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Philosophie der Verkörperung

Date post: 25-Jan-2023
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2 3 Beim Stichwort »Kognition« denken die meisten an das Gehirn, Compu- termodelle oder Informationsverarbeitung. In der realen Welt treen wir aber immer nur auf Wesen mit Körpern, die in eine Umwelt eingebunden und in ihr aktiv sind. Kognition ndet nicht im Kopf statt, sondern in der Welt. So lautet der Grundgedanke der Philosophie der Verkörperung. Die Hinwendung zu Körper und Umwelt stellt eine der vielleicht weitrei- chendsten Neuorientierungen der modernen Kognitionswissenschaft und Philosophie dar, die auch unser Verständnis von Wissenschaft und Kultur prägen wird. Der Band versammelt die Grundlagentexte zu diesem ema zum ersten Mal in deutscher Sprache und bietet somit einen vorzüglichen Überblick über dieses neue Forschungsgebiet. Joerg Fingerhut ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Uni- versität zu Berlin. Rebekka Hufendiek ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Université de Fribourg. Markus Wild ist Professor für Philosophie an der Université de Fribourg. Zuletzt bei Suhrkamp erschienen: Der Geist der Tiere. Philosophische Texte zu einer aktuellen Diskussion (stw 1741, hg. mit Dominik Perler) Philosophie der Verkörperung Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte Herausgegeben von Joerg Fingerhut, Rebekka Hufendiek und Markus Wild Suhrkamp
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Beim Stichwort »Kognition« denken die meisten an das Gehirn, Compu-termodelle oder Informationsverarbeitung. In der realen Welt treffen wir aber immer nur auf Wesen mit Körpern, die in eine Umwelt eingebunden und in ihr aktiv sind. Kognition findet nicht im Kopf statt, sondern in der Welt. So lautet der Grundgedanke der Philosophie der Verkörperung. Die Hinwendung zu Körper und Umwelt stellt eine der vielleicht weitrei-chendsten Neuorientierungen der modernen Kognitionswissenschaft und Philosophie dar, die auch unser Verständnis von Wissenschaft und Kultur prägen wird. Der Band versammelt die Grundlagentexte zu diesem Thema zum ersten Mal in deutscher Sprache und bietet somit einen vorzüglichen Überblick über dieses neue Forschungsgebiet.

Joerg Fingerhut ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Uni-versität zu Berlin.

Rebekka Hufendiek ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Université de Fribourg.

Markus Wild ist Professor für Philosophie an der Université de Fribourg. Zuletzt bei Suhrkamp erschienen: Der Geist der Tiere. Philosophische Texte zu einer aktuellen Diskussion (stw 1741, hg. mit Dominik Perler)

Philosophie der VerkörperungGrundlagentexte zu

einer aktuellen DebatteHerausgegeben von

Joerg Fingerhut, Rebekka Hufendiek und Markus Wild

Suhrkamp

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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2060Erste Auflage 2013

© Suhrkamp Verlag Berlin 2013Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme

verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Umschlag nach Entwürfen

von Willy Fleckhaus und Rolf StaudtDruck: Druckhaus Nomos, Sinzheim

Printed in GermanyISBN 978-3-518-29660-8

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Joerg Fingerhut, Rebekka Hufendiek und Markus WildEinleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

1. Verkörperung und Einbettung

John HaugelandDer verkörperte und eingebettete Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

Rodney BrooksIntelligenz ohne Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144

Shaun Gallagher und Jonathan ColeKörperbild und Körperschema bei einem deafferenten Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174

2. Aktiver Externalismus

Andy Clark und David ChalmersDer ausgedehnte Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

Fred Adams und Ken AizawaDie Grenzen der Kognition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224

Kim SterelnyDer Geist – ausgedehnt oder gestützt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260

3. Enaktivismus

Francisco Varela, Evan Thompson und Eleanor RoschEnaktivismus – verkörperte Kognition . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

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Vorwort

»Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe, als in deiner besten Weisheit.«

(Friedrich Nietzsche)

Dieser Band versammelt zwölf Texte zur Philosophie der Verkörpe-rung. Die Philosophie der Verkörperung ist kein Spezialthema, das ausschließlich oder auch nur in erster Linie Philosophinnen und Philosophen angeht. Im Gegenteil. Die Frage nach der Rolle, die unser Körper für das Denken, die Wahrnehmung, das Bewusstsein und unser gesamtes In-der-Welt-Sein spielt, betrifft viele Diszip-linen, darunter die Kognitionswissenschaft, die Kunst- und Kul-turwissenschaft, die Neurowissenschaft, die Psychologie oder die Soziologie. Die in diesem Band versammelten Texte vertreten auf ganz unterschiedliche Weise die Ansicht, dass der Körper eine weit größere Rolle spielt, als wir bislang angenommen haben. Während der Geist heutzutage also nicht mehr ohne Körper auskommt, ist die Philosophie des Geistes ohne Interdisziplinarität undenkbar geworden.

Die Texte in diesem Band haben in den letzten 25 Jahren für rege Debatten gesorgt. Die meisten von ihnen erscheinen in die-sem Band zum ersten Mal in deutscher Sprache. Wir haben die Übersetzungen in Seminaren an den Universitäten Fribourg und Stuttgart erprobt und in anregenden Sitzungen diskutiert. Allen Teilnehmenden gilt unser Dank. Der Band ist mit einer ausführli-chen Einleitung versehen, die die historischen und systematischen Hintergründe dieser Texte und Debatten darstellt.

Dieses Buch wäre ohne die intellektuelle und materielle Unter-stützung durch die »Kolleg-Forschergruppe Bildakt und Verkör-perung« an der Humboldt-Universität zu Berlin kaum möglich gewesen. Sie hat sich die interdisziplinäre Erforschung der Ver-körperung und des verkörperten Denkens zum Ziel gesetzt. Diese Forschergruppe wurde von Horst Bredekamp und John Micha-el Krois im Jahr 2008 gegründet. Rebekka Hufendiek und Joerg Fingerhut sind als deren Mitglieder durch die regen Debatten der Gruppe und besonders durch die Arbeiten von John Michael Krois zur Philosophie der Verkörperung geprägt worden. Er hatte sich

J. Kevin O’Regan und Alva NoëEin sensomotorischer Ansatz des Sehens und des visuellen Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328

Susan HurleyWahrnehmen und Handeln. Alternative Sichtweisen . . . . . . 379

4. Allgemeine Kritik und Diskussion

William LycanEnaktive Intentionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415

Andy ClarkDas Fleisch in die Mangel nehmen. Eine Spannung in den Theorien des verkörperten und eingebetteten Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434

Jesse PrinzIst das Bewusstsein verkörpert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465

Textnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501Hinweise zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . 503

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als einer der Ersten darum bemüht, die Debatte um die Verkör-perung im deutschsprachigen Raum zu etablieren und ihre histo-rischen Ursprünge aufzuzeigen. Nach seinem überraschenden Tod im Oktober 2010 hoffen wir, mit diesem Band seine Bemühungen fortsetzen zu können.

Für die unermüdliche und engagierte sprachliche Kritik der Übersetzungen danken wir Sophia Pick (Berlin). Für endloses Korrekturlesen und punktgenaue Vorschläge danken wir Patrizia Unger und Patrizia Pecl (Berlin) sowie Michael O’Leary und Jonas Wüthrich (Fribourg).

Berlin und Fribourg, im Juni 2013 Joerg Fingerhut, Rebekka Hufendiek und Markus Wild

Joerg Fingerhut, Rebekka Hufendiek und Markus Wild

Einleitung

In der Philosophie, in den Kognitions- und in den Geisteswissen-schaften sind seit einigen Jahren Stichworte wie ›Verkörperung‹ [embodiment], ›Einbettung‹ [embedded cognition], ›Enaktivismus‹ [enactivism] oder ›ausgedehnter Geist‹ [extended mind] im Umlauf. Hinter diesen Stichworten verbergen sich aufregende und weit-reichende Thesen über das Wesen des Geistes und der Kognition, von denen behauptet wird, dass sie unser Verständnis psychischer Prozesse und mentaler Zustände grundlegend verändern können. Wir fassen diese unterschiedlichen Thesen und Stoßrichtungen un-ter dem Titel ›Philosophie der Verkörperung‹ zusammen, weil wir glauben, dass der Körper im Zentrum dieser Bestrebungen steht. Den gemeinsamen Standpunkt bildet die Annahme, dass sowohl die kognitiven als auch die geistigen Zustände und Prozesse von Lebewesen – insbesondere auch von uns Menschen –intrinsisch verkörpert und als solche wesentlich in eine Umwelt eingebettet sind. Es ist die Beschaffenheit unseres Körpers, die uns intelligent macht. Der Körper ist nicht nur ein Instrument zur Ausführung von vorgefassten Absichten oder zur Erfüllung von gehegten Wün-schen. Es ist die eingespielte und lang erprobte Einbettung des Körpers in eine strukturierte und an uns angepasste Umwelt, die uns als intelligente Wesen ausmacht. Diese Intelligenz versteckt sich nicht im Innenraum des Bewusstseins und des Denkens, son-dern sie ist die gelebte Intelligenz unserer geschickten Bewegungen und eingeübten Tätigkeiten und sie liegt in unserer Welt bereit. Der Geist selbst muss als etwas in den Körper und in die Umwelt Ausgedehntes verstanden werden.

In dieser Einleitung wollen wir die Grundzüge der Philosophie der Verkörperung in konzentrierter Form darstellen. Dabei wird es auch wichtig sein zu verstehen, in welchem Kontext sich die Philo-sophie der Verkörperung bewegt. Diese Kontextualisierung ist auf zweierlei Weise bedeutsam. Erstens bemüht sich die Philosophie der Verkörperung, einen gewissen Denkrahmen zu verlassen. Die-ser Rahmen sieht den Geist als eine Eigenschaft von Subjekten, die

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ihren Körpern und ihrer Umwelt als Objekten gegenüberstehen. Dem Geist kommt dann die Aufgabe zu, diese Objekte für sich zu repräsentieren und dem Körper aufgrund dieser Repräsentatio-nen Handlungsanweisungen zu erteilen. Dieser häufig als ›cartesi-anisch‹ bezeichnete Denkrahmen bildet in erster Linie das Grund-gerüst der sogenannten ›klassischen Kognitionswissenschaft‹, die sich am Modell einer Informationen sammelnden, speichernden und manipulierenden Maschine orientiert. Zweitens schöpft die Philosophie der Verkörperung aus bestimmten Quellen, um den ›cartesianischen‹ Denkrahmen zu kritisieren. Sie greift dabei vor allem auf zwei der bedeutendsten philosophischen Denkrichtun-gen des 20. Jahrhunderts zurück, nämlich die Phänomenologie und den Pragmatismus.

Die Philosophie der Verkörperung ist ein lebendiges und im Entstehen begriffenes Projekt, das erst teilweise zu einem eigenen Forschungsprogramm gereift ist. Seine Verdienste und Chancen, seine Mängel und Übertreibungen sind nach wie vor Gegenstand von Grundsatzdebatten.1 Insbesondere die zentralen Begriffe, um die es in der Philosophie der Verkörperung geht, geraten biswei-len in die Gefahr, unscharf zu werden. Damit sind Begriffe wie ›Geist‹, ›Kognition‹, ›Intelligenz‹, ›mental‹ oder ›psychisch‹ ge-meint. Daraus muss man der Philosophie der Verkörperung je-doch keinen Strick drehen, wie es leider oft geschieht. Auch in anderen Bereichen – etwa in der Philosophie des Geistes oder in der Verhaltensbiologie – werden diese Begriffe bisweilen auf sehr unterschiedliche Weisen verstanden. Grob gesagt verwenden wir die Begriffe ›Kognition‹ und ›Intelligenz‹ (sowie verwandte Ausdrü-cke wie ›kognitiv‹ und ›intelligent‹) sehr viel weiter als ›Geist‹ oder ›Mentales‹ (und die entsprechenden verwandten Ausdrücke). Den Ausdruck ›Intelligenz‹ verwenden wir in der Einleitung in erster Linie für flexible und zielgerichtete Aktivitäten von Lebewesen, insbesondere von Menschen. Der Begriff der ›Kognition‹ umfasst alle intelligenten Vermögen oder Fähigkeiten von Lebewesen, die von Sinneswahrnehmungen über die bildliche Vorstellung bis zur Entscheidungsfindung reichen. Zur Kognition gehören also grund-legende psychische Fähigkeiten wie Wahrnehmung, Lernen, Erin-nerung, Entscheidungsfindung oder Kommunikation. Wollen wir

1 Vgl. dazu Lawrence Shapiro, Embodied Cognition, London 2011.

hingegen die sogenannten ›höheren‹ kognitiven und intelligenten Leistungen hervorheben, so sprechen wir vorzugsweise von ›geis-tigen‹ oder ›mentalen‹ Zuständen und Prozessen. Dazu gehören Denkprozesse wie das Schließen, die Bildung von Analogien, das Lösen von Rechenaufgaben, das Sprechen oder die Ausbildung von Überzeugungen, Wünschen und Absichten. Wenn wir betonen wollen, dass es sich um bewusste kognitive oder mentale Zustände und Prozesse handelt, werden wir in der Regel von ›Erfahrungen‹ oder ›Erlebnissen‹ sprechen. Bewusste visuelle Wahrnehmungen, taktile Empfindungen oder Schmerzen wären Beispiele für solche Erfahrungen oder Erlebnisse.

Begriffliche Präliminarien sind in der Philosophie stets wichtig. Man kann nämlich den Anspruch der Philosophie der Verkörpe-rung wie folgt fassen: Es scheint plausibel, dass ›einfache‹ kognitive Fähigkeiten wie Wahrnehmung oder flexibles Verhalten intrinsisch verkörpert und als solche wesentlich in eine Umwelt eingebettet sind. Doch die Philosophie der Verkörperung möchte mehr. Sie möchte behaupten, dass erstens auch ›komplexe‹ kognitive Fähig-keiten, geistige und mentale Fähigkeiten, intrinsisch verkörpert und wesentlich in eine Umwelt eingebettet sind und dass dies zwei-tens auch für bewusste Erfahrungen und Erlebnisse gilt. Deshalb verbergen sich hinter den eingangs genannten Stichworten eben sowohl aufregende als auch weitreichende Thesen über die Natur des Geistes.

1. Erste Schritte

Die ersten Schritte macht ein Kind bereits kurz nach der Geburt, als unwillkürliche, aber doch koordinierte, durch die Nerven im Rückenmark erzeugte Bewegungsmuster in die Luft. Bis Kinder dann mit ungefähr einem Jahr tatsächlich laufen lernen, muss noch einiges geschehen. Eine mögliche Erklärung dafür, was genau bis dahin passieren muss, wäre, dass die kognitiven Fähigkeiten des Kindes sich zunächst so weit ausbilden müssen, dass sie die Motorik kontrollieren können, damit zielgerichtetere Bewegungen möglich werden. Diese Erklärung konzentriert sich allerdings vorschnell auf einen einzigen Faktor, obwohl beim Laufenlernen sicherlich meh-rere Faktoren eine Rolle spielen. So muss das Kind sich auf den

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eigenen Beinen halten und aus dieser Position heraus die Beine beugen und schwingen können. Dass Kinder dies lernen können, hängt wiederum von weiteren Faktoren ab: Die Beine müssen das richtige Gewicht im Verhältnis zur Muskelkraft haben, das Gehirn muss permanent propriozeptives Feedback – also Informationen über die Position der Beine – erhalten, um die Bewegungen steu-ern zu können, und das Kind muss einen starken Drang danach verspüren zu lernen, sich effizienter zu bewegen. Auch die Umwelt muss mitspielen. Die Gesetze der Physik müssen gelten, der Boden muss zum Laufen geeignet sein, es muss Gegenstände zum Festhal-ten geben und Bezugspersonen, die Hilfestellung anbieten und als Vorbild dienen.

Die Philosophie der Verkörperung richtet den Fokus auf alle die-se Bestandteile. Der Boden, das Gewicht und die Muskelkraft der Beine, das propriozeptive Feedback und helfende Hände werden neben neuronalen Netzwerken als mögliche konstitutive Elemente im Erlernen und Ausführen einer Fähigkeit in Betracht gezogen. Das mag bei einer so offensichtlich körperlichen Fähigkeit wie dem Laufen wenig erstaunen. Die weitergehende Pointe der Philosophie der Verkörperung besteht jedoch in der Idee, dass der intelligente Zugriff auf die Welt überhaupt – sei es durch Verhalten, Wahr-nehmung oder begriffliches Denken – in viel höherem Maße auf körperlichen Fähigkeiten und der Beschaffenheit des Körpers und der Umwelt beruht, als zumeist angenommen wird.

Kehren wir nochmals zu unserem Beispiel zurück, zum Laufen-lernen. Was die Nachahmung des aufrechten Ganges betrifft, so gilt der im Jahr 2000 von Honda vorgestellte und seither permanent weiterentwickelte Asimo in der Künstlichen-Intelligenz-Forschung bis heute als einer der (buchstäblich) fortschrittlichsten humanoi-den Roboter. Asimo läuft verhältnismäßig elegant und kann auch rennen, wobei er eine Geschwindigkeit von bis zu neun Kilometern pro Stunde erreicht. Es gelingt ihm sogar, auf einem Bein zu hüp-fen und Stufen zu erklimmen. Bei diesen Tätigkeiten verbraucht Asimo jedoch riesige Mengen an Energie. Wäre es um unseren Energiehaushalt ähnlich bestellt wie um Asimos, wir müssten auf einer Wanderung alle zehn Minuten eine Rast einlegen und eine nahrhaftes Picknick verzehren. So kann Asimo zwar einige kom-plexe Bewegungen in relativ hoher Geschwindigkeit ausführen, er ist dabei jedoch weit entfernt von der Eleganz und Flexibilität

menschlicher Bewegungen und so energieineffizient wie kein irdi-sches Lebewesen. Asimo verfügt über ein komplexes zentrales Kont-rollsystem. Empfängt er einen sensorischen Input über die Beschaf-fenheit des Bodens, berechnet er, wie hoch er seine Füße heben und wie weit er seine Knie beugen muss. Jede dieser Bewegungen wird durch das zentrale Kontrollsystem aktiv gesteuert. Lebewe-sen hingegen steuern ihre Bewegungen anders als Asimo. Ameisen können ihre acht Beine mit Hilfe einer relativ geringen Anzahl an Neuronen koordinieren und sich damit in den verschiedensten Umwelten erfolgreich und über weite Strecken fortbewegen. Dar-über hinaus können sich Menschen beim Laufen unterhalten, den Blick schweifen lassen, über etwas nachdenken oder nebenher eine Wegbeschreibung auf dem Mobiltelefon suchen. Eine mögliche Er-klärung für diesen Unterschied könnte lauten, dass bei Menschen und Tieren die oben genannten Faktoren, die Beschaffenheit des Körpers und der Umwelt, einen entscheidenden Beitrag nicht nur beim Laufenlernen spielen, sondern auch bei der Ausübung dieser bereits erlernten Fähigkeit.

Die Philosophie der Verkörperung setzt hier an und sucht nach Erklärungen, die neben der aktiven Steuerung der Bewegung auch andere Faktoren in den Blick nehmen. So bekommen der Körper und die Umwelt eine andere Relevanz. Ein aufschlussreiches Bei-spiel hierfür ist der Passive Dynamic Walker.2 Bei der einfachsten Version eines solchen handelt es sich um ein Spielzeug, das sich z. B. aus Draht anfertigen lässt, indem zwei getrennte Teile, die je einen mit Gelenken verbundenen Fuß, ein Bein, eine Achse und ei-nen Arm umfassen, so zu einem Körper verbunden werden, dass die nun entstandene Figur von selbst einen Fuß vor den anderen setzt, sobald sie auf einen leicht abfallenden Boden gestellt wird. Der hier zu beobachtende Mechanismus lässt sich als ›passive Dynamik‹ beschreiben. Die Bewegung der Figur entsteht nicht aus eigenem Antrieb und muss auch nicht durch einen Wahrnehmungsapparat kontrolliert werden, sondern sie erhält sich selbst am Laufen, wenn verschiedene Elemente zusammenspielen: eine abfallende Oberflä-che, die Schwerkraft und eine bestimmte Beschaffenheit des Kör-pers (die richtige Gewichtsverteilung, die richtige Anordnung und 2 Zum Vergleich von Asimo und dem Passive Dynamic Walker vgl. auch Andy Clark,

Supersizing the Mind. Embodiment, Action and Cognitive Extension, Oxford 2008, Kap. 1.

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Elastizität der Achsen und Gelenke, um das Schwingen der Beine zu ermöglichen, sowie die abgerundeten Fußflächen zum Abrollen des Fußes).3 Der Gedanke, dass solche passiven Dynamiken einen Teil der Fähigkeiten von Lebewesen konstituieren können, stammt aus der Entwicklungspsychologie und der Robotik und bildet ei-nen wichtigen Ansatzpunkt für die Philosophie der Verkörperung.4

Gehen wir einen Schritt weiter und betrachten die Fragen, die sich ergeben, wenn man das Erlernen komplizierterer Bewegungs-abläufe beim Menschen betrachtet. Menschen bewegen sich nicht nur einfach fort, sie lernen, in Stöckelschuhen zu laufen, auf Seilen zu balancieren, Fußball zu spielen und zu tanzen. Sie bilden dabei die erstaunlichsten Fähigkeiten aus. Der Boxer Muhammad Ali ist für eine ganze Reihe erstaunlicher Fähigkeiten berühmt geworden, darunter die Fähigkeit, durch den Ring zu tänzeln und dem Geg-ner so geschickt auszuweichen, dass er nicht einmal mehr die De-ckung vor dem Kopf nötig hatte. Was tut Ali, während er einem Schmetterling gleich durch den Ring tänzelt? Denkt er an seine Füße und setzt gezielt den einen vor den anderen? Sicher nicht. Das würde nicht nur viel zu lange dauern, sondern auch zu viel Auf-merksamkeit erfordern, die auf ganz andere Dinge gerichtet sein muss, wie etwa auf seinen Gegner und dessen Schläge. Bedeutet dies also, dass es sich bei Alis tänzelnder Beinarbeit um eine rein mechanische Bewegung handelt, die so eingeschliffen ist, dass sie vollkommen automatisch abläuft? Davon ist ebenso wenig auszu-gehen, da die Ausführung der Bewegungen ja nicht unwillentlich erfolgt und auch nicht seiner Kontrolle entzogen ist. Es scheint sich vielmehr um eingeübte und im richtigen Moment verfügbare Bewegungsmuster zu handeln, die weder rein automatisch ablau-fen noch vollständig bewusst gesteuert werden. Der Soziologe Loïc Wacquant, ein Schüler Pierre Bourdieus, der mittels teilnehmender 3 Zu einer detaillierteren Beschreibung des Passive Dynamic Walkers in der Robotik

vgl. Tad McGeer, »Passive Dynamic Walking«, in: The International Journal of Robotics Research 9 (1990), S. 62-82.

4 In der Entwicklungspsychologie sind solche dynamischen Modelle für Laufen und für andere intelligente Verhaltensweisen etwa von Esther Thelen und Linda Smith entwickelt worden (dies., A Dynamic Systems Approach to the Development of Cognition and Action, Cambridge/MA 1994). In der Robotik hat sich vor allem Rolf Pfeifer mit der Integration von passiven Dynamiken in das Bewegungsver-halten bei Robotern beschäftigt (ders., Josh Bongard, How the Body Shapes the Way We Think. A New View of Intelligence, Cambridge/MA 2007).

Beobachtung das soziale Milieu eines Boxclubs in Chicago erfor-schen wollte und in diesem Rahmen selbst das Boxen erlernte, be-schreibt den Prozess, in dem kleinteilige Bewegungsmuster verin-nerlicht werden, folgendermaßen:

Die ›Kultur‹ des Boxers besteht nicht aus einer endlichen Summe versteck-ter Informationen, sprachlich vermittelbarer Begriffe und normativer Mo-delle, die unabhängig von ihrer Umsetzung existieren, sondern aus einem diffusen Komplex von Haltungen und Gesten, die kontinuierlich durch das gym und die darin stattfindenden Abläufe (re)produziert werden und gewissermaßen nur in der Praxis existieren: Es handelt sich somit um Akte und um Spuren, die diese Akte im und am Körper hinterlassen.5

In diesem Sinne ließe sich auch Alis Tänzeln als ein diffuser Kom-plex kunstvoller Haltungen, Bewegungen und Gesten verstehen, der durch basale körperliche Fähigkeiten bedingt und durch die soziale Praxis des Boxtrainings permanent reproduziert wird.

Ein wichtiger Teil der Philosophie der Verkörperung beschäf-tigt sich mit ebendieser Ebene von sensomotorischen Fähigkeiten und deren Einübung und Ausbildung unter verschiedenen Um-weltbedingungen. Der Bereich, der hier ausgelotet wird, scheint die traditionelle Unterscheidung zwischen rationalen und physio-logischen Prozessen wie auch die zwischen einer personalen und einer subpersonalen Ebene zu unterlaufen. Um zu verstehen, was Ali tut, worin seine Könnerschaft besteht, muss die permanente Interaktion zwischen personaler und subpersonaler Ebene in den Blick genommen werden, und es müssen adäquate Beschreibungs-formen gefunden werden, in denen die Beschaffenheit des Kör-pers, automatisierte Prozesse und bewusste Steuerung untrennbar zusammenhängen, wobei die intelligente Leistung gerade aus der Raffinesse des Zusammenspiels der Teile entsteht.6

Wir sind nun bei den für Menschen spezifischen sensomoto-rischen Fähigkeiten angekommen, doch die Philosophie der Ver-

5 Loïc Wacquant, Leben für den Ring. Boxen im amerikanischen Ghetto, Konstanz 2003 [2001], S. 63 (Übersetzung durch die Herausgeber leicht angepasst).

6 Vgl. hierzu auch das Beispiel des Tippens auf der Schreibmaschine in John Hau-

Waterman als Beispiel einer Person, bei der die automatisierten Körperabläufe gestört sind, in: Shaun Gallagher, Jonathan Cole, »Körperbild und Körperschema

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körperung bleibt nicht bei diesen stehen. Ein weiterer Schritt – die kognitive Pointe der Philosophie der Verkörperung – besteht in der Idee, dass auch höhere kognitive Fähigkeiten im Verhalten, Wahr-nehmen und Denken durch verkörperte Fertigkeiten und durch die Umwelt entweder unterstützt oder gar konstituiert werden. Die Beschreibung solcher intelligenten Prozesse setzt zumeist bei einfa-chen sensomotorischen Fähigkeiten an. Die Idee im Hintergrund ist jedoch, dass auch mentale Fähigkeiten wie das begriffliche Den-ken und das logische Schließen viel stärker durch körperliche Fä-higkeiten und die Interaktion mit der Umwelt mitgeprägt werden, als in der philosophischen Tradition zumeist angenommen wird. Dabei geht es z. B. um die Rolle von visuellem Feedback durch Gesten, die das Denken strukturieren, oder den Gebrauch der Umwelt, der Artefakte und Medien, die als Träger unseres Wissens verstanden werden können. Im Zuge solcher Beschreibungen wer-den die Grenzen des Geistes, die Struktur des Bewusstseins und die kausale Rolle nicht nur des Gehirns, sondern auch des Körpers und der Umwelt wie jegliche Art des intelligenten Verhaltens neu abgesteckt.

Was es konkret bedeutet, verkörperungstheoretische Überlegun-gen auf höhere kognitive bzw. mentale Fähigkeiten anzuwenden, lässt sich an den Arbeiten zu Metaphern des Linguisten George Lakoff und des Philosophen Mark Johnson aufzeigen.7 Lakoff und Johnson gehen davon aus, dass nicht nur unsere Sprache, sondern auch unser Denken metaphorisch strukturiert ist und dass die un-zähligen sowohl ›toten‹ als auch ›lebendigen‹ Metaphern, die wir verwenden, auf grundlegende Schemata zurückgeführt werden können, die in der Verkörperung und dem In-der-Welt-Sein be-gründet sind. Ein solches Schema bildet die Unterscheidung ›in-nen/außen‹, die auf unsere Erfahrung des eigenen Körpers als et-was, das ein Innen und ein Außen hat, zurückgeht. Diese Struktur von innen und außen wird nun auf die verschiedensten nichtmate-riellen Bereiche übertragen. Wir stellen uns Begriffe und Ideen als Gefäße vor, die ihren Inhalt umfassen, wir haben etwas im Sinn oder schlagen es uns aus dem Kopf, wir reden von gesellschaftli-chen Ein- und Ausschlussmechanismen oder vom Staat als einem

7 Vgl. George Lakoff, Mark Johnson, Leben in Metaphern. Konstruktion und Ge-brauch von Sprachbildern, Heidelberg 2004 [1980].

überfüllten Boot. Ein weiteres Beispiel bildet die Vorstellung von einem Ausgangspunkt, einem Weg, der zurückgelegt werden muss, und von einem Ziel, das es zu erreichen gilt, das in unserem In-der-Welt-Sein begründet liegt.8 Bereits mit den ersten Schritten, die wir tun, bewegen wir uns durch die Welt, um bestimmte Ziele zu verfolgen und zu erreichen. Über diese bloße Tatsache hinaus strukturiert das Weg-Ziel-Schema aber auch unsere Vorstellung vom ›Verlauf‹ von Plänen, Projekten, Beziehungen, dem Leben als Ganzem oder auch eines einzelnen Erkenntnisprozesses. Alltägliche Redeweisen wie ›des Pudels Kern‹ oder das ›Tragen von Eulen nach Athen‹ lassen sich so auf grundlegende Schemata zurückführen, die ihrerseits Abstraktionen von basalen ontologischen Tatsachen und Relationen sind. Lakoff und Johnson haben den Anspruch, mit ih-ren Schemata Kategorien anzugeben, die in unserer Verkörperung begründet liegen und die das Denken und die Begriffsbildung bis in die abstraktesten Formen hinein strukturieren.

Ein weiteres Beispiel dafür, wie mentale Fähigkeiten durch den Körper mitkonstituiert werden können, findet sich in der Gestik. Dass Gesten und Ausdrucksverhalten frühe vorbegriffliche Kom-munikationsformen bilden und dass sie permanent unser sprach-liches Ausdruckverhalten begleiten, ist ein weitverbreiteter Ge-danke.9 Darüber hinaus scheinen Gesten noch andere Funktionen zu übernehmen. Darauf weisen empirische Arbeiten hin, die die unterstützende Funktion von Gesten für das Kurzzeitgedächtnis belegen. In mehreren Studien wurden Testpersonen unter Zeit-druck etwa Kopfrechenaufgaben zum Lösen vorgelegt. Diejenigen Probandinnen und Probanden, die beim Lösen der Aufgaben ges-tikulieren konnten, konnten zuvor eingeprägte Wörter besser be-

8 Zu dem aus Martin Heideggers Sein und Zeit stammenden Konzept des In-der-Welt-Seins vgl. den Abschnitt 2.2. in dieser Einleitung sowie die Verweise auf Heidegger in den Texten von John Haugeland, »Der verkörperte und eingebettete Geist« sowie Francisco Varela, Evan Thompson und Eleanor Rosch, »Enaktivis-mus – verkörperte Kognition«, beide in diesem Band.

9 Dieser Gedanke findet sich beispielweise in den Sprachursprungstheorien des 18. Jahrhunderts, so etwa bei Giambattista Vico, Prinzipien einer neuen Wis-senschaft über die gemeinsame Natur der Völker, Hamburg 1990 [1725/1730]. Im Rahmen des evolutionsbiologisch inspirierten Pragmatismus findet er sich im 20. Jahrhundert prominent bei George Herbert Mead, Geist, Identität und Gesell-schaft. Aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt/M. 1968 [1934]. Vgl. dazu in dieser Einleitung den Abschnitt 2.3. über den Pragmatismus.

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halten als diejenigen, die nicht gestikulierten.10 Es scheint, dass das Gestikulieren das Kurzzeitgedächtnis entlastet, sodass der innere Arbeitsaufwand reduziert wird und die zuvor eingeprägten Worte nicht aus dem Gedächtnis verdrängt werden. Die Psychologin Sus-an Goldin-Meadow versteht das Gestikulieren entsprechend buch-stäblich als Teil der kognitiven Tätigkeit: Es trägt zur Bewältigung der kognitiven Arbeit bei, die ansonsten allein intern vonstatten gehen müsste. Unsere Hände begleiten und unterstützen unsere kognitiven Tätigkeiten permanent; ohne ihre Hilfe könnten wir die kognitiven Leistungen nicht so ausführen, wie wir es de facto tun. Entsprechend sollte das Gestikulieren als Teil einer Feedback-schleife zwischen Körper, Welt und Hirn verstanden werden, die als Ganzes kognitive Prozesse konstituiert.

