumlsen abwenden um dem Naumlhrstoff (materia) zur Suumlnde aus dem Weg zu gehen ndash beispielsweise ist von Hochmut (superbia) Begehrlichkeit (incontinentia) Begierde (concupiscentia) Neid (invidia) und Streit (contentio) abzulassen um sich vom Reichtum (abundantia) der Schoumlnheit (species) des Flei-sches und der Besitzgier (amor possessiones) abzuwenden Dies bedeutet bdquosich abzuwendenldquo Desgleichen wenn auf diese Weise von allem Boumlsen sich abzuwenden angeraten ist so wird die Verrichtung alles Guten verlangt Und so ist also der ebenso schuldig bzw angeklagt der allein nur alles Boumlse meidet wie derjenige der nicht zugleich all das Gute tut Aber wenn dies so ist wer ist dann kein Angeklagter (reus) Folglich wird uns anbefohlen uns von allem Boumlsen loszusagen Andererseits kommt das Gute zum Einen aus dem was sich gehoumlrt (necessitas) und zum anderen aus dem Willen (voluntas) Es gehoumlren sich die Dinge einer Vorschrift (praecep-tum) und die eines Geluumlbdes (votum) alles uumlbrige wird erfuumlllt wenn eine Sache [also Schuld] mehr als nur vergolten wird (supererogare) und einem nichts mehr anlastet

Daher zielt die Meditation bei der lectio darauf ab zu ergruumlnden auf welche Weise et-was das erkannt wird gut ist warum und wie es zu erreichen ist weil es ndash ist es [ersteinmal] erkannt ndash auch zu verrichten ist Die Meditation ist das Entdeckungsvermoumlgen der vorgefassten Absicht (excogitatio consilii) zu erwaumlgen auf welche Weise das Gute das erkannt wurde erfuumlllt wird denn das Erkannte ist unbrauchbar wird es nicht vollbracht

Deshalb ist die Meditation bei der lectio eine dreifache Betrachtung nach der historia der allegoria und der tropologia Gemaumlszlig der historia erfolgt die Meditation wenn wir nach dem

Meditation und Gebet 287

vollendeten inneren Beweggrund der Dinge fragen die geschehen sind und diesen hinsichtlich seiner uumlbereinstimmenden Art und Weise (modus) bezuumlglich der Zeiten (tempora) und Orte (loci) bestaunen (admirare) Bei dieser Betrachtung der goumlttlichen Ratschluumlsse (iudicium) laumlsst man nicht davon ab daruumlber nachzudenken dass diese richtigen und gerechten (rectus et iustus) Entscheidungen zu keiner Zeit den Beistand [Gottes fuumlr die Menschen] entzogen (deesse) und durch sie das geschah was sich gehoumlrte und vergolten wurde was gerecht war (iustum fuit)

Die Meditation hinsichtlich der allegoria beschaumlftigt sich mit der Gliederung (dispositio) der vorangegangenen und zukuumlnftigen Dinge und so wie fuumlr den Verstand (intelligentia) an-gemessen richtet sie dabei ihre Aufmerksamkeit auf deren uumlbereinstimmende Bedeutung in ihrer bewundernswerten Vernunftmaumlszligigkeit (ratio) und Vorhersehung (providentia) und auf ihre fuumlr den Glauben (fides) geschaffene Gestalt (forma)

Bezuumlglich der tropologia beschaumlftigt sich die Meditation damit welche Frucht die Worte der lectio hervorbringen und erforscht (exquirere) was diese wenn sie ausgefuumlhrt werden [im Sinne des eigentlichen Aussprechens der Worte aber auch die Ausfuumlhrung ihres Inhaltes] ein-pflanzen (insinuere) und dabei zugleich lehren was zu vermeiden ist Sie stellt vor Augen was durch die lectio der Schrift zur Unterweisung (eruditio) zur Ermahnung (exhortatio) zur Troumls-tung (consolatio) und zum Schrecken (terror) dient Hierdurch erleuchtet die tropologia dahin-gehend was zum Verstehen der Tugenden (virtus) fuumlhrt sie naumlhrt (nutrire) den Affekt (affectio) und lehrt (edocere) die Lebensfuumlhrung auf dem Pfad der Tugenden

Die Meditation der Sitten (mos) erfolgt gemaumlszlig der Affekte (affectus) der Erwaumlgungen (cogi-tationes) und der Werke (opera)

Hinsichtlich der Affekte ist zu betrachten wie sie recht und aufrichtig (rectus et sincerus) zu sein vermoumlgen damit ist gemeint auf das und zu was hin sie geschuldet sein muumlssen und in welcher Weise sie zu sein haben Zu differenzieren ist naumlmlich dass das was sich nicht gehoumlrt (non oportet) boumlse ist und zugleich das was sich gehoumlrt zu lieben ist ndash das zu lieben das sich gleichwie nicht gehoumlrt ist boumlse Daher handelt es sich um einen guten Affekt wenn er auf das ausgerichtet ist auf das er verpflichtet ist und in der Weise wie es sich gehoumlrt

Amnon liebte (diligere) seine Schwester und dies war der Affekt zu dem er bestimmt war doch weil er Boumlses begehrte war es nicht der Affekt wie er ihn schuldete (vgl 2 Sam 13) So kann der Affekt auf das gerichtet sein zu was er gehoumlrt dies aber nicht in der [angemessenen] Art und Weise Niemals aber kann der Affekt so sein wie er zu sein hat wenn er nicht auf das ihm Zugehoumlrige ausgerichtet ist Auf das ausgerichtet zu was er gehoumlrt bedeutet dass er recht ist und in der Art und Weise wie es sich gehoumlrt und dementsprechend ist er rein Daher werden die Affekte in den Erwaumlgungen betrachtet damit sie rein (mundus) und geordnet (ordi-natus) sind Rein sind sie wenn weder etwas Boumlses von den Affekten hervorgebracht wird noch das Boumlse die Affekte hervorbringt Dass sie geordnet sind meint wenn sie vernuumlnftigerweise aufgrund des ihnen eigenen Anlasses (suo tempore) aufkommen (advenire) Es ist nicht ohne Schaden (vitium) [naumlmlich im Sinne des korrekten Vorgehens nicht ohne Formfehler] bereits das Gute zu einem diesem nicht angemessenen Zeitpunkt zu erwaumlgen wie etwa an die lectio waumlhrend der oratio zu denken oder auch an die oratio waumlhrend der lectio

Bei den Werken ist als erstes zu betrachten was zum Beispiel durch die gute Absicht (bona intentio) geschieht Um eine gute Absicht handelt es sich wenn sie einfach und aufrichtig ist

288 Anselm Rau und Johanna Scheel

(simplex et recta) Die bona intentio ist arglos ohne Hinterlist (malitia) und aufrichtig ohne Ignoranz (ignorantia) Die naumlmlich ohne Hinterlist ist besitzt den Eifer (zelus) Ist sie aber aus der [bewussten] Unkenntnis gegenuumlber dem Wissen (scientia) (Roumlm 102) geboren verfuumlgt sie nicht uumlber den [wahren] Eifer Daher ist es notwendig dass die Absicht aufrichtig ist in der Bescheidenheit (discretio) und arglos im Wohlwollen (benignitas) Bei den Werken ist zu be-trachten dass sie aus der aufkommenden guten Absicht heraus mit beharrlicher Leidenschaft (fervor) schlieszliglich ans Ziel gefuumlhrt werden damit nicht die Beharrlichkeit (perseverantia) ge-laumlhmt (torpere) und die Liebe (amor) nicht lau wird (tepescare)

Auf gleiche Weise erfolgt die meditatio der Sitten in einer zweifachen Betrachtung naumlmlich einer inneren und einer aumluszligeren Die aumluszligere blickt auf das Ansehen (fama) die innere auf das Gewissen (conscientia) Die aumluszligere Betrachtung erfolgt gemaumlszlig dem was ziert (decere) und was nuumltzt (expedire) was als Beispiel (exemplum) dient und was den Lohn (meritum) hervorbringt ndash uns zum Lohn und den Naumlchsten als Beispiel Die innere Betrachtung dagegen schaut auf das Gewissen damit es rein (mundus) sei ohne Anklage (accusatio) zu erleiden (pati) ob nun durch die Laumlhmung (torpor) des Guten oder die Hartnaumlckigkeit (praesumptio) des Boumlsen Rein ist aber jenes Gewissen das weder durch das Vergangene zu recht angeklagt (accusare) noch durch das Gegenwaumlrtige unrechtmaumlszligig erfreut (delectare) wird

Daher laumlsst die meditatio der Sitten ihre Betrachtung nicht ruhen damit sie jegliche Re-gungen (motus) die sich im Herzen erheben bemerkt und erwaumlgt woher sie kommen und worauf sie abzielen (tendere) Das heiszligt woher sie kommen gemaumlszlig ihrem Ursprung und wo-nach sie streben hinsichtlich ihres Ziels Alles ist naumlmlich eine Bewegung aus irgendetwas und auf irgendetwas Die Bewegungen des Herzens sind manchmal offenkundigen Ursprungs manchmal entspringen sie aber auch Verborgenem Bei denen der Ursprung offenkundig ist ist er bisweilen durch das Gute bisweilen aufgrund des Boumlsen erwiesen Was offenkundig gut ist kommt von Gott was aber deutlich boumlse erscheint entspringt entweder dem Teufel oder dem Fleisch Dies sind naumlmlich die drei Urheber (auctores) aller Vorstellungen (suggestio) und aller Eingebungen (aspiratio) die unsichtbar an das Herz herantreten und aus jenen drei hervor-gehen Entspringen die Bewegungen des Herzens daher dem Verborgenen koumlnnen sie manch-mal aus dem Guten und dem Geheimen hervorgehen und sind manchmal boumlse und zweifelhaft (dubius) Die dem Guten entspringen kommen von Gott die aber dem Boumlsen entstammen sind entweder des Teufels oder des Fleisches

Die Bewegungen die folglich offenkundig sind sei es im Guten oder Boumlsen werden auf den ersten Blick durch ihren Ursprung angezeigt Jene aber die zweifelhaft bleiben hinsichtlich ih-res Grundes sind am Ende zu uumlberpruumlfen (probare) Ihr Ergebnis [oder Ausgang] (exitus) zeigt naumlmlich deutlich was vom Ursprung her verborgen war und deswegen muss derjenige der es nicht vermochte den Ausgangspunkt seiner Herzensbewegungen zu beurteilen (iudicare) das Ziel und die Ausfuumlhrung [bzw Vollendung] (finis et consummatio) untersuchen (investigare) Die Bewegungen naumlmlich die zweifelhaft und ungewiss sind sind vom verborgenen Guten oder Boumlsen Wie gesagt wurde haben die schlechten Regungen ihren Ursprung entweder beim Teufel oder im Fleisch Diese aber sind beide boumlse sie unterscheiden sich nicht indem oder durch was sie boumlse sind doch unterscheiden sie sich dahingehend dass die Regungen des Her-zens die dem Fleisch entspringen haumlufig aus einer Notwendigkeit (necessitas) heranwachsen

Meditation und Gebet 289

die aber die tatsaumlchlich vom Teufel kommen nehmen noch oumlfter wider der Vernunft (ratio) ihren Anfang (oriri) Was naumlmlich vom Teufel eingegeben wird (suggerere) ist in der Tat dem Menschen fremd und wird deswegen haumlufig von der menschlichen Vernunft abgelehnt weil er beispielsweise unlaumlngst gesaumlttigt Hunger leidet (pati) kurz zuvor noch trunken (inebriatus) vor Durst (sitis) gluumlht (aestuare) oder wenn er nach einem ausgiebigen Schlaf (dormitio) sich erhebend vom Traum (somnus) bedruumlckt (praegravare) wird

Hieraus also werden die Werke des Teufels differenziert betrachtet weil sie ja an den Men-schen von auszligen herangetragen werden und der menschlichen Vernunft fremd sind Bei den Werken des Fleisches und ihren Eingebungen liegt der Grund des Oumlfteren in einer vorangegan-genen Notwendigkeit Aber weil sie Ziel und Maszlig (modus et mensura) uumlbersteigen wachsen sie zum Uumlberfluss (superfluitas) heran Dies ist als Beispiel eben gerade dann der Fall wenn nach der Einnahme einer Mahlzeit der Hunger hemmungslos (immoderatus) begehrt (appetere) und nach Enthaltsamkeit (abstinentia) das Maszlig (mensura) bei der Aufnahme von Speise (edulium) nicht gehalten wird

Daher wird die meditatio der Sitten aufgrund eines dreifachen Urteils betrieben Das erste urteilt zwischen Tag und Nacht das zweite zwischen Tag und Tag und das dritte schlieszliglich untersucht den gesamten Tag (vgl Roumlm 145) Zwischen Nacht und Tag zu urteilen meint das Boumlse vom Guten zu (unter-)scheiden Die Beurteilung zwischen Tag und Tag bedeutet eine Un-terscheidung zwischen etwas Gutem und etwas Besserem vorzunehmen Uumlber den gesamten Tag zu richten ist schlieszliglich das einzelne Gute fuumlr den eigenen Lohn zu ermessen (aestimare)

So hat die meditatio der Sitten bei jeglichem Umgang (conversatio) das Ziel und die Rich-tung (directio) im Blick Das Ziel ist wohin man strebt die Richtung wodurch man leichter ans Ziel gelangt Jeder naumlmlich der zu irgend etwas strebt so wie etwas seine Bahn (cursus) lenkt und unaufhoumlrlich weiterzieht kommt schneller ans Ziel Es gibt daher Gutes durch das man stark bewegt ist (moveri) zugleich gibt es aber wenig her durch das man vorankommt (pro-moveri) Anderes dagegen fuumlhrt mit etwas Muumlhe (labor) zu groszligem Gewinn (fructus) Und diese sind folglich zu unterscheiden und das Bessere das mehr nuumltzt auszuwaumlhlen Welches auch immer mehr nuumltzt ist besser und es gehoumlrt sich jedes Werk auf seinen Ertrag hin zu beurteilen Indem viele diese Unterscheidung (discretio) nicht einhielten haben sie sich zwar aufs aumluszligerste bemuumlht sind jedoch nur wenig vorangekommen weil sie das Auge aumluszligerlich so sehr auf die Gestalt (species) der Werke richteten und nicht innerlich auf den Gewinn durch die Tugenden blickten Sie ergoumltzen sich daran groszlige Taten zu verrichten anstatt dass sie das Nuumltz-liche (utilia) uumlben (exercere) um sich selbst zu bessern (emendari) Dabei schaumltzten (diligere) sie vielmehr das durch das sie den Anschein erwecken (videri) konnten [so zu sein]

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zunaumlchst das was man schuldet entweder auf-grund einer Vorschrift (praeceptum) oder eines Geluumlbdes (votum) Diesbezuumlglich ist die erste Tat der meditatio zu ermitteln ist sie oder es erfuumlllt fuumlhrt es zum Lohn und wenn nicht bringt dies den Anklagezustand (reatus) hervor Es sind also zuerst die Dinge zu tun die nicht ohne Schuld (culpa) weggelassen werden koumlnnen Danach ist die meditatio alsdann so zu verrichten dass wenn etwas durch freiwillige Uumlbung (exercitatio) noch hinzugefuumlgt wird die Pflicht-erfuumlllung [eigtl Schuld] (debitum) nicht verhindert wird (impedire) Die einen die das nicht zu leisten vermoumlgen was sie schulden wollen was sie nicht muumlssen Die anderen wenn sie im-

290 Anselm Rau und Johanna Scheel

stande sind zu tun was sie schulden bringen freiwillig Hindernisse (impedimentum) mit sich indem sie etwas wollen was sie nicht muumlssen

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zwei Dinge des Boumlsen vor denen man bei der Ver-richtung von Gutem besonders auf der Hut sein muss die Betruumlbnis [Niedergeschlagenheit] (afflictio) und die Besessenheit [Vereinnahmung] (occupatio) Die afflictio fuumlhrt zur Bitterkeit (amaritudo) die occupatio zur Zerstreuung (dissipatio) Mit der afflictio verbittert die Suumlszlige (dulcedo) des Geistes und mit der occupatio wird die Ruhe (tranquillitas) zerstoumlrt (dissipare) Es herrscht Betruumlbnis wenn man fuumlr jene Dinge die man nicht vermag aufgrund der eigenen Ungeduld (impatientia) ungluumlcklich wird (urere) Dagegen handelt es sich um Besessenheit (occupatio) wenn man in seinem Handeln (nach seinem Vermoumlgen) aufgrund der impatientia gequaumllt wird (agitare) Folglich darf die Seele (animus) nicht aufgrund des Boumlsen verbittert wer-den sie muss ihr Unvermoumlgen (impossibilitas) geduldig (patienter) aushalten Genauso darf sie aber auch nicht vom Boumlsen eingenommen werden und darf ihr Vermoumlgen (possibilitas) nicht uumlber ihr eigenes Maszlig hinaus ausdehnen (extendere) Daher muss die meditatio der Sitten in einer weiteren Betrachtung der Lebensfuumlhrung zu einem Urteil kommen und dabei billigen dass es weder gut ist die Dinge die man nicht vermag ungeduldig (impatienter) zu verlangen (appetere) noch die welche man erreicht toumlricht (insipienter) zu verschmaumlhen (fastidire) Wer naumlmlich immer das begehrt was er nicht vermag und das was er [jedoch] vermag verabscheut wird sich weder am Gegenwaumlrtigen erfreuen (frui) noch am Zukuumlnftigen saumlttigen (satiare) Er verlaumlsst naumlmlich das Gute unentwickelt vor der Vollendung und eignet sich das gerade erst Be-gonnene vorzeitig an Deswegen ist es gut aufgrund des eigenen Guten zufrieden zu sein und das gegenwaumlrtige Gute durch hinzukommendes Gutes zu vermehren und es nicht aufgrund des Zukuumlnftigen wegzuwerfen (abicere) Der Austausch (commutatio) des Guten ist naumlmlich ein Leichtes (levitas) seine Uumlbung (exercitatio) aber die Tugend Oft eilen sie auf unterschiedlichen Wegen die einen die ein fruumlheres durch ein neues Gutes fallen lassen (abicere) und die ande-ren die [sich] vom Untersten zum Houmlchsten emporschwingen (conscendere) Wer naumlmlich nach Veraumlnderung (mutatio) fragt ist uumlberdruumlssig (fastidiosus) so wie der der nach dem Voran-schreiten (profectus) strebt eifrig bemuumlht ist (studiosus) Am aufrechtesten beschreitet daher derjenige den Weg der dabei so auf das Bessere brennt (fervere) dass er des Guten nicht uumlber-druumlssig wird sondern es vorerst empor haumllt solange bis er es spaumlter zu der ihm angemessenen Zeit sich aneignet (apprehendere)

Abbildungsnachweis

Einband Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders

Farbtafeln 1 (zu Beitrag Rosenwein) Coll BNU de Strasbourg ndash 2 (zu Beitrag Ferguson) Ar-chiv der Verf ndash 3 (zu Beitrag Herding) Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preu-szligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders ndash 4 (zu Beitrag Droste) R Kahsnitz Die Groszligen Schnitzaltaumlre Spaumltgotik in Suumlddeutschland Oumlsterreich Suumldtirol Muumlnchen 2005 Taf 53 ndash 5 6 (zu Beitrag Schedl) 75 Jahre 1933ndash2008 Kirche Mutter vom Guten Rat Festschrift und Chro-nik FrankfurtM 2008 S 92 Dr Bernd Konrad Radolfzell ndash 7 8 9 (zu Beitrag Zaumlh) Archiv des Autors ndash 10 (zu Beitrag Niehr) Universitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Media-thek 11 12 (zu Beitrag Muumlller) Autorin ndash 13 14 15 (zu Beitrag Schlie) Su concessione del Ministero dei beni e delle attivitagrave culturali e del turismo ndash Galleria Nazionale delle Marche ndash Urbino Archivio fotografico Archiv der Verf F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 ndash 16 17 (zu Beitrag Stoichita) D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 ndash 18 19 20 (zu Beitrag Schmidt) London British Museum C Geissmar-BrandiE Louis (Hgg) Glaube Hoffnung Liebe Tod Wien 1995 S 149 Archiv Autor ndash 21 (zu Beitrag Jung) Autorin

Textabbildungen Droste 1 3 4 Autorin 2 E Oellermann Der Hochaltar in St Martin zu Lorch am Rhein in H KrohmE Oellermann (Hrsg) Fluumlgelaltaumlre des spaumlten Mittelalters Ber-lin 1992 Abb 2 ndash Ferguson 1ndash3 Archiv der Verf ndash Frese 1 2 3 5 M BrandtA Eggebrecht (Hgg) Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen Katalog der Ausstellung Hil-desheim 1993 Bd 1 S 386f Abb 197 u 198 Bd 2 S 583 KatNr VIIIndash32 S 604 KatNr IXndash8 4 G LutzA Weyer (Hgg) 1000 Jahre St Michael in Hildesheim Kirche ndash Kloster ndash Stifter Peterberg 2012 S 148 Abb 118 ndash Gruumlndler 1ndash4 L DomenicoA Nova (Hg) Leonardo da Vincirsquos Anatomical World Language Context and Disegno Akten der Internationalen Tagung Florenz 30ndash31 Mai 2008 Venedig 2011 S 237 S 236 S 241 S 186 5 6 Le journal de Jacopo da Pontormo traduit par Jean-Claude Lebensztejn avec la collaboration drsquoAlessandro Parronchi Paris 1992 S 46 S 50 ndash Herding 1 2 3 4 5 6 7 Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders 8 Max J Friedlaumlnder Early Netherlandish Painting 14 vols Leiden und Bruumlssel 1967ndash1974 vol II 1967 pl 10 Nr 3i 9 Wolfenbuumlttel Herzog-August-Bibliothek ndash Jung 1 2 3 4 5 Autorin ndash Kessler 1 6 7 Autor 2 3 Museo delle Terme Rom 4 British Museum London 5 Alexei Lidov ndash Maxwell 1 2 AHN 3 Autor 4 Sancho el Mayor y sus herederos ed I Bango Torviso et al 2006 cat 25 5 BNE ndash Muumlller 1 Italian painting c 1330ndash1550 I National Gallery in Prague II Collections in the Czech Repub-lic Illustrated summary catalogue Prag 2008 2 Collection of The John and Mable Ringling Museum of Art the State Art Museum of Florida Florida State University 3 2014 copy Archivio Fotografico ndash Fondazione Musei Civici di Venezia ndash Niehr 1 A Schuttwolf (Hg) Ausst-Kat Jahreszeiten der Gefuumlhle Das Gothaer Liebespaar und die Minne im Spaumltmittelalter Ostfil-

400 Abbildungsnachweis

dern-Ruit 1998 2 D de Vos Hans Memling Das Gesamtwerk AntwerpenStuttgart 1994 S 278ndash283 TH Borchert Hans Memling Portraits Stuttgart 2005 S 173f Nr 23 3 Univer-sitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Mediathek ndash Pfisterer 1 E Steinmann ldquoLa mano di Michelangeloldquo in Studien aus Kunst und Geschichte Friedrich Schneider zum siebzigsten Geburtstag Freiburg iBr 1906 unnum Taf 2 R Bernini ua La mano e il volto di Antonio Canova PossagnoQuinto di Treviso 2008 S 197 3 U Klein Zur Forschungsgeschichte des Duumlrer-Hauses in GU GroszligmannF Sonnenberger (Hgg) Das Duumlrer-Haus Neue Ergebnisse der Forschung Nuumlrnberg 2007 S 105 nach Carl A Heideloff Die Ornamentik des Mittelalters Bd 3 Nuumlrnberg 1847 S 42 4 WH Vroon Het wonderlid van Jan de Witt en andere vaderland-se relieken Nijmegen 1997 S 68 5 Autor nach GF Tomasini Petrarca Redivivus Padua sup21650 S 128 6 A Picturesque Tour Through Holland Brabant and Part of France made in the autum of 1789 by Samuel Ireland London sup21796 Bd 2 Taf nach S 13 ndash Pinkus 1 2 3 4 5 6 Autor 7 8 Institut fuumlr Kunstgeschichte Universitaumlt Wien Fotothek ndash RauScheel 1 M Gregori Uf-fizien und Palazzo Pitti Muumlnchen 1994 S 31 2 Den Haag Koninklijke Bibliotheek ndash Raeck 1 2 5 7 Fotothek des Instituts fuumlr Archaumlologische Wissenschaften AbtI Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main 3 Zeichnerische Rekonstruktion M Junghans nach H-V Herrmann Olympia ndash Heiligtum und Wettkampfstaumltte Muumlnchen 1972 Abb 95 4 Antikensammlung Staatliche Museen zu Berlin Foto Johannes Laurentius 6 W Riezler Weissgrundige attische Lekythen Muumlnchen 1914 Taf 23 8 Deutsches Archaumlologisches Institut Athen Fotothek ndash Reudenbach 1 F MuumltherichJE Gaehde Karolingische Buchmalerei Muumlnchen 1979 Taf 4 2ndash4 httpwwwbibliotheca-laureshamensis-digitalde (Zugriff 20022014) ndash Schmengler 1 2 3 Torsten Saumlnger Frankfurt 4 5 6 Eric Tschernow Berlin ndash Schedl 1ndash3 Dr Bernd Konrad Radolfzell 4 FrankfurtMain-Niederrad Pfarrarchiv der katholischen Kirchengemeinde Mut-ter zum Guten Rat ndash Schlie 1 Archiv der Verf 2 Archiv der Verf + D E Katz The Contours of Tolerance Jews and the Corpus Domini Altarpiece in Urbino in Art Bulletin 85 (2003) S 647ndash661 S 647 3 F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 Schmidt 1 2 London British Museum 3 M Geisberg Der Meister ES Leipzig 21924 4 Archiv Autor ndash Taxer 1 2 O Paumlcht Altniederlaumlndische Malerei Von Rogier van der Weyden bis Gerard David Muumlnchen 1994 Abb 91 S 118 Abb 93 S 120 3 4 E Panofsky Die altniederlaumlndische Malerei Ihr Ursprung und Wesen Bd 2 Koumlln 2006 Abb 387 S 236 Abb 358 S 214 ndash Stoichita 1 D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 2 3 J Bialostocki Les Museacutees de Pologne Bruxelles 1966 ndash Zaumlh 1 2 Archiv des Verf 3 Metropolitan Museum of Art Bulletin 58 (2001) S 17 4 G ForsythK Weitzmann The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai The Church and Fortress of Justinian Plates Ann Arbor (Mi) 1973 Plate 121

Meditation und Gebet 281

von Zutphen ein Autor der devotio moderna handbuchartig sein Aufstiegsmodell dar39 Darin vermittelt er seinen Mitbruumldern und einem frommen Laienpublikum ein ausgekluumlgeltes System von geistigen Uumlbungen die sich nicht nur auf den eigentlichen Gebetsakt beziehen sondern habituell im Alltag Anwendung finden sollen indem sie eine Transformation des Menschen be-wirken Er geht dabei von dem uumlblichen zeitgenoumlssischen theologischen Anthropologiemodell der Seele als durch Suumlnde verschmutzte imago Dei aus und stuumltzt sich auf bekannte moraltheo-logische Emotionstheorien die er jedoch stark ausweitet indem er den Emotionen eine genaue Funktion und eine Schluumlsselrolle im Erkenntnisprozess zuweist Die formula meditandi40 be-schreibt Gerard als inhaltlich verschieden konnotierte Selbstuumlberpruumlfungen in der die dadurch produzierten Emotionen wie Zerknirschung (compunctio bzw contritio) Furcht (timor) oder Hoffnung (spes) nicht nur bewusst gemacht sondern produktiv umgewandelt werden um zu Instrumenten und Stufen des weiteren Aufstiegs zu werden41 Diese Aufstiege sind ein Prozess der Selbsttransformation des Menschen der sich vollzieht indem der Mensch sowohl seinen urspruumlnglichen Zustand diese Transformation selbst als auch die Erfahrung seiner Veraumlnde-rung mit den erreichten Stufen emotional (ex affectu) erkennt (cogitare) und fuumlhlt (sentire)42 Aumlhnlich wie bei Hugo von St Viktor formuliert Gerard dass der Betende immer einen Affekt und ein Verlangen (desiderium) annehmen solle die zu den aktuellen Uumlbungen oder Medita-tionen passe43 Die Selbsttransformation im geistigen Aufstieg wird nach Gerard ebenso im uumlb-lichen Schema der lectio meditatio und oratio geuumlbt und an verschiedenen materiae meditandi44 vollzogen Die Affekte werden anhand dieser materiae erzeugt katalysiert und in das Gebet

39 Die Schrift (im Folgenden De Spir Asc) wird zitiert nach der Edition von F J LegrandN Staubach (Hgg) Gerard Zerbolt von Zutphen De Spiritualibus Ascensionibus La monteacutee du coeur Turnhout 2006 Vgl zur affektiven Konnotation von Gerards Gebetssystematik M Goossens De meditatie in de eerste tijd van de moderne devotie HaarlemAntwerpen 1954 Er stellt den Affekt als Wesensmerkmal des Gebets bei Gerard fest ebd S 118 Zur Einbindung der Schrift innerhalb der Gebetstheorien der Devotio Moderna und zum Stellenwert der affektiven Selbstreflexion auch in Beziehung zu zeitgenoumlssischer Kunst vgl J Scheel Das altniederlaumlndische Stifterbild Emotionsstrategien des Sehens und der Selbsterkenntnis Berlin 2014 bes S 155ndash171 230ndash241 414ndash42640 De Spir Asc Kap 641 Gerard spricht synonym von Aufstiegsstufen und affectus zB in Kap 27 bdquoIn hac prima ascensione vel primo affecto [hellip]ldquo Oder er benennt Affekte wie Hoffnung und Furcht als Stufen bdquo[hellip] istis duobus gradibus timoris et spei [hellip]ldquo Kap 26 Insgesamt benutzt er die Vokabeln affectus und affectio synonym zwar begegnet in Bedeutung von Strebevermoumlgen meist affectio und ersetzt also die vires durch die affectiones animae besonders wenn es um lasterhafte Affekte geht doch werden die einzelnen Affekte durchgehend als affectus nicht als affectio bezeichnet42 De Spir Asc Kap 643 Das Gebet solle nie bloszliges Lippenbekenntnis sein sondern immer aus der Wurzel des Herzens verfolgt werden und zwar stets aus den Affekten der Furcht Trauer Freude Bewunderung Dankbarkeit etc bdquo[hellip] ex affectu timoris meroris dilectionis admiracionis congratulationis etcldquo De Spir Kap 46 Diese Affektreihe stimmt mit derjenigen bei Hugo in De modo orandi uumlberein siehe oben S 273f44 Diese sind zunaumlchst die bekannten Meditationsinhalte wie man sie allenthalben in theologischer Literatur des Mittelalters findet Leben und Passion Christi das Juumlngste Gericht und die eigene Todesstunde (diese bspw bereits in Bonaventuras De Triplici Via Kap 3) Bei Gerard werden ebenfalls Houmllle und Himmelreich sowie die eigenen Suumlnden und Wohltaten Gottes eingeschlossen sowie das eigene Selbst in dem und waumlhrend des Gebets Zum Kontext der neuen Meditationswuumlrdigkeit des eigenen Selbst in den Lehren der Devotio Moderna vgl Scheel (cf Anm 39)

282 Anselm Rau und Johanna Scheel

uumlberfuumlhrt Dies macht Gerard wie Hugo anhand des Psalmengebets anschaulich indem er einerseits beispielhaft zeigt wie ex affectu ein Psalm gebetet wird waumlhrend er gleichzeitig bei vorheriger Thematisierung der lectio dessen Erregung durch die Lektuumlre betont

bdquoWenn du dich in deiner ersten Uumlberpruumlfung diskutiert hast und entdeckst dass deine Suumlnden zahlreicher sind als die Zahl des Sandes der Meere forme in dir den Affekt der Demut oder Trauer und nimm die Rolle (persona) eines Dieners an der seinen Herrn beleidigt hat Aus diesem Affekt heraus forme ein Gebet und sage sbquoGott sei mir gnaumldig nach deiner Huld tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmenlsquo (Ps 503) Wenn du in der zweiten und dritten Uumlberpruumlfung dich selbst diskutierend bemerkst dass dein Herz mit schlechten Begierden und boumlsen Verlangen gefuumlllt ist forme in dir wiederum den Affekt der Demut und nimm die Rolle eines Kranken an der nach Medizin fragt und sage sbquoHerr sei mir gnaumldig heile mich denn ich habe gegen dich gesuumlndigtlsquo (Ps 405) oder sbquoNichts blieb gesund an meinem Leib weil du mir grollst weil ich gesuumlndigt blieb an meinen Gliedern nichts heillsquo (Ebd) etc Wenn du dich im zweiten Aufstieg in Furcht durch Meditationen des Todes und des Gerichtes oder der Houmllle uumlbst nimm den Affekt der Furcht ein und die Rolle eines Suumlnders vor dem Richter an in Angst und Zittern als seist du schon uumlberfuumlhrt und der Richtspruch gegen dich gesprochen und sage sbquoVerdamme mich nicht Herr gehe nicht ins Gericht mit deinem Dienerlsquo (Ps 1422) oder sbquoHerr in deiner Wutlsquo (Ps 62) etc Wenn du dich aber in Hoffnung uumlbst durch die memoria des Him-melreiches nimm den Affekt der Liebe an und bete mit innigem Herzen und sage sbquoIch erstrebe eines Herr dieses wuumlnsche ich dass ich in dem Haus des Herrn wohnen darflsquo (Ps 264) oder sbquoWie der Hirsch lechzt nach frischem Wasserlsquo (Ps 412) etc Und ebenso kannst du mit anderen Affekten jene aus diesen formen und musst du die Rolle annehmen die deine Uumlbung erfordert und deine Meditation verlangtldquo45

Uumlber Hugo hinausgehend wird hier dem Betenden empfohlen sich konkrete Szenarien und personae zu imaginieren um die gewuumlnschten Affekte einzuuumlben Die Psalmenbeispiele mit den zugeordneten Affekten uumlberschneiden sich bei beiden Autoren bei Psalm 6 (timor) so-wie Psalm 26 (Gerard spes Hugo bona praesumptio)46 Besonders bei der Einuumlbung von timor und der Erwaumlhnung des Richtspruches in Kombination mit den Buszligpsalmen 6 und 142 stehen unmittelbar zeitgenoumlssische Darstellungen des Weltgerichts bzw der Auferstehung der Toten vor Augen wie man sie in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern in Kombination mit eben jenem Buszligpsalm 6 aber auch in der altniederlaumlndischen Malerei findet47 Psalmen koumlnnen zu den

45 bdquoUnde breviter ut modum habeas secundum predicta si te in prima examinacione discusseris et inveneris peccata tua multiplicata super numerum arene maris forma in te affectum humilitatis vel meroris et assume personam servi qui dominum suum offendit Et ex tali affectu forma oracionem dicens Secundum multitudinem miseracionum tuarum dele iniquitatem meam [hellip] Si te in secundo ascensu in timore per meditaciones mortis vel iudicii vel inferni exercueris assume affectum timoris et assume personam rei astantis coram iudice cum timore et tremore quasi iam convictus contra quem de iure proferenda est sentencia et dic Noli me condemnare Non intres in iudicium cum servo tuo Vel Domine ne in furore etc [hellip] Et sic de aliis affectibus quos ex istis formare poteris et assumere debes sicut exercicium tuum exigit et meditacio tua requiritldquo De Spir Asc Kap 4646 Zu den Psalmen die Hugo als Beispiele benutzt siehe oben S 273f47 Vgl dazu J Scheel Sich selbst sehen ndash der Betrachter in und vor dem Bild Spiegel- und Stifterfiguren in Texten und Bildern des 15 Jahrhunderts in E KochH Schlie (Hgg) Orte der Imagination ndash Raumlume des Affekts Die mediale Formierung des Sakralen Muumlnchen 2015

Meditation und Gebet 283

bdquototal memoriertenldquo48 Texten des Mittelalters gezaumlhlt werden weswegen sie sich beiden Autoren als Beispiele anbieten Sie benutzen die Buszligpsalmen (hier die Psalmen 6 31 [Hugo] 50 142) die im Stundenbuch fest als eigenstaumlndiger Gebetstext verankert sind und ebenso in der To-tenvigil ihren Platz haben ndash zusammen mit Gerards weiteren Beispielpsalmen 40 und 4149 Das Stundenbuch ist ein Medium in dem Psalmwort und bildliche Darstellung auf die Theorie des stufenweisen emotionalen Gebets und der Selbsttransformation treffen koumlnnen

Die Miniaturen die der Totenvigil bspw in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern des 15 Jahr-hunderts voranstehen zeigen oftmals eine ganzseitige Totenmesse sowie in der M-Initiale der gegenuumlberliegenden Textzeile50 zwei betende einander zugewandte Seelen im Fegefeuer (vgl

48 Zu diesen Texten gehoumlrten bspw das Pater Noster oder Ave Maria waumlhrend denen gleichzeitig auch uumlber bestimmte Aspekte zB der Passion meditiert werden konnte und sollte vgl P Saenger Books of Hours and the Reading Habits of the Later Middle Ages in R ChartierA Boureau (Hgg) The Culture of Print Power and the Uses of Print in Early Modern Europe Cambridge 1989 S 141ndash173 hier S 154 Bei den Psalmen genuumlgt wie man hier sieht allein die Nennung des Incipit oder bestimmter Verse die dem Leser so vertraut sind dass sie den gesamten Psalmentext mit assoziieren49 Zwar ist der Einsatz von Psalmen in mittelalterlichen Stundenbuumlchern mitunter verschieden doch kann man beispielhaft an einer Gruppe von Stundenbuumlchern in niederlaumlndischer Sprache diese Psalmen finden Diese Stundenbuumlcher sind mit der Uumlbersetzung des Gruumlndungsvaters des Devotio Moderna Geert Grote versehen oder stehen mit ihr in Verbindung N van Wijk Het getijdenboek van Geert Groote Naar het Haagse handschr 133 E 21 Leiden 1940 diese hauptsaumlchlich anhand einer einzigen Handschrift erarbeitete Edition wird hier in Ermangelung einer kritischen Edition genutzt Das getijdenboek enthaumllt einen Kalender des Bistums Utrecht fuumlnf Offizien (Marienoffizium Heiliggeistoffizium das lange und kurze Heiligkreuzoffizium Stunden der ewigen Weisheit) Buszligpsalmen Litanei und Totenvigil 50 Es ist der Beginn des invitatorium bdquoMi hebben ombeuanghen die suchten des dodes die pijnlike seer der hellen heben mi ombeuanghenldquo Wijk (cf Anm 49) S 156 ndash bdquoMich haben umfangen die Seufzer des Todes die qualvollen Schmerzen der Houmllle haben mich umfangenldquo

Abb 2 Meister des Hugo Jansz van Woerden Totenmesse und Seelen im Fegefeuer ca 1475ndash1500 Den Haag Koninklijke Bibliotheek Ms 76 G 13 fol 85vndash86r

284 Anselm Rau und Johanna Scheel

Abb 2)51 Das Fegefeuer bespricht Gerard eher marginal in seinem Traktat Fuumlr die affektive Meditation des eigenen Todes liefert er allerdings einerseits eine Anleitung fuumlr den Betenden die Affekte nun bereits zu erwecken die vor waumlhrend und nach dem eigentlichen Todeszeit-punkt entstuumlnden ndash und sich mit ihnen im Gebet selbst zu formen52 Andererseits raumlt er dem Glaumlubigen sich zum Zwecke des ex affectu-Gebets einen Koumlrper in seinen Verwesungsstadien vor Augen zu halten53 und was mit ihm selbst bei der Beerdigung passiere54 Das Fegefeuer ist ein im Sinne mittelalterlicher Moraltheologie produktiver Gebetsinhalt da der Glaumlubige im steten Oszillieren zwischen spes und timor besonders gut zur caritas aufzusteigen vermag Diesen Tenor findet man ebenfalls bei Geert Grote in seinem getijdenboek bei der Vorrede der Toten-vigil Hier raumlt er dem betenden Leser zum Wechsel aus Psalmen und Antiphonen in Hinblick auf die Erregung von Furcht und Angst Liebe und Hoffnung in der Ausrichtung auf Gut und Boumlse und mit Blick auf das Fegefeuer bdquoHier beginnt die Vigil in duytsche die so organisiert ist denjenigen zu helfen die von hinnen gefahren sind in der Freundschaft Gottes in das Fegefeuer Und ebenso dazu [gedacht ist] den Lebenden zu helfen die sie lesen damit ihnen das Wissen um die kommenden Dinge eingedruumlckt werde auf dass sie glauben hoffen und lieben an die Dinge in Herrlichkeit Und [sie] sich dafuumlr bereit machen und sich waumlhrenddessen die ganze Zeit fuumlrchten dass ihre Tage schnell vergehen Auf dass sie sich fuumlrchten aumlngstigen grauen und beben vor dem mannigfaltigen Leid der Angst und dem Elend die den Boumlsen ereilen werden und sie so darum ihr Leben lang ndash das hier aumluszligerst kurz ist ndash darauf hinarbeiten diesem Leid zu entgehen und [die Vigil ist auch hilfreich] weil ein Mensch diese beiden Dinge ndash Gutes in Liebe und Boumlses in Angst ndash besser ansehen (aensien) kann und erkennen und sich uumlberdenken damit er besser bitten kann und [es] mehr begehrt (begheert) und mehr liebt (myn[n]t) fuumlr diejenigen zu bitten die im Fegefeuer sind fuumlr ihre baldige Erloumlsung und dafuumlr Gottes Ehre zu vermehren [hellip] So hilft das Bitten der Lebenden den Toten und das Bitten fuumlr die Toten hilft den Lebendigen sich auf den Tod vorzubereiten [hellip] Und dazu ist das Singen dieser Psalmen heranzuziehen [und zwar] immer nach den Bedeutungen der Antiphone und den Sinn der

