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Regionale Unterschiede in der Langzeitpflege

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72 Einleitung Im Dezember 2011 waren in Deutschland 2,5 Mio. Menschen pflegebedürftig im Sinne des SGB XI [1, S. 5]. Diese Zahl wird auch in den nächsten vier De- kaden weiter steigen. Das Ausmaß der Zunahme der Fallzahlen hängt dabei insbesondere davon ab, wie sich die Pflegeprävalenzen, also die alters- und ge- schlechtsspezifischen Pflegehäufigkeiten, im Zeit- verlauf entwickeln. Seit Einführung der Pflegesta- tistik im Jahr 1999 sind diese Quoten bemerkenswert konstant geblieben [2, S. 75f.]. Unter der Annahme auch in Zukunft konstanter Pflegeprävalenzen er- wartet das Statistische Bundesamt bis zum Jahr 2050 einen Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen auf 4,5 Mio. [3, S. 29f.]. Um zu beurteilen, wie relevant Pflegebedürftigkeit für die Bevölkerung ist, sind die Lebenszeitprävalenzen, die Antwort auf die Frage ge- ben, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, jemals im Leben pflegebedürftig zu werden, noch wichtiger. Hier zeigt sich, dass bereits heute jeder zweite Mann und zwei von drei Frauen pflegebedürftig werden [2, S. 169ff.]. Angesichts dieser Zahlen kann kein Zwei- fel daran bestehen, dass Pflegebedürftigkeit bereits heute und mehr noch in der Zukunft ein Thema ist, das jeden betrifft und deshalb von erheblicher ge- sundheitspolitischer Bedeutung ist. Wie auch in an- deren Bereichen des Krankheitsgeschehens und der Versorgung sind dabei regionale Unterschiede be- merkenswert ausgeprägt. Wie stellen sich diese Unterschiede in Bezug auf Pflegeprävalenzen und Versorgung dar? Und wie werden sie sich in Zukunft entwickeln, wenn nicht gegengesteuert wird? Die- sen Fragen geht der nachfolgende Beitrag nach. Regionale Unterschiede in den Pflegeprävalenzen Wird die Zahl der Pflegebedürftigen zur Bevölkerung der entsprechenden Region in Relation gesetzt, zei- gen sich in den Regionalauswertungen des Statisti- schen Bundesamtes zum Jahresende 2011 hohe Pflegeprävalenzen insbesondere in Teilen Mecklen- burg-Vorpommerns, Brandenburgs, aber auch in Hessen, dagegen niedrige Prävalenzen in großen Tei- len Baden-Württembergs und Bayerns [4]. Ein we- sentlicher Grund für diese Unterschiede liegt in der Altersstruktur. So korreliert auf Ebene von 409 Krei- sen und kreisfreien Städten der Anteil der Pflegebe- dürftigen an der Bevölkerung hoch mit dem Anteil der 75-Jährigen an der Bevölkerung (r 2 = 0,36). Gut ein Drittel der Varianz in den Pflegeprävalenzen lässt sich demnach allein mit dem Anteil der Hochaltri- gen (hier: 75 Jahre und älter) erklären. Wird die Al- tersstruktur kontrolliert, ändert sich die regionale Verteilung. Das zeigt der Vergleich der ❱❱❱ Abbildun- gen 1 und 2. In ❱❱❱ Abbildung 1 sind die tatsächlichen Pflegeprävalenzen auf Ebene der Landkreise und kreisfreien Städte für Ende 2009 angegeben. In ❱❱❱ Ab- bildung 2 sind dann die Pflegeprävalenzen angege- ben, die sich ergeben, wenn die Bevölkerung aller Kreise und kreisfreien Städte – kontrafaktisch – auf die bundesweite Bevölkerung des Jahres 2009 stan- dardisiert wird, also so getan wird, als hätten alle Kommunen die gleiche Altersstruktur. Wie ❱❱❱ Abbil- dung 2 zeigt, steigen die Prävalenzen insbesondere in Teilen Mecklenburg-Vorpommerns, aber auch in einzelnen Regionen etwa in Niedersachsen, wäh- rend sich die hohen Werte insbesondere in Hessen deutlich reduzieren, wenn die Altersstruktur kont- rolliert wird und damit nur die altersspezifischen Prävalenzen abgebildet werden. Dennoch verbleiben auch bei Kontrolle der Altersstruktur noch erhebli- che regionale Unterschiede bestehen. Worauf sind diese zurückzuführen? Entsprechende Arbeiten mit Kassendaten zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit, pflegebedürftig zu werden, insbesondere von Alter, Geschlecht (in ❱❱❱ Abbildung 2 jeweils kontrolliert), Vorerkrankungen, hier insbesondere dem Vorliegen chronischer Erkrankungen, und der sozialen Lage abhängt [5, S. 132ff.; 6]. Die soziale Lage ist anhand der Routinedaten der Kassen nur schlecht rekonstru- R egionale Unterschiede in der Langzeitpflege Heinz Rothgang, Rolf Müller und Rainer Unger Zentrum für Sozialpolitik, Universität Bremen aus: Knieps F | Pfaff H (Hrsg.) „Gesundheit in Regionen“. BKK Gesundheitsreport 2014. ISBN 978-3-95466-134-3, urheberrechtlich geschützt © 2014 MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft und BKK Dachverband e.V.
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Einleitung