Mit der kognitiven Rolle der Gesten, der Durchdringung un-serer abstrakten Begriffe durch verkörperte Schemata und der kör-perlichen Intelligenz Muhammed Alis sind schon drei Gegenstän-de der Philosophie der Verkörperung benannt. Den verschiedenen theoretischen Annahmen dieser Denkrichtung werden wir uns im 4. Abschnitt im Detail zuwenden. Zuvor werden wir uns der Rolle des Körpers und der Umwelt sowohl in der Geschichte der Philo-sophie als auch in der jüngeren Kognitionswissenschaft zuwenden. Dies ist nicht nur deshalb sinnvoll, weil sich daran erkennen lässt, woran die gegenwärtige Philosophie der Verkörperung anknüpft, sondern auch, weil es zu verstehen hilft, auf welche Probleme sie reagiert. Neben den verschiedenen Anknüpfungspunkten wird an-hand dieser philosophischen und der kognitionswissenschaftlichen Vorgeschichte allerdings auch deutlich werden, dass dem Gros der Theorien zu Kognition und Geist eine Körpervergessenheit und teilweise sogar Körperverachtung anhaftet, die es zu korrigieren gilt.

10 Susan Goldin-Meadow u. a., »Explaining Math. Gesturing Lightens the Load«, in: Psychological Science 12 (2001), S. 516-522.

2. Der Gedanke der Verkörperung in der Philosophiegeschichte

2.1. Der Körper als Lokus der Leidenschaften und als unmittelbares Objekt

Der Körper ist in der Philosophie nicht immer positiv bewertet worden, und wenn man in der abendländischen Mentalitätsge-schichte nach Zeugnissen für die Geringschätzung des menschli-chen Körpers sucht, wird man rasch fündig.11 So betrachteten die antiken Pythagoräer und nach ihnen Platon den Körper als Grab oder Gefängnis der Seele.12 Nun kann man die Lehre der Pythago-räer und Platoniker nicht als unumstrittenen Ausdruck der antiken Philosophie betrachten, schließlich kennt sie auch materialistische Lehren wie den Atomismus oder praktische Klugheitslehren wie die Idee der Phronesis bei Aristoteles. Dennoch haben jene Leh-ren einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Mentalitäts-geschichte des Westens ausgeübt und philosophischen Skrupeln gegenüber dem Körper Nahrung gegeben. Insbesondere die eng mit dem Körper verbundenen Dispositionen und Vermögen des Menschen, nämlich die Leidenschaften und die Sinneswahrneh-mung, waren entsprechenden Vorbehalten ausgesetzt. Ebenso wie der Körper die Seele gefangen hält, so die gemeine Annahme, hal-ten die Sinne und die Leidenschaften die Erkenntnis in Irrtum und Vorurteil gefangen.

Zudem hat die Lehre, dass der Körper eine Art Gefängnis oder ein Grab der Seele sei, Folgen für das Verständnis der Erkenntnisver-mögen: Zu wahren Erkenntnissen gelangt die Seele nur unabhän-gig von körperlichen Einflüssen. Zu diesen körperlichen Einflüssen gehören nicht nur die Emotionen und die Sinneswahrnehmungen, sondern auch der Umstand, dass die körperlichen Erkenntnisse auf das Vergängliche und auf das Unklare beschränkt sind. Die wahre Erkenntnis hingegen muss vom Unvergänglichen und Klaren han-deln. In Platons Werk findet diese Einstellung durch zwei charak-

11 Die Idee der Verkörperung des Mentalen wird von einigen Verfechtern dieser Idee geradezu als tiefgreifende Herausforderung an das westliche Denken be-trachtet, vgl. insbesondere George Lakoff/ Mark Johnson, Philosophy in the Flesh. The Embodied Mind and its Challenge to Western Thought, New York 1999.

12 Vgl. Platon, Gorgias, 493a2-3; Phaidon, 82e.

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teristische Lehren Ausdruck. (a) Der Dialog Phaidon zeigt Sokra-tes kurz vor seiner Hinrichtung im Gefängnis im Gespräch mit einigen seiner Schüler und Freunde. Sokrates tröstet seine Zuhörer unter anderem mit den Worten, dass Philosophieren nichts ande-res sei als Sterbenlernen.13 Den Anwesenden gegenüber erläutert er diese überraschenden Worte dadurch, dass der Tod nichts weiter sei als die Trennung der Seele vom Körper und dass der Philosoph auch zu Lebzeiten nach ebendieser Trennung strebe. Denn dem Philosophen gehe es nicht um sinnliche Lüste, sondern um deren Beherrschung. Auch wendet er sich von den täuschenden Sinnen ab, die der wahren Erkenntnis den Weg versperren. Schließlich strebe er nach Unabhängigkeit von Krankheiten, Begierden und Leidenschaften, wie sie der Körper mit sich bringt. Kurzum, der Philosoph ist darauf bedacht, die Seele vom Körper zu trennen, und in diesem Sinn ist die Philosophie eine (wenn auch glückliche) Art zu sterben. (b) Freilich war sich auch Platon darüber im Klaren, dass nicht alle Menschen den Weg der Philosophie beschreiten, dass sie ihren Lüsten folgen, sich auf die Sinne verlassen müssen und ihren Körper pflegen sollten. Das trifft auch auf Philosophen zu. In einer menschlichen Gemeinschaft oder in einer politischen Körperschaft kann der Körper deshalb nicht auf dieselbe Weise au-ßen vor gelassen werden wie im esoterischen Kreis der sokratischen Gefolgsleute. Allerdings sollte auch das politische Gemeinwesen, wie Platon im Dialog Politeia zu zeigen versucht, die Hierarchie von Körper und Geist beachten. Ebenso wie eine integere und wohlorganisierte Person sollte auch ein Staatswesen aufgebaut sein. An der Spitze stehen die Philosophen, denen aufgrund ihrer Fä-higkeit zu ungetrübter und richtiger Erkenntnis die Aufgabe zu-kommt, das Staatsschiff zu lenken. Auf der mittleren Ebene finden wir die Wächter des Staates, die Soldaten, die ihren Körper erziehen und ihre Leidenschaften konrollieren und beides den für sie allein entscheidenenden Tugenden der Tapferkeit, der Mäßigung und des Gehorsams unterwerfen. Auf der untersten Ebene schließlich, wo sich im menschlichen Körper der Magen und die Eingeweide fin-den, ist der Nährstand tätig, der den Staat (und somit auch seine Spitzen und seine Wächter) mit Lebensmitteln versorgt. Die epis-temische Geringachtung der körperlichen Vorgänge und ihre Zu-

13 Platon, Phaidon, 63b ff.

rückstellung gegenüber den Tätigkeiten der Seele drückt sich also auch in der idealen politischen Verfassung aus.

Man könnte ohne große Mühe zahllose weitere Zeugnisse für die hierarchische Entgegensetzung von Seele bzw. Geist und Kör-per und die daraus resultierende (nicht nur) epistemische Gering-schätzung des Leibes anführen. Der menschliche Körper, so scheint es, ist von der Geburt bis zum Tod der Ort von Unreinheit, Sünde, Leiden, Leidenschaft und Lächerlichkeit.14 Auch die neuzeitliche Philosophie steht in dieser Tradition. Dies bedeutet freilich nicht, dass der menschliche Körper nicht auch zum Thema und Gegen-stand der Philosophie geworden wäre. So schenkt René Descartes (1596-1650) dem Körper seine Aufmerksamkeit in der Schrift Die Leidenschaften der Seele (1649).15 Allerdings ist diese Aufmerksam-keit nicht ungeteilt, gilt sie doch dem Körper nur, insofern er einen Beitrag zu den Leidenschaften der Seele leistet. Genauer gesagt, ist der Körper deshalb wichtig, weil wir, wie Descartes betont, keinen anderen Gegenstand bemerken, der unmittelbarer auf unsere Seele einwirkt als der Körper, mit dem sie verbunden ist.16 Auch wenn Descartes den Geist als eigenständige Substanz metaphysisch vom Körper unterscheidet, so sind wir Menschen für Descartes keines-

14 Die Tradition der Geringschätzung des Körpers findet beredten Ausdruck in dem Traktat Vom Elend des menschlichen Daseins (1194), einem mittelalterlichen Bestseller, verfasst vom späteren Papst Innozenz III. (1160-1216). Dort heißt es etwa: »Der Mensch ist gemacht aus Staub, Kot und Asche – und, noch gemeiner, aus unflätigem Samen. Anlaß zu seiner Empfängnis war der Reiz des Fleisches und das Glühen der Begierde: in der Fülle der Ausschweifung und unter dem Makel der Sünde. Geboren wird der Mensch, damit er arbeitet, sich ängstet und leidet – und das ist elender als zu sterben. […] Schließlich fällt er jenem Feuer anheim, das ewig brennt und unauslöschlich ist. Er wird jenem Wurm ausgeliefert, der immer nagt und zehrt und nicht vergeht. Sein Leib schließ-lich verwandelt sich in stinkenden und schmutzigen Moder« (Lothar von Segni [Innozenz III.], Vom Elend des menschlichen Daseins, Carl-Friedrich Geyer [Hg.], Hildesheim 1990 [1194], S. 42 f.). Der menschliche Körper, so scheint es, ist von der Geburt bis zum Tod der Ort von Unreinheit, Sünde, Leiden, Leidenschaft und Lächerlichkeit.

15 René Descartes, Die Leidenschaften der Seele/Les passions de l’âme, Hamburg 1996 [1649].

16 Vgl. ebd., S. 5 (Leidenschaften der Seele, Buch 1, § 2). Zum Verhältnis von Körper und Seele und Descartes’ Emotionstheorie vgl. Dominik Perler, Transformati-onen der Gefühle. Philosophische Emotionstheorien 1270-1670, Frankfurt/M. 2011, S. 286-304.

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wegs reine Geister, die in ihren Körpern gefangen wären, sondern wir sind eng mit unserem Körper verbunden.17 Insbesondere ist der Körper für Descartes der Lokus der Leidenschaften. Der sprin-gende Punkt besteht in seiner unmittelbaren Einwirkung auf die Seele. Alle anderen Zustände oder Objekte in der Welt hingegen wirken lediglich vermittelt über den Körper auf uns ein. Diese Ver-mittlungsinstanzen sind die Sinne und unsere Empfänglichkeit für Leidenschaften. Darüber hinaus ist der Körper auch jenes Objekt, mit dessen Hilfe wir wiederum auf Zustände oder Objekte in der Welt Einfluss nehmen. Der Körper ist, wie der aufrechte Cartesia-ner Jean-Paul Sartre betont, das instrumentelle Zentrum, das uns die Benutzung aller anderen Instrumente möglich macht.

Auch wenn wir natürlich mit dem Körper auf das Engste ver-bunden sind, gehört er uns strenggenommen nicht wirklich an. Doch die Seele, das Selbst, das Bewusstsein, der Geist wird verstan-den als eine Beziehung zwischen einem kognitiven Subjekt und seinen kognitiven Zuständen. Diese kognitiven Zustände erhalten in der neuzeitlichen Philosophie ganz unterschiedliche Namen wie ›Idee‹, ›Vorstellung‹ oder ›Repräsentation‹. Auch wenn der Körper unser unmittelbarstes Objekt ist, so ist er doch kein Teil von uns, insofern wir kognitive Wesen sind, d. h. Wesen, die erkennen und denken, die sich erkennend und denkend auf die Welt beziehen oder erkennenden und denkenden Umgang mit ihr pflegen.

Auch wenn die neuzeitliche Philosophie den Körper zusehends zu einem eminenten Thema und Gegenstand erhebt, bleibt er den-noch Lokus der Leidenschaften und der Tätigkeiten und wird nie zum Lokus der Kognition. Die Beziehung des Körpers zur Kogni-tion ist somit eine instrumentelle. Dies lässt sich exemplarisch an

17 Diese Verbundenheit wirft komplizierte Fragen auf. Manchmal spricht Descartes geradezu so, als existierten nicht nur die denkende Substanz (der Geist) und die ausgedehnte Substanz (der Körper), sondern noch etwas Drittes, nämlich wesentliche Geist-Körper-Einheiten. Dies hat einige Interpreten dazu geführt, bei Descartes nicht nur einen metaphysischen Dualismus, sondern einen meta-physischen ›Trialismus‹ zu sehen; vgl. John Cottingham, »Cartesian Trialism«, in: Mind 94 (1985), S. 218-230. Diese Interpretation ist jedoch nicht haltbar. Es bleibt die drängende Frage, wie genau denn die metaphysisch getrennten Subs-tanzen in uns zusammenwirken sollen. Es ist das Verdienst der Philosophin Eli-sabeth von der Pfalz, diese komplizierten Fragen in ihrem Briefwechsel mit De-scartes aufgeworfen und vertieft zu haben, vgl. René Descartes, Der Briefwechsel mit Elisabeth von der Pfalz, hg. von Isabelle Wienand u. a., Hamburg 2013.

Die Welt als Wille und Vorstellung (1819) von Arthur Schopenhauer (1788-1860) zeigen. Wenn wir die Welt als Vorstellung betrachten, d. h. aus der Perspektive des vorstellenden (kognitiven) Subjekts, so finden wir auch unseren Körper oder Leib nur als Objekt unter anderen Objekten.18 Im Unterschied zu anderen Objekten ist der Leib uns allerdings auch von innen gegeben. Wir empfinden un-seren Körper und führen durch ihn körperliche Tätigkeiten aus. Die Erkenntnis unseres eigenen Körpers ist nun aber von ande-rer Art als jene von Objekten und Zuständen in der Welt, und zwar deshalb, weil sie nicht über Vorstellungen vermittelt ist. Es handelt sich um eine unmittelbare, ja um »die unmittelbarste«19 Erkenntnis. Den eigenen Körper oder Leib nennt Schopenhauer eine ›Objektivation‹ des Willens. In seiner Metaphysik überträgt Schopenhauer die doppelte Gegebenheitsweise des eigenen Leibes auf die Welt als Ganzes. Schopenhauer glaubt also, dass er durch die Erkenntnis des eigenen Leibes einen Schlüssel zum Wesen jeder Erscheinung in der Welt, zum Ding an sich, in der Hand habe.20 Er sieht entsprechend jede Art von vorgestelltem Objekt als eine Objektivation dieses metaphysischen Willens. Der Wille und so-mit auch der eigene Leib ist in erster Linie »ein blinder unaufhalt-samer Drang«.21 Bekanntlich wird Schopenhauer nicht müde zu betonen, dass dieser blinde Drang den Grundcharakter des Daseins ausmacht, der durch Leiden, Leidenschaft und Lächerlichkeit ge-kennzeichnet ist. Der Körper ist also auch bei Schopenhauer wie-derum nur das unmittelbarste Objekt der Erkenntnis. Der Lokus der Kognition ist auch bei ihm allein das vorstellende Subjekt.

18 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, in: ders., Werke in 5 Bänden, Zürich 1988, Bd. 1, 145-150.

19 Ebd., S. 154.20 Schopenhauer fundiert seine Metaphysik auf einer Analogie zwischen der dop-

pelten Gegebenheitsweise seines Leibes – nämlich als Wille und als Vorstellung – und der Gegebenheitsweise der äußeren Welt, der Erscheinungen. Wir können nämlich jede Erscheinung »eben nach Analogie des Leibes beurtheilen und daher annehmen, daß wie sie einerseits, ganz so wie er, Vorstellung und darin mit ihm gleichartig sind, auch andererseits, wenn man ihr Daseyn als Vorstellung des Subjekts bei Seite setzt, das dann noch übrig Bleibende, seinem inneren Wesen nach, das selbe seyn muß, als was wir an uns Wille nennen« (ebd., S. 157). Dieser kühne Analogieschluss bildet das Grundgerüst von Die Welt als Wille und Vor-stellung (wie Anm. 18).

21 Ebd., S. 361.

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Schopenhauers Zeitgenossen, dem französischen Philosophen Pierre Maine de Biran (1766-1824), kommt das Verdienst zu, als ei-ner der ersten die Rolle des Körpers in der Genese des Bewusstseins und der geistigen Vermögen ernst genommen zu haben. In seinem Versuch über die Grundlagen der Psychologie (1812) versucht Maine de Biran darzulegen, dass das Selbst nicht ohne die unmittelbare Empfindung der Koexistenz mit seinem eigenen Leib [corps propre] existieren kann.22 Denn die Ausbildung dieser Empfindung seines eigenen Körpers geht mit der Ausbildung des Bewusstseins und der geistigen Vermögen einher. Allerdings kann das Selbst existieren, ohne seinen Leib als Objekt der Vorstellung, als objektiven Körper [corps objectif] zu kennen. Maine de Birans ganzes Bemühen richtet sich auf die Beschreibung der Genese der Vorstellung eines objekti-ven Körpers aus dem unmittelbar empfundenen eigenen Leib. Vom Leib und vom objektiven Körper unterscheidet Maine de Biran schließlich drittens den Körper der Metaphysiker und Physiologen. Im Rahmen einer materialistischen Metaphysik beispielsweise ist der Körper ein passives, materielles Ding.

Maine de Biran ist allerdings kein Materialist. Zwar gehen die Genese des Bewusstseins und des Bewusstseins des eigenen Körpers miteinander einher, doch beiden voraus liegt eine spirituelle un-mittelbare Selbstwahrnehmung, die diese Genese gleichsam erst in Gang setzt. Dennoch sind an Maine de Biran zwei Aspekte bemer-kenswert. Erstens ist der Körper nicht mehr nur unmittelbares Ob-jekt der Kognition, sondern die Ausbildung des Bewusstseins und seiner kognitiven Vermögen ist ohne den Körper gar nicht denkbar. Zweitens begnügt sich Maine de Biran nicht wie Schopenhauer mit der Feststellung, dass unser Leib uns auf zweifache Weise gegeben ist, sozusagen einmal von außen und einmal von innen, sondern er verfolgt die Genese des (äußeren) objektiven Körpers auf der Grundlage des (inneren) eigenen Leibes.

Diese beiden Punkte sind von der Sache, wenn auch nicht von der tatsächlichen Rezeptionsgeschichte her, wegweisend. Sie erlau-ben es nämlich, den Körper selbst zum Lokus der Kognition zu ma-

22 Vgl. Pierre Maine de Biran, Essai sur les fondements de la psychologie et sur ses rap-ports avec l’étude de la nature, in: Werke, Bd. 7, Paris 2001. Vgl. auch ders., Von der unmittelbaren Apperzeption, Freiburg i. Br. 2008 [1807]. Vgl. dazu Michel Henry, Philosophie et phénoménologie du corps. Essai sur l’ontologie biranienne, Paris 1965; Bernard Baertschi, L’ontologie de Maine de Biran, Freiburg i. Üe. 1982, S. 77 ff.

chen und das Verhältnis zwischen dem Subjekt und seinem Körper nicht länger ausschließlich als ein Verhältnis der Instrumentalität bzw. der epistemischen Unmittelbarkeit zu bestimmen. Der Körper ist nicht mehr nur das unmittelbare Objekt der Erkenntnis, durch das vermittelt dem Subjekt eine äußere Welt bzw. es selbst gegeben ist, und er ist nicht mehr nur das Vehikel, mit dessen Hilfe das Sub-jekt Umgang mit der äußeren Welt pflegt. Im 20. Jahrhundert wird dieser Ansatz durch die Phänomenologie und den Pragmatismus weiterentwickelt.23

2.2. Der Körper in der Phänomenologie: Leiblich erfahrene Umwelt

Der Begründer der phänomenologischen Philosophie, Edmund Husserl (1859-1938), hat an unterschiedlichen Stellen seines um-fangreichen Werks auf die kognitive Funktion des Körpers selbst hingewiesen. Dem erkennenden Subjekt, so der Ausgangspunkt, erscheinen wahrgenommene Objekte stets aus einer Perspektive, d. h. in einer bestimmten Entfernung und aus einem bestimmten Winkel. Die perspektivisch erscheinenden Objekte korrelieren also mit einem räumlichen Standpunkt, und wenn die Objekte räum-lich erscheinen, muss auch das Subjekt, dem sie erscheinen, einen räumlichen Standpunkt einnehmen.24 Mit anderen Worten, das Subjekt muss ein verkörpertes oder leibliches Subjekt sein. Der Leib wird insofern zum Lokus der Kognition, als eine bestimmte Form der Erkenntnis, nämlich die Erkenntnis von Objekten im Raum, ohne Verkörperung nicht möglich wäre.

Husserl begnügt sich jedoch nicht damit, den Leib nur als im

23 Auch die Leibphilosophie Friedrich Nietzsches wäre hier zu nennen, zumal Nietzsche seine Überlegungen in kritischer Weiterführung von Schopenhauer entfaltet. So hält Nietzsche in einer Notiz Anfang des Jahres 1884 fest: »Und kurz gesagt: es handelt sich vielleicht bei der ganzen Entwicklung des Geistes um den Leib: es ist die fühlbar werdende Geschichte davon, daß ein höherer Leib sich bildet« (Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882-1884. Kritische Studienausga-be, Berlin 1988, Bd. 10, S. 655). Vgl. auch Christof Kalb, Desintegration. Studien zu Friedrich Nietzsches Leib- und Sprachphilosophie, Frankfurt/M. 2000.

24 Vgl. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie. Zweites Buch: Phä-nomenologische Untersuchungen zur Konstitution, insbesondere Abs. I, Kap. 3: »Die Aistheta in Bezug auf den Leib« (in: Husserliana, Bd. 4, Den Haag 1952, S. 55-89).

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Raum fixierten Nullpunkt der Wahrnehmung auszuzeichnen, auch die Bewegungen des Leibes spielen eine kognitive Rolle. Wir bewe-gen unsere Augen, unseren Kopf, unsere Gliedmaßen und unseren ganzen Körper, wenn wir wahrnehmen. Diese Bewegungen gehen mit körperlichen Empfindungen einher, die Husserl als Kinästhe-sen bezeichnet. Die räumlich erscheinenden Dinge zeigen uns ganz verschiedene Seiten, Ansichten und Aspekte, sogar wenn wir sie mit unseren Sinnen kontinuierlich verfolgen. Wie kommen wir dazu, diese verschiedenen Erscheinungen als Erscheinungen eines Objekts zu betrachten? Husserl zufolge spielt die Einheit des kinäs-thetischen Bewusstseins, also die Einheit der leiblichen Aktivitäten und Bewegungen, die mit der sinnlichen Wahrnehmung einherge-hen, hier eine wichtige Rolle. Aufgrund der Einheit der Kinästhe-sen schreiben wir einem Objekt unterschiedliche Erscheinungen zu.25 Husserl zufolge ist also der Leib als bewegliches Zentrum eine Voraussetzung für die Wahrnehmung von Objekten im Raum. Er ist sich dabei im Klaren darüber, dass er den Körper zum Lokus bestimmter Aspekte der Kognition macht:Menschen und Tiere sind räumlich lokalisiert, auch ihr Psychisches hat mindestens vermöge seiner wesentlichen Fundiertheit im Leiblichen räum-liche Einordnung. Wir werden sogar sagen, daß manches von dem, was un-ter den weiten und zunächst ungeklärten Titel des Psychischen gerechnet wird, so etwas wie Ausbreitung hat (obzwar nicht Verbreitung im Raum).26

Mit dieser Art der Lokalisierung ist die Relation zwischen Körper (Leib) und der Kognition (dem Psychischen) nicht mehr nur inst-rumental, sondern auch konstitutiv zu verstehen.27

Allerdings steht der Körper nicht im Zentrum von Husserls Phänomenologie. Die Phänomenologie, wie Husserl sie verstanden hat, untersucht die Strukturen des Bewusstseins- oder Erlebnis-stroms aus der Perspektive der ersten Person. Zu diesem Erlebnis-

25 Vgl. Edmund Husserl, Ding und Raum (Vorlesungen 1907), insbesondere Abs. IV: »Die Bedeutung der kinästhetischen Systeme für die Konstitution des Wahr-nehmungszustandes« (in: Husserliana, Bd. 16, Den Haag 1973, S. 154-203).

26 Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie. Zweites Buch (wie Anm. 24), S. 3.27 Vgl. Ulrich Claesges, Edmund Husserls Theorie der Raumkonstitution, Den Haag

1964; Didier Franck, Chair et corps. Sur la phénoménologie de Husserl, Paris 1981; Shaun Gallagher, »Hyletic Experience and Lived Body«, in: Husserl Studies 3 (1986), S. 131-166.

strom und seinen Komponenten gehört eine Reihe von unter-scheidbaren Gegebenheitsweisen von Gegenständen.28 Alle diese Gegebenheitsweisen teilen eine Eigenschaft, nämlich die »Grund-eigenschaft des Bewusstseins«,29 die Intentionalität. Das Hauptthe-ma der Phänomenologie ist dementsprechend die Intentionalität. Was Husserl unter Intentionalität versteht, fasst er zunächst wie folgt zusammen:Wir verstehen unter Intentionalität die Eigenschaft von Erlebnissen, ›Be-wußtsein von etwas zu sein‹. Zunächst trat uns diese wunderbare Eigenheit […] entgegen im expliziten cogito: ein Wahrnehmen ist ein Wahrnehmen von etwas, etwa einem Dinge; ein Urteilen ist ein Urteilen von einem Sachverhalt; ein Werten von einem Wertverhalt; ein Wünschen von einem Wunschverhalt usw. Handeln geht auf Handlung. Tun auf Tat, Lieben auf Geliebtes, sich Freuen auf Erfreuliches usw. In jedem aktuellen cogito rich-tet sich ein von dem reinen Ich ausstrahlender ›Blick‹ auf den ›Gegenstand‹ des jeweiligen Bewusstseinskorrelats auf das Ding, den Sachverhalt usw. und vollzieht das sehr verschiedenartige Bewusstsein von ihm.30

Allerdings bleibt Husserl nicht bei dieser scheinbar dyadischen intentionalen Relation zwischen einem isolierten Bewusstseinsakt (Subjekt) und seinem korrelativen Gegenstand (Objekt) stehen. Für Husserl vollzieht sich nämlich die intentionale Bezugnahme eines Subjekts auf ein Objekt vor einem doppelten Hintergrund.

Auf der einen Seite ist das aktuelle Objekt, auf das sich das Sub-jekt intentional bezieht, stets eingebettet in einen gegenständlichen Hintergrund. Im Fall der visuellen Wahrnehmung handelt es sich dabei z. B. um ein Wahrnehmungsfeld. Wir nehmen ja niemals iso-lierte Objekte wahr, sondern wir nehmen Objekte stets im Kontext von anderen Objekten wahr. Dieser Kontext bildet den gegen-ständlichen Hintergrund der Wahrnehmung. Sichtbare Objekte befinden sich beispielsweise neben, vor, hinter oder über anderen Objekten; sie liegen günstig oder ungünstig, erreichbar oder uner-reichbar, an einem gewöhnlichen oder ungewöhnlichen Ort usw. Sogar wenn wir uns ein völlig isoliertes Objekt vorstellen (etwa einen roten Punkt), muss es sich doch vor einem Hintergrund ab-heben, um überhaupt ein Objekt der visuellen Wahrnehmung oder Vorstellung zu sein. Allgemein gesagt, gilt für Husserl, dass kein 28 Husserl, Ideen, S. 202.29 Ebd., S. 357.30 Ebd., S. 204.

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Objekt ohne einen solchen gegenständlichen Hintergrund gegeben sein kann. Hinzu kommt, dass erst durch diesen Hintergrund ein Objekt eine Bedeutung für uns erhält.31

Auf der anderen Seite findet der aktuale Bewusstseinsakt, in dem sich das Subjekt auf ein Objekt bezieht, vor dem Hintergrund vorgängiger oder nachgängiger Bewusstseinsakte statt. Ebenso we-nig wie Objekte sind Bewusstseinsakte isoliert, sie sind vielmehr Bestandteil eines Bewusstseinsstroms. Ein Bewusstseinsakt erhält seine Bedeutung teilweise durch seinen Ort im Bewusstseinsstrom. Husserl zufolge gehört es zu einem Bewusstseinsakt explizit hin-zu, dass er Teil einer Folge vorhergehender und nachfolgender Be-wusstseinsakte ist.

Beide Arten von Hintergrund (oder Horizont, wie Husserl auch sagt) sind für intentionale Akte konstitutiv. Diese Einbettung der dyadischen intentionalen Relation – Bewusstsein als Bewusstsein von etwas – in einen konstitutiven Hintergrund wird für die Phä-nomenologie nach Husserl ausgesprochen wichtig werden. Bei Husserl selbst jedoch bleibt die Bestimmung des Hintergrunds abhängig von den aktualen Bewusstseinsakten des Subjekts. Ent-sprechend werden diese Bewusstseinsakte als solche – d. h. als reines Bewusstsein – untersucht. Die phänomenologische Untersuchung des Bewusstseins- oder Erlebnisstroms erfolgt also in Absehung der tatsächlichen Einbettung des Subjekts in eine reale Welt und in Absehung der tatsächlichen körperlichen Tätigkeit des Subjekts in seiner Umwelt. Sie erfolgt, anders gesagt, unabhängig davon, ob den Bewusstseinsakten tatsächlich ein realer oder existierender Gegenstand entspricht. Darin besteht, vereinfacht gesagt, die be-rühmte Einklammerung der Realität – die Epoché – in Husserls

31 Vgl. ebd., S. 205: »So ist es z. B. klar, daß der gegenständliche Hintergrund, aus dem sich der cogitativ wahrgenommene Gegenstand dadurch heraushebt, daß ihm die auszeichnende Ichzuwendung zuteil wird, wirklich erlebnismäßig ein gegenständlicher Hintergrund ist. D. h. während wir jetzt dem reinen Gegenstand in dem modus [sic!] ›cogito‹ zugewendet sind, ›erscheinen‹ doch vielerlei Gegen-stände, sie sind anschaulich ›bewußt‹, fließen zu der anschaulichen Einheit eines bewußten Gegenstandsfeldes zusammen. Es ist ein potentielles Wahrnehmungs-feld in dem Sinne, daß sich jedem so Erscheinenden ein besonderes Wahrneh-men (ein gewahrendes cogito) zuwenden kann; aber nicht in dem Sinne, als ob die erlebnismäßig vorhandenen Empfindungsabschattungen […] jeder gegen-ständlichen Auffassung entbehrten und mit der Blickzuwendung sich überhaupt erst anschauliche Erscheinungen von Gegenständen konstituierten.«

phänomenologischen Untersuchungen. Deshalb ist Husserls Phä-nomenologie eine Untersuchung des Bewusstseins- oder Erlebnis-stroms aus der Perspektive der ersten Person.

Die Phänomenologie in der unmittelbaren Nachfolge Husserls hat diesen subjektphilosophischen Standpunkt aufgegeben, in-dem sie die Bedeutung des Hintergrunds hervorgehoben hat. Bei Martin Heidegger (1889-1976) wird der Hintergrund für unseren intentionalen Umgang mit Dingen zur Struktur des praktischen In-der-Welt-Seins. Bei Maurice Merleau-Ponty (1908-1961) ist der Hintergrund für unseren intentionalen Bezug auf Wahrneh-mungsobjekte unser aktives Leibsein. Diese beiden Ansätze sollen im Folgenden etwas näher betrachtet werden, denn was wir bei diesen beiden Denkern vorgeformt finden, ist genau die Idee der Einbettung des Geistes (bei Heidegger) bzw. der Verkörperung der Kognition (bei Merleau-Ponty).

In Sein und Zeit (1927) versucht Martin Heidegger zu zeigen, dass das Subjekt und seine intentionalen Akte nicht unabhängig von der Welt verstanden werden können, in der das Subjekt tat-sächlich existiert und tätig ist. Die Welt, in der wir leben, bildet den Hintergrund für unseren intentionalen Umgang mit Dingen. Diesen intentionalen Umgang versteht Heidegger aber nicht wie Husserl als mentale Bezugnahme eines Subjekts auf ein intentiona-les Objekt, sondern als einen praktischen Umgang mit Alltagsge-genständen zu einem bestimmten Zweck. Sobald dieser Umgang in zweckhaften Zusammenhängen erfolgt, wird die ganze Alltagswelt zum Hintergrund unserer praktischen Tätigkeit, denn jeder Ge-genstand, mit dem wir umgehen, ist in ein Netz von funktionalen Zusammenhängen eingebunden. Heidegger illustriert dies am Bei-spiel des Hammers. Der Hammer ist da, um bestimmte Dinge mit ihm zu tun, wie Nägel in ein Brett einzuschlagen, das wir an einer Kiste befestigen wollen. Hammer, Nagel, Brett und Kiste verweisen aufeinander. Doch das Verweisen geht weiter. Wozu brauchen wir die Kiste? Vielleicht um etwas zu verpacken und zu versenden. Wer ist der Adressat? Woher haben wir Hammer und Nägel? Vielleicht aus einem Fachgeschäft für Werkzeuge. Wer hat die Werkzeuge hergestellt? Wie man sieht, lassen sich diese Fragen endlos weiter-führen. Der praktische Umgang mit den Dingen spielt sich in ei-nem Netz von funktionalen Verweisungen ab, die den Dingen und Tätigkeiten Sinn und Zweck – Bedeutsamkeit – verleihen. Das ist

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der Hintergrund unserer praktischen intentionalen Bezugnahme. Diesen Hintergrund nennt Heidegger das »In-der-Welt-Sein«. Der Hintergrund ist also nicht mehr nur auf ein Bewusstseinssubjekt beschränkt, sondern er umfasst die ganze kulturelle Welt, in der die sinnvollen Tätigkeiten jedes einzelnen Menschen stattfinden. Mit anderen Worten: Die intentionalen Tätigkeiten des Menschen sind konstitutiv in eine kulturelle Welt eingebettet.