51 Die Darstellung von Seelen im Fegefeuer taucht als Buchillumination ab dem 13 Jahrhundert bereits vereinzelt auf und diente in Kombination mit Jenseitsvisionen Bibeltexten und moralisierenden Inhalten vor allem dem Gedenken an bereits Verstorbene wie auch zur persoumlnlichen Mediation des Lesers Oft findet eine narrative Einbindung statt Vgl dazu M Borowska Das Entfachen des Fegefeuers in der europaumlischen Miniatur des 13 Jahrhunderts in Umeni 57 (2009) S 310ndash325 Zum ikonografischen Kontext der hier gewaumlhlten Illumination vgl die Untersuchung von I M Veldman Purgatory in the Low Lands in B BukovinskaacuteL Slaviacuteček (Hgg) Pictura verba cupit Essays for Lubomiacuter Konečnyacute Prag 2006 S 169ndash180 va 170ndash17252 De Spir Asc Kap 19 In den folgenden Kapiteln stellt Gerard dem Leser dasselbe Prinzip an den Themen des Juumlngsten Gerichts der Houmllle und des Himmelreiches vor 53 bdquoItem interdum propone oculis tuis ymaginem alicuius hominis morientis et diligenter respice formam modum et ordinem quibus ad mortem deveniturldquo De Spir Asc Kap 1954 Weitere beliebte Illustrationen zum Totenoffizium im Stundenbuch des 15 Jahrhundert sind ebenfalls die Darstellung eines Toten um dessen Seele Engel und Teufel kaumlmpfen Schaumldeldarstellungen Seelen in Abrahams Schoszlig Himmel und Houmllle der Tod als Angreifer die Auferweckung des Lazarus sowie die Psychostasis mit Michael als Seelenwaumlger Diese Motive werden eher als ganzseitige Miniaturen dargestellt und bekommen zum Teil in der begleitenden Initiale jene zwei betenden Seelen im Fegefeuer hinzugefuumlgt

Meditation und Gebet 285

Antiphone soll man dazu in den Psalmen bedenken in allen Stundengebeten Dabei ist gut dass man sowohl vor als auch danach die Antiphonen spreche und schreibeldquo55

Mit der sich gegenseitig amplifizierenden Kombination von selbstreflexiven Affekt er-regendem und ausdruumlckendem Psalmentext mit der bildlichen Darstellung von Beerdigung mit Fegefeuer und mit derartigen Aufstiegsmodellen vertraut kann der betende Leser hier den eigenen Tod und die Bestrafung seiner Seele als Konsequenz der eigenen irdischen Suumlndhaftig-keit produktiv in seine Bemuumlhungen des geistigen Aufstiegs und seine Selbsttransformation kanalisieren

Imagination und Illumination

Das Gebetsleben des mittelalterlichen Glaumlubigen ist gekennzeichnet durch seine Affektivitaumlt Die affectus werden mit Gebetstexten und Psalmenreihen sowie mithilfe bildlicher Darstel-lungen sorgfaumlltig kultiviert und systematisch eingeuumlbt Dabei sind dies altbekannte ndash weil biblische ndash Text- und Bildinhalte deren affizierendes Potential auf neue Arten ausgeschoumlpft wird Texte und physische wie gerade geistige Bilder erinnern den Betenden nicht nur unver-bindlich an bereits bekannte Ereignisse Situationen und Figuren sondern lassen ihn sich mit diesen durch affektive und reflexive Meditationspraktiken identifizieren Fremde Worte und Emotionen werden darin zu den eigenen Vorbilder aus dem Kreis der Heiligen werden so zu Imaginationsfiguren das Selbst wird auf Gott ausgerichtet und in all seinen Aspekten gezielt emotional reflektiert So unterschiedlich die formale Herangehensweise dieser Praktiken bei den drei untersuchten Autoren Hugo von St Viktor Bonaventura und Gerard Zerbolt van Zutphen zu sein scheint vermitteln sie doch die selbe zentrale Maszliggabe oratio est affectus ndash bdquoGebet ist Affektldquo

Uumlbersetzung Hugo von St Viktor De meditando PL 176 993ndash99

Die Meditation ist die haumlufige Erwaumlgung (cogitatio) der Ursache (causa) und des inneren Be-weggrundes (ratio) eines einzelnen zu untersuchenden Gegenstandes (res) was seine Art sei (modus) was die Ursache und was der Beweggrund

Es gibt drei Arten (genus) der Meditation eine in Bezug auf die Schoumlpfung (in creaturis) eine hinsichtlich der Schrift (in scripturis) und eine hinsichtlich der Sitten (in moribus) Die erste erwaumlchst aus der Bewunderung (admiratio) die zweite aus der Lektuumlre (lectio) die dritte aus der umsichtigen Beobachtung (circumspectio)

Zuerst bringt die admiratio die Frage (quaestio) hervor die Frage das Erforschen (investi-gatio) und das Erforschen die Entdeckung (inventio) Dies ist damit die Bewunderung der Ord-

55 Fuumlr den altniederlaumlndischen Text vgl Wijk (cf Anm 49) S 155 Zum Antiphon das der Vigil vorangestellt ist vgl Anm 50

286 Anselm Rau und Johanna Scheel

nung (dispositio) die Frage nach der Ursache und die Entdeckung des inneren Beweggrundes Die Bewunderung beruht auf der Betrachtung der Ordnung im Himmel das ist die Gleich-artigkeit von allem und der Houmlhen und der Tiefen (alta et depressa) auf der Erde Die Frage betrifft die Ursache (causa) des irdischen Lebens auf Erden und des himmlischen Lebens im Himmel Das Erforschen fragt nach dem inneren Beweggrund dass so wie die Erde auch das irdische Leben beschaffen ist und dass der Beschaffenheit des Himmels selbst auch das himm-lische Leben gleicht

Bei der Lektuumlre (lectio) aber erfolgt die Betrachtung (considerare) folgendermaszligenAls erstes dient die lectio dazu durch die Bereitstellung des Stoffes (materia) die Wahr-

heit zu erkennen (cognoscere) die meditatio fuumlgt ihn zusammen (coaptare) die oratio hebt ihn empor (sublevare) die operatio (Ausfuumlhrung) wendet ihn an (componere) und die contemplatio frohlockt in ihm selbst (exsultare)

Es ist durch die Meditation der Schriften zu erkennen auf welche Weise es sich gehoumlrt etwas zu wissen Als Beispiel steht geschrieben Declina a malo et fac bonum (Vg Ps 3627 ndash Wende dich ab von dem Boumlsen und tue Gutes EUuml Ps 3727) Deshalb wurde zuvor gesagt die meditatio wendet sich der lectio zu um sich vom Boumlsen abzuwenden und darauf Gutes zu tun Der Grund (causa) hierfuumlr ist wenn sich nicht zuerst das Boumlse zuruumlckzoumlge wuumlrde das Gute nicht herantreten koumlnnen Der innere Beweggrund (ratio) aber ist so wie zuerst die Sproumlsslinge des Boumlsen mit ihrer Wurzel ausgerissen werden muumlssen so muss danach das Gute (ein-)ge-pflanzt werden Warum wurde daher gesagt Wende dich ab von dem Boumlsen Weil es einem auf dem Weg begegnet Man wendet sich deshalb ab weil wir es wo auch immer nicht vermoumlgen durch Staumlrke zu widerstehen wir entkommen ihm lediglich wenn wir uns mit Klugheit und Vernunft (consilio et ratio) von ihm abwenden Auch muumlssen wir uns vom Boumlsen abwenden um dem Naumlhrstoff (materia) zur Suumlnde aus dem Weg zu gehen ndash beispielsweise ist von Hochmut (superbia) Begehrlichkeit (incontinentia) Begierde (concupiscentia) Neid (invidia) und Streit (contentio) abzulassen um sich vom Reichtum (abundantia) der Schoumlnheit (species) des Flei-sches und der Besitzgier (amor possessiones) abzuwenden Dies bedeutet bdquosich abzuwendenldquo Desgleichen wenn auf diese Weise von allem Boumlsen sich abzuwenden angeraten ist so wird die Verrichtung alles Guten verlangt Und so ist also der ebenso schuldig bzw angeklagt der allein nur alles Boumlse meidet wie derjenige der nicht zugleich all das Gute tut Aber wenn dies so ist wer ist dann kein Angeklagter (reus) Folglich wird uns anbefohlen uns von allem Boumlsen loszusagen Andererseits kommt das Gute zum Einen aus dem was sich gehoumlrt (necessitas) und zum anderen aus dem Willen (voluntas) Es gehoumlren sich die Dinge einer Vorschrift (praecep-tum) und die eines Geluumlbdes (votum) alles uumlbrige wird erfuumlllt wenn eine Sache [also Schuld] mehr als nur vergolten wird (supererogare) und einem nichts mehr anlastet

Daher zielt die Meditation bei der lectio darauf ab zu ergruumlnden auf welche Weise et-was das erkannt wird gut ist warum und wie es zu erreichen ist weil es ndash ist es [ersteinmal] erkannt ndash auch zu verrichten ist Die Meditation ist das Entdeckungsvermoumlgen der vorgefassten Absicht (excogitatio consilii) zu erwaumlgen auf welche Weise das Gute das erkannt wurde erfuumlllt wird denn das Erkannte ist unbrauchbar wird es nicht vollbracht

Deshalb ist die Meditation bei der lectio eine dreifache Betrachtung nach der historia der allegoria und der tropologia Gemaumlszlig der historia erfolgt die Meditation wenn wir nach dem

Meditation und Gebet 287

vollendeten inneren Beweggrund der Dinge fragen die geschehen sind und diesen hinsichtlich seiner uumlbereinstimmenden Art und Weise (modus) bezuumlglich der Zeiten (tempora) und Orte (loci) bestaunen (admirare) Bei dieser Betrachtung der goumlttlichen Ratschluumlsse (iudicium) laumlsst man nicht davon ab daruumlber nachzudenken dass diese richtigen und gerechten (rectus et iustus) Entscheidungen zu keiner Zeit den Beistand [Gottes fuumlr die Menschen] entzogen (deesse) und durch sie das geschah was sich gehoumlrte und vergolten wurde was gerecht war (iustum fuit)

Die Meditation hinsichtlich der allegoria beschaumlftigt sich mit der Gliederung (dispositio) der vorangegangenen und zukuumlnftigen Dinge und so wie fuumlr den Verstand (intelligentia) an-gemessen richtet sie dabei ihre Aufmerksamkeit auf deren uumlbereinstimmende Bedeutung in ihrer bewundernswerten Vernunftmaumlszligigkeit (ratio) und Vorhersehung (providentia) und auf ihre fuumlr den Glauben (fides) geschaffene Gestalt (forma)

Bezuumlglich der tropologia beschaumlftigt sich die Meditation damit welche Frucht die Worte der lectio hervorbringen und erforscht (exquirere) was diese wenn sie ausgefuumlhrt werden [im Sinne des eigentlichen Aussprechens der Worte aber auch die Ausfuumlhrung ihres Inhaltes] ein-pflanzen (insinuere) und dabei zugleich lehren was zu vermeiden ist Sie stellt vor Augen was durch die lectio der Schrift zur Unterweisung (eruditio) zur Ermahnung (exhortatio) zur Troumls-tung (consolatio) und zum Schrecken (terror) dient Hierdurch erleuchtet die tropologia dahin-gehend was zum Verstehen der Tugenden (virtus) fuumlhrt sie naumlhrt (nutrire) den Affekt (affectio) und lehrt (edocere) die Lebensfuumlhrung auf dem Pfad der Tugenden

Die Meditation der Sitten (mos) erfolgt gemaumlszlig der Affekte (affectus) der Erwaumlgungen (cogi-tationes) und der Werke (opera)

Hinsichtlich der Affekte ist zu betrachten wie sie recht und aufrichtig (rectus et sincerus) zu sein vermoumlgen damit ist gemeint auf das und zu was hin sie geschuldet sein muumlssen und in welcher Weise sie zu sein haben Zu differenzieren ist naumlmlich dass das was sich nicht gehoumlrt (non oportet) boumlse ist und zugleich das was sich gehoumlrt zu lieben ist ndash das zu lieben das sich gleichwie nicht gehoumlrt ist boumlse Daher handelt es sich um einen guten Affekt wenn er auf das ausgerichtet ist auf das er verpflichtet ist und in der Weise wie es sich gehoumlrt

Amnon liebte (diligere) seine Schwester und dies war der Affekt zu dem er bestimmt war doch weil er Boumlses begehrte war es nicht der Affekt wie er ihn schuldete (vgl 2 Sam 13) So kann der Affekt auf das gerichtet sein zu was er gehoumlrt dies aber nicht in der [angemessenen] Art und Weise Niemals aber kann der Affekt so sein wie er zu sein hat wenn er nicht auf das ihm Zugehoumlrige ausgerichtet ist Auf das ausgerichtet zu was er gehoumlrt bedeutet dass er recht ist und in der Art und Weise wie es sich gehoumlrt und dementsprechend ist er rein Daher werden die Affekte in den Erwaumlgungen betrachtet damit sie rein (mundus) und geordnet (ordi-natus) sind Rein sind sie wenn weder etwas Boumlses von den Affekten hervorgebracht wird noch das Boumlse die Affekte hervorbringt Dass sie geordnet sind meint wenn sie vernuumlnftigerweise aufgrund des ihnen eigenen Anlasses (suo tempore) aufkommen (advenire) Es ist nicht ohne Schaden (vitium) [naumlmlich im Sinne des korrekten Vorgehens nicht ohne Formfehler] bereits das Gute zu einem diesem nicht angemessenen Zeitpunkt zu erwaumlgen wie etwa an die lectio waumlhrend der oratio zu denken oder auch an die oratio waumlhrend der lectio

Bei den Werken ist als erstes zu betrachten was zum Beispiel durch die gute Absicht (bona intentio) geschieht Um eine gute Absicht handelt es sich wenn sie einfach und aufrichtig ist

288 Anselm Rau und Johanna Scheel

(simplex et recta) Die bona intentio ist arglos ohne Hinterlist (malitia) und aufrichtig ohne Ignoranz (ignorantia) Die naumlmlich ohne Hinterlist ist besitzt den Eifer (zelus) Ist sie aber aus der [bewussten] Unkenntnis gegenuumlber dem Wissen (scientia) (Roumlm 102) geboren verfuumlgt sie nicht uumlber den [wahren] Eifer Daher ist es notwendig dass die Absicht aufrichtig ist in der Bescheidenheit (discretio) und arglos im Wohlwollen (benignitas) Bei den Werken ist zu be-trachten dass sie aus der aufkommenden guten Absicht heraus mit beharrlicher Leidenschaft (fervor) schlieszliglich ans Ziel gefuumlhrt werden damit nicht die Beharrlichkeit (perseverantia) ge-laumlhmt (torpere) und die Liebe (amor) nicht lau wird (tepescare)

Auf gleiche Weise erfolgt die meditatio der Sitten in einer zweifachen Betrachtung naumlmlich einer inneren und einer aumluszligeren Die aumluszligere blickt auf das Ansehen (fama) die innere auf das Gewissen (conscientia) Die aumluszligere Betrachtung erfolgt gemaumlszlig dem was ziert (decere) und was nuumltzt (expedire) was als Beispiel (exemplum) dient und was den Lohn (meritum) hervorbringt ndash uns zum Lohn und den Naumlchsten als Beispiel Die innere Betrachtung dagegen schaut auf das Gewissen damit es rein (mundus) sei ohne Anklage (accusatio) zu erleiden (pati) ob nun durch die Laumlhmung (torpor) des Guten oder die Hartnaumlckigkeit (praesumptio) des Boumlsen Rein ist aber jenes Gewissen das weder durch das Vergangene zu recht angeklagt (accusare) noch durch das Gegenwaumlrtige unrechtmaumlszligig erfreut (delectare) wird

Daher laumlsst die meditatio der Sitten ihre Betrachtung nicht ruhen damit sie jegliche Re-gungen (motus) die sich im Herzen erheben bemerkt und erwaumlgt woher sie kommen und worauf sie abzielen (tendere) Das heiszligt woher sie kommen gemaumlszlig ihrem Ursprung und wo-nach sie streben hinsichtlich ihres Ziels Alles ist naumlmlich eine Bewegung aus irgendetwas und auf irgendetwas Die Bewegungen des Herzens sind manchmal offenkundigen Ursprungs manchmal entspringen sie aber auch Verborgenem Bei denen der Ursprung offenkundig ist ist er bisweilen durch das Gute bisweilen aufgrund des Boumlsen erwiesen Was offenkundig gut ist kommt von Gott was aber deutlich boumlse erscheint entspringt entweder dem Teufel oder dem Fleisch Dies sind naumlmlich die drei Urheber (auctores) aller Vorstellungen (suggestio) und aller Eingebungen (aspiratio) die unsichtbar an das Herz herantreten und aus jenen drei hervor-gehen Entspringen die Bewegungen des Herzens daher dem Verborgenen koumlnnen sie manch-mal aus dem Guten und dem Geheimen hervorgehen und sind manchmal boumlse und zweifelhaft (dubius) Die dem Guten entspringen kommen von Gott die aber dem Boumlsen entstammen sind entweder des Teufels oder des Fleisches

Die Bewegungen die folglich offenkundig sind sei es im Guten oder Boumlsen werden auf den ersten Blick durch ihren Ursprung angezeigt Jene aber die zweifelhaft bleiben hinsichtlich ih-res Grundes sind am Ende zu uumlberpruumlfen (probare) Ihr Ergebnis [oder Ausgang] (exitus) zeigt naumlmlich deutlich was vom Ursprung her verborgen war und deswegen muss derjenige der es nicht vermochte den Ausgangspunkt seiner Herzensbewegungen zu beurteilen (iudicare) das Ziel und die Ausfuumlhrung [bzw Vollendung] (finis et consummatio) untersuchen (investigare) Die Bewegungen naumlmlich die zweifelhaft und ungewiss sind sind vom verborgenen Guten oder Boumlsen Wie gesagt wurde haben die schlechten Regungen ihren Ursprung entweder beim Teufel oder im Fleisch Diese aber sind beide boumlse sie unterscheiden sich nicht indem oder durch was sie boumlse sind doch unterscheiden sie sich dahingehend dass die Regungen des Her-zens die dem Fleisch entspringen haumlufig aus einer Notwendigkeit (necessitas) heranwachsen

Meditation und Gebet 289

die aber die tatsaumlchlich vom Teufel kommen nehmen noch oumlfter wider der Vernunft (ratio) ihren Anfang (oriri) Was naumlmlich vom Teufel eingegeben wird (suggerere) ist in der Tat dem Menschen fremd und wird deswegen haumlufig von der menschlichen Vernunft abgelehnt weil er beispielsweise unlaumlngst gesaumlttigt Hunger leidet (pati) kurz zuvor noch trunken (inebriatus) vor Durst (sitis) gluumlht (aestuare) oder wenn er nach einem ausgiebigen Schlaf (dormitio) sich erhebend vom Traum (somnus) bedruumlckt (praegravare) wird

Hieraus also werden die Werke des Teufels differenziert betrachtet weil sie ja an den Men-schen von auszligen herangetragen werden und der menschlichen Vernunft fremd sind Bei den Werken des Fleisches und ihren Eingebungen liegt der Grund des Oumlfteren in einer vorangegan-genen Notwendigkeit Aber weil sie Ziel und Maszlig (modus et mensura) uumlbersteigen wachsen sie zum Uumlberfluss (superfluitas) heran Dies ist als Beispiel eben gerade dann der Fall wenn nach der Einnahme einer Mahlzeit der Hunger hemmungslos (immoderatus) begehrt (appetere) und nach Enthaltsamkeit (abstinentia) das Maszlig (mensura) bei der Aufnahme von Speise (edulium) nicht gehalten wird

Daher wird die meditatio der Sitten aufgrund eines dreifachen Urteils betrieben Das erste urteilt zwischen Tag und Nacht das zweite zwischen Tag und Tag und das dritte schlieszliglich untersucht den gesamten Tag (vgl Roumlm 145) Zwischen Nacht und Tag zu urteilen meint das Boumlse vom Guten zu (unter-)scheiden Die Beurteilung zwischen Tag und Tag bedeutet eine Un-terscheidung zwischen etwas Gutem und etwas Besserem vorzunehmen Uumlber den gesamten Tag zu richten ist schlieszliglich das einzelne Gute fuumlr den eigenen Lohn zu ermessen (aestimare)

So hat die meditatio der Sitten bei jeglichem Umgang (conversatio) das Ziel und die Rich-tung (directio) im Blick Das Ziel ist wohin man strebt die Richtung wodurch man leichter ans Ziel gelangt Jeder naumlmlich der zu irgend etwas strebt so wie etwas seine Bahn (cursus) lenkt und unaufhoumlrlich weiterzieht kommt schneller ans Ziel Es gibt daher Gutes durch das man stark bewegt ist (moveri) zugleich gibt es aber wenig her durch das man vorankommt (pro-moveri) Anderes dagegen fuumlhrt mit etwas Muumlhe (labor) zu groszligem Gewinn (fructus) Und diese sind folglich zu unterscheiden und das Bessere das mehr nuumltzt auszuwaumlhlen Welches auch immer mehr nuumltzt ist besser und es gehoumlrt sich jedes Werk auf seinen Ertrag hin zu beurteilen Indem viele diese Unterscheidung (discretio) nicht einhielten haben sie sich zwar aufs aumluszligerste bemuumlht sind jedoch nur wenig vorangekommen weil sie das Auge aumluszligerlich so sehr auf die Gestalt (species) der Werke richteten und nicht innerlich auf den Gewinn durch die Tugenden blickten Sie ergoumltzen sich daran groszlige Taten zu verrichten anstatt dass sie das Nuumltz-liche (utilia) uumlben (exercere) um sich selbst zu bessern (emendari) Dabei schaumltzten (diligere) sie vielmehr das durch das sie den Anschein erwecken (videri) konnten [so zu sein]

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zunaumlchst das was man schuldet entweder auf-grund einer Vorschrift (praeceptum) oder eines Geluumlbdes (votum) Diesbezuumlglich ist die erste Tat der meditatio zu ermitteln ist sie oder es erfuumlllt fuumlhrt es zum Lohn und wenn nicht bringt dies den Anklagezustand (reatus) hervor Es sind also zuerst die Dinge zu tun die nicht ohne Schuld (culpa) weggelassen werden koumlnnen Danach ist die meditatio alsdann so zu verrichten dass wenn etwas durch freiwillige Uumlbung (exercitatio) noch hinzugefuumlgt wird die Pflicht-erfuumlllung [eigtl Schuld] (debitum) nicht verhindert wird (impedire) Die einen die das nicht zu leisten vermoumlgen was sie schulden wollen was sie nicht muumlssen Die anderen wenn sie im-

290 Anselm Rau und Johanna Scheel

stande sind zu tun was sie schulden bringen freiwillig Hindernisse (impedimentum) mit sich indem sie etwas wollen was sie nicht muumlssen

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zwei Dinge des Boumlsen vor denen man bei der Ver-richtung von Gutem besonders auf der Hut sein muss die Betruumlbnis [Niedergeschlagenheit] (afflictio) und die Besessenheit [Vereinnahmung] (occupatio) Die afflictio fuumlhrt zur Bitterkeit (amaritudo) die occupatio zur Zerstreuung (dissipatio) Mit der afflictio verbittert die Suumlszlige (dulcedo) des Geistes und mit der occupatio wird die Ruhe (tranquillitas) zerstoumlrt (dissipare) Es herrscht Betruumlbnis wenn man fuumlr jene Dinge die man nicht vermag aufgrund der eigenen Ungeduld (impatientia) ungluumlcklich wird (urere) Dagegen handelt es sich um Besessenheit (occupatio) wenn man in seinem Handeln (nach seinem Vermoumlgen) aufgrund der impatientia gequaumllt wird (agitare) Folglich darf die Seele (animus) nicht aufgrund des Boumlsen verbittert wer-den sie muss ihr Unvermoumlgen (impossibilitas) geduldig (patienter) aushalten Genauso darf sie aber auch nicht vom Boumlsen eingenommen werden und darf ihr Vermoumlgen (possibilitas) nicht uumlber ihr eigenes Maszlig hinaus ausdehnen (extendere) Daher muss die meditatio der Sitten in einer weiteren Betrachtung der Lebensfuumlhrung zu einem Urteil kommen und dabei billigen dass es weder gut ist die Dinge die man nicht vermag ungeduldig (impatienter) zu verlangen (appetere) noch die welche man erreicht toumlricht (insipienter) zu verschmaumlhen (fastidire) Wer naumlmlich immer das begehrt was er nicht vermag und das was er [jedoch] vermag verabscheut wird sich weder am Gegenwaumlrtigen erfreuen (frui) noch am Zukuumlnftigen saumlttigen (satiare) Er verlaumlsst naumlmlich das Gute unentwickelt vor der Vollendung und eignet sich das gerade erst Be-gonnene vorzeitig an Deswegen ist es gut aufgrund des eigenen Guten zufrieden zu sein und das gegenwaumlrtige Gute durch hinzukommendes Gutes zu vermehren und es nicht aufgrund des Zukuumlnftigen wegzuwerfen (abicere) Der Austausch (commutatio) des Guten ist naumlmlich ein Leichtes (levitas) seine Uumlbung (exercitatio) aber die Tugend Oft eilen sie auf unterschiedlichen Wegen die einen die ein fruumlheres durch ein neues Gutes fallen lassen (abicere) und die ande-ren die [sich] vom Untersten zum Houmlchsten emporschwingen (conscendere) Wer naumlmlich nach Veraumlnderung (mutatio) fragt ist uumlberdruumlssig (fastidiosus) so wie der der nach dem Voran-schreiten (profectus) strebt eifrig bemuumlht ist (studiosus) Am aufrechtesten beschreitet daher derjenige den Weg der dabei so auf das Bessere brennt (fervere) dass er des Guten nicht uumlber-druumlssig wird sondern es vorerst empor haumllt solange bis er es spaumlter zu der ihm angemessenen Zeit sich aneignet (apprehendere)

Abbildungsnachweis

Einband Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders

Farbtafeln 1 (zu Beitrag Rosenwein) Coll BNU de Strasbourg ndash 2 (zu Beitrag Ferguson) Ar-chiv der Verf ndash 3 (zu Beitrag Herding) Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preu-szligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders ndash 4 (zu Beitrag Droste) R Kahsnitz Die Groszligen Schnitzaltaumlre Spaumltgotik in Suumlddeutschland Oumlsterreich Suumldtirol Muumlnchen 2005 Taf 53 ndash 5 6 (zu Beitrag Schedl) 75 Jahre 1933ndash2008 Kirche Mutter vom Guten Rat Festschrift und Chro-nik FrankfurtM 2008 S 92 Dr Bernd Konrad Radolfzell ndash 7 8 9 (zu Beitrag Zaumlh) Archiv des Autors ndash 10 (zu Beitrag Niehr) Universitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Media-thek 11 12 (zu Beitrag Muumlller) Autorin ndash 13 14 15 (zu Beitrag Schlie) Su concessione del Ministero dei beni e delle attivitagrave culturali e del turismo ndash Galleria Nazionale delle Marche ndash Urbino Archivio fotografico Archiv der Verf F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 ndash 16 17 (zu Beitrag Stoichita) D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 ndash 18 19 20 (zu Beitrag Schmidt) London British Museum C Geissmar-BrandiE Louis (Hgg) Glaube Hoffnung Liebe Tod Wien 1995 S 149 Archiv Autor ndash 21 (zu Beitrag Jung) Autorin

Textabbildungen Droste 1 3 4 Autorin 2 E Oellermann Der Hochaltar in St Martin zu Lorch am Rhein in H KrohmE Oellermann (Hrsg) Fluumlgelaltaumlre des spaumlten Mittelalters Ber-lin 1992 Abb 2 ndash Ferguson 1ndash3 Archiv der Verf ndash Frese 1 2 3 5 M BrandtA Eggebrecht (Hgg) Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen Katalog der Ausstellung Hil-desheim 1993 Bd 1 S 386f Abb 197 u 198 Bd 2 S 583 KatNr VIIIndash32 S 604 KatNr IXndash8 4 G LutzA Weyer (Hgg) 1000 Jahre St Michael in Hildesheim Kirche ndash Kloster ndash Stifter Peterberg 2012 S 148 Abb 118 ndash Gruumlndler 1ndash4 L DomenicoA Nova (Hg) Leonardo da Vincirsquos Anatomical World Language Context and Disegno Akten der Internationalen Tagung Florenz 30ndash31 Mai 2008 Venedig 2011 S 237 S 236 S 241 S 186 5 6 Le journal de Jacopo da Pontormo traduit par Jean-Claude Lebensztejn avec la collaboration drsquoAlessandro Parronchi Paris 1992 S 46 S 50 ndash Herding 1 2 3 4 5 6 7 Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders 8 Max J Friedlaumlnder Early Netherlandish Painting 14 vols Leiden und Bruumlssel 1967ndash1974 vol II 1967 pl 10 Nr 3i 9 Wolfenbuumlttel Herzog-August-Bibliothek ndash Jung 1 2 3 4 5 Autorin ndash Kessler 1 6 7 Autor 2 3 Museo delle Terme Rom 4 British Museum London 5 Alexei Lidov ndash Maxwell 1 2 AHN 3 Autor 4 Sancho el Mayor y sus herederos ed I Bango Torviso et al 2006 cat 25 5 BNE ndash Muumlller 1 Italian painting c 1330ndash1550 I National Gallery in Prague II Collections in the Czech Repub-lic Illustrated summary catalogue Prag 2008 2 Collection of The John and Mable Ringling Museum of Art the State Art Museum of Florida Florida State University 3 2014 copy Archivio Fotografico ndash Fondazione Musei Civici di Venezia ndash Niehr 1 A Schuttwolf (Hg) Ausst-Kat Jahreszeiten der Gefuumlhle Das Gothaer Liebespaar und die Minne im Spaumltmittelalter Ostfil-

400 Abbildungsnachweis

dern-Ruit 1998 2 D de Vos Hans Memling Das Gesamtwerk AntwerpenStuttgart 1994 S 278ndash283 TH Borchert Hans Memling Portraits Stuttgart 2005 S 173f Nr 23 3 Univer-sitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Mediathek ndash Pfisterer 1 E Steinmann ldquoLa mano di Michelangeloldquo in Studien aus Kunst und Geschichte Friedrich Schneider zum siebzigsten Geburtstag Freiburg iBr 1906 unnum Taf 2 R Bernini ua La mano e il volto di Antonio Canova PossagnoQuinto di Treviso 2008 S 197 3 U Klein Zur Forschungsgeschichte des Duumlrer-Hauses in GU GroszligmannF Sonnenberger (Hgg) Das Duumlrer-Haus Neue Ergebnisse der Forschung Nuumlrnberg 2007 S 105 nach Carl A Heideloff Die Ornamentik des Mittelalters Bd 3 Nuumlrnberg 1847 S 42 4 WH Vroon Het wonderlid van Jan de Witt en andere vaderland-se relieken Nijmegen 1997 S 68 5 Autor nach GF Tomasini Petrarca Redivivus Padua sup21650 S 128 6 A Picturesque Tour Through Holland Brabant and Part of France made in the autum of 1789 by Samuel Ireland London sup21796 Bd 2 Taf nach S 13 ndash Pinkus 1 2 3 4 5 6 Autor 7 8 Institut fuumlr Kunstgeschichte Universitaumlt Wien Fotothek ndash RauScheel 1 M Gregori Uf-fizien und Palazzo Pitti Muumlnchen 1994 S 31 2 Den Haag Koninklijke Bibliotheek ndash Raeck 1 2 5 7 Fotothek des Instituts fuumlr Archaumlologische Wissenschaften AbtI Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main 3 Zeichnerische Rekonstruktion M Junghans nach H-V Herrmann Olympia ndash Heiligtum und Wettkampfstaumltte Muumlnchen 1972 Abb 95 4 Antikensammlung Staatliche Museen zu Berlin Foto Johannes Laurentius 6 W Riezler Weissgrundige attische Lekythen Muumlnchen 1914 Taf 23 8 Deutsches Archaumlologisches Institut Athen Fotothek ndash Reudenbach 1 F MuumltherichJE Gaehde Karolingische Buchmalerei Muumlnchen 1979 Taf 4 2ndash4 httpwwwbibliotheca-laureshamensis-digitalde (Zugriff 20022014) ndash Schmengler 1 2 3 Torsten Saumlnger Frankfurt 4 5 6 Eric Tschernow Berlin ndash Schedl 1ndash3 Dr Bernd Konrad Radolfzell 4 FrankfurtMain-Niederrad Pfarrarchiv der katholischen Kirchengemeinde Mut-ter zum Guten Rat ndash Schlie 1 Archiv der Verf 2 Archiv der Verf + D E Katz The Contours of Tolerance Jews and the Corpus Domini Altarpiece in Urbino in Art Bulletin 85 (2003) S 647ndash661 S 647 3 F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 Schmidt 1 2 London British Museum 3 M Geisberg Der Meister ES Leipzig 21924 4 Archiv Autor ndash Taxer 1 2 O Paumlcht Altniederlaumlndische Malerei Von Rogier van der Weyden bis Gerard David Muumlnchen 1994 Abb 91 S 118 Abb 93 S 120 3 4 E Panofsky Die altniederlaumlndische Malerei Ihr Ursprung und Wesen Bd 2 Koumlln 2006 Abb 387 S 236 Abb 358 S 214 ndash Stoichita 1 D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 2 3 J Bialostocki Les Museacutees de Pologne Bruxelles 1966 ndash Zaumlh 1 2 Archiv des Verf 3 Metropolitan Museum of Art Bulletin 58 (2001) S 17 4 G ForsythK Weitzmann The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai The Church and Fortress of Justinian Plates Ann Arbor (Mi) 1973 Plate 121

282 Anselm Rau und Johanna Scheel

uumlberfuumlhrt Dies macht Gerard wie Hugo anhand des Psalmengebets anschaulich indem er einerseits beispielhaft zeigt wie ex affectu ein Psalm gebetet wird waumlhrend er gleichzeitig bei vorheriger Thematisierung der lectio dessen Erregung durch die Lektuumlre betont

bdquoWenn du dich in deiner ersten Uumlberpruumlfung diskutiert hast und entdeckst dass deine Suumlnden zahlreicher sind als die Zahl des Sandes der Meere forme in dir den Affekt der Demut oder Trauer und nimm die Rolle (persona) eines Dieners an der seinen Herrn beleidigt hat Aus diesem Affekt heraus forme ein Gebet und sage sbquoGott sei mir gnaumldig nach deiner Huld tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmenlsquo (Ps 503) Wenn du in der zweiten und dritten Uumlberpruumlfung dich selbst diskutierend bemerkst dass dein Herz mit schlechten Begierden und boumlsen Verlangen gefuumlllt ist forme in dir wiederum den Affekt der Demut und nimm die Rolle eines Kranken an der nach Medizin fragt und sage sbquoHerr sei mir gnaumldig heile mich denn ich habe gegen dich gesuumlndigtlsquo (Ps 405) oder sbquoNichts blieb gesund an meinem Leib weil du mir grollst weil ich gesuumlndigt blieb an meinen Gliedern nichts heillsquo (Ebd) etc Wenn du dich im zweiten Aufstieg in Furcht durch Meditationen des Todes und des Gerichtes oder der Houmllle uumlbst nimm den Affekt der Furcht ein und die Rolle eines Suumlnders vor dem Richter an in Angst und Zittern als seist du schon uumlberfuumlhrt und der Richtspruch gegen dich gesprochen und sage sbquoVerdamme mich nicht Herr gehe nicht ins Gericht mit deinem Dienerlsquo (Ps 1422) oder sbquoHerr in deiner Wutlsquo (Ps 62) etc Wenn du dich aber in Hoffnung uumlbst durch die memoria des Him-melreiches nimm den Affekt der Liebe an und bete mit innigem Herzen und sage sbquoIch erstrebe eines Herr dieses wuumlnsche ich dass ich in dem Haus des Herrn wohnen darflsquo (Ps 264) oder sbquoWie der Hirsch lechzt nach frischem Wasserlsquo (Ps 412) etc Und ebenso kannst du mit anderen Affekten jene aus diesen formen und musst du die Rolle annehmen die deine Uumlbung erfordert und deine Meditation verlangtldquo45

Uumlber Hugo hinausgehend wird hier dem Betenden empfohlen sich konkrete Szenarien und personae zu imaginieren um die gewuumlnschten Affekte einzuuumlben Die Psalmenbeispiele mit den zugeordneten Affekten uumlberschneiden sich bei beiden Autoren bei Psalm 6 (timor) so-wie Psalm 26 (Gerard spes Hugo bona praesumptio)46 Besonders bei der Einuumlbung von timor und der Erwaumlhnung des Richtspruches in Kombination mit den Buszligpsalmen 6 und 142 stehen unmittelbar zeitgenoumlssische Darstellungen des Weltgerichts bzw der Auferstehung der Toten vor Augen wie man sie in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern in Kombination mit eben jenem Buszligpsalm 6 aber auch in der altniederlaumlndischen Malerei findet47 Psalmen koumlnnen zu den

45 bdquoUnde breviter ut modum habeas secundum predicta si te in prima examinacione discusseris et inveneris peccata tua multiplicata super numerum arene maris forma in te affectum humilitatis vel meroris et assume personam servi qui dominum suum offendit Et ex tali affectu forma oracionem dicens Secundum multitudinem miseracionum tuarum dele iniquitatem meam [hellip] Si te in secundo ascensu in timore per meditaciones mortis vel iudicii vel inferni exercueris assume affectum timoris et assume personam rei astantis coram iudice cum timore et tremore quasi iam convictus contra quem de iure proferenda est sentencia et dic Noli me condemnare Non intres in iudicium cum servo tuo Vel Domine ne in furore etc [hellip] Et sic de aliis affectibus quos ex istis formare poteris et assumere debes sicut exercicium tuum exigit et meditacio tua requiritldquo De Spir Asc Kap 4646 Zu den Psalmen die Hugo als Beispiele benutzt siehe oben S 273f47 Vgl dazu J Scheel Sich selbst sehen ndash der Betrachter in und vor dem Bild Spiegel- und Stifterfiguren in Texten und Bildern des 15 Jahrhunderts in E KochH Schlie (Hgg) Orte der Imagination ndash Raumlume des Affekts Die mediale Formierung des Sakralen Muumlnchen 2015

Meditation und Gebet 283

bdquototal memoriertenldquo48 Texten des Mittelalters gezaumlhlt werden weswegen sie sich beiden Autoren als Beispiele anbieten Sie benutzen die Buszligpsalmen (hier die Psalmen 6 31 [Hugo] 50 142) die im Stundenbuch fest als eigenstaumlndiger Gebetstext verankert sind und ebenso in der To-tenvigil ihren Platz haben ndash zusammen mit Gerards weiteren Beispielpsalmen 40 und 4149 Das Stundenbuch ist ein Medium in dem Psalmwort und bildliche Darstellung auf die Theorie des stufenweisen emotionalen Gebets und der Selbsttransformation treffen koumlnnen

Die Miniaturen die der Totenvigil bspw in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern des 15 Jahr-hunderts voranstehen zeigen oftmals eine ganzseitige Totenmesse sowie in der M-Initiale der gegenuumlberliegenden Textzeile50 zwei betende einander zugewandte Seelen im Fegefeuer (vgl

48 Zu diesen Texten gehoumlrten bspw das Pater Noster oder Ave Maria waumlhrend denen gleichzeitig auch uumlber bestimmte Aspekte zB der Passion meditiert werden konnte und sollte vgl P Saenger Books of Hours and the Reading Habits of the Later Middle Ages in R ChartierA Boureau (Hgg) The Culture of Print Power and the Uses of Print in Early Modern Europe Cambridge 1989 S 141ndash173 hier S 154 Bei den Psalmen genuumlgt wie man hier sieht allein die Nennung des Incipit oder bestimmter Verse die dem Leser so vertraut sind dass sie den gesamten Psalmentext mit assoziieren49 Zwar ist der Einsatz von Psalmen in mittelalterlichen Stundenbuumlchern mitunter verschieden doch kann man beispielhaft an einer Gruppe von Stundenbuumlchern in niederlaumlndischer Sprache diese Psalmen finden Diese Stundenbuumlcher sind mit der Uumlbersetzung des Gruumlndungsvaters des Devotio Moderna Geert Grote versehen oder stehen mit ihr in Verbindung N van Wijk Het getijdenboek van Geert Groote Naar het Haagse handschr 133 E 21 Leiden 1940 diese hauptsaumlchlich anhand einer einzigen Handschrift erarbeitete Edition wird hier in Ermangelung einer kritischen Edition genutzt Das getijdenboek enthaumllt einen Kalender des Bistums Utrecht fuumlnf Offizien (Marienoffizium Heiliggeistoffizium das lange und kurze Heiligkreuzoffizium Stunden der ewigen Weisheit) Buszligpsalmen Litanei und Totenvigil 50 Es ist der Beginn des invitatorium bdquoMi hebben ombeuanghen die suchten des dodes die pijnlike seer der hellen heben mi ombeuanghenldquo Wijk (cf Anm 49) S 156 ndash bdquoMich haben umfangen die Seufzer des Todes die qualvollen Schmerzen der Houmllle haben mich umfangenldquo

Abb 2 Meister des Hugo Jansz van Woerden Totenmesse und Seelen im Fegefeuer ca 1475ndash1500 Den Haag Koninklijke Bibliotheek Ms 76 G 13 fol 85vndash86r

284 Anselm Rau und Johanna Scheel

Abb 2)51 Das Fegefeuer bespricht Gerard eher marginal in seinem Traktat Fuumlr die affektive Meditation des eigenen Todes liefert er allerdings einerseits eine Anleitung fuumlr den Betenden die Affekte nun bereits zu erwecken die vor waumlhrend und nach dem eigentlichen Todeszeit-punkt entstuumlnden ndash und sich mit ihnen im Gebet selbst zu formen52 Andererseits raumlt er dem Glaumlubigen sich zum Zwecke des ex affectu-Gebets einen Koumlrper in seinen Verwesungsstadien vor Augen zu halten53 und was mit ihm selbst bei der Beerdigung passiere54 Das Fegefeuer ist ein im Sinne mittelalterlicher Moraltheologie produktiver Gebetsinhalt da der Glaumlubige im steten Oszillieren zwischen spes und timor besonders gut zur caritas aufzusteigen vermag Diesen Tenor findet man ebenfalls bei Geert Grote in seinem getijdenboek bei der Vorrede der Toten-vigil Hier raumlt er dem betenden Leser zum Wechsel aus Psalmen und Antiphonen in Hinblick auf die Erregung von Furcht und Angst Liebe und Hoffnung in der Ausrichtung auf Gut und Boumlse und mit Blick auf das Fegefeuer bdquoHier beginnt die Vigil in duytsche die so organisiert ist denjenigen zu helfen die von hinnen gefahren sind in der Freundschaft Gottes in das Fegefeuer Und ebenso dazu [gedacht ist] den Lebenden zu helfen die sie lesen damit ihnen das Wissen um die kommenden Dinge eingedruumlckt werde auf dass sie glauben hoffen und lieben an die Dinge in Herrlichkeit Und [sie] sich dafuumlr bereit machen und sich waumlhrenddessen die ganze Zeit fuumlrchten dass ihre Tage schnell vergehen Auf dass sie sich fuumlrchten aumlngstigen grauen und beben vor dem mannigfaltigen Leid der Angst und dem Elend die den Boumlsen ereilen werden und sie so darum ihr Leben lang ndash das hier aumluszligerst kurz ist ndash darauf hinarbeiten diesem Leid zu entgehen und [die Vigil ist auch hilfreich] weil ein Mensch diese beiden Dinge ndash Gutes in Liebe und Boumlses in Angst ndash besser ansehen (aensien) kann und erkennen und sich uumlberdenken damit er besser bitten kann und [es] mehr begehrt (begheert) und mehr liebt (myn[n]t) fuumlr diejenigen zu bitten die im Fegefeuer sind fuumlr ihre baldige Erloumlsung und dafuumlr Gottes Ehre zu vermehren [hellip] So hilft das Bitten der Lebenden den Toten und das Bitten fuumlr die Toten hilft den Lebendigen sich auf den Tod vorzubereiten [hellip] Und dazu ist das Singen dieser Psalmen heranzuziehen [und zwar] immer nach den Bedeutungen der Antiphone und den Sinn der