Im Dezember 2011 waren in Deutschland 2,5 Mio. Menschen pflegebedürftig im Sinne des SGB XI [1, S. 5]. Diese Zahl wird auch in den nächsten vier De-kaden weiter steigen. Das Ausmaß der Zunahme der Fallzahlen hängt dabei insbesondere davon ab, wie sich die Pflegeprävalenzen, also die alters- und ge-schlechtsspezifischen Pflegehäufigkeiten, im Zeit-verlauf entwickeln. Seit Einführung der Pflegesta-tistik im Jahr 1999 sind diese Quoten bemerkenswert konstant geblieben [2, S. 75f.]. Unter der Annahme auch in Zukunft konstanter Pflegeprävalenzen er-wartet das Statistische Bundesamt bis zum Jahr 2050 einen Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen auf 4,5 Mio. [3, S. 29f.]. Um zu beurteilen, wie relevant Pflegebedürftigkeit für die Bevölkerung ist, sind die Lebenszeitprävalenzen, die Antwort auf die Frage ge-ben, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, jemals im Leben pflegebedürftig zu werden, noch wichtiger. Hier zeigt sich, dass bereits heute jeder zweite Mann und zwei von drei Frauen pflegebedürftig werden [2, S. 169ff.]. Angesichts dieser Zahlen kann kein Zwei-fel daran bestehen, dass Pflegebedürftigkeit bereits heute und mehr noch in der Zukunft ein Thema ist, das jeden betrifft und deshalb von erheblicher ge-sundheitspolitischer Bedeutung ist. Wie auch in an-deren Bereichen des Krankheitsgeschehens und der Versorgung sind dabei regionale Unterschiede be-merkenswert ausgeprägt. Wie stellen sich diese Unterschiede in Bezug auf Pflegeprävalenzen und Versorgung dar? Und wie werden sie sich in Zukunft entwickeln, wenn nicht gegengesteuert wird? Die-sen Fragen geht der nachfolgende Beitrag nach.

Regionale Unterschiede in den Pflegeprävalenzen

Wird die Zahl der Pflegebedürftigen zur Bevölkerung der entsprechenden Region in Relation gesetzt, zei-gen sich in den Regionalauswertungen des Statisti-