Merleau-Ponty setzt anders an als Heidegger. Eine seiner wich-tigsten Ideen in der Phänomenologie der Wahrnehmung (1945) geht von dem folgenden Problem aus: Wenn wir uns in der Wahrneh-mung intentional auf ein Objekt beziehen, so glauben wir in der Re-gel, das ganze Objekt zu sehen, obwohl uns nur bestimmte Aspekte des Objekts gegeben sind. Wir sehen es z. B. nur von vorne oder von der Seite. Trotzdem haben wir das Gefühl, das ganze Objekt zu sehen. Warum? Die traditionelle Antwort auf dieses Problem lautet, dass wir uns die nicht sichtbaren Aspekte eines Objekts entweder im Verstand erschließen oder dass wir sie in der Vorstellung imagi-nieren. Aus phänomenologischer Perspektive sind diese Antworten aber unbefriedigend, weil wir im Akt der Wahrnehmung ja nie das Gefühl haben, wir würden die Rückseite eines Objekts durch einen Schluss erfassen oder durch ein Bild imaginieren, vielmehr haben wir das Gefühl, das ganze Objekt direkt zu sehen. Die phänomeno-logische Erklärung dieses Phänomens lautet, dass einem Wahrneh-mungssubjekt ein Objekt immer nur aus einer Perspektive gegeben ist, dies bedeutet, dass bestimmte Aspekte des Objekts abgeschattet sind. Dennoch ist das vollständige Objekt in der Wahrnehmung eines Lebewesens insofern präsent – und dies ist Merleau-Pontys Idee –, als auch andere Perspektiven auf das Objekt zur Wahrneh-mung des Objekts gehören. Um dies nachzuvollziehen, müssen wir die Wahrnehmung weniger als einen Zustand, als vielmehr als Tä-tigkeit eines Lebewesens in der Welt verstehen. Die Wahrnehmung ist mit potentieller körperlicher Aktivität verbunden. Diese besteht z. B. in der Einnahme einer richtigen Position relativ zu einem Ob-jekt, in der Möglichkeit, um das Objekt herumzugehen, den Kopf zu drehen, die Augen zu bewegen oder das Objekt zu fassen. Dabei handelt es sich nicht um mentale Vorstellungen oder um Schlüsse, sondern um körperliche Fähigkeiten, mit dem Objekt umzugehen oder sich relativ zu dem Objekt zu bewegen. Diese Fähigkeit – die körperliche Bereitschaft, mit einem Objekt auf bestimmte Weise

zu interagieren – nennt Merleau-Ponty »Motorintentionalität« [in-tentionnalité motrice]. Die Motorintentionalität ist eine Antizipati-on des Ergebnisses einer körperlichen Tätigkeit durch den Körper selbst. Für Merleau-Ponty ist der Körper also die Bedingung dafür, dass mir überhaupt Objekte in der Wahrnehmung und einer Wahr-nehmungswelt erscheinen. Der Leib ist also deshalb nicht Körper unter Körpern, weil er die Bedingung dafür ist, dass mir Körper in der Wahrnehmungswelt erscheinen. Merleau-Ponty formuliert dies so, dass mein Körper meine Perspektive auf die Welt ist. Erst durch den Körper öffnet sich mir eine Welt. Mein Körper hat eine mo-torische Ausrichtung auf Objekte (die Motorintentionalität) und konstituiert durch seine Aktivität meine Perspektive auf die Welt.

Was Heidegger vorschlägt, ist nichts anderes als die Einbettung des intentionalen Subjekts in eine Welt. Und was Merleau-Ponty hervorhebt, ist die objektbildende Rolle der körperlichen Tätigkeit für die Wahrnehmung. Beide Philosophen tun dies, indem sie Hus-serls Idee eines konstitutiven Hintergrunds der Intentionalität aus dem Subjekt auslagern und in der Welt, in der das Subjekt tätig ist, bzw. im Körper, den das Subjekt hat, ansiedeln. Es kann deshalb nicht verwundern, dass die Ansätze von Heidegger und Merleau-Ponty zu bedeutenden Inspirationsquellen für die Neuorientierung in der Kognitionswissenschaft und der Philosophie des Geistes ge-hören, die in diesem Band dokumentiert werden soll. Insbesondere Heideggers Einfluss auf die Idee des verkörperten und eingebetteten Geistes und der Unterschied, den diese Idee für die Kognitionswis-senschaft macht, ist, wie wir in späteren Abschnitten sehen werden, entscheidend.32 Allerdings ist über die Bezugnahme auf Heidegger dem Ansatz Husserls bedauerlicherweise zunächst zu wenig Beach-tung geschenkt worden, und zwar weil Husserl lange Zeit als Phi-

32 Zur Verbindung zwischen Heidegger und der Kognitionswissenschaft vgl. Mark Wrathall u. a. (Hg.), Essays in Honor of Hubert L. Dreyfus. Heidegger, Coping, and Cognitive Science, Bd. 2, Cambridge/MA 2000; Michael Wheeler, Reconstructing the Cognitive World. The Next Step, Cambridge/MA 2005; ders., Julian Kiverstein (Hg.), Heidegger and Cognitive Science, Basingstoke 2012. Zu Merleau-Ponty vgl. insbesondere die Arbeiten von Sean Kelly, »Merleau-Ponty on the Body«, in: Ratio 15 (2002), S. 376-391; ders., »Seeing Things in Merleau-Ponty«, in: Taylor Carman, Mark Hansen (Hg.), Cambridge Companion to Merleau-Ponty, Cam-bridge 2005, S. 75-110; Taylor Carman, »What Do We See (When We Do)?«, in: Thomas Baldwin (Hg.), Reading Merleau-Ponty, London 2007, S. 23-43.

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losoph galt, der noch im ›cartesianischen Denken‹ und somit in der ›leiblosen Subjektivität‹ gefangen war. Eines der Pionierwerke, das die Idee der Verkörperung mit Vehemenz in die Kognitionswissen-schaft einführte – The Embodied Mind (1991) von Francisco Vare-la, Evan Thompson und Eleanor Rosch –, meinte noch ganz ohne positive Bezugnahme auf Husserls Phänomenologie auskommen zu müssen. Dieses Versäumnis, das sich einer voreingenommenen Rezeption Husserls verdankt, wurde von einem der Autoren, Evan Thompson, in einem neueren Werk offen eingestanden.33 Von der Phänomenologie gingen also die entscheidenden Anstöße für das verkörperte und eingebettete Bild des Geistes aus.

2.3. Der Körper im Pragmatismus: leiblich gestaltete Umwelt

Neben der Phänomenologie gehört auch der klassische amerika-nische Pragmatismus zu den Inspirationsquellen der Philosophie der Verkörperung.34 Das Triumvirat der klassischen Pragmatisten bilden Charles Peirce (1839-1914), William James (1842-1910) und John Dewey (1859-1952). Im Folgenden wird zunächst der Grund-gedanke des Pragmatismus eingeführt. Im Anschluss daran soll vor allem Deweys Auffassung der Interaktion zwischen Organis-mus und Umwelt dargestellt werden. Denn was Dewey hier im Anschluss an die Ideen seiner pragmatistischen Vorgänger Peirce und James entwirft, stellt die Grundlage für den Enaktivismus dar, ebenso wie die auf Husserl aufbauenden phänomenologischen The-

33 Evan Thompson, Mind in Life. Biology, Phenomenology, and the Science of Mind, Cambridge/MA 2007, S. 413-417 (Appendix B »Husserl and Cognitive Science«). Vgl. auch Shaun Gallagher, How the Body Shapes the Mind, Oxford 2005; ders., Dan Zahavi, The Phenomenological Mind. An Introduction to Philosophy of Mind and Cognitive Science, London 2012.

34 Bisweilen wird auch Ludwig Wittgenstein als wichtiger Vorläufer der Philoso-phie der Verkörperung genannt. So betont etwa Shaun Gallagher: »Wenn man mit dem Begriff der situierten Kognition die kontextuelle Dimension sprachli-cher Praktiken hervorheben will, wobei die Bedeutung eines Begriffs und die Be-deutsamkeit von verbalen und gestischen Handlungen untrennbar sind von der Handlungsumgebung oder von einer Lebensform, dann beschreibt Wittgenstein eindeutig situierte Kognition« (Shaun Gallagher, »Philosophical Antecedents of Situated Cognition«, in: Philip Robbins, Murat Aydede [Hg.], The Cambridge Handbook of Situated Cognition, New York 2009, S. 16. Ü. d. Hg.).

orien die Grundlage für ein Verständnis des menschlichen Geistes als verkörpert und eingebettet legten.35

Zentral für die Pragmatisten ist eine bestimmte Auffassung von experimentellem Forschen und Problemlösen.36 Weder das Lösen von Problemen noch die Forschung funktionieren kontemplativ. Experimente erfolgen nicht allein im Bewusstsein, und Probleme werden nicht ausschließlich in der Vorstellung gelöst. Experimente erfordern kontrollierte Eingriffe und Beobachtungen. Das Lösen von Problemen erfolgt häufig durch ein Ausprobieren und Modifi-zieren. Diesen einfachen Grundgedanken wenden die Pragmatisten nun auch auf die Gegenstände der Erkenntnis an. Diese Gegen-stände liegen nicht einfach vor, sondern sie werden von Lebewe-sen, die Probleme zu lösen haben oder Wissen erlangen wollen, gestaltet, erprobt, verändert und angepasst. Ein Erkenntnisobjekt ist also ein praktischer Gegenstand. Ebenso verwandelte sich un-ter den Augen der Pragmatisten auch die Bedeutung von Begrif-fen, Überzeugungen oder Zeichen mehr und mehr in praktische Konzepte. Der Grundgedanke des Pragmatismus – die sogenannte pragmatische Maxime – bringt diese Orientierung in der Praxis, der der Pragmatismus ja auch seinen Namen verdankt, deutlich zum Ausdruck. Peirce formuliert diese Maxime erstmals in dem Aufsatz »Wie unsere Ideen zu klären sind« (1878):Überlege, welche Wirkungen, die denkbarer Weise praktische Relevanz haben könnten, wir dem Gegenstand unseres Begriffs in der Vorstellung zuschreiben. Dann ist unser Begriff dieser Wirkungen das ganze unseres Begriffs dieses Gegenstandes.37

35 Deweys Einfluss auf die aktuelle Philosophie der Verkörperung ist in erster Linie in den Arbeiten von Mark Johnson manifest, so etwa in The Meaning of the Body. Aesthetics of Human Understanding, Chicago 2007, oder in »Mind Incarnate: From Dewey to Damasio«, in: Daedalus 135 (2006), S. 46-54; Mark Johnson, Tim Rohrer, »We are Live Creatures: Embodiment, American Pragmatism, and the Cognitive Organism«, in: Tom Ziemeke u. a. (Hg.), Body, Language, and Mind, Bd. 1, Embodiment, Berlin 2007, S. 17-54; ders., »Cognitive Science and Dewey’s Theory of Mind, Thought, and Language«, in: Molly Cochran (Hg.), The Cambridge Companion to John Dewey, Cambridge 2010, S. 123-144.

36 Peirce, James und Dewey waren alle auch empirische Forscher und Praktiker. Peirce war den größten Teil seines Erwachsenenlebens als Experimentator tätig, James hat eines der ersten Grundlagenbücher für eine wissenschaftliche Psycho-logie verfasst, und Dewey hat sich u. a. auch als Pädagoge betätigt.

37 Charles Peirce, Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, Frankfurt/M.

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Peirce analysierte mit Hilfe dieser Maxime beispielsweise die Be-griffe der Kraft und der Wahrheit. Kraft ist kein Gegenstand oder Prozess, der etwas hervorbringt, sondern die Kraft ist die Wirkung, die ein Gegenstand oder Prozess unter bestimmten Bedingungen hat: »Folglich sind wir, wenn wir die Wirkungen der Kraft ken-nen, mit jeder Tatsache bekannt, die impliziert wird, wenn wir sa-gen, daß eine Kraft existiert, und mehr gibt es nicht zu wissen.«38 Wahrheit fasst Peirce im Sinne einer Konvergenz wissenschaftlicher Überzeugungen auf. Der Prozess der Forschung besteht in einer zunehmenden Konvergenz von Überzeugungen auf der Grundlage perfektionierter Methoden und Verfahren: »Die Meinung, die vom Schicksal dazu bestimmt ist, daß ihr letztlich jeder der Forschen-den zustimmt, ist das, was wir unter Wahrheit verstehen, und der Gegenstand, der durch diese Meinungen repräsentiert wird, ist das Reale. So würde ich Realität erklären.«39

Im Lexikon-Artikel »Pragmatismus« (1902) erklärt Peirce diese Maxime sozusagen offiziell zum Kennzeichen des Pragmatismus.40 Bekannt wird sie durch William James, der in seiner Vorlesung zum Pragmatismus von 1906/07 diese Denkrichtung mit Hilfe der Peirceschen Maxime definiert:

Um die Bedeutung eines Gedankens herauszufinden, müssten wir also nur bestimmen, welches Verhalten hervorzubringen er in der Lage ist: Dieses Verhalten ist für uns die einzige Bedeutung eines Gedankens. Im Kern all unserer begrifflichen Unterscheidungen steht eine konkrete Tatsache: Wie subtil diese Unterscheidungen auch immer sein mögen, keine ist so raffiniert, dass sie in etwas anderem bestünde als in einem möglichen Un-terschied für die Praxis.41

Problemlösen, Experimentieren, Begriffe verwenden und Überzeu-gungen ausbilden sind keine kontemplativen oder theoretischen Tätigkeiten und Fähigkeiten, sondern praktische. Doch auch die Ergebnisse dieser Tätigkeiten (Lösungen, Hypothesen, Begriffe

1967, S. 195 (The Collected Papers of Charles Sanders Peirce, Cambridge 1931 ff. = CP 5.402).

38 Ebd., S. 201 (= CP 5.404).39 Ebd., S. 205 (= CP 5.407).40 Ebd., S. 315 (= CP 5.2).41 William James, Pragmatismus. Ein neuer Name für einige alte Denkweisen, Darm-

stadt 2001, S. 61 f.

und Meinungen) sind keine eigenständigen und unumstößlichen Endpunkte, sondern wiederum Instrumente zur Beherrschung und Kontrolle der Umwelt sowie zur Regulierung und Ermöglichung von neuen Erfahrungen.

Für Peirce bestand die Funktion der Maxime in erster Linie dar-in, Klarheit in Begriffe und Gedanken einzuführen. James hingegen verbindet die Bedeutung von Begriffen und Gedanken ausdrück-lich mit dem Verhalten und dem Handeln. Sowohl Peirce als auch James führen diese Maxime als ein methodologisches Instrument ein, das dazu dient, herauszufinden und zu klären, was die Bedeu-tung von Begriffen oder Überzeugungen ist. Aber natürlich weist dies darauf hin, dass die Bedeutung von Begriffen und Gedanken in unserem Wissen um die Wirkungen besteht, die sie in unserer Praxis haben. Dieses Wissen ist nun kein explizites theoretisches Wissen, sondern ein implizites praktisches Wissen. Allgemein kann man den Grundgedanken des Pragmatismus so verstehen, dass er dem praktischen ›Wissen-wie‹ vor dem theoretischen ›Wissen-dass‹ den Vorrang einräumt. Man kann sich diesen Punkt auf folgende Weise klarmachen: Wer eine Überzeugung hat, der hat bestimmte Vorstellungen davon, was aus ihr folgt und was nicht, andernfalls wäre es müßig, eine Überzeugung zu haben. Aber diese Vorstel-lung kann nun nicht letztlich auf explizitem ›Wissen-dass‹ beru-hen. Denn ein explizites ›Wissen-dass‹ wäre wiederum nur eine weitere Überzeugung, von der gilt, dass aus ihr bestimmte Dinge folgen würden und andere nicht. Wenn wir nun dieses Wissen um die Konsequenzen wiederum als explizites ›Wissen-dass‹ – als eine dritte Überzeugung – auffassen wollen, wiederholt sich derselbe Gedankengang noch einmal usw. ad infinitum. Es droht also ein unendlicher Regress, wenn wir das Wissen darum, was aus Begrif-fen und Überzeugungen folgt, als explizites ›Wissen-dass‹ verstehen wollen.42 Dieser Regress kann vermieden werden, indem Wissen direkt als ein praktisches Wissen verstanden wird, als ein implizi-tes Wissen darum, welches Verhalten hervorzubringen ein Begriff oder eine Überzeugung in der Lage ist. Die Fähigkeit, einen Begriff

42 Zur Verwandtschaft des Heideggerschen Regressarguments mit Überlegungen, die sich in Michael Polanyis Auffassung des sogenannten ›impliziten Wissens‹ (tacit knowing) bzw. in Gilbert Ryles Behandlung des ›praktischen Wissens‹ (knowing-how) finden vgl. Neil Gascoigne, Tim Thornton, Tacit Knowledge, London 2013, Kap. 1.

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zu verwenden oder eine Überzeugung zu bilden, setzt also dieser Maxime zufolge einen ganzen Hintergrund von praktischem und implizitem Gewusst-wie voraus. Mit Heideggers In-der-Welt-Sein verbindet die Pragmatisten also die Auffassung, dass die sinnvollen Tätigkeiten jedes einzelnen Menschen in einen praktischen Hin-tergrund eingebettet sind. Mit anderen Worten: Die intentionalen Tätigkeiten des Menschen – und das Haben von Begriffen und die Ausbildung von Überzeugungen sind natürlich intentionale Tätig-keiten – sind konstitutiv in einen praktischen Hintergrund einge-bettet. Damit wenden sich die Pragmatisten gegen die Idee, dass praktisches Verhalten durch explizite Überzeugungen gelenkt wird oder gelenkt werden sollte. Diesem Ansatz zufolge wird unsere Fä-higkeit, mit unserer Umwelt zurechtzukommen, dadurch erklärt, dass wir Merkmale unserer Umwelt repräsentieren und dass diese Repräsentationen dann unser Verhalten in einer Umwelt lenken.43 Demgegenüber betonen die Pragmatisten, dass wir es dem gekonn-ten praktischen Umgang mit den Merkmalen unserer Umwelt ver-danken, dass wir Begriffe und Überzeugungen ausbilden, die sich auf diese Umwelt richten. Mehr noch, die Umwelt ist nicht etwas Vorgegebenes, das wir nur noch in Repräsentationen abzubilden hätten, sondern sie wird durch unser Verhalten sozusagen erst auf-gebaut. Damit meinen die Pragmatisten in der Regel nicht, dass wir die Umwelt konstruieren oder erschaffen, sondern sie meinen, dass wir das, worauf es in der Umwelt ankommt, konstruieren und erschaffen, nämlich für uns Bedeutsames und Wichtiges. Bezogen auf das Lösen von Problemen oder die Erforschung der Natur kann

43 In seinen frühen Aufsätzen aus dem Jahr 1868 attackiert Peirce grundlegende Überzeugungen seiner philosophischen Vorgänger, insbesondere in »Questions Concerning Certain Faculties Claimed for Man« und »Some Consequences of Four Incapacities« (Peirce, Pragmatismus und Pragmatizismus [wie Anm. 37], Kap. 1 und 2). Als Inbegriff dieser Überzeugungen betrachtet Peirce Descartes. Descartes habe die Philosophie durch die Fokussierung auf eine fundamentalis-tische und am Streben nach Gewissheit orientierte Epistemologie auf die falsche Fährte geführt. Peirce charakterisiert den Cartesianismus durch eine Reihe von Thesen, die er auf das Schärfste attackiert. Zu diesen Thesen gehört, dass die Philosophie bei einem globalen Zweifel ansetzen müsse, dass das Fundament der Gewissheit im Selbstbewusstsein gefunden werden könne, dass der Rückgriff auf ein Absolutes Wissensansprüche garantieren solle und dass das Denken entweder durch Intuition oder Deduktion zu charakterisieren sei. Diese vier Thesen defi-nieren den »Geist des Cartesianismus« (ebd., S. 40 = CP 5.264).

man sagen, dass die Begriffe und Überzeugungen, die diese Pro-zesse steuern, in diesen Prozessen gleichzeitig erprobt werden. Die-ses Feedback der Erfahrung ist für Begriffe und Überzeugungen konstitutiv. Deren Bedeutung sowie die Bedeutsamkeit von Um-weltmerkmalen werden in diesen interaktiven Prozessen zwischen einem Lebewesen und seiner Umwelt konstituiert. Die Interaktion zwischen Lebewesen und ihren Umwelten ist deshalb von zentraler Bedeutung für den Pragmatismus.

Aufgrund einiger unvorsichtiger Äußerungen (insbesondere von James) wird der Pragmatismus allerdings häufig mit der rein instru-mentalistischen Position assoziiert, dass Überzeugungen allein im Hinblick auf ihre Rolle zur Wunscherfüllung oder Problemlösung bewertet werden sollen. Doch das Kennzeichen des Pragmatismus ist, wie Charles Morris (1901-1979) zu Recht festhält, vielmehr, »daß eine wesentliche Verbindung besteht zwischen Bedeutung und Handlung, so daß das Wesen der Bedeutung nur mit Bezug auf die Handlung geklärt werden kann«.44 Morris lässt jedoch den einengenden Begriff »Handlung« fallen und spricht zunächst allge-meiner von »Verhalten«. Dies bedeutet, dass Morris den pragma-tistischen Ansatz nicht länger als etwas versteht, das Bedeutsamkeit in der menschlichen Welt thematisiert, sondern sich dem Thema Bedeutsamkeit bei Lebewesen überhaupt zuwendet. Wenn wir uns fragen, wie Bedeutung und Verhalten zueinander kommen, so bietet sich der Begriff des Zeichens an. Das Geben von Zeichen ist bestimmt ein bedeutsames Verhalten. Darüber hinaus scheint die Annahme plausibel, dass die Existenz von Bedeutungen an die Existenz von Zeichen gebunden ist. Der Begriff des Zeichens darf dabei nicht allein auf den Bereich der sprachlichen Kommunika-tion beschränkt werden, sondern er trifft die Zeichenverwendung allgemein, ausgehend von biologischen Gemeinsamkeiten der Zei-chenverwendung bei Mensch und Tier. Ihm geht es um den Pro-zess, in dem etwas für ein Lebewesen ein Zeichen sein oder werden kann.45

Für den Pragmatismus ist also nicht der isolierte Organismus wichtig, der auf eine festgelegte Umwelt reagiert, sondern inter-agierende Organismen, die sowohl ihre soziale als auch physische 44 Charles Morris, Pragmatische Semiotik und Handlungstheorie, Frankfurt/M. 1977,

S. 202.45 Charles Morris, Signs, Language, and Behaviour, New York 1946, S. 366.

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Umwelt im Verhalten mitgestalten. Wie in einem einfachen Prozess der Interaktion zwischen zwei Lebewesen Bedeutung entsteht, ver-anschaulicht Georg Herbert Mead (1864-1931), der Soziologe unter den klassischen Pragmatisten, am Beispiel eines Hundekampfes.Feindselige Hunde bedienen sich einer solchen Gestensprache. Sie um-kreisen einander, jaulen und schnappen, warten auf eine Möglichkeit zum Angriff. […] Die Handlung jedes der beiden Hunde wird zum Reiz, der die Reaktion des anderen beeinflußt. Es besteht also eine Beziehung zwischen den beiden; und da der andere Hund auf die Handlung reagiert, wird diese wiederum verändert. Eben die Tatsache, daß der Hund für einen Angriff auf einen anderen bereit ist, wird zu einem Reiz für diesen anderen, seine eigene Position oder seine eigene Haltung zu ändern. Kaum tritt dies ein, löst die veränderte Haltung des zweiten Hundes beim ersten wiederum eine veränderte Haltung aus. Hier werden Gesten ausgetauscht. Es handelt sich jedoch nicht um Gesten in dem Sinne, daß sie etwas besagen. Wir nehmen nicht an, daß sich der Hund sagt: ›Wenn das Tier aus dieser Richtung kommt, wird es mir an die Kehle springen, und ich werde mich so bewe-gen.‹ Es findet aber eine tatsächliche Veränderung in seiner eigenen Posi-tion statt, aufgrund der Richtung, aus der sich der andere Hund nähert.46

In diesem Austausch von Gesten findet eine Kommunikation mit Zeichen statt ohne ein Bewusstsein, dass Kommunikation statt-findet. Die Kommunikation erfolgt durch die Körper der Hun-de, genauer gesagt dadurch, was sie mit ihren Körpern anzustellen in der Lage sind. Ihre Körperbewegungen erhalten Bedeutung in der Interaktion, die Bedeutung wird also fortlaufend durch eine körperliche Tätigkeit erzeugt. Man kann sich leicht vorstellen, wie diese durch und durch verkörperte Tätigkeit zu stabilen Bedeutun-gen führt, dann nämlich, wenn nicht nur einer der Hunde auf ein Verhalten reagiert, sondern beide Hunde auf gleiche Weise auf ein Verhalten reagieren. Mead zufolge wird ein Austausch von Ges-tenzeichen auf diese Weise zu einem Austausch von bedeutungs-tragenden Zeichen [conversation of significant gestures], und zwar dann, wenn diese Zeichen dieselbe Wirkung auf mehrere Lebewe-sen haben.47

46 Mead, Geist, Identität und Gesellschaft (wie Anm. 9), S. 54 bzw. S. 81 f.47 Vgl. ebd., S. 85: »Die Geste ist jene Phase der individuellen Handlung, der sich

andere innerhalb des gesellschaftlichen Verhaltensprozesses befindliche Wesen anpassen. Die vokale Geste wird zum signifikanten Symbol (als solches auf der rein affektiven Seite der Erfahrung unwichtig), wenn sie auf das sie ausführende

Vor diesem Hintergrund wird nun auch Deweys Ansatz ver-ständlich. Dewey versteht unter Kognition in erster Linie Problem-lösen. Als problematisch (unsicher, unstabil, vieldeutig) wird in der Regel eine Umweltsituation wahrgenommen. Die Lösung dieser Situation erfolgt durch eine Kombination von Denken und Han-deln. Das Resultat ist aber nicht nur eine Handlung, sondern eine Veränderung in der Umwelt, die wiederum auf den Organismus zurückwirkt. Was das Lebewesen also, genauer betrachtet, (wieder)herstellt, ist Sicherheit, Stabilität und Eindeutigkeit in seiner Inter-aktion mit der Umwelt. Dewey stellt diesen Ansatz in Erfahrung und Natur (1925/1929) auf eine biologische Grundlage. Die evolu-tionären Anpassungsleistungen von Lebewesen sind Vorläufer der problemlösenden Intelligenz, insofern auch sie auf Umweltprob-leme für einen Organismus reagieren und als Lösung eine Art der Sicherheit, Stabilität und Eindeutigkeit in der Interaktion zwischen Organismus und Umwelt entwickeln. Dies bedeutet auch, dass der intelligente Umgang mit der Umwelt nicht allein auf Denken und Wissen beruht, sondern zunächst in verkörperten Fähigkeiten sedi-mentiert ist. Hochentwickelte Organismen zeichnen sich dadurch aus, dass sie zu kommunikativem und kooperativem Problemlösen fähig sind. In unserem Fall haben wir sogar einen reichhaltigen und hilfreichen Werkzeugkasten entwickelt, der diese Art von sozialem Problemlösen selbst zum Gegenstand hat, nämlich die symbolische und sprachliche Interaktion. In Analogie zu Meads Ansatz entwi-ckelt Dewey eine Theorie der symbolischen und sprachlichen Be-deutung, die auf der vorsprachlichen Praxis des kommunikativen und kooperativen Problemlösens beruht. Es liegt auf der Hand, dass die Entwicklung dieses Werkzeugkastens unsere Wahrneh-mung der physischen und sozialen Umwelt, unsere möglichen Erfahrungen und Probleme auf ungeahnte Weise erweitert und so auch die Umwelt transformiert, in der wir leben. Deweys Auffas-sung der Kognition ist also interaktiv in einem doppelten Sinne: Einerseits besteht die Lösung von Problemen wesentlich in einer Veränderung der Interaktion zwischen Organismus und Umwelt (und nicht in einer Veränderung in der Umwelt bzw. im Organis-

Individuum die gleiche Wirkung ausübt wie auf das Individuum, an das sie ge-richtet ist oder das ausdrücklich auf sie reagiert, und somit einen Hinweis auf die Identität des Individuums erhält, das die Geste ausführt.«

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mus allein) und andererseits erfolgt sie bei uns durch die kommu-nikative und kooperative Interaktion im Medium der Sprache.

Dewey hat diese interaktivistische Auffassung – insbesondere die Interaktion Organismus/Umwelt – schon früh auf eine psycholo-gische Basis gestellt, und zwar durch den Rückgriff auf den Begriff des Reflexbogens [reflex arc].48 Das Begriffspaar ›Reiz/Reaktion‹ stellt das Grundelement der Psychologie Ende des 19. Jahrhunderts dar. Gegen die vorherrschende Tendenz, Reiz und Reaktion für zwei problemlos trennbare Elemente in der psychologischen Er-klärung zu halten, wendet Dewey ein, dass damit der Reflexbogen falsch interpretiert werde. Die Verhaltensphysiologie zeige, dass es sich bei dem Weg vom Reiz zur Reaktion nicht um eine Relation zwischen zwei separaten Elementen handelt, die wie Ursache und Wirkung zusammenhängen, sondern vielmehr um einen dynami-schen Prozess, der den ganzen Organismus in aktiver Auseinander-setzung mit seiner Umwelt zeige. Auf dem Reflexbogen sind nicht ohne Weiteres ein Reiz als Ursache und eine Reaktion als Wirkung zu unterscheiden. Es gibt keine natürliche Grenze, um diese Un-terscheidung zu ziehen. Aus dem Umstand, dass man den Reiz und die Reaktion aus der Beobachterperspektive trennen kann, folgt nicht, dass es sich tatsächlich um getrennte Elemente handelt.49 Zusammenfassend hält Dewey fest:Die Idee des Reflexbogens, wie sie normalerweise verstanden wird, hat ih-ren Mangel darin, dass sie sensorischem Reiz und motorischer Reaktion eine separate psychische Existenz zuschreibt, während diese sich in Wirk-lichkeit stets innerhalb einer Koordination befinden und ihre Bedeutung [significance] allein durch die Rolle erhalten, die sie in der Aufrechterhal-tung oder Veränderung dieser Koordination spielen.50

48 John Dewey, »The Theory of Emotion: Emotional Attitudes«, in: Psychological Review 1 (1894), S. 553-569; ders., »The Theory of Emotion: The Significance of Emotions«, in: Psychological Review 2 (1895), S. 13-32; ders., »The Reflex Arc Con-cept in Psychology«, in: Psychological Review 3 (1896), S. 357-370. Alle in John Dewey, Early Works, Bd. 5, 1895-1898. Early Essays, Carbondale/Ill. 1972.

49 Die Verwechslung der Beobachterperspektive mit dem unter Beobachtung ste-henden psychischen Prozess hat William James als »psychologistischen Fehl-schluss« [psychologist’s fallacy] bezeichnet. Vgl. William James, The Principles of Psychology, Bd. 1, New York 1890, S. 196 f.

50 Dewey, Early Works, Bd. 5, S. 99 (wie Anm. 48; Ü. d. Hg.).

Gemeint ist hier die sensomotorische Koordination, die ein le-bendiger Organismus in der Interaktion mit seiner Umwelt auf-rechterhält oder verändert. In dieser Passage hebt Dewey hervor, dass Reize und Reaktionen nicht als solche Bedeutung für einen Organismus haben, sondern nur innerhalb eines Prozesses der sen-somotorischen Koordination. Reiz und Reaktion sind nur funktio-nal trennbar und erhalten ihre Bedeutung für den Organismus nur innerhalb der sensomotorischen Koordination. Dewey geht noch einen Schritt weiter, wenn er behauptet, dass nicht die Sinnesemp-findung das Entscheidende an einer sinnlichen Wahrnehmung sei, sondern die Wahrnehmungsaktivitäten:

Bei genauerer Analyse zeigt sich, dass wir nicht mit einem sinnlichen Reiz beginnen, sondern mit einer sensomotorischen Koordination […], und in einem gewissen Sinne ist die Bewegung primär, die Empfindung hingegen sekundär, denn es sind die Bewegungen von Körper, Kopf und Augen-muskulatur, die die Qualität dessen, was erfahren wird, bestimmen. Mit anderen Worten, der wahre Beginn ist der visuelle Akt, die Tätigkeit des Schauens, und nicht die Lichtempfindung.51

Damit formuliert Dewey einen Gedanken, der, wie wir in Ab-schnitt 4.4. sehen werden, zentral für den enaktivistischen Ansatz ist.