51 Die Darstellung von Seelen im Fegefeuer taucht als Buchillumination ab dem 13 Jahrhundert bereits vereinzelt auf und diente in Kombination mit Jenseitsvisionen Bibeltexten und moralisierenden Inhalten vor allem dem Gedenken an bereits Verstorbene wie auch zur persoumlnlichen Mediation des Lesers Oft findet eine narrative Einbindung statt Vgl dazu M Borowska Das Entfachen des Fegefeuers in der europaumlischen Miniatur des 13 Jahrhunderts in Umeni 57 (2009) S 310ndash325 Zum ikonografischen Kontext der hier gewaumlhlten Illumination vgl die Untersuchung von I M Veldman Purgatory in the Low Lands in B BukovinskaacuteL Slaviacuteček (Hgg) Pictura verba cupit Essays for Lubomiacuter Konečnyacute Prag 2006 S 169ndash180 va 170ndash17252 De Spir Asc Kap 19 In den folgenden Kapiteln stellt Gerard dem Leser dasselbe Prinzip an den Themen des Juumlngsten Gerichts der Houmllle und des Himmelreiches vor 53 bdquoItem interdum propone oculis tuis ymaginem alicuius hominis morientis et diligenter respice formam modum et ordinem quibus ad mortem deveniturldquo De Spir Asc Kap 1954 Weitere beliebte Illustrationen zum Totenoffizium im Stundenbuch des 15 Jahrhundert sind ebenfalls die Darstellung eines Toten um dessen Seele Engel und Teufel kaumlmpfen Schaumldeldarstellungen Seelen in Abrahams Schoszlig Himmel und Houmllle der Tod als Angreifer die Auferweckung des Lazarus sowie die Psychostasis mit Michael als Seelenwaumlger Diese Motive werden eher als ganzseitige Miniaturen dargestellt und bekommen zum Teil in der begleitenden Initiale jene zwei betenden Seelen im Fegefeuer hinzugefuumlgt

Meditation und Gebet 285

Antiphone soll man dazu in den Psalmen bedenken in allen Stundengebeten Dabei ist gut dass man sowohl vor als auch danach die Antiphonen spreche und schreibeldquo55

Mit der sich gegenseitig amplifizierenden Kombination von selbstreflexiven Affekt er-regendem und ausdruumlckendem Psalmentext mit der bildlichen Darstellung von Beerdigung mit Fegefeuer und mit derartigen Aufstiegsmodellen vertraut kann der betende Leser hier den eigenen Tod und die Bestrafung seiner Seele als Konsequenz der eigenen irdischen Suumlndhaftig-keit produktiv in seine Bemuumlhungen des geistigen Aufstiegs und seine Selbsttransformation kanalisieren

Imagination und Illumination

Das Gebetsleben des mittelalterlichen Glaumlubigen ist gekennzeichnet durch seine Affektivitaumlt Die affectus werden mit Gebetstexten und Psalmenreihen sowie mithilfe bildlicher Darstel-lungen sorgfaumlltig kultiviert und systematisch eingeuumlbt Dabei sind dies altbekannte ndash weil biblische ndash Text- und Bildinhalte deren affizierendes Potential auf neue Arten ausgeschoumlpft wird Texte und physische wie gerade geistige Bilder erinnern den Betenden nicht nur unver-bindlich an bereits bekannte Ereignisse Situationen und Figuren sondern lassen ihn sich mit diesen durch affektive und reflexive Meditationspraktiken identifizieren Fremde Worte und Emotionen werden darin zu den eigenen Vorbilder aus dem Kreis der Heiligen werden so zu Imaginationsfiguren das Selbst wird auf Gott ausgerichtet und in all seinen Aspekten gezielt emotional reflektiert So unterschiedlich die formale Herangehensweise dieser Praktiken bei den drei untersuchten Autoren Hugo von St Viktor Bonaventura und Gerard Zerbolt van Zutphen zu sein scheint vermitteln sie doch die selbe zentrale Maszliggabe oratio est affectus ndash bdquoGebet ist Affektldquo

Uumlbersetzung Hugo von St Viktor De meditando PL 176 993ndash99

Die Meditation ist die haumlufige Erwaumlgung (cogitatio) der Ursache (causa) und des inneren Be-weggrundes (ratio) eines einzelnen zu untersuchenden Gegenstandes (res) was seine Art sei (modus) was die Ursache und was der Beweggrund

Es gibt drei Arten (genus) der Meditation eine in Bezug auf die Schoumlpfung (in creaturis) eine hinsichtlich der Schrift (in scripturis) und eine hinsichtlich der Sitten (in moribus) Die erste erwaumlchst aus der Bewunderung (admiratio) die zweite aus der Lektuumlre (lectio) die dritte aus der umsichtigen Beobachtung (circumspectio)

Zuerst bringt die admiratio die Frage (quaestio) hervor die Frage das Erforschen (investi-gatio) und das Erforschen die Entdeckung (inventio) Dies ist damit die Bewunderung der Ord-

55 Fuumlr den altniederlaumlndischen Text vgl Wijk (cf Anm 49) S 155 Zum Antiphon das der Vigil vorangestellt ist vgl Anm 50

286 Anselm Rau und Johanna Scheel

nung (dispositio) die Frage nach der Ursache und die Entdeckung des inneren Beweggrundes Die Bewunderung beruht auf der Betrachtung der Ordnung im Himmel das ist die Gleich-artigkeit von allem und der Houmlhen und der Tiefen (alta et depressa) auf der Erde Die Frage betrifft die Ursache (causa) des irdischen Lebens auf Erden und des himmlischen Lebens im Himmel Das Erforschen fragt nach dem inneren Beweggrund dass so wie die Erde auch das irdische Leben beschaffen ist und dass der Beschaffenheit des Himmels selbst auch das himm-lische Leben gleicht

Bei der Lektuumlre (lectio) aber erfolgt die Betrachtung (considerare) folgendermaszligenAls erstes dient die lectio dazu durch die Bereitstellung des Stoffes (materia) die Wahr-

heit zu erkennen (cognoscere) die meditatio fuumlgt ihn zusammen (coaptare) die oratio hebt ihn empor (sublevare) die operatio (Ausfuumlhrung) wendet ihn an (componere) und die contemplatio frohlockt in ihm selbst (exsultare)

Es ist durch die Meditation der Schriften zu erkennen auf welche Weise es sich gehoumlrt etwas zu wissen Als Beispiel steht geschrieben Declina a malo et fac bonum (Vg Ps 3627 ndash Wende dich ab von dem Boumlsen und tue Gutes EUuml Ps 3727) Deshalb wurde zuvor gesagt die meditatio wendet sich der lectio zu um sich vom Boumlsen abzuwenden und darauf Gutes zu tun Der Grund (causa) hierfuumlr ist wenn sich nicht zuerst das Boumlse zuruumlckzoumlge wuumlrde das Gute nicht herantreten koumlnnen Der innere Beweggrund (ratio) aber ist so wie zuerst die Sproumlsslinge des Boumlsen mit ihrer Wurzel ausgerissen werden muumlssen so muss danach das Gute (ein-)ge-pflanzt werden Warum wurde daher gesagt Wende dich ab von dem Boumlsen Weil es einem auf dem Weg begegnet Man wendet sich deshalb ab weil wir es wo auch immer nicht vermoumlgen durch Staumlrke zu widerstehen wir entkommen ihm lediglich wenn wir uns mit Klugheit und Vernunft (consilio et ratio) von ihm abwenden Auch muumlssen wir uns vom Boumlsen abwenden um dem Naumlhrstoff (materia) zur Suumlnde aus dem Weg zu gehen ndash beispielsweise ist von Hochmut (superbia) Begehrlichkeit (incontinentia) Begierde (concupiscentia) Neid (invidia) und Streit (contentio) abzulassen um sich vom Reichtum (abundantia) der Schoumlnheit (species) des Flei-sches und der Besitzgier (amor possessiones) abzuwenden Dies bedeutet bdquosich abzuwendenldquo Desgleichen wenn auf diese Weise von allem Boumlsen sich abzuwenden angeraten ist so wird die Verrichtung alles Guten verlangt Und so ist also der ebenso schuldig bzw angeklagt der allein nur alles Boumlse meidet wie derjenige der nicht zugleich all das Gute tut Aber wenn dies so ist wer ist dann kein Angeklagter (reus) Folglich wird uns anbefohlen uns von allem Boumlsen loszusagen Andererseits kommt das Gute zum Einen aus dem was sich gehoumlrt (necessitas) und zum anderen aus dem Willen (voluntas) Es gehoumlren sich die Dinge einer Vorschrift (praecep-tum) und die eines Geluumlbdes (votum) alles uumlbrige wird erfuumlllt wenn eine Sache [also Schuld] mehr als nur vergolten wird (supererogare) und einem nichts mehr anlastet

Daher zielt die Meditation bei der lectio darauf ab zu ergruumlnden auf welche Weise et-was das erkannt wird gut ist warum und wie es zu erreichen ist weil es ndash ist es [ersteinmal] erkannt ndash auch zu verrichten ist Die Meditation ist das Entdeckungsvermoumlgen der vorgefassten Absicht (excogitatio consilii) zu erwaumlgen auf welche Weise das Gute das erkannt wurde erfuumlllt wird denn das Erkannte ist unbrauchbar wird es nicht vollbracht

Deshalb ist die Meditation bei der lectio eine dreifache Betrachtung nach der historia der allegoria und der tropologia Gemaumlszlig der historia erfolgt die Meditation wenn wir nach dem

Meditation und Gebet 287

vollendeten inneren Beweggrund der Dinge fragen die geschehen sind und diesen hinsichtlich seiner uumlbereinstimmenden Art und Weise (modus) bezuumlglich der Zeiten (tempora) und Orte (loci) bestaunen (admirare) Bei dieser Betrachtung der goumlttlichen Ratschluumlsse (iudicium) laumlsst man nicht davon ab daruumlber nachzudenken dass diese richtigen und gerechten (rectus et iustus) Entscheidungen zu keiner Zeit den Beistand [Gottes fuumlr die Menschen] entzogen (deesse) und durch sie das geschah was sich gehoumlrte und vergolten wurde was gerecht war (iustum fuit)

Die Meditation hinsichtlich der allegoria beschaumlftigt sich mit der Gliederung (dispositio) der vorangegangenen und zukuumlnftigen Dinge und so wie fuumlr den Verstand (intelligentia) an-gemessen richtet sie dabei ihre Aufmerksamkeit auf deren uumlbereinstimmende Bedeutung in ihrer bewundernswerten Vernunftmaumlszligigkeit (ratio) und Vorhersehung (providentia) und auf ihre fuumlr den Glauben (fides) geschaffene Gestalt (forma)

Bezuumlglich der tropologia beschaumlftigt sich die Meditation damit welche Frucht die Worte der lectio hervorbringen und erforscht (exquirere) was diese wenn sie ausgefuumlhrt werden [im Sinne des eigentlichen Aussprechens der Worte aber auch die Ausfuumlhrung ihres Inhaltes] ein-pflanzen (insinuere) und dabei zugleich lehren was zu vermeiden ist Sie stellt vor Augen was durch die lectio der Schrift zur Unterweisung (eruditio) zur Ermahnung (exhortatio) zur Troumls-tung (consolatio) und zum Schrecken (terror) dient Hierdurch erleuchtet die tropologia dahin-gehend was zum Verstehen der Tugenden (virtus) fuumlhrt sie naumlhrt (nutrire) den Affekt (affectio) und lehrt (edocere) die Lebensfuumlhrung auf dem Pfad der Tugenden

Die Meditation der Sitten (mos) erfolgt gemaumlszlig der Affekte (affectus) der Erwaumlgungen (cogi-tationes) und der Werke (opera)

Hinsichtlich der Affekte ist zu betrachten wie sie recht und aufrichtig (rectus et sincerus) zu sein vermoumlgen damit ist gemeint auf das und zu was hin sie geschuldet sein muumlssen und in welcher Weise sie zu sein haben Zu differenzieren ist naumlmlich dass das was sich nicht gehoumlrt (non oportet) boumlse ist und zugleich das was sich gehoumlrt zu lieben ist ndash das zu lieben das sich gleichwie nicht gehoumlrt ist boumlse Daher handelt es sich um einen guten Affekt wenn er auf das ausgerichtet ist auf das er verpflichtet ist und in der Weise wie es sich gehoumlrt

Amnon liebte (diligere) seine Schwester und dies war der Affekt zu dem er bestimmt war doch weil er Boumlses begehrte war es nicht der Affekt wie er ihn schuldete (vgl 2 Sam 13) So kann der Affekt auf das gerichtet sein zu was er gehoumlrt dies aber nicht in der [angemessenen] Art und Weise Niemals aber kann der Affekt so sein wie er zu sein hat wenn er nicht auf das ihm Zugehoumlrige ausgerichtet ist Auf das ausgerichtet zu was er gehoumlrt bedeutet dass er recht ist und in der Art und Weise wie es sich gehoumlrt und dementsprechend ist er rein Daher werden die Affekte in den Erwaumlgungen betrachtet damit sie rein (mundus) und geordnet (ordi-natus) sind Rein sind sie wenn weder etwas Boumlses von den Affekten hervorgebracht wird noch das Boumlse die Affekte hervorbringt Dass sie geordnet sind meint wenn sie vernuumlnftigerweise aufgrund des ihnen eigenen Anlasses (suo tempore) aufkommen (advenire) Es ist nicht ohne Schaden (vitium) [naumlmlich im Sinne des korrekten Vorgehens nicht ohne Formfehler] bereits das Gute zu einem diesem nicht angemessenen Zeitpunkt zu erwaumlgen wie etwa an die lectio waumlhrend der oratio zu denken oder auch an die oratio waumlhrend der lectio

Bei den Werken ist als erstes zu betrachten was zum Beispiel durch die gute Absicht (bona intentio) geschieht Um eine gute Absicht handelt es sich wenn sie einfach und aufrichtig ist

288 Anselm Rau und Johanna Scheel

(simplex et recta) Die bona intentio ist arglos ohne Hinterlist (malitia) und aufrichtig ohne Ignoranz (ignorantia) Die naumlmlich ohne Hinterlist ist besitzt den Eifer (zelus) Ist sie aber aus der [bewussten] Unkenntnis gegenuumlber dem Wissen (scientia) (Roumlm 102) geboren verfuumlgt sie nicht uumlber den [wahren] Eifer Daher ist es notwendig dass die Absicht aufrichtig ist in der Bescheidenheit (discretio) und arglos im Wohlwollen (benignitas) Bei den Werken ist zu be-trachten dass sie aus der aufkommenden guten Absicht heraus mit beharrlicher Leidenschaft (fervor) schlieszliglich ans Ziel gefuumlhrt werden damit nicht die Beharrlichkeit (perseverantia) ge-laumlhmt (torpere) und die Liebe (amor) nicht lau wird (tepescare)

Auf gleiche Weise erfolgt die meditatio der Sitten in einer zweifachen Betrachtung naumlmlich einer inneren und einer aumluszligeren Die aumluszligere blickt auf das Ansehen (fama) die innere auf das Gewissen (conscientia) Die aumluszligere Betrachtung erfolgt gemaumlszlig dem was ziert (decere) und was nuumltzt (expedire) was als Beispiel (exemplum) dient und was den Lohn (meritum) hervorbringt ndash uns zum Lohn und den Naumlchsten als Beispiel Die innere Betrachtung dagegen schaut auf das Gewissen damit es rein (mundus) sei ohne Anklage (accusatio) zu erleiden (pati) ob nun durch die Laumlhmung (torpor) des Guten oder die Hartnaumlckigkeit (praesumptio) des Boumlsen Rein ist aber jenes Gewissen das weder durch das Vergangene zu recht angeklagt (accusare) noch durch das Gegenwaumlrtige unrechtmaumlszligig erfreut (delectare) wird

Daher laumlsst die meditatio der Sitten ihre Betrachtung nicht ruhen damit sie jegliche Re-gungen (motus) die sich im Herzen erheben bemerkt und erwaumlgt woher sie kommen und worauf sie abzielen (tendere) Das heiszligt woher sie kommen gemaumlszlig ihrem Ursprung und wo-nach sie streben hinsichtlich ihres Ziels Alles ist naumlmlich eine Bewegung aus irgendetwas und auf irgendetwas Die Bewegungen des Herzens sind manchmal offenkundigen Ursprungs manchmal entspringen sie aber auch Verborgenem Bei denen der Ursprung offenkundig ist ist er bisweilen durch das Gute bisweilen aufgrund des Boumlsen erwiesen Was offenkundig gut ist kommt von Gott was aber deutlich boumlse erscheint entspringt entweder dem Teufel oder dem Fleisch Dies sind naumlmlich die drei Urheber (auctores) aller Vorstellungen (suggestio) und aller Eingebungen (aspiratio) die unsichtbar an das Herz herantreten und aus jenen drei hervor-gehen Entspringen die Bewegungen des Herzens daher dem Verborgenen koumlnnen sie manch-mal aus dem Guten und dem Geheimen hervorgehen und sind manchmal boumlse und zweifelhaft (dubius) Die dem Guten entspringen kommen von Gott die aber dem Boumlsen entstammen sind entweder des Teufels oder des Fleisches

Die Bewegungen die folglich offenkundig sind sei es im Guten oder Boumlsen werden auf den ersten Blick durch ihren Ursprung angezeigt Jene aber die zweifelhaft bleiben hinsichtlich ih-res Grundes sind am Ende zu uumlberpruumlfen (probare) Ihr Ergebnis [oder Ausgang] (exitus) zeigt naumlmlich deutlich was vom Ursprung her verborgen war und deswegen muss derjenige der es nicht vermochte den Ausgangspunkt seiner Herzensbewegungen zu beurteilen (iudicare) das Ziel und die Ausfuumlhrung [bzw Vollendung] (finis et consummatio) untersuchen (investigare) Die Bewegungen naumlmlich die zweifelhaft und ungewiss sind sind vom verborgenen Guten oder Boumlsen Wie gesagt wurde haben die schlechten Regungen ihren Ursprung entweder beim Teufel oder im Fleisch Diese aber sind beide boumlse sie unterscheiden sich nicht indem oder durch was sie boumlse sind doch unterscheiden sie sich dahingehend dass die Regungen des Her-zens die dem Fleisch entspringen haumlufig aus einer Notwendigkeit (necessitas) heranwachsen

Meditation und Gebet 289

die aber die tatsaumlchlich vom Teufel kommen nehmen noch oumlfter wider der Vernunft (ratio) ihren Anfang (oriri) Was naumlmlich vom Teufel eingegeben wird (suggerere) ist in der Tat dem Menschen fremd und wird deswegen haumlufig von der menschlichen Vernunft abgelehnt weil er beispielsweise unlaumlngst gesaumlttigt Hunger leidet (pati) kurz zuvor noch trunken (inebriatus) vor Durst (sitis) gluumlht (aestuare) oder wenn er nach einem ausgiebigen Schlaf (dormitio) sich erhebend vom Traum (somnus) bedruumlckt (praegravare) wird

Hieraus also werden die Werke des Teufels differenziert betrachtet weil sie ja an den Men-schen von auszligen herangetragen werden und der menschlichen Vernunft fremd sind Bei den Werken des Fleisches und ihren Eingebungen liegt der Grund des Oumlfteren in einer vorangegan-genen Notwendigkeit Aber weil sie Ziel und Maszlig (modus et mensura) uumlbersteigen wachsen sie zum Uumlberfluss (superfluitas) heran Dies ist als Beispiel eben gerade dann der Fall wenn nach der Einnahme einer Mahlzeit der Hunger hemmungslos (immoderatus) begehrt (appetere) und nach Enthaltsamkeit (abstinentia) das Maszlig (mensura) bei der Aufnahme von Speise (edulium) nicht gehalten wird

Daher wird die meditatio der Sitten aufgrund eines dreifachen Urteils betrieben Das erste urteilt zwischen Tag und Nacht das zweite zwischen Tag und Tag und das dritte schlieszliglich untersucht den gesamten Tag (vgl Roumlm 145) Zwischen Nacht und Tag zu urteilen meint das Boumlse vom Guten zu (unter-)scheiden Die Beurteilung zwischen Tag und Tag bedeutet eine Un-terscheidung zwischen etwas Gutem und etwas Besserem vorzunehmen Uumlber den gesamten Tag zu richten ist schlieszliglich das einzelne Gute fuumlr den eigenen Lohn zu ermessen (aestimare)

So hat die meditatio der Sitten bei jeglichem Umgang (conversatio) das Ziel und die Rich-tung (directio) im Blick Das Ziel ist wohin man strebt die Richtung wodurch man leichter ans Ziel gelangt Jeder naumlmlich der zu irgend etwas strebt so wie etwas seine Bahn (cursus) lenkt und unaufhoumlrlich weiterzieht kommt schneller ans Ziel Es gibt daher Gutes durch das man stark bewegt ist (moveri) zugleich gibt es aber wenig her durch das man vorankommt (pro-moveri) Anderes dagegen fuumlhrt mit etwas Muumlhe (labor) zu groszligem Gewinn (fructus) Und diese sind folglich zu unterscheiden und das Bessere das mehr nuumltzt auszuwaumlhlen Welches auch immer mehr nuumltzt ist besser und es gehoumlrt sich jedes Werk auf seinen Ertrag hin zu beurteilen Indem viele diese Unterscheidung (discretio) nicht einhielten haben sie sich zwar aufs aumluszligerste bemuumlht sind jedoch nur wenig vorangekommen weil sie das Auge aumluszligerlich so sehr auf die Gestalt (species) der Werke richteten und nicht innerlich auf den Gewinn durch die Tugenden blickten Sie ergoumltzen sich daran groszlige Taten zu verrichten anstatt dass sie das Nuumltz-liche (utilia) uumlben (exercere) um sich selbst zu bessern (emendari) Dabei schaumltzten (diligere) sie vielmehr das durch das sie den Anschein erwecken (videri) konnten [so zu sein]

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zunaumlchst das was man schuldet entweder auf-grund einer Vorschrift (praeceptum) oder eines Geluumlbdes (votum) Diesbezuumlglich ist die erste Tat der meditatio zu ermitteln ist sie oder es erfuumlllt fuumlhrt es zum Lohn und wenn nicht bringt dies den Anklagezustand (reatus) hervor Es sind also zuerst die Dinge zu tun die nicht ohne Schuld (culpa) weggelassen werden koumlnnen Danach ist die meditatio alsdann so zu verrichten dass wenn etwas durch freiwillige Uumlbung (exercitatio) noch hinzugefuumlgt wird die Pflicht-erfuumlllung [eigtl Schuld] (debitum) nicht verhindert wird (impedire) Die einen die das nicht zu leisten vermoumlgen was sie schulden wollen was sie nicht muumlssen Die anderen wenn sie im-

290 Anselm Rau und Johanna Scheel

stande sind zu tun was sie schulden bringen freiwillig Hindernisse (impedimentum) mit sich indem sie etwas wollen was sie nicht muumlssen

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zwei Dinge des Boumlsen vor denen man bei der Ver-richtung von Gutem besonders auf der Hut sein muss die Betruumlbnis [Niedergeschlagenheit] (afflictio) und die Besessenheit [Vereinnahmung] (occupatio) Die afflictio fuumlhrt zur Bitterkeit (amaritudo) die occupatio zur Zerstreuung (dissipatio) Mit der afflictio verbittert die Suumlszlige (dulcedo) des Geistes und mit der occupatio wird die Ruhe (tranquillitas) zerstoumlrt (dissipare) Es herrscht Betruumlbnis wenn man fuumlr jene Dinge die man nicht vermag aufgrund der eigenen Ungeduld (impatientia) ungluumlcklich wird (urere) Dagegen handelt es sich um Besessenheit (occupatio) wenn man in seinem Handeln (nach seinem Vermoumlgen) aufgrund der impatientia gequaumllt wird (agitare) Folglich darf die Seele (animus) nicht aufgrund des Boumlsen verbittert wer-den sie muss ihr Unvermoumlgen (impossibilitas) geduldig (patienter) aushalten Genauso darf sie aber auch nicht vom Boumlsen eingenommen werden und darf ihr Vermoumlgen (possibilitas) nicht uumlber ihr eigenes Maszlig hinaus ausdehnen (extendere) Daher muss die meditatio der Sitten in einer weiteren Betrachtung der Lebensfuumlhrung zu einem Urteil kommen und dabei billigen dass es weder gut ist die Dinge die man nicht vermag ungeduldig (impatienter) zu verlangen (appetere) noch die welche man erreicht toumlricht (insipienter) zu verschmaumlhen (fastidire) Wer naumlmlich immer das begehrt was er nicht vermag und das was er [jedoch] vermag verabscheut wird sich weder am Gegenwaumlrtigen erfreuen (frui) noch am Zukuumlnftigen saumlttigen (satiare) Er verlaumlsst naumlmlich das Gute unentwickelt vor der Vollendung und eignet sich das gerade erst Be-gonnene vorzeitig an Deswegen ist es gut aufgrund des eigenen Guten zufrieden zu sein und das gegenwaumlrtige Gute durch hinzukommendes Gutes zu vermehren und es nicht aufgrund des Zukuumlnftigen wegzuwerfen (abicere) Der Austausch (commutatio) des Guten ist naumlmlich ein Leichtes (levitas) seine Uumlbung (exercitatio) aber die Tugend Oft eilen sie auf unterschiedlichen Wegen die einen die ein fruumlheres durch ein neues Gutes fallen lassen (abicere) und die ande-ren die [sich] vom Untersten zum Houmlchsten emporschwingen (conscendere) Wer naumlmlich nach Veraumlnderung (mutatio) fragt ist uumlberdruumlssig (fastidiosus) so wie der der nach dem Voran-schreiten (profectus) strebt eifrig bemuumlht ist (studiosus) Am aufrechtesten beschreitet daher derjenige den Weg der dabei so auf das Bessere brennt (fervere) dass er des Guten nicht uumlber-druumlssig wird sondern es vorerst empor haumllt solange bis er es spaumlter zu der ihm angemessenen Zeit sich aneignet (apprehendere)

Abbildungsnachweis

Einband Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders

Farbtafeln 1 (zu Beitrag Rosenwein) Coll BNU de Strasbourg ndash 2 (zu Beitrag Ferguson) Ar-chiv der Verf ndash 3 (zu Beitrag Herding) Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preu-szligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders ndash 4 (zu Beitrag Droste) R Kahsnitz Die Groszligen Schnitzaltaumlre Spaumltgotik in Suumlddeutschland Oumlsterreich Suumldtirol Muumlnchen 2005 Taf 53 ndash 5 6 (zu Beitrag Schedl) 75 Jahre 1933ndash2008 Kirche Mutter vom Guten Rat Festschrift und Chro-nik FrankfurtM 2008 S 92 Dr Bernd Konrad Radolfzell ndash 7 8 9 (zu Beitrag Zaumlh) Archiv des Autors ndash 10 (zu Beitrag Niehr) Universitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Media-thek 11 12 (zu Beitrag Muumlller) Autorin ndash 13 14 15 (zu Beitrag Schlie) Su concessione del Ministero dei beni e delle attivitagrave culturali e del turismo ndash Galleria Nazionale delle Marche ndash Urbino Archivio fotografico Archiv der Verf F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 ndash 16 17 (zu Beitrag Stoichita) D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 ndash 18 19 20 (zu Beitrag Schmidt) London British Museum C Geissmar-BrandiE Louis (Hgg) Glaube Hoffnung Liebe Tod Wien 1995 S 149 Archiv Autor ndash 21 (zu Beitrag Jung) Autorin

Textabbildungen Droste 1 3 4 Autorin 2 E Oellermann Der Hochaltar in St Martin zu Lorch am Rhein in H KrohmE Oellermann (Hrsg) Fluumlgelaltaumlre des spaumlten Mittelalters Ber-lin 1992 Abb 2 ndash Ferguson 1ndash3 Archiv der Verf ndash Frese 1 2 3 5 M BrandtA Eggebrecht (Hgg) Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen Katalog der Ausstellung Hil-desheim 1993 Bd 1 S 386f Abb 197 u 198 Bd 2 S 583 KatNr VIIIndash32 S 604 KatNr IXndash8 4 G LutzA Weyer (Hgg) 1000 Jahre St Michael in Hildesheim Kirche ndash Kloster ndash Stifter Peterberg 2012 S 148 Abb 118 ndash Gruumlndler 1ndash4 L DomenicoA Nova (Hg) Leonardo da Vincirsquos Anatomical World Language Context and Disegno Akten der Internationalen Tagung Florenz 30ndash31 Mai 2008 Venedig 2011 S 237 S 236 S 241 S 186 5 6 Le journal de Jacopo da Pontormo traduit par Jean-Claude Lebensztejn avec la collaboration drsquoAlessandro Parronchi Paris 1992 S 46 S 50 ndash Herding 1 2 3 4 5 6 7 Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders 8 Max J Friedlaumlnder Early Netherlandish Painting 14 vols Leiden und Bruumlssel 1967ndash1974 vol II 1967 pl 10 Nr 3i 9 Wolfenbuumlttel Herzog-August-Bibliothek ndash Jung 1 2 3 4 5 Autorin ndash Kessler 1 6 7 Autor 2 3 Museo delle Terme Rom 4 British Museum London 5 Alexei Lidov ndash Maxwell 1 2 AHN 3 Autor 4 Sancho el Mayor y sus herederos ed I Bango Torviso et al 2006 cat 25 5 BNE ndash Muumlller 1 Italian painting c 1330ndash1550 I National Gallery in Prague II Collections in the Czech Repub-lic Illustrated summary catalogue Prag 2008 2 Collection of The John and Mable Ringling Museum of Art the State Art Museum of Florida Florida State University 3 2014 copy Archivio Fotografico ndash Fondazione Musei Civici di Venezia ndash Niehr 1 A Schuttwolf (Hg) Ausst-Kat Jahreszeiten der Gefuumlhle Das Gothaer Liebespaar und die Minne im Spaumltmittelalter Ostfil-

400 Abbildungsnachweis

dern-Ruit 1998 2 D de Vos Hans Memling Das Gesamtwerk AntwerpenStuttgart 1994 S 278ndash283 TH Borchert Hans Memling Portraits Stuttgart 2005 S 173f Nr 23 3 Univer-sitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Mediathek ndash Pfisterer 1 E Steinmann ldquoLa mano di Michelangeloldquo in Studien aus Kunst und Geschichte Friedrich Schneider zum siebzigsten Geburtstag Freiburg iBr 1906 unnum Taf 2 R Bernini ua La mano e il volto di Antonio Canova PossagnoQuinto di Treviso 2008 S 197 3 U Klein Zur Forschungsgeschichte des Duumlrer-Hauses in GU GroszligmannF Sonnenberger (Hgg) Das Duumlrer-Haus Neue Ergebnisse der Forschung Nuumlrnberg 2007 S 105 nach Carl A Heideloff Die Ornamentik des Mittelalters Bd 3 Nuumlrnberg 1847 S 42 4 WH Vroon Het wonderlid van Jan de Witt en andere vaderland-se relieken Nijmegen 1997 S 68 5 Autor nach GF Tomasini Petrarca Redivivus Padua sup21650 S 128 6 A Picturesque Tour Through Holland Brabant and Part of France made in the autum of 1789 by Samuel Ireland London sup21796 Bd 2 Taf nach S 13 ndash Pinkus 1 2 3 4 5 6 Autor 7 8 Institut fuumlr Kunstgeschichte Universitaumlt Wien Fotothek ndash RauScheel 1 M Gregori Uf-fizien und Palazzo Pitti Muumlnchen 1994 S 31 2 Den Haag Koninklijke Bibliotheek ndash Raeck 1 2 5 7 Fotothek des Instituts fuumlr Archaumlologische Wissenschaften AbtI Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main 3 Zeichnerische Rekonstruktion M Junghans nach H-V Herrmann Olympia ndash Heiligtum und Wettkampfstaumltte Muumlnchen 1972 Abb 95 4 Antikensammlung Staatliche Museen zu Berlin Foto Johannes Laurentius 6 W Riezler Weissgrundige attische Lekythen Muumlnchen 1914 Taf 23 8 Deutsches Archaumlologisches Institut Athen Fotothek ndash Reudenbach 1 F MuumltherichJE Gaehde Karolingische Buchmalerei Muumlnchen 1979 Taf 4 2ndash4 httpwwwbibliotheca-laureshamensis-digitalde (Zugriff 20022014) ndash Schmengler 1 2 3 Torsten Saumlnger Frankfurt 4 5 6 Eric Tschernow Berlin ndash Schedl 1ndash3 Dr Bernd Konrad Radolfzell 4 FrankfurtMain-Niederrad Pfarrarchiv der katholischen Kirchengemeinde Mut-ter zum Guten Rat ndash Schlie 1 Archiv der Verf 2 Archiv der Verf + D E Katz The Contours of Tolerance Jews and the Corpus Domini Altarpiece in Urbino in Art Bulletin 85 (2003) S 647ndash661 S 647 3 F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 Schmidt 1 2 London British Museum 3 M Geisberg Der Meister ES Leipzig 21924 4 Archiv Autor ndash Taxer 1 2 O Paumlcht Altniederlaumlndische Malerei Von Rogier van der Weyden bis Gerard David Muumlnchen 1994 Abb 91 S 118 Abb 93 S 120 3 4 E Panofsky Die altniederlaumlndische Malerei Ihr Ursprung und Wesen Bd 2 Koumlln 2006 Abb 387 S 236 Abb 358 S 214 ndash Stoichita 1 D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 2 3 J Bialostocki Les Museacutees de Pologne Bruxelles 1966 ndash Zaumlh 1 2 Archiv des Verf 3 Metropolitan Museum of Art Bulletin 58 (2001) S 17 4 G ForsythK Weitzmann The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai The Church and Fortress of Justinian Plates Ann Arbor (Mi) 1973 Plate 121

Meditation und Gebet 283

bdquototal memoriertenldquo48 Texten des Mittelalters gezaumlhlt werden weswegen sie sich beiden Autoren als Beispiele anbieten Sie benutzen die Buszligpsalmen (hier die Psalmen 6 31 [Hugo] 50 142) die im Stundenbuch fest als eigenstaumlndiger Gebetstext verankert sind und ebenso in der To-tenvigil ihren Platz haben ndash zusammen mit Gerards weiteren Beispielpsalmen 40 und 4149 Das Stundenbuch ist ein Medium in dem Psalmwort und bildliche Darstellung auf die Theorie des stufenweisen emotionalen Gebets und der Selbsttransformation treffen koumlnnen

Die Miniaturen die der Totenvigil bspw in niederlaumlndischen Stundenbuumlchern des 15 Jahr-hunderts voranstehen zeigen oftmals eine ganzseitige Totenmesse sowie in der M-Initiale der gegenuumlberliegenden Textzeile50 zwei betende einander zugewandte Seelen im Fegefeuer (vgl

48 Zu diesen Texten gehoumlrten bspw das Pater Noster oder Ave Maria waumlhrend denen gleichzeitig auch uumlber bestimmte Aspekte zB der Passion meditiert werden konnte und sollte vgl P Saenger Books of Hours and the Reading Habits of the Later Middle Ages in R ChartierA Boureau (Hgg) The Culture of Print Power and the Uses of Print in Early Modern Europe Cambridge 1989 S 141ndash173 hier S 154 Bei den Psalmen genuumlgt wie man hier sieht allein die Nennung des Incipit oder bestimmter Verse die dem Leser so vertraut sind dass sie den gesamten Psalmentext mit assoziieren49 Zwar ist der Einsatz von Psalmen in mittelalterlichen Stundenbuumlchern mitunter verschieden doch kann man beispielhaft an einer Gruppe von Stundenbuumlchern in niederlaumlndischer Sprache diese Psalmen finden Diese Stundenbuumlcher sind mit der Uumlbersetzung des Gruumlndungsvaters des Devotio Moderna Geert Grote versehen oder stehen mit ihr in Verbindung N van Wijk Het getijdenboek van Geert Groote Naar het Haagse handschr 133 E 21 Leiden 1940 diese hauptsaumlchlich anhand einer einzigen Handschrift erarbeitete Edition wird hier in Ermangelung einer kritischen Edition genutzt Das getijdenboek enthaumllt einen Kalender des Bistums Utrecht fuumlnf Offizien (Marienoffizium Heiliggeistoffizium das lange und kurze Heiligkreuzoffizium Stunden der ewigen Weisheit) Buszligpsalmen Litanei und Totenvigil 50 Es ist der Beginn des invitatorium bdquoMi hebben ombeuanghen die suchten des dodes die pijnlike seer der hellen heben mi ombeuanghenldquo Wijk (cf Anm 49) S 156 ndash bdquoMich haben umfangen die Seufzer des Todes die qualvollen Schmerzen der Houmllle haben mich umfangenldquo

Abb 2 Meister des Hugo Jansz van Woerden Totenmesse und Seelen im Fegefeuer ca 1475ndash1500 Den Haag Koninklijke Bibliotheek Ms 76 G 13 fol 85vndash86r

284 Anselm Rau und Johanna Scheel

Abb 2)51 Das Fegefeuer bespricht Gerard eher marginal in seinem Traktat Fuumlr die affektive Meditation des eigenen Todes liefert er allerdings einerseits eine Anleitung fuumlr den Betenden die Affekte nun bereits zu erwecken die vor waumlhrend und nach dem eigentlichen Todeszeit-punkt entstuumlnden ndash und sich mit ihnen im Gebet selbst zu formen52 Andererseits raumlt er dem Glaumlubigen sich zum Zwecke des ex affectu-Gebets einen Koumlrper in seinen Verwesungsstadien vor Augen zu halten53 und was mit ihm selbst bei der Beerdigung passiere54 Das Fegefeuer ist ein im Sinne mittelalterlicher Moraltheologie produktiver Gebetsinhalt da der Glaumlubige im steten Oszillieren zwischen spes und timor besonders gut zur caritas aufzusteigen vermag Diesen Tenor findet man ebenfalls bei Geert Grote in seinem getijdenboek bei der Vorrede der Toten-vigil Hier raumlt er dem betenden Leser zum Wechsel aus Psalmen und Antiphonen in Hinblick auf die Erregung von Furcht und Angst Liebe und Hoffnung in der Ausrichtung auf Gut und Boumlse und mit Blick auf das Fegefeuer bdquoHier beginnt die Vigil in duytsche die so organisiert ist denjenigen zu helfen die von hinnen gefahren sind in der Freundschaft Gottes in das Fegefeuer Und ebenso dazu [gedacht ist] den Lebenden zu helfen die sie lesen damit ihnen das Wissen um die kommenden Dinge eingedruumlckt werde auf dass sie glauben hoffen und lieben an die Dinge in Herrlichkeit Und [sie] sich dafuumlr bereit machen und sich waumlhrenddessen die ganze Zeit fuumlrchten dass ihre Tage schnell vergehen Auf dass sie sich fuumlrchten aumlngstigen grauen und beben vor dem mannigfaltigen Leid der Angst und dem Elend die den Boumlsen ereilen werden und sie so darum ihr Leben lang ndash das hier aumluszligerst kurz ist ndash darauf hinarbeiten diesem Leid zu entgehen und [die Vigil ist auch hilfreich] weil ein Mensch diese beiden Dinge ndash Gutes in Liebe und Boumlses in Angst ndash besser ansehen (aensien) kann und erkennen und sich uumlberdenken damit er besser bitten kann und [es] mehr begehrt (begheert) und mehr liebt (myn[n]t) fuumlr diejenigen zu bitten die im Fegefeuer sind fuumlr ihre baldige Erloumlsung und dafuumlr Gottes Ehre zu vermehren [hellip] So hilft das Bitten der Lebenden den Toten und das Bitten fuumlr die Toten hilft den Lebendigen sich auf den Tod vorzubereiten [hellip] Und dazu ist das Singen dieser Psalmen heranzuziehen [und zwar] immer nach den Bedeutungen der Antiphone und den Sinn der

51 Die Darstellung von Seelen im Fegefeuer taucht als Buchillumination ab dem 13 Jahrhundert bereits vereinzelt auf und diente in Kombination mit Jenseitsvisionen Bibeltexten und moralisierenden Inhalten vor allem dem Gedenken an bereits Verstorbene wie auch zur persoumlnlichen Mediation des Lesers Oft findet eine narrative Einbindung statt Vgl dazu M Borowska Das Entfachen des Fegefeuers in der europaumlischen Miniatur des 13 Jahrhunderts in Umeni 57 (2009) S 310ndash325 Zum ikonografischen Kontext der hier gewaumlhlten Illumination vgl die Untersuchung von I M Veldman Purgatory in the Low Lands in B BukovinskaacuteL Slaviacuteček (Hgg) Pictura verba cupit Essays for Lubomiacuter Konečnyacute Prag 2006 S 169ndash180 va 170ndash17252 De Spir Asc Kap 19 In den folgenden Kapiteln stellt Gerard dem Leser dasselbe Prinzip an den Themen des Juumlngsten Gerichts der Houmllle und des Himmelreiches vor 53 bdquoItem interdum propone oculis tuis ymaginem alicuius hominis morientis et diligenter respice formam modum et ordinem quibus ad mortem deveniturldquo De Spir Asc Kap 1954 Weitere beliebte Illustrationen zum Totenoffizium im Stundenbuch des 15 Jahrhundert sind ebenfalls die Darstellung eines Toten um dessen Seele Engel und Teufel kaumlmpfen Schaumldeldarstellungen Seelen in Abrahams Schoszlig Himmel und Houmllle der Tod als Angreifer die Auferweckung des Lazarus sowie die Psychostasis mit Michael als Seelenwaumlger Diese Motive werden eher als ganzseitige Miniaturen dargestellt und bekommen zum Teil in der begleitenden Initiale jene zwei betenden Seelen im Fegefeuer hinzugefuumlgt