schen Bundesamtes zum Jahresende 2011 hohe Pflege prävalenzen insbesondere in Teilen Mecklen-burg-Vorpommerns, Brandenburgs, aber auch in Hessen, dagegen niedrige Prävalenzen in großen Tei-len Baden-Württembergs und Bayerns [4]. Ein we-sentlicher Grund für diese Unterschiede liegt in der Altersstruktur. So korreliert auf Ebene von 409 Krei-sen und kreisfreien Städten der Anteil der Pflegebe-dürftigen an der Bevölkerung hoch mit dem Anteil der 75-Jährigen an der Bevölkerung (r2 = 0,36). Gut ein Drittel der Varianz in den Pflegeprävalenzen lässt sich demnach allein mit dem Anteil der Hochaltri-gen (hier: 75 Jahre und älter) erklären. Wird die Al-tersstruktur kontrolliert, ändert sich die regionale Verteilung. Das zeigt der Vergleich der ❱❱❱ Abbildun-gen 1 und 2. In ❱❱❱ Abbildung 1 sind die tatsächlichen Pflegeprävalenzen auf Ebene der Landkreise und kreisfreien Städte für Ende 2009 angegeben. In ❱❱❱ Ab-bildung 2 sind dann die Pflegeprävalenzen angege-ben, die sich ergeben, wenn die Bevölkerung aller Kreise und kreisfreien Städte – kontrafaktisch – auf die bundesweite Bevölkerung des Jahres 2009 stan-dardisiert wird, also so getan wird, als hätten alle Kommunen die gleiche Altersstruktur. Wie ❱❱❱ Abbil-dung 2 zeigt, steigen die Prävalenzen insbesondere in Teilen Mecklenburg-Vorpommerns, aber auch in einzelnen Regionen etwa in Niedersachsen, wäh-rend sich die hohen Werte insbesondere in Hessen deutlich reduzieren, wenn die Altersstruktur kont-rolliert wird und damit nur die altersspezifischen Prävalenzen abgebildet werden. Dennoch verbleiben auch bei Kontrolle der Altersstruktur noch erhebli-che regionale Unterschiede bestehen. Worauf sind diese zurückzuführen? Entsprechende Arbeiten mit Kassendaten zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit, pflegebedürftig zu werden, insbesondere von Alter, Geschlecht (in ❱❱❱ Abbildung 2 jeweils kontrolliert), Vorerkrankungen, hier insbesondere dem Vorliegen chronischer Erkrankungen, und der sozialen Lage abhängt [5, S. 132ff.; 6]. Die soziale Lage ist anhand der Routinedaten der Kassen nur schlecht rekonstru-

Regionale Unterschiede in der Langzeitpflege Heinz Rothgang, Rolf Müller und Rainer Unger Zentrum für Sozialpolitik, Universität Bremen

aus: Knieps F | Pfaff H (Hrsg.) „Gesundheit in Regionen“. BKK Gesundheitsreport 2014. ISBN 978-3-95466-134-3, urheberrechtlich geschützt

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Abbildung 1 Anteil der Pflegebedürftigen an der Bevölkerung insgesamt – Jahresende 2009. Quelle: eigene Berechnungen

basierend auf der Pflegestatistik 2009 und der regionalen Bevölkerungsfortschreibung der Bertelsmann Stiftung

Regionale Unterschiede in der Langzeitpflege

aus: Knieps F | Pfaff H (Hrsg.) „Gesundheit in Regionen“. BKK Gesundheitsreport 2014. ISBN 978-3-95466-134-3, urheberrechtlich geschützt

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Abbildung 2 Anteil der Pflegebedürftigen an der Bevölkerung standardisiert nach Alter und Geschlecht auf die Bundes-

bevölkerung vom 31.12.2009. Quelle: eigene Berechnungen basierend auf der Pflegestatistik 2009 und der

regionalen Bevölkerungsfortschreibung der Bertelsmann Stiftung

Schwerpunkt Wissenschaft

aus: Knieps F | Pfaff H (Hrsg.) „Gesundheit in Regionen“. BKK Gesundheitsreport 2014. ISBN 978-3-95466-134-3, urheberrechtlich geschützt

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ierbar, sodass hier auf die „Stellung im Beruf“ als Proxy für die soziale Schicht zurückgegriffen werden muss [7]. Dennoch zeigen sich erhebliche Effekte. Weiterhin hat auch der Familienstand einen deutli-chen Einfluss: Insbesondere Alleinlebende weisen eine deutlich erhöhte Pflegeinzidenz auf [6, S. 225]. Einkommensangaben finden sich dagegen im Sozio-ökonomischen Panel (SOEP). Entsprechende Analy-sen zeigen, dass ein höheres Einkommen das Pflege-risiko erheblich reduziert [8]. Die auch nach der Kon-trolle von Alter und Geschlecht überdurchschnittli-chen Pflegehäufigkeiten in Brandenburg, Teilen Nie-dersachsens, Mecklenburg-Vorpommerns und auch Nordrhein-Westfalens gehen sicherlich nicht zuletzt auf diesen Faktor zurück.