Deweys Interpretation des Reflexbogens legt nahe, dass Wahr-nehmung und Verhalten direkt aufeinander bezogen sind und eine dynamische Einheit bilden. Mehr noch, diese sensomotorischen Schleifen werden selbst zum Träger von Bedeutung, denn in ihrer Ausbildung lernt der Organismus, was für ihn wichtig ist. Ähnlich wie in Meads Beispiel der kämpfenden Hunde werden sensomoto-rische Schleifen auch zu Trägern von Bedeutung in sozialen Inter-aktionen. Werden diese Interaktionen ritualisiert und stabilisiert, haben wir schließlich eine Grundlage für die Entstehung geteilter, symbolischerer Bedeutung. Auf dieser Grundlage konnte Dewey in seinem weiteren Werk auch Erfahrung, Denken, Wissenschaft und Kunst als etwas verstehen, was auf der Grundlage der Interaktion zwischen Organismus und Umwelt entsteht.52

51 Ebd., S. 97 (Ü. d. Hg.).52 Vgl. John Dewey, Erfahrung und Natur, Frankfurt/M. 1995 [1925]; ders., Kunst

als Erfahrung, Frankfurt/M. 1980 [1934]; ders., Logik. Die Theorie der Forschung, Frankfurt/M. 2002 [1938].

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Ein wesentlicher Aspekt von Deweys Sichtweise besteht also darin, dass Geist, Körper und Umwelt keine separaten Bereiche darstellen, sondern auf das Engste miteinander verbunden sind und sich in dauernder Interaktion befinden.53 Problemlösungen sind nicht gespeicherte Repräsentationen im Geist oder veränder-te Verhältnisse in der Welt, sondern es sind neue Interaktionsfor-men zwischen Organismus und Umwelt, die in neuen Fertigkei-ten verkörpert sind. Ebenso wenig ist die Sprache ein Medium des Ausdrucks geistiger Inhalte, sondern vielmehr ein einzelnen Sprecherinnen und Sprechern in Fleisch und Blut übergegangenes Werkzeug zum kommunikativen und kooperativen Problemlösen und damit auch zur Herstellung neuer stabiler und zuverlässiger Interaktionen zwischen Lebewesen und ihrer sozialen und physi-schen Umwelt.

Dewey behauptet nun nicht, dass die Trennung von Körper und Geist, von Materie und Gedanken ein schrecklicher Denkfeh-ler gewesen wäre. Wir erkennen die Bedeutung dieser Trennung, wenn wir uns, ganz im Geist der pragmatischen Maxime, ihre Wir-kungen vor Augen führen. In verschiedenen Arbeiten zeigt Dewey auf, dass es einer gehörigen Anstrengung bedurfte, den Geist von der Natur zu trennen und sowohl das eine wie das andere zu einer Art selbstgenügsamem Reich zu machen. Die Isolierung dieser bei-den Bereiche erwies sich im Lauf der Moderne als eine epistemische Operation von enormer praktischer Bedeutung. Die Abtrennung der Natur vom Geist und ihre Konzeptualisierung als große mecha-nische Maschine führte zur Entwicklung von Werkzeugen, Tech-nologien und Berufen, die unser Leben geprägt und umgestaltet haben. Ebenso führte die Abtrennung des Geistes von der Natur zu einer Auffassung des Menschen als eines selbständigen, freien und autonomen Individuums. Diese Trennung hat ihre geschicht-liche und ideologische Rolle gespielt und ihre Früchte gezeitigt. Das Problem besteht nun darin, diese nützliche Trennung nicht zu verhärten. Sie ist Ausdruck einer Problemlösung und nicht ein akkurates Abbild der wahren Beschaffenheit der Dinge. Die funk-tionale Trennung der beiden Bereiche ergibt also durchaus Sinn, 53 Dewey gebraucht in diesem Zusammenhang bisweilen den zusammengesetzten

Ausdruck »Einheit von Geist und Körper in Aktion«, vgl. etwa John Dewey, »Körper und Geist«, in: ders.: Philosophie und Zivilisation, Frankfurt/M. 2003 [1928], S. 295.

wenn wir sie als Problemlösung auffassen, wir sollten sie aber nicht als Selbstbeschreibung akzeptieren.

3. Kognitionswissenschaft

3.1. Klassische Kognitionswissenschaft und Künstliche-Intelligenz-Forschung

Mit dem Aufkommen der modernen Informatik und der Künst-lichen-Intelligenz-Forschung ab der Mitte des 20. Jahrhunderts ist auch die Frage danach, was Intelligenz eigentlich ausmacht, auf neue und sehr handfeste Weise diskutiert worden. Allerdings geraten die im letzten Abschnitt eingeführten Einsichten des Pragmatismus und der Phänomenologie dabei in Vergessenheit. Das interaktive Modell des Geistes, das sich in diesen Traditio-nen entwickelt hatte, wird zugunsten eines älteren mechanischen Modells verdrängt, dem die Vorstellung einer geistgleichen Reprä-sentationsmaschine zugrunde liegt. Das Selbstbewusstsein der das Wort führenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler basiert augenscheinlich auf der Gewissheit, über ein gutes Kriterium für die Validität der eigenen Annahmen zu verfügen: Frei nach Giam-battista Vicos Dictum ›Verum et factum convertuntur‹ oder Fred Dretskes Ingenieursprinzip ›If you can’t make one you don’t know how it works‹ präsentiert die Künstliche-Intelligenz-Forschung der ersten Stunde nicht nur beeindruckende Ergebnisse, sondern mit diesen auch ein bestimmtes Bild menschlicher Intelligenz.54

Alan Turing, der Erfinder der nach ihm benannten Turing-Maschine, hat vorgeschlagen, dass digitale Hochleistungscomputer intelligentes Verhalten zeigen, wenn sie Input aufnehmen, nach bestimmten Regeln prozessieren und Output generieren können.55 54 Giambattista Vico artikuliert das Prinzip der Austauschbarkeit des Wahren und

des Geschaffenen im Liber Metaphysicus. De Antiquissima Italorum Sapientia Li-ber Primus, München 1979 [1710]. Fred Dretskes Überlegungen dazu, dass man nur wirklich versteht, was man selbst bauen kann, finden sich in Fred Dretske, »If you Can’t Make One, You Don’t Know How it Works«, in: ders. Perception, Knowledge and Belief, Cambridge/MA 2000, S. 208-227.

55 Alan Turing, »On Computational Numbers. With an Application to the Ent-scheidungsproblem«, in: Proceedings of the London Mathematical Society 2 (1937), S. 230-265.

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Im Umkehrschluss hat dieser Gedanke Einfluss darauf genommen, wie man sich die Maschinerie vorgestellt hat, die dem intelligenten Verhalten des Menschen unterliegt; in diesem Sinne hat Marvin Minsky das menschliche Gehirn als Fleischmaschine bezeichnet.56 In diesem ästhetisch wenig ansprechenden Bild finden sich der wissenschaftliche Überschwang und der krude Materialismus der Künstlichen-Intelligenz-Forschung der ersten Stunde anschaulich verdichtet. Das Gehirn wird buchstäblich als die biologische Hard-ware eines Computers verstanden und unsere Denkprozesse als die Software, die auf dieser Hardware läuft.57

Allen Newell und Herbert Simon, zwei weitere Pioniere der Künstlichen-Intelligenz-Forschung, verfolgten in den späten 1950er Jahren den Gedanken, dass die Bit-Sequenzen eines Computers in der Lage sind, für etwas zu stehen – sprich: etwas zu repräsentie-ren –, und dass die Programme des Computers in der Lage sind, diese Repräsentationen nach bestimmten Regeln miteinander zu verbinden. Newell und Simon nennen dies die physikalisch-sym-bolische Hypothese, die eine exakte Definition weltlicher intelli-genter Prozesse abgeben soll: Ein physikalisch-symbolisches Sys-tem besteht aus einer Menge von Symbolen, die aus physischen Mustern bestehen und als Komponenten in komplexeren Aussa-gen oder ›Symbolstrukturen‹ vorkommen können. Symbolstruk-turen sind aus einer Anzahl von Elementen zusammengesetzt, die physisch miteinander verbunden sind (indem sie z. B. neben-einander stehen). Darüber hinaus beinhaltet ein Symbolsystem eine Anzahl von formalen Regeln, nach denen Symbolstrukturen erzeugt, modifiziert, reproduziert und miteinander verknüpft wer-den können.58 Newell und Simon artikulieren hier einen zentra-len Gedanken für die gesamte klassische Kognitionswissenschaft und für das, was in der Philosophie des Geistes als Computerthe-orie des Geistes oder Computationalismus Schule machen wird: Im Anschluss an die formale Logik und die moderne Informatik lässt sich Intelligenz als in Maschinen realisierte Symbolverarbeitung verstehen. Die Erzeugung, Veränderung und Verknüpfung von

56 Marvin Minsky, Mentopolis, Stuttgart 1990 [1988].57 Eine ausführlichere Diskussion bei Andy Clark, Mindware. An Introduction to

the Philosophy of Cognitive Science, Oxford 2000.58 Allen Newell, Herbert Simon, »Computer Science as Empirical Inquiry. Sym-

bols and Search«, in: Communications of the ACM 19 (1976), S. 113-126.

Symbolstrukturen soll dabei eine veritable Sprache des Geistes darstellen.

Die Logik bietet dabei die Möglichkeit, Schlüsse nach rein formalen Kriterien in wahrheitserhaltender Weise zu ziehen. In Analogie hierzu wird davon ausgegangen, dass sich Computerpro-gramme allein an der Syntax der von ihnen prozessierten Zeichen orientieren könnten. Auf diese Weise würden sie die semantischen Eigenschaften insofern respektieren, als der Wahrheitswert der prozessierten Repräsentationen und deren strukturelle (d. h. syn-taktische) Eigenschaften erhalten bleiben. In diesem Sinne sind nach der Computertheorie, wie sie auch in der Philosophie des Geistes einflussreich geworden ist, Gedanken komplexe Symbole, die sowohl einen semantischen Gehalt als auch syntaktische Eigen-schaften haben. Die Symbole haben semantische Eigenschaften, insofern sie etwas repräsentieren. Das Denken wird nun als Ma-nipulation von Symbolen verstanden, d. h. als eine durch Prozes-soren bewerkstelligte Verarbeitung von Repräsentationen, die sich an den syntaktischen Eigenschaften orientiert. Anders gesagt: Das Denken spielt sich in der eben beschriebenen Sprache des Geistes ab. Im Idealfall sollte sich jeder Denkprozess in einen Algorithmus übersetzen lassen. Er kann deshalb letzten Endes auch als Rechen-prozess verstanden werden.59 Die Existenz von Computern stützt die Behauptung, dass Denken Rechnen ist. Computer können in Symbolen repräsentierte Inhalte nach strukturellen und formalen Kriterien verarbeiten und anspruchsvolle Aufgaben meistern, wie zum Beispiel das Lösen von Integralgleichungen oder das Gewin-nen von Schachpartien, die man traditionellerweise intelligenten Lebewesen zugeschrieben hat.

Dass dies ein großer Schritt für die Künstliche-Intelligenz-Forschung war, wird kaum jemand bestreiten. Allerdings glaubt mittlerweile kaum jemand mehr, dass mit den Erkenntnissen der frühen Künstlichen-Intelligenz-Forschung bereits ein hinreichen-der Begriff zum vollständigen Verständnis menschlicher Intelligenz gefunden worden wäre. Bevor wir uns jedoch der Kritik an der Computertheorie zuwenden, sollen noch einige weitere Grundge-danken der klassischen Kognitionswissenschaft betrachtet werden.59 Diese Idee ist nicht ganz neu. Sie wird bereits von Thomas Hobbes im Levia-

than vertreten. Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und staatlichen Gemeinwesens, Hamburg 2004 [1651].

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Eine wichtige Motivation für die klassische Kognitionswissen-schaft ist die Abkehr vom Behaviorismus und der mit ihm ver-bundenen Annahme, dass sich Intelligenz wissenschaftlich einzig durch die Beobachtung äußerer Verhaltensweisen beschreiben las-se. Damit reduziert der Behaviorismus kognitive Prozesse auf die von außen beobachtbaren Muster von Input und Output. Dem-gegenüber bietet die Annahme, der Geist lasse sich als eine sym-bolverarbeitende Maschine verstehen, die Grundlage für neuarti-ge Theorien über die Beschaffenheit der internen Strukturen des Geistes. Diese Theorien waren zunächst durch stark nativistische Annahmen gekennzeichnet, wie sie sich exemplarisch bei Noam Chomsky finden. Bekanntlich vertritt Chomsky die Ansicht, das menschliche Sprachvermögen basiere auf einer angeborenen Uni-versalgrammatik.60 Daran anknüpfend hat der Philosoph Jerry Fo-dor, ein unermüdlicher Verteidiger der Thesen der klassischen Kog-nitionswissenschaft, die bereits oben skizzierte computationale und repräsentationalistische Theorie des Geistes entwickelt.61 Ebenso wie für Chomsky die Grammatik können für Fodor Begriffe nicht allein durch Erfahrung erworben werden. Vielmehr finden sich im Geist angelegte Grundbegriffe und die Fähigkeit, diese miteinander auf logisch sinnvolle Weise zu verbinden.

Mit der Vorstellung vom Geist als Computer ist auch der Ge-danke verbunden, dass dieser aus verschiedenen funktionalen Teil-elementen besteht. Klassischerweise sind solche Teilelemente die Input-Systeme (bzw. Wahrnehmungsapparate), ein Speicher (bzw. Gedächtniskapazitäten), ein zentraler Prozessor (bzw. höhere ko-gnitive Funktionen) und die Output-Systeme (bzw. motorische Steuerungs- und Handlungssysteme). Diese Grundannahme gibt nun eine bestimmte Reihenfolge der Verarbeitung von Informatio-nen vor: Wir nehmen Informationen aus der Welt durch Wahrneh-mung auf, können diese Daten ordnen (etwa mit Hilfe von Begrif-fen) und weiterverarbeiten und so überlegen, was zu tun ist, und entsprechende Handlungen generieren. Das, was wir traditionel-lerweise mit Denken, Kognition und Intelligenz verbinden, spielt

60 Noam Chomsky, Sprache und Geist, Frankfurt/M. 1999 [1968].61 Vgl. Jerry Fodor, The Language of Thought, Cambridge/MA 1975; ders., Repre-

sentations. Essays on the Foundations of Cognitive Sciences, Cambridge/MA 1979; ders., Concepts. Where Cognitive Science Went Wrong, Oxford 1998.

sich demnach überwiegend im zentralen Prozessor ab.62 Wie wir noch sehen werden, ist schon diese Annahme über die Architektur des Geistes und die Standardform kognitiver Verarbeitung durch die Philosophie der Verkörperung kritisiert worden. Diese hebt die Rolle der zuvor vernachlässigten ›peripheren‹ Elemente hervor.63

Ein entscheidender Einfluss des Computermodells auf die Phi-losophie des Geistes lässt sich anhand des Gedankens darlegen, dass es sich bei den Komponenten des Geistes um funktionale Elemente handelt. In diesem Modell werden die formalen, die strukturellen und endlich auch die kausalen Rollen, die gewisse Elemente in der Informationsverarbeitung und Symbolmanipulation spielen, her-vorgehoben. Solche Rollen müssen zwar materiell realisiert sein, es scheint aber keine entscheidende Rolle zu spielen, wie genau sie materiell realisiert sind. Ebenso wie man einen Dosenautomaten aus Stahl, Blech oder Kupfer bauen kann, solange er Münzen er-kennen, Geld wechseln und Getränke ausgeben kann, so kann man Computerchips, die als Speicher dienen sollen, aus Silizium, aber auch aus zahlreichen anderen halbleitenden Materialien herstellen. Der springende Punkt ist nun, dass dies nichts an der Funktion der symbolischen Verarbeitungsprozesse des Computers und am Gehalt der einzelnen Zustände, in denen er sich befindet, ändern muss. Philosophen wie Hilary Putnam haben sich mit diesem Ge-danken u. a. gegen eine starke Form des Reduktionismus in der Philosophie des Geistes gewendet, nämlich gegen eine bestimmte Identitätstheorie.64 Diese Identitätstheorie identifiziert Typen von kognitiven Zuständen mit bestimmten Typen materieller (neuro-

62 Vgl. hierzu exemplarisch Jerry Fodor, The Modularity of Mind. An Essay on Fa-culty Psychology, Cambridge/MA 1983, und weiterführend Rebekka Hufendiek, Markus Wild, »Faculties and Modularity«, in: Dominik Perler (Hg.), Faculties, Oxford, im Erscheinen.

63 Susan Hurley hat dieses Modell des Geistes prominent als ›Sandwich-Modell des Geistes‹ bezeichnet, und Rodney Brooks hat mit der Subsumtionsarchitektur ein Gegenmodell dazu entworfen; vgl. die Texte von Hurley und Brooks in diesem Band.

64 Hilary Putnam, »Die Natur mentaler Zustände«, in: Peter Bieri (Hg.), Analy-tische Philosophie des Geistes, Bodenheim u. a. 1993 [1960], S. 123-135. Der Funkti-onalismus kann auch als erster Schritt eines Arguments für eine schwächere Ver-sion der Identitätstheorie des Geistes benutzt werden, vgl. David Lewis, »Eine Argumentation für die Identitätstheorie«, in: ders., Die Identität von Körper und Geist, Frankfurt/M. 1989 [1966], S. 7-38.

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naler) Zustände. Putnam schlägt nun vor, kognitive Zustände wie Überzeugungen, Erinnerungen oder Schmerzen nach ihren Funk-tionen zu bestimmen, d. h. nach den kausalen Rollen, die sie im Verhalten des Gesamtsystems einnehmen: Welche Außeneinwir-kungen oder welche anderen kognitiven Zustände können die ent-sprechenden Zustände auslösen? Und welche anderen kognitiven Zustände oder Verhaltensweisen können durch den entsprechen-den Zustand ausgelöst werden? Der frühe Putnam ging davon aus, dass über das Wesen eines kognitiven Zustands alles Interessante gesagt ist, wenn man seine möglichen kausalen Rollen vollständig erfasst hat.

Damit kann man auch gegenüber dem Behaviorismus, der sich methodologisch auf die Beschreibung der beobachtbaren Verhal-tensweisen konzentriert, die interne Systemarchitektur des Geistes in den Blick nehmen, ohne dass z. B. die Introspektion als Mittel bemüht werden müsste. Gleichzeitig kann der Funktionalismus auch streitbare metaphysische Annahmen über das Wesen und die Beschaffenheit kognitiver und mentaler Zustände vermeiden. Sol-che Zustände zeichnen sich, wie bereits gesehen, durch ihre multi-ple Realisierbarkeit aus: Es kommt zur Bestimmung ihrer Identität nicht auf ihre materielle Beschaffenheit an, sondern allein auf die funktionalen Eigenschaften, die ein Zustand innerhalb des Verhal-tens des Gesamtsystems hat. Eine bestimmte Erinnerung könnte nach einem Schlaganfall anders durch das Gehirn realisiert werden als zuvor; Schmerzen können nicht nur Menschen, sondern auch andere Wesen als wir mit anders beschaffenen Gehirnen haben. Am Beispiel des Schmerzes lässt sich aber auch ein Standardkri-tikpunkt am Funktionalismus aufzeigen. Schmerz ist ein Zustand, der sich dadurch auszeichnet, dass er sich auf eine ganz bestimmte Art und Weise anfühlt. Für die kausale Rolle einer Empfindung ist es aber letztlich völlig irrelevant, ob sie sich irgendwie anfühlt oder nicht. Es scheint, dass der phänomenale Aspekt mentaler Zustände im Funktionalismus keinerlei relevanten Platz einnimmt und da-mit ein zentraler Teil des menschlichen Geistes völlig unbeachtet bleibt.65 Funktionalistische Ansätze sind in der Kognitionswissen-schaft wie auch in der Philosophie des Geistes seit den 1960er Jah-ren dominant gewesen. Wie wir noch sehen werden, gibt es inner-65 Vgl. hierzu Ned Block, »Troubles with Functionalism«, in: Wade Savage (Hg.),

Perception and Cognition, Minnesota 1978, S. 261-326.

halb der Philosophie der Verkörperung sowohl positive Anschlüsse an den Funktionalismus als auch Kritik desselben.

Wie oben angedeutet, hat die Künstliche-Intelligenz-Forschung große Erfolge in einzelnen Bereichen gefeiert: Nachdem bereits Alan Turing und Allen Newell in den 1950er Jahren Entwürfe für einen Schachcomputer angefertigt hatten, entwickelten sich schnell reale Programme, die zumindest gegen Anfängerinnen und Anfänger im Schach gewinnen konnten. 1996 schließlich hat der von IBM seit 1985 entwickelte Computer Deep Blue den Schach-weltmeister Garri Kasparow geschlagen. Auch bei der schnellen und fehlerfreien Lösung von Rechenaufgaben übersteigen einfache Computer menschliche Fähigkeiten längst bei Weitem. In ande-ren Bereichen wie der Sprachverarbeitung und der Bilderkennung gibt es hingegen nicht nur Erfolge, sondern auch Probleme zu ver-zeichnen. Im Großen und Ganzen lässt sich festhalten, dass die vielversprechenden Ankündigungen, mit denen die Künstliche-In-telligenz-Forschung angetreten war, sich nicht bewahrheitet haben. So formulierten Newell und Simon 1958 überschwänglich:

Heutzutage gibt es in der Welt Maschinen, die denken, lernen und Dinge erzeugen. Die Fähigkeit dieser Maschinen, diese Dinge zu tun, wird sich darüber hinaus schnell verbessern, sodass in absehbarer Zeit die Bandbreite der Probleme, mit denen sie umgehen können, vergleichbar mit der des menschlichen Geistes sein wird.66

Gut fünfzig Jahre später hat sich diese Ankündigung nicht annä-hernd bewahrheitet. Computer mögen in der Lage sein, besser zu rechnen und Schach zu spielen als Menschen, aber zahlreiche Din-ge, die schon achtjährige Kinder können, wie ein Glas abtrock-nen, ohne es zu zerbrechen, Motive auf Bildern wiedererkennen, auch wenn sie aus ungewöhnlicher Perspektive aufgenommen sind, einen Witz verstehen oder ein Spiel erfinden, können Computer entweder noch gar nicht oder nur in einem sehr eingeschränkten Maß.67

66 Allen Newell, Herbert Simon, »Heuristic Problem Solving. The Next Advance in Operations Research«, in: Journal of the Operations Research Society of America 6 (1958), S. 6.

67 Zum mangelnden Bildverständnis von Computern vgl. auch John Krois, »Für Bilder braucht man keine Augen«, in: ders., Bildkörper und Bildschema, Berlin 2011, S. 155 f.

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Der Philosoph Hubert Dreyfus hat diese Kritik bereits 1972 in dem Buch Was Computer nicht können. Die Grenzen künstlicher Intelligenz artikuliert.68 Dreyfus (wie auch der Philosoph Charles Taylor) entwickelten zudem eine umfassende Kritik an der ›cartesi-anischen Epistemologie‹, die sie der philosophischen Tradition wie auch der klassischen Kognitionswissenschaft attestieren.69 Als Kern dieser Epistemologie sehen sie die Auffassung, dass der Zugang des Subjekts zu Objekten in der Welt durch Ideen vermittelt sein muss. Das denkende Subjekt ist darüber hinaus von der Welt und von seinem Körper strikt getrennt. Geist, Welt und Körper bilden keine Einheit. Der Geist ist ontologisch eigenständig und bezieht sich durch epistemische Vermittler wie Eindrücke, Sinnesdaten, inten-tionale Inhalte oder propositionale Überzeugungen auf Objekte. Nur dank dieser Vermittler kann der Geist die Welt erkennen. Die Epistemologie ist das Studium dieser Vermittlungstätigkeit. Ent-sprechend ist auch das Verhältnis des Geistes zu seinem Körper zu verstehen. Der Geist gibt aufgrund der gewonnenen Inputs Anwei-sungen an seinen Körper weiter, der diese dann ausführt. Die car-tesianische Epistemologie bezeichnet ein grundlegendes Bild un-seres Verhältnisses zur Welt und zu unserem Körper, in dem auch scheinbar anticartesianische Positionen verhaftet bleiben. Taylor und Dreyfus sind der Auffassung, dass beispielsweise die Kantische Unterscheidung von empirischem Inhalt und begrifflichem Sche-ma, Husserls Auffassung von intentionalem Gehalt oder Davidsons Kohärentismus sich im Banne dieses Bildes befinden. Eben weil Husserl, wie wir gesehen haben, im Bild der cartesianischen Episte-mologie gefangen ist, schließen Autoren wie Dreyfus und Taylor an Heideggers Philosophie des In-der-Welt-Seins und Merleau-Pontys Philosophie des Leibs an.70

68 Hubert Dreyfus, Was Computer nicht können. Die Grenzen künstlicher Intelligenz, Frankfurt/M. 1989 [1972]. Dreyfus’ Kritik stimmt im Wesentlichen mit derjeni-gen von John Haugeland überein, vgl. John Haugeland, Artificial Intelligence. The Very Idea, Cambridge/MA 1985.

69 Was in der Philosophie und anderswo als ›cartesianisch‹ oder als ›Cartesianismus‹ apostrophiert wird, entspricht in vielen Fällen nicht dem Bild der Dinge, das Descartes tatsächlich entwickelt und vertreten hat.

70 Dreyfus zufolge bleibt nicht nur Husserl, sondern auch die analytische Phi-losophie im cartesianischen Bild gefangen, vgl. Hubert Dreyfus, »Heidegger’s Critique of the Husserl/Searle Account of Intentionality«, in: Social Research 60 (1993), S. 17-38; »The Primacy of Phenomenology over Logical Analysis«, in:

Stärker noch als in der Philosophie tritt das cartesianische Bild des Geistes in der klassischen Kognitionswissenschaft und in der frühen Künstliche-Intelligenz-Forschung in Erscheinung. Hu-bert Dreyfus hat wie kein anderer Philosoph den ›Cartesianismus‹ ebendieser klassischen Kognitionswissenschaft mit Rückgriff auf Einsichten phänomenologischer Theorien angegriffen. Dreyfus be-schreibt die Künstliche-Intelligenz-Forschung klassischer Proveni-enz als ein Paradebeispiel für das, was in der Wissenschaftstheorie ein fehlgeleitetes Wissenschaftsprogramm genannt wird. Also ein Programm, das mit einem großen Versprechen und erstaunlichen Erfolgen in einem begrenzten Bereich angetreten ist und auf im-mer mehr Bereiche ausgedehnt wird, dort dann aber sehr schnell scheitert. Dieses Scheitern der frühen Künstlichen-Intelligenz-For-schung lässt sich exemplarisch an drei Problemen festmachen:

(a) Der Aufbau einer intelligenten Maschine klassischen Zu-schnitts sieht vor, dass alle durch die Sensoren aufgenommenen Daten zunächst in einen einheitlichen symbolischen Code über-setzt werden müssen, um anschließend in einem zentralen Prozes-sor verarbeitet werden zu können. Dieser Aufbau birgt das soge-nannte Flaschenhalsproblem in sich: Wenn alle eingehenden Daten an einer zentralen Stelle verarbeitet werden sollen, so führt dies zu einem Stau und zu einer entsprechenden Verlangsamung der Da-tenverarbeitung.

(b) Ein weiteres Problem ist das sogenannte Rahmenproblem [Frameproblem]: Computer können genau vorgegebene Aufgaben in endlich vielen Schritten lösen. Menschen können in alltäglichen Situationen aber auch entscheiden, welche Probleme sie überhaupt lösen wollen und welche Informationen dafür relevant sind. Com-puter scheitern in solchen Situationen ständig daran, dass sie zur Erfassung einer komplexen Situation ewig brauchen und keine flexiblen Möglichkeiten zur spontanen Urteilsbildung oder Prio-ritätensetzung haben. Marvin Minsky ging davon aus, dass es sich hierbei um ein quantitatives Problem handelt: Computer müssen mehr Speicherkapazitäten haben, damit ihnen mehr Informatio-

Philosophical Topics 27 (1999), S. 3-24; »A Merleau-Pontyian Critique of Husserl’s and Searle’s Representationalist Accounts of Action«, in: Proceedings of the Ari-stotelian Society 100 (2000), S. 287-302; »Phenomenological Description versus Rational Reconstruction«, in: Revue Internationale de Philosophie 55 (2001), S. 181-196.

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nen zur Verfügung stehen, und sie müssen diese schneller prozessie-ren können. Dreyfus weist aber darauf hin, dass das Verfügen über mehr Informationen allein noch nicht dazu befähigt, relevante von irrelevanten Informationen zu unterscheiden.71

(c) Damit geht ein weiteres und grundlegenderes Problem ein-her, das Problem des alltäglichen Verstehens [common sense un-derstanding]: Menschen verfügen über eine unglaubliche Menge alltäglichen Wissens, auf welches sie zum Lösen ihrer Aufgaben ständig zurückgreifen. Die klassische Kognitionswissenschaft ver-stand dieses als riesige Menge von Daten, bestehend aus Fakten-wissen und Regeln zur Verbindung und Anwendung dieses Fak-tenwissens, und sah einen Teil ihrer Aufgabe entsprechend in der Katalogisierung dieses Wissens. Es scheint aber schwer vorstellbar, dass wir unser Wissen darum, wie man sich etwa die Schuhe zu-bindet, wie man Fahrrad fährt, unter welchen Bedingungen beim Radfahren welche Vorsichtsmaßnahmen geboten sind oder wie man sich am besten seinen Weg durch ein vollgestopftes Zimmer bahnt, in Form von explizitem propositionalen Wissen gespei-chert haben. Die Position der klassischen Kognitionswissenschaft ist, dass es sich hierbei um ein rein quantitatives Problem handelt. Wenn Computer genug Kapazitäten zur Speicherung von Daten haben, werden sie auch vergleichbare Fähigkeiten zum Verständnis von Sätzen haben. Hier setzt Dreyfus’ Kritik an: Das Problem des alltäglichen Verstehens ist nach Dreyfus ein aussichtsloses Problem, solange das alltägliche Wissen ausschließlich als ein Überzeugungs-system oder als System expliziter symbolischer Repräsentationen vorgestellt wird. Zum menschlichen Dasein gehört vielmehr ein unartikuliertes praktisches Wissen oder ein Wissen-wie, auf das wir beim alltäglichen Lösen von Problemen ständig zurückgreifen. Das Konzept, das hier ins Spiel kommt, ist für die Phänomenologie von größter Bedeutung und wird von Dreyfus für seine Kritik an der Künstlichen-Intelligenz-Forschung (KI-Forschung) aufgegrif-fen, nämlich das des Hintergrunds. Das Verständnis der Kogniti-on als ein Problemlösen mag für Bereiche funktionieren, in denen alle möglichen Zustände relativ leicht bestimmt werden können, 71 Hierzu ausführlicher Haugeland, Artificial Intelligence (wie Anm. 68), und Da-

niel Dennett, »Cognitive Wheels. The Frame Problem of AI«, in: Christopher Hookway (Hg.), Minds, Machines and Evolution, Cambridge/MA 1984, S. 129-151.

wie etwa im Fall des Schachspiels: Es gibt eine bestimmte Men-ge an Spielpositionen, Spielregeln, Spielverläufen usw. Bei weniger deutlich definierbaren Tätigkeiten, wie etwa der Aufgabe, ein Auto durch Paris zu steuern, ergeben sich große Schwierigkeiten. Na-türlich gibt es bestimmbare Elemente wie Räder, Fenster, Ampeln, andere Autos, Verkehrsregeln, Verkehrsverhalten. Aber es kommen viele weitere und nur schwer zu bestimmende Elemente hinzu. Sol-len Fußgänger und Tiere beachtet werden? Soll das Wetter berück-sichtigt werden? Die Fahrgewohnheiten in Frankreich? Im Unter-schied zum Schachspielen ist das Autofahren keine klar umgrenzte Tätigkeit. Tatsächlich hängt eine Tätigkeit wie das Autofahren von erworbenen körperlichen Fähigkeiten und einer kontinuierlichen Inanspruchnahme von praktischem Hintergrundwissen ab. Diese praktischen Fähigkeiten können nicht in explizites propositionales Wissen oder in formalisierte Instruktionen gefasst werden. Wenn die Welt, in der wir leben, selbst keine vorbestimmten Grenzen hat, scheint es unrealistisch, dass das alltägliche Verstehen dieser Welt durch eine diskrete Menge von Repräsentationen erfasst wird.

Hier wird deutlich, inwiefern Dreyfus’ Kritik an der cartesia-nischen Epistemologie die klassische Kognitionswissenschaft in besonderer Weise trifft. An den Problemen der Künstlichen-Intel-ligenz-Forschung lassen sich exemplarisch die Grenzen der cartesi-anischen Epistemologie aufzeigen. Ein Geist, der tatsächlich von Körper und Welt getrennt wäre und sich den Zugang zu dieser nur durch Input und symbolische Weiterverarbeitung desselben verschafft, wird niemals spontan mit einer natürlichen Umwelt in-teragieren können.