Meditation und Gebet 285

Antiphone soll man dazu in den Psalmen bedenken in allen Stundengebeten Dabei ist gut dass man sowohl vor als auch danach die Antiphonen spreche und schreibeldquo55

Mit der sich gegenseitig amplifizierenden Kombination von selbstreflexiven Affekt er-regendem und ausdruumlckendem Psalmentext mit der bildlichen Darstellung von Beerdigung mit Fegefeuer und mit derartigen Aufstiegsmodellen vertraut kann der betende Leser hier den eigenen Tod und die Bestrafung seiner Seele als Konsequenz der eigenen irdischen Suumlndhaftig-keit produktiv in seine Bemuumlhungen des geistigen Aufstiegs und seine Selbsttransformation kanalisieren

Imagination und Illumination

Das Gebetsleben des mittelalterlichen Glaumlubigen ist gekennzeichnet durch seine Affektivitaumlt Die affectus werden mit Gebetstexten und Psalmenreihen sowie mithilfe bildlicher Darstel-lungen sorgfaumlltig kultiviert und systematisch eingeuumlbt Dabei sind dies altbekannte ndash weil biblische ndash Text- und Bildinhalte deren affizierendes Potential auf neue Arten ausgeschoumlpft wird Texte und physische wie gerade geistige Bilder erinnern den Betenden nicht nur unver-bindlich an bereits bekannte Ereignisse Situationen und Figuren sondern lassen ihn sich mit diesen durch affektive und reflexive Meditationspraktiken identifizieren Fremde Worte und Emotionen werden darin zu den eigenen Vorbilder aus dem Kreis der Heiligen werden so zu Imaginationsfiguren das Selbst wird auf Gott ausgerichtet und in all seinen Aspekten gezielt emotional reflektiert So unterschiedlich die formale Herangehensweise dieser Praktiken bei den drei untersuchten Autoren Hugo von St Viktor Bonaventura und Gerard Zerbolt van Zutphen zu sein scheint vermitteln sie doch die selbe zentrale Maszliggabe oratio est affectus ndash bdquoGebet ist Affektldquo

Uumlbersetzung Hugo von St Viktor De meditando PL 176 993ndash99

Die Meditation ist die haumlufige Erwaumlgung (cogitatio) der Ursache (causa) und des inneren Be-weggrundes (ratio) eines einzelnen zu untersuchenden Gegenstandes (res) was seine Art sei (modus) was die Ursache und was der Beweggrund

Es gibt drei Arten (genus) der Meditation eine in Bezug auf die Schoumlpfung (in creaturis) eine hinsichtlich der Schrift (in scripturis) und eine hinsichtlich der Sitten (in moribus) Die erste erwaumlchst aus der Bewunderung (admiratio) die zweite aus der Lektuumlre (lectio) die dritte aus der umsichtigen Beobachtung (circumspectio)

Zuerst bringt die admiratio die Frage (quaestio) hervor die Frage das Erforschen (investi-gatio) und das Erforschen die Entdeckung (inventio) Dies ist damit die Bewunderung der Ord-

55 Fuumlr den altniederlaumlndischen Text vgl Wijk (cf Anm 49) S 155 Zum Antiphon das der Vigil vorangestellt ist vgl Anm 50

286 Anselm Rau und Johanna Scheel

nung (dispositio) die Frage nach der Ursache und die Entdeckung des inneren Beweggrundes Die Bewunderung beruht auf der Betrachtung der Ordnung im Himmel das ist die Gleich-artigkeit von allem und der Houmlhen und der Tiefen (alta et depressa) auf der Erde Die Frage betrifft die Ursache (causa) des irdischen Lebens auf Erden und des himmlischen Lebens im Himmel Das Erforschen fragt nach dem inneren Beweggrund dass so wie die Erde auch das irdische Leben beschaffen ist und dass der Beschaffenheit des Himmels selbst auch das himm-lische Leben gleicht

Bei der Lektuumlre (lectio) aber erfolgt die Betrachtung (considerare) folgendermaszligenAls erstes dient die lectio dazu durch die Bereitstellung des Stoffes (materia) die Wahr-

heit zu erkennen (cognoscere) die meditatio fuumlgt ihn zusammen (coaptare) die oratio hebt ihn empor (sublevare) die operatio (Ausfuumlhrung) wendet ihn an (componere) und die contemplatio frohlockt in ihm selbst (exsultare)

Es ist durch die Meditation der Schriften zu erkennen auf welche Weise es sich gehoumlrt etwas zu wissen Als Beispiel steht geschrieben Declina a malo et fac bonum (Vg Ps 3627 ndash Wende dich ab von dem Boumlsen und tue Gutes EUuml Ps 3727) Deshalb wurde zuvor gesagt die meditatio wendet sich der lectio zu um sich vom Boumlsen abzuwenden und darauf Gutes zu tun Der Grund (causa) hierfuumlr ist wenn sich nicht zuerst das Boumlse zuruumlckzoumlge wuumlrde das Gute nicht herantreten koumlnnen Der innere Beweggrund (ratio) aber ist so wie zuerst die Sproumlsslinge des Boumlsen mit ihrer Wurzel ausgerissen werden muumlssen so muss danach das Gute (ein-)ge-pflanzt werden Warum wurde daher gesagt Wende dich ab von dem Boumlsen Weil es einem auf dem Weg begegnet Man wendet sich deshalb ab weil wir es wo auch immer nicht vermoumlgen durch Staumlrke zu widerstehen wir entkommen ihm lediglich wenn wir uns mit Klugheit und Vernunft (consilio et ratio) von ihm abwenden Auch muumlssen wir uns vom Boumlsen abwenden um dem Naumlhrstoff (materia) zur Suumlnde aus dem Weg zu gehen ndash beispielsweise ist von Hochmut (superbia) Begehrlichkeit (incontinentia) Begierde (concupiscentia) Neid (invidia) und Streit (contentio) abzulassen um sich vom Reichtum (abundantia) der Schoumlnheit (species) des Flei-sches und der Besitzgier (amor possessiones) abzuwenden Dies bedeutet bdquosich abzuwendenldquo Desgleichen wenn auf diese Weise von allem Boumlsen sich abzuwenden angeraten ist so wird die Verrichtung alles Guten verlangt Und so ist also der ebenso schuldig bzw angeklagt der allein nur alles Boumlse meidet wie derjenige der nicht zugleich all das Gute tut Aber wenn dies so ist wer ist dann kein Angeklagter (reus) Folglich wird uns anbefohlen uns von allem Boumlsen loszusagen Andererseits kommt das Gute zum Einen aus dem was sich gehoumlrt (necessitas) und zum anderen aus dem Willen (voluntas) Es gehoumlren sich die Dinge einer Vorschrift (praecep-tum) und die eines Geluumlbdes (votum) alles uumlbrige wird erfuumlllt wenn eine Sache [also Schuld] mehr als nur vergolten wird (supererogare) und einem nichts mehr anlastet

Daher zielt die Meditation bei der lectio darauf ab zu ergruumlnden auf welche Weise et-was das erkannt wird gut ist warum und wie es zu erreichen ist weil es ndash ist es [ersteinmal] erkannt ndash auch zu verrichten ist Die Meditation ist das Entdeckungsvermoumlgen der vorgefassten Absicht (excogitatio consilii) zu erwaumlgen auf welche Weise das Gute das erkannt wurde erfuumlllt wird denn das Erkannte ist unbrauchbar wird es nicht vollbracht

Deshalb ist die Meditation bei der lectio eine dreifache Betrachtung nach der historia der allegoria und der tropologia Gemaumlszlig der historia erfolgt die Meditation wenn wir nach dem

Meditation und Gebet 287

vollendeten inneren Beweggrund der Dinge fragen die geschehen sind und diesen hinsichtlich seiner uumlbereinstimmenden Art und Weise (modus) bezuumlglich der Zeiten (tempora) und Orte (loci) bestaunen (admirare) Bei dieser Betrachtung der goumlttlichen Ratschluumlsse (iudicium) laumlsst man nicht davon ab daruumlber nachzudenken dass diese richtigen und gerechten (rectus et iustus) Entscheidungen zu keiner Zeit den Beistand [Gottes fuumlr die Menschen] entzogen (deesse) und durch sie das geschah was sich gehoumlrte und vergolten wurde was gerecht war (iustum fuit)

Die Meditation hinsichtlich der allegoria beschaumlftigt sich mit der Gliederung (dispositio) der vorangegangenen und zukuumlnftigen Dinge und so wie fuumlr den Verstand (intelligentia) an-gemessen richtet sie dabei ihre Aufmerksamkeit auf deren uumlbereinstimmende Bedeutung in ihrer bewundernswerten Vernunftmaumlszligigkeit (ratio) und Vorhersehung (providentia) und auf ihre fuumlr den Glauben (fides) geschaffene Gestalt (forma)

Bezuumlglich der tropologia beschaumlftigt sich die Meditation damit welche Frucht die Worte der lectio hervorbringen und erforscht (exquirere) was diese wenn sie ausgefuumlhrt werden [im Sinne des eigentlichen Aussprechens der Worte aber auch die Ausfuumlhrung ihres Inhaltes] ein-pflanzen (insinuere) und dabei zugleich lehren was zu vermeiden ist Sie stellt vor Augen was durch die lectio der Schrift zur Unterweisung (eruditio) zur Ermahnung (exhortatio) zur Troumls-tung (consolatio) und zum Schrecken (terror) dient Hierdurch erleuchtet die tropologia dahin-gehend was zum Verstehen der Tugenden (virtus) fuumlhrt sie naumlhrt (nutrire) den Affekt (affectio) und lehrt (edocere) die Lebensfuumlhrung auf dem Pfad der Tugenden

Die Meditation der Sitten (mos) erfolgt gemaumlszlig der Affekte (affectus) der Erwaumlgungen (cogi-tationes) und der Werke (opera)

Hinsichtlich der Affekte ist zu betrachten wie sie recht und aufrichtig (rectus et sincerus) zu sein vermoumlgen damit ist gemeint auf das und zu was hin sie geschuldet sein muumlssen und in welcher Weise sie zu sein haben Zu differenzieren ist naumlmlich dass das was sich nicht gehoumlrt (non oportet) boumlse ist und zugleich das was sich gehoumlrt zu lieben ist ndash das zu lieben das sich gleichwie nicht gehoumlrt ist boumlse Daher handelt es sich um einen guten Affekt wenn er auf das ausgerichtet ist auf das er verpflichtet ist und in der Weise wie es sich gehoumlrt

Amnon liebte (diligere) seine Schwester und dies war der Affekt zu dem er bestimmt war doch weil er Boumlses begehrte war es nicht der Affekt wie er ihn schuldete (vgl 2 Sam 13) So kann der Affekt auf das gerichtet sein zu was er gehoumlrt dies aber nicht in der [angemessenen] Art und Weise Niemals aber kann der Affekt so sein wie er zu sein hat wenn er nicht auf das ihm Zugehoumlrige ausgerichtet ist Auf das ausgerichtet zu was er gehoumlrt bedeutet dass er recht ist und in der Art und Weise wie es sich gehoumlrt und dementsprechend ist er rein Daher werden die Affekte in den Erwaumlgungen betrachtet damit sie rein (mundus) und geordnet (ordi-natus) sind Rein sind sie wenn weder etwas Boumlses von den Affekten hervorgebracht wird noch das Boumlse die Affekte hervorbringt Dass sie geordnet sind meint wenn sie vernuumlnftigerweise aufgrund des ihnen eigenen Anlasses (suo tempore) aufkommen (advenire) Es ist nicht ohne Schaden (vitium) [naumlmlich im Sinne des korrekten Vorgehens nicht ohne Formfehler] bereits das Gute zu einem diesem nicht angemessenen Zeitpunkt zu erwaumlgen wie etwa an die lectio waumlhrend der oratio zu denken oder auch an die oratio waumlhrend der lectio

Bei den Werken ist als erstes zu betrachten was zum Beispiel durch die gute Absicht (bona intentio) geschieht Um eine gute Absicht handelt es sich wenn sie einfach und aufrichtig ist

288 Anselm Rau und Johanna Scheel

(simplex et recta) Die bona intentio ist arglos ohne Hinterlist (malitia) und aufrichtig ohne Ignoranz (ignorantia) Die naumlmlich ohne Hinterlist ist besitzt den Eifer (zelus) Ist sie aber aus der [bewussten] Unkenntnis gegenuumlber dem Wissen (scientia) (Roumlm 102) geboren verfuumlgt sie nicht uumlber den [wahren] Eifer Daher ist es notwendig dass die Absicht aufrichtig ist in der Bescheidenheit (discretio) und arglos im Wohlwollen (benignitas) Bei den Werken ist zu be-trachten dass sie aus der aufkommenden guten Absicht heraus mit beharrlicher Leidenschaft (fervor) schlieszliglich ans Ziel gefuumlhrt werden damit nicht die Beharrlichkeit (perseverantia) ge-laumlhmt (torpere) und die Liebe (amor) nicht lau wird (tepescare)

Auf gleiche Weise erfolgt die meditatio der Sitten in einer zweifachen Betrachtung naumlmlich einer inneren und einer aumluszligeren Die aumluszligere blickt auf das Ansehen (fama) die innere auf das Gewissen (conscientia) Die aumluszligere Betrachtung erfolgt gemaumlszlig dem was ziert (decere) und was nuumltzt (expedire) was als Beispiel (exemplum) dient und was den Lohn (meritum) hervorbringt ndash uns zum Lohn und den Naumlchsten als Beispiel Die innere Betrachtung dagegen schaut auf das Gewissen damit es rein (mundus) sei ohne Anklage (accusatio) zu erleiden (pati) ob nun durch die Laumlhmung (torpor) des Guten oder die Hartnaumlckigkeit (praesumptio) des Boumlsen Rein ist aber jenes Gewissen das weder durch das Vergangene zu recht angeklagt (accusare) noch durch das Gegenwaumlrtige unrechtmaumlszligig erfreut (delectare) wird

Daher laumlsst die meditatio der Sitten ihre Betrachtung nicht ruhen damit sie jegliche Re-gungen (motus) die sich im Herzen erheben bemerkt und erwaumlgt woher sie kommen und worauf sie abzielen (tendere) Das heiszligt woher sie kommen gemaumlszlig ihrem Ursprung und wo-nach sie streben hinsichtlich ihres Ziels Alles ist naumlmlich eine Bewegung aus irgendetwas und auf irgendetwas Die Bewegungen des Herzens sind manchmal offenkundigen Ursprungs manchmal entspringen sie aber auch Verborgenem Bei denen der Ursprung offenkundig ist ist er bisweilen durch das Gute bisweilen aufgrund des Boumlsen erwiesen Was offenkundig gut ist kommt von Gott was aber deutlich boumlse erscheint entspringt entweder dem Teufel oder dem Fleisch Dies sind naumlmlich die drei Urheber (auctores) aller Vorstellungen (suggestio) und aller Eingebungen (aspiratio) die unsichtbar an das Herz herantreten und aus jenen drei hervor-gehen Entspringen die Bewegungen des Herzens daher dem Verborgenen koumlnnen sie manch-mal aus dem Guten und dem Geheimen hervorgehen und sind manchmal boumlse und zweifelhaft (dubius) Die dem Guten entspringen kommen von Gott die aber dem Boumlsen entstammen sind entweder des Teufels oder des Fleisches

Die Bewegungen die folglich offenkundig sind sei es im Guten oder Boumlsen werden auf den ersten Blick durch ihren Ursprung angezeigt Jene aber die zweifelhaft bleiben hinsichtlich ih-res Grundes sind am Ende zu uumlberpruumlfen (probare) Ihr Ergebnis [oder Ausgang] (exitus) zeigt naumlmlich deutlich was vom Ursprung her verborgen war und deswegen muss derjenige der es nicht vermochte den Ausgangspunkt seiner Herzensbewegungen zu beurteilen (iudicare) das Ziel und die Ausfuumlhrung [bzw Vollendung] (finis et consummatio) untersuchen (investigare) Die Bewegungen naumlmlich die zweifelhaft und ungewiss sind sind vom verborgenen Guten oder Boumlsen Wie gesagt wurde haben die schlechten Regungen ihren Ursprung entweder beim Teufel oder im Fleisch Diese aber sind beide boumlse sie unterscheiden sich nicht indem oder durch was sie boumlse sind doch unterscheiden sie sich dahingehend dass die Regungen des Her-zens die dem Fleisch entspringen haumlufig aus einer Notwendigkeit (necessitas) heranwachsen

Meditation und Gebet 289

die aber die tatsaumlchlich vom Teufel kommen nehmen noch oumlfter wider der Vernunft (ratio) ihren Anfang (oriri) Was naumlmlich vom Teufel eingegeben wird (suggerere) ist in der Tat dem Menschen fremd und wird deswegen haumlufig von der menschlichen Vernunft abgelehnt weil er beispielsweise unlaumlngst gesaumlttigt Hunger leidet (pati) kurz zuvor noch trunken (inebriatus) vor Durst (sitis) gluumlht (aestuare) oder wenn er nach einem ausgiebigen Schlaf (dormitio) sich erhebend vom Traum (somnus) bedruumlckt (praegravare) wird

Hieraus also werden die Werke des Teufels differenziert betrachtet weil sie ja an den Men-schen von auszligen herangetragen werden und der menschlichen Vernunft fremd sind Bei den Werken des Fleisches und ihren Eingebungen liegt der Grund des Oumlfteren in einer vorangegan-genen Notwendigkeit Aber weil sie Ziel und Maszlig (modus et mensura) uumlbersteigen wachsen sie zum Uumlberfluss (superfluitas) heran Dies ist als Beispiel eben gerade dann der Fall wenn nach der Einnahme einer Mahlzeit der Hunger hemmungslos (immoderatus) begehrt (appetere) und nach Enthaltsamkeit (abstinentia) das Maszlig (mensura) bei der Aufnahme von Speise (edulium) nicht gehalten wird

Daher wird die meditatio der Sitten aufgrund eines dreifachen Urteils betrieben Das erste urteilt zwischen Tag und Nacht das zweite zwischen Tag und Tag und das dritte schlieszliglich untersucht den gesamten Tag (vgl Roumlm 145) Zwischen Nacht und Tag zu urteilen meint das Boumlse vom Guten zu (unter-)scheiden Die Beurteilung zwischen Tag und Tag bedeutet eine Un-terscheidung zwischen etwas Gutem und etwas Besserem vorzunehmen Uumlber den gesamten Tag zu richten ist schlieszliglich das einzelne Gute fuumlr den eigenen Lohn zu ermessen (aestimare)

So hat die meditatio der Sitten bei jeglichem Umgang (conversatio) das Ziel und die Rich-tung (directio) im Blick Das Ziel ist wohin man strebt die Richtung wodurch man leichter ans Ziel gelangt Jeder naumlmlich der zu irgend etwas strebt so wie etwas seine Bahn (cursus) lenkt und unaufhoumlrlich weiterzieht kommt schneller ans Ziel Es gibt daher Gutes durch das man stark bewegt ist (moveri) zugleich gibt es aber wenig her durch das man vorankommt (pro-moveri) Anderes dagegen fuumlhrt mit etwas Muumlhe (labor) zu groszligem Gewinn (fructus) Und diese sind folglich zu unterscheiden und das Bessere das mehr nuumltzt auszuwaumlhlen Welches auch immer mehr nuumltzt ist besser und es gehoumlrt sich jedes Werk auf seinen Ertrag hin zu beurteilen Indem viele diese Unterscheidung (discretio) nicht einhielten haben sie sich zwar aufs aumluszligerste bemuumlht sind jedoch nur wenig vorangekommen weil sie das Auge aumluszligerlich so sehr auf die Gestalt (species) der Werke richteten und nicht innerlich auf den Gewinn durch die Tugenden blickten Sie ergoumltzen sich daran groszlige Taten zu verrichten anstatt dass sie das Nuumltz-liche (utilia) uumlben (exercere) um sich selbst zu bessern (emendari) Dabei schaumltzten (diligere) sie vielmehr das durch das sie den Anschein erwecken (videri) konnten [so zu sein]

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zunaumlchst das was man schuldet entweder auf-grund einer Vorschrift (praeceptum) oder eines Geluumlbdes (votum) Diesbezuumlglich ist die erste Tat der meditatio zu ermitteln ist sie oder es erfuumlllt fuumlhrt es zum Lohn und wenn nicht bringt dies den Anklagezustand (reatus) hervor Es sind also zuerst die Dinge zu tun die nicht ohne Schuld (culpa) weggelassen werden koumlnnen Danach ist die meditatio alsdann so zu verrichten dass wenn etwas durch freiwillige Uumlbung (exercitatio) noch hinzugefuumlgt wird die Pflicht-erfuumlllung [eigtl Schuld] (debitum) nicht verhindert wird (impedire) Die einen die das nicht zu leisten vermoumlgen was sie schulden wollen was sie nicht muumlssen Die anderen wenn sie im-

290 Anselm Rau und Johanna Scheel

stande sind zu tun was sie schulden bringen freiwillig Hindernisse (impedimentum) mit sich indem sie etwas wollen was sie nicht muumlssen

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zwei Dinge des Boumlsen vor denen man bei der Ver-richtung von Gutem besonders auf der Hut sein muss die Betruumlbnis [Niedergeschlagenheit] (afflictio) und die Besessenheit [Vereinnahmung] (occupatio) Die afflictio fuumlhrt zur Bitterkeit (amaritudo) die occupatio zur Zerstreuung (dissipatio) Mit der afflictio verbittert die Suumlszlige (dulcedo) des Geistes und mit der occupatio wird die Ruhe (tranquillitas) zerstoumlrt (dissipare) Es herrscht Betruumlbnis wenn man fuumlr jene Dinge die man nicht vermag aufgrund der eigenen Ungeduld (impatientia) ungluumlcklich wird (urere) Dagegen handelt es sich um Besessenheit (occupatio) wenn man in seinem Handeln (nach seinem Vermoumlgen) aufgrund der impatientia gequaumllt wird (agitare) Folglich darf die Seele (animus) nicht aufgrund des Boumlsen verbittert wer-den sie muss ihr Unvermoumlgen (impossibilitas) geduldig (patienter) aushalten Genauso darf sie aber auch nicht vom Boumlsen eingenommen werden und darf ihr Vermoumlgen (possibilitas) nicht uumlber ihr eigenes Maszlig hinaus ausdehnen (extendere) Daher muss die meditatio der Sitten in einer weiteren Betrachtung der Lebensfuumlhrung zu einem Urteil kommen und dabei billigen dass es weder gut ist die Dinge die man nicht vermag ungeduldig (impatienter) zu verlangen (appetere) noch die welche man erreicht toumlricht (insipienter) zu verschmaumlhen (fastidire) Wer naumlmlich immer das begehrt was er nicht vermag und das was er [jedoch] vermag verabscheut wird sich weder am Gegenwaumlrtigen erfreuen (frui) noch am Zukuumlnftigen saumlttigen (satiare) Er verlaumlsst naumlmlich das Gute unentwickelt vor der Vollendung und eignet sich das gerade erst Be-gonnene vorzeitig an Deswegen ist es gut aufgrund des eigenen Guten zufrieden zu sein und das gegenwaumlrtige Gute durch hinzukommendes Gutes zu vermehren und es nicht aufgrund des Zukuumlnftigen wegzuwerfen (abicere) Der Austausch (commutatio) des Guten ist naumlmlich ein Leichtes (levitas) seine Uumlbung (exercitatio) aber die Tugend Oft eilen sie auf unterschiedlichen Wegen die einen die ein fruumlheres durch ein neues Gutes fallen lassen (abicere) und die ande-ren die [sich] vom Untersten zum Houmlchsten emporschwingen (conscendere) Wer naumlmlich nach Veraumlnderung (mutatio) fragt ist uumlberdruumlssig (fastidiosus) so wie der der nach dem Voran-schreiten (profectus) strebt eifrig bemuumlht ist (studiosus) Am aufrechtesten beschreitet daher derjenige den Weg der dabei so auf das Bessere brennt (fervere) dass er des Guten nicht uumlber-druumlssig wird sondern es vorerst empor haumllt solange bis er es spaumlter zu der ihm angemessenen Zeit sich aneignet (apprehendere)

Abbildungsnachweis

Einband Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders

Farbtafeln 1 (zu Beitrag Rosenwein) Coll BNU de Strasbourg ndash 2 (zu Beitrag Ferguson) Ar-chiv der Verf ndash 3 (zu Beitrag Herding) Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preu-szligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders ndash 4 (zu Beitrag Droste) R Kahsnitz Die Groszligen Schnitzaltaumlre Spaumltgotik in Suumlddeutschland Oumlsterreich Suumldtirol Muumlnchen 2005 Taf 53 ndash 5 6 (zu Beitrag Schedl) 75 Jahre 1933ndash2008 Kirche Mutter vom Guten Rat Festschrift und Chro-nik FrankfurtM 2008 S 92 Dr Bernd Konrad Radolfzell ndash 7 8 9 (zu Beitrag Zaumlh) Archiv des Autors ndash 10 (zu Beitrag Niehr) Universitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Media-thek 11 12 (zu Beitrag Muumlller) Autorin ndash 13 14 15 (zu Beitrag Schlie) Su concessione del Ministero dei beni e delle attivitagrave culturali e del turismo ndash Galleria Nazionale delle Marche ndash Urbino Archivio fotografico Archiv der Verf F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 ndash 16 17 (zu Beitrag Stoichita) D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 ndash 18 19 20 (zu Beitrag Schmidt) London British Museum C Geissmar-BrandiE Louis (Hgg) Glaube Hoffnung Liebe Tod Wien 1995 S 149 Archiv Autor ndash 21 (zu Beitrag Jung) Autorin

Textabbildungen Droste 1 3 4 Autorin 2 E Oellermann Der Hochaltar in St Martin zu Lorch am Rhein in H KrohmE Oellermann (Hrsg) Fluumlgelaltaumlre des spaumlten Mittelalters Ber-lin 1992 Abb 2 ndash Ferguson 1ndash3 Archiv der Verf ndash Frese 1 2 3 5 M BrandtA Eggebrecht (Hgg) Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen Katalog der Ausstellung Hil-desheim 1993 Bd 1 S 386f Abb 197 u 198 Bd 2 S 583 KatNr VIIIndash32 S 604 KatNr IXndash8 4 G LutzA Weyer (Hgg) 1000 Jahre St Michael in Hildesheim Kirche ndash Kloster ndash Stifter Peterberg 2012 S 148 Abb 118 ndash Gruumlndler 1ndash4 L DomenicoA Nova (Hg) Leonardo da Vincirsquos Anatomical World Language Context and Disegno Akten der Internationalen Tagung Florenz 30ndash31 Mai 2008 Venedig 2011 S 237 S 236 S 241 S 186 5 6 Le journal de Jacopo da Pontormo traduit par Jean-Claude Lebensztejn avec la collaboration drsquoAlessandro Parronchi Paris 1992 S 46 S 50 ndash Herding 1 2 3 4 5 6 7 Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders 8 Max J Friedlaumlnder Early Netherlandish Painting 14 vols Leiden und Bruumlssel 1967ndash1974 vol II 1967 pl 10 Nr 3i 9 Wolfenbuumlttel Herzog-August-Bibliothek ndash Jung 1 2 3 4 5 Autorin ndash Kessler 1 6 7 Autor 2 3 Museo delle Terme Rom 4 British Museum London 5 Alexei Lidov ndash Maxwell 1 2 AHN 3 Autor 4 Sancho el Mayor y sus herederos ed I Bango Torviso et al 2006 cat 25 5 BNE ndash Muumlller 1 Italian painting c 1330ndash1550 I National Gallery in Prague II Collections in the Czech Repub-lic Illustrated summary catalogue Prag 2008 2 Collection of The John and Mable Ringling Museum of Art the State Art Museum of Florida Florida State University 3 2014 copy Archivio Fotografico ndash Fondazione Musei Civici di Venezia ndash Niehr 1 A Schuttwolf (Hg) Ausst-Kat Jahreszeiten der Gefuumlhle Das Gothaer Liebespaar und die Minne im Spaumltmittelalter Ostfil-

400 Abbildungsnachweis

dern-Ruit 1998 2 D de Vos Hans Memling Das Gesamtwerk AntwerpenStuttgart 1994 S 278ndash283 TH Borchert Hans Memling Portraits Stuttgart 2005 S 173f Nr 23 3 Univer-sitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Mediathek ndash Pfisterer 1 E Steinmann ldquoLa mano di Michelangeloldquo in Studien aus Kunst und Geschichte Friedrich Schneider zum siebzigsten Geburtstag Freiburg iBr 1906 unnum Taf 2 R Bernini ua La mano e il volto di Antonio Canova PossagnoQuinto di Treviso 2008 S 197 3 U Klein Zur Forschungsgeschichte des Duumlrer-Hauses in GU GroszligmannF Sonnenberger (Hgg) Das Duumlrer-Haus Neue Ergebnisse der Forschung Nuumlrnberg 2007 S 105 nach Carl A Heideloff Die Ornamentik des Mittelalters Bd 3 Nuumlrnberg 1847 S 42 4 WH Vroon Het wonderlid van Jan de Witt en andere vaderland-se relieken Nijmegen 1997 S 68 5 Autor nach GF Tomasini Petrarca Redivivus Padua sup21650 S 128 6 A Picturesque Tour Through Holland Brabant and Part of France made in the autum of 1789 by Samuel Ireland London sup21796 Bd 2 Taf nach S 13 ndash Pinkus 1 2 3 4 5 6 Autor 7 8 Institut fuumlr Kunstgeschichte Universitaumlt Wien Fotothek ndash RauScheel 1 M Gregori Uf-fizien und Palazzo Pitti Muumlnchen 1994 S 31 2 Den Haag Koninklijke Bibliotheek ndash Raeck 1 2 5 7 Fotothek des Instituts fuumlr Archaumlologische Wissenschaften AbtI Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main 3 Zeichnerische Rekonstruktion M Junghans nach H-V Herrmann Olympia ndash Heiligtum und Wettkampfstaumltte Muumlnchen 1972 Abb 95 4 Antikensammlung Staatliche Museen zu Berlin Foto Johannes Laurentius 6 W Riezler Weissgrundige attische Lekythen Muumlnchen 1914 Taf 23 8 Deutsches Archaumlologisches Institut Athen Fotothek ndash Reudenbach 1 F MuumltherichJE Gaehde Karolingische Buchmalerei Muumlnchen 1979 Taf 4 2ndash4 httpwwwbibliotheca-laureshamensis-digitalde (Zugriff 20022014) ndash Schmengler 1 2 3 Torsten Saumlnger Frankfurt 4 5 6 Eric Tschernow Berlin ndash Schedl 1ndash3 Dr Bernd Konrad Radolfzell 4 FrankfurtMain-Niederrad Pfarrarchiv der katholischen Kirchengemeinde Mut-ter zum Guten Rat ndash Schlie 1 Archiv der Verf 2 Archiv der Verf + D E Katz The Contours of Tolerance Jews and the Corpus Domini Altarpiece in Urbino in Art Bulletin 85 (2003) S 647ndash661 S 647 3 F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 Schmidt 1 2 London British Museum 3 M Geisberg Der Meister ES Leipzig 21924 4 Archiv Autor ndash Taxer 1 2 O Paumlcht Altniederlaumlndische Malerei Von Rogier van der Weyden bis Gerard David Muumlnchen 1994 Abb 91 S 118 Abb 93 S 120 3 4 E Panofsky Die altniederlaumlndische Malerei Ihr Ursprung und Wesen Bd 2 Koumlln 2006 Abb 387 S 236 Abb 358 S 214 ndash Stoichita 1 D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 2 3 J Bialostocki Les Museacutees de Pologne Bruxelles 1966 ndash Zaumlh 1 2 Archiv des Verf 3 Metropolitan Museum of Art Bulletin 58 (2001) S 17 4 G ForsythK Weitzmann The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai The Church and Fortress of Justinian Plates Ann Arbor (Mi) 1973 Plate 121

284 Anselm Rau und Johanna Scheel

Abb 2)51 Das Fegefeuer bespricht Gerard eher marginal in seinem Traktat Fuumlr die affektive Meditation des eigenen Todes liefert er allerdings einerseits eine Anleitung fuumlr den Betenden die Affekte nun bereits zu erwecken die vor waumlhrend und nach dem eigentlichen Todeszeit-punkt entstuumlnden ndash und sich mit ihnen im Gebet selbst zu formen52 Andererseits raumlt er dem Glaumlubigen sich zum Zwecke des ex affectu-Gebets einen Koumlrper in seinen Verwesungsstadien vor Augen zu halten53 und was mit ihm selbst bei der Beerdigung passiere54 Das Fegefeuer ist ein im Sinne mittelalterlicher Moraltheologie produktiver Gebetsinhalt da der Glaumlubige im steten Oszillieren zwischen spes und timor besonders gut zur caritas aufzusteigen vermag Diesen Tenor findet man ebenfalls bei Geert Grote in seinem getijdenboek bei der Vorrede der Toten-vigil Hier raumlt er dem betenden Leser zum Wechsel aus Psalmen und Antiphonen in Hinblick auf die Erregung von Furcht und Angst Liebe und Hoffnung in der Ausrichtung auf Gut und Boumlse und mit Blick auf das Fegefeuer bdquoHier beginnt die Vigil in duytsche die so organisiert ist denjenigen zu helfen die von hinnen gefahren sind in der Freundschaft Gottes in das Fegefeuer Und ebenso dazu [gedacht ist] den Lebenden zu helfen die sie lesen damit ihnen das Wissen um die kommenden Dinge eingedruumlckt werde auf dass sie glauben hoffen und lieben an die Dinge in Herrlichkeit Und [sie] sich dafuumlr bereit machen und sich waumlhrenddessen die ganze Zeit fuumlrchten dass ihre Tage schnell vergehen Auf dass sie sich fuumlrchten aumlngstigen grauen und beben vor dem mannigfaltigen Leid der Angst und dem Elend die den Boumlsen ereilen werden und sie so darum ihr Leben lang ndash das hier aumluszligerst kurz ist ndash darauf hinarbeiten diesem Leid zu entgehen und [die Vigil ist auch hilfreich] weil ein Mensch diese beiden Dinge ndash Gutes in Liebe und Boumlses in Angst ndash besser ansehen (aensien) kann und erkennen und sich uumlberdenken damit er besser bitten kann und [es] mehr begehrt (begheert) und mehr liebt (myn[n]t) fuumlr diejenigen zu bitten die im Fegefeuer sind fuumlr ihre baldige Erloumlsung und dafuumlr Gottes Ehre zu vermehren [hellip] So hilft das Bitten der Lebenden den Toten und das Bitten fuumlr die Toten hilft den Lebendigen sich auf den Tod vorzubereiten [hellip] Und dazu ist das Singen dieser Psalmen heranzuziehen [und zwar] immer nach den Bedeutungen der Antiphone und den Sinn der

51 Die Darstellung von Seelen im Fegefeuer taucht als Buchillumination ab dem 13 Jahrhundert bereits vereinzelt auf und diente in Kombination mit Jenseitsvisionen Bibeltexten und moralisierenden Inhalten vor allem dem Gedenken an bereits Verstorbene wie auch zur persoumlnlichen Mediation des Lesers Oft findet eine narrative Einbindung statt Vgl dazu M Borowska Das Entfachen des Fegefeuers in der europaumlischen Miniatur des 13 Jahrhunderts in Umeni 57 (2009) S 310ndash325 Zum ikonografischen Kontext der hier gewaumlhlten Illumination vgl die Untersuchung von I M Veldman Purgatory in the Low Lands in B BukovinskaacuteL Slaviacuteček (Hgg) Pictura verba cupit Essays for Lubomiacuter Konečnyacute Prag 2006 S 169ndash180 va 170ndash17252 De Spir Asc Kap 19 In den folgenden Kapiteln stellt Gerard dem Leser dasselbe Prinzip an den Themen des Juumlngsten Gerichts der Houmllle und des Himmelreiches vor 53 bdquoItem interdum propone oculis tuis ymaginem alicuius hominis morientis et diligenter respice formam modum et ordinem quibus ad mortem deveniturldquo De Spir Asc Kap 1954 Weitere beliebte Illustrationen zum Totenoffizium im Stundenbuch des 15 Jahrhundert sind ebenfalls die Darstellung eines Toten um dessen Seele Engel und Teufel kaumlmpfen Schaumldeldarstellungen Seelen in Abrahams Schoszlig Himmel und Houmllle der Tod als Angreifer die Auferweckung des Lazarus sowie die Psychostasis mit Michael als Seelenwaumlger Diese Motive werden eher als ganzseitige Miniaturen dargestellt und bekommen zum Teil in der begleitenden Initiale jene zwei betenden Seelen im Fegefeuer hinzugefuumlgt

Meditation und Gebet 285

Antiphone soll man dazu in den Psalmen bedenken in allen Stundengebeten Dabei ist gut dass man sowohl vor als auch danach die Antiphonen spreche und schreibeldquo55

Mit der sich gegenseitig amplifizierenden Kombination von selbstreflexiven Affekt er-regendem und ausdruumlckendem Psalmentext mit der bildlichen Darstellung von Beerdigung mit Fegefeuer und mit derartigen Aufstiegsmodellen vertraut kann der betende Leser hier den eigenen Tod und die Bestrafung seiner Seele als Konsequenz der eigenen irdischen Suumlndhaftig-keit produktiv in seine Bemuumlhungen des geistigen Aufstiegs und seine Selbsttransformation kanalisieren

Imagination und Illumination

Das Gebetsleben des mittelalterlichen Glaumlubigen ist gekennzeichnet durch seine Affektivitaumlt Die affectus werden mit Gebetstexten und Psalmenreihen sowie mithilfe bildlicher Darstel-lungen sorgfaumlltig kultiviert und systematisch eingeuumlbt Dabei sind dies altbekannte ndash weil biblische ndash Text- und Bildinhalte deren affizierendes Potential auf neue Arten ausgeschoumlpft wird Texte und physische wie gerade geistige Bilder erinnern den Betenden nicht nur unver-bindlich an bereits bekannte Ereignisse Situationen und Figuren sondern lassen ihn sich mit diesen durch affektive und reflexive Meditationspraktiken identifizieren Fremde Worte und Emotionen werden darin zu den eigenen Vorbilder aus dem Kreis der Heiligen werden so zu Imaginationsfiguren das Selbst wird auf Gott ausgerichtet und in all seinen Aspekten gezielt emotional reflektiert So unterschiedlich die formale Herangehensweise dieser Praktiken bei den drei untersuchten Autoren Hugo von St Viktor Bonaventura und Gerard Zerbolt van Zutphen zu sein scheint vermitteln sie doch die selbe zentrale Maszliggabe oratio est affectus ndash bdquoGebet ist Affektldquo

Uumlbersetzung Hugo von St Viktor De meditando PL 176 993ndash99

Die Meditation ist die haumlufige Erwaumlgung (cogitatio) der Ursache (causa) und des inneren Be-weggrundes (ratio) eines einzelnen zu untersuchenden Gegenstandes (res) was seine Art sei (modus) was die Ursache und was der Beweggrund

Es gibt drei Arten (genus) der Meditation eine in Bezug auf die Schoumlpfung (in creaturis) eine hinsichtlich der Schrift (in scripturis) und eine hinsichtlich der Sitten (in moribus) Die erste erwaumlchst aus der Bewunderung (admiratio) die zweite aus der Lektuumlre (lectio) die dritte aus der umsichtigen Beobachtung (circumspectio)

Zuerst bringt die admiratio die Frage (quaestio) hervor die Frage das Erforschen (investi-gatio) und das Erforschen die Entdeckung (inventio) Dies ist damit die Bewunderung der Ord-

55 Fuumlr den altniederlaumlndischen Text vgl Wijk (cf Anm 49) S 155 Zum Antiphon das der Vigil vorangestellt ist vgl Anm 50

286 Anselm Rau und Johanna Scheel

nung (dispositio) die Frage nach der Ursache und die Entdeckung des inneren Beweggrundes Die Bewunderung beruht auf der Betrachtung der Ordnung im Himmel das ist die Gleich-artigkeit von allem und der Houmlhen und der Tiefen (alta et depressa) auf der Erde Die Frage betrifft die Ursache (causa) des irdischen Lebens auf Erden und des himmlischen Lebens im Himmel Das Erforschen fragt nach dem inneren Beweggrund dass so wie die Erde auch das irdische Leben beschaffen ist und dass der Beschaffenheit des Himmels selbst auch das himm-lische Leben gleicht

Bei der Lektuumlre (lectio) aber erfolgt die Betrachtung (considerare) folgendermaszligenAls erstes dient die lectio dazu durch die Bereitstellung des Stoffes (materia) die Wahr-

heit zu erkennen (cognoscere) die meditatio fuumlgt ihn zusammen (coaptare) die oratio hebt ihn empor (sublevare) die operatio (Ausfuumlhrung) wendet ihn an (componere) und die contemplatio frohlockt in ihm selbst (exsultare)

Es ist durch die Meditation der Schriften zu erkennen auf welche Weise es sich gehoumlrt etwas zu wissen Als Beispiel steht geschrieben Declina a malo et fac bonum (Vg Ps 3627 ndash Wende dich ab von dem Boumlsen und tue Gutes EUuml Ps 3727) Deshalb wurde zuvor gesagt die meditatio wendet sich der lectio zu um sich vom Boumlsen abzuwenden und darauf Gutes zu tun Der Grund (causa) hierfuumlr ist wenn sich nicht zuerst das Boumlse zuruumlckzoumlge wuumlrde das Gute nicht herantreten koumlnnen Der innere Beweggrund (ratio) aber ist so wie zuerst die Sproumlsslinge des Boumlsen mit ihrer Wurzel ausgerissen werden muumlssen so muss danach das Gute (ein-)ge-pflanzt werden Warum wurde daher gesagt Wende dich ab von dem Boumlsen Weil es einem auf dem Weg begegnet Man wendet sich deshalb ab weil wir es wo auch immer nicht vermoumlgen durch Staumlrke zu widerstehen wir entkommen ihm lediglich wenn wir uns mit Klugheit und Vernunft (consilio et ratio) von ihm abwenden Auch muumlssen wir uns vom Boumlsen abwenden um dem Naumlhrstoff (materia) zur Suumlnde aus dem Weg zu gehen ndash beispielsweise ist von Hochmut (superbia) Begehrlichkeit (incontinentia) Begierde (concupiscentia) Neid (invidia) und Streit (contentio) abzulassen um sich vom Reichtum (abundantia) der Schoumlnheit (species) des Flei-sches und der Besitzgier (amor possessiones) abzuwenden Dies bedeutet bdquosich abzuwendenldquo Desgleichen wenn auf diese Weise von allem Boumlsen sich abzuwenden angeraten ist so wird die Verrichtung alles Guten verlangt Und so ist also der ebenso schuldig bzw angeklagt der allein nur alles Boumlse meidet wie derjenige der nicht zugleich all das Gute tut Aber wenn dies so ist wer ist dann kein Angeklagter (reus) Folglich wird uns anbefohlen uns von allem Boumlsen loszusagen Andererseits kommt das Gute zum Einen aus dem was sich gehoumlrt (necessitas) und zum anderen aus dem Willen (voluntas) Es gehoumlren sich die Dinge einer Vorschrift (praecep-tum) und die eines Geluumlbdes (votum) alles uumlbrige wird erfuumlllt wenn eine Sache [also Schuld] mehr als nur vergolten wird (supererogare) und einem nichts mehr anlastet