Regionale Unterschiede in der Versorgung

Regionale Unterschiede zeigen sich aber nicht nur in den Pflegeprävalenzen, sondern auch in den Ver-sorgungsarrangements, d.h. in den Angebotsstruk-

turen, der Inanspruchnahme und den daraus resul-tierenden Auslastungsquoten. So lag der Anteil der vollstationär versorgten Pflegebedürftigen Ende 2011 in Hessen bei unter 25%, in Schleswig Holstein da-gegen bei über 40% (❱❱❱ Abbildung 3). Auch diese Unterschiede lassen sich zum Teil auf Altersstruktur-unterschiede zurückführen, da die Häufigkeit einer stationären Pflege umso größer ist, je älter der Pfle-gebedürftige ist [9, S. 31ff.]. Auch bei der Auslastung der Pflegeheime zeigen sich schon auf Länderebene große Unterschiede. Sie reicht von 81% in Rheinland-Pfalz bis zu 95% in Sachsen (❱❱❱ Abbildung 4). Bei der Erklärung dieser Unterschiede zeigen sich insbeson-dere Angebotseffekte: So liegt die Auslastung umso niedriger, je höher die Heimkapazitäten gemessen als Pflegeheimplätze je 100 Pflegebedürftige sind (❱❱❱ Abbildung 5). Immerhin 44% dieser Länderva-rianz lassen sich allein durch die Unterschiede im Angebot erklären. Noch höher ist der Erklärungsan-teil hinsichtlich der Wahl der Pflegearrangements. Der Heimanteil an der Versorgung steigt dabei mit dem Angebot an Pflegeheimplätzen, was allein 82%

Abbildung 3 Anteil der stationär gepflegten Pflegebedürftigen an allen Pflegebedürftigen am Jahresende 2011 [10]

0 5 10 15 20 25 30 35

Anteil der stationär gepflegten Pflegebedürftigen im Jahr 2011 in Prozent

40

Baden-Württemberg

Bayern

Berlin

Brandenburg

Bremen

Hamburg

Hessen

Mecklenburg-Vorpommern

Niedersachsen

Nordrhein-Westfalen

Rheinland-Pfalz

Saarland

Sachsen

Sachsen-Anhalt

Schleswig-Holstein

Thüringen

Gesamt

31,6

31,8

25,0

23,2

28,2

31,5

24,2

26,8

31,5

29,0

28,4

30,6

33,0

30,5

40,6

27,0

29,7

Regionale Unterschiede in der Langzeitpflege

aus: Knieps F | Pfaff H (Hrsg.) „Gesundheit in Regionen“. BKK Gesundheitsreport 2014. ISBN 978-3-95466-134-3, urheberrechtlich geschützt

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Abbildung 4 Auslastung der Pflegeheime am Jahresende 2011 [10]

0 10 20 30 40 50 60 70 80 90

Auslastung der Pflegeheime in Prozent

100

Baden-Württemberg

Bayern

Berlin

Brandenburg

Bremen

Hamburg

Hessen

Mecklenburg-Vorpommern

Niedersachsen

Nordrhein-Westfalen

Rheinland-Pfalz

Saarland

Sachsen

Sachsen-Anhalt

Schleswig-Holstein

Thüringen

Gesamt 87,1

94,4

81,6

93,0

95,5

86,6

80,1

89,6

84,9

96,7

87,9

81,7

89,9

92,5

83,5

81,8

87,4

Abbildung 5 Zusammenhang von Pflegeheimauslastung und Angebotsstruktur Ende 2011. Quelle: [10], eigene Berechnungen

100

95

90

85

80

25 30 35

Anzahl der Heimplätze pro 100 Pflegebedürftige

40 45

y = -0,006x + 1,081

R2 = 0,4379

50

Au

slas

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g de

r H

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Pro

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t

Schwerpunkt Wissenschaft

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des Unterschieds zwischen den Ländern in der Heim-quote erklärt (❱❱❱ Abbildung 6).