Inspiriert durch die Phänomenologie Heideggers und Merleau-Pontys, legen Dreyfus und Taylor größten Wert auf den positiven und unabdingbaren Beitrag genuin körperlicher Fertigkeiten und unserer Einbettung in einen Hintergrund von Alltagspraktiken. Sie behaupten, dass wir in unserem alltäglichen praktischen Um-gang mit der Welt und unseren Körpern keinerlei epistemische Vermittler brauchen. Taylor illustriert diesen Punkt an einem ein-fachen Beispiel. Wir können ohne Weiteres zwischen dem Bild ei-nes Objekts (z. B. der Vorstellung des Objekts) und dem Objekt selbst unterscheiden. Wir können jedoch nicht zwischen meinem Umgang mit einem Objekt und dem Objekt unterscheiden, denn im Umgang mit einem Objekt ist das Objekt selbst Teil meiner

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Tätigkeit, was für das Bild des Objekts nicht zutrifft. Ein Beispiel ist das Fußballspiel:

Während man uns sinnvollerweise auffordern kann, uns auf das zu konzen-trieren, wovon wir in Bezug auf etwas, das sogar abwesend sein mag, über-zeugt sind, z. B. einen Fußball, ist es andererseits absurd, dasselbe in Bezug auf das Fußballspielen zu verlangen. Die Handlungen, die wir während des Spiels ausführen, können ohne das Objekt nicht ausgeführt werden, sie beinhalten das Objekt.72

Dieses Beispiel illustriert zwei Punkte: Erstens geht das cartesiani-sche Bild von einer passiven Repräsentation des Objekts durch das Subjekt aus. Zweitens bleiben im cartesianischen Bild die intenti-onalen Inhalte für das Subjekt gleich, ganz unabhängig davon, ob ihnen ein Objekt korrespondiert oder nicht. Beides führt zu einer Unterscheidung zwischen einem Innen (dem Subjekt) und einem Außen (dem Objekt). Das Problem der Erkenntnistheorie besteht nun darin, diese Kluft zu überbrücken. Taylors Beispiel soll vor Au-gen führen, dass sich das Bild ganz anders darstellt, wenn wir von einem Subjekt ausgehen, das praktisch mit einem Objekt umgeht. Dies kann weder unabhängig von der Präsenz des entsprechenden Objekts geschehen noch unabhängig von einem verkörperten Sub-jekt, das mit dem Objekt praktischen Umgang pflegt.

Was die Kritik der klassischen Kognitionswissenschaft zeigt, ist, dass die Künstliche-Intelligenz-Forschung einen ganz bestimmten Begriff von Intelligenz anlegte, der sich als sehr eng erwiesen hat und bestimmte Probleme aufwarf. Rodney Brooks hat diese Kritik polemisch zugespitzt:

Wenn man nach den Projekten aus den frühen Tagen der KI-Forschung urteilen wollte, müsste man Intelligenz als das definieren, was hoch ge-bildete männliche Wissenschaftler am meisten interessiert. Damals galt es als interessant, Computer Schach spielen zu lassen, Integralgleichungen zu berechnen […], mathematische Theoreme zu beweisen oder komplizier-te Probleme der Wortalgebra zu lösen. Aufgaben, die ein vier- oder fünf-jähriges Kind mühelos bewältigen kann, wie zum Beispiel zwischen einer Kaffeetasse und einem Stuhl zu unterscheiden, auf zwei Beinen gehen oder seinen Weg vom Schlafzimmer zum Wohnzimmer finden, galten nicht als

72 Charles Taylor, »Overcoming Epistemology«, in: ders., Philosophical Arguments, Cambridge/MA 1995, S. 12.

intelligente Leistungen. Auch ästhetische Urteile wurden nicht zum Reper-toire der intelligenten Fähigkeiten gezählt.73

Ebenjene Künstliche-Intelligenz-Forschung sah sich vor Probleme gestellt, sobald sie ihre Modelle in einen realen Roboter implemen-tierte, der sich in einer realen Umwelt bewegen können sollte. Die Roboter dieser Generation saßen still und rechneten einige Minu-ten, bevor sie einen Schritt vorwärts taten und sich wieder zum Rechnen zur Ruhe setzten.

Eine erste Reaktion auf diese Probleme findet sich im Konnek-tionismus, der in der Kognitionswissenschaft ab den 1980er Jahren an Bedeutung gewann. Der Konnektionismus zog seine Inspiration aus den frühen neurowissenschaftlichen Arbeiten und insbesondere aus Arbeiten des Psychologen Donald Hebb. Hebb hatte bereits 1949 vorgeschlagen, dass die Lernfähigkeit von Neuronen auf ihrer gleichzeitigen Stimulierung basiere, die die Verbindung zwischen ihnen verstärke. Vor diesem Hintergrund erschien es bald wenig aussichtsreich, intelligentes Verhalten vollständig im Sinne eines Symbolsystems zu formalisieren. Deswegen wurde es zur neuen Aufgabe der Künstlichen Intelligenz, diejenigen Vorgänge zu au-tomatisieren, durch die auch ein biologisches neuronales Netzwerk lernt, Muster zu unterscheiden und angemessen zu reagieren.

Um ein neuronales Netzwerk zu simulieren, braucht man keine im Voraus festgelegten und von Verarbeitungsprozessen losgelösten Regeln, sondern eine Lerngeschichte, in der Input-Output-Rela-tionen definiert werden. Das Netzwerk organisiert sich in einem solchen Lernprozess selbst, indem es seine Parameter so justiert, dass diese die Inputs mit den Outputs verknüpfen. Konnektio-nistische Netzwerke bestehen aus sehr einfachen Prozessoren, die massiv miteinander verschaltet sind und parallel Informationen verarbeiten. Der Aktivierungswert jedes einzelnen Prozessors kann sich ständig in Reaktion auf die Aktivität der anderen Prozesso-ren verändern. Die Verbindungen zwischen den Prozessoren legen fest, wie Input in Output transformiert wird. Wissen ist so nicht in symbolischen Strukturen festgeschrieben, sondern in Mustern numerischer Stärke der Verbindungen zwischen den Prozessoren.

Ein konnektionistisches Netzwerk unterscheidet sich von den 73 Rodney Brooks, Menschmaschinen. Wie uns die Zukunftstechnologien neu erschaf-

fen, Berlin 2002, S. 45.

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Computern der klassischen KI, weil es durch Trial and Error kon-ditioniert wird. Erfolgreiche Verbindungen werden erneut ausge-löst. Man könnte sagen, dass ein konnektionistisches Netzwerk auf der Basis von alten Fällen verallgemeinert und damit erfolgreich lernt. Ein solches Netzwerk ist natürlich schneller als traditionelle Computerarchitekturen und deshalb in geringerem Ausmaß vom Flaschenhals-Problem betroffen. Das gilt auch für die lokale Ver-arbeitung: Konnektionistische Netzwerke haben in der Regel kein zentrales Steuerungssystem, von dem alle Informationen ›abgeseg-net‹ werden, ehe ein Output produziert wird. Die lokale Steuerung konnektionistischer Netzwerke lässt sich eher mit Situationen im Straßenverkehr vergleichen, bei denen es für alle gültige Regeln gibt, die einzelnen Akteure aber jeweils eigenständig nach diesen Regeln agieren.

Ähnlich wie dies die Computertheorie des Geistes in Bezug auf Behaviorismus und Identitätstheorie getan hatte, beansprucht der Konnektionismus, in Absetzung von der klassischen Computer-theorie ein überzeugenderes Modell menschlichen Denkens vor-zulegen. Dem Konnektionismus zufolge ist der Geist ein konnek-tionistisches Netzwerk. Konnektionistische Netzwerke entsprechen in dem, was sie können und nicht können, in mancher Hinsicht viel eher dem menschlichen Geist als traditionelle Digitalrechner. Netzwerke können lernen, müssen aber nicht alles als explizite Re-präsentation im Kopf behalten; sie können rechnen, sind aber in den von ihnen berechneten Ergebnissen nicht immer ganz exakt; sie können Wahrgenommenes gut wiedererkennen, trotz etwai-ger Unschärfen, und vermittels dieser Unschärfen auch ähnliche Elemente unter eine Kategorie subsumieren. Zudem ist die Simu-lation einer massiv parallelen Verarbeitung vermutlich der Archi-tektur des menschlichen Gehirns ähnlicher als ein Computer. Der Konnektionismus beansprucht deshalb, einen ›gehirnähnlichen Aufbau‹ künstlicher Systeme geschaffen zu haben. Zwischen dem Empfang eines Reizes und der Reaktion auf ihn haben nur unge-fähr 100 Neuronen Zeit zu feuern. Die Geschwindigkeit, mit der Verarbeitungsprozesse im Gehirn stattfinden, lässt sich entspre-chend kaum anders als durch massive parallele Verarbeitung er-klären. Die Unterschiede zu menschlichem Lernverhalten bleiben allerdings signifikant: Das Training konnektionistischer Netzwerke erfolgt durch Tausende von Beispielen, Menschen lernen zumin-

dest einige Dinge sehr viel schneller, was auf zum Teil angeborene Strukturen verweisen könnte. Zudem wird der konnektionistische Computer – ein Computer bleibt er – natürlich von außen gefüt-tert und korrigiert.

Im übernächsten Abschnitt werden wir sehen, wie sich die Kog-nitionswissenschaft durch den Fokus auf Körper und Umwelt und das Aufgeben der strikten Begrenzung auf das Innere des Kopfes über den Konnektionismus hinaus weiterentwickelt hat. Zunächst werden wir uns aber mit dem Erstarken der Neurowissenschaft in-nerhalb der Kognitionswissenschaft beschäftigen, die sowohl mit konnektionistischen Theorien in Zusammenhang steht als auch mit den neuen technischen Möglichkeiten zur Messung neuronaler Aktivität.

3.2. Kognitive Neurowissenschaft

Im Anschluss an die dargelegte Ausrichtung der klassischen Kog-nitionswissenschaft auf die KI-Forschung gilt es, eine weitere Aus-richtung in den Blick zu bekommen, die die heutige Kognitions-wissenschaft zu einem großen Maße bestimmt: der direkte Fokus auf das menschliche Gehirn in der Neurobiologie und den kog-nitiven Neurowissenschaften. Die Neurowissenschaft ist, wie der Name schon sagt, zunächst und vor allem die Wissenschaft vom Gehirn und den Eigenschaften der Neuronen, aus denen es sich zusammensetzt. Sie richtet sich sowohl auf die kleinsten, subneu-ronalen Einheiten als auch auf die in bestimmten Rhythmen koor-dinierte Gesamtaktivität des Gehirns.

Wurden die Philosophie des Geistes und die Kognitionswis-senschaft ab den 1960er Jahren vor allem durch die KI-Forschung angetrieben, so ist es heute zu einem überwältigenden Teil die Wis-senschaft vom Gehirn. Erforscht werden die verschiedenen Areale, die dort ablaufenden Prozesse und die Eigenschaften der verschie-denen Bausteine, denen ein Erklärungsprimat in Bezug auf geistige Zustände zukommt. Die Entwicklung komplexer Messtechniken und nichtinvasiver Methoden, die es erlauben, dem menschlichen Gehirn gleichsam bei der geistigen Arbeit zuzusehen – insbeson-dere die seit den 1990er Jahren eingesetzte funktionelle Magne-tresonanztomographie (fMRT) –, hat diesen Forschungen einen enormen Schub gegeben. Dadurch ist die Neurowissenschaft zur

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Leitdisziplin bei der Erforschung intelligenten Verhaltens und des Mentalen geworden. Das Versprechen, dass mit der Lokalisation gewisser Fähigkeiten auch tiefere Einsichten in diese Fähigkei-ten gewonnen werden können, hat zu einer Verbreitung gewisser Neuro-Disziplinen geführt, zu denen u. a. die Neuroökonomie, die Neurodidaktik oder die Neurophilosophie gehören.74

Wie verhält sich nun eine solche neurobiologische Wissenschaft des Geistes zu den bisher besprochenen Modellen? Diese Frage stellt sich insbesondere deshalb, weil wir bereits gesehen hatten, dass auch die KI-Forschung sich gewisse Einsichten in die Funkti-onsweisen des biologischen Gehirns zunutze gemacht hat. In erster Linie unterscheidet sich das, was als experimentelle Erfolge in den verschiedenen Bereichen betrachtet werden kann. Ein zentraler Be-reich zumindest der kognitiven Neurowissenschaft strebt danach, bestimmte Hirnareale – oft als AOIs (areas of interest) bezeichnet – oder Aktivierungsmuster zu identifizieren, die unmittelbar mit einer bestimmten kognitiven Fähigkeit oder einem mentalen Zu-stand korreliert sind. Beispiele mögen das visuelle Erkennen oder Kategorisieren eines Objekts oder das Hören eines bestimmten Klangs sein, denen z. B. bestimmte Areale zugeordnet werden, die bei der Ausübung dieser kognitiven Fähigkeiten mehr Aktivität zeigen als in gemessenen Vergleichssituation, in denen das Sub-jekt keine Klänge hört und keine Objekte kategorisiert. Die KI-Forschung strebt hingegen in erster Linie danach, eine bestimme geistige Fähigkeit (wie das Schachspielen oder auch das Erkennen eines visuellen Musters) in einer Maschine zu implementieren und dadurch zu simulieren. Während das Forschungsprogramm der KI auf Simulation und Implementation des Geistes in einem artifizi-ellen Körper ausgerichtet ist, ist die kognitive Neurowissenschaft bestrebt, die neuronalen Korrelate des Geistes im Gehirn zu iden-tifizieren und damit dessen Funktionsweise besser zu verstehen. Keiner der in diesem Band versammelten Texte zur Philosophie der Verkörperung würde die Relevanz dieser Forschung und die ent-scheidende Rolle, die das Gehirn bei der Realisierung kognitiver Prozesse einnimmt, leugnen wollen. Dennoch ist all jenen Texten, die auf Entdeckungen der kognitiven Neurowissenschaften einge-74 Einen guten Überblick über die aktuell sich verbreitenden »Neuro-X-Diszipli-

nen« und eine Kritik des mit ihnen einhergehenden Neuro-Enthusiasmus gibt z. B. Felix Hasler, Neuromythologie, Bielefeld 2012.

hen, gemeinsam, dass sie eine Einbettung solcher Entdeckungen in das Verständnis der Verkörperung des Gesamtorganismus und seiner Interaktion mit der Umwelt als entscheidendes Moment einer reicheren und reiferen Kognitionswissenschaft ansehen. Es geht also nicht darum, die Rolle der neuronalen Verbindun-gen und Aktivitäten im Gehirn zu leugnen, sondern darum, sie in die konzertierte Aktivität des Körpers und des interagierenden Subjekts einzubetten. Damit wird aber zugleich der Anspruch der Neurowissenschaften, die Leitwissenschaft für die Erforschung der Kognition zu sein, grundsätzlich in Frage gestellt.

Die Erklärungskraft der Ergebnisse der Neurowissenschaft für den menschlichen Geist ist nämlich einigen Zweifeln ausgesetzt. Dies gilt insbesondere für den großen Einfluss, den die bildgeben-den Verfahren in den Neurowissenschaften eingenommen haben und die den Eindruck vermitteln, man hätte einen direkten Zugriff auf die notwendigen und hinreichenden Prozesse, die dem menta-len Zustand einer Probandin zugrunde liegen. Bei den berühmt-berüchtigten fMRT-Scans etwa handelt es sich um die Visualisie-rung von Durchblutungsvorgängen in bestimmten Gehirnarealen, die auf Stoffwechselveränderungen zurückgeführt werden, von denen angenommen wird, dass sie mit neuronaler Aktivität in un-mittelbarem Zusammenhang stehen. Die Annahme eines solchen Zusammenhangs ist so weit nicht unplausibel, aber der Schluss von hier auf den alleinigen Realisierungsort eines kognitiven Prozesses ist eben doch ein sehr großer und hypothetischer Schritt. Mögli-cherweise würde die Messung anderer Eigenschaften von Neuro-nen oder der sich über weite Bereiche des Gehirns erstreckenden Verbindungen zu ganz anderen Ergebnissen und anderen Rück-schlüssen auf kognitive Prozesse oder Korrelate führen.75

Um die Erklärungsleistung, aber auch die Erklärungsgrenzen der klassischen Neurowissenschaft zu verdeutlichen, lohnt es sich, zwei Beispiele zu betrachten.

(a) Bereits in den 1950er Jahren führten die Neurowissenschaft-ler David Hubel und Torsten Wiesel Forschungen zu den rezepti-ven Feldern einzelner Nervenzellen im visuellen Kortex von Kat-75 Vgl. Nikos Logothetis, »What We Can Do and What We Cannot Do with

FMRI«, in: Nature 453 (2008), S. 869-878; Russell Poldrack, »Can Cognitive Pro-cesses Be Inferred From Neuroimaging Data?«, in: Trends in Cognitive Sciences 10 (2006), S. 59-63.

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zen (später auch von Affen) durch.76 Als das ›rezeptive Feld‹ einer Nervenzelle wird der Außenweltinput bezeichnet, der diese Zelle am stärksten aktiviert. Anhand von Einzelneuronenablesungen stellten Hubel und Wiesel fest, dass gewisse Neuronen im soge-nannten ›striären visuellen Kortex‹ selektiv auf relativ komplexe Außenwelteinflüsse reagierten. So waren bestimmte Neuronen am aktivsten, wenn ein leicht gekippter schwarzer Balken vor einem weißen Hintergrund in einer bestimmten Richtung durch das vi-suelle Feld geschoben wurde. Diese faszinierenden Einsichten in die Funktionsweise und Spezialisierung von einzelnen Zellen, die selektiv auf bestimmte Aspekte des visuellen Feldes reagieren, wur-den ausgeweitet in der Hoffnung, auch im menschlichen Gehirn einzelne Neuronen zu finden, die für komplexe mentale Begriffe oder bestimmte Objekte verantwortlich sind. Die Suche nach der-art spezialisierten einzelnen Neuronen wurde zunächst allerdings unter dem Begriff des »Großmutterneurons« – damit wird ein Neu-ron bezeichnet, das ausschließlich für die Erkennung der persönli-chen Großmutter zuständig sein soll – verspottet. Dennoch gelang es auch für komplexere Konstrukte und Objekte, wie z. B. für das Opernhaus in Sidney, Neuronen beim Menschen nachzuweisen, die nicht nur feuerten, wenn Bilder des Gebäudes aus verschie-denen Perspektiven gesehen wurden, sondern auch dann, wenn nur der Schriftzug ›Opernhaus Sidney‹ gelesen wurde. In solchen Studien wurde also gezeigt, dass nicht nur ein Aspekt (wie eine Kante oder eine Linie) mit einem Neuron verbunden sein kann, sondern auch höherstufige und abstrakte Elemente. Damit schien die Neurowissenschaft eine Theorie, wie sie etwa Fodor vertreten hat, teilweise zu bestätigen, die bestimmte mentale Gehalte gleich-sam als semantische Einheiten gemäß der Theorie der Verarbeitung von physikalisch realisierten Symbole im Gehirn verankert.

Solch eine Sichtweise steht jedoch auch vor Problemen. Ers-tens hat sich eine Generalisierung der Ergebnisse, die in Bezug auf einzelne Zellen im visuellen Apparat erbracht wurden, auf andere Bereiche im Gehirn weitgehend als empirisch nicht haltbar heraus-gestellt. Die Verarbeitung und Speicherung von Information im Gehirn funktioniert über unzählige kleine Veränderungen inner-halb eines riesigen Netzwerks und damit anders, als das Großmut-76 Vgl. David Hubel, Torsten Wiesel, »Receptive Fields of Single Neurones in the

Cat’s Striate Cortex«, in: The Journal of Physiology 148 (1959), S. 574-591.

terneuronen-Modell vermuten lässt. Selbst wenn man eine starke Korrelation einzelner Zellen zu gewissen semantischen Elementen nachweisen kann, wird diese dennoch durch ein breites semanti-sches Netz aufrechterhalten, das neue mit alten Informationen in Verbindung setzt oder bei Ausfall und Verlust einer solchen Groß-mutterzelle deren Informationen in einer anderen Zelle ablegen kann.

Eine verkörperungstheoretische Variante der Kritik solcher neu-ronalen Modelle der Informationsspeicherung geht noch einen Schritt weiter und versteht die Verteilung der Repräsentation als etwas, das über die neuronalen Realisierungen hinausgehen kann. Sie stellt sich die Frage, was dagegen spräche, eine hybride Form der Speicherung anzunehmen, die sich sowohl aus neuronalen als auch aus nichtneuronalen Realisierungen zusammensetzt. Warum sollte man gewisse Fähigkeiten eines Organismus nicht als etwas auffassen, das in dessen morphologischem Aufbau (mit)gespeichert wird? Man kann die Grenze des Organismus sogar überschreiten und sich die Frage stellen, warum nicht Teile von Überzeugungen oder Erinnerungen außerhalb des Organismus gespeichert sein können, z. B. in dem Speicher eines Mobiltelefons, wie eine Vari-ante der Verkörperungsphilosophie behauptet, die wir weiter unten diskutieren werden (vgl. Abschnitt 4.1.).

(b) Die Neurowissenschaftler Francis Crick und Christof Koch haben mit ihrem Vorschlag zur Lokalisierung der neuronalen Kor-relate des Bewusstseins in der jüngeren Geschichte der Neurowis-senschaft Furore gemacht. Dieses geht über den Anspruch, gewisse kognitive Elemente im Gehirn zu identifizieren (wie bei der Suche nach den Großmutterneuronen), hinaus, insofern gerade die Loka-lisation des Bewusstseins immer wieder als schwieriges und unlös-bares Problem für die Neurowissenschaften angeführt worden ist.77 Die beiden Autoren wenden sich in ihren Texten explizit gegen bereits vorliegende funktionalistische Erklärungen des Geistes, die einerseits das Thema der bewussten Erfahrung ausgeklammert und andererseits mit dem Fokus auf eher abstrakte kausale Rollen die konkrete Ebene der Neuronen und damit die neuen Erkenntnisse der Neurobiologie vernachlässigt hätten: »Wir vermuten, dass die Zeit reif ist, um das neuronale Korrelat des Bewusstseins anzuge-77 Vgl. Francis Crick, Christof Koch, »Towards a Neurobiological Theory of Con-

sciousness«, in: Seminars in the Neurosciences 2 (1990), S. 263-275.

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hen. Darüber hinaus glauben wir, dass das Problem des Bewusst-seins letztlich nur durch Erklärungen auf der neuronalen Ebene gelöst werden kann.«78 Ihre Lösung des Rätsels des Bewusstseins sieht dann z. B. für das visuelle Bewusstsein vor, dass gewisse hö-here neuronale Areale, die mit Aufmerksamkeitssteuerung befasst sind, auf frühere Systeme, die vor allem sensorische Informationen verarbeiten, zurückwirken. Dadurch wurde eine Feuerungs-Syn-chronisation (im Bereich von 40-70 Hertz) derjenigen Neuronen verursacht, welche die Informationen kodiert haben, die für die jeweilige bewusste Erfahrung relevant sind.

Auch anhand dieses zweiten Beispiels wird der Neurozentrismus der Kognitionswissenschaft – oder der »Neuronale Naturalismus«, wie ihn Paul Thagard genannt hat79 – sehr deutlich. Im Gegensatz zu den Einzelzellauslesungen im ersten Beispiel, die letztlich nur gewisse Eigenschaften von Nervenzellen beschreiben und bei de-nen sich eine semantisch-mentale Interpretation dieser Ergebnisse als problematisch erweist, wird hier ein klares Erklärungsprimat der Neurowissenschaften für bewusste, mentale Zustände gegenüber anderen wissenschaftlichen Ansätzen behauptet. Die Wissenschaft des Geistes und insbesondere des Bewusstseins, so das Urteil von Crick und Koch, wird ausschließlich eine Wissenschaft des Gehirns sein. Neuronen und ihre Eigenschaften sind notwendig und hinrei-chend, um Geist und Bewusstsein zu erklären. Alle Hoffnung auf Fortschritt ist gebunden an die Entdeckung bisher unerschlossener oder zu schlecht verstandener Eigenschaften solcher Neuronen und Neuronenverbände.

Dieses Modell hat aus dem philosophischen Lager einige Kritik erfahren, die darauf abzielt, dass zwischen einer objektiven Wis-senschaft, die aus der Perspektive der dritten Person auf das Be-wusstsein blickt, und der subjektiven Erfahrung, die einen subjek-tiven Zugang zum Bewusstsein hat, eine nicht zu überbrückende Erklärungslücke klafft.80 In eine ähnliche Kerbe schlagen auch ei-

78 Ebd., S. 263 (Ü. d. Hg.)79 Paul Thagard, The Brain and the Meaning of Life, Princeton 2010, S. 6.80 Das Argument der Erklärungslücke geht auf Joseph Levine zurück: »Materia-

lismus und Qualia. Die explanatorische Lücke« [1983], in: Thomas Metzinger (Hg.), Grundkurs Philosophie des Geistes. 1. Phänomenales Bewusstsein, Paderborn 22009, S. 103-115. Die Erklärungslücke besteht v. a. in Bezug auf das phänomena-le Bewusstsein oder Qualia, wie sie prominent in Thomas Nagel, »Wie ist es, eine

nige Verkörperungstheoretikerinnen und -theoretiker, die kritisie-ren, dass nichts an den neuronalen Verbindungen an sich bewusste Erfahrungen erklären könne. Ihnen zufolge ist die Frage deshalb schlicht falsch gewählt: Anstatt zu fragen, wie ein Lokus innerhalb des Gehirns Bewusstsein möglich macht, sollte man danach fragen, welche gesamtkörperlichen Aktivitäten gewissen mentalen Zustän-den unterliegen. Sie bieten deshalb Alternativmodelle an, die den Bereich der Elemente, die in den Erklärungen auftauchen, über die Neuronen hinaus ausdehnen und die eine stärkere Erklärungs-kraft in Bezug auf die reichhaltigen und komplexen phänomenalen Elemente einer bewussten Erfahrung haben sollen als der Verweis auf Eigenschaften neuronaler Verbindungen allein. Was demnach am direktesten mit einer bewussten Erfahrung korreliert, ist diesem Modell zufolge ein Muster oder eine Regelmäßigkeit in den Inter-aktionen des Gesamtorganismus mit der Umwelt.

Das Feld der Neurowissenschaft ist heute so facettenreich und entwickelt sich gleichzeitig so rapide weiter, dass es schwerfällt eine abschließende Bestimmung und Bewertung ihrer Methoden und Ergebnisse zu geben. Der springende Punkt aus der Sicht einer Philosophie der Verkörperung ist jedoch, dass eine allgemeine Ko-gnitionswissenschaft, die sich ausschließlich auf das Gehirn fokus-siert, entscheidende explanatorische Mittel unberücksichtigt lässt. Sie verfügt somit nicht über das theoretische Vokabular, um die neuronale Aktivität in die Gesamtaktivität des Organismus einzu-binden, und sie gerät in Gefahr, alternative und einfachere Erklä-rungen und Muster, die die Interaktion des Organismus und seine Einbettung in die Umwelt betreffen, zu übersehen. Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, dass in den Untersuchungen, die heute in Scannern gemacht werden, die körperliche Aktivität der Subjekte künstlich eingeschränkt wird, da sie zu Messfehlern führen wür-de. Die Neurowissenschaft ist damit geradezu methodisch auf eine Ausschaltung der Gesamtaktivitäten des Organismus festgelegt.

In diesem Sinne könnte man auch bei den Neurowissenschaf-ten – wie bereits zuvor bei der zu engen Auffassung von Intelligenz bei der KI-Forschung – von einem fehlgeleiteten Wissenschaftspro-

Fledermaus zu sein?«, in: Peter Bieri (Hg.), Analytische Philosophie des Geistes, Bodenheim u. a. 1993 [1974], S. 261-275, beschrieben worden sind. Vgl. dazu die kurze Diskussion zum sogenannten ›schwierigen Problem des Bewusstseins‹ aus der Sicht des Enaktivismus in Abschnitt 4.4. dieser Einleitung.

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gramm sprechen. Aufgrund der Einsichten in die Funktionsweise von Neuronen, in die neuronalen Verbindungen und die wichtige Rolle, die deren Eigenschaften für unsere intelligenten Interakti-onen mit der Welt spielen, wird vorschnell verallgemeinert, dass deren Eigenschaften notwendig und hinreichend für die Erklärung bestimmter kognitiver Prozesse und Zustände seien. Es wird damit ein Erklärungsprimat für den gesamten Bereich intelligenten Ver-haltens bis hin zu höheren mentalen Prozessen und Bewusstsein beansprucht. Nicht zuletzt wurde dadurch in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten massiv auf den Gang weiterer Forschungen Ein-fluss genommen. Unendlich viele Gelder flossen in bildgebende Verfahren und umfassende Versuche, das Gehirn zu kartographie-ren. Viele andere und teilweise viel einfachere Testverfahren, wie etwa psychophysiologische Messungen, wurden darüber vernach-lässigt.

Demgegenüber nehmen die Versuche der Philosophie der Ver-körperung, die Prozesse im Gehirn in umfassendere Erklärungen einzubetten, die unterschiedlichsten Formen an. Einerseits gibt es Theorien, die sich dem Organismus oder Körper und seiner In-teraktion mit der Umwelt jenseits der Neurowissenschaft widmen. Diese greifen auf die Biologie, die Robotik oder die komplexe Sys-temtheorie zurück, um die Phänomene zu erklären, denen sich auch die kognitive Neurowissenschaft widmet. Andererseits gibt es auch direkte Kritik an den neurowissenschaftlichen Einsichten, z. B. in der Auseinandersetzung mit der Erklärungskraft, die der Bezug auf neuronale Repräsentationen für die Ausprägung bestimmter men-taler Erfahrungsgehalte haben soll. Anhand der Ausführungen in dieser Einleitung ist bereits deutlich geworden, dass sich nicht eine dominante Philosophie der Verkörperung ausgeprägt hat. Im Fol-genden wird es deshalb darum gehen, die wichtigsten philosophi-schen Stoßrichtungen, die sich in den letzten Dekaden entwickelt haben, zu identifizieren und zueinander und zu anderen Theorien der Philosophie des Geistes und der Kognitionswissenschaften in Beziehung zu setzen.

4. Philosophien der Verkörperung

Im Laufe der letzten Jahre hat es sich bei Autorinnen und Autoren, die sich mit den Entwicklungen in den Kognitionswissenschaften befassen, geradezu eingebürgert, von einem ›4-E-Ansatz‹ zu spre-chen. Dieser Ansatz nimmt Ideen einer Philosophie der Verkörpe-rung auf und hebt sich somit von den neurowissenschaftlichen Ko-gnitionswissenschaften ab. Der Geist kann demzufolge als extended (ausgedehnt), embedded (eingebettet), embodied (verkörpert) und enactive (enaktiv oder hervorbringend) angesehen werden. Wie wir jedoch sehen werden, ist die Rede von einem Ansatz hier eher irre-führend. Dennoch ist es hilfreich, den vier Es, die für verschiedene Aspekte einer Philosophie der Verkörperung stehen, nachzugehen. Viele der Texte im vorliegenden Band sind in ihrer Grundausrich-tung einem oder mehreren dieser Aspekte zuzuordnen.81 Eine Mög-lichkeit, sich diesen Aspekten zu nähern, besteht darin, sich der Fra-ge zu widmen, wie sie sich jeweils zu traditionelleren Ansätzen in der Philosophie des Geistes und der Kognitionswissenschaft verhalten.

4.1. Der ausgedehnte Geist

Wie bereits angesprochen, ist die heute vielleicht am weitesten ver-breitete Theorie zum Verhältnis von kognitiven Zuständen bzw. Prozessen zu ihren materiellen Korrelaten der Funktionalismus. Das in Abschnitt 3.1. vorgestellte Computermodell und die Idee, dass Denken so etwas wie Rechnen in einem physisch realisierten System sei, hat eine entscheidende Rolle dabei gespielt, der Grund-idee des Funktionalismus eine bestimmte Gestalt zu geben. Die zwei Grundpfeiler des Funktionalismus bilden einerseits der Fokus 81 Vgl. dazu in dieser Einleitung den 5. Abschnitt »Zur Auswahl der Texte«. Eine

gut zugängliche Übersicht zu den Ansichten, die innerhalb einer Philosophie der Verkörperung vertreten werden, stellt nach wie vor Margaret Wilson, »Six Views of Embodied Cognition«, in: Psychonomic Bulletin & Review 9 (2002), S. 625-636, dar. Auch bei ihr steht jeweils eine Variante der vier Es für eine ihrer sechs Sichtweisen auf die verkörperte Kognition; sie nennt darüber hinaus aber noch den Aspekt, dass Kognition in der realen Welt unter Zeitdruck abläuft. Außerdem teilt sie den Gedanken, dass der Geist eingebettet sei, in zwei Aspekte: Einerseits lagern wir kognitive Arbeitslast in die Umwelt ab, und andererseits muss man in Bezug auf die Einbettung im Blick behalten, dass wir permanent mit der Umwelt durch Wahrnehmung und Handeln interagieren.