Daher zielt die Meditation bei der lectio darauf ab zu ergruumlnden auf welche Weise et-was das erkannt wird gut ist warum und wie es zu erreichen ist weil es ndash ist es [ersteinmal] erkannt ndash auch zu verrichten ist Die Meditation ist das Entdeckungsvermoumlgen der vorgefassten Absicht (excogitatio consilii) zu erwaumlgen auf welche Weise das Gute das erkannt wurde erfuumlllt wird denn das Erkannte ist unbrauchbar wird es nicht vollbracht

Deshalb ist die Meditation bei der lectio eine dreifache Betrachtung nach der historia der allegoria und der tropologia Gemaumlszlig der historia erfolgt die Meditation wenn wir nach dem

Meditation und Gebet 287

vollendeten inneren Beweggrund der Dinge fragen die geschehen sind und diesen hinsichtlich seiner uumlbereinstimmenden Art und Weise (modus) bezuumlglich der Zeiten (tempora) und Orte (loci) bestaunen (admirare) Bei dieser Betrachtung der goumlttlichen Ratschluumlsse (iudicium) laumlsst man nicht davon ab daruumlber nachzudenken dass diese richtigen und gerechten (rectus et iustus) Entscheidungen zu keiner Zeit den Beistand [Gottes fuumlr die Menschen] entzogen (deesse) und durch sie das geschah was sich gehoumlrte und vergolten wurde was gerecht war (iustum fuit)

Die Meditation hinsichtlich der allegoria beschaumlftigt sich mit der Gliederung (dispositio) der vorangegangenen und zukuumlnftigen Dinge und so wie fuumlr den Verstand (intelligentia) an-gemessen richtet sie dabei ihre Aufmerksamkeit auf deren uumlbereinstimmende Bedeutung in ihrer bewundernswerten Vernunftmaumlszligigkeit (ratio) und Vorhersehung (providentia) und auf ihre fuumlr den Glauben (fides) geschaffene Gestalt (forma)

Bezuumlglich der tropologia beschaumlftigt sich die Meditation damit welche Frucht die Worte der lectio hervorbringen und erforscht (exquirere) was diese wenn sie ausgefuumlhrt werden [im Sinne des eigentlichen Aussprechens der Worte aber auch die Ausfuumlhrung ihres Inhaltes] ein-pflanzen (insinuere) und dabei zugleich lehren was zu vermeiden ist Sie stellt vor Augen was durch die lectio der Schrift zur Unterweisung (eruditio) zur Ermahnung (exhortatio) zur Troumls-tung (consolatio) und zum Schrecken (terror) dient Hierdurch erleuchtet die tropologia dahin-gehend was zum Verstehen der Tugenden (virtus) fuumlhrt sie naumlhrt (nutrire) den Affekt (affectio) und lehrt (edocere) die Lebensfuumlhrung auf dem Pfad der Tugenden

Die Meditation der Sitten (mos) erfolgt gemaumlszlig der Affekte (affectus) der Erwaumlgungen (cogi-tationes) und der Werke (opera)

Hinsichtlich der Affekte ist zu betrachten wie sie recht und aufrichtig (rectus et sincerus) zu sein vermoumlgen damit ist gemeint auf das und zu was hin sie geschuldet sein muumlssen und in welcher Weise sie zu sein haben Zu differenzieren ist naumlmlich dass das was sich nicht gehoumlrt (non oportet) boumlse ist und zugleich das was sich gehoumlrt zu lieben ist ndash das zu lieben das sich gleichwie nicht gehoumlrt ist boumlse Daher handelt es sich um einen guten Affekt wenn er auf das ausgerichtet ist auf das er verpflichtet ist und in der Weise wie es sich gehoumlrt

Amnon liebte (diligere) seine Schwester und dies war der Affekt zu dem er bestimmt war doch weil er Boumlses begehrte war es nicht der Affekt wie er ihn schuldete (vgl 2 Sam 13) So kann der Affekt auf das gerichtet sein zu was er gehoumlrt dies aber nicht in der [angemessenen] Art und Weise Niemals aber kann der Affekt so sein wie er zu sein hat wenn er nicht auf das ihm Zugehoumlrige ausgerichtet ist Auf das ausgerichtet zu was er gehoumlrt bedeutet dass er recht ist und in der Art und Weise wie es sich gehoumlrt und dementsprechend ist er rein Daher werden die Affekte in den Erwaumlgungen betrachtet damit sie rein (mundus) und geordnet (ordi-natus) sind Rein sind sie wenn weder etwas Boumlses von den Affekten hervorgebracht wird noch das Boumlse die Affekte hervorbringt Dass sie geordnet sind meint wenn sie vernuumlnftigerweise aufgrund des ihnen eigenen Anlasses (suo tempore) aufkommen (advenire) Es ist nicht ohne Schaden (vitium) [naumlmlich im Sinne des korrekten Vorgehens nicht ohne Formfehler] bereits das Gute zu einem diesem nicht angemessenen Zeitpunkt zu erwaumlgen wie etwa an die lectio waumlhrend der oratio zu denken oder auch an die oratio waumlhrend der lectio

Bei den Werken ist als erstes zu betrachten was zum Beispiel durch die gute Absicht (bona intentio) geschieht Um eine gute Absicht handelt es sich wenn sie einfach und aufrichtig ist

288 Anselm Rau und Johanna Scheel

(simplex et recta) Die bona intentio ist arglos ohne Hinterlist (malitia) und aufrichtig ohne Ignoranz (ignorantia) Die naumlmlich ohne Hinterlist ist besitzt den Eifer (zelus) Ist sie aber aus der [bewussten] Unkenntnis gegenuumlber dem Wissen (scientia) (Roumlm 102) geboren verfuumlgt sie nicht uumlber den [wahren] Eifer Daher ist es notwendig dass die Absicht aufrichtig ist in der Bescheidenheit (discretio) und arglos im Wohlwollen (benignitas) Bei den Werken ist zu be-trachten dass sie aus der aufkommenden guten Absicht heraus mit beharrlicher Leidenschaft (fervor) schlieszliglich ans Ziel gefuumlhrt werden damit nicht die Beharrlichkeit (perseverantia) ge-laumlhmt (torpere) und die Liebe (amor) nicht lau wird (tepescare)

Auf gleiche Weise erfolgt die meditatio der Sitten in einer zweifachen Betrachtung naumlmlich einer inneren und einer aumluszligeren Die aumluszligere blickt auf das Ansehen (fama) die innere auf das Gewissen (conscientia) Die aumluszligere Betrachtung erfolgt gemaumlszlig dem was ziert (decere) und was nuumltzt (expedire) was als Beispiel (exemplum) dient und was den Lohn (meritum) hervorbringt ndash uns zum Lohn und den Naumlchsten als Beispiel Die innere Betrachtung dagegen schaut auf das Gewissen damit es rein (mundus) sei ohne Anklage (accusatio) zu erleiden (pati) ob nun durch die Laumlhmung (torpor) des Guten oder die Hartnaumlckigkeit (praesumptio) des Boumlsen Rein ist aber jenes Gewissen das weder durch das Vergangene zu recht angeklagt (accusare) noch durch das Gegenwaumlrtige unrechtmaumlszligig erfreut (delectare) wird

Daher laumlsst die meditatio der Sitten ihre Betrachtung nicht ruhen damit sie jegliche Re-gungen (motus) die sich im Herzen erheben bemerkt und erwaumlgt woher sie kommen und worauf sie abzielen (tendere) Das heiszligt woher sie kommen gemaumlszlig ihrem Ursprung und wo-nach sie streben hinsichtlich ihres Ziels Alles ist naumlmlich eine Bewegung aus irgendetwas und auf irgendetwas Die Bewegungen des Herzens sind manchmal offenkundigen Ursprungs manchmal entspringen sie aber auch Verborgenem Bei denen der Ursprung offenkundig ist ist er bisweilen durch das Gute bisweilen aufgrund des Boumlsen erwiesen Was offenkundig gut ist kommt von Gott was aber deutlich boumlse erscheint entspringt entweder dem Teufel oder dem Fleisch Dies sind naumlmlich die drei Urheber (auctores) aller Vorstellungen (suggestio) und aller Eingebungen (aspiratio) die unsichtbar an das Herz herantreten und aus jenen drei hervor-gehen Entspringen die Bewegungen des Herzens daher dem Verborgenen koumlnnen sie manch-mal aus dem Guten und dem Geheimen hervorgehen und sind manchmal boumlse und zweifelhaft (dubius) Die dem Guten entspringen kommen von Gott die aber dem Boumlsen entstammen sind entweder des Teufels oder des Fleisches

Die Bewegungen die folglich offenkundig sind sei es im Guten oder Boumlsen werden auf den ersten Blick durch ihren Ursprung angezeigt Jene aber die zweifelhaft bleiben hinsichtlich ih-res Grundes sind am Ende zu uumlberpruumlfen (probare) Ihr Ergebnis [oder Ausgang] (exitus) zeigt naumlmlich deutlich was vom Ursprung her verborgen war und deswegen muss derjenige der es nicht vermochte den Ausgangspunkt seiner Herzensbewegungen zu beurteilen (iudicare) das Ziel und die Ausfuumlhrung [bzw Vollendung] (finis et consummatio) untersuchen (investigare) Die Bewegungen naumlmlich die zweifelhaft und ungewiss sind sind vom verborgenen Guten oder Boumlsen Wie gesagt wurde haben die schlechten Regungen ihren Ursprung entweder beim Teufel oder im Fleisch Diese aber sind beide boumlse sie unterscheiden sich nicht indem oder durch was sie boumlse sind doch unterscheiden sie sich dahingehend dass die Regungen des Her-zens die dem Fleisch entspringen haumlufig aus einer Notwendigkeit (necessitas) heranwachsen

Meditation und Gebet 289

die aber die tatsaumlchlich vom Teufel kommen nehmen noch oumlfter wider der Vernunft (ratio) ihren Anfang (oriri) Was naumlmlich vom Teufel eingegeben wird (suggerere) ist in der Tat dem Menschen fremd und wird deswegen haumlufig von der menschlichen Vernunft abgelehnt weil er beispielsweise unlaumlngst gesaumlttigt Hunger leidet (pati) kurz zuvor noch trunken (inebriatus) vor Durst (sitis) gluumlht (aestuare) oder wenn er nach einem ausgiebigen Schlaf (dormitio) sich erhebend vom Traum (somnus) bedruumlckt (praegravare) wird

Hieraus also werden die Werke des Teufels differenziert betrachtet weil sie ja an den Men-schen von auszligen herangetragen werden und der menschlichen Vernunft fremd sind Bei den Werken des Fleisches und ihren Eingebungen liegt der Grund des Oumlfteren in einer vorangegan-genen Notwendigkeit Aber weil sie Ziel und Maszlig (modus et mensura) uumlbersteigen wachsen sie zum Uumlberfluss (superfluitas) heran Dies ist als Beispiel eben gerade dann der Fall wenn nach der Einnahme einer Mahlzeit der Hunger hemmungslos (immoderatus) begehrt (appetere) und nach Enthaltsamkeit (abstinentia) das Maszlig (mensura) bei der Aufnahme von Speise (edulium) nicht gehalten wird

Daher wird die meditatio der Sitten aufgrund eines dreifachen Urteils betrieben Das erste urteilt zwischen Tag und Nacht das zweite zwischen Tag und Tag und das dritte schlieszliglich untersucht den gesamten Tag (vgl Roumlm 145) Zwischen Nacht und Tag zu urteilen meint das Boumlse vom Guten zu (unter-)scheiden Die Beurteilung zwischen Tag und Tag bedeutet eine Un-terscheidung zwischen etwas Gutem und etwas Besserem vorzunehmen Uumlber den gesamten Tag zu richten ist schlieszliglich das einzelne Gute fuumlr den eigenen Lohn zu ermessen (aestimare)

So hat die meditatio der Sitten bei jeglichem Umgang (conversatio) das Ziel und die Rich-tung (directio) im Blick Das Ziel ist wohin man strebt die Richtung wodurch man leichter ans Ziel gelangt Jeder naumlmlich der zu irgend etwas strebt so wie etwas seine Bahn (cursus) lenkt und unaufhoumlrlich weiterzieht kommt schneller ans Ziel Es gibt daher Gutes durch das man stark bewegt ist (moveri) zugleich gibt es aber wenig her durch das man vorankommt (pro-moveri) Anderes dagegen fuumlhrt mit etwas Muumlhe (labor) zu groszligem Gewinn (fructus) Und diese sind folglich zu unterscheiden und das Bessere das mehr nuumltzt auszuwaumlhlen Welches auch immer mehr nuumltzt ist besser und es gehoumlrt sich jedes Werk auf seinen Ertrag hin zu beurteilen Indem viele diese Unterscheidung (discretio) nicht einhielten haben sie sich zwar aufs aumluszligerste bemuumlht sind jedoch nur wenig vorangekommen weil sie das Auge aumluszligerlich so sehr auf die Gestalt (species) der Werke richteten und nicht innerlich auf den Gewinn durch die Tugenden blickten Sie ergoumltzen sich daran groszlige Taten zu verrichten anstatt dass sie das Nuumltz-liche (utilia) uumlben (exercere) um sich selbst zu bessern (emendari) Dabei schaumltzten (diligere) sie vielmehr das durch das sie den Anschein erwecken (videri) konnten [so zu sein]

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zunaumlchst das was man schuldet entweder auf-grund einer Vorschrift (praeceptum) oder eines Geluumlbdes (votum) Diesbezuumlglich ist die erste Tat der meditatio zu ermitteln ist sie oder es erfuumlllt fuumlhrt es zum Lohn und wenn nicht bringt dies den Anklagezustand (reatus) hervor Es sind also zuerst die Dinge zu tun die nicht ohne Schuld (culpa) weggelassen werden koumlnnen Danach ist die meditatio alsdann so zu verrichten dass wenn etwas durch freiwillige Uumlbung (exercitatio) noch hinzugefuumlgt wird die Pflicht-erfuumlllung [eigtl Schuld] (debitum) nicht verhindert wird (impedire) Die einen die das nicht zu leisten vermoumlgen was sie schulden wollen was sie nicht muumlssen Die anderen wenn sie im-

290 Anselm Rau und Johanna Scheel

stande sind zu tun was sie schulden bringen freiwillig Hindernisse (impedimentum) mit sich indem sie etwas wollen was sie nicht muumlssen

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zwei Dinge des Boumlsen vor denen man bei der Ver-richtung von Gutem besonders auf der Hut sein muss die Betruumlbnis [Niedergeschlagenheit] (afflictio) und die Besessenheit [Vereinnahmung] (occupatio) Die afflictio fuumlhrt zur Bitterkeit (amaritudo) die occupatio zur Zerstreuung (dissipatio) Mit der afflictio verbittert die Suumlszlige (dulcedo) des Geistes und mit der occupatio wird die Ruhe (tranquillitas) zerstoumlrt (dissipare) Es herrscht Betruumlbnis wenn man fuumlr jene Dinge die man nicht vermag aufgrund der eigenen Ungeduld (impatientia) ungluumlcklich wird (urere) Dagegen handelt es sich um Besessenheit (occupatio) wenn man in seinem Handeln (nach seinem Vermoumlgen) aufgrund der impatientia gequaumllt wird (agitare) Folglich darf die Seele (animus) nicht aufgrund des Boumlsen verbittert wer-den sie muss ihr Unvermoumlgen (impossibilitas) geduldig (patienter) aushalten Genauso darf sie aber auch nicht vom Boumlsen eingenommen werden und darf ihr Vermoumlgen (possibilitas) nicht uumlber ihr eigenes Maszlig hinaus ausdehnen (extendere) Daher muss die meditatio der Sitten in einer weiteren Betrachtung der Lebensfuumlhrung zu einem Urteil kommen und dabei billigen dass es weder gut ist die Dinge die man nicht vermag ungeduldig (impatienter) zu verlangen (appetere) noch die welche man erreicht toumlricht (insipienter) zu verschmaumlhen (fastidire) Wer naumlmlich immer das begehrt was er nicht vermag und das was er [jedoch] vermag verabscheut wird sich weder am Gegenwaumlrtigen erfreuen (frui) noch am Zukuumlnftigen saumlttigen (satiare) Er verlaumlsst naumlmlich das Gute unentwickelt vor der Vollendung und eignet sich das gerade erst Be-gonnene vorzeitig an Deswegen ist es gut aufgrund des eigenen Guten zufrieden zu sein und das gegenwaumlrtige Gute durch hinzukommendes Gutes zu vermehren und es nicht aufgrund des Zukuumlnftigen wegzuwerfen (abicere) Der Austausch (commutatio) des Guten ist naumlmlich ein Leichtes (levitas) seine Uumlbung (exercitatio) aber die Tugend Oft eilen sie auf unterschiedlichen Wegen die einen die ein fruumlheres durch ein neues Gutes fallen lassen (abicere) und die ande-ren die [sich] vom Untersten zum Houmlchsten emporschwingen (conscendere) Wer naumlmlich nach Veraumlnderung (mutatio) fragt ist uumlberdruumlssig (fastidiosus) so wie der der nach dem Voran-schreiten (profectus) strebt eifrig bemuumlht ist (studiosus) Am aufrechtesten beschreitet daher derjenige den Weg der dabei so auf das Bessere brennt (fervere) dass er des Guten nicht uumlber-druumlssig wird sondern es vorerst empor haumllt solange bis er es spaumlter zu der ihm angemessenen Zeit sich aneignet (apprehendere)

Abbildungsnachweis

Einband Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders

Farbtafeln 1 (zu Beitrag Rosenwein) Coll BNU de Strasbourg ndash 2 (zu Beitrag Ferguson) Ar-chiv der Verf ndash 3 (zu Beitrag Herding) Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preu-szligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders ndash 4 (zu Beitrag Droste) R Kahsnitz Die Groszligen Schnitzaltaumlre Spaumltgotik in Suumlddeutschland Oumlsterreich Suumldtirol Muumlnchen 2005 Taf 53 ndash 5 6 (zu Beitrag Schedl) 75 Jahre 1933ndash2008 Kirche Mutter vom Guten Rat Festschrift und Chro-nik FrankfurtM 2008 S 92 Dr Bernd Konrad Radolfzell ndash 7 8 9 (zu Beitrag Zaumlh) Archiv des Autors ndash 10 (zu Beitrag Niehr) Universitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Media-thek 11 12 (zu Beitrag Muumlller) Autorin ndash 13 14 15 (zu Beitrag Schlie) Su concessione del Ministero dei beni e delle attivitagrave culturali e del turismo ndash Galleria Nazionale delle Marche ndash Urbino Archivio fotografico Archiv der Verf F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 ndash 16 17 (zu Beitrag Stoichita) D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 ndash 18 19 20 (zu Beitrag Schmidt) London British Museum C Geissmar-BrandiE Louis (Hgg) Glaube Hoffnung Liebe Tod Wien 1995 S 149 Archiv Autor ndash 21 (zu Beitrag Jung) Autorin

Textabbildungen Droste 1 3 4 Autorin 2 E Oellermann Der Hochaltar in St Martin zu Lorch am Rhein in H KrohmE Oellermann (Hrsg) Fluumlgelaltaumlre des spaumlten Mittelalters Ber-lin 1992 Abb 2 ndash Ferguson 1ndash3 Archiv der Verf ndash Frese 1 2 3 5 M BrandtA Eggebrecht (Hgg) Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen Katalog der Ausstellung Hil-desheim 1993 Bd 1 S 386f Abb 197 u 198 Bd 2 S 583 KatNr VIIIndash32 S 604 KatNr IXndash8 4 G LutzA Weyer (Hgg) 1000 Jahre St Michael in Hildesheim Kirche ndash Kloster ndash Stifter Peterberg 2012 S 148 Abb 118 ndash Gruumlndler 1ndash4 L DomenicoA Nova (Hg) Leonardo da Vincirsquos Anatomical World Language Context and Disegno Akten der Internationalen Tagung Florenz 30ndash31 Mai 2008 Venedig 2011 S 237 S 236 S 241 S 186 5 6 Le journal de Jacopo da Pontormo traduit par Jean-Claude Lebensztejn avec la collaboration drsquoAlessandro Parronchi Paris 1992 S 46 S 50 ndash Herding 1 2 3 4 5 6 7 Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders 8 Max J Friedlaumlnder Early Netherlandish Painting 14 vols Leiden und Bruumlssel 1967ndash1974 vol II 1967 pl 10 Nr 3i 9 Wolfenbuumlttel Herzog-August-Bibliothek ndash Jung 1 2 3 4 5 Autorin ndash Kessler 1 6 7 Autor 2 3 Museo delle Terme Rom 4 British Museum London 5 Alexei Lidov ndash Maxwell 1 2 AHN 3 Autor 4 Sancho el Mayor y sus herederos ed I Bango Torviso et al 2006 cat 25 5 BNE ndash Muumlller 1 Italian painting c 1330ndash1550 I National Gallery in Prague II Collections in the Czech Repub-lic Illustrated summary catalogue Prag 2008 2 Collection of The John and Mable Ringling Museum of Art the State Art Museum of Florida Florida State University 3 2014 copy Archivio Fotografico ndash Fondazione Musei Civici di Venezia ndash Niehr 1 A Schuttwolf (Hg) Ausst-Kat Jahreszeiten der Gefuumlhle Das Gothaer Liebespaar und die Minne im Spaumltmittelalter Ostfil-

400 Abbildungsnachweis

dern-Ruit 1998 2 D de Vos Hans Memling Das Gesamtwerk AntwerpenStuttgart 1994 S 278ndash283 TH Borchert Hans Memling Portraits Stuttgart 2005 S 173f Nr 23 3 Univer-sitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Mediathek ndash Pfisterer 1 E Steinmann ldquoLa mano di Michelangeloldquo in Studien aus Kunst und Geschichte Friedrich Schneider zum siebzigsten Geburtstag Freiburg iBr 1906 unnum Taf 2 R Bernini ua La mano e il volto di Antonio Canova PossagnoQuinto di Treviso 2008 S 197 3 U Klein Zur Forschungsgeschichte des Duumlrer-Hauses in GU GroszligmannF Sonnenberger (Hgg) Das Duumlrer-Haus Neue Ergebnisse der Forschung Nuumlrnberg 2007 S 105 nach Carl A Heideloff Die Ornamentik des Mittelalters Bd 3 Nuumlrnberg 1847 S 42 4 WH Vroon Het wonderlid van Jan de Witt en andere vaderland-se relieken Nijmegen 1997 S 68 5 Autor nach GF Tomasini Petrarca Redivivus Padua sup21650 S 128 6 A Picturesque Tour Through Holland Brabant and Part of France made in the autum of 1789 by Samuel Ireland London sup21796 Bd 2 Taf nach S 13 ndash Pinkus 1 2 3 4 5 6 Autor 7 8 Institut fuumlr Kunstgeschichte Universitaumlt Wien Fotothek ndash RauScheel 1 M Gregori Uf-fizien und Palazzo Pitti Muumlnchen 1994 S 31 2 Den Haag Koninklijke Bibliotheek ndash Raeck 1 2 5 7 Fotothek des Instituts fuumlr Archaumlologische Wissenschaften AbtI Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main 3 Zeichnerische Rekonstruktion M Junghans nach H-V Herrmann Olympia ndash Heiligtum und Wettkampfstaumltte Muumlnchen 1972 Abb 95 4 Antikensammlung Staatliche Museen zu Berlin Foto Johannes Laurentius 6 W Riezler Weissgrundige attische Lekythen Muumlnchen 1914 Taf 23 8 Deutsches Archaumlologisches Institut Athen Fotothek ndash Reudenbach 1 F MuumltherichJE Gaehde Karolingische Buchmalerei Muumlnchen 1979 Taf 4 2ndash4 httpwwwbibliotheca-laureshamensis-digitalde (Zugriff 20022014) ndash Schmengler 1 2 3 Torsten Saumlnger Frankfurt 4 5 6 Eric Tschernow Berlin ndash Schedl 1ndash3 Dr Bernd Konrad Radolfzell 4 FrankfurtMain-Niederrad Pfarrarchiv der katholischen Kirchengemeinde Mut-ter zum Guten Rat ndash Schlie 1 Archiv der Verf 2 Archiv der Verf + D E Katz The Contours of Tolerance Jews and the Corpus Domini Altarpiece in Urbino in Art Bulletin 85 (2003) S 647ndash661 S 647 3 F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 Schmidt 1 2 London British Museum 3 M Geisberg Der Meister ES Leipzig 21924 4 Archiv Autor ndash Taxer 1 2 O Paumlcht Altniederlaumlndische Malerei Von Rogier van der Weyden bis Gerard David Muumlnchen 1994 Abb 91 S 118 Abb 93 S 120 3 4 E Panofsky Die altniederlaumlndische Malerei Ihr Ursprung und Wesen Bd 2 Koumlln 2006 Abb 387 S 236 Abb 358 S 214 ndash Stoichita 1 D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 2 3 J Bialostocki Les Museacutees de Pologne Bruxelles 1966 ndash Zaumlh 1 2 Archiv des Verf 3 Metropolitan Museum of Art Bulletin 58 (2001) S 17 4 G ForsythK Weitzmann The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai The Church and Fortress of Justinian Plates Ann Arbor (Mi) 1973 Plate 121

Meditation und Gebet 285

Antiphone soll man dazu in den Psalmen bedenken in allen Stundengebeten Dabei ist gut dass man sowohl vor als auch danach die Antiphonen spreche und schreibeldquo55

Mit der sich gegenseitig amplifizierenden Kombination von selbstreflexiven Affekt er-regendem und ausdruumlckendem Psalmentext mit der bildlichen Darstellung von Beerdigung mit Fegefeuer und mit derartigen Aufstiegsmodellen vertraut kann der betende Leser hier den eigenen Tod und die Bestrafung seiner Seele als Konsequenz der eigenen irdischen Suumlndhaftig-keit produktiv in seine Bemuumlhungen des geistigen Aufstiegs und seine Selbsttransformation kanalisieren

Imagination und Illumination

Das Gebetsleben des mittelalterlichen Glaumlubigen ist gekennzeichnet durch seine Affektivitaumlt Die affectus werden mit Gebetstexten und Psalmenreihen sowie mithilfe bildlicher Darstel-lungen sorgfaumlltig kultiviert und systematisch eingeuumlbt Dabei sind dies altbekannte ndash weil biblische ndash Text- und Bildinhalte deren affizierendes Potential auf neue Arten ausgeschoumlpft wird Texte und physische wie gerade geistige Bilder erinnern den Betenden nicht nur unver-bindlich an bereits bekannte Ereignisse Situationen und Figuren sondern lassen ihn sich mit diesen durch affektive und reflexive Meditationspraktiken identifizieren Fremde Worte und Emotionen werden darin zu den eigenen Vorbilder aus dem Kreis der Heiligen werden so zu Imaginationsfiguren das Selbst wird auf Gott ausgerichtet und in all seinen Aspekten gezielt emotional reflektiert So unterschiedlich die formale Herangehensweise dieser Praktiken bei den drei untersuchten Autoren Hugo von St Viktor Bonaventura und Gerard Zerbolt van Zutphen zu sein scheint vermitteln sie doch die selbe zentrale Maszliggabe oratio est affectus ndash bdquoGebet ist Affektldquo

Uumlbersetzung Hugo von St Viktor De meditando PL 176 993ndash99

Die Meditation ist die haumlufige Erwaumlgung (cogitatio) der Ursache (causa) und des inneren Be-weggrundes (ratio) eines einzelnen zu untersuchenden Gegenstandes (res) was seine Art sei (modus) was die Ursache und was der Beweggrund

Es gibt drei Arten (genus) der Meditation eine in Bezug auf die Schoumlpfung (in creaturis) eine hinsichtlich der Schrift (in scripturis) und eine hinsichtlich der Sitten (in moribus) Die erste erwaumlchst aus der Bewunderung (admiratio) die zweite aus der Lektuumlre (lectio) die dritte aus der umsichtigen Beobachtung (circumspectio)

Zuerst bringt die admiratio die Frage (quaestio) hervor die Frage das Erforschen (investi-gatio) und das Erforschen die Entdeckung (inventio) Dies ist damit die Bewunderung der Ord-

55 Fuumlr den altniederlaumlndischen Text vgl Wijk (cf Anm 49) S 155 Zum Antiphon das der Vigil vorangestellt ist vgl Anm 50

286 Anselm Rau und Johanna Scheel

nung (dispositio) die Frage nach der Ursache und die Entdeckung des inneren Beweggrundes Die Bewunderung beruht auf der Betrachtung der Ordnung im Himmel das ist die Gleich-artigkeit von allem und der Houmlhen und der Tiefen (alta et depressa) auf der Erde Die Frage betrifft die Ursache (causa) des irdischen Lebens auf Erden und des himmlischen Lebens im Himmel Das Erforschen fragt nach dem inneren Beweggrund dass so wie die Erde auch das irdische Leben beschaffen ist und dass der Beschaffenheit des Himmels selbst auch das himm-lische Leben gleicht

Bei der Lektuumlre (lectio) aber erfolgt die Betrachtung (considerare) folgendermaszligenAls erstes dient die lectio dazu durch die Bereitstellung des Stoffes (materia) die Wahr-

heit zu erkennen (cognoscere) die meditatio fuumlgt ihn zusammen (coaptare) die oratio hebt ihn empor (sublevare) die operatio (Ausfuumlhrung) wendet ihn an (componere) und die contemplatio frohlockt in ihm selbst (exsultare)

Es ist durch die Meditation der Schriften zu erkennen auf welche Weise es sich gehoumlrt etwas zu wissen Als Beispiel steht geschrieben Declina a malo et fac bonum (Vg Ps 3627 ndash Wende dich ab von dem Boumlsen und tue Gutes EUuml Ps 3727) Deshalb wurde zuvor gesagt die meditatio wendet sich der lectio zu um sich vom Boumlsen abzuwenden und darauf Gutes zu tun Der Grund (causa) hierfuumlr ist wenn sich nicht zuerst das Boumlse zuruumlckzoumlge wuumlrde das Gute nicht herantreten koumlnnen Der innere Beweggrund (ratio) aber ist so wie zuerst die Sproumlsslinge des Boumlsen mit ihrer Wurzel ausgerissen werden muumlssen so muss danach das Gute (ein-)ge-pflanzt werden Warum wurde daher gesagt Wende dich ab von dem Boumlsen Weil es einem auf dem Weg begegnet Man wendet sich deshalb ab weil wir es wo auch immer nicht vermoumlgen durch Staumlrke zu widerstehen wir entkommen ihm lediglich wenn wir uns mit Klugheit und Vernunft (consilio et ratio) von ihm abwenden Auch muumlssen wir uns vom Boumlsen abwenden um dem Naumlhrstoff (materia) zur Suumlnde aus dem Weg zu gehen ndash beispielsweise ist von Hochmut (superbia) Begehrlichkeit (incontinentia) Begierde (concupiscentia) Neid (invidia) und Streit (contentio) abzulassen um sich vom Reichtum (abundantia) der Schoumlnheit (species) des Flei-sches und der Besitzgier (amor possessiones) abzuwenden Dies bedeutet bdquosich abzuwendenldquo Desgleichen wenn auf diese Weise von allem Boumlsen sich abzuwenden angeraten ist so wird die Verrichtung alles Guten verlangt Und so ist also der ebenso schuldig bzw angeklagt der allein nur alles Boumlse meidet wie derjenige der nicht zugleich all das Gute tut Aber wenn dies so ist wer ist dann kein Angeklagter (reus) Folglich wird uns anbefohlen uns von allem Boumlsen loszusagen Andererseits kommt das Gute zum Einen aus dem was sich gehoumlrt (necessitas) und zum anderen aus dem Willen (voluntas) Es gehoumlren sich die Dinge einer Vorschrift (praecep-tum) und die eines Geluumlbdes (votum) alles uumlbrige wird erfuumlllt wenn eine Sache [also Schuld] mehr als nur vergolten wird (supererogare) und einem nichts mehr anlastet

Daher zielt die Meditation bei der lectio darauf ab zu ergruumlnden auf welche Weise et-was das erkannt wird gut ist warum und wie es zu erreichen ist weil es ndash ist es [ersteinmal] erkannt ndash auch zu verrichten ist Die Meditation ist das Entdeckungsvermoumlgen der vorgefassten Absicht (excogitatio consilii) zu erwaumlgen auf welche Weise das Gute das erkannt wurde erfuumlllt wird denn das Erkannte ist unbrauchbar wird es nicht vollbracht

Deshalb ist die Meditation bei der lectio eine dreifache Betrachtung nach der historia der allegoria und der tropologia Gemaumlszlig der historia erfolgt die Meditation wenn wir nach dem

Meditation und Gebet 287

vollendeten inneren Beweggrund der Dinge fragen die geschehen sind und diesen hinsichtlich seiner uumlbereinstimmenden Art und Weise (modus) bezuumlglich der Zeiten (tempora) und Orte (loci) bestaunen (admirare) Bei dieser Betrachtung der goumlttlichen Ratschluumlsse (iudicium) laumlsst man nicht davon ab daruumlber nachzudenken dass diese richtigen und gerechten (rectus et iustus) Entscheidungen zu keiner Zeit den Beistand [Gottes fuumlr die Menschen] entzogen (deesse) und durch sie das geschah was sich gehoumlrte und vergolten wurde was gerecht war (iustum fuit)

Die Meditation hinsichtlich der allegoria beschaumlftigt sich mit der Gliederung (dispositio) der vorangegangenen und zukuumlnftigen Dinge und so wie fuumlr den Verstand (intelligentia) an-gemessen richtet sie dabei ihre Aufmerksamkeit auf deren uumlbereinstimmende Bedeutung in ihrer bewundernswerten Vernunftmaumlszligigkeit (ratio) und Vorhersehung (providentia) und auf ihre fuumlr den Glauben (fides) geschaffene Gestalt (forma)

Bezuumlglich der tropologia beschaumlftigt sich die Meditation damit welche Frucht die Worte der lectio hervorbringen und erforscht (exquirere) was diese wenn sie ausgefuumlhrt werden [im Sinne des eigentlichen Aussprechens der Worte aber auch die Ausfuumlhrung ihres Inhaltes] ein-pflanzen (insinuere) und dabei zugleich lehren was zu vermeiden ist Sie stellt vor Augen was durch die lectio der Schrift zur Unterweisung (eruditio) zur Ermahnung (exhortatio) zur Troumls-tung (consolatio) und zum Schrecken (terror) dient Hierdurch erleuchtet die tropologia dahin-gehend was zum Verstehen der Tugenden (virtus) fuumlhrt sie naumlhrt (nutrire) den Affekt (affectio) und lehrt (edocere) die Lebensfuumlhrung auf dem Pfad der Tugenden

Die Meditation der Sitten (mos) erfolgt gemaumlszlig der Affekte (affectus) der Erwaumlgungen (cogi-tationes) und der Werke (opera)

Hinsichtlich der Affekte ist zu betrachten wie sie recht und aufrichtig (rectus et sincerus) zu sein vermoumlgen damit ist gemeint auf das und zu was hin sie geschuldet sein muumlssen und in welcher Weise sie zu sein haben Zu differenzieren ist naumlmlich dass das was sich nicht gehoumlrt (non oportet) boumlse ist und zugleich das was sich gehoumlrt zu lieben ist ndash das zu lieben das sich gleichwie nicht gehoumlrt ist boumlse Daher handelt es sich um einen guten Affekt wenn er auf das ausgerichtet ist auf das er verpflichtet ist und in der Weise wie es sich gehoumlrt

Amnon liebte (diligere) seine Schwester und dies war der Affekt zu dem er bestimmt war doch weil er Boumlses begehrte war es nicht der Affekt wie er ihn schuldete (vgl 2 Sam 13) So kann der Affekt auf das gerichtet sein zu was er gehoumlrt dies aber nicht in der [angemessenen] Art und Weise Niemals aber kann der Affekt so sein wie er zu sein hat wenn er nicht auf das ihm Zugehoumlrige ausgerichtet ist Auf das ausgerichtet zu was er gehoumlrt bedeutet dass er recht ist und in der Art und Weise wie es sich gehoumlrt und dementsprechend ist er rein Daher werden die Affekte in den Erwaumlgungen betrachtet damit sie rein (mundus) und geordnet (ordi-natus) sind Rein sind sie wenn weder etwas Boumlses von den Affekten hervorgebracht wird noch das Boumlse die Affekte hervorbringt Dass sie geordnet sind meint wenn sie vernuumlnftigerweise aufgrund des ihnen eigenen Anlasses (suo tempore) aufkommen (advenire) Es ist nicht ohne Schaden (vitium) [naumlmlich im Sinne des korrekten Vorgehens nicht ohne Formfehler] bereits das Gute zu einem diesem nicht angemessenen Zeitpunkt zu erwaumlgen wie etwa an die lectio waumlhrend der oratio zu denken oder auch an die oratio waumlhrend der lectio

Bei den Werken ist als erstes zu betrachten was zum Beispiel durch die gute Absicht (bona intentio) geschieht Um eine gute Absicht handelt es sich wenn sie einfach und aufrichtig ist

288 Anselm Rau und Johanna Scheel

(simplex et recta) Die bona intentio ist arglos ohne Hinterlist (malitia) und aufrichtig ohne Ignoranz (ignorantia) Die naumlmlich ohne Hinterlist ist besitzt den Eifer (zelus) Ist sie aber aus der [bewussten] Unkenntnis gegenuumlber dem Wissen (scientia) (Roumlm 102) geboren verfuumlgt sie nicht uumlber den [wahren] Eifer Daher ist es notwendig dass die Absicht aufrichtig ist in der Bescheidenheit (discretio) und arglos im Wohlwollen (benignitas) Bei den Werken ist zu be-trachten dass sie aus der aufkommenden guten Absicht heraus mit beharrlicher Leidenschaft (fervor) schlieszliglich ans Ziel gefuumlhrt werden damit nicht die Beharrlichkeit (perseverantia) ge-laumlhmt (torpere) und die Liebe (amor) nicht lau wird (tepescare)

Auf gleiche Weise erfolgt die meditatio der Sitten in einer zweifachen Betrachtung naumlmlich einer inneren und einer aumluszligeren Die aumluszligere blickt auf das Ansehen (fama) die innere auf das Gewissen (conscientia) Die aumluszligere Betrachtung erfolgt gemaumlszlig dem was ziert (decere) und was nuumltzt (expedire) was als Beispiel (exemplum) dient und was den Lohn (meritum) hervorbringt ndash uns zum Lohn und den Naumlchsten als Beispiel Die innere Betrachtung dagegen schaut auf das Gewissen damit es rein (mundus) sei ohne Anklage (accusatio) zu erleiden (pati) ob nun durch die Laumlhmung (torpor) des Guten oder die Hartnaumlckigkeit (praesumptio) des Boumlsen Rein ist aber jenes Gewissen das weder durch das Vergangene zu recht angeklagt (accusare) noch durch das Gegenwaumlrtige unrechtmaumlszligig erfreut (delectare) wird

Daher laumlsst die meditatio der Sitten ihre Betrachtung nicht ruhen damit sie jegliche Re-gungen (motus) die sich im Herzen erheben bemerkt und erwaumlgt woher sie kommen und worauf sie abzielen (tendere) Das heiszligt woher sie kommen gemaumlszlig ihrem Ursprung und wo-nach sie streben hinsichtlich ihres Ziels Alles ist naumlmlich eine Bewegung aus irgendetwas und auf irgendetwas Die Bewegungen des Herzens sind manchmal offenkundigen Ursprungs manchmal entspringen sie aber auch Verborgenem Bei denen der Ursprung offenkundig ist ist er bisweilen durch das Gute bisweilen aufgrund des Boumlsen erwiesen Was offenkundig gut ist kommt von Gott was aber deutlich boumlse erscheint entspringt entweder dem Teufel oder dem Fleisch Dies sind naumlmlich die drei Urheber (auctores) aller Vorstellungen (suggestio) und aller Eingebungen (aspiratio) die unsichtbar an das Herz herantreten und aus jenen drei hervor-gehen Entspringen die Bewegungen des Herzens daher dem Verborgenen koumlnnen sie manch-mal aus dem Guten und dem Geheimen hervorgehen und sind manchmal boumlse und zweifelhaft (dubius) Die dem Guten entspringen kommen von Gott die aber dem Boumlsen entstammen sind entweder des Teufels oder des Fleisches

Die Bewegungen die folglich offenkundig sind sei es im Guten oder Boumlsen werden auf den ersten Blick durch ihren Ursprung angezeigt Jene aber die zweifelhaft bleiben hinsichtlich ih-res Grundes sind am Ende zu uumlberpruumlfen (probare) Ihr Ergebnis [oder Ausgang] (exitus) zeigt naumlmlich deutlich was vom Ursprung her verborgen war und deswegen muss derjenige der es nicht vermochte den Ausgangspunkt seiner Herzensbewegungen zu beurteilen (iudicare) das Ziel und die Ausfuumlhrung [bzw Vollendung] (finis et consummatio) untersuchen (investigare) Die Bewegungen naumlmlich die zweifelhaft und ungewiss sind sind vom verborgenen Guten oder Boumlsen Wie gesagt wurde haben die schlechten Regungen ihren Ursprung entweder beim Teufel oder im Fleisch Diese aber sind beide boumlse sie unterscheiden sich nicht indem oder durch was sie boumlse sind doch unterscheiden sie sich dahingehend dass die Regungen des Her-zens die dem Fleisch entspringen haumlufig aus einer Notwendigkeit (necessitas) heranwachsen