Wie sich zeigt, sind Unterschiede in den Versor-gungsarrangements somit größtenteils auf Unter-schiede in den Angebotsstrukturen zurückzuführen, und auch im Pflegebereich scheint sich somit zu zei-gen, dass ein Angebot (an stationärer Pflege) sich auch seine Nachfrage schafft.

Zukünftige Entwicklungen

Auch für die Zukunft ist mit regional differenzierten Entwicklungen zu rechnen. Modellrechnungen, die auf den im Zeitverlauf als konstant unterstellten al-ters- und geschlechtsspezifischen Pflegehäufigkei-ten der Pflegestatistik für Ende 2009 sowie der Bevöl-kerungsvorausberechnung des „Wegweiser Kommu-ne“ der Bertelsmann Stiftung beruhen, ergeben von 2009 bis 2030 auf Bundesebene eine Steigerung der Fallzahl um 47,4% [9, S. 34]. Bereits auf Länderebene zeigen sich dabei aber große Unterschiede. Während die norddeutschen Stadtstaaten mit einem Zuwachs der Pflegebedürftigenzahl von 28% (Bremen) bzw. 32% (Hamburg) rechnen müssen, liegt diese Steigerungs-rate in Brandenburg zweieinhalb Mal so hoch (❱❱❱ Ta-belle 1). Auf der Ebene der Kreise und kreisfreien Städte sind die Unterschiede noch größer: Wie ❱❱❱ Ab-bildung 7 zeigt, reichen Wachstumsraten hier von weniger als 20% (Goslar, Osterode am Harz, Gelsen-kirchen, Vogelsbergkreis, Hagen, Kassel, Bamberg, Coburg, Hof und Wunsiedel im Fichtelgebirge) bis zu

Abbildung 6 Zusammenhang von Pflegearrangements und Angebotsstruktur Ende 2011. Quelle: [10], eigene Berechnungen

45

40

35

30

25

20

25 30 35

Anzahl der Heimplätze pro 100 Pflegebedürftige

40 45

y = 0,0063x + 0,0835

R2 = 0,8162

50

An

teil

der

stat

ion

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n P

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ürf

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roze

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Tabelle 1 Relative Zunahme der Zahl der Pflegebedürf-

tigen von 2009 bis 2030 auf Länderebene und

Pflegeprävalenzen im Ausgangsjahr [9, S. 38,

43ff.; 11]

Land Zuwachsrate

2009–2030

Pflegeprävalenz

2009

Bremen 28,2 3,2

Hamburg 32,2 2,6

Saarland 34,0 3,0

Sachsen-Anhalt 40,3 3,4

Nordrhein-Westfalen 41,1 2,8

Rheinland-Pfalz 41,1 2,6

Hessen 43,1 3,1

Niedersachsen 45,3 3,2

Thüringen 46,2 3,4

Sachsen 46,5 3,2

Baden-Württemberg 53,6 2,9

Schleswig Holstein 53,8 2,8

Bayern 53,8 2,5

Berlin 55,8 2,9

Mecklenburg-Vorpom. 55,9 3,7

Brandenburg 72,2 3,4

Deutschland 47,4 2,9

Regionale Unterschiede in der Langzeitpflege

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Abbildung 7 Relative Zunahme der Zahl der Pflegebedürftigen von 2009 bis 2030 auf Ebene der Kreise und kreisfreien Städte.