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auf die Definition kognitiver Zustände durch ihre kausale Rolle und andererseits der Gedanke, dass diese kausalen Rollen multipel realisierbar sein können. Der am Computer orientierte Funktio-nalismus geht nun darüber hinaus implizit und ohne Begründung oder Diskussion davon aus, dass die durch ihn beschriebenen kog-nitiven Prozesse sich innerhalb einer klar umrissenen Grenze zwi-schen dem Input und dem Output eines Systems abspielen. Der Kopf (das Gehirn) gilt als Ort, in dem sich alles abspielt, was für die Realisierung kognitiver Zustände relevant ist. Der Geist ist sozusa-gen eingeklemmt zwischen den sensorischen Reizen der Wahrneh-mung und den motorischen Verhaltensweisen und Handlungen am Ende der kognitiven Verarbeitungskette.

Doch selbst wenn man bereit ist, die zwei genannten Grund-pfeiler des Funktionalismus unangetastet zu lassen, kann man sich fragen, ob nicht der Fokus auf die Elemente innerhalb eines um-grenzten Systems wie des Gehirns zu eng ist. In gewissen biologi-schen Fällen und insbesondere im Fall der menschlichen Kognition scheint das in Frage kommende System gar nicht so klar umrissen zu sein. Der Schädel stellt für die kausal relevanten Komponenten eben keine »magische Grenze« dar.82 Deshalb haben Philosophen wie Robert Wilson für einen ausgedehnten oder »weiten Computa-tionalismus« [wide computationalism] argumentiert.83 Es gibt kog-nitive Bereiche, in denen sich die Annahme eines solchen über den Schädel hinaus ausgedehnten Systems unmittelbar aufdrängt. Ein gutes Beispiel stellt das Ausrechnen komplizierter mathematischer Aufgaben dar. Wenn wir vor der kognitiv anspruchsvollen Aufgabe stehen, lange und komplizierte Multiplikations- oder Divisionsauf-gaben zu lösen, würden wir in vielen Fällen scheitern, wenn wir versuchten, alles im Kopf zu berechnen. Stattdessen greifen wir zu Stift und Papier und schreiben die zu berechnenden Zahlen nieder, halten Teilergebnisse fest oder erinnern uns an die in der Schule gelernten Regeln der schriftlichen Multiplikation und Division. Im Fall dieser externen Hilfsmittel kann man nun auch argumentie-ren, dass das physikalische System, in dem die relevante kognitive Lösung erreicht wird, Stift und Papier mit einschließt.

Ein solches weiter ausgedehntes System greift aber nicht nur bei 82 Dieser Ausdruck geht auf Susan Hurley zurück (Consciousness in Action, Cam-

bridge/MA 1998, S. 335 f.).83 Robert Wilson, »Wide Computationalism«, in: Mind 103 (1994), S. 351-372.

Rechenaufgaben (auch wenn der Begriff des ›weiten Computatio-nalismus‹ dies etwas irreführend nahezulegen scheint). Der Verweis auf die Computertheorie, die als Grundtheorem vielen Arbeiten in den Kognitionswissenschaften unterliegt, besagt in diesem Fall nicht viel mehr, als dass man vor allem die kausal relevanten, in-formationstragenden Rollen verschiedener Elemente erfassen muss, wenn man die Mechanismen, die kognitiven Leistungen unterliegen, bestimmen will. Und in gewissen Fällen schließen die informationsverarbeitenden Rollen eben Elemente außerhalb des biologischen Organismus ein. Dabei muss man nicht einmal über die Computertheorie hinausgehen, sondern kann auf deren Basis argumentieren, dass zumindest in diesen Fällen die Grenzziehung zwischen dem Hirn und dem Rest der Welt arbiträr ist, denn der Computationalismus legt ja weder die Art noch den Ort der Rea-lisierung fest. Die nichtneuronalen Elemente außerhalb des Orga-nismus, so die These, stellen einen rechnerischen Bestandteil des gesamten kognitiven Systems dar.

Eine Philosophie der Verkörperung, die den Aspekt der Ausge-dehntheit des Geistes betont, ist somit dadurch gekennzeichnet, dass sie für eine räumlich weitere Erstreckung der Träger kogni-tiver Zustände argumentiert. In diesem Zusammenhang hat sich auch der Begriff des ›Vehikel-Externalismus‹ eingebürgert. Damit ist gemeint, dass die Vehikel (oder Träger) kognitiver Prozesse und Zustände nicht auf das Gehirn, ja nicht einmal auf Prozesse und Zustände innerhalb des biologischen Körpers beschränkt sein müs-sen. Dem Vehikel-Externalismus geht es bereits um mehr als nur darum, die Rolle des Körpers und der Umwelt für einfaches Ver-halten herauszustellen. Wilsons Beispiel des Rechnens stellt eine höhere kognitive Leistung dar, die wir (gemäß den zu Beginn dieser Einleitung getroffenen Unterscheidungen) als ›geistigen‹ Denkpro-zess bezeichnen dürfen. Der Philosoph Andy Clark etwa verweist ausdrücklich auf Überzeugungen und Erinnerungen als Beispiel für eine weite Realisierung von geistigen Zuständen. Damit glaubt er, einen weiteren Schritt »von der Kognition zum Geist« nehmen zu können, der in Wilsons Rechenbeispiel noch zu fehlen scheint.84 Überzeugungen stellen nämlich in den meisten philosophischen Theorien des Geistes die paradigmatischen geistigen Zustände dar, 84 »Von der Kognition zum Geist«, so lautet der Titel des 4. Abschnitts in Andy

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weil sie (neben Wünschen und Absichten) den Handlungen von Akteurinnen und Akteuren zugrunde liegen. Wir verweisen auch auf Überzeugungen (sowie auf Wünsche und Absichten), wenn wir Handlungen von Akteurinnen und Akteuren verstehen und erklä-ren wollen.

Was Clark im Blick hat, ist das Folgende: Wenn wir z. B. auf zuverlässige Informationen in unserem Mobiltelefon zurückgrei-fen, gibt es unter einer bestimmten Beschreibung keinen grund-legenden Unterschied in Bezug auf die funktionale Rolle, die diese Informationen im Vergleich zu den im Gehirn gespeicher-ten Informationen übernehmen. So kann man sagen, dass unsere Überzeugungen in solchen Fällen zum Teil in unserem Mobiltele-fon abgelegt und realisiert sind. Dabei ist zu beachten, dass dieser Schritt von (subpersonalen) kognitiven Zuständen zu (personalen) geistigen Zuständen (wie Überzeugungen und Erinnerungen) auf der Ebene von Dispositionen verbleibt. Die meisten unserer Über-zeugungen haben wir ja nicht dauernd im Bewusstsein, sondern wir können sie bei Bedarf mit einiger Zuverlässigkeit abrufen. Sie stehen uns zur Verfügung, und dabei macht es keinen Unterschied, ob wir sie aus dem Gehirn oder aus einem anderen Speichermedi-um, das uns zuverlässig zur Verfügung steht, abrufen. Sowohl das Telefon als auch das Gehirn spielen jeweils eine entscheidende Rol-le, um das gegenwärtige Verhalten einer Akteurin und die ihr zur Verfügung stehenden mentalen Zustände zu erklären.

Wie verhält es sich mit anderen mentalen Zuständen? Ein Ve-hikel-Externalismus für bewusste Zustände – d. h. für Zustände, die auf Elementen beruhen, die uns nicht nur als Träger unserer dispositionalen Überzeugungen zur Verfügung stehen, sondern die unserer aktuellen Erfahrung unterliegen – scheint auf den ersten Blick schwerer vertretbar zu sein.Vielleicht stellt die bewusste Erfahrung eine Besonderheit innerhalb der kognitiven Funktionen dar, da sie (zumindest bei uns Menschen) eine gewisse Form des Informationszugriffs und der Informationsintegration verlangt, deren Zeitskala neuronale Prozesse im Gehirn und im zentralen Nervensystem das einzige adäquate Vehikel sein lässt (dies ist in Bezug auf den Menschen kontingenterweise so).85

85 Vgl. Andy Clark, »Spreading the Joy? Why the Machinery of Consciousness Is (Probably) Still in the Head«, in: Mind 118 (2009), S. 963-993, hier S. 983 (Ü. d. Hg.).

Doch auch hier gibt es Autorinnen und Autoren, die die The-se des ausgedehnten Geistes auf bewusste Zustände und Prozes-se anwenden wollen. Und zwar diejenigen, die ein anderes E aus der Reihe der vier Es betonen, nämlich das für Enaktivismus. So argumentiert die Philosophin Susan Hurley, dass die in den Neu-rowissenschaften verbreitete Erwartung, eine minimale neurona-le Realisierung einer bewussten Erfahrung zu finden, vermutlich nicht erfüllt werden wird. Dies liegt darin begründet, dass bewuss-te Erfahrungen eine zeitliche Abfolge verlangen, die nicht allein durch die neuronalen Aktivierungen gewährleistet wird, sondern gewisse Formen der nichtneuronalen körperlichen Interaktion mit einschließt. Hurley führt aus, dass die Korrelate, die bewussten Er-fahrungen zugrunde liegen, innerhalb einer Person variieren kön-nen. Denn die neuronale Plastizität unseres Gehirns macht gewisse Umprogrammierungen und Neuverschaltungen möglich, sodass eine Neuronenverbindung, die zum Zeitpunkt t1 ein Korrelat dar-stellt, dies zum Zeitpunkt t2 bereits nicht mehr tut. Was bleibt sich gleich, wenn das Korrelat wechselt? Nun, die körperlichen Fä-higkeiten und ausgedehnten Dynamiken der Interaktion mit der Umwelt könnten eben dasjenige sein, was zu beiden Zeitpunkten konstant geblieben ist. Selbst wenn man zu diesen körperlichen Interaktionsformen noch so etwas wie einen neuronalen »inneren Schatten« im Gehirn annimmt, könnte dennoch die Interaktions-form die bessere Erklärung abgeben, da sich die inneren Muster als nicht eindeutig herausstellen könnten.86 Dies ist – wie Hurley argu-mentiert – angesichts der Vielzahl und Intensität der Interaktionen sowie des Feedbacks durch multisensorische Kanäle, die Organis-mus und Umwelt zu einem eng gekoppelten System machen, sogar sehr wahrscheinlich. Ein solches System wäre dann explanatorisch nicht mehr in Schnittstellen zerlegbar, weil Variablen des einen Teil-systems die Paramater des anderen Teilsystems darstellen.87 Auch

86 Susan Hurley, »The Varieties of Externalism«, in: Richard Menary (Hg.), The Extended Mind, Cambridge/MA 2010, S. 101-154, dort S. 123.

87 Zur Problematik der Schnittstellen vgl. den Beitrag von John Haugeland, »Der verkörperte und eingebettete Geist«, in diesem Band. Der Gedanke, dass Kog-nition nicht als Berechnung eines Systems zu beschreiben sei, das sich innerhalb der Grenzen eines biologischen Organismus fassen ließe, ist v. a. in sogenannten dynamischen Theorien vertreten worden. Vgl. hierzu die ›dynamische Hypo-these‹ in Tim van Gelder, »The Dynamical Hypothesis in Cognitive Science«,

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wenn Hurley dies nur als eine empirische Möglichkeit beschreibt und nicht als ein eindeutiges Argument für eine weite Realisierung verstanden wissen will, kann man damit dennoch den vorschnellen Bezug auf eine enge, interne Realisierung in Frage stellen.

Dennoch hat natürlich nicht nur die weite Realisierung von be-wussten Zuständen, sondern auch die Grundaussage der These des ausgedehnten Geistes, dass es gewisse über den Körper ausgedehnte Träger kognitiver Zustände gibt, grundsätzliche und teilweise har-sche Kritik erfahren. Und diese Kritik ist oft mit Verweis auf die alternative Bezugnahme auf die Kodierung der Körper- und Um-weltelemente im Gehirn formuliert worden. Selbst beim Beispiel der komplizierten Rechenaufgabe könnte man ja argumentieren, dass die Information, die man auf ein Blatt kritzelt, dennoch wieder intern (neuronal) repräsentiert werden muss (sie wird visuell wahr-genommen und dann in mentalen Operationen intern verarbeitet). Insofern könnte man in Bezug auf die externen Elemente zwar von einem kausal unterstützenden Beitrag, aber nicht von einem konsti-tuierenden Element für den kognitiven Zustand sprechen.

Hier lautet nun ein wichtiger Gedanke, dass wir gewisse Auf-gaben (wie die komplizierte Rechenaufgabe) gar nicht lösen könn-ten, würden wir nicht Zustände außerhalb des Organismus in die kognitive Lösungsstrategie integrieren. Sie scheinen für bestimmte kognitive Leistungen notwendig zu sein. Ausgehend hiervon kann man die Alternativen, die einer Gegnerin des ausgedehnten Geistes zur Verfügung stehen, wie folgt in Frage stellen: Entweder muss sie die kognitiven Leistungen, in denen die Umweltbeiträge notwen-dig sind, von anderen kognitiven Leistungen, die allein innerhalb des Systems vollbracht werden können, trennen und einer jeweils anderen Klasse von Phänomenen zuordnen. Dies widerspricht aber einer grundlegenden Intuition, weil in beiden Fällen ja etwas genuin Intelligentes geleistet wird. Oder sie muss argumentieren, dass im ersten (ausgedehnten) Fall dennoch nur der innere Beitrag die Realisierung des kognitiven Prozesses ausmache. Hier würde dann aber unbegründeterweise mit zweierlei Maß gemessen und aufgrund gewisser Vorüberzeugungen (›Geist spielt sich im Gehirn

in: Behavioral and Brain Sciences 21 (1998), S. 615-628, und seine einschlägige Diskussion des Dampfdruckreglers [Watt centrifugal governor] als Beispiel eines gekoppelten Systems in: ders., »What Might Cognition Be, If Not Computati-on?«, in: The Journal of Philosophy 92 (1995), S. 345-381.

ab‹) ein ganzer Bereich von wichtigen Trägern funktionaler Rol-len ausgeschlossen. Ein Rückgriff auf solche Vorüberzeugungen ist aber gerade unter der Voraussetzung illegitim, dass ja in Frage steht, was als Grenze des Systems anzusehen ist, und dass dies nicht be-reits als gegeben vorausgesetzt werden darf.88

Mit der These des ausgedehnten Geistes wird aber keineswegs eine Lanze für den Panpsychismus gebrochen, also für eine Posi-tion, die geistige Zustände als überall in der Welt verteilt ansieht. Auch in den beschriebenen Fällen bleiben der Organismus und sein Gehirn notwendige Bestandteile, sodass z. B. Clark seine Position als zwar nicht auf den Organismus beschränkt [organism-bound], aber dennoch als »organismuszentriert« [organism-centered] charak-terisiert.89 Mit einer solchen Position kann man allzu großzügige Konsequenzen bezüglich der Verbreitung des Geistes vermeiden, da man immer noch bestimmte Bedingungen der Koppelung des Or-ganismus mit den extraorganismischen Elementen, die Teil eines mentalen Zustands sein sollen, angeben muss. Für Ottos Notiz-buch handelt es sich dabei um Bedingungen wie Zuverlässigkeit und Verfügbarkeit der Informationen, aber auch um das Wissen darum, dass er die Einträge in sein Notizbuch selbst verfasst hat. Dennoch stellt die Asymmetrie (d. h. der Gedanke, dass das im Organismus verankerte Gehirn immer zumindest ein Teil eines mentalen Zustands sein müsse), die sich im organismuszentrier-ten Ansatz findet, ein Problem dar. Das Gehirn scheint demnach eben doch das zentrale Organ des Geistigen zu sein. Verstärkt wird

88 Der letzte Punkt ist auch unter dem Titel des methodischen Gleichbehand-lungsprinzips [parity principle] behandelt worden. Ein gutes Beispiel hierfür sind z. B. die Rollen, die Außenwelthilfen in Fällen von Subjekten mit kognitiven Beschränkungen spielen können, wie sie von Clark und Chalmers beschrieben wurden. Die Autoren argumentieren, dass für Otto, einen fiktionalen Alzhei-merpatienten, Informationen, die er sich in ein Notizbuch eingetragen hat, einen Teil seiner Überzeugung ausmachen. Er trägt das Notizbuch immer mit sich herum und kann die Einträge bei Bedarf nachschlagen. Diese Notizbuch-einträge übernehmen also die Funktion, die bei gesunden Menschen im Gehirn abgespeicherte Informationen innehaben. Wenn Letztere als Teil eines mentalen Zustands gelten, warum sollte man Ottos Notizbucheinträge ausschließen? Vgl.

89 Vgl. seine sogenannte ›Hypothese der organismuszentrierten Kognition‹ in: Andy Clark, »Curing Cognitive Hiccups. A Defense of the Extended Mind«, in: The Journal of Philosophy 104 (2007), S. 163-192, dort S. 192.

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diese Tendenz durch die Zusatzannahme, dass gewisse Klassen von geistigen Zuständen, wie die bewussten Erfahrungen, gänzlich in-nerhalb des Gehirns realisiert sind. Dann stellt sich jedoch die Fra-ge, warum man überhaupt den ursprünglichen Beispielen für eine ausgedehnte Basis des Kognitiven folgen sollte, denn vielleicht sind es doch die intrinsischen Eigenschaften von Neuronen, die kog-nitive und mentale Zustände als bewusste Zustände erst möglich machen.

Dennoch sollte man sich die Vorteile einer organismuszentrier-ten Sichtweise nicht entgehen lassen. Ein erster Vorteil wäre die Sparksamkeit in der Erklärung. In vielen Fällen – wie etwa in dem Beispiel der komplizierten Rechenaufgabe, aber auch bei Otto – stellt der Verweis auf eine innere Repräsentation eine zusätzliche Annahme dar, die man in der Erklärung ohne Verlust kürzen könn-te. Die zentralen Elemente sind mit dem Verweis auf die Kombina-tionsfähigkeit des Gehirns und die Zwischenspeicherung von Teil-ergebnissen und Zahlen auf dem Blatt – oder in Ottos Fall: auf ein System des Erinnerungszugriffs und der im Notizbuch enthaltenen dispositionalen Überzeugung – bereits benannt.

Zweitens kann es Fälle zu geben, in denen außerorganische Ele-mente sich gar nicht dadurch als Träger kognitiver Zustände quali-fizieren, dass sie internen Zuständen besonders ähnlich sind (wie es z. B. die Überzeugungszustände Ottos noch getan haben), sondern gerade dadurch, dass sie uns neue Dinge ermöglichen, die even-tuell gerade nicht unter Verweis auf Eigenschaften von Neuronen und Neuronenverbünden erklärt werden könnten. Auf solche Fälle hat insbesondere der Philosoph John Sutton hingewiesen, der statt von einer Gleichheit innerer und äußerer Komponenten lieber von einer Komplementarität dieser Komponenten spricht.90 Ein Bei-spiel hierfür ist die Theorie der ›Exogramme‹, die Merlin Donald entwickelt hat.91 Solche Exogramme sind ein Gegenmodell zu den 90 Vgl. John Sutton, »Exograms and Interdisciplinarity. History, the Extended

Mind, and the Civilizing Process«, in: Richard Menary, The Extended Mind, Cambridge/MA 2010, S. 189-225. In diesem Text führt Sutton auch den Begriff einer »zweiten Welle« des ausgedehnten Geistes ein, die sich insbesondere mit diesen komplementären Systemen beschäftigen soll. Dieser Begriff ist etwas irre-führend, da auch die Theoretiker der ersten Welle – wie Sutton selbst einräumt – solche über eine enge Lesart des Gleichbehandlungsprinzips hinausgehenden Fälle besprochen haben.

91 Vgl. Merlin Donald, Origins of the Modern Mind. Three Stages in the Evolution

im Gehirn gespeicherten ›Engrammen‹, und sie sind in öffentlich zugänglichen Symbolen verankert. Solche Formen von Gedächtnis zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie gewisse Eigenschaften neuronal realisierter Gedächtnisformen nicht teilen: Sie sind z. B. über Generationen hinaus ›haltbar‹ und sind für viele Individuen zugleich leicht zugänglich.92 Damit stellen sie nicht nur eine zu-sätzliche Form von Gedächtnis dar, sondern verändern auch unsere Sicht auf die Rolle des biologischen Gedächtnisses innerhalb des Gesamtsystems, in das dieses eingebettet ist. Diesem Gedanken der Eingebettetheit wollen wir im Folgenden nachgehen, wenn wir uns dem zweiten E in der Reihe der 4 Es zuwenden.

4.2. Der eingebettete Geist

Die These von der Eingebettetheit in ihrer allgemeinen Form be-sagt, dass gewisse Elemente unserer Umgebungen kognitive und mentale Prozesse unterstützen, ohne deshalb Teil derselben zu sein. Dies gilt in großem Maße für unsere kulturelle Um- und Arbeits-welt, in der beispielsweise die Werkzeuge, die wir zum Arbeiten benötigen, in einer besonderen, die Arbeit unterstützenden und erleichternden Weise angeordnet sind. So richtet sich z. B. eine Barkeeperin, die Spirituosen, Sirups und Bitters für die verschiede-nen Cocktails so an, dass ähnliche Ingredienzen zusammenstehen und sie diese schnell finden kann, da sie bereits ungefähr weiß, wo sich eine Gruppe befindet. Ebenso mag es sich für sie lohnen, dass sie gewisse oft vorkommende Kombinationen für die Cocktails in einer bestimmten Reihe anordnet, um sie in dieser Folge schnell abgreifen zu können. Die kognitiv relevante Rolle der Umwelt wird auch vermittels der Zeichen- und Symbolsysteme deutlich, die für uns die Welt in einer bestimmten Weise ordnen und erschließbar machen. Man denke nur an die vielen Schilder in einer Stadt, ei-nerseits etwa die Straßenschilder, die einen sicher durch den Stra-ßenverkehr manövrieren lassen, andererseits an die Reklametafeln und Banner, die einen über mögliche Einkaufs- und Serviceleistun-

of Culture and Cognition, Cambridge/MA 1991, und ders., A Mind So Rare. The Evolution of Human Consciousness, New York 2001.

92 Vgl. dazu die Beiträge von Kim Sterelny, »Der Geist – ausgedehnt oder ge-stützt?«, bzw. von Fred Adams und Kent Aizawa, »Die Grenzen der Kognition«, beide in diesem Band.

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gen informieren. Die beiden Fälle, die Anordnung der Flaschen in einer Bar und die Schilder einer Großstadt, unterscheiden sich vor allem in der Weite ihrer Anwendungsgebiete. Während die wohl-organisierte Bar von einer Spezialistin zum persönlichen Gebrauch (oder für den Gebrauch durch andere Spezialisten) eingerichtet wird, handelt es sich bei den Symbolen, Werbungen und Warn-schildern um eine zentral organisierte Form der Strukturierung des öffentlichen Raums.93

Diesen Unterschied zwischen einer stark individualisierten An-ordnung und der sozialen und symbolischen Strukturierung des öffentlichen Raums kann man auch als graduellen Übergang von den echten Teilen von kognitiven Prozessen zu deren Rahmenbe-dingungen verstehen. Elemente, die zu den Rahmenbedingungen kognitiver Prozesse gehören, zeichnen sich dadurch aus, dass sie als Rückhalt und Angebot für viele Individuen zur Verfügung stehen, während Elemente am anderen Ende des Spektrums sich zumeist durch die enge Koppelung an ein Individuum auszeichnen. Das Beispiel von Otto, der selbst alle Einträge in sein Notizbuch macht und dieses auch immer mit sich herumträgt, passt hier sehr gut an das eine Ende des Spektrums, da seine Hilfsmittel damit sehr stark individualisiert sind. Entsprechend ist es auch sinnvoll, in Bezug auf Otto davon zu sprechen, dass sein Geist ausgedehnt ist, d. h., dass das Notizbuch ein Teil seines Gedächtnisses ist und nicht nur eine kausal relevante Komponente. Medien und Notationssysteme im Allgemeinen und Straßenschilder im Speziellen scheinen da an-derer Natur zu sein. Sie sind keine konstitutiven Bestandteile ei-nes bestimmten Geistes, sondern strukturieren unser Denken und Handeln permanent mit, ohne ihm selbst anzugehören.

Theorien der Eingebettetheit heben entsprechend eher die kol-lektiv erschaffenen und genutzten Denkhilfen und Denkwerkzeuge hervor. Damit geht auch eine Betonung der diachronen Interaktion mit der Umwelt einher anstelle einer Konzentration auf die syn-chrone Interaktion. Weil in der phylogenetischen Vergangenheit einer Spezies gewisse Elemente zur Verfügung standen oder weil in der ontogenetischen Entwicklung ein Individuum über bestimmte Mittel verfügte, konnte die Spezies bzw. das Individuum bestimm-

93 Eine ausführliche Diskussion weiterer Beispiele findet sich in dem Text von John Haugeland, Öder verkörperte und eingebettet Geist«, in diesem Band.

te (kognitive) Fähigkeiten ausbilden. Den Ursprung dieses Gedan-kens kann man in der Evolutionsbiologie finden, und zwar unter dem Label der ›Nischenkonstruktion‹. Eine ökologische Nische ist nicht einfach mit der räumlichen Umgebung eines Tiers gleichzu-setzen. Die Nische umfasst vielmehr die funktionalen Zusammen-hänge zwischen einer biologischen Art und bestimmten Faktoren der Umgebung wie z. B. der Qualität der Nahrung, den Möglich-keiten, Unterschlupf zu finden, der Menge der Artgenossen und Fressfeinde usw. Entsprechend können Krebse, Forellen, Biber und Otter im selben Fluss wohnen und trotzdem unterschiedliche Ni-schen bewohnen, da ihre Umgebungen unterschiedliche funktio-nale Strukturen haben. Nischen sind nun den Lebewesen, die in ihnen leben, nicht einfach gegeben, vielmehr verändern Lebewesen ihre eigene Umwelt in mehr oder weniger großem Umfang entwe-der temporär oder permanent und erschaffen ihre Nische damit erst: Biber bauen Dämme, Vögel Nester, Spinnen Netze, Dachse Höhlen, Erdwürmer reichern den Boden, in dem sie leben, mit Nährstoffen an usw. Prozesse dieser Art bezeichnet man als Ni-schenkonstruktion. Durch Nischenkonstruktion nehmen Orga-nismen bzw. Arten direkten Einfluss auf die Beschaffenheit ihrer Umwelt.

Bei einigen höheren Tierarten können nun sowohl die umge-staltenden Tätigkeiten als auch die umgestalteten Umwelten über Generationen weitergegeben werden, und zwar auf nichtgenetische Weise. Durch die Nischenkonstruktion wird dadurch auch Einfluss auf den Verlauf der Evolution einer Art ausgeübt.94 Während aber auch bei diesen Tieren die Menge und Qualität dessen, was über die Generationen hinweg weitervererbt wird, äußerst beschränkt ist, ist der Mensch ein Wesen, das sich dadurch auszeichnet, Ni-schen von ungemeiner Dichte hervorzubringen. Die Nische des Menschen besteht gewissermaßen nur noch aus einem einzigen Zusammenhang aus Institutionen, Artefakten, sozialen Umgangs-formen und kollektiven Medien- und Notationssystemen.

94 Vgl. zum Begriff der Nischenkonstruktion und der Reziprozität von Subjekt und Umwelt Richard Lewontin, »The Organism as Subject and Object of Evoluti-on«, in: Scientia 118 (1983), S. 65-95; John Odling-Smee u. a., Niche Construction. The Neglected Process in Evolution, Princeton/NJ 2003. Ein kurzer Überblick zur Nischenkonstruktion und über die Verbindung zu Heidegger bei Markus Wild, Tierphilosophie zur Einführung, Hamburg 2008, Kap. 5.3.

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Aus phänomenologisch-hermeneutischer Perspektive ist dieser Gedanke bereits von Martin Heidegger artikuliert worden: »Der Stein ist weltlos, das Tier ist weltarm, der Mensch ist weltbildend.«95 Der Mensch, so könnte man diesen Gedanken naturalistisch fas-sen, ist jenes Tier, welches sich seine Nische selbst erschafft, und zwar global. Die Nische des Menschen zeichnet sich dabei nicht nur durch ihre Dichte, sondern auch durch die Komplexität der ihr zugehörigen Institutionen, Medien- und Kommunikationssysteme aus. Menschen verändern ihre Umwelt nicht nur, um praktische Aufgaben zu lösen, sondern auch, um sich kognitive Aufgaben zu erleichtern. Sie sind in diesem Sinn epistemische Nischenbauer.96 Auch in Bezug auf das epistemische Nischenbauen lässt sich gut eine diachrone Analysedimension hinzufügen: Menschen sind nicht nur aktuell in eine Umwelt eingebettet, deren Strukturen bei der Lösung kognitiver Aufgaben hilfreich sind. Diese Strukturen haben sich über Generationen ausgebildet und haben möglicher-weise gewisse abstrakte Fähigkeiten allererst möglich gemacht. Anstelle der Annahme einer universalen angeborenen Grammatik etwa könnte man argumentieren, dass Menschen in bestimmten Kommunikationssituationen bestimmte Medien und Notations-systeme hervorbringen und dass erst diese komplexe syntaktische Strukturen und rationales Schlussfolgern ermöglichen.97

Eine andere Möglichkeit, den Geist als eingebettet zu betrach-ten, besteht darin, die Umwelt selbst als bedeutsam aufzufassen. Die klassische Kognitionswissenschaft, die Dreyfus als ›cartesia-nisch‹ bezeichnet, geht davon aus, dass Bedeutung und Weltver-stehen durch komplexe interne Repräsentationen eines einzelnen Subjekts zustande kommen. Diesem Grundverständnis ist nicht nur in der phänomenologischen Tradition widersprochen worden, sondern auch in der Psychologie. James Gibson entwickelte dage-gen in den 1960er Jahren die sogenannte ›ökologische Theorie der Wahrnehmung‹. Diese Theorie geht davon aus, dass die Trennung zwischen wahrnehmendem, wertendem Subjekt und objektiv be-

95 Martin Heidegger, Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, Frankfurt/M. 1983.

96 Vgl. zum Begriff der epistemischen Nische Kim Sterelny, Thought in a Hostile World. The Evolution of Human Cognition, Oxford 2003.

97 Vgl. hierzu auch Andy Clark, Supersizing the Mind. Embodiment, Action, and Cognitive Extension, Oxford 2008, Kap. 3 und 4.

schreibbarer Welt ein Gedanke sei, der auf einem Weltbild beruht, das die Eigenart der biologischen Welt ignoriert. Nähert man sich dem Verhältnis von Tier und Umwelt aus biologischer Perspektive, so sind die relevanten Eigenschaften der Umwelt solche, die nur in Relation zum Lebewesen existieren. Dieser Gedanke ist aus den Theorien der ökologischen Nischen entlehnt: Stehen ein Eichhörn-chen und ein Biber vor demselben Baum, mag dieser dem einen als erkletterbar, dem anderen als fällbar erscheinen.

Gibsons Ansatz in der Wahrnehmungstheorie besagt nun, dass das Erkletterbar-Sein eine Information ist, die in der Umwelt selbst vorhanden ist, auch wenn der Baum nur dem Eichhörnchen in dieser Weise erscheint. Die ökologische Perspektive unterläuft die Unterscheidung zwischen objektiv gegebener Welt und subjekti-ven Erscheinungen, indem sie aufzeigt, dass sich unterschiedlich beschaffenen Wesen unterschiedliche Aspekte ein und derselben Welt darbieten. Dennoch basiert dies auf objektiv gegebenen Relationen zwischen Elementen der Welt und den jeweiligen Ni-schenbewohnern. Tiere, die mit ihrer Umwelt interagieren, neh-men Eigenschaften wie das Erkletterbar-Sein direkt wahr, und zwar als Angebote für bestimmte Verhaltensweisen. Sie brauchen kei-ne internen Repräsentationen auszubilden, Eigenschaften auf die Welt zu projizieren oder sie auf kognitiv anspruchsvolle Weise zu interpretieren. Welche Eigenschaften der Welt sich einem Tier an-bieten, hängt Gibson zufolge von der Beschaffenheit und den Be-dürfnissen des Tieres ab. Er hebt hervor, dass die Nischenstruktur der jeweiligen Umwelt eines Tieres dennoch real ist, auch wenn sie nur in Relation zu dem jeweiligen Tier existiert. Und wie bereits gesagt, betont er, dass Tiere direkt diese verhaltensrelevanten As-pekte ihrer Umwelt wahrnehmen und nicht indifferente Objekte, die dann als verhaltensrelevant interpretiert werden, oder Eigen-schaften, aus denen sich verhaltensrelevante Aspekte erschließen lassen. Diese direkt wahrnehmbaren Aspekte der Umwelt nennt Gibson ›Angebote‹ [affordances]. Den Ausdruck ›affordance‹ leitet Gibson von dem englischen Verb ›to afford‹ ab.98 Angebote (oder Affordanzen) sind Aspekte der Umwelt, die dem Tier unmittelba-re Verhaltensoptionen in dem oben beschriebenen Sinn darbieten. Mit seiner ökologischen Theorie und dem Konzept der Angebote

98 James Gibson, Wahrnehmung und Umwelt, München 1982 [1979], Kap. 8.

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nimmt Gibsons Wahrnehmungstheorie in großen Teilen die Kritik des Repräsentationalismus und die Betonung der Rolle der Struk-tur der Umwelt und der praktischen Interaktion mit dieser vorweg, wie sie sich in der Philosophie der Verkörperung in zahlreichen Varianten finden. Weil das Lebewesen als solches immer schon in eine bestimmte Umwelt (Nische) eingebettet ist oder seine Umwelt miterschafft (Nischenkonstruktion), ist es in der Lage, Angebote der Umwelt direkt, d. h. ohne repräsentierende oder inferenzielle Zwischenschritte, wahrzunehmen.99

4.3. Der verkörperte Geist

Die These, dass der Geist verkörpert ist, nimmt eine Sonderstel-lung unter den vier Es ein, insofern sie auch als Sammelthese für die hier besprochenen Ansätze gesehen werden kann.100 In einem engeren Sinn betont sie aber den Fokus auf die Rolle des Körpers und seinen spezifischen Beitrag zur Entstehung und Konstitution mentaler Zustände. Was damit gemeint ist, lässt sich vielleicht wie-derum am besten mit Verweis auf den Funktionalismus erklären. Erinnern wir uns an die zwei Grundpfeiler: (a) mentale Zustände werden durch ihre kausalen Rollen definiert, was wiederum zur Folge hat, dass (b) die Elemente für die Realisierung dieser Rollen von ganz unterschiedlicher materieller Beschaffenheit sein kön-nen. Damit geht eine gewisse Körperneutralität einher, die aus der Sicht der Verkörperung problematisch ist. Der Funktionalismus hebt nämlich allein auf die Muster ab, in denen sich die relevanten funktionalen Rollen abzeichnen, er ist aber ihrer materiellen – und dies bedeutet: körperlichen – Realisierung gegenüber ausgesprochen gleichgültig. Doch zunächst einmal muss man festhalten, dass kon-

99 Gibsons Ansatz der Affordanzen wird an der einen oder anderen Stelle von fast jedem der im vorliegenden Band Philosophie der Verkörperung vertretenen Au-toren verhandelt. Eine zeitgenössische Theorie, die Gibsons Werk und dessen Rezeption sehr ausführlich diskutiert und weiterentwickelt, ist Anthony Che-mero, Radical Embodied Cognitive Science, Cambridge/MA 2009.