Meditation und Gebet 289

die aber die tatsaumlchlich vom Teufel kommen nehmen noch oumlfter wider der Vernunft (ratio) ihren Anfang (oriri) Was naumlmlich vom Teufel eingegeben wird (suggerere) ist in der Tat dem Menschen fremd und wird deswegen haumlufig von der menschlichen Vernunft abgelehnt weil er beispielsweise unlaumlngst gesaumlttigt Hunger leidet (pati) kurz zuvor noch trunken (inebriatus) vor Durst (sitis) gluumlht (aestuare) oder wenn er nach einem ausgiebigen Schlaf (dormitio) sich erhebend vom Traum (somnus) bedruumlckt (praegravare) wird

Hieraus also werden die Werke des Teufels differenziert betrachtet weil sie ja an den Men-schen von auszligen herangetragen werden und der menschlichen Vernunft fremd sind Bei den Werken des Fleisches und ihren Eingebungen liegt der Grund des Oumlfteren in einer vorangegan-genen Notwendigkeit Aber weil sie Ziel und Maszlig (modus et mensura) uumlbersteigen wachsen sie zum Uumlberfluss (superfluitas) heran Dies ist als Beispiel eben gerade dann der Fall wenn nach der Einnahme einer Mahlzeit der Hunger hemmungslos (immoderatus) begehrt (appetere) und nach Enthaltsamkeit (abstinentia) das Maszlig (mensura) bei der Aufnahme von Speise (edulium) nicht gehalten wird

Daher wird die meditatio der Sitten aufgrund eines dreifachen Urteils betrieben Das erste urteilt zwischen Tag und Nacht das zweite zwischen Tag und Tag und das dritte schlieszliglich untersucht den gesamten Tag (vgl Roumlm 145) Zwischen Nacht und Tag zu urteilen meint das Boumlse vom Guten zu (unter-)scheiden Die Beurteilung zwischen Tag und Tag bedeutet eine Un-terscheidung zwischen etwas Gutem und etwas Besserem vorzunehmen Uumlber den gesamten Tag zu richten ist schlieszliglich das einzelne Gute fuumlr den eigenen Lohn zu ermessen (aestimare)

So hat die meditatio der Sitten bei jeglichem Umgang (conversatio) das Ziel und die Rich-tung (directio) im Blick Das Ziel ist wohin man strebt die Richtung wodurch man leichter ans Ziel gelangt Jeder naumlmlich der zu irgend etwas strebt so wie etwas seine Bahn (cursus) lenkt und unaufhoumlrlich weiterzieht kommt schneller ans Ziel Es gibt daher Gutes durch das man stark bewegt ist (moveri) zugleich gibt es aber wenig her durch das man vorankommt (pro-moveri) Anderes dagegen fuumlhrt mit etwas Muumlhe (labor) zu groszligem Gewinn (fructus) Und diese sind folglich zu unterscheiden und das Bessere das mehr nuumltzt auszuwaumlhlen Welches auch immer mehr nuumltzt ist besser und es gehoumlrt sich jedes Werk auf seinen Ertrag hin zu beurteilen Indem viele diese Unterscheidung (discretio) nicht einhielten haben sie sich zwar aufs aumluszligerste bemuumlht sind jedoch nur wenig vorangekommen weil sie das Auge aumluszligerlich so sehr auf die Gestalt (species) der Werke richteten und nicht innerlich auf den Gewinn durch die Tugenden blickten Sie ergoumltzen sich daran groszlige Taten zu verrichten anstatt dass sie das Nuumltz-liche (utilia) uumlben (exercere) um sich selbst zu bessern (emendari) Dabei schaumltzten (diligere) sie vielmehr das durch das sie den Anschein erwecken (videri) konnten [so zu sein]

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zunaumlchst das was man schuldet entweder auf-grund einer Vorschrift (praeceptum) oder eines Geluumlbdes (votum) Diesbezuumlglich ist die erste Tat der meditatio zu ermitteln ist sie oder es erfuumlllt fuumlhrt es zum Lohn und wenn nicht bringt dies den Anklagezustand (reatus) hervor Es sind also zuerst die Dinge zu tun die nicht ohne Schuld (culpa) weggelassen werden koumlnnen Danach ist die meditatio alsdann so zu verrichten dass wenn etwas durch freiwillige Uumlbung (exercitatio) noch hinzugefuumlgt wird die Pflicht-erfuumlllung [eigtl Schuld] (debitum) nicht verhindert wird (impedire) Die einen die das nicht zu leisten vermoumlgen was sie schulden wollen was sie nicht muumlssen Die anderen wenn sie im-

290 Anselm Rau und Johanna Scheel

stande sind zu tun was sie schulden bringen freiwillig Hindernisse (impedimentum) mit sich indem sie etwas wollen was sie nicht muumlssen

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zwei Dinge des Boumlsen vor denen man bei der Ver-richtung von Gutem besonders auf der Hut sein muss die Betruumlbnis [Niedergeschlagenheit] (afflictio) und die Besessenheit [Vereinnahmung] (occupatio) Die afflictio fuumlhrt zur Bitterkeit (amaritudo) die occupatio zur Zerstreuung (dissipatio) Mit der afflictio verbittert die Suumlszlige (dulcedo) des Geistes und mit der occupatio wird die Ruhe (tranquillitas) zerstoumlrt (dissipare) Es herrscht Betruumlbnis wenn man fuumlr jene Dinge die man nicht vermag aufgrund der eigenen Ungeduld (impatientia) ungluumlcklich wird (urere) Dagegen handelt es sich um Besessenheit (occupatio) wenn man in seinem Handeln (nach seinem Vermoumlgen) aufgrund der impatientia gequaumllt wird (agitare) Folglich darf die Seele (animus) nicht aufgrund des Boumlsen verbittert wer-den sie muss ihr Unvermoumlgen (impossibilitas) geduldig (patienter) aushalten Genauso darf sie aber auch nicht vom Boumlsen eingenommen werden und darf ihr Vermoumlgen (possibilitas) nicht uumlber ihr eigenes Maszlig hinaus ausdehnen (extendere) Daher muss die meditatio der Sitten in einer weiteren Betrachtung der Lebensfuumlhrung zu einem Urteil kommen und dabei billigen dass es weder gut ist die Dinge die man nicht vermag ungeduldig (impatienter) zu verlangen (appetere) noch die welche man erreicht toumlricht (insipienter) zu verschmaumlhen (fastidire) Wer naumlmlich immer das begehrt was er nicht vermag und das was er [jedoch] vermag verabscheut wird sich weder am Gegenwaumlrtigen erfreuen (frui) noch am Zukuumlnftigen saumlttigen (satiare) Er verlaumlsst naumlmlich das Gute unentwickelt vor der Vollendung und eignet sich das gerade erst Be-gonnene vorzeitig an Deswegen ist es gut aufgrund des eigenen Guten zufrieden zu sein und das gegenwaumlrtige Gute durch hinzukommendes Gutes zu vermehren und es nicht aufgrund des Zukuumlnftigen wegzuwerfen (abicere) Der Austausch (commutatio) des Guten ist naumlmlich ein Leichtes (levitas) seine Uumlbung (exercitatio) aber die Tugend Oft eilen sie auf unterschiedlichen Wegen die einen die ein fruumlheres durch ein neues Gutes fallen lassen (abicere) und die ande-ren die [sich] vom Untersten zum Houmlchsten emporschwingen (conscendere) Wer naumlmlich nach Veraumlnderung (mutatio) fragt ist uumlberdruumlssig (fastidiosus) so wie der der nach dem Voran-schreiten (profectus) strebt eifrig bemuumlht ist (studiosus) Am aufrechtesten beschreitet daher derjenige den Weg der dabei so auf das Bessere brennt (fervere) dass er des Guten nicht uumlber-druumlssig wird sondern es vorerst empor haumllt solange bis er es spaumlter zu der ihm angemessenen Zeit sich aneignet (apprehendere)

Abbildungsnachweis

Einband Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders

Farbtafeln 1 (zu Beitrag Rosenwein) Coll BNU de Strasbourg ndash 2 (zu Beitrag Ferguson) Ar-chiv der Verf ndash 3 (zu Beitrag Herding) Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preu-szligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders ndash 4 (zu Beitrag Droste) R Kahsnitz Die Groszligen Schnitzaltaumlre Spaumltgotik in Suumlddeutschland Oumlsterreich Suumldtirol Muumlnchen 2005 Taf 53 ndash 5 6 (zu Beitrag Schedl) 75 Jahre 1933ndash2008 Kirche Mutter vom Guten Rat Festschrift und Chro-nik FrankfurtM 2008 S 92 Dr Bernd Konrad Radolfzell ndash 7 8 9 (zu Beitrag Zaumlh) Archiv des Autors ndash 10 (zu Beitrag Niehr) Universitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Media-thek 11 12 (zu Beitrag Muumlller) Autorin ndash 13 14 15 (zu Beitrag Schlie) Su concessione del Ministero dei beni e delle attivitagrave culturali e del turismo ndash Galleria Nazionale delle Marche ndash Urbino Archivio fotografico Archiv der Verf F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 ndash 16 17 (zu Beitrag Stoichita) D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 ndash 18 19 20 (zu Beitrag Schmidt) London British Museum C Geissmar-BrandiE Louis (Hgg) Glaube Hoffnung Liebe Tod Wien 1995 S 149 Archiv Autor ndash 21 (zu Beitrag Jung) Autorin

Textabbildungen Droste 1 3 4 Autorin 2 E Oellermann Der Hochaltar in St Martin zu Lorch am Rhein in H KrohmE Oellermann (Hrsg) Fluumlgelaltaumlre des spaumlten Mittelalters Ber-lin 1992 Abb 2 ndash Ferguson 1ndash3 Archiv der Verf ndash Frese 1 2 3 5 M BrandtA Eggebrecht (Hgg) Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen Katalog der Ausstellung Hil-desheim 1993 Bd 1 S 386f Abb 197 u 198 Bd 2 S 583 KatNr VIIIndash32 S 604 KatNr IXndash8 4 G LutzA Weyer (Hgg) 1000 Jahre St Michael in Hildesheim Kirche ndash Kloster ndash Stifter Peterberg 2012 S 148 Abb 118 ndash Gruumlndler 1ndash4 L DomenicoA Nova (Hg) Leonardo da Vincirsquos Anatomical World Language Context and Disegno Akten der Internationalen Tagung Florenz 30ndash31 Mai 2008 Venedig 2011 S 237 S 236 S 241 S 186 5 6 Le journal de Jacopo da Pontormo traduit par Jean-Claude Lebensztejn avec la collaboration drsquoAlessandro Parronchi Paris 1992 S 46 S 50 ndash Herding 1 2 3 4 5 6 7 Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders 8 Max J Friedlaumlnder Early Netherlandish Painting 14 vols Leiden und Bruumlssel 1967ndash1974 vol II 1967 pl 10 Nr 3i 9 Wolfenbuumlttel Herzog-August-Bibliothek ndash Jung 1 2 3 4 5 Autorin ndash Kessler 1 6 7 Autor 2 3 Museo delle Terme Rom 4 British Museum London 5 Alexei Lidov ndash Maxwell 1 2 AHN 3 Autor 4 Sancho el Mayor y sus herederos ed I Bango Torviso et al 2006 cat 25 5 BNE ndash Muumlller 1 Italian painting c 1330ndash1550 I National Gallery in Prague II Collections in the Czech Repub-lic Illustrated summary catalogue Prag 2008 2 Collection of The John and Mable Ringling Museum of Art the State Art Museum of Florida Florida State University 3 2014 copy Archivio Fotografico ndash Fondazione Musei Civici di Venezia ndash Niehr 1 A Schuttwolf (Hg) Ausst-Kat Jahreszeiten der Gefuumlhle Das Gothaer Liebespaar und die Minne im Spaumltmittelalter Ostfil-

400 Abbildungsnachweis

dern-Ruit 1998 2 D de Vos Hans Memling Das Gesamtwerk AntwerpenStuttgart 1994 S 278ndash283 TH Borchert Hans Memling Portraits Stuttgart 2005 S 173f Nr 23 3 Univer-sitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Mediathek ndash Pfisterer 1 E Steinmann ldquoLa mano di Michelangeloldquo in Studien aus Kunst und Geschichte Friedrich Schneider zum siebzigsten Geburtstag Freiburg iBr 1906 unnum Taf 2 R Bernini ua La mano e il volto di Antonio Canova PossagnoQuinto di Treviso 2008 S 197 3 U Klein Zur Forschungsgeschichte des Duumlrer-Hauses in GU GroszligmannF Sonnenberger (Hgg) Das Duumlrer-Haus Neue Ergebnisse der Forschung Nuumlrnberg 2007 S 105 nach Carl A Heideloff Die Ornamentik des Mittelalters Bd 3 Nuumlrnberg 1847 S 42 4 WH Vroon Het wonderlid van Jan de Witt en andere vaderland-se relieken Nijmegen 1997 S 68 5 Autor nach GF Tomasini Petrarca Redivivus Padua sup21650 S 128 6 A Picturesque Tour Through Holland Brabant and Part of France made in the autum of 1789 by Samuel Ireland London sup21796 Bd 2 Taf nach S 13 ndash Pinkus 1 2 3 4 5 6 Autor 7 8 Institut fuumlr Kunstgeschichte Universitaumlt Wien Fotothek ndash RauScheel 1 M Gregori Uf-fizien und Palazzo Pitti Muumlnchen 1994 S 31 2 Den Haag Koninklijke Bibliotheek ndash Raeck 1 2 5 7 Fotothek des Instituts fuumlr Archaumlologische Wissenschaften AbtI Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main 3 Zeichnerische Rekonstruktion M Junghans nach H-V Herrmann Olympia ndash Heiligtum und Wettkampfstaumltte Muumlnchen 1972 Abb 95 4 Antikensammlung Staatliche Museen zu Berlin Foto Johannes Laurentius 6 W Riezler Weissgrundige attische Lekythen Muumlnchen 1914 Taf 23 8 Deutsches Archaumlologisches Institut Athen Fotothek ndash Reudenbach 1 F MuumltherichJE Gaehde Karolingische Buchmalerei Muumlnchen 1979 Taf 4 2ndash4 httpwwwbibliotheca-laureshamensis-digitalde (Zugriff 20022014) ndash Schmengler 1 2 3 Torsten Saumlnger Frankfurt 4 5 6 Eric Tschernow Berlin ndash Schedl 1ndash3 Dr Bernd Konrad Radolfzell 4 FrankfurtMain-Niederrad Pfarrarchiv der katholischen Kirchengemeinde Mut-ter zum Guten Rat ndash Schlie 1 Archiv der Verf 2 Archiv der Verf + D E Katz The Contours of Tolerance Jews and the Corpus Domini Altarpiece in Urbino in Art Bulletin 85 (2003) S 647ndash661 S 647 3 F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 Schmidt 1 2 London British Museum 3 M Geisberg Der Meister ES Leipzig 21924 4 Archiv Autor ndash Taxer 1 2 O Paumlcht Altniederlaumlndische Malerei Von Rogier van der Weyden bis Gerard David Muumlnchen 1994 Abb 91 S 118 Abb 93 S 120 3 4 E Panofsky Die altniederlaumlndische Malerei Ihr Ursprung und Wesen Bd 2 Koumlln 2006 Abb 387 S 236 Abb 358 S 214 ndash Stoichita 1 D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 2 3 J Bialostocki Les Museacutees de Pologne Bruxelles 1966 ndash Zaumlh 1 2 Archiv des Verf 3 Metropolitan Museum of Art Bulletin 58 (2001) S 17 4 G ForsythK Weitzmann The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai The Church and Fortress of Justinian Plates Ann Arbor (Mi) 1973 Plate 121

286 Anselm Rau und Johanna Scheel

nung (dispositio) die Frage nach der Ursache und die Entdeckung des inneren Beweggrundes Die Bewunderung beruht auf der Betrachtung der Ordnung im Himmel das ist die Gleich-artigkeit von allem und der Houmlhen und der Tiefen (alta et depressa) auf der Erde Die Frage betrifft die Ursache (causa) des irdischen Lebens auf Erden und des himmlischen Lebens im Himmel Das Erforschen fragt nach dem inneren Beweggrund dass so wie die Erde auch das irdische Leben beschaffen ist und dass der Beschaffenheit des Himmels selbst auch das himm-lische Leben gleicht

Bei der Lektuumlre (lectio) aber erfolgt die Betrachtung (considerare) folgendermaszligenAls erstes dient die lectio dazu durch die Bereitstellung des Stoffes (materia) die Wahr-

heit zu erkennen (cognoscere) die meditatio fuumlgt ihn zusammen (coaptare) die oratio hebt ihn empor (sublevare) die operatio (Ausfuumlhrung) wendet ihn an (componere) und die contemplatio frohlockt in ihm selbst (exsultare)

Es ist durch die Meditation der Schriften zu erkennen auf welche Weise es sich gehoumlrt etwas zu wissen Als Beispiel steht geschrieben Declina a malo et fac bonum (Vg Ps 3627 ndash Wende dich ab von dem Boumlsen und tue Gutes EUuml Ps 3727) Deshalb wurde zuvor gesagt die meditatio wendet sich der lectio zu um sich vom Boumlsen abzuwenden und darauf Gutes zu tun Der Grund (causa) hierfuumlr ist wenn sich nicht zuerst das Boumlse zuruumlckzoumlge wuumlrde das Gute nicht herantreten koumlnnen Der innere Beweggrund (ratio) aber ist so wie zuerst die Sproumlsslinge des Boumlsen mit ihrer Wurzel ausgerissen werden muumlssen so muss danach das Gute (ein-)ge-pflanzt werden Warum wurde daher gesagt Wende dich ab von dem Boumlsen Weil es einem auf dem Weg begegnet Man wendet sich deshalb ab weil wir es wo auch immer nicht vermoumlgen durch Staumlrke zu widerstehen wir entkommen ihm lediglich wenn wir uns mit Klugheit und Vernunft (consilio et ratio) von ihm abwenden Auch muumlssen wir uns vom Boumlsen abwenden um dem Naumlhrstoff (materia) zur Suumlnde aus dem Weg zu gehen ndash beispielsweise ist von Hochmut (superbia) Begehrlichkeit (incontinentia) Begierde (concupiscentia) Neid (invidia) und Streit (contentio) abzulassen um sich vom Reichtum (abundantia) der Schoumlnheit (species) des Flei-sches und der Besitzgier (amor possessiones) abzuwenden Dies bedeutet bdquosich abzuwendenldquo Desgleichen wenn auf diese Weise von allem Boumlsen sich abzuwenden angeraten ist so wird die Verrichtung alles Guten verlangt Und so ist also der ebenso schuldig bzw angeklagt der allein nur alles Boumlse meidet wie derjenige der nicht zugleich all das Gute tut Aber wenn dies so ist wer ist dann kein Angeklagter (reus) Folglich wird uns anbefohlen uns von allem Boumlsen loszusagen Andererseits kommt das Gute zum Einen aus dem was sich gehoumlrt (necessitas) und zum anderen aus dem Willen (voluntas) Es gehoumlren sich die Dinge einer Vorschrift (praecep-tum) und die eines Geluumlbdes (votum) alles uumlbrige wird erfuumlllt wenn eine Sache [also Schuld] mehr als nur vergolten wird (supererogare) und einem nichts mehr anlastet

Daher zielt die Meditation bei der lectio darauf ab zu ergruumlnden auf welche Weise et-was das erkannt wird gut ist warum und wie es zu erreichen ist weil es ndash ist es [ersteinmal] erkannt ndash auch zu verrichten ist Die Meditation ist das Entdeckungsvermoumlgen der vorgefassten Absicht (excogitatio consilii) zu erwaumlgen auf welche Weise das Gute das erkannt wurde erfuumlllt wird denn das Erkannte ist unbrauchbar wird es nicht vollbracht

Deshalb ist die Meditation bei der lectio eine dreifache Betrachtung nach der historia der allegoria und der tropologia Gemaumlszlig der historia erfolgt die Meditation wenn wir nach dem

Meditation und Gebet 287

vollendeten inneren Beweggrund der Dinge fragen die geschehen sind und diesen hinsichtlich seiner uumlbereinstimmenden Art und Weise (modus) bezuumlglich der Zeiten (tempora) und Orte (loci) bestaunen (admirare) Bei dieser Betrachtung der goumlttlichen Ratschluumlsse (iudicium) laumlsst man nicht davon ab daruumlber nachzudenken dass diese richtigen und gerechten (rectus et iustus) Entscheidungen zu keiner Zeit den Beistand [Gottes fuumlr die Menschen] entzogen (deesse) und durch sie das geschah was sich gehoumlrte und vergolten wurde was gerecht war (iustum fuit)

Die Meditation hinsichtlich der allegoria beschaumlftigt sich mit der Gliederung (dispositio) der vorangegangenen und zukuumlnftigen Dinge und so wie fuumlr den Verstand (intelligentia) an-gemessen richtet sie dabei ihre Aufmerksamkeit auf deren uumlbereinstimmende Bedeutung in ihrer bewundernswerten Vernunftmaumlszligigkeit (ratio) und Vorhersehung (providentia) und auf ihre fuumlr den Glauben (fides) geschaffene Gestalt (forma)

Bezuumlglich der tropologia beschaumlftigt sich die Meditation damit welche Frucht die Worte der lectio hervorbringen und erforscht (exquirere) was diese wenn sie ausgefuumlhrt werden [im Sinne des eigentlichen Aussprechens der Worte aber auch die Ausfuumlhrung ihres Inhaltes] ein-pflanzen (insinuere) und dabei zugleich lehren was zu vermeiden ist Sie stellt vor Augen was durch die lectio der Schrift zur Unterweisung (eruditio) zur Ermahnung (exhortatio) zur Troumls-tung (consolatio) und zum Schrecken (terror) dient Hierdurch erleuchtet die tropologia dahin-gehend was zum Verstehen der Tugenden (virtus) fuumlhrt sie naumlhrt (nutrire) den Affekt (affectio) und lehrt (edocere) die Lebensfuumlhrung auf dem Pfad der Tugenden

Die Meditation der Sitten (mos) erfolgt gemaumlszlig der Affekte (affectus) der Erwaumlgungen (cogi-tationes) und der Werke (opera)

Hinsichtlich der Affekte ist zu betrachten wie sie recht und aufrichtig (rectus et sincerus) zu sein vermoumlgen damit ist gemeint auf das und zu was hin sie geschuldet sein muumlssen und in welcher Weise sie zu sein haben Zu differenzieren ist naumlmlich dass das was sich nicht gehoumlrt (non oportet) boumlse ist und zugleich das was sich gehoumlrt zu lieben ist ndash das zu lieben das sich gleichwie nicht gehoumlrt ist boumlse Daher handelt es sich um einen guten Affekt wenn er auf das ausgerichtet ist auf das er verpflichtet ist und in der Weise wie es sich gehoumlrt

Amnon liebte (diligere) seine Schwester und dies war der Affekt zu dem er bestimmt war doch weil er Boumlses begehrte war es nicht der Affekt wie er ihn schuldete (vgl 2 Sam 13) So kann der Affekt auf das gerichtet sein zu was er gehoumlrt dies aber nicht in der [angemessenen] Art und Weise Niemals aber kann der Affekt so sein wie er zu sein hat wenn er nicht auf das ihm Zugehoumlrige ausgerichtet ist Auf das ausgerichtet zu was er gehoumlrt bedeutet dass er recht ist und in der Art und Weise wie es sich gehoumlrt und dementsprechend ist er rein Daher werden die Affekte in den Erwaumlgungen betrachtet damit sie rein (mundus) und geordnet (ordi-natus) sind Rein sind sie wenn weder etwas Boumlses von den Affekten hervorgebracht wird noch das Boumlse die Affekte hervorbringt Dass sie geordnet sind meint wenn sie vernuumlnftigerweise aufgrund des ihnen eigenen Anlasses (suo tempore) aufkommen (advenire) Es ist nicht ohne Schaden (vitium) [naumlmlich im Sinne des korrekten Vorgehens nicht ohne Formfehler] bereits das Gute zu einem diesem nicht angemessenen Zeitpunkt zu erwaumlgen wie etwa an die lectio waumlhrend der oratio zu denken oder auch an die oratio waumlhrend der lectio

Bei den Werken ist als erstes zu betrachten was zum Beispiel durch die gute Absicht (bona intentio) geschieht Um eine gute Absicht handelt es sich wenn sie einfach und aufrichtig ist

288 Anselm Rau und Johanna Scheel

(simplex et recta) Die bona intentio ist arglos ohne Hinterlist (malitia) und aufrichtig ohne Ignoranz (ignorantia) Die naumlmlich ohne Hinterlist ist besitzt den Eifer (zelus) Ist sie aber aus der [bewussten] Unkenntnis gegenuumlber dem Wissen (scientia) (Roumlm 102) geboren verfuumlgt sie nicht uumlber den [wahren] Eifer Daher ist es notwendig dass die Absicht aufrichtig ist in der Bescheidenheit (discretio) und arglos im Wohlwollen (benignitas) Bei den Werken ist zu be-trachten dass sie aus der aufkommenden guten Absicht heraus mit beharrlicher Leidenschaft (fervor) schlieszliglich ans Ziel gefuumlhrt werden damit nicht die Beharrlichkeit (perseverantia) ge-laumlhmt (torpere) und die Liebe (amor) nicht lau wird (tepescare)

Auf gleiche Weise erfolgt die meditatio der Sitten in einer zweifachen Betrachtung naumlmlich einer inneren und einer aumluszligeren Die aumluszligere blickt auf das Ansehen (fama) die innere auf das Gewissen (conscientia) Die aumluszligere Betrachtung erfolgt gemaumlszlig dem was ziert (decere) und was nuumltzt (expedire) was als Beispiel (exemplum) dient und was den Lohn (meritum) hervorbringt ndash uns zum Lohn und den Naumlchsten als Beispiel Die innere Betrachtung dagegen schaut auf das Gewissen damit es rein (mundus) sei ohne Anklage (accusatio) zu erleiden (pati) ob nun durch die Laumlhmung (torpor) des Guten oder die Hartnaumlckigkeit (praesumptio) des Boumlsen Rein ist aber jenes Gewissen das weder durch das Vergangene zu recht angeklagt (accusare) noch durch das Gegenwaumlrtige unrechtmaumlszligig erfreut (delectare) wird

Daher laumlsst die meditatio der Sitten ihre Betrachtung nicht ruhen damit sie jegliche Re-gungen (motus) die sich im Herzen erheben bemerkt und erwaumlgt woher sie kommen und worauf sie abzielen (tendere) Das heiszligt woher sie kommen gemaumlszlig ihrem Ursprung und wo-nach sie streben hinsichtlich ihres Ziels Alles ist naumlmlich eine Bewegung aus irgendetwas und auf irgendetwas Die Bewegungen des Herzens sind manchmal offenkundigen Ursprungs manchmal entspringen sie aber auch Verborgenem Bei denen der Ursprung offenkundig ist ist er bisweilen durch das Gute bisweilen aufgrund des Boumlsen erwiesen Was offenkundig gut ist kommt von Gott was aber deutlich boumlse erscheint entspringt entweder dem Teufel oder dem Fleisch Dies sind naumlmlich die drei Urheber (auctores) aller Vorstellungen (suggestio) und aller Eingebungen (aspiratio) die unsichtbar an das Herz herantreten und aus jenen drei hervor-gehen Entspringen die Bewegungen des Herzens daher dem Verborgenen koumlnnen sie manch-mal aus dem Guten und dem Geheimen hervorgehen und sind manchmal boumlse und zweifelhaft (dubius) Die dem Guten entspringen kommen von Gott die aber dem Boumlsen entstammen sind entweder des Teufels oder des Fleisches

Die Bewegungen die folglich offenkundig sind sei es im Guten oder Boumlsen werden auf den ersten Blick durch ihren Ursprung angezeigt Jene aber die zweifelhaft bleiben hinsichtlich ih-res Grundes sind am Ende zu uumlberpruumlfen (probare) Ihr Ergebnis [oder Ausgang] (exitus) zeigt naumlmlich deutlich was vom Ursprung her verborgen war und deswegen muss derjenige der es nicht vermochte den Ausgangspunkt seiner Herzensbewegungen zu beurteilen (iudicare) das Ziel und die Ausfuumlhrung [bzw Vollendung] (finis et consummatio) untersuchen (investigare) Die Bewegungen naumlmlich die zweifelhaft und ungewiss sind sind vom verborgenen Guten oder Boumlsen Wie gesagt wurde haben die schlechten Regungen ihren Ursprung entweder beim Teufel oder im Fleisch Diese aber sind beide boumlse sie unterscheiden sich nicht indem oder durch was sie boumlse sind doch unterscheiden sie sich dahingehend dass die Regungen des Her-zens die dem Fleisch entspringen haumlufig aus einer Notwendigkeit (necessitas) heranwachsen

Meditation und Gebet 289

die aber die tatsaumlchlich vom Teufel kommen nehmen noch oumlfter wider der Vernunft (ratio) ihren Anfang (oriri) Was naumlmlich vom Teufel eingegeben wird (suggerere) ist in der Tat dem Menschen fremd und wird deswegen haumlufig von der menschlichen Vernunft abgelehnt weil er beispielsweise unlaumlngst gesaumlttigt Hunger leidet (pati) kurz zuvor noch trunken (inebriatus) vor Durst (sitis) gluumlht (aestuare) oder wenn er nach einem ausgiebigen Schlaf (dormitio) sich erhebend vom Traum (somnus) bedruumlckt (praegravare) wird

Hieraus also werden die Werke des Teufels differenziert betrachtet weil sie ja an den Men-schen von auszligen herangetragen werden und der menschlichen Vernunft fremd sind Bei den Werken des Fleisches und ihren Eingebungen liegt der Grund des Oumlfteren in einer vorangegan-genen Notwendigkeit Aber weil sie Ziel und Maszlig (modus et mensura) uumlbersteigen wachsen sie zum Uumlberfluss (superfluitas) heran Dies ist als Beispiel eben gerade dann der Fall wenn nach der Einnahme einer Mahlzeit der Hunger hemmungslos (immoderatus) begehrt (appetere) und nach Enthaltsamkeit (abstinentia) das Maszlig (mensura) bei der Aufnahme von Speise (edulium) nicht gehalten wird

Daher wird die meditatio der Sitten aufgrund eines dreifachen Urteils betrieben Das erste urteilt zwischen Tag und Nacht das zweite zwischen Tag und Tag und das dritte schlieszliglich untersucht den gesamten Tag (vgl Roumlm 145) Zwischen Nacht und Tag zu urteilen meint das Boumlse vom Guten zu (unter-)scheiden Die Beurteilung zwischen Tag und Tag bedeutet eine Un-terscheidung zwischen etwas Gutem und etwas Besserem vorzunehmen Uumlber den gesamten Tag zu richten ist schlieszliglich das einzelne Gute fuumlr den eigenen Lohn zu ermessen (aestimare)

So hat die meditatio der Sitten bei jeglichem Umgang (conversatio) das Ziel und die Rich-tung (directio) im Blick Das Ziel ist wohin man strebt die Richtung wodurch man leichter ans Ziel gelangt Jeder naumlmlich der zu irgend etwas strebt so wie etwas seine Bahn (cursus) lenkt und unaufhoumlrlich weiterzieht kommt schneller ans Ziel Es gibt daher Gutes durch das man stark bewegt ist (moveri) zugleich gibt es aber wenig her durch das man vorankommt (pro-moveri) Anderes dagegen fuumlhrt mit etwas Muumlhe (labor) zu groszligem Gewinn (fructus) Und diese sind folglich zu unterscheiden und das Bessere das mehr nuumltzt auszuwaumlhlen Welches auch immer mehr nuumltzt ist besser und es gehoumlrt sich jedes Werk auf seinen Ertrag hin zu beurteilen Indem viele diese Unterscheidung (discretio) nicht einhielten haben sie sich zwar aufs aumluszligerste bemuumlht sind jedoch nur wenig vorangekommen weil sie das Auge aumluszligerlich so sehr auf die Gestalt (species) der Werke richteten und nicht innerlich auf den Gewinn durch die Tugenden blickten Sie ergoumltzen sich daran groszlige Taten zu verrichten anstatt dass sie das Nuumltz-liche (utilia) uumlben (exercere) um sich selbst zu bessern (emendari) Dabei schaumltzten (diligere) sie vielmehr das durch das sie den Anschein erwecken (videri) konnten [so zu sein]

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zunaumlchst das was man schuldet entweder auf-grund einer Vorschrift (praeceptum) oder eines Geluumlbdes (votum) Diesbezuumlglich ist die erste Tat der meditatio zu ermitteln ist sie oder es erfuumlllt fuumlhrt es zum Lohn und wenn nicht bringt dies den Anklagezustand (reatus) hervor Es sind also zuerst die Dinge zu tun die nicht ohne Schuld (culpa) weggelassen werden koumlnnen Danach ist die meditatio alsdann so zu verrichten dass wenn etwas durch freiwillige Uumlbung (exercitatio) noch hinzugefuumlgt wird die Pflicht-erfuumlllung [eigtl Schuld] (debitum) nicht verhindert wird (impedire) Die einen die das nicht zu leisten vermoumlgen was sie schulden wollen was sie nicht muumlssen Die anderen wenn sie im-

290 Anselm Rau und Johanna Scheel

stande sind zu tun was sie schulden bringen freiwillig Hindernisse (impedimentum) mit sich indem sie etwas wollen was sie nicht muumlssen

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zwei Dinge des Boumlsen vor denen man bei der Ver-richtung von Gutem besonders auf der Hut sein muss die Betruumlbnis [Niedergeschlagenheit] (afflictio) und die Besessenheit [Vereinnahmung] (occupatio) Die afflictio fuumlhrt zur Bitterkeit (amaritudo) die occupatio zur Zerstreuung (dissipatio) Mit der afflictio verbittert die Suumlszlige (dulcedo) des Geistes und mit der occupatio wird die Ruhe (tranquillitas) zerstoumlrt (dissipare) Es herrscht Betruumlbnis wenn man fuumlr jene Dinge die man nicht vermag aufgrund der eigenen Ungeduld (impatientia) ungluumlcklich wird (urere) Dagegen handelt es sich um Besessenheit (occupatio) wenn man in seinem Handeln (nach seinem Vermoumlgen) aufgrund der impatientia gequaumllt wird (agitare) Folglich darf die Seele (animus) nicht aufgrund des Boumlsen verbittert wer-den sie muss ihr Unvermoumlgen (impossibilitas) geduldig (patienter) aushalten Genauso darf sie aber auch nicht vom Boumlsen eingenommen werden und darf ihr Vermoumlgen (possibilitas) nicht uumlber ihr eigenes Maszlig hinaus ausdehnen (extendere) Daher muss die meditatio der Sitten in einer weiteren Betrachtung der Lebensfuumlhrung zu einem Urteil kommen und dabei billigen dass es weder gut ist die Dinge die man nicht vermag ungeduldig (impatienter) zu verlangen (appetere) noch die welche man erreicht toumlricht (insipienter) zu verschmaumlhen (fastidire) Wer naumlmlich immer das begehrt was er nicht vermag und das was er [jedoch] vermag verabscheut wird sich weder am Gegenwaumlrtigen erfreuen (frui) noch am Zukuumlnftigen saumlttigen (satiare) Er verlaumlsst naumlmlich das Gute unentwickelt vor der Vollendung und eignet sich das gerade erst Be-gonnene vorzeitig an Deswegen ist es gut aufgrund des eigenen Guten zufrieden zu sein und das gegenwaumlrtige Gute durch hinzukommendes Gutes zu vermehren und es nicht aufgrund des Zukuumlnftigen wegzuwerfen (abicere) Der Austausch (commutatio) des Guten ist naumlmlich ein Leichtes (levitas) seine Uumlbung (exercitatio) aber die Tugend Oft eilen sie auf unterschiedlichen Wegen die einen die ein fruumlheres durch ein neues Gutes fallen lassen (abicere) und die ande-ren die [sich] vom Untersten zum Houmlchsten emporschwingen (conscendere) Wer naumlmlich nach Veraumlnderung (mutatio) fragt ist uumlberdruumlssig (fastidiosus) so wie der der nach dem Voran-schreiten (profectus) strebt eifrig bemuumlht ist (studiosus) Am aufrechtesten beschreitet daher derjenige den Weg der dabei so auf das Bessere brennt (fervere) dass er des Guten nicht uumlber-druumlssig wird sondern es vorerst empor haumllt solange bis er es spaumlter zu der ihm angemessenen Zeit sich aneignet (apprehendere)

Abbildungsnachweis

Einband Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders

Farbtafeln 1 (zu Beitrag Rosenwein) Coll BNU de Strasbourg ndash 2 (zu Beitrag Ferguson) Ar-chiv der Verf ndash 3 (zu Beitrag Herding) Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preu-szligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders ndash 4 (zu Beitrag Droste) R Kahsnitz Die Groszligen Schnitzaltaumlre Spaumltgotik in Suumlddeutschland Oumlsterreich Suumldtirol Muumlnchen 2005 Taf 53 ndash 5 6 (zu Beitrag Schedl) 75 Jahre 1933ndash2008 Kirche Mutter vom Guten Rat Festschrift und Chro-nik FrankfurtM 2008 S 92 Dr Bernd Konrad Radolfzell ndash 7 8 9 (zu Beitrag Zaumlh) Archiv des Autors ndash 10 (zu Beitrag Niehr) Universitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Media-thek 11 12 (zu Beitrag Muumlller) Autorin ndash 13 14 15 (zu Beitrag Schlie) Su concessione del Ministero dei beni e delle attivitagrave culturali e del turismo ndash Galleria Nazionale delle Marche ndash Urbino Archivio fotografico Archiv der Verf F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 ndash 16 17 (zu Beitrag Stoichita) D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 ndash 18 19 20 (zu Beitrag Schmidt) London British Museum C Geissmar-BrandiE Louis (Hgg) Glaube Hoffnung Liebe Tod Wien 1995 S 149 Archiv Autor ndash 21 (zu Beitrag Jung) Autorin

Textabbildungen Droste 1 3 4 Autorin 2 E Oellermann Der Hochaltar in St Martin zu Lorch am Rhein in H KrohmE Oellermann (Hrsg) Fluumlgelaltaumlre des spaumlten Mittelalters Ber-lin 1992 Abb 2 ndash Ferguson 1ndash3 Archiv der Verf ndash Frese 1 2 3 5 M BrandtA Eggebrecht (Hgg) Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen Katalog der Ausstellung Hil-desheim 1993 Bd 1 S 386f Abb 197 u 198 Bd 2 S 583 KatNr VIIIndash32 S 604 KatNr IXndash8 4 G LutzA Weyer (Hgg) 1000 Jahre St Michael in Hildesheim Kirche ndash Kloster ndash Stifter Peterberg 2012 S 148 Abb 118 ndash Gruumlndler 1ndash4 L DomenicoA Nova (Hg) Leonardo da Vincirsquos Anatomical World Language Context and Disegno Akten der Internationalen Tagung Florenz 30ndash31 Mai 2008 Venedig 2011 S 237 S 236 S 241 S 186 5 6 Le journal de Jacopo da Pontormo traduit par Jean-Claude Lebensztejn avec la collaboration drsquoAlessandro Parronchi Paris 1992 S 46 S 50 ndash Herding 1 2 3 4 5 6 7 Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders 8 Max J Friedlaumlnder Early Netherlandish Painting 14 vols Leiden und Bruumlssel 1967ndash1974 vol II 1967 pl 10 Nr 3i 9 Wolfenbuumlttel Herzog-August-Bibliothek ndash Jung 1 2 3 4 5 Autorin ndash Kessler 1 6 7 Autor 2 3 Museo delle Terme Rom 4 British Museum London 5 Alexei Lidov ndash Maxwell 1 2 AHN 3 Autor 4 Sancho el Mayor y sus herederos ed I Bango Torviso et al 2006 cat 25 5 BNE ndash Muumlller 1 Italian painting c 1330ndash1550 I National Gallery in Prague II Collections in the Czech Repub-lic Illustrated summary catalogue Prag 2008 2 Collection of The John and Mable Ringling Museum of Art the State Art Museum of Florida Florida State University 3 2014 copy Archivio Fotografico ndash Fondazione Musei Civici di Venezia ndash Niehr 1 A Schuttwolf (Hg) Ausst-Kat Jahreszeiten der Gefuumlhle Das Gothaer Liebespaar und die Minne im Spaumltmittelalter Ostfil-

400 Abbildungsnachweis

dern-Ruit 1998 2 D de Vos Hans Memling Das Gesamtwerk AntwerpenStuttgart 1994 S 278ndash283 TH Borchert Hans Memling Portraits Stuttgart 2005 S 173f Nr 23 3 Univer-sitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Mediathek ndash Pfisterer 1 E Steinmann ldquoLa mano di Michelangeloldquo in Studien aus Kunst und Geschichte Friedrich Schneider zum siebzigsten Geburtstag Freiburg iBr 1906 unnum Taf 2 R Bernini ua La mano e il volto di Antonio Canova PossagnoQuinto di Treviso 2008 S 197 3 U Klein Zur Forschungsgeschichte des Duumlrer-Hauses in GU GroszligmannF Sonnenberger (Hgg) Das Duumlrer-Haus Neue Ergebnisse der Forschung Nuumlrnberg 2007 S 105 nach Carl A Heideloff Die Ornamentik des Mittelalters Bd 3 Nuumlrnberg 1847 S 42 4 WH Vroon Het wonderlid van Jan de Witt en andere vaderland-se relieken Nijmegen 1997 S 68 5 Autor nach GF Tomasini Petrarca Redivivus Padua sup21650 S 128 6 A Picturesque Tour Through Holland Brabant and Part of France made in the autum of 1789 by Samuel Ireland London sup21796 Bd 2 Taf nach S 13 ndash Pinkus 1 2 3 4 5 6 Autor 7 8 Institut fuumlr Kunstgeschichte Universitaumlt Wien Fotothek ndash RauScheel 1 M Gregori Uf-fizien und Palazzo Pitti Muumlnchen 1994 S 31 2 Den Haag Koninklijke Bibliotheek ndash Raeck 1 2 5 7 Fotothek des Instituts fuumlr Archaumlologische Wissenschaften AbtI Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main 3 Zeichnerische Rekonstruktion M Junghans nach H-V Herrmann Olympia ndash Heiligtum und Wettkampfstaumltte Muumlnchen 1972 Abb 95 4 Antikensammlung Staatliche Museen zu Berlin Foto Johannes Laurentius 6 W Riezler Weissgrundige attische Lekythen Muumlnchen 1914 Taf 23 8 Deutsches Archaumlologisches Institut Athen Fotothek ndash Reudenbach 1 F MuumltherichJE Gaehde Karolingische Buchmalerei Muumlnchen 1979 Taf 4 2ndash4 httpwwwbibliotheca-laureshamensis-digitalde (Zugriff 20022014) ndash Schmengler 1 2 3 Torsten Saumlnger Frankfurt 4 5 6 Eric Tschernow Berlin ndash Schedl 1ndash3 Dr Bernd Konrad Radolfzell 4 FrankfurtMain-Niederrad Pfarrarchiv der katholischen Kirchengemeinde Mut-ter zum Guten Rat ndash Schlie 1 Archiv der Verf 2 Archiv der Verf + D E Katz The Contours of Tolerance Jews and the Corpus Domini Altarpiece in Urbino in Art Bulletin 85 (2003) S 647ndash661 S 647 3 F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 Schmidt 1 2 London British Museum 3 M Geisberg Der Meister ES Leipzig 21924 4 Archiv Autor ndash Taxer 1 2 O Paumlcht Altniederlaumlndische Malerei Von Rogier van der Weyden bis Gerard David Muumlnchen 1994 Abb 91 S 118 Abb 93 S 120 3 4 E Panofsky Die altniederlaumlndische Malerei Ihr Ursprung und Wesen Bd 2 Koumlln 2006 Abb 387 S 236 Abb 358 S 214 ndash Stoichita 1 D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 2 3 J Bialostocki Les Museacutees de Pologne Bruxelles 1966 ndash Zaumlh 1 2 Archiv des Verf 3 Metropolitan Museum of Art Bulletin 58 (2001) S 17 4 G ForsythK Weitzmann The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai The Church and Fortress of Justinian Plates Ann Arbor (Mi) 1973 Plate 121