Quelle: [9, S. 43ff.], eigene Berechnungen

Schwerpunkt Wissenschaft

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mehr als 90% (Fürstenfeldbruck, Erlangen-Höch-stadt, Freising, Barning, Erding, Bad Doberan, Da-chau, Ebersberg) bzw. sogar mehr als 100% (Landkreis München, Landkreis Oberhavel). Die höchsten Zu-wachsraten ergeben sich dabei vor allem im „Speck-gürtel“ um Berlin und München.

Bemerkenswert ist hierbei, dass – auf Länder-ebene – hohe Steigerungsraten nicht zwangsläufig mit niedrigen Ausgangsprävalenzen einhergehen. So weist Brandenburg die höchste Zuwachsrate, aber auch den zweithöchsten Ausgangswert auf, Mecklen-burg wiederum hat die zweithöchste Zuwachsrate und den höchsten Ausgangswert. Von den sechs Bun-desländern mit einer – im Vergleich zum Bund – über-durchschnittlichen Wachstumsrate haben nur zwei einen unterdurchschnittlichen Ausgangswert. Es ist also keineswegs so, dass eine hohe Zunahme der Zahl der Pflegebedürftigen automatisch mit einem ver-gleichsweise geringen Ist-Stand einhergeht. Viel-mehr führt insbesondere die Binnenmigration von Ost nach West dazu, dass sich die bereits ungünstige Altersstruktur in Brandenburg und Mecklenburg-Vor-pommern noch entsprechend weiterentwickelt. Wird zudem die ungünstige wirtschaftliche Lage berück-sichtigt, erklärt sich, warum sich für diese beiden Länder, die auch jetzt schon die höchsten Prävalen-zen aufweisen, auch die stärksten Zuwächse ergeben.

Fazit

Insgesamt zeigt sich somit, dass regionale Unter-schiede in der Langzeitpflege eine große und bislang noch nicht hinreichend thematisierte Rolle spielen. Diese Unterschiede beziehen sich sowohl auf die Zahl der Pflegebedürftigen bzw. die Prävalenzen als auch auf die Versorgung. Die unterschiedlichen Pfle-geprävalenzen sind dabei zunächst einmal Ausdruck der unterschiedlichen Altersstrukturen in den be-trachteten Ländern und Kommunen. Darüber hin-aus sind aber auch Merkmale der sozialen Lage, ins-besondere Familienstand und Einkommensunter-schiede, erklärungskräftig. Auch für die Zukunft ist eine regional differenzierte Entwicklung zu erwar-ten. Hierbei werden sich regionale Unterschiede zum Teil sogar noch verstärken. Dies gilt insbeson-dere für Mecklenburg-Vorpommern und Branden-burg, die beiden Länder mit den höchsten Pflegeprä-valenzen und den höchsten zu erwartenden Zu-wachsraten. In Bezug auf die Versorgungsstrukturen zeigen sich vor allem Angebotseffekte: Die Anzahl der Pflegeheimplätze pro Pflegebedürftigem im Land beeinflusst dabei die Auslastung (negativ) und vor

allem den Anteil der Pflegebedürftigen, der stationär versorgt wird (positiv).