100 Da nicht sogleich der Genus und die Spezifikation unter demselben Label lau-fen sollten, wurde von einigen Autoren der Begriff der ›situierten Kognition‹ als Sammelbegriff vorgeschlagen, vgl. Philip Robbins, Murat Aydede, »A Short Primer on Situated Cognition«, in: dies. (Hg.), The Cambridge Handbook of Si-tuated Cognition, Cambridge/MA 2008, S. 3-10.

krete mentale Zustände unter Bezugnahme auf eine verkörperte Akteurin bestimmt werden müssen. Ohne Verhaltensmuster, die bestimmte körperliche Akteure und Akteurinnen typischerweise zeigen, gibt es nun einmal keine Bezugnahme auf mentale Zu-stände. Von hier ist es nur ein kleiner Schritt zur These, dass diese körperlichen identifizierten mentalen Zustände auch nicht wären, was sie sind, und nicht den Gehalt hätten, den sie haben, wenn sie nicht die Zustände eines bestimmten Körpers wären.

Dass mentale Zustände uneingeschränkt multipel realisierbar sein sollen, wurde (etwa von Putnam) von Beginn an als Hypo-these dargestellt, die in eine empirische Theoriekonstruktion ein-gehen muss.101 Es handelt sich um eine These, der eine gewisse Wahrscheinlichkeit zukommt, und deshalb kann (und sollte) sie auch mit empirischen Argumenten gestützt oder angegriffen wer-den. Zunächst einmal – und hierauf hat Lawrence Shapiro hin-gewiesen102 – ist mit der Annahme einer grundlegenden multip-len Realisierbarkeit eine Trennbarkeitsthese verbunden, die sich bei näherem Hinsehen wohl nicht halten lässt. Bei einer starken Trennbarkeitsthese wäre es unmöglich, aufgrund der Kenntnis der mentalen Phänomene einer Akteurin auf deren körperliche Eigen-schaften zu schließen. So könnte ein menschenartiger Geist in ei-nem Körper hausen, der über ganz andere Eigenschaften verfügt, als es Menschenkörper gemeinhin tun.103 Dagegen vertritt Shapiro eine Hypothese, die er die mentale Einschränkungsthese nennt und die genau das Gegenteil besagt: Es gibt klare Einschränkungen in Bezug auf das, was als Realisierung bestimmter mentaler Zustände in Frage kommt.104 Shapiro argumentiert, dass es für die Trennbar-keitsthese keine befriedigenden empirischen Belege gibt. So gibt es z. B. noch keine künstlichen Systeme, die menschlichen Fähig-keiten nahekämen, und die man als Beleg für eine andersgeartete Realisierung mentaler Zustände anführen könnte. Demgegenüber existieren für die mentale Einschränkungsthese empirische Eviden-zen.105 Demnach sei es auch die programmatische Absicht einer Philosophie der Verkörperung, die Trennbarkeitsthese zu widerle-

101 Vgl. Putnam, »Die Natur mentaler Zustände« (wie Anm. 64).102 Lawrence Shapiro, The Mind Incarnate, Cambridge/MA 2004, S. 23-27.103 Ebd., S. 167 f.104 Ebd. S. xi.105 Ebd., Kap. 1.

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gen und zu argumentieren, dass mentale Eigenschaften körperliche Eigenschaften geradezu widerspiegeln. Entsprechend ist Shapiro der Auffassung, dass das Programm der Verkörperung auch weitere Evidenzen für die Einschränkungsthese zur Verfügung stellt und dass wir von den mentalen Zuständen eines Wesens durchaus auf seine körperliche Beschaffenheit schließen können.

Ein anderer Aspekt, anhand dessen sich verdeutlichen lässt, dass Eigenschaften des Körpers eine entscheidende Rolle für die Reali-sierung kognitiver Lösungen darstellen, kommt in den Blick, wenn wir uns an die Rolle des Körpers in der verhaltensbasierten Robo-tik Rodney Brooks’ erinnern. Während Brooks bereits die Beweg-lichkeit des Kopfes, die Beschaffenheit der Hände oder die robuste Bauweise seiner Geschöpfe in den Vordergrund gestellt hat, wird insbesondere in der gegenwärtigen Forschung die Rolle bestimm-ter Materialelemente fokussiert. So hat der Robotiker Rolf Pfeifer neben der Morphologie der Roboter, beispielsweise die materiel-len Eigenschaften bestimmter Gummi-Elemente in Greifarmen oder an den Füßen seiner Geschöpfe systematisch eingesetzt, um unterschiedliche Verhaltensweisen zu generieren. Nur kleine Ab-weichungen im Material führen zu komplett anderen Verhalten-scharakteristika und zu einer unterschiedlichen Gewichtung von physikalischen Vorgängen und Symbolverarbeitungsprozessen. Ein Beispiel aus der Biologie, das in der Robotik aufgenommen wurde, ist das menschliche Arm-Schulter-System. In diesem System führt das Zusammenspiel von starren Knochen und elastischen Muskeln und Sehnen dazu, dass sich das Gelenk von selbst wieder in seine Ausgangsposition zurückversetzt. Dieser Teil der Bewegung muss also nicht zentral gesteuert werden.106

Der Ingenieursgedanke ›If you can’t make one, you don’t know how it works‹ wird hier ausgeweitet auf ein genaues Verständnis der Materialien, die in biologischen Systemen intelligente Verhaltens-weisen realisieren. Dabei wird deutlich, dass Roboter intelligente Verhaltensweisen oft mit Mitteln realisieren, die viel weniger an komplexe Symbolsysteme gebunden sind, als bis vor Kurzem an-

106 Pfeifer/Bongard, How the Body Shapes the Way We Think (wie Anm. 4), S. 124 f. Zur Rolle von Materialeigenschaften und der Notwendigkeit, insbesondere bei kognitiven Fehlfunktionen das scheinbar zu vernachlässigende materiale Ele-ment in den Blick zu nehmen, vgl. William Wimsatt, Re-engineering Philosophy for Limited Beings. Piecewise Approximations to Reality, Cambridge/MA 2007.

genommen wurde. Die Tendenz in der verkörperten Robotik lässt sich entsprechend als eine Ersetzung oder Umverteilung verstehen. Alles, was der Körper in der Interaktion mit der Umwelt selbst steuern und regulieren kann, muss nicht auf der traditionell als kognitiv angesehenen Ebene geleistet, sprich: durch komplizierte Computerprogramme gesteuert werden.

Aber selbst wenn die materiellen Eigenschaften und die kör-perliche Beschaffenheit eines Akteurs wichtig sind, bestimmen sie wirklich die Art von kognitiven Zuständen, die wir haben können? Ist die Beziehung zwischen Geist und Verkörperung wirklich so in-nig, wie es die Verkörperungsthese haben möchte? Hier muss man bedenken, dass die These der Verkörperung ja nicht besagt, dass nur gleiche Körper gleiche kognitive Zustände haben können. Sie vertritt vielmehr eine schwache Form der multiplen Realisierbar-keit kognitiver Zustände bei gleichzeitiger Betonung einer strikten Abhängigkeit der spezifischen Ausprägung kognitiver Zustände von der körperlichen Beschaffenheit ihrer Subjekte. So bemerkt Alva Noë im Hinblick auf bewusste Erfahrungen:

Ich habe gesagt, dass nur ein Wesen mit einem Körper, der dem unsrigen ähnlich ist, Erfahrungen haben kann, wie wir sie haben können. Nun müs-sen wir uns aber fragen: Muss ein Wesen einen Körper haben, der dem uns-rigen exakt ähnlich ist, um Erfahrungen zu haben, wie wir sie haben, wenn wir wahrnehmen oder sehen? Es wäre keine wünschenswerte Folge unseres Ansatzes, wenn er sogar eine schwache These der multiplen Realisierbarkeit ausschließen würde, nämlich die Behauptung, dass unterschiedliche Tier-arten oder dass unterschiedliche menschliche Individuen sehen können.107

Die visuelle Erfahrung, das Sehen, soll also keineswegs auf eine ganz bestimmte Art von Körper beschränkt werden. Es wäre ge-radezu chauvinistisch, Eulen und anderen nachtaktiven Raubvö-geln die Fähigkeit zur visuellen Wahrnehmung abzusprechen, weil ihnen der für uns relevante visuelle Kortex fehlt, weil ihre Augen anders am Körper angebracht sind als bei uns und weil sie ihre Augen anders benutzen als wir. Die Pointe besteht hier vielmehr in der Behauptung, dass unterschiedliche körperliche Beschaffenhei-ten notwendigerweise unterschiedliche visuelle Erfahrungen her-vorbringen. Und wer möchte bezweifeln, dass dies auch bei Eulen

107 Allva Noë, Action in Perception, Cambridge/MA 2004, S. 26 (Ü. d. Hg.).

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der Fall sein darf? Dieser Aspekt der Verkörperung, dass die Art der Verkörperung sowie die damit verbundenen typischen Verhaltens-weisen notwendigerweise Unterschiede in den Erfahrungen und in anderen mentalen Zuständen hervorbringen, werden wir im Ab-schnitt zum Enaktivismus noch diskutieren.

Wie wir noch sehen werden, zeichnet sich der Enaktivismus da-rüber hinaus durch einige grundlegende Theoreme aus, von denen manche direkt auf den Körper und dessen Eigenschaften Bezug nehmen. Der Körper des Organismus wird in diesen Theorien als zentrales Element eingeführt, das sich von einem mechanistischen Körperverständnis und der bisherigen Diskussion der Verkörpe-rungsthese insofern unterscheidet, als argumentiert wird, dass solch ein Körper eine Form von Innerlichkeit konstituiert, die im mecha-nistischen Verständnis nicht greifbar wäre. Das Modell hierfür ist der einfache Organismus, z. B. ein Bakterium, der durch endogene selbsterhaltende Prozesse eine Einheit konstituiert, die sich zwar von der Umwelt abgrenzt, aber dennoch immer auf sie bezogen bleibt. So muss er Nährstoffe aus der Umwelt beziehen, um seine inneren Lebensprozesse zu unterhalten, zugleich müssen aber diese inneren Prozesse von der Umwelt abgeschirmt werden. Diese Be-ziehung zur Umwelt mit dem Ziel der Selbsterhaltung wird nun als der biologisch elementare Ausgangspunkt aller kognitiven Prozess verstanden. Der Philosoph Michael Wheeler hat darauf hingewie-sen, dass damit ein Gegenmodell zu Ansätzen zur Verfügung steht, die sich zumeist mit dem Speichern und Manipulieren von Infor-mationen beschäftigen. Solche Ansätze nehmen den Körper selbst nicht ernst: »Wirkliche explanatorische Arbeit wird nur vermittels der abstrakteren und in einem gewissen Sinne nichtmateriellen (entkörperten) Prozesse der Informationsverarbeitung geleistet.«108 Der Körper ist sozusagen nur die gleichgültige Grundlage, auf der Kognition stattfindet. Wheeler spricht deshalb von der »implemen-tationalen Materialität« [implementational materiality] in diesen Ansätzen und stellt dem eine »vitale Materialität« [vital materiality] gegenüber, die nur Objekte oder Elemente auszeichnet, die auch an den lebenserhaltenden Prozessen von Organismen teilnehmen. Solche Prozesse sorgen dafür, dass gewisse Aspekte in der Umwelt 108 Michael Wheeler, »Minds, Things, and Materiality«, in: Colin Renfrew, Lam-

bros Malafouris (Hg.), The Cognitive Life of Things. Recasting the Boundaries of the Mind, Cambridge 2010, S. 29-37; dort S. 32 (Ü. d. Hg.).

des Organismus für ihn eine Bedeutung erlangen können. Darauf bauen natürlich kognitive Prozesse auf, die ja ebenfalls Bedeutung für den Organismus generieren. Wheeler glaubt damit über eine eher arbiträre Grenzziehung eines funktional beschriebenen Sys-tems hinausgehen und die Grenze des organischen Körpers mit den Grenzen der Realisierung unserer kognitiven Zustände zusammen-fallen lassen zu können.

Dies ist nun eine allzu radikale Schlussfolgerung, da man argu-mentieren kann, dass sich die Strukturen, die unseren kognitiven Leistungen unterliegen, erst später entwickelt haben und die ihnen zugrunde liegenden Strukturen auch in gewisser Unabhängigkeit von den basalen, lebenserhaltenden Prozessen realisiert sein kön-nen. Dennoch ist die Stoßrichtung für eine Philosophie der Ver-körperung von entscheidender Bedeutung, die eine naturalistische Theorie mentaler Zustände vertreten will. Vielleicht muss man zunächst verstehen, was die lebenden Körper, die kognitive Leis-tungen erbringen, grundsätzlich auszeichnet. Und vielleicht sind die Relationen, die ein solcher Körper zu seiner Umwelt aufbaut, von einer ganz anderen Art, als sie im Computermodell des Geistes gedacht wurden oder auch nur gedacht werden können. Dies ist die Grundthese des Enaktivismus, dem wir uns nun zuwenden.

4.4. Der enaktive Geist

Mit dem Label ›Enaktivismus‹ wird ein Bündel theoretischer Vor-schläge hinsichtlich der Natur des menschlichen Geistes bezeich-net, deren Grundaussage lautet, dass der menschliche Organismus seine Welt aktiv gestaltend hervorbringt [enacts] und sie nicht nur passiv wahrnimmt oder auf sie als etwas von ihm Getrenntes ein-wirkt. Ein Organismus repräsentiert nicht, er interagiert. Allgemein gefasst, stellt der Enaktivismus einen Gegenentwurf zu repräsenta-tionalen Theorien des Geistes dar, die sich in einigen ihrer Ausprä-gungen auf die metaphysische Position verpflichten, dass die Welt objektiv gegeben sei und im Geist lediglich widergespiegelt werde.

Der enaktive Ansatz wurde erstmals von Francisco Varela, Evan Thompson und Eleanor Rosch in The Embodied Mind (1991) ein-geführt.109 Entwickelt wird er dort in Auseinandersetzung mit der 109 Francisco Varela u. a., The Embodied Mind. Cognitive Science and Human Exper-

ience, Cambridge/MA 1991.

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klassischen Kognitionswissenschaft, die aus Sicht des Enaktivismus weder den Ansprüchen einer Erklärung des erfahrbaren, gelebten Körpers noch überhaupt der bewussten Erfahrung aus der Perspek-tive der ersten Person genügt, weil sie sowohl die verschiedenen geistigen Zustände als auch die zugrunde liegende Biologie in un-angemessener Weise versteht. Der Enaktivismus erweitert das Ex-planandum einer Wissenschaft des Geistes über einfache kognitive Zustände hinaus und schließt Phänomene wie den wertenden Um-welt- und Selbstbezug mit ein; er gibt in diesem Zusammenhang Empfindungen und Emotionen eine zentrale Rolle. Zudem fordert er, eine umfassendere biologische Theorie des Organismus und seiner Umwelt in das Explanans aufzunehmen. Eine Theorie der Verkörperung hat demnach, im Anschluss an Merleau-Ponty und Husserl, für die Verfechterinnen und Verfechter dieses Ansatzes den Doppelsinn, sowohl eine Theorie des gelebten Leibs (der Er-fahrung) als auch des lebenden Körpers (des Organismus) zu sein.

Zwei Thesen bestimmen diesen Ansatz. Der ersten These zufol-ge ist jede Form der Kognition abhängig von der strukturellen Kop-pelung von Welt und Organismus. Die zweite These besagt, dass kognitive Zustände (und auch erfahrbare mentale Zustände) durch eine auf die Welt gerichtete Aktivität bestimmt sind.

(a) Diese erste These ist evolutionstheoretisch motiviert: Die Geschichte des Lebens ist nicht die einer Anpassung an eine vor-gegebene Umwelt, sondern die einer kreativen Hervorbringung ei-ner Umwelt mit für das Wesen relevanten Merkmalen. Kognitive Strukturen entstehen aus dem Zusammenspiel von Aktivität und Wahrnehmung, die zum Erhalt des Organismus beitragen. Was bedeutet das? Für den Enaktivismus ist die Interaktion zwischen Lebewesen und ihrer Umwelt grundlegend. Dies ist ein Element, das ihn u. a. mit dem Pragmatismus verbindet (vgl. Abschnitt 2.3.). Doch er setzt noch eine Stufe darunter an: Lebewesen an sich wei-sen eine komplexe Organisation auf und sind bestrebt, diese zu erhalten. Komplex ist diese Organisation, weil sie aus mehreren mehr oder weniger selbständig aktiven Kreisläufen besteht. Kreis-läufe, die so koordiniert sind, dass sie zum Erhalt des Lebewesens beitragen. In einem gewissen Sinne sind Lebewesen also fortwäh-rend damit beschäftigt, sich selbst – genauer gesagt: ihre interne Organisation – hervorzubringen. Diese sich gegenseitig stützenden Prozesse, die hinreichend für die Erhaltung der internen Organisa-

tion eines Systems sind, werden auch als ›autopoetische‹ Prozesse bezeichnet, das Zusammenwirken dieser Prozesse in der Erschaf-fung und Erhaltung eines Systems wird ›Autopoiesis‹ genannt.110

Von der internen Organisation des Lebewesens zu unterschei-den ist seine Struktur. Die Struktur umfasst nämlich alle zu einem Zeitpunkt gegebenen Merkmale eines Lebewesens, insbesondere seine Beziehungen zur Umwelt. Diese sich laufend verändernden Beziehungen zur Umwelt, die der Erhaltung der internen Orga-nisation des Lebewesens dienen, bezeichnet man als strukturelle Koppelungen. Das Lebewesen wird als eine »aktive und sich selbst fortlaufend erneuernde Ansammlung von Strukturen betrachtet, die das sie umgebende Medium zu einer Umwelt umgestalten, und zwar infolge einer Geschichte der strukturellen Koppelung mit diesem Medium«.111 Für das Lebewesen sind nun allein jene Aspekte der Welt relevant, mit denen es infolge dieser Geschichte der strukturellen Koppelung etwas anfangen kann, mit denen es interagiert. Also schränken die Organisation des Lebewesens so-wie die Beschaffenheit des Mediums den Raum solcher strukturel-len Koppelungen auch ein. Das Hervorbringen einer Umwelt ist mithin kein willkürlicher oder beliebiger Vorgang. Auch können Veränderungen in den Strukturen schwere Konsequenzen für den Organismus haben. Brechen wesentliche Elemente dieser struktu-rellen Koppelung zusammen und hat der Organismus nicht die Ressourcen, sein Verhalten in Bezug auf diese Veränderungen an-zupassen, nimmt das Wesen Schaden oder stirbt.

Das System bestimmt also auf der einen Seite so etwas wie seine Identität durch die oben beschriebene Autopoiesis, es ist aber auch darauf angewiesen in der Interaktion mit der Umwelt diese Identi-tät zu erhalten. Der Begriff, der hier im Zentrum steht, ist der des »sense-making«, der darauf hinweist, dass der Organismus sich die 110 Hier enthält die Theorie Elemente einer Biologie der Kognition, wie sie Varela

in Zusammenarbeit mit Humberto Maturana seit den 1970er Jahren entwickelt hatte. Der zentrale Begriff der Autopoiesis kommt allerdings erst in Weiter-entwicklungen der enaktiven Theorie nach The Embodied Mind wirklich zum Tragen. Zur Situierung dieser Bezüge vgl. Ezequiel Di Paolo, »Autopoiesis, Adaptivity, Teleology, Agency«, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences 4 (2005), S. 429-452; vgl. auch: Thompson, Mind in Life (wie Anm. 33).

111 Franciso Varela, »Laying Down a Path in Walking«, in: William Thomp-son (Hg.), Gaia. A Way of Knowing, Hudson/NY 1987, S. 48-64, dort S. 52 (Ü. d. Hg.).

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Welt aus der Perspektive seiner Identität erschließt und damit Be-deutung aktiv hervorbringt, anstatt eine objektiv vorhandene Welt passiv abzubilden oder zu repräsentieren.112 Das ist das, was der Enaktivismus unter Kognition versteht. Der Kognitionsbegriff ist entsprechend sehr weit gefasst. Kognition gibt es schon bei einfa-chen Organismen, die sich adaptiv auf eine Welt einstellen. Die Fä-higkeit, die Welt in Form von Repräsentationen zu erfassen, diese Repräsentationen in syntaktischen Strukturen zu verarbeiten und noch in der Abwesenheit bestimmter Objekte gedanklich auf sie Bezug nehmen zu können, sind keine Voraussetzungen für Kogni-tion, wie der Enaktivismus sie versteht. Nun könnte man sogleich einwenden, dass der Repräsentationalismus und der Enaktivismus eben ganz unterschiedliche Dinge erklären möchten, für die sie bei-de unglücklicherweise den Ausdruck »Kognition« benutzen. Das wäre ein Missverständnis. Dem Enaktivismus geht es darum, alle Formen der Kognition auf der Grundlage basaler Lebensprozesse zu verstehen. Kognition gleich welcher Komplexität ist etwas, das zunächst Lebewesen und nicht Computern zukommt, also muss sie auch als eine für Lebewesen spezifische Eigenschaft verstanden wer-den. Kognition ist deshalb nicht in erster Linie Computation und Repräsentation, sondern Adaption und Interaktion. Es geht somit darum, ein graduelles Modell der Ausdifferenzierung kognitiver Prozesse von einfachen zu komplexen Lebensformen aufzustellen.

Kognition in komplexeren Organismen unterscheidet sich von der in einfachen z. B. darin, dass solche komplexeren Agenten nicht nur direkt auf Umweltzustände gerichtet sind, die für den Orga-nismus von Wert sind, sondern auch die Formen der Interaktion mit Umwelt selbst regulieren. Diese müssen z. B. angepasst werden, wenn sich die strukturellen Bedingungen stark verändern, und in diesem Sinne zeigen komplexere kognitive Agenten auch ein höhe-res Maß an Adaptivität.113 Dennoch ist beiden Formen von Kog-nition gemeinsam, dass sie auf einen Bedeutungsbegriff verweisen, der in Relation zur Selbsterhaltung des Organismus formuliert wird, und dass sie nicht voraussetzen, dass die Interaktion selbst wieder im System repräsentiert wird.114 112 Vgl. Thompson, Mind in Life (wie Anm. 33), S. 152-154.113 Vgl. Ezequiel di Paolo, »Extended Life«, in: Topoi 28 (2009), S. 9-21.114 Somit ist der Bezug auf die Selbsterhaltung eines Organismus, der sich eine be-

deutungsvolle Umwelt schafft, auch wichtig, wenn wie beim Menschen höhere

(b) Die zweite These besagt, dass auch in der Jetztzeit mensch-liche Kognition und Wahrnehmung verkörperte Handlungen [em-bodied actions] sind. Sie beruhen auf Fähigkeiten, mit denen eine Umwelt gebildet, in sie eingegriffen oder mit ihr interagiert wird, und nicht auf Mechanismen, mit deren Hilfe sie abgebildet wird. Das Nervensystem (dies ist eine empirische Hypothese, die aus der Theorie folgt) erzeugt durch die wiederkehrenden Muster der In-teraktion mit der Umwelt Bedeutung, die sich – um ein ganz kon-kretes Beispiel zu nennen – als bewusste visuelle Wahrnehmung einer bestimmten Farbe äußern kann. Dennoch kann diese Mus-terbildung zu keinem Zeitpunkt als abgeschlossen gelten; vielmehr beeinflusst jede weitere Interaktion durch die Art des Feedbacks die Strukturen, die unseren Wahrnehmungen zugrunde liegen. Die Radikalität des Ansatzes für die Kognitionswissenschaft wird anhand solcher Erklärungen deutlich: Intelligentes Verhalten und bewusste Erfahrung müssen nicht mehr vermittels der Hypothese erklärt werden, dass ein System aufgrund einer Bezugnahme auf in-nere Repräsentationen handelt. Das System interagiert dem Enak-tivismus zufolge vermittels bestimmter sensomotorischer Fähigkei-ten permanent mit der Welt, und diese Interaktion selbst bringt gewisse Wahrnehmungserfahrungen hervor.

Solchen bewussten Wahrnehmungserfahrungen widmet sich auch eine engere Variante des Enaktivismus: der sensomotorische Ansatz des Sehens von Kevin O’Regan und Alva Noë.115 Die Au-toren betonen vor allem die Rolle sensomotorischer Fertigkeiten [skills], die als eine Form des impliziten und praktischen Wissens

Stufen der Komplexität dieser Umweltrelationen hinzukommen. Wie genau die verschiedenen Ebenen der Körperlichkeit zu verstehen sind und inwiefern sie im Zuge der Komplexität auch eine besondere Form der Mittelbarkeit un-seres Bezugs auf die Welt ermöglichen, ist natürlich durchaus von Bedeutung. Die Stufen der Mittelbarkeit diskutieren z. B. zwei für den Enaktivismus zent-rale Texte: Hans Jonas, Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973 [1969]; Maurice Merleau-Ponty, Die Struktur des Ver-haltens, Berlin, New York 1976 [1942].

115 Vgl. hierzu den Text J. Kevin O’Regan, Alva Noë, »Ein sensomotorischer An-satz des Sehens und des visuellen Bewusstseins«, in diesem Band. Alva Noë beschreibt diese Theorie auch als einen ›enaktiven Ansatz‹, vgl. ders., Action in Perception (wie Anm. 107), S. 2, Fn. 1. Heute bezeichnet Noë seine Theorie, die jegliche Erfahrung als durch Formen des Zugangs bestimmt ansieht, als ›Aktio-nismus‹ [actionism], vgl. ders., Varieties of Presence, Cambridge/MA 2012, S. 23.

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um die strukturellen Veränderungen im sensorischen Input auf-grund unserer körperlichen Aktivitäten und Bewegungen verstan-den werden. Zu solchen Aktivitäten gehören z. B. Blicksprünge, Fokussierungen, Kopfbewegungen oder das Drehen des ganzen Körpers. Durch solche Bewegungen generieren wir bestimmte Ver-änderungen im Input, die sowohl typisch für bestimmte Objekte als auch für die verschiedenen Sinnesmodalitäten sind. So erfor-dert die Wahrnehmung kleiner bewegter Gegenstände eine andere Art von Bewegung als diejenige großer und stationärer Objekte. Auch sind die Bewegungen, die die visuelle Wahrnehmung beglei-ten, von einer anderen Struktur als jene der auditiven Wahrneh-mung. Diese Relationen zwischen den körperlichen Bewegungen und dem dadurch generierten Input werden als ›sensomotorische Kontingenzen‹ bezeichnet. Sensomotorische Theorien der Wahr-nehmung gehen nun davon aus, dass es sich bei der Wahrnehmung um eine Fertigkeit [skill] handelt, insofern Organismen über einen längeren Zeitraum mit der Umwelt interagieren müssen, bis sie ge-lernt haben, sensomotorischen Kontigenzen Sinn abzugewinnen. Es handelt sich hier allerdings nicht um ein explizites oder be-griffliches Wissen, sondern um die praktische Fähigkeit, den Kopf zu drehen, um ein Geräusch besser wahrzunehmen, den Blick zu fokussieren und die resultierenden Veränderungen im Input zu in-terpretieren.

Der sensomotorische Enaktivismus betont neben diesen über ei-nen Zeitraum erworbenen Fertigkeiten aber auch die Aktivität des Organismus in der aktuellen Wahrnehmungssituation. Sein Cre-do lautet, dass Erfahrung oder bewusste Wahrnehmung demnach nicht eine Eigenschaft von Neuronen ist, wie kognitive Neurowis-senschaftlerinnen und Neurophilosophen manchmal behaupten,116 sondern dass das,»was wir wahrnehmen, bestimmt ist durch das, was wir tun«.117

Doch gerade das Beispiel bewusster visueller Wahrnehmung provoziert einen naheliegenden Einwand: Halluzinationen und Träume sind mit solchen Wahrnehmungserfahrungen vergleichba-re Zustände. In diesen Fällen wird aber keine körperliche Interak-tion mit der Umwelt vorausgesetzt. Man könnte somit argumen-116 Vgl. die Ausführungen über neuronale Korrelate des Bewusstseins in Abschnitt

3.2.117 Vgl. Noë, Action in Perception (wie Anm. 107), S. 1.

tieren, dass zwar zur Ausbildung der relevanten sensomotorischen Fertigkeiten die tatsächliche Interaktion mit der Welt vonnöten sei, dass aber, sobald dieses Wissen einmal ausgeprägt ist, auch dessen neuronale Realisierung ausreicht, um vergleichbare Erfahrungen auszulösen. Dies scheint auch die Position zu sein, auf die sich der sensomotorische Enaktivismus in neueren Texten in einem gewis-sen Maße zurückgezogen hat. Zugleich betont er aber weiterhin, dass die Wahrnehmung aktiv ist, ohne auf einer körperlichen Ak-tivität in jedem Vorkommnis bestehen zu müssen. Wahrnehmung ist demnach bewegungssensitiv (d. h., wenn relevante Veränderun-gen durch Bewegung vorliegen, konstitutieren diese die Erfahrung mit), ohne bewegungsabhängig zu sein.118

Während also der sensomotorische Enaktivismus, wie er vor allem von Noë und O’Regan vertreten wird, auf das Wissen um Interaktionsformen aufbaut, hat der ursprünglich auf grundlegen-den Erkenntnissen der Biologie beruhende weitere Enaktivismus eine eigene Antwort auf die Frage formuliert, wie man das Rätsel des Bewusstseins fassen kann. Evan Thompson hat dazu das ›Leib-Seele-Problem‹ in der Philosophie des Geistes zu einem ›Körper-Körper-Problem‹ umformuliert.119 Dabei geht es nicht mehr da-rum, die Erklärungslücke zwischen der physikalischen Welt und dem Mentalen zu schließen, sondern darum, eine Brücke zu bauen. Diese Brücke besteht darin, dass sowohl die Erfahrungsformen ei-nes gelebten Körpers als auch die komplexen Interaktionsformen eines lebenden Körpers unter Bezugnahme auf den Lebensbegriff expliziert werden können.

Mit dem Verweis auf den ›gelebten‹ Körper werden gewisse Ele-mente unseres bewussten Lebens hervorgehoben, die beim Fokus auf die Beschreibung von Wahrnehmungserfahrungen in der Phi-losophie des Geistes (und z. B. der Frage, wie eine bestimmte Far-berfahrung zustande kommt) oft im Hintergrund bleiben. Solche Elemente finden sich in phänomenologischen Beschreibungen wie z. B. dem Verweis auf einen Horizont der Erfahrung, der durch den Körper gegeben wird, oder auch auf die strebende Gerichtet-heit, die wir in unseren Emotionen erfahren. Der lebende Körper auf der anderen Seite ist der biologische Organismus, der in einer 118 Ebd., S. 247.119 Vgl. Robert Hanna, Evan Thompson, »The Mind-body-body Problem«, in:

Theoria et Historia Scientarum 7 (2003), S. 24-44.

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normativen Relation zu den für ihn relevanten Elementen seiner Umwelt steht.