Meditation und Gebet 287

vollendeten inneren Beweggrund der Dinge fragen die geschehen sind und diesen hinsichtlich seiner uumlbereinstimmenden Art und Weise (modus) bezuumlglich der Zeiten (tempora) und Orte (loci) bestaunen (admirare) Bei dieser Betrachtung der goumlttlichen Ratschluumlsse (iudicium) laumlsst man nicht davon ab daruumlber nachzudenken dass diese richtigen und gerechten (rectus et iustus) Entscheidungen zu keiner Zeit den Beistand [Gottes fuumlr die Menschen] entzogen (deesse) und durch sie das geschah was sich gehoumlrte und vergolten wurde was gerecht war (iustum fuit)

Die Meditation hinsichtlich der allegoria beschaumlftigt sich mit der Gliederung (dispositio) der vorangegangenen und zukuumlnftigen Dinge und so wie fuumlr den Verstand (intelligentia) an-gemessen richtet sie dabei ihre Aufmerksamkeit auf deren uumlbereinstimmende Bedeutung in ihrer bewundernswerten Vernunftmaumlszligigkeit (ratio) und Vorhersehung (providentia) und auf ihre fuumlr den Glauben (fides) geschaffene Gestalt (forma)

Bezuumlglich der tropologia beschaumlftigt sich die Meditation damit welche Frucht die Worte der lectio hervorbringen und erforscht (exquirere) was diese wenn sie ausgefuumlhrt werden [im Sinne des eigentlichen Aussprechens der Worte aber auch die Ausfuumlhrung ihres Inhaltes] ein-pflanzen (insinuere) und dabei zugleich lehren was zu vermeiden ist Sie stellt vor Augen was durch die lectio der Schrift zur Unterweisung (eruditio) zur Ermahnung (exhortatio) zur Troumls-tung (consolatio) und zum Schrecken (terror) dient Hierdurch erleuchtet die tropologia dahin-gehend was zum Verstehen der Tugenden (virtus) fuumlhrt sie naumlhrt (nutrire) den Affekt (affectio) und lehrt (edocere) die Lebensfuumlhrung auf dem Pfad der Tugenden

Die Meditation der Sitten (mos) erfolgt gemaumlszlig der Affekte (affectus) der Erwaumlgungen (cogi-tationes) und der Werke (opera)

Hinsichtlich der Affekte ist zu betrachten wie sie recht und aufrichtig (rectus et sincerus) zu sein vermoumlgen damit ist gemeint auf das und zu was hin sie geschuldet sein muumlssen und in welcher Weise sie zu sein haben Zu differenzieren ist naumlmlich dass das was sich nicht gehoumlrt (non oportet) boumlse ist und zugleich das was sich gehoumlrt zu lieben ist ndash das zu lieben das sich gleichwie nicht gehoumlrt ist boumlse Daher handelt es sich um einen guten Affekt wenn er auf das ausgerichtet ist auf das er verpflichtet ist und in der Weise wie es sich gehoumlrt

Amnon liebte (diligere) seine Schwester und dies war der Affekt zu dem er bestimmt war doch weil er Boumlses begehrte war es nicht der Affekt wie er ihn schuldete (vgl 2 Sam 13) So kann der Affekt auf das gerichtet sein zu was er gehoumlrt dies aber nicht in der [angemessenen] Art und Weise Niemals aber kann der Affekt so sein wie er zu sein hat wenn er nicht auf das ihm Zugehoumlrige ausgerichtet ist Auf das ausgerichtet zu was er gehoumlrt bedeutet dass er recht ist und in der Art und Weise wie es sich gehoumlrt und dementsprechend ist er rein Daher werden die Affekte in den Erwaumlgungen betrachtet damit sie rein (mundus) und geordnet (ordi-natus) sind Rein sind sie wenn weder etwas Boumlses von den Affekten hervorgebracht wird noch das Boumlse die Affekte hervorbringt Dass sie geordnet sind meint wenn sie vernuumlnftigerweise aufgrund des ihnen eigenen Anlasses (suo tempore) aufkommen (advenire) Es ist nicht ohne Schaden (vitium) [naumlmlich im Sinne des korrekten Vorgehens nicht ohne Formfehler] bereits das Gute zu einem diesem nicht angemessenen Zeitpunkt zu erwaumlgen wie etwa an die lectio waumlhrend der oratio zu denken oder auch an die oratio waumlhrend der lectio

Bei den Werken ist als erstes zu betrachten was zum Beispiel durch die gute Absicht (bona intentio) geschieht Um eine gute Absicht handelt es sich wenn sie einfach und aufrichtig ist

288 Anselm Rau und Johanna Scheel

(simplex et recta) Die bona intentio ist arglos ohne Hinterlist (malitia) und aufrichtig ohne Ignoranz (ignorantia) Die naumlmlich ohne Hinterlist ist besitzt den Eifer (zelus) Ist sie aber aus der [bewussten] Unkenntnis gegenuumlber dem Wissen (scientia) (Roumlm 102) geboren verfuumlgt sie nicht uumlber den [wahren] Eifer Daher ist es notwendig dass die Absicht aufrichtig ist in der Bescheidenheit (discretio) und arglos im Wohlwollen (benignitas) Bei den Werken ist zu be-trachten dass sie aus der aufkommenden guten Absicht heraus mit beharrlicher Leidenschaft (fervor) schlieszliglich ans Ziel gefuumlhrt werden damit nicht die Beharrlichkeit (perseverantia) ge-laumlhmt (torpere) und die Liebe (amor) nicht lau wird (tepescare)

Auf gleiche Weise erfolgt die meditatio der Sitten in einer zweifachen Betrachtung naumlmlich einer inneren und einer aumluszligeren Die aumluszligere blickt auf das Ansehen (fama) die innere auf das Gewissen (conscientia) Die aumluszligere Betrachtung erfolgt gemaumlszlig dem was ziert (decere) und was nuumltzt (expedire) was als Beispiel (exemplum) dient und was den Lohn (meritum) hervorbringt ndash uns zum Lohn und den Naumlchsten als Beispiel Die innere Betrachtung dagegen schaut auf das Gewissen damit es rein (mundus) sei ohne Anklage (accusatio) zu erleiden (pati) ob nun durch die Laumlhmung (torpor) des Guten oder die Hartnaumlckigkeit (praesumptio) des Boumlsen Rein ist aber jenes Gewissen das weder durch das Vergangene zu recht angeklagt (accusare) noch durch das Gegenwaumlrtige unrechtmaumlszligig erfreut (delectare) wird

Daher laumlsst die meditatio der Sitten ihre Betrachtung nicht ruhen damit sie jegliche Re-gungen (motus) die sich im Herzen erheben bemerkt und erwaumlgt woher sie kommen und worauf sie abzielen (tendere) Das heiszligt woher sie kommen gemaumlszlig ihrem Ursprung und wo-nach sie streben hinsichtlich ihres Ziels Alles ist naumlmlich eine Bewegung aus irgendetwas und auf irgendetwas Die Bewegungen des Herzens sind manchmal offenkundigen Ursprungs manchmal entspringen sie aber auch Verborgenem Bei denen der Ursprung offenkundig ist ist er bisweilen durch das Gute bisweilen aufgrund des Boumlsen erwiesen Was offenkundig gut ist kommt von Gott was aber deutlich boumlse erscheint entspringt entweder dem Teufel oder dem Fleisch Dies sind naumlmlich die drei Urheber (auctores) aller Vorstellungen (suggestio) und aller Eingebungen (aspiratio) die unsichtbar an das Herz herantreten und aus jenen drei hervor-gehen Entspringen die Bewegungen des Herzens daher dem Verborgenen koumlnnen sie manch-mal aus dem Guten und dem Geheimen hervorgehen und sind manchmal boumlse und zweifelhaft (dubius) Die dem Guten entspringen kommen von Gott die aber dem Boumlsen entstammen sind entweder des Teufels oder des Fleisches

Die Bewegungen die folglich offenkundig sind sei es im Guten oder Boumlsen werden auf den ersten Blick durch ihren Ursprung angezeigt Jene aber die zweifelhaft bleiben hinsichtlich ih-res Grundes sind am Ende zu uumlberpruumlfen (probare) Ihr Ergebnis [oder Ausgang] (exitus) zeigt naumlmlich deutlich was vom Ursprung her verborgen war und deswegen muss derjenige der es nicht vermochte den Ausgangspunkt seiner Herzensbewegungen zu beurteilen (iudicare) das Ziel und die Ausfuumlhrung [bzw Vollendung] (finis et consummatio) untersuchen (investigare) Die Bewegungen naumlmlich die zweifelhaft und ungewiss sind sind vom verborgenen Guten oder Boumlsen Wie gesagt wurde haben die schlechten Regungen ihren Ursprung entweder beim Teufel oder im Fleisch Diese aber sind beide boumlse sie unterscheiden sich nicht indem oder durch was sie boumlse sind doch unterscheiden sie sich dahingehend dass die Regungen des Her-zens die dem Fleisch entspringen haumlufig aus einer Notwendigkeit (necessitas) heranwachsen

Meditation und Gebet 289

die aber die tatsaumlchlich vom Teufel kommen nehmen noch oumlfter wider der Vernunft (ratio) ihren Anfang (oriri) Was naumlmlich vom Teufel eingegeben wird (suggerere) ist in der Tat dem Menschen fremd und wird deswegen haumlufig von der menschlichen Vernunft abgelehnt weil er beispielsweise unlaumlngst gesaumlttigt Hunger leidet (pati) kurz zuvor noch trunken (inebriatus) vor Durst (sitis) gluumlht (aestuare) oder wenn er nach einem ausgiebigen Schlaf (dormitio) sich erhebend vom Traum (somnus) bedruumlckt (praegravare) wird

Hieraus also werden die Werke des Teufels differenziert betrachtet weil sie ja an den Men-schen von auszligen herangetragen werden und der menschlichen Vernunft fremd sind Bei den Werken des Fleisches und ihren Eingebungen liegt der Grund des Oumlfteren in einer vorangegan-genen Notwendigkeit Aber weil sie Ziel und Maszlig (modus et mensura) uumlbersteigen wachsen sie zum Uumlberfluss (superfluitas) heran Dies ist als Beispiel eben gerade dann der Fall wenn nach der Einnahme einer Mahlzeit der Hunger hemmungslos (immoderatus) begehrt (appetere) und nach Enthaltsamkeit (abstinentia) das Maszlig (mensura) bei der Aufnahme von Speise (edulium) nicht gehalten wird

Daher wird die meditatio der Sitten aufgrund eines dreifachen Urteils betrieben Das erste urteilt zwischen Tag und Nacht das zweite zwischen Tag und Tag und das dritte schlieszliglich untersucht den gesamten Tag (vgl Roumlm 145) Zwischen Nacht und Tag zu urteilen meint das Boumlse vom Guten zu (unter-)scheiden Die Beurteilung zwischen Tag und Tag bedeutet eine Un-terscheidung zwischen etwas Gutem und etwas Besserem vorzunehmen Uumlber den gesamten Tag zu richten ist schlieszliglich das einzelne Gute fuumlr den eigenen Lohn zu ermessen (aestimare)

So hat die meditatio der Sitten bei jeglichem Umgang (conversatio) das Ziel und die Rich-tung (directio) im Blick Das Ziel ist wohin man strebt die Richtung wodurch man leichter ans Ziel gelangt Jeder naumlmlich der zu irgend etwas strebt so wie etwas seine Bahn (cursus) lenkt und unaufhoumlrlich weiterzieht kommt schneller ans Ziel Es gibt daher Gutes durch das man stark bewegt ist (moveri) zugleich gibt es aber wenig her durch das man vorankommt (pro-moveri) Anderes dagegen fuumlhrt mit etwas Muumlhe (labor) zu groszligem Gewinn (fructus) Und diese sind folglich zu unterscheiden und das Bessere das mehr nuumltzt auszuwaumlhlen Welches auch immer mehr nuumltzt ist besser und es gehoumlrt sich jedes Werk auf seinen Ertrag hin zu beurteilen Indem viele diese Unterscheidung (discretio) nicht einhielten haben sie sich zwar aufs aumluszligerste bemuumlht sind jedoch nur wenig vorangekommen weil sie das Auge aumluszligerlich so sehr auf die Gestalt (species) der Werke richteten und nicht innerlich auf den Gewinn durch die Tugenden blickten Sie ergoumltzen sich daran groszlige Taten zu verrichten anstatt dass sie das Nuumltz-liche (utilia) uumlben (exercere) um sich selbst zu bessern (emendari) Dabei schaumltzten (diligere) sie vielmehr das durch das sie den Anschein erwecken (videri) konnten [so zu sein]

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zunaumlchst das was man schuldet entweder auf-grund einer Vorschrift (praeceptum) oder eines Geluumlbdes (votum) Diesbezuumlglich ist die erste Tat der meditatio zu ermitteln ist sie oder es erfuumlllt fuumlhrt es zum Lohn und wenn nicht bringt dies den Anklagezustand (reatus) hervor Es sind also zuerst die Dinge zu tun die nicht ohne Schuld (culpa) weggelassen werden koumlnnen Danach ist die meditatio alsdann so zu verrichten dass wenn etwas durch freiwillige Uumlbung (exercitatio) noch hinzugefuumlgt wird die Pflicht-erfuumlllung [eigtl Schuld] (debitum) nicht verhindert wird (impedire) Die einen die das nicht zu leisten vermoumlgen was sie schulden wollen was sie nicht muumlssen Die anderen wenn sie im-

290 Anselm Rau und Johanna Scheel

stande sind zu tun was sie schulden bringen freiwillig Hindernisse (impedimentum) mit sich indem sie etwas wollen was sie nicht muumlssen

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zwei Dinge des Boumlsen vor denen man bei der Ver-richtung von Gutem besonders auf der Hut sein muss die Betruumlbnis [Niedergeschlagenheit] (afflictio) und die Besessenheit [Vereinnahmung] (occupatio) Die afflictio fuumlhrt zur Bitterkeit (amaritudo) die occupatio zur Zerstreuung (dissipatio) Mit der afflictio verbittert die Suumlszlige (dulcedo) des Geistes und mit der occupatio wird die Ruhe (tranquillitas) zerstoumlrt (dissipare) Es herrscht Betruumlbnis wenn man fuumlr jene Dinge die man nicht vermag aufgrund der eigenen Ungeduld (impatientia) ungluumlcklich wird (urere) Dagegen handelt es sich um Besessenheit (occupatio) wenn man in seinem Handeln (nach seinem Vermoumlgen) aufgrund der impatientia gequaumllt wird (agitare) Folglich darf die Seele (animus) nicht aufgrund des Boumlsen verbittert wer-den sie muss ihr Unvermoumlgen (impossibilitas) geduldig (patienter) aushalten Genauso darf sie aber auch nicht vom Boumlsen eingenommen werden und darf ihr Vermoumlgen (possibilitas) nicht uumlber ihr eigenes Maszlig hinaus ausdehnen (extendere) Daher muss die meditatio der Sitten in einer weiteren Betrachtung der Lebensfuumlhrung zu einem Urteil kommen und dabei billigen dass es weder gut ist die Dinge die man nicht vermag ungeduldig (impatienter) zu verlangen (appetere) noch die welche man erreicht toumlricht (insipienter) zu verschmaumlhen (fastidire) Wer naumlmlich immer das begehrt was er nicht vermag und das was er [jedoch] vermag verabscheut wird sich weder am Gegenwaumlrtigen erfreuen (frui) noch am Zukuumlnftigen saumlttigen (satiare) Er verlaumlsst naumlmlich das Gute unentwickelt vor der Vollendung und eignet sich das gerade erst Be-gonnene vorzeitig an Deswegen ist es gut aufgrund des eigenen Guten zufrieden zu sein und das gegenwaumlrtige Gute durch hinzukommendes Gutes zu vermehren und es nicht aufgrund des Zukuumlnftigen wegzuwerfen (abicere) Der Austausch (commutatio) des Guten ist naumlmlich ein Leichtes (levitas) seine Uumlbung (exercitatio) aber die Tugend Oft eilen sie auf unterschiedlichen Wegen die einen die ein fruumlheres durch ein neues Gutes fallen lassen (abicere) und die ande-ren die [sich] vom Untersten zum Houmlchsten emporschwingen (conscendere) Wer naumlmlich nach Veraumlnderung (mutatio) fragt ist uumlberdruumlssig (fastidiosus) so wie der der nach dem Voran-schreiten (profectus) strebt eifrig bemuumlht ist (studiosus) Am aufrechtesten beschreitet daher derjenige den Weg der dabei so auf das Bessere brennt (fervere) dass er des Guten nicht uumlber-druumlssig wird sondern es vorerst empor haumllt solange bis er es spaumlter zu der ihm angemessenen Zeit sich aneignet (apprehendere)

Abbildungsnachweis

Einband Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders

Farbtafeln 1 (zu Beitrag Rosenwein) Coll BNU de Strasbourg ndash 2 (zu Beitrag Ferguson) Ar-chiv der Verf ndash 3 (zu Beitrag Herding) Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preu-szligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders ndash 4 (zu Beitrag Droste) R Kahsnitz Die Groszligen Schnitzaltaumlre Spaumltgotik in Suumlddeutschland Oumlsterreich Suumldtirol Muumlnchen 2005 Taf 53 ndash 5 6 (zu Beitrag Schedl) 75 Jahre 1933ndash2008 Kirche Mutter vom Guten Rat Festschrift und Chro-nik FrankfurtM 2008 S 92 Dr Bernd Konrad Radolfzell ndash 7 8 9 (zu Beitrag Zaumlh) Archiv des Autors ndash 10 (zu Beitrag Niehr) Universitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Media-thek 11 12 (zu Beitrag Muumlller) Autorin ndash 13 14 15 (zu Beitrag Schlie) Su concessione del Ministero dei beni e delle attivitagrave culturali e del turismo ndash Galleria Nazionale delle Marche ndash Urbino Archivio fotografico Archiv der Verf F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 ndash 16 17 (zu Beitrag Stoichita) D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 ndash 18 19 20 (zu Beitrag Schmidt) London British Museum C Geissmar-BrandiE Louis (Hgg) Glaube Hoffnung Liebe Tod Wien 1995 S 149 Archiv Autor ndash 21 (zu Beitrag Jung) Autorin

Textabbildungen Droste 1 3 4 Autorin 2 E Oellermann Der Hochaltar in St Martin zu Lorch am Rhein in H KrohmE Oellermann (Hrsg) Fluumlgelaltaumlre des spaumlten Mittelalters Ber-lin 1992 Abb 2 ndash Ferguson 1ndash3 Archiv der Verf ndash Frese 1 2 3 5 M BrandtA Eggebrecht (Hgg) Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen Katalog der Ausstellung Hil-desheim 1993 Bd 1 S 386f Abb 197 u 198 Bd 2 S 583 KatNr VIIIndash32 S 604 KatNr IXndash8 4 G LutzA Weyer (Hgg) 1000 Jahre St Michael in Hildesheim Kirche ndash Kloster ndash Stifter Peterberg 2012 S 148 Abb 118 ndash Gruumlndler 1ndash4 L DomenicoA Nova (Hg) Leonardo da Vincirsquos Anatomical World Language Context and Disegno Akten der Internationalen Tagung Florenz 30ndash31 Mai 2008 Venedig 2011 S 237 S 236 S 241 S 186 5 6 Le journal de Jacopo da Pontormo traduit par Jean-Claude Lebensztejn avec la collaboration drsquoAlessandro Parronchi Paris 1992 S 46 S 50 ndash Herding 1 2 3 4 5 6 7 Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders 8 Max J Friedlaumlnder Early Netherlandish Painting 14 vols Leiden und Bruumlssel 1967ndash1974 vol II 1967 pl 10 Nr 3i 9 Wolfenbuumlttel Herzog-August-Bibliothek ndash Jung 1 2 3 4 5 Autorin ndash Kessler 1 6 7 Autor 2 3 Museo delle Terme Rom 4 British Museum London 5 Alexei Lidov ndash Maxwell 1 2 AHN 3 Autor 4 Sancho el Mayor y sus herederos ed I Bango Torviso et al 2006 cat 25 5 BNE ndash Muumlller 1 Italian painting c 1330ndash1550 I National Gallery in Prague II Collections in the Czech Repub-lic Illustrated summary catalogue Prag 2008 2 Collection of The John and Mable Ringling Museum of Art the State Art Museum of Florida Florida State University 3 2014 copy Archivio Fotografico ndash Fondazione Musei Civici di Venezia ndash Niehr 1 A Schuttwolf (Hg) Ausst-Kat Jahreszeiten der Gefuumlhle Das Gothaer Liebespaar und die Minne im Spaumltmittelalter Ostfil-

400 Abbildungsnachweis

dern-Ruit 1998 2 D de Vos Hans Memling Das Gesamtwerk AntwerpenStuttgart 1994 S 278ndash283 TH Borchert Hans Memling Portraits Stuttgart 2005 S 173f Nr 23 3 Univer-sitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Mediathek ndash Pfisterer 1 E Steinmann ldquoLa mano di Michelangeloldquo in Studien aus Kunst und Geschichte Friedrich Schneider zum siebzigsten Geburtstag Freiburg iBr 1906 unnum Taf 2 R Bernini ua La mano e il volto di Antonio Canova PossagnoQuinto di Treviso 2008 S 197 3 U Klein Zur Forschungsgeschichte des Duumlrer-Hauses in GU GroszligmannF Sonnenberger (Hgg) Das Duumlrer-Haus Neue Ergebnisse der Forschung Nuumlrnberg 2007 S 105 nach Carl A Heideloff Die Ornamentik des Mittelalters Bd 3 Nuumlrnberg 1847 S 42 4 WH Vroon Het wonderlid van Jan de Witt en andere vaderland-se relieken Nijmegen 1997 S 68 5 Autor nach GF Tomasini Petrarca Redivivus Padua sup21650 S 128 6 A Picturesque Tour Through Holland Brabant and Part of France made in the autum of 1789 by Samuel Ireland London sup21796 Bd 2 Taf nach S 13 ndash Pinkus 1 2 3 4 5 6 Autor 7 8 Institut fuumlr Kunstgeschichte Universitaumlt Wien Fotothek ndash RauScheel 1 M Gregori Uf-fizien und Palazzo Pitti Muumlnchen 1994 S 31 2 Den Haag Koninklijke Bibliotheek ndash Raeck 1 2 5 7 Fotothek des Instituts fuumlr Archaumlologische Wissenschaften AbtI Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main 3 Zeichnerische Rekonstruktion M Junghans nach H-V Herrmann Olympia ndash Heiligtum und Wettkampfstaumltte Muumlnchen 1972 Abb 95 4 Antikensammlung Staatliche Museen zu Berlin Foto Johannes Laurentius 6 W Riezler Weissgrundige attische Lekythen Muumlnchen 1914 Taf 23 8 Deutsches Archaumlologisches Institut Athen Fotothek ndash Reudenbach 1 F MuumltherichJE Gaehde Karolingische Buchmalerei Muumlnchen 1979 Taf 4 2ndash4 httpwwwbibliotheca-laureshamensis-digitalde (Zugriff 20022014) ndash Schmengler 1 2 3 Torsten Saumlnger Frankfurt 4 5 6 Eric Tschernow Berlin ndash Schedl 1ndash3 Dr Bernd Konrad Radolfzell 4 FrankfurtMain-Niederrad Pfarrarchiv der katholischen Kirchengemeinde Mut-ter zum Guten Rat ndash Schlie 1 Archiv der Verf 2 Archiv der Verf + D E Katz The Contours of Tolerance Jews and the Corpus Domini Altarpiece in Urbino in Art Bulletin 85 (2003) S 647ndash661 S 647 3 F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 Schmidt 1 2 London British Museum 3 M Geisberg Der Meister ES Leipzig 21924 4 Archiv Autor ndash Taxer 1 2 O Paumlcht Altniederlaumlndische Malerei Von Rogier van der Weyden bis Gerard David Muumlnchen 1994 Abb 91 S 118 Abb 93 S 120 3 4 E Panofsky Die altniederlaumlndische Malerei Ihr Ursprung und Wesen Bd 2 Koumlln 2006 Abb 387 S 236 Abb 358 S 214 ndash Stoichita 1 D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 2 3 J Bialostocki Les Museacutees de Pologne Bruxelles 1966 ndash Zaumlh 1 2 Archiv des Verf 3 Metropolitan Museum of Art Bulletin 58 (2001) S 17 4 G ForsythK Weitzmann The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai The Church and Fortress of Justinian Plates Ann Arbor (Mi) 1973 Plate 121

288 Anselm Rau und Johanna Scheel

(simplex et recta) Die bona intentio ist arglos ohne Hinterlist (malitia) und aufrichtig ohne Ignoranz (ignorantia) Die naumlmlich ohne Hinterlist ist besitzt den Eifer (zelus) Ist sie aber aus der [bewussten] Unkenntnis gegenuumlber dem Wissen (scientia) (Roumlm 102) geboren verfuumlgt sie nicht uumlber den [wahren] Eifer Daher ist es notwendig dass die Absicht aufrichtig ist in der Bescheidenheit (discretio) und arglos im Wohlwollen (benignitas) Bei den Werken ist zu be-trachten dass sie aus der aufkommenden guten Absicht heraus mit beharrlicher Leidenschaft (fervor) schlieszliglich ans Ziel gefuumlhrt werden damit nicht die Beharrlichkeit (perseverantia) ge-laumlhmt (torpere) und die Liebe (amor) nicht lau wird (tepescare)

Auf gleiche Weise erfolgt die meditatio der Sitten in einer zweifachen Betrachtung naumlmlich einer inneren und einer aumluszligeren Die aumluszligere blickt auf das Ansehen (fama) die innere auf das Gewissen (conscientia) Die aumluszligere Betrachtung erfolgt gemaumlszlig dem was ziert (decere) und was nuumltzt (expedire) was als Beispiel (exemplum) dient und was den Lohn (meritum) hervorbringt ndash uns zum Lohn und den Naumlchsten als Beispiel Die innere Betrachtung dagegen schaut auf das Gewissen damit es rein (mundus) sei ohne Anklage (accusatio) zu erleiden (pati) ob nun durch die Laumlhmung (torpor) des Guten oder die Hartnaumlckigkeit (praesumptio) des Boumlsen Rein ist aber jenes Gewissen das weder durch das Vergangene zu recht angeklagt (accusare) noch durch das Gegenwaumlrtige unrechtmaumlszligig erfreut (delectare) wird

Daher laumlsst die meditatio der Sitten ihre Betrachtung nicht ruhen damit sie jegliche Re-gungen (motus) die sich im Herzen erheben bemerkt und erwaumlgt woher sie kommen und worauf sie abzielen (tendere) Das heiszligt woher sie kommen gemaumlszlig ihrem Ursprung und wo-nach sie streben hinsichtlich ihres Ziels Alles ist naumlmlich eine Bewegung aus irgendetwas und auf irgendetwas Die Bewegungen des Herzens sind manchmal offenkundigen Ursprungs manchmal entspringen sie aber auch Verborgenem Bei denen der Ursprung offenkundig ist ist er bisweilen durch das Gute bisweilen aufgrund des Boumlsen erwiesen Was offenkundig gut ist kommt von Gott was aber deutlich boumlse erscheint entspringt entweder dem Teufel oder dem Fleisch Dies sind naumlmlich die drei Urheber (auctores) aller Vorstellungen (suggestio) und aller Eingebungen (aspiratio) die unsichtbar an das Herz herantreten und aus jenen drei hervor-gehen Entspringen die Bewegungen des Herzens daher dem Verborgenen koumlnnen sie manch-mal aus dem Guten und dem Geheimen hervorgehen und sind manchmal boumlse und zweifelhaft (dubius) Die dem Guten entspringen kommen von Gott die aber dem Boumlsen entstammen sind entweder des Teufels oder des Fleisches

Die Bewegungen die folglich offenkundig sind sei es im Guten oder Boumlsen werden auf den ersten Blick durch ihren Ursprung angezeigt Jene aber die zweifelhaft bleiben hinsichtlich ih-res Grundes sind am Ende zu uumlberpruumlfen (probare) Ihr Ergebnis [oder Ausgang] (exitus) zeigt naumlmlich deutlich was vom Ursprung her verborgen war und deswegen muss derjenige der es nicht vermochte den Ausgangspunkt seiner Herzensbewegungen zu beurteilen (iudicare) das Ziel und die Ausfuumlhrung [bzw Vollendung] (finis et consummatio) untersuchen (investigare) Die Bewegungen naumlmlich die zweifelhaft und ungewiss sind sind vom verborgenen Guten oder Boumlsen Wie gesagt wurde haben die schlechten Regungen ihren Ursprung entweder beim Teufel oder im Fleisch Diese aber sind beide boumlse sie unterscheiden sich nicht indem oder durch was sie boumlse sind doch unterscheiden sie sich dahingehend dass die Regungen des Her-zens die dem Fleisch entspringen haumlufig aus einer Notwendigkeit (necessitas) heranwachsen

Meditation und Gebet 289

die aber die tatsaumlchlich vom Teufel kommen nehmen noch oumlfter wider der Vernunft (ratio) ihren Anfang (oriri) Was naumlmlich vom Teufel eingegeben wird (suggerere) ist in der Tat dem Menschen fremd und wird deswegen haumlufig von der menschlichen Vernunft abgelehnt weil er beispielsweise unlaumlngst gesaumlttigt Hunger leidet (pati) kurz zuvor noch trunken (inebriatus) vor Durst (sitis) gluumlht (aestuare) oder wenn er nach einem ausgiebigen Schlaf (dormitio) sich erhebend vom Traum (somnus) bedruumlckt (praegravare) wird

Hieraus also werden die Werke des Teufels differenziert betrachtet weil sie ja an den Men-schen von auszligen herangetragen werden und der menschlichen Vernunft fremd sind Bei den Werken des Fleisches und ihren Eingebungen liegt der Grund des Oumlfteren in einer vorangegan-genen Notwendigkeit Aber weil sie Ziel und Maszlig (modus et mensura) uumlbersteigen wachsen sie zum Uumlberfluss (superfluitas) heran Dies ist als Beispiel eben gerade dann der Fall wenn nach der Einnahme einer Mahlzeit der Hunger hemmungslos (immoderatus) begehrt (appetere) und nach Enthaltsamkeit (abstinentia) das Maszlig (mensura) bei der Aufnahme von Speise (edulium) nicht gehalten wird

Daher wird die meditatio der Sitten aufgrund eines dreifachen Urteils betrieben Das erste urteilt zwischen Tag und Nacht das zweite zwischen Tag und Tag und das dritte schlieszliglich untersucht den gesamten Tag (vgl Roumlm 145) Zwischen Nacht und Tag zu urteilen meint das Boumlse vom Guten zu (unter-)scheiden Die Beurteilung zwischen Tag und Tag bedeutet eine Un-terscheidung zwischen etwas Gutem und etwas Besserem vorzunehmen Uumlber den gesamten Tag zu richten ist schlieszliglich das einzelne Gute fuumlr den eigenen Lohn zu ermessen (aestimare)

So hat die meditatio der Sitten bei jeglichem Umgang (conversatio) das Ziel und die Rich-tung (directio) im Blick Das Ziel ist wohin man strebt die Richtung wodurch man leichter ans Ziel gelangt Jeder naumlmlich der zu irgend etwas strebt so wie etwas seine Bahn (cursus) lenkt und unaufhoumlrlich weiterzieht kommt schneller ans Ziel Es gibt daher Gutes durch das man stark bewegt ist (moveri) zugleich gibt es aber wenig her durch das man vorankommt (pro-moveri) Anderes dagegen fuumlhrt mit etwas Muumlhe (labor) zu groszligem Gewinn (fructus) Und diese sind folglich zu unterscheiden und das Bessere das mehr nuumltzt auszuwaumlhlen Welches auch immer mehr nuumltzt ist besser und es gehoumlrt sich jedes Werk auf seinen Ertrag hin zu beurteilen Indem viele diese Unterscheidung (discretio) nicht einhielten haben sie sich zwar aufs aumluszligerste bemuumlht sind jedoch nur wenig vorangekommen weil sie das Auge aumluszligerlich so sehr auf die Gestalt (species) der Werke richteten und nicht innerlich auf den Gewinn durch die Tugenden blickten Sie ergoumltzen sich daran groszlige Taten zu verrichten anstatt dass sie das Nuumltz-liche (utilia) uumlben (exercere) um sich selbst zu bessern (emendari) Dabei schaumltzten (diligere) sie vielmehr das durch das sie den Anschein erwecken (videri) konnten [so zu sein]

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zunaumlchst das was man schuldet entweder auf-grund einer Vorschrift (praeceptum) oder eines Geluumlbdes (votum) Diesbezuumlglich ist die erste Tat der meditatio zu ermitteln ist sie oder es erfuumlllt fuumlhrt es zum Lohn und wenn nicht bringt dies den Anklagezustand (reatus) hervor Es sind also zuerst die Dinge zu tun die nicht ohne Schuld (culpa) weggelassen werden koumlnnen Danach ist die meditatio alsdann so zu verrichten dass wenn etwas durch freiwillige Uumlbung (exercitatio) noch hinzugefuumlgt wird die Pflicht-erfuumlllung [eigtl Schuld] (debitum) nicht verhindert wird (impedire) Die einen die das nicht zu leisten vermoumlgen was sie schulden wollen was sie nicht muumlssen Die anderen wenn sie im-

290 Anselm Rau und Johanna Scheel

stande sind zu tun was sie schulden bringen freiwillig Hindernisse (impedimentum) mit sich indem sie etwas wollen was sie nicht muumlssen

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zwei Dinge des Boumlsen vor denen man bei der Ver-richtung von Gutem besonders auf der Hut sein muss die Betruumlbnis [Niedergeschlagenheit] (afflictio) und die Besessenheit [Vereinnahmung] (occupatio) Die afflictio fuumlhrt zur Bitterkeit (amaritudo) die occupatio zur Zerstreuung (dissipatio) Mit der afflictio verbittert die Suumlszlige (dulcedo) des Geistes und mit der occupatio wird die Ruhe (tranquillitas) zerstoumlrt (dissipare) Es herrscht Betruumlbnis wenn man fuumlr jene Dinge die man nicht vermag aufgrund der eigenen Ungeduld (impatientia) ungluumlcklich wird (urere) Dagegen handelt es sich um Besessenheit (occupatio) wenn man in seinem Handeln (nach seinem Vermoumlgen) aufgrund der impatientia gequaumllt wird (agitare) Folglich darf die Seele (animus) nicht aufgrund des Boumlsen verbittert wer-den sie muss ihr Unvermoumlgen (impossibilitas) geduldig (patienter) aushalten Genauso darf sie aber auch nicht vom Boumlsen eingenommen werden und darf ihr Vermoumlgen (possibilitas) nicht uumlber ihr eigenes Maszlig hinaus ausdehnen (extendere) Daher muss die meditatio der Sitten in einer weiteren Betrachtung der Lebensfuumlhrung zu einem Urteil kommen und dabei billigen dass es weder gut ist die Dinge die man nicht vermag ungeduldig (impatienter) zu verlangen (appetere) noch die welche man erreicht toumlricht (insipienter) zu verschmaumlhen (fastidire) Wer naumlmlich immer das begehrt was er nicht vermag und das was er [jedoch] vermag verabscheut wird sich weder am Gegenwaumlrtigen erfreuen (frui) noch am Zukuumlnftigen saumlttigen (satiare) Er verlaumlsst naumlmlich das Gute unentwickelt vor der Vollendung und eignet sich das gerade erst Be-gonnene vorzeitig an Deswegen ist es gut aufgrund des eigenen Guten zufrieden zu sein und das gegenwaumlrtige Gute durch hinzukommendes Gutes zu vermehren und es nicht aufgrund des Zukuumlnftigen wegzuwerfen (abicere) Der Austausch (commutatio) des Guten ist naumlmlich ein Leichtes (levitas) seine Uumlbung (exercitatio) aber die Tugend Oft eilen sie auf unterschiedlichen Wegen die einen die ein fruumlheres durch ein neues Gutes fallen lassen (abicere) und die ande-ren die [sich] vom Untersten zum Houmlchsten emporschwingen (conscendere) Wer naumlmlich nach Veraumlnderung (mutatio) fragt ist uumlberdruumlssig (fastidiosus) so wie der der nach dem Voran-schreiten (profectus) strebt eifrig bemuumlht ist (studiosus) Am aufrechtesten beschreitet daher derjenige den Weg der dabei so auf das Bessere brennt (fervere) dass er des Guten nicht uumlber-druumlssig wird sondern es vorerst empor haumllt solange bis er es spaumlter zu der ihm angemessenen Zeit sich aneignet (apprehendere)

Abbildungsnachweis

Einband Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders

Farbtafeln 1 (zu Beitrag Rosenwein) Coll BNU de Strasbourg ndash 2 (zu Beitrag Ferguson) Ar-chiv der Verf ndash 3 (zu Beitrag Herding) Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preu-szligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders ndash 4 (zu Beitrag Droste) R Kahsnitz Die Groszligen Schnitzaltaumlre Spaumltgotik in Suumlddeutschland Oumlsterreich Suumldtirol Muumlnchen 2005 Taf 53 ndash 5 6 (zu Beitrag Schedl) 75 Jahre 1933ndash2008 Kirche Mutter vom Guten Rat Festschrift und Chro-nik FrankfurtM 2008 S 92 Dr Bernd Konrad Radolfzell ndash 7 8 9 (zu Beitrag Zaumlh) Archiv des Autors ndash 10 (zu Beitrag Niehr) Universitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Media-thek 11 12 (zu Beitrag Muumlller) Autorin ndash 13 14 15 (zu Beitrag Schlie) Su concessione del Ministero dei beni e delle attivitagrave culturali e del turismo ndash Galleria Nazionale delle Marche ndash Urbino Archivio fotografico Archiv der Verf F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 ndash 16 17 (zu Beitrag Stoichita) D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 ndash 18 19 20 (zu Beitrag Schmidt) London British Museum C Geissmar-BrandiE Louis (Hgg) Glaube Hoffnung Liebe Tod Wien 1995 S 149 Archiv Autor ndash 21 (zu Beitrag Jung) Autorin

Textabbildungen Droste 1 3 4 Autorin 2 E Oellermann Der Hochaltar in St Martin zu Lorch am Rhein in H KrohmE Oellermann (Hrsg) Fluumlgelaltaumlre des spaumlten Mittelalters Ber-lin 1992 Abb 2 ndash Ferguson 1ndash3 Archiv der Verf ndash Frese 1 2 3 5 M BrandtA Eggebrecht (Hgg) Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen Katalog der Ausstellung Hil-desheim 1993 Bd 1 S 386f Abb 197 u 198 Bd 2 S 583 KatNr VIIIndash32 S 604 KatNr IXndash8 4 G LutzA Weyer (Hgg) 1000 Jahre St Michael in Hildesheim Kirche ndash Kloster ndash Stifter Peterberg 2012 S 148 Abb 118 ndash Gruumlndler 1ndash4 L DomenicoA Nova (Hg) Leonardo da Vincirsquos Anatomical World Language Context and Disegno Akten der Internationalen Tagung Florenz 30ndash31 Mai 2008 Venedig 2011 S 237 S 236 S 241 S 186 5 6 Le journal de Jacopo da Pontormo traduit par Jean-Claude Lebensztejn avec la collaboration drsquoAlessandro Parronchi Paris 1992 S 46 S 50 ndash Herding 1 2 3 4 5 6 7 Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders 8 Max J Friedlaumlnder Early Netherlandish Painting 14 vols Leiden und Bruumlssel 1967ndash1974 vol II 1967 pl 10 Nr 3i 9 Wolfenbuumlttel Herzog-August-Bibliothek ndash Jung 1 2 3 4 5 Autorin ndash Kessler 1 6 7 Autor 2 3 Museo delle Terme Rom 4 British Museum London 5 Alexei Lidov ndash Maxwell 1 2 AHN 3 Autor 4 Sancho el Mayor y sus herederos ed I Bango Torviso et al 2006 cat 25 5 BNE ndash Muumlller 1 Italian painting c 1330ndash1550 I National Gallery in Prague II Collections in the Czech Repub-lic Illustrated summary catalogue Prag 2008 2 Collection of The John and Mable Ringling Museum of Art the State Art Museum of Florida Florida State University 3 2014 copy Archivio Fotografico ndash Fondazione Musei Civici di Venezia ndash Niehr 1 A Schuttwolf (Hg) Ausst-Kat Jahreszeiten der Gefuumlhle Das Gothaer Liebespaar und die Minne im Spaumltmittelalter Ostfil-