Welche Konsequenzen ergeben sich hieraus für die Pflegepolitik? Bereits vor der Bundestagswahl wurde vielfach gefordert, die Rolle der Kommunen in der Pflegepolitik wieder stärker in den Blick zu nehmen [12; 13]. Nur diese können vor Ort das not-wendige Case und Care Management organisieren. Die kommunal sehr unterschiedlichen Entwicklun-gen in Bezug auf die Zunahme der Pflegebedürftigen-zahlen unterstreichen die Notwendigkeit einer kom-munalen Befassung mit dem Thema noch einmal. Im Koalitionsvertrag ist hierzu die Einrichtung einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe vorgesehen. Diese hat sich tatsächlich aber erst am 29.9.2014 konstituiert – also rund ein Jahr nach der Bundestagswahl. Dies ist sicherlich kein gutes Zeichen. Es bleibt abzuwarten, ob die Arbeitsgruppe für den Rest der Legis latur-periode zu zielgerichteten Ergebnissen kommt. Un-abhängig hiervon zeigen die Vorausberechnungen, dass Länder und Kommunen in Zukunft in unter-schiedlichem Maße gefordert sind. Wünschenswert ist es daher, dass sich die Politik vor Ort ein genaues Bild von der je speziellen Lage macht und die Alten-hilfeplanung auf die jeweils zu erwartende Zunah-me der Zahl der Pflegebedürftigen abstellt. Zu beach-ten ist dabei aber auch die Gefahr einer angebotsin-duzierten Nachfrage im Pflegeheimsektor. Wie sich gezeigt hat, gehen höhere stationäre Angebotskapa-zitäten mit einer stärkeren Inanspruchnahmequote einher. Da eine Ausweitung stationärer Kapazitäten in einem Bereich ohne Bedarfsplanung administra-tiv nicht verhindert werden kann, kann dem nur durch gezielte Förderung ambulanter Strukturen entgegengesteuert werden, die nicht nur dem Grundsatz „ambulant vor stationär“ Rechnung trägt, sondern auch dem drohenden Pflegenotstand entgegenwirkt, der umso größer ist, je stärker die Versorgung auf Pflegeheime ausgerichtet ist [9].

Literatur

1. Statistisches Bundesamt. Pflegestatistik 2011. Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung. Deutschlandergebnisse. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt, 2013a

2. Rothgang H, Müller R, Unger R. BARMER GEK Pflegereport 2013. Siegburg: Asgard-Verlag, 2013

3. Statistische Ämter des Bundes und der Länder. Demographischer Wandel in Deutschland. Auswirkungen auf Krankenbehandlung und Pflegebedürftige im Bund und in den Ländern. 2010

4. Statistisches Bundesamt. Pflegestatistik 2011. Pflege im Rah-men der Pflegeversicherung. Kreisvergleich. Wiesbaden: Statis-tisches Bundesamt. 2013b

Regionale Unterschiede in der Langzeitpflege

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5. Rothgang H, Kulik D, Müller R, Unger R. GEK-Pflegereport 2009. Regionale Unterschiede in der pflegerischen Versorgung. GEK-Edition Band 73. St. Augustin: Asgard-Verlag, 2009

6. Borchert L, Rothgang H. Soziale Einflüsse auf das Risiko der Pflege bedürftigkeit älterer Männer, in: Ullrich Bauer und Andreas Büscher (Hrsg.). Soziale Ungleichheit und Pflege. Wies-baden: VS-Verlag, 2008, S. 215–237

7. Borchert L. Soziale Ungleichheit und Gesundheitsrisiken älterer Menschen. Eine empirische Längsschnittanalyse unter Berück-sichtigung von Morbidität, Pflegebedürftigkeit und Mortalität. Augsburg: Maro, 2008

8. Unger R, Rothgang H. Häusliche Hilfe- und Pflegebedürftigkeit in Ost- und Westdeutschland. Die Bedeutung des Einkommens bei der Erklärung von Strukturunterschieden. In: Krause P, Ostner I (Hrsg.). Leben in Ost- und Westdeutschland: Eine sozial-wissenschaftliche Bilanz der deutschen Einheit 1990–2010. Frankfurt: Campus, 2010, S. 625–640

9. Rothgang H, Müller R, Unger R. Themenreport „Pflege 2030“. Was ist zu erwarten – was ist zu tun? Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung, 2012

10. Statistisches Bundesamt. Pflegestatistik 2011. Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung. Pflegeheime. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt, 2013c

11. Statistisches Bundesamt. Pflegestatistik 2009. Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung. Kreisvergleich. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt, 2011

12. Hoberg R, Klie T, Künzel G. Strukturreform Pflege und Teilhabe.2013c. http://agp-freiburg.de/downloads/pflege-teilhabe/Reformpaket_Strukturreform_PFLEGE_TEILHABE_Langfassung.pdf (Zugriff am 03.11.14)

13. Engelmann D, Gohde J, Künzel G, Schmidt S. Gute Pflege vor Ort. Das Recht auf eigenständiges Leben im Alter. Positionspapier im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung, 2013

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