Inwiefern vermag nun diese neu gefasste Erklärungslücke das Verhältnis von Geist und Körper oder Subjekt und Objekt ver-ständlicher zu machen? Wenn der Enaktivismus nach der Konstitu-tion des Subjekts von Erfahrungen fragt und eine Theorie verfasst, die sich um eine genealogische Geschichte des Bewusstseins und des autonomen Subjekts bemüht, die beim lebendigen Organismus ansetzt, glaubt er damit einen theoretischen Zugang zur Subjek-tivität gefunden zu haben, der keiner zusätzlichen Erläuterungen bedarf. Die Entfaltung unseres mentalen Lebens und die Interak-tionen des Körpers sind für ihn nur zwei Aspekte dieses einen Or-ganismus. Der lebende Körper ist Objekt der Naturwissenschaften und kann in seiner Funktionsweise aus der Dritte-Person-Perspek-tive beschrieben werden. Der gelebte Körper ist der subjektiv er-fahrene Körper und ist nur dem Subjekt zugänglich bzw. nur durch phänomenologische Beschreibung fassbar. Es geht dem Enaktivis-mus also nicht darum, das sogenannte ›schwierige Problem‹ des Bewusstseins in der Form, wie es von David Chalmers formuliert wurde, zu lösen.120 Das heißt, eine Antwort auf die Frage zu geben, wie die Erlebnisdimension bewusster Erfahrungen innerhalb einer physikalistischen Weltsicht zu erklären sei. Das schwierige Problem zeichnet sich dadurch aus, dass es auch dann noch bestünde, wenn man z. B. bereits kognitive Zustände innerhalb eines im weiten Sin-ne funktionalistischen Paradigmas erklären könnte. Der Enaktivis-mus setzt stattdessen mit einer Theorie des lebenden Organismus an, die bereits diese Herangehensweise an kognitive Zustände nicht teilt, und glaubt damit ein Modell zu entwerfen, das auch Subjek-tivität und die Strukturen komplexer Erfahrung umfassen kann, da es in Kontinuität zu den einem autopoetischen Organismus zu-schreibbaren kognitiven Zuständen steht.

Dass Erfahrungsphänomene in gewissem Sinne plausibler er-klärt werden können, wenn man sie nicht als Eigenschaften von Neuronen und eines mechanischen Körpers auffasst, hatte auch der engere, sensomotorische Enaktivismus behauptet. Er sieht bewuss-te Erfahrungen bereits als Aktivitäten eines Organismus und nicht als Eigenschaften materieller Zustände an. Was den weiten Enak-120 Vgl. David Chalmers, The Conscious Mind, New York 1996. Vgl. zu Qualia und

der sogenannten Erklärungslücke auch Fußnote 80 in dieser Einleitung.

tivismus aber dennoch von einem sensomotorischen Enaktivismus unterscheidet, zeigt sich an dem Vorwurf der doppelten Unterbe-stimmtheit gegenüber lLetzterem.121 Erstens fehle der sensomoto-rischen Theorie ein theoretischer Ansatz, der sich überhaupt dem ›kreatürlichen Bewusstsein‹ widme.122 Das heißt, er versucht gar nicht zu erklären, was die Minimalbedingungen sein könnten, die gegeben sein müssen, damit überhaupt so etwas wie erfahrbare mentale Zustände entstehen. Wie wir gesehen haben, wirft hier der weitere, autopoetische Enaktivismus den lebenden Körper in die Waagschale, der sich, um sich selbst zu erhalten, in Sorge um sich selbst wertend auf die Umwelt bezieht. Damit entsteht eine Form von Innerlichkeit in der Natur, eine Form von Protoselbst, die über die objektiv-physikalische Beschreibung von mechanischen Kör-pern hinausgeht. Diese Form von Innerlichkeit, so das Argument, stelle einen anspruchsvolleren, naturalistischen Ausgangspunkt dar, mit dem man sich dem kreatürlichen Bewusstsein nähern könne. Darüber hinaus kritisiert der weitere Enaktivismus seine senso-motorische Schwestertheorie aber auch dahingehend, dass sie auf phänomenaler Ebene unterbestimmt bleibt. Sie unterschlägt einen entscheidenden Aspekt der Subjektivität unserer Wahrnehmungs-erfahrungen: Wir erfahren die sensomotorische Interaktion immer auch als unsere. Somit beinhalten auch Wahrnehmungserfahrungen ein intransitives Element, ein implizites, nicht auf Objekte gerich-tetes Selbstbewusstsein, das in unserem Körper verankert ist.

121 Vgl. hierzu Evan Thompson, »Sensorimotor Subjectivity and the Enactive Ap-proach to Experience«, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences 4 (2005), S. 407-427. Eine weiterführende Diskussion zu den zwei Varianten des Enak-tivismus bei Joerg Fingerhut, »The Body and the Experience of Presence«, in: ders., Sabine Marienberg, Feelings of Being Alive, Berlin, Boston 2012, S. 167-199, und Daniel Hutto, Erik Myin, Radicalizing Enactivism, Cambridge/MA 2012, insbesondere S. 23-36.

122 Vgl. zu diesem Begriff und seiner Vorgeschichte in der Philosophie des Geis-tes: Tim Bayne, »Conscious States and Conscious Creatures. Explanation in the Scientific Study of Consciousness«, in: Philosophical Perspectives 21 (2007), S. 1-21.

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5. Zur Auswahl der Texte

5.1. Verkörperung und Einbettung

John Haugelands Aufsatz »Der eingebettete und verkörperte Geist« steht am Anfang dieser Textsammlung. Dieser Aufsatz zirkulierte, schon lange bevor er 1998 erschien, als Vortragsmanuskript und führte zu regen Debatten. Haugeland vertritt die Auffassung, dass sowohl unser intelligentes Verhalten als auch unser Denken und Sprechen ›innig‹ [intimate] mit unserer konkreten Verkörperung und der Welt, in der wir uns befinden, verbunden ist. Haugelands Kritik am Repräsentationalismus, dem zufolge Bedeutung nur dort sein kann, wo Subjekte die Welt in irgendeiner Form abbilden oder repräsentieren, lautet: Subjekte mögen auch Träger von bedeutsa-men Zuständen sein, doch bedeutsam ist zuerst die Welt selbst, und was intelligentes Verhalten voraussetzt, ist die Fähigkeit zum kundigen oder gekonnten123 Umgang mit der Welt und nicht die Fähigkeit, die Welt mittels Repräsentationen abzubilden und zu beschreiben. Die wesentliche Unterteilung ist nicht die in Geist, Körper und Welt, sondern die in verschiedene Interaktionen von bedeutsamen Teilen der Welt und des Körpers. Einen speziellen Ort des Geistigen gibt es nicht, das Geistige besteht vielmehr in der Interaktion von Körper und Welt. In diesem Sinne ist der Geist sowohl innig mit dem Körper als auch mit der Welt verbunden. Haugeland präsentiert weniger ein Argument für diese These der Verkörperung und der Einbettung des Geistes, als dass er versucht aus unterschiedlichen Perspektiven und mit Hilfe verschiedener theoretischer Ansätze ein Gegenbild zum Repräsentationalismus zu entwerfen. So sieht er diesen Gedanken beispielsweise auch in Rodney Brooks’ Robotern umgesetzt.

Der Robotiker Rodney Brooks, dessen Aufsatz der zweite in dieser Sammlung ist, begann in den 1980er Jahren Roboter nach anderen Konstruktionsprinzipien als denen der Künstlichen-Intel-

123 In der englischsprachigen Debatte hat sich der Ausdruck ›skill‹ für alle For-men von praktischem Wissen und Fertigkeiten eingebürgert. Die gekonnte Beherrschung wird als ›skillful‹ bezeichnet. Da es keine treffende einheitliche deutsche Übersetzung für diesen Begriff gibt, er jedoch ein zentraler Begriff der Philosophie der Verkörperung geworden ist, haben wir ihn je nach Kontext un-terschiedlich übersetzt, den englischen Begriff aber in Klammern stehen lassen.

ligenz-Forschung der 1960er Jahre zu entwickeln. Der Ausgangs-punkt war dabei eine denkbar einfache Frage: Können Insekten, die sich durch kompliziertes Gelände bewegen, mit ihren primitiven Nervensystemen nicht wesentlich mehr als spezialisierte digitale Computer mit großer Rechen- und Speicherleistung? Mit der Ab-sicht, solche intelligenten Verhaltensformen wie die von Insekten zu simulieren, entwickelte Brooks die sogenannte ›Subsumtionsar-chitektur‹. Roboter, die nach den Prinzipien der Subsumtionsar-chitektur aufgebaut sind, bestehen aus verschiedenen Schichten, die parallel und relativ unabhängig voneinander laufen. Eine solche Architektur beginnt bei Kontrollsystemen für einfaches Verhalten (z. B. der Vermeidung von Hindernissen). Jede neue Schicht fügt zusätzliche Kontrollsysteme für weitere Verhaltensweisen hinzu. Eine neue Schicht wird erst hinzugefügt, wenn die erste Schicht sich erfolgreich in einer realen Umwelt bewährt hat. Komplexes Verhalten ergibt sich also nicht dadurch, dass der Roboter eine Repräsentation mit Hilfe von Informationen errechnet und diese dann zum Zweck einer Verhaltensentscheidung dem Zentralsystem zur Verfügung stellt. Darauf kann verzichtet werden, weil die ein-zelnen Schichten der Roboter unmittelbar auf ganz spezifische In-formationen aus der Umwelt reagieren. Prominent hat Brooks den Verzicht auf Repräsentationen in den folgenden Slogan gepackt: »The world is its own best model.«124

Der 1995 erschienene Aufsatz »Körperbild und Körperschema bei einem deafferenten Patienten«, der von dem Philosophen Shaun Gallagher und dem klinischen Neurophysiologen Jonathan Cole verfasst worden ist, eröffnet eine andere Perspektive auf den Begriff der Verkörperung, der aus der Phänomenologie und der Neuro-logie gleichermaßen stammt. Gallagher und Cole diskutieren die wichtige Unterscheidung zwischen Körperbild und Körperschema. Das Körperbild umfasst überwiegend bewusste Wahrnehmungen, Emotionen und Gedanken, die den eigenen Körper zum Objekt haben. Das Körperschema besteht zum großen Teil aus unbewuss-ten neuronalen Mechanismen, die über die Selbstwahrnehmung des eigenen Körpers Haltung und Bewegungen steuern. Die Auto-ren kritisieren nun, dass die beiden Begriffe in kognitionspsycholo-

124 Rodney Brooks, »Elephants Don’t Play Chess«, in: Robotic and Autonomous Sys-tems 6 (1990), S- 3-5.

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gischen Arbeiten häufig ungenau gebraucht und vermengt werden. Die unterschiedlichen Funktionsweisen von Körperbild und Kör-perschema lassen sich in drastischer Form am Fall des Patienten Ian Waterman (IW) aufzeigen, der nach einer Erkrankung an einer schweren Neuropathie leidet und seinen Sinn für Propriozeption fast vollständig verloren hat. Ihm fehlt damit die Grundlage für das Funktionieren des Körperschemas. Er musste durch bewusstes, vor allem visuelles Fokussieren auf den eigenen Körper lernen, diesen aufrecht zu halten und so den Verlust des Körperschemas durch das Körperbild zu kompensieren. Anhand der Einschränkungen IWs lässt sich also auch gut aufzeigen, wie sehr für gewöhnlich die Struktur unseres Bewusstseins und unsere Fähigkeiten durch un-seren Körper und seine Grundfunktionen mitbestimmt sind. Weil aber diese Fähigkeiten nicht der Selbstreflexion zugänglich sind, braucht die Phänomenologie eine Fundierung in der empirischen Kognitionswissenschaft, wie sie Gallagher und Cole exemplarisch vorführen.125

5.2. Aktiver Externalismus

Kein einzelner Aufsatz aus dem Bereich der Philosophie der Ver-körperung hat eine solche Wirkung gezeigt wie Andy Clarks und David Chalmers’ »Der ausgedehnte Geist« von 1998. Der zentrale Gedanke der Autoren besagt, dass sich die Träger mentaler Zustän-de unter gewissen Umständen (teilweise) außerhalb des Gehirns und manchmal sogar außerhalb des Körpers befinden. Um dies zu zeigen, führen die Autoren das methodische Prinzip der Gleich-behandlung [parity principle] ein, das uns auffordert, den Beitrag von bestimmten Elementen und Strukturen zu kognitiven Zustän-den ohne Ansehung der Tatsache, ob sie sich im Gehirn oder eben außerhalb befinden, zu beurteilen. Zweitens veranschaulichen sie den Grundgedanken durch einige empirische Studien und Ge-dankenexperimente, von denen insbesondere das Beispiel des Alz-heimerpatienten Otto bekannt geworden ist. Otto benutzt sein Notizbuch, um Informationen abzurufen, ebenso, wie dies andere Leute mit Hilfe ihres Gedächtnisses tun. Das Notizbuch ist also ein 125 Den Gedanken, dass die Phänomenologie einer solchen Fundierung bedürfe,

entwickelt Gallagher ausführlicher in ders., How the Body Shapes the Mind (wie Anm. 33).

externer Teil seines Gedächtnisses. Clark und Chalmers bauen ihre Argumentation auf dem funktionalistischen Bild des Geistes auf (vgl. Abschnitt 3.1.). Elemente, die sich außerhalb des Organismus befinden, können dieselbe funktionale Rolle in kognitiven Prozes-sen spielen wie Elemente, die sich innerhalb des Organismus oder im Gehirn befinden. Der Geist wird dadurch wortwörtlich ausge-dehnt, nämlich über die Grenzen des Körpers hinaus.126

Der ebenso einfache wie provozierende Grundgedanke dieses Texts hat Anlass zu kritischer Diskussion gegeben. Adams und Ai-zawas Text »Die Grenzen der Kognition« von 2001 steht exempla-risch für viele Texte, die in Reaktion auf Clark und Chalmers ent-standen sind.127 Die Autoren behaupten, dass Kognition wesentlich mit nicht abgeleitetem oder intrinsischem Gehalt verbunden sei. Dies bedeutet zunächst, dass in genuinen kognitiven Prozessen (und nur in diesen) notwendigerweise mit Elementen operiert wird, deren Bedeutung ihnen nicht wie bei externen Zeichen und Artefakten über Konvention zugeschrieben wird. Ein weiteres Merkmal des Kognitiven ist Adams und Aizawa zufolge, dass es durch eine hin-reichend ähnliche kausale Struktur realisiert wird. Die kausalen Prozesse, die sich zwischen Neuronen abspielen, unterscheiden sich zu sehr von denen, die sich zwischen einem Notizbuch und der es nutzenden Person abspielen. Die Kognitionswissenschaft würde Gefahr laufen, die Einheit ihres Gegenstandes zu verlieren, wenn sie von kognitiven Prozessen außerhalb des Kopfes ausgehen würde. Adams und Aizawa akzeptieren damit das Gleichbehand-lungsprinzip von Clark und Chalmers, halten es aber für eine kon-tingente Tatsache, dass es in unserer Welt keine kognitiven Prozesse außerhalb des Kopfes gibt, die über intrinsische Gehalte verfügen und den kausalen Strukturen im Hirn hinreichend ähnlich sind.

Eine andere Stoßrichtung der Kritik findet sich in Kim Sterel-nys »Der Geist – ausgedehnt oder gestützt?« von 2010. Er hebt die Bedeutung von Umweltressourcen hervor, die sich dadurch aus-zeichnen, dass sie nicht in die kognitiven Routinen eines Indivi-

126 Aus diesem Grund haben wir uns entscheiden, den englischen Ausdruck »ex-tended mind« als »ausgedehnter Geist« zu übersetzen und nicht als »erweiterter Geist«.

127 Dieser Text stellt den Anfang einer andauernden Debatte zwischen den Auto-ren, Andy Clark und weiteren befürwortenden und kritischen Stimmen zur Ausdehnungsthese dar. Vgl. Menary (Hg.), The Extended Mind (wie Anm. 90).

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duums integriert sind, sondern der Allgemeinheit zur Verfügung stehen. Dabei leugnet er nicht, dass eine enge kausale Kopplung mit Hilfsmitteln manchmal möglich ist. Allerdings hält er diese für Sonderfälle eines viel allgemeineren Phänomens, nämlich der im Verlaufe der Evolution entstandenen Passung und gegenseitigen Beeinflussung von Umwelt und Organismus. Im Verlaufe der Evo-lution ist die Umwelt zu einer entscheidenden Stütze der mensch-lichen Intelligenz geworden. Damit stimmt die ›Hypothese vom gestützten [scaffolded] Geist‹ in wesentlichen Teilen mit der des aus-gedehnten Geistes überein: Menschliches Problemlösen hängt von Umweltressourcen ab und wird auch durch die jeweils verfügbaren Umweltressourcen verändert. Allerdings kritisiert Sterelny, dass der Fokus auf die individualisierte Passung und die engen Kop-pelungsbedingungen zwischen Individuum und Umwelt gerichtet wird. Stattdessen sollten wir besser die kognitiven Vorsorgeleistun-gen unserer Vorgängergenerationen in den Blick nehmen.128 Die kumulativ geschaffenen und entwickelten physischen und sozialen Hilfsmittel und die durch sie mögliche intergenerationale Vermitt-lung verlangen nach einer theoretischen Durchdringung, die durch einen Fokus auf die Sonderfälle der kognitiven Integration, wie sie Clark und Chalmers betreiben, in den Hintergrund gedrängt wer-de. Mit Blick auf die gängige Terminologie ließe sich sagen, dass Sterelny die Einbettung des Geistes gegenüber dessen Ausdehnung für das interessantere Merkmal hält.

5.3. Enaktivismus

Bei dem Text »Enaktivismus – verkörperte Kognition« handelt es sich um das leicht gekürzte 8. Kapitel von einem der modernen Urtexte der Philosophie der Verkörperung, und zwar The Embodied Mind von Francisco Varela, Evan Thompson und Eleanor Rosch. Die Arbeit an diesem Buch begann 1986 und wurde 1990 abge-schlossen. Der Text stellt ein frühes Zeugnis einer neuen Richtung des Nachdenkens über den Geist dar, der die Entwicklung in der Kognitionswissenschaft fest im Blick hatte und im Bezug auf diese die Forderung aufstellte, den dort vorherrschenden »repräsentati-

128 Vgl. Kim Sterelny, The Evolved Apprentice. How Evolution Made Humans Unique, Cambridge/MA 2012.

onalistischen Ansatz vom Kopf auf die Füße [zu] stellen«.129 Das ausgewählte 8. Kapitel zeichnet sich durch die Einführung des Begriffs der schöpferischen oder ›enaktiven‹ Kognition und der konkreten Anwendung auf das Beispiel der Farbwahrnehmung aus. Wahrnehmung stelle keinen passiven Prozess der Spiegelung der Welt, sondern einen aktiven Prozess der Erschließung der Welt dar. Wahrnehmung ist zunächst einmal wahrnehmungsgesteuertes Verhalten. Nun entstehen aber durch die Koppelung von Organis-mus und Umwelt zugleich auch die (körperlichen und neuronalen) Strukturen, die diesen Verhaltensweisen unterliegen. Die Autoren beziehen sich auf die Tradition der philosophischen Hermeneu-tik, die das Verstehen als fortwährende Interpretation vor einem Hintergrund auffasst.130 Dies ist ein Verweis darauf, dass Verstehen (auch im Sinne einer einfacheren, biologischen Kognition) einem stetigen Wandel unterzogen ist, weil man verstehend immer auf bestimmte Aspekte der Umwelt reagiert, sie interpretiert oder sogar in die Welt eingreift und diese damit verändert. Der Verweis auf die Hermeneutik (und die Phänomenologie) bringt auch die grundle-gende Einstellung der Autoren zum Ausdruck, dass die sich schnell entwickelnde Kognitionswissenschaft sich auch die Einsichten in die Funktionsweisen des Geistes zunutze machen sollte, die in den Humanwissenschaften zu finden sind.

Der enaktivistische Ansatz von The Embodied Mind gibt An-lass zu der Auffassung, dass auch bewusste subjektive Erfahrungs-zustände auf der Grundlage von aktiven Interaktionen mit der Umwelt verstanden werden könnten. Damit ist das Thema des phänomenalen Bewusstseins oder der Qualia angesprochen, dem in der Philosophie des Geistes ein wichtiger Stellenwert zukommt. Eine der zentralen philosophischen Fragen lautet, ob bewusste subjektive Erfahrungszustände mit Mitteln der Kognitionswis-senschaft erklärt werden können, insbesondere mit Hilfe von so-genannten ›neuronalen Korrelaten‹ für solche Zustände. Kevin O’Regan und Alva Noë widmen sich dieser Farge in ihrem Text von 2001 »Ein sensomotorischer Ansatz des Sehens und des visu-

129130 So hatte Varela ursprünglich statt von einem ›enaktiven Ansatz‹ von einem

›hermeneutischen Ansatz‹ [hermeneutic approach] gesprochen. Vgl. Thompson, Mind in Life (wie Anm. 33), S. 14, Fn. 9.

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ellen Bewusstseins«.131 Sie schlagen vor, dass Qualia weniger als Eigenschaften von neuronalen Zuständen im erlebenden Subjekt verstanden werden sollten als vielmehr als etwas, das durch Aktivi-täten von Subjekten konstituiert wird. Der sensomotorische Ansatz der Autoren, der sich ganz auf Wahrnehmungserfahrungen kon-zentriert, kritisiert zunächst, dass nichts an sich in den an diesen Aktivitäten beteiligten neuronalen Zuständen eine Wahrnehmung oder eine entsprechende qualitative Erfahrung realisieren kann. Ihr Gegenvorschlag besagt, dass bestimmte Muster der Interakti-on zwischen Organismus und Umwelt die konstitutive Basis für die Erklärung verschiedener Wahrnehmungserfahrungen sind. Ein zentrales Beispiel im Text ist die visuelle Erfahrung einer reichhal-tigen Umwelt. Wir nehmen die Welt um uns herum als detailliert und farbig wahr, obwohl wir zu einem bestimmten Zeitpunkt der Wahrnehmung ja nur von einem ganz kleinen Bereich unseres Gesichtsfeldes detaillierte und farbige Informationen im Gehirn verarbeiten. Die Autoren argumentieren, dass unsere Erfahrung der Reichhaltigkeit nicht auf den im Nervensystem gespeicherten Informationen beruht, sondern stattdessen auf dem praktischen Wissen um unsere Interaktionsmöglichkeiten mit der Umwelt. Ein wahrnehmendes Subjekt erfährt demnach die Szene in seinem Ge-sichtsfeld als detailliert, weil es sich auf bestimmte Weise bewegt und verhält und weil es implizit weiß, dass die Szene für es zu-gänglich ist. Unsere phänomenale Erfahrung beruht also nicht auf neuronaler Verarbeitung oder repräsentierter Information, sondern auf dem impliziten und praktischen Wissen, dass uns die Umwelt vermittels einer körperlich erschließenden Tätigkeit zugänglich ist.

In ihrem Aufsatz »Wahrnehmen und Handeln. Alternative Sichtweisen« vertritt Susan Hurley die These, dass sich nicht nur die Gehalte von bewussten oder gefühlten Zuständen in der Welt befinden, sondern dass auch die Träger dieser Gehalte nicht im Gehirn allein realisiert sind, dass sie vielmehr durch eine Rück-kopplungsschleife realisiert werden.132 Unter einer Rückkopplungs-

131 Dieser Text ist der längste dieser Sammlung, und dies obwohl er für diesen Band um ein Drittel gekürzt wurde. Verzichtet haben wir auf Zusammenfas-sungen alternativer philosophischer Positionen und einen Teil der diskutierten empirischen Studien.

132 Vgl. dazu ausführlicher Susan Hurley, Consciousness in Action, Cambridge/MA 1998.

schleife versteht man die ständige Interaktion zwischen Umwelt, Körper und Gehirn. Eng mit dieser These verknüpft ist Hurleys in dem vorliegenden Aufsatz ausgeführte Kritik an der traditionellen Architektur des Geistes, die Wahrnehmung und Handlung als ge-trennte Vermögen betrachtet, die nur vermittelt durch den Geist oder höhere kognitive Prozesse interagieren können. Hurley be-zeichnet dieses Modell als Sandwichmodell. Sie ist darum bemüht, die gesamte Landschaft an Wahrnehmungs- und Handlungstheo-rien, die vom Sandwichmodell abweichen, entsprechend der Radi-kalität ihrer Annahmen zu sortieren. Ihr eigener Ansatz ist dabei der radikalste, insofern er davon ausgeht, dass es eine konstitutive Verknüpfung zwischen Wahrnehmung und Handlung gibt, die erst die Gehalte von Wahrnehmungs- und Handlungsrepräsentationen entstehen lässt, und darüber hinaus annimmt, dass die Verarbei-tungsprozesse, die Wahrnehmungen und Handlungen generieren, nicht linear verlaufen, sondern dynamisch interagieren. Hurley geht in detaillierter Auseinandersetzung mit neurowissenschaftli-chen Studien davon aus, dass Wahrnehmungs- und Handlungs-prozesse im Gehirn dezentral verarbeitet werden. Wahrnehmen und Handeln lassen sich zwar auf funktionaler Ebene trennen, dies bedeutet jedoch weder, dass sie auf der körperlichen Ebene klar geschiedene Vermögen wären, noch, dass Wahrnehmungsrepräsen-tationen an sich Bedeutung haben könnten.133

5.4. Kritik und Diskussion

Nicht nur die These des ausgedehnten Geistes hat, wie wir gesehen haben, sowohl kritische als auch weiterführende Auseinanderset-zungen provoziert, sondern ebenso die Thesen des Enaktivismus und der Verkörperung. Im letzten Teil dieses Bandes finden sich Texte, die im Hinblick auf das bewusste Erleben den Repräsentati-onalismus (Lycan) bzw. den Vorrang des Gehirns (Prinz) verteidi-gen. Auch die enge Anbindung kognitiver und mentaler Zustände an bestimmte Weisen der Verkörperung erscheint manchem zu eng (Clark).

William Lycan vertritt seit vielen Jahren eine repräsentationa-listische Theorie der bewussten Erfahrung.134 In seinem Aufsatz 133134 Vgl. William Lycan, Consciousness, Cambridge/MA 1987; ders., Consciousness

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»Enaktive Intentionalität« von 2006 stellt er diese Theorie dem sensomotorischen Ansatz von Alva Noë entgegen. Der Repräsen-tationalist behauptet, dass Wahrnehmungen einen Gehalt haben, weil Repräsentationen von etwas handeln, also die Eigenschaft der Intentionalität besitzen. Überdies haben Wahrnehmungen be-stimmte phänomenale Eigenschaften oder Qualia, und zwar des-halb, weil sie Merkmale der Welt repräsentieren. Demgegenüber behaupten Enaktivisten wie Noë, dass innere Repräsentationen der Umwelt für die Wahrnehmung überflüssig sind. Wahrnehmungs-erfahrungen haben ihren Gehalt und ihre Qualität kraft unserer körperlichen Fertigkeiten, kraft der Art und Weise, wie wir sen-sorische Informationen und körperliche Tätigkeiten koordinieren. Wahrnehmen hat also nichts mit der Repräsentation von Objekten und ihren Eigenschaften zu tun, sondern ist ein direkter und akti-ver Kontakt mit äußeren Objekten und ihren Eigenschaften. Lycan führt nun im Detail die einzelnen Thesen und Argumente von Noë auf und setzt sie drei Arten der Kritik aus. Erstens schließen die Ar-gumente alternative repräsentationalistische Erklärungen nicht aus. Zweitens vermag der Repräsentationalismus die gleichen Phänome-ne ebenso gut zu erklären wie der Enaktivismus. Hierzu gehört das Phänomen, dass unsere Wahrnehmungen manchmal einen doppel-ten Gehalt haben: So sehen wir, dass ein Teller rund ist, obwohl er uns aus dieser Perspektive gleichzeitig als elliptisch erscheint. Drittens gibt es Phänomene, die der Repräsentationalismus erklä-ren kann, der Enaktivismus hingegen nicht: Hierzu gehören Lycan zufolge vor allem visuelle Täuschungen und Halluzinationen. Ab-schließend vermutet Lycan, dass der Enaktivismus tatsächlich nicht zwingend gegen die Annahmen von Repräsentationen spricht, er motiviert ihre Ablehnung also nur unzureichend.135

Der englische Originaltitel von Andy Clarks Aufsatz »Das Fleisch in die Mangel nehmen« aus dem Jahre 2008 lautet »Pressing the Flesh«. Er benennt das Thema des Aufsatzes sehr präzise: Es geht darum, genau zu bestimmen, welche Rolle der Körper für die Philosophie der Verkörperung spielt bzw. bis zu welchem Grad die

and Experience, Cambridge/MA 1996. Vgl. die Aufsätze in Frank Esken, Heinz-Dieter Heckmann (Hg.), Bewusstsein und Repräsentation, Paderborn 1999.

135 Für einen Mittelweg einer Philosophie der Verkörperung zwischen Ablehnung und Überbetonung von mentalen Repräsentationen vgl. Julian Kiverstein, »The Meaning of Embodiment«, in: Topics in Cognitive Science 4 (2012), S. 740-758.

genaue Beschaffenheit des Körpers für die Realisierung bestimmter kognitiver Zustände relevant ist. Clark stellt zwei Positionen ein-ander gegenüber, einerseits Ansätze, die im Enaktivismus beheima-tet sind und darauf bestehen, dass die Beschaffenheit des Körpers bis ins Detail hinein relevant dafür ist, wie sich z. B. ein konkreter Wahrnehmungszustand anfühlt, und andererseits Ansätze, zu de-nen Clarks eigenes Werk gehört, die ihre Wurzeln im Funktiona-lismus haben. Wie oben gesehen, ist für den Funktionalismus der Gedanke der multiplen Realisierbarkeit zentral. Kognitive Zustän-de werden über ihre Funktion definiert, nicht über ihre materielle Beschaffenheit. Auf diesem Gedanken basiert auch Clarks Theorie des ausgedehnten Geistes, deren Grundidee ja gerade lautet, dass die multiple Realisierbarkeit die Annahme nahelegt, dass kognitive Zustände und Prozesse auch durch Dinge außerhalb des Kopfes mit konstituiert werden können. Ebendiesen Gedanken versucht Clark hier gegenüber anderen Ansätzen, wie jenen von O’Regan und Noë, abzugrenzen und zu verteidigen, weil er dort eine zu enge Bindung von mentalen Fähigkeiten an eine besondere körperliche Beschaffenheit sieht.

Jesse Prinz’ Aufsatz »Ist das Bewusstsein verkörpert« (2009) ist einer englischsprachigen Sammlung von Texten zur Philosophie der Verkörperung entnommen.136 Prinz vertritt eine gemäßigte Position und greift verschiedene Thesen und Argumente des sen-somotorischen Enaktivismus an. Wie oben dargestellt, behauptet dieser u. a., dass sich der bewusst erfahrene Detailreichtum der Welt nur anhand des Verweises auf die gekonnte [skillful] Interak-tion mit der Welt erklären ließe. Prinz formuliert eine alternative Erklärung, die auf seiner eigenen Theorie des Bewusstseins beruht. Die Empfindung der Reichhaltigkeit entsteht Prinz zufolge nicht deswegen, weil wir permanent auf die Welt zugreifen können, son-dern weil wir detailreiche Repräsentationen der Umwelt kodieren. Diese würden zwar nicht dauerhaft abgespeichert, aber sie stehen dem Organismus dennoch für eine gewisse Zeit zur Verfügung und können somit als Basis für unsere Erfahrung der Reichhaltigkeit herhalten. Damit behauptet Prinz, eine repräsentationale Theorie des Geistes aufrechterhalten zu können, die näher an der Praxis der

136 Siehe Robbins/Aydede (Hg.), The Cambridge Handbook of Situated Cognition (wie Anm. 34).

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Neurowissenschaften operiert und deren Ergebnisse besser erklärt als enaktivistische Theorien. Ihm zufolge sind bewusste Zustände Repräsentationen im Gehirn, auf die sich unsere Aufmerksamkeit richtet und die somit in unsere Handlungsentscheidungen integ-riert werden können. Dies sind Informationen, die auf einer ›mitt-leren‹ Ebene, wie Prinz sie nennt, kodiert werden. Diese Ebene ist allgemeiner als die Ebene einfacher Kodierungen von Sinnesinfor-mationen, aber konkreter als die allgemeinen Begriffe. Zwar finden wir auch Kodierungen der oberen und unteren Ebenen im Gehirn, bewusst erfahren wir allerdings nur Gehalte, die auf der mittleren Ebene verarbeitet werden. Obwohl Prinz also den Antirepräsenta-tionalismus der Philosophie der Verkörperung ablehnt, findet auch er einen Bereich, für den er eine gemäßigte Verkörperungsthese vertreten will. Dabei handelt es sich um die Rolle des Körpers für gewisse Formen des Selbstbewusstseins und der Einheit der Erfah-rung. Für die Letztere unterbreitet Prinz die These, dass diese erst durch einen gemeinsamen Ort der Handlungen des Subjekts mög-lich sei, nämlich eben durch den Körper des Subjekts.

1. Verkörperung und Einbettung

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