400 Abbildungsnachweis

dern-Ruit 1998 2 D de Vos Hans Memling Das Gesamtwerk AntwerpenStuttgart 1994 S 278ndash283 TH Borchert Hans Memling Portraits Stuttgart 2005 S 173f Nr 23 3 Univer-sitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Mediathek ndash Pfisterer 1 E Steinmann ldquoLa mano di Michelangeloldquo in Studien aus Kunst und Geschichte Friedrich Schneider zum siebzigsten Geburtstag Freiburg iBr 1906 unnum Taf 2 R Bernini ua La mano e il volto di Antonio Canova PossagnoQuinto di Treviso 2008 S 197 3 U Klein Zur Forschungsgeschichte des Duumlrer-Hauses in GU GroszligmannF Sonnenberger (Hgg) Das Duumlrer-Haus Neue Ergebnisse der Forschung Nuumlrnberg 2007 S 105 nach Carl A Heideloff Die Ornamentik des Mittelalters Bd 3 Nuumlrnberg 1847 S 42 4 WH Vroon Het wonderlid van Jan de Witt en andere vaderland-se relieken Nijmegen 1997 S 68 5 Autor nach GF Tomasini Petrarca Redivivus Padua sup21650 S 128 6 A Picturesque Tour Through Holland Brabant and Part of France made in the autum of 1789 by Samuel Ireland London sup21796 Bd 2 Taf nach S 13 ndash Pinkus 1 2 3 4 5 6 Autor 7 8 Institut fuumlr Kunstgeschichte Universitaumlt Wien Fotothek ndash RauScheel 1 M Gregori Uf-fizien und Palazzo Pitti Muumlnchen 1994 S 31 2 Den Haag Koninklijke Bibliotheek ndash Raeck 1 2 5 7 Fotothek des Instituts fuumlr Archaumlologische Wissenschaften AbtI Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main 3 Zeichnerische Rekonstruktion M Junghans nach H-V Herrmann Olympia ndash Heiligtum und Wettkampfstaumltte Muumlnchen 1972 Abb 95 4 Antikensammlung Staatliche Museen zu Berlin Foto Johannes Laurentius 6 W Riezler Weissgrundige attische Lekythen Muumlnchen 1914 Taf 23 8 Deutsches Archaumlologisches Institut Athen Fotothek ndash Reudenbach 1 F MuumltherichJE Gaehde Karolingische Buchmalerei Muumlnchen 1979 Taf 4 2ndash4 httpwwwbibliotheca-laureshamensis-digitalde (Zugriff 20022014) ndash Schmengler 1 2 3 Torsten Saumlnger Frankfurt 4 5 6 Eric Tschernow Berlin ndash Schedl 1ndash3 Dr Bernd Konrad Radolfzell 4 FrankfurtMain-Niederrad Pfarrarchiv der katholischen Kirchengemeinde Mut-ter zum Guten Rat ndash Schlie 1 Archiv der Verf 2 Archiv der Verf + D E Katz The Contours of Tolerance Jews and the Corpus Domini Altarpiece in Urbino in Art Bulletin 85 (2003) S 647ndash661 S 647 3 F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 Schmidt 1 2 London British Museum 3 M Geisberg Der Meister ES Leipzig 21924 4 Archiv Autor ndash Taxer 1 2 O Paumlcht Altniederlaumlndische Malerei Von Rogier van der Weyden bis Gerard David Muumlnchen 1994 Abb 91 S 118 Abb 93 S 120 3 4 E Panofsky Die altniederlaumlndische Malerei Ihr Ursprung und Wesen Bd 2 Koumlln 2006 Abb 387 S 236 Abb 358 S 214 ndash Stoichita 1 D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 2 3 J Bialostocki Les Museacutees de Pologne Bruxelles 1966 ndash Zaumlh 1 2 Archiv des Verf 3 Metropolitan Museum of Art Bulletin 58 (2001) S 17 4 G ForsythK Weitzmann The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai The Church and Fortress of Justinian Plates Ann Arbor (Mi) 1973 Plate 121

Meditation und Gebet 289

die aber die tatsaumlchlich vom Teufel kommen nehmen noch oumlfter wider der Vernunft (ratio) ihren Anfang (oriri) Was naumlmlich vom Teufel eingegeben wird (suggerere) ist in der Tat dem Menschen fremd und wird deswegen haumlufig von der menschlichen Vernunft abgelehnt weil er beispielsweise unlaumlngst gesaumlttigt Hunger leidet (pati) kurz zuvor noch trunken (inebriatus) vor Durst (sitis) gluumlht (aestuare) oder wenn er nach einem ausgiebigen Schlaf (dormitio) sich erhebend vom Traum (somnus) bedruumlckt (praegravare) wird

Hieraus also werden die Werke des Teufels differenziert betrachtet weil sie ja an den Men-schen von auszligen herangetragen werden und der menschlichen Vernunft fremd sind Bei den Werken des Fleisches und ihren Eingebungen liegt der Grund des Oumlfteren in einer vorangegan-genen Notwendigkeit Aber weil sie Ziel und Maszlig (modus et mensura) uumlbersteigen wachsen sie zum Uumlberfluss (superfluitas) heran Dies ist als Beispiel eben gerade dann der Fall wenn nach der Einnahme einer Mahlzeit der Hunger hemmungslos (immoderatus) begehrt (appetere) und nach Enthaltsamkeit (abstinentia) das Maszlig (mensura) bei der Aufnahme von Speise (edulium) nicht gehalten wird

Daher wird die meditatio der Sitten aufgrund eines dreifachen Urteils betrieben Das erste urteilt zwischen Tag und Nacht das zweite zwischen Tag und Tag und das dritte schlieszliglich untersucht den gesamten Tag (vgl Roumlm 145) Zwischen Nacht und Tag zu urteilen meint das Boumlse vom Guten zu (unter-)scheiden Die Beurteilung zwischen Tag und Tag bedeutet eine Un-terscheidung zwischen etwas Gutem und etwas Besserem vorzunehmen Uumlber den gesamten Tag zu richten ist schlieszliglich das einzelne Gute fuumlr den eigenen Lohn zu ermessen (aestimare)

So hat die meditatio der Sitten bei jeglichem Umgang (conversatio) das Ziel und die Rich-tung (directio) im Blick Das Ziel ist wohin man strebt die Richtung wodurch man leichter ans Ziel gelangt Jeder naumlmlich der zu irgend etwas strebt so wie etwas seine Bahn (cursus) lenkt und unaufhoumlrlich weiterzieht kommt schneller ans Ziel Es gibt daher Gutes durch das man stark bewegt ist (moveri) zugleich gibt es aber wenig her durch das man vorankommt (pro-moveri) Anderes dagegen fuumlhrt mit etwas Muumlhe (labor) zu groszligem Gewinn (fructus) Und diese sind folglich zu unterscheiden und das Bessere das mehr nuumltzt auszuwaumlhlen Welches auch immer mehr nuumltzt ist besser und es gehoumlrt sich jedes Werk auf seinen Ertrag hin zu beurteilen Indem viele diese Unterscheidung (discretio) nicht einhielten haben sie sich zwar aufs aumluszligerste bemuumlht sind jedoch nur wenig vorangekommen weil sie das Auge aumluszligerlich so sehr auf die Gestalt (species) der Werke richteten und nicht innerlich auf den Gewinn durch die Tugenden blickten Sie ergoumltzen sich daran groszlige Taten zu verrichten anstatt dass sie das Nuumltz-liche (utilia) uumlben (exercere) um sich selbst zu bessern (emendari) Dabei schaumltzten (diligere) sie vielmehr das durch das sie den Anschein erwecken (videri) konnten [so zu sein]

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zunaumlchst das was man schuldet entweder auf-grund einer Vorschrift (praeceptum) oder eines Geluumlbdes (votum) Diesbezuumlglich ist die erste Tat der meditatio zu ermitteln ist sie oder es erfuumlllt fuumlhrt es zum Lohn und wenn nicht bringt dies den Anklagezustand (reatus) hervor Es sind also zuerst die Dinge zu tun die nicht ohne Schuld (culpa) weggelassen werden koumlnnen Danach ist die meditatio alsdann so zu verrichten dass wenn etwas durch freiwillige Uumlbung (exercitatio) noch hinzugefuumlgt wird die Pflicht-erfuumlllung [eigtl Schuld] (debitum) nicht verhindert wird (impedire) Die einen die das nicht zu leisten vermoumlgen was sie schulden wollen was sie nicht muumlssen Die anderen wenn sie im-

290 Anselm Rau und Johanna Scheel

stande sind zu tun was sie schulden bringen freiwillig Hindernisse (impedimentum) mit sich indem sie etwas wollen was sie nicht muumlssen

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zwei Dinge des Boumlsen vor denen man bei der Ver-richtung von Gutem besonders auf der Hut sein muss die Betruumlbnis [Niedergeschlagenheit] (afflictio) und die Besessenheit [Vereinnahmung] (occupatio) Die afflictio fuumlhrt zur Bitterkeit (amaritudo) die occupatio zur Zerstreuung (dissipatio) Mit der afflictio verbittert die Suumlszlige (dulcedo) des Geistes und mit der occupatio wird die Ruhe (tranquillitas) zerstoumlrt (dissipare) Es herrscht Betruumlbnis wenn man fuumlr jene Dinge die man nicht vermag aufgrund der eigenen Ungeduld (impatientia) ungluumlcklich wird (urere) Dagegen handelt es sich um Besessenheit (occupatio) wenn man in seinem Handeln (nach seinem Vermoumlgen) aufgrund der impatientia gequaumllt wird (agitare) Folglich darf die Seele (animus) nicht aufgrund des Boumlsen verbittert wer-den sie muss ihr Unvermoumlgen (impossibilitas) geduldig (patienter) aushalten Genauso darf sie aber auch nicht vom Boumlsen eingenommen werden und darf ihr Vermoumlgen (possibilitas) nicht uumlber ihr eigenes Maszlig hinaus ausdehnen (extendere) Daher muss die meditatio der Sitten in einer weiteren Betrachtung der Lebensfuumlhrung zu einem Urteil kommen und dabei billigen dass es weder gut ist die Dinge die man nicht vermag ungeduldig (impatienter) zu verlangen (appetere) noch die welche man erreicht toumlricht (insipienter) zu verschmaumlhen (fastidire) Wer naumlmlich immer das begehrt was er nicht vermag und das was er [jedoch] vermag verabscheut wird sich weder am Gegenwaumlrtigen erfreuen (frui) noch am Zukuumlnftigen saumlttigen (satiare) Er verlaumlsst naumlmlich das Gute unentwickelt vor der Vollendung und eignet sich das gerade erst Be-gonnene vorzeitig an Deswegen ist es gut aufgrund des eigenen Guten zufrieden zu sein und das gegenwaumlrtige Gute durch hinzukommendes Gutes zu vermehren und es nicht aufgrund des Zukuumlnftigen wegzuwerfen (abicere) Der Austausch (commutatio) des Guten ist naumlmlich ein Leichtes (levitas) seine Uumlbung (exercitatio) aber die Tugend Oft eilen sie auf unterschiedlichen Wegen die einen die ein fruumlheres durch ein neues Gutes fallen lassen (abicere) und die ande-ren die [sich] vom Untersten zum Houmlchsten emporschwingen (conscendere) Wer naumlmlich nach Veraumlnderung (mutatio) fragt ist uumlberdruumlssig (fastidiosus) so wie der der nach dem Voran-schreiten (profectus) strebt eifrig bemuumlht ist (studiosus) Am aufrechtesten beschreitet daher derjenige den Weg der dabei so auf das Bessere brennt (fervere) dass er des Guten nicht uumlber-druumlssig wird sondern es vorerst empor haumllt solange bis er es spaumlter zu der ihm angemessenen Zeit sich aneignet (apprehendere)

Abbildungsnachweis

Einband Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders

Farbtafeln 1 (zu Beitrag Rosenwein) Coll BNU de Strasbourg ndash 2 (zu Beitrag Ferguson) Ar-chiv der Verf ndash 3 (zu Beitrag Herding) Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preu-szligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders ndash 4 (zu Beitrag Droste) R Kahsnitz Die Groszligen Schnitzaltaumlre Spaumltgotik in Suumlddeutschland Oumlsterreich Suumldtirol Muumlnchen 2005 Taf 53 ndash 5 6 (zu Beitrag Schedl) 75 Jahre 1933ndash2008 Kirche Mutter vom Guten Rat Festschrift und Chro-nik FrankfurtM 2008 S 92 Dr Bernd Konrad Radolfzell ndash 7 8 9 (zu Beitrag Zaumlh) Archiv des Autors ndash 10 (zu Beitrag Niehr) Universitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Media-thek 11 12 (zu Beitrag Muumlller) Autorin ndash 13 14 15 (zu Beitrag Schlie) Su concessione del Ministero dei beni e delle attivitagrave culturali e del turismo ndash Galleria Nazionale delle Marche ndash Urbino Archivio fotografico Archiv der Verf F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 ndash 16 17 (zu Beitrag Stoichita) D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 ndash 18 19 20 (zu Beitrag Schmidt) London British Museum C Geissmar-BrandiE Louis (Hgg) Glaube Hoffnung Liebe Tod Wien 1995 S 149 Archiv Autor ndash 21 (zu Beitrag Jung) Autorin

Textabbildungen Droste 1 3 4 Autorin 2 E Oellermann Der Hochaltar in St Martin zu Lorch am Rhein in H KrohmE Oellermann (Hrsg) Fluumlgelaltaumlre des spaumlten Mittelalters Ber-lin 1992 Abb 2 ndash Ferguson 1ndash3 Archiv der Verf ndash Frese 1 2 3 5 M BrandtA Eggebrecht (Hgg) Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen Katalog der Ausstellung Hil-desheim 1993 Bd 1 S 386f Abb 197 u 198 Bd 2 S 583 KatNr VIIIndash32 S 604 KatNr IXndash8 4 G LutzA Weyer (Hgg) 1000 Jahre St Michael in Hildesheim Kirche ndash Kloster ndash Stifter Peterberg 2012 S 148 Abb 118 ndash Gruumlndler 1ndash4 L DomenicoA Nova (Hg) Leonardo da Vincirsquos Anatomical World Language Context and Disegno Akten der Internationalen Tagung Florenz 30ndash31 Mai 2008 Venedig 2011 S 237 S 236 S 241 S 186 5 6 Le journal de Jacopo da Pontormo traduit par Jean-Claude Lebensztejn avec la collaboration drsquoAlessandro Parronchi Paris 1992 S 46 S 50 ndash Herding 1 2 3 4 5 6 7 Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders 8 Max J Friedlaumlnder Early Netherlandish Painting 14 vols Leiden und Bruumlssel 1967ndash1974 vol II 1967 pl 10 Nr 3i 9 Wolfenbuumlttel Herzog-August-Bibliothek ndash Jung 1 2 3 4 5 Autorin ndash Kessler 1 6 7 Autor 2 3 Museo delle Terme Rom 4 British Museum London 5 Alexei Lidov ndash Maxwell 1 2 AHN 3 Autor 4 Sancho el Mayor y sus herederos ed I Bango Torviso et al 2006 cat 25 5 BNE ndash Muumlller 1 Italian painting c 1330ndash1550 I National Gallery in Prague II Collections in the Czech Repub-lic Illustrated summary catalogue Prag 2008 2 Collection of The John and Mable Ringling Museum of Art the State Art Museum of Florida Florida State University 3 2014 copy Archivio Fotografico ndash Fondazione Musei Civici di Venezia ndash Niehr 1 A Schuttwolf (Hg) Ausst-Kat Jahreszeiten der Gefuumlhle Das Gothaer Liebespaar und die Minne im Spaumltmittelalter Ostfil-

400 Abbildungsnachweis

dern-Ruit 1998 2 D de Vos Hans Memling Das Gesamtwerk AntwerpenStuttgart 1994 S 278ndash283 TH Borchert Hans Memling Portraits Stuttgart 2005 S 173f Nr 23 3 Univer-sitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Mediathek ndash Pfisterer 1 E Steinmann ldquoLa mano di Michelangeloldquo in Studien aus Kunst und Geschichte Friedrich Schneider zum siebzigsten Geburtstag Freiburg iBr 1906 unnum Taf 2 R Bernini ua La mano e il volto di Antonio Canova PossagnoQuinto di Treviso 2008 S 197 3 U Klein Zur Forschungsgeschichte des Duumlrer-Hauses in GU GroszligmannF Sonnenberger (Hgg) Das Duumlrer-Haus Neue Ergebnisse der Forschung Nuumlrnberg 2007 S 105 nach Carl A Heideloff Die Ornamentik des Mittelalters Bd 3 Nuumlrnberg 1847 S 42 4 WH Vroon Het wonderlid van Jan de Witt en andere vaderland-se relieken Nijmegen 1997 S 68 5 Autor nach GF Tomasini Petrarca Redivivus Padua sup21650 S 128 6 A Picturesque Tour Through Holland Brabant and Part of France made in the autum of 1789 by Samuel Ireland London sup21796 Bd 2 Taf nach S 13 ndash Pinkus 1 2 3 4 5 6 Autor 7 8 Institut fuumlr Kunstgeschichte Universitaumlt Wien Fotothek ndash RauScheel 1 M Gregori Uf-fizien und Palazzo Pitti Muumlnchen 1994 S 31 2 Den Haag Koninklijke Bibliotheek ndash Raeck 1 2 5 7 Fotothek des Instituts fuumlr Archaumlologische Wissenschaften AbtI Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main 3 Zeichnerische Rekonstruktion M Junghans nach H-V Herrmann Olympia ndash Heiligtum und Wettkampfstaumltte Muumlnchen 1972 Abb 95 4 Antikensammlung Staatliche Museen zu Berlin Foto Johannes Laurentius 6 W Riezler Weissgrundige attische Lekythen Muumlnchen 1914 Taf 23 8 Deutsches Archaumlologisches Institut Athen Fotothek ndash Reudenbach 1 F MuumltherichJE Gaehde Karolingische Buchmalerei Muumlnchen 1979 Taf 4 2ndash4 httpwwwbibliotheca-laureshamensis-digitalde (Zugriff 20022014) ndash Schmengler 1 2 3 Torsten Saumlnger Frankfurt 4 5 6 Eric Tschernow Berlin ndash Schedl 1ndash3 Dr Bernd Konrad Radolfzell 4 FrankfurtMain-Niederrad Pfarrarchiv der katholischen Kirchengemeinde Mut-ter zum Guten Rat ndash Schlie 1 Archiv der Verf 2 Archiv der Verf + D E Katz The Contours of Tolerance Jews and the Corpus Domini Altarpiece in Urbino in Art Bulletin 85 (2003) S 647ndash661 S 647 3 F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 Schmidt 1 2 London British Museum 3 M Geisberg Der Meister ES Leipzig 21924 4 Archiv Autor ndash Taxer 1 2 O Paumlcht Altniederlaumlndische Malerei Von Rogier van der Weyden bis Gerard David Muumlnchen 1994 Abb 91 S 118 Abb 93 S 120 3 4 E Panofsky Die altniederlaumlndische Malerei Ihr Ursprung und Wesen Bd 2 Koumlln 2006 Abb 387 S 236 Abb 358 S 214 ndash Stoichita 1 D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 2 3 J Bialostocki Les Museacutees de Pologne Bruxelles 1966 ndash Zaumlh 1 2 Archiv des Verf 3 Metropolitan Museum of Art Bulletin 58 (2001) S 17 4 G ForsythK Weitzmann The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai The Church and Fortress of Justinian Plates Ann Arbor (Mi) 1973 Plate 121

290 Anselm Rau und Johanna Scheel

stande sind zu tun was sie schulden bringen freiwillig Hindernisse (impedimentum) mit sich indem sie etwas wollen was sie nicht muumlssen

Daher betrachtet die meditatio der Sitten zwei Dinge des Boumlsen vor denen man bei der Ver-richtung von Gutem besonders auf der Hut sein muss die Betruumlbnis [Niedergeschlagenheit] (afflictio) und die Besessenheit [Vereinnahmung] (occupatio) Die afflictio fuumlhrt zur Bitterkeit (amaritudo) die occupatio zur Zerstreuung (dissipatio) Mit der afflictio verbittert die Suumlszlige (dulcedo) des Geistes und mit der occupatio wird die Ruhe (tranquillitas) zerstoumlrt (dissipare) Es herrscht Betruumlbnis wenn man fuumlr jene Dinge die man nicht vermag aufgrund der eigenen Ungeduld (impatientia) ungluumlcklich wird (urere) Dagegen handelt es sich um Besessenheit (occupatio) wenn man in seinem Handeln (nach seinem Vermoumlgen) aufgrund der impatientia gequaumllt wird (agitare) Folglich darf die Seele (animus) nicht aufgrund des Boumlsen verbittert wer-den sie muss ihr Unvermoumlgen (impossibilitas) geduldig (patienter) aushalten Genauso darf sie aber auch nicht vom Boumlsen eingenommen werden und darf ihr Vermoumlgen (possibilitas) nicht uumlber ihr eigenes Maszlig hinaus ausdehnen (extendere) Daher muss die meditatio der Sitten in einer weiteren Betrachtung der Lebensfuumlhrung zu einem Urteil kommen und dabei billigen dass es weder gut ist die Dinge die man nicht vermag ungeduldig (impatienter) zu verlangen (appetere) noch die welche man erreicht toumlricht (insipienter) zu verschmaumlhen (fastidire) Wer naumlmlich immer das begehrt was er nicht vermag und das was er [jedoch] vermag verabscheut wird sich weder am Gegenwaumlrtigen erfreuen (frui) noch am Zukuumlnftigen saumlttigen (satiare) Er verlaumlsst naumlmlich das Gute unentwickelt vor der Vollendung und eignet sich das gerade erst Be-gonnene vorzeitig an Deswegen ist es gut aufgrund des eigenen Guten zufrieden zu sein und das gegenwaumlrtige Gute durch hinzukommendes Gutes zu vermehren und es nicht aufgrund des Zukuumlnftigen wegzuwerfen (abicere) Der Austausch (commutatio) des Guten ist naumlmlich ein Leichtes (levitas) seine Uumlbung (exercitatio) aber die Tugend Oft eilen sie auf unterschiedlichen Wegen die einen die ein fruumlheres durch ein neues Gutes fallen lassen (abicere) und die ande-ren die [sich] vom Untersten zum Houmlchsten emporschwingen (conscendere) Wer naumlmlich nach Veraumlnderung (mutatio) fragt ist uumlberdruumlssig (fastidiosus) so wie der der nach dem Voran-schreiten (profectus) strebt eifrig bemuumlht ist (studiosus) Am aufrechtesten beschreitet daher derjenige den Weg der dabei so auf das Bessere brennt (fervere) dass er des Guten nicht uumlber-druumlssig wird sondern es vorerst empor haumllt solange bis er es spaumlter zu der ihm angemessenen Zeit sich aneignet (apprehendere)

Abbildungsnachweis

Einband Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders

Farbtafeln 1 (zu Beitrag Rosenwein) Coll BNU de Strasbourg ndash 2 (zu Beitrag Ferguson) Ar-chiv der Verf ndash 3 (zu Beitrag Herding) Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preu-szligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders ndash 4 (zu Beitrag Droste) R Kahsnitz Die Groszligen Schnitzaltaumlre Spaumltgotik in Suumlddeutschland Oumlsterreich Suumldtirol Muumlnchen 2005 Taf 53 ndash 5 6 (zu Beitrag Schedl) 75 Jahre 1933ndash2008 Kirche Mutter vom Guten Rat Festschrift und Chro-nik FrankfurtM 2008 S 92 Dr Bernd Konrad Radolfzell ndash 7 8 9 (zu Beitrag Zaumlh) Archiv des Autors ndash 10 (zu Beitrag Niehr) Universitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Media-thek 11 12 (zu Beitrag Muumlller) Autorin ndash 13 14 15 (zu Beitrag Schlie) Su concessione del Ministero dei beni e delle attivitagrave culturali e del turismo ndash Galleria Nazionale delle Marche ndash Urbino Archivio fotografico Archiv der Verf F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 ndash 16 17 (zu Beitrag Stoichita) D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 ndash 18 19 20 (zu Beitrag Schmidt) London British Museum C Geissmar-BrandiE Louis (Hgg) Glaube Hoffnung Liebe Tod Wien 1995 S 149 Archiv Autor ndash 21 (zu Beitrag Jung) Autorin

Textabbildungen Droste 1 3 4 Autorin 2 E Oellermann Der Hochaltar in St Martin zu Lorch am Rhein in H KrohmE Oellermann (Hrsg) Fluumlgelaltaumlre des spaumlten Mittelalters Ber-lin 1992 Abb 2 ndash Ferguson 1ndash3 Archiv der Verf ndash Frese 1 2 3 5 M BrandtA Eggebrecht (Hgg) Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen Katalog der Ausstellung Hil-desheim 1993 Bd 1 S 386f Abb 197 u 198 Bd 2 S 583 KatNr VIIIndash32 S 604 KatNr IXndash8 4 G LutzA Weyer (Hgg) 1000 Jahre St Michael in Hildesheim Kirche ndash Kloster ndash Stifter Peterberg 2012 S 148 Abb 118 ndash Gruumlndler 1ndash4 L DomenicoA Nova (Hg) Leonardo da Vincirsquos Anatomical World Language Context and Disegno Akten der Internationalen Tagung Florenz 30ndash31 Mai 2008 Venedig 2011 S 237 S 236 S 241 S 186 5 6 Le journal de Jacopo da Pontormo traduit par Jean-Claude Lebensztejn avec la collaboration drsquoAlessandro Parronchi Paris 1992 S 46 S 50 ndash Herding 1 2 3 4 5 6 7 Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders 8 Max J Friedlaumlnder Early Netherlandish Painting 14 vols Leiden und Bruumlssel 1967ndash1974 vol II 1967 pl 10 Nr 3i 9 Wolfenbuumlttel Herzog-August-Bibliothek ndash Jung 1 2 3 4 5 Autorin ndash Kessler 1 6 7 Autor 2 3 Museo delle Terme Rom 4 British Museum London 5 Alexei Lidov ndash Maxwell 1 2 AHN 3 Autor 4 Sancho el Mayor y sus herederos ed I Bango Torviso et al 2006 cat 25 5 BNE ndash Muumlller 1 Italian painting c 1330ndash1550 I National Gallery in Prague II Collections in the Czech Repub-lic Illustrated summary catalogue Prag 2008 2 Collection of The John and Mable Ringling Museum of Art the State Art Museum of Florida Florida State University 3 2014 copy Archivio Fotografico ndash Fondazione Musei Civici di Venezia ndash Niehr 1 A Schuttwolf (Hg) Ausst-Kat Jahreszeiten der Gefuumlhle Das Gothaer Liebespaar und die Minne im Spaumltmittelalter Ostfil-

400 Abbildungsnachweis

dern-Ruit 1998 2 D de Vos Hans Memling Das Gesamtwerk AntwerpenStuttgart 1994 S 278ndash283 TH Borchert Hans Memling Portraits Stuttgart 2005 S 173f Nr 23 3 Univer-sitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Mediathek ndash Pfisterer 1 E Steinmann ldquoLa mano di Michelangeloldquo in Studien aus Kunst und Geschichte Friedrich Schneider zum siebzigsten Geburtstag Freiburg iBr 1906 unnum Taf 2 R Bernini ua La mano e il volto di Antonio Canova PossagnoQuinto di Treviso 2008 S 197 3 U Klein Zur Forschungsgeschichte des Duumlrer-Hauses in GU GroszligmannF Sonnenberger (Hgg) Das Duumlrer-Haus Neue Ergebnisse der Forschung Nuumlrnberg 2007 S 105 nach Carl A Heideloff Die Ornamentik des Mittelalters Bd 3 Nuumlrnberg 1847 S 42 4 WH Vroon Het wonderlid van Jan de Witt en andere vaderland-se relieken Nijmegen 1997 S 68 5 Autor nach GF Tomasini Petrarca Redivivus Padua sup21650 S 128 6 A Picturesque Tour Through Holland Brabant and Part of France made in the autum of 1789 by Samuel Ireland London sup21796 Bd 2 Taf nach S 13 ndash Pinkus 1 2 3 4 5 6 Autor 7 8 Institut fuumlr Kunstgeschichte Universitaumlt Wien Fotothek ndash RauScheel 1 M Gregori Uf-fizien und Palazzo Pitti Muumlnchen 1994 S 31 2 Den Haag Koninklijke Bibliotheek ndash Raeck 1 2 5 7 Fotothek des Instituts fuumlr Archaumlologische Wissenschaften AbtI Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main 3 Zeichnerische Rekonstruktion M Junghans nach H-V Herrmann Olympia ndash Heiligtum und Wettkampfstaumltte Muumlnchen 1972 Abb 95 4 Antikensammlung Staatliche Museen zu Berlin Foto Johannes Laurentius 6 W Riezler Weissgrundige attische Lekythen Muumlnchen 1914 Taf 23 8 Deutsches Archaumlologisches Institut Athen Fotothek ndash Reudenbach 1 F MuumltherichJE Gaehde Karolingische Buchmalerei Muumlnchen 1979 Taf 4 2ndash4 httpwwwbibliotheca-laureshamensis-digitalde (Zugriff 20022014) ndash Schmengler 1 2 3 Torsten Saumlnger Frankfurt 4 5 6 Eric Tschernow Berlin ndash Schedl 1ndash3 Dr Bernd Konrad Radolfzell 4 FrankfurtMain-Niederrad Pfarrarchiv der katholischen Kirchengemeinde Mut-ter zum Guten Rat ndash Schlie 1 Archiv der Verf 2 Archiv der Verf + D E Katz The Contours of Tolerance Jews and the Corpus Domini Altarpiece in Urbino in Art Bulletin 85 (2003) S 647ndash661 S 647 3 F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 Schmidt 1 2 London British Museum 3 M Geisberg Der Meister ES Leipzig 21924 4 Archiv Autor ndash Taxer 1 2 O Paumlcht Altniederlaumlndische Malerei Von Rogier van der Weyden bis Gerard David Muumlnchen 1994 Abb 91 S 118 Abb 93 S 120 3 4 E Panofsky Die altniederlaumlndische Malerei Ihr Ursprung und Wesen Bd 2 Koumlln 2006 Abb 387 S 236 Abb 358 S 214 ndash Stoichita 1 D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 2 3 J Bialostocki Les Museacutees de Pologne Bruxelles 1966 ndash Zaumlh 1 2 Archiv des Verf 3 Metropolitan Museum of Art Bulletin 58 (2001) S 17 4 G ForsythK Weitzmann The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai The Church and Fortress of Justinian Plates Ann Arbor (Mi) 1973 Plate 121

Abbildungsnachweis

Einband Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders

Farbtafeln 1 (zu Beitrag Rosenwein) Coll BNU de Strasbourg ndash 2 (zu Beitrag Ferguson) Ar-chiv der Verf ndash 3 (zu Beitrag Herding) Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preu-szligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders ndash 4 (zu Beitrag Droste) R Kahsnitz Die Groszligen Schnitzaltaumlre Spaumltgotik in Suumlddeutschland Oumlsterreich Suumldtirol Muumlnchen 2005 Taf 53 ndash 5 6 (zu Beitrag Schedl) 75 Jahre 1933ndash2008 Kirche Mutter vom Guten Rat Festschrift und Chro-nik FrankfurtM 2008 S 92 Dr Bernd Konrad Radolfzell ndash 7 8 9 (zu Beitrag Zaumlh) Archiv des Autors ndash 10 (zu Beitrag Niehr) Universitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Media-thek 11 12 (zu Beitrag Muumlller) Autorin ndash 13 14 15 (zu Beitrag Schlie) Su concessione del Ministero dei beni e delle attivitagrave culturali e del turismo ndash Galleria Nazionale delle Marche ndash Urbino Archivio fotografico Archiv der Verf F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 ndash 16 17 (zu Beitrag Stoichita) D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 ndash 18 19 20 (zu Beitrag Schmidt) London British Museum C Geissmar-BrandiE Louis (Hgg) Glaube Hoffnung Liebe Tod Wien 1995 S 149 Archiv Autor ndash 21 (zu Beitrag Jung) Autorin

Textabbildungen Droste 1 3 4 Autorin 2 E Oellermann Der Hochaltar in St Martin zu Lorch am Rhein in H KrohmE Oellermann (Hrsg) Fluumlgelaltaumlre des spaumlten Mittelalters Ber-lin 1992 Abb 2 ndash Ferguson 1ndash3 Archiv der Verf ndash Frese 1 2 3 5 M BrandtA Eggebrecht (Hgg) Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen Katalog der Ausstellung Hil-desheim 1993 Bd 1 S 386f Abb 197 u 198 Bd 2 S 583 KatNr VIIIndash32 S 604 KatNr IXndash8 4 G LutzA Weyer (Hgg) 1000 Jahre St Michael in Hildesheim Kirche ndash Kloster ndash Stifter Peterberg 2012 S 148 Abb 118 ndash Gruumlndler 1ndash4 L DomenicoA Nova (Hg) Leonardo da Vincirsquos Anatomical World Language Context and Disegno Akten der Internationalen Tagung Florenz 30ndash31 Mai 2008 Venedig 2011 S 237 S 236 S 241 S 186 5 6 Le journal de Jacopo da Pontormo traduit par Jean-Claude Lebensztejn avec la collaboration drsquoAlessandro Parronchi Paris 1992 S 46 S 50 ndash Herding 1 2 3 4 5 6 7 Gemaumlldegalerie Staatliche Museen zu Berlin ndash Preuszligischer Kulturbesitz Foto Joumlrg P Anders 8 Max J Friedlaumlnder Early Netherlandish Painting 14 vols Leiden und Bruumlssel 1967ndash1974 vol II 1967 pl 10 Nr 3i 9 Wolfenbuumlttel Herzog-August-Bibliothek ndash Jung 1 2 3 4 5 Autorin ndash Kessler 1 6 7 Autor 2 3 Museo delle Terme Rom 4 British Museum London 5 Alexei Lidov ndash Maxwell 1 2 AHN 3 Autor 4 Sancho el Mayor y sus herederos ed I Bango Torviso et al 2006 cat 25 5 BNE ndash Muumlller 1 Italian painting c 1330ndash1550 I National Gallery in Prague II Collections in the Czech Repub-lic Illustrated summary catalogue Prag 2008 2 Collection of The John and Mable Ringling Museum of Art the State Art Museum of Florida Florida State University 3 2014 copy Archivio Fotografico ndash Fondazione Musei Civici di Venezia ndash Niehr 1 A Schuttwolf (Hg) Ausst-Kat Jahreszeiten der Gefuumlhle Das Gothaer Liebespaar und die Minne im Spaumltmittelalter Ostfil-

400 Abbildungsnachweis

dern-Ruit 1998 2 D de Vos Hans Memling Das Gesamtwerk AntwerpenStuttgart 1994 S 278ndash283 TH Borchert Hans Memling Portraits Stuttgart 2005 S 173f Nr 23 3 Univer-sitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Mediathek ndash Pfisterer 1 E Steinmann ldquoLa mano di Michelangeloldquo in Studien aus Kunst und Geschichte Friedrich Schneider zum siebzigsten Geburtstag Freiburg iBr 1906 unnum Taf 2 R Bernini ua La mano e il volto di Antonio Canova PossagnoQuinto di Treviso 2008 S 197 3 U Klein Zur Forschungsgeschichte des Duumlrer-Hauses in GU GroszligmannF Sonnenberger (Hgg) Das Duumlrer-Haus Neue Ergebnisse der Forschung Nuumlrnberg 2007 S 105 nach Carl A Heideloff Die Ornamentik des Mittelalters Bd 3 Nuumlrnberg 1847 S 42 4 WH Vroon Het wonderlid van Jan de Witt en andere vaderland-se relieken Nijmegen 1997 S 68 5 Autor nach GF Tomasini Petrarca Redivivus Padua sup21650 S 128 6 A Picturesque Tour Through Holland Brabant and Part of France made in the autum of 1789 by Samuel Ireland London sup21796 Bd 2 Taf nach S 13 ndash Pinkus 1 2 3 4 5 6 Autor 7 8 Institut fuumlr Kunstgeschichte Universitaumlt Wien Fotothek ndash RauScheel 1 M Gregori Uf-fizien und Palazzo Pitti Muumlnchen 1994 S 31 2 Den Haag Koninklijke Bibliotheek ndash Raeck 1 2 5 7 Fotothek des Instituts fuumlr Archaumlologische Wissenschaften AbtI Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main 3 Zeichnerische Rekonstruktion M Junghans nach H-V Herrmann Olympia ndash Heiligtum und Wettkampfstaumltte Muumlnchen 1972 Abb 95 4 Antikensammlung Staatliche Museen zu Berlin Foto Johannes Laurentius 6 W Riezler Weissgrundige attische Lekythen Muumlnchen 1914 Taf 23 8 Deutsches Archaumlologisches Institut Athen Fotothek ndash Reudenbach 1 F MuumltherichJE Gaehde Karolingische Buchmalerei Muumlnchen 1979 Taf 4 2ndash4 httpwwwbibliotheca-laureshamensis-digitalde (Zugriff 20022014) ndash Schmengler 1 2 3 Torsten Saumlnger Frankfurt 4 5 6 Eric Tschernow Berlin ndash Schedl 1ndash3 Dr Bernd Konrad Radolfzell 4 FrankfurtMain-Niederrad Pfarrarchiv der katholischen Kirchengemeinde Mut-ter zum Guten Rat ndash Schlie 1 Archiv der Verf 2 Archiv der Verf + D E Katz The Contours of Tolerance Jews and the Corpus Domini Altarpiece in Urbino in Art Bulletin 85 (2003) S 647ndash661 S 647 3 F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 Schmidt 1 2 London British Museum 3 M Geisberg Der Meister ES Leipzig 21924 4 Archiv Autor ndash Taxer 1 2 O Paumlcht Altniederlaumlndische Malerei Von Rogier van der Weyden bis Gerard David Muumlnchen 1994 Abb 91 S 118 Abb 93 S 120 3 4 E Panofsky Die altniederlaumlndische Malerei Ihr Ursprung und Wesen Bd 2 Koumlln 2006 Abb 387 S 236 Abb 358 S 214 ndash Stoichita 1 D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 2 3 J Bialostocki Les Museacutees de Pologne Bruxelles 1966 ndash Zaumlh 1 2 Archiv des Verf 3 Metropolitan Museum of Art Bulletin 58 (2001) S 17 4 G ForsythK Weitzmann The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai The Church and Fortress of Justinian Plates Ann Arbor (Mi) 1973 Plate 121

400 Abbildungsnachweis

dern-Ruit 1998 2 D de Vos Hans Memling Das Gesamtwerk AntwerpenStuttgart 1994 S 278ndash283 TH Borchert Hans Memling Portraits Stuttgart 2005 S 173f Nr 23 3 Univer-sitaumlt Osnabruumlck Kunsthistorisches Institut Mediathek ndash Pfisterer 1 E Steinmann ldquoLa mano di Michelangeloldquo in Studien aus Kunst und Geschichte Friedrich Schneider zum siebzigsten Geburtstag Freiburg iBr 1906 unnum Taf 2 R Bernini ua La mano e il volto di Antonio Canova PossagnoQuinto di Treviso 2008 S 197 3 U Klein Zur Forschungsgeschichte des Duumlrer-Hauses in GU GroszligmannF Sonnenberger (Hgg) Das Duumlrer-Haus Neue Ergebnisse der Forschung Nuumlrnberg 2007 S 105 nach Carl A Heideloff Die Ornamentik des Mittelalters Bd 3 Nuumlrnberg 1847 S 42 4 WH Vroon Het wonderlid van Jan de Witt en andere vaderland-se relieken Nijmegen 1997 S 68 5 Autor nach GF Tomasini Petrarca Redivivus Padua sup21650 S 128 6 A Picturesque Tour Through Holland Brabant and Part of France made in the autum of 1789 by Samuel Ireland London sup21796 Bd 2 Taf nach S 13 ndash Pinkus 1 2 3 4 5 6 Autor 7 8 Institut fuumlr Kunstgeschichte Universitaumlt Wien Fotothek ndash RauScheel 1 M Gregori Uf-fizien und Palazzo Pitti Muumlnchen 1994 S 31 2 Den Haag Koninklijke Bibliotheek ndash Raeck 1 2 5 7 Fotothek des Instituts fuumlr Archaumlologische Wissenschaften AbtI Goethe-Universitaumlt Frankfurt am Main 3 Zeichnerische Rekonstruktion M Junghans nach H-V Herrmann Olympia ndash Heiligtum und Wettkampfstaumltte Muumlnchen 1972 Abb 95 4 Antikensammlung Staatliche Museen zu Berlin Foto Johannes Laurentius 6 W Riezler Weissgrundige attische Lekythen Muumlnchen 1914 Taf 23 8 Deutsches Archaumlologisches Institut Athen Fotothek ndash Reudenbach 1 F MuumltherichJE Gaehde Karolingische Buchmalerei Muumlnchen 1979 Taf 4 2ndash4 httpwwwbibliotheca-laureshamensis-digitalde (Zugriff 20022014) ndash Schmengler 1 2 3 Torsten Saumlnger Frankfurt 4 5 6 Eric Tschernow Berlin ndash Schedl 1ndash3 Dr Bernd Konrad Radolfzell 4 FrankfurtMain-Niederrad Pfarrarchiv der katholischen Kirchengemeinde Mut-ter zum Guten Rat ndash Schlie 1 Archiv der Verf 2 Archiv der Verf + D E Katz The Contours of Tolerance Jews and the Corpus Domini Altarpiece in Urbino in Art Bulletin 85 (2003) S 647ndash661 S 647 3 F und S Borsi Paolo Uccello Florenz zwischen Gotik und Renaissance Stuttgart (ua) 1993 S 261 S 260 Schmidt 1 2 London British Museum 3 M Geisberg Der Meister ES Leipzig 21924 4 Archiv Autor ndash Taxer 1 2 O Paumlcht Altniederlaumlndische Malerei Von Rogier van der Weyden bis Gerard David Muumlnchen 1994 Abb 91 S 118 Abb 93 S 120 3 4 E Panofsky Die altniederlaumlndische Malerei Ihr Ursprung und Wesen Bd 2 Koumlln 2006 Abb 387 S 236 Abb 358 S 214 ndash Stoichita 1 D Freedberg The life of Christ after the Passion London 1984 2 3 J Bialostocki Les Museacutees de Pologne Bruxelles 1966 ndash Zaumlh 1 2 Archiv des Verf 3 Metropolitan Museum of Art Bulletin 58 (2001) S 17 4 G ForsythK Weitzmann The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai The Church and Fortress of Justinian Plates Ann Arbor (Mi) 1973 Plate 121


Recommended