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schuf Jorge Amado Bahia oder schuf Bahia Jorge Amado?

Date post: 28-Mar-2023
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,Literatur verschweigt nicht, worüber man nicht sprechen kann" Gerd Roscher Konstruktionen der Fremde Antonin Artaud und Hubert Fichte Manfred Weinberg Hin und weg von Kiirnten JosefWinkler und die Fremde Michae/a Holdenried Ketzerische Bemerkungen zu Michael Roes' ethnologischen Roman Rub' al-Khali Dagmar Buchwald ,lch weill, da6 ich nicht von diesem Planeten bin ..." Afrofuturismus und Gnosis 311 321 355 367 ,Correspondances" Luís de Camões, Os Lusíadas I Die Lusiaden I Euclides da Cunha, Krieg im Sertão I Octavio Paz, Das Labyrinth der Einsamkeit I Einar Schleef, Droge Faust Parsifall Don Kulik, Travesti I Thomas Meinecke, Hellblau I Michael Roes .......................... . Angaben zu den Autorlnnen . .. 395 417 Peter Braun I Manfred Weinberg (Hrsg.) Ethno I Graphie Reiseformen des Wissens Sonderdruck 2002 l'l\':7 Gunter Narr Verlag Tübingen
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,Literatur verschweigt nicht, worüber man nicht sprechen kann"

Gerd Roscher Konstruktionen der Fremde Antonin Artaud und Hubert Fichte

Manfred Weinberg Hin und weg von Kiirnten JosefWinkler und die Fremde

Michae/a Holdenried Ketzerische Bemerkungen zu Michael Roes' ethnologischen Roman Rub' al-Khali

Dagmar Buchwald ,lch weill, da6 ich nicht von diesem Planeten bin ... " Afrofuturismus und Gnosis

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,Correspondances"

Luís de Camões, Os Lusíadas I Die Lusiaden I Euclides da Cunha, Krieg im Sertão I Octavio Paz, Das Labyrinth der Einsamkeit I Einar Schleef, Droge Faust Parsifall Don Kulik, Travesti I Thomas Meinecke, Hellblau I Michael Roes .......................... .

Angaben zu den Autorlnnen

. .. 395

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Peter Braun I Manfred Weinberg (Hrsg.)

Ethno I Graphie Reiseformen des Wissens

Sonderdruck

2002 l'l\':7 Gunter Narr Verlag Tübingen

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Übersichtsplan zur Geschichte der Empjindlichkeit von Hubert Fichte

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Inhalt

Peter Braun, Manfred Weinberg Vorwort 9

,Nicht Wissen ist Macht! - Reisen ist Wissen"

Astrid Reuter ,Poesie ais soziologische Methode" Roger Bastide, Henri Bergson und Mário de Andrade im Feld von Ethnologie und Literatur

I/ana Goldstein Schuf Jorge Amado Bahia oder schuf Bahia Jorge Amado?

Inger Sjorslev Der Erfahrung eine Form geben Reflexionen über Besessene und Schriftsteller

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I/ana Goldstein

Schuf Jorge Amado Bahia oder schufBahia Jorge Amado?*

1. Einleitung: Anthropologie, Literatur und nationale ldentitãt Die gegenwãrtige Anthropologie unterstreicht ihre Reflexivitat nicht zuletzt durch die Betrachtung der Gesellschaft des Anthropologen. 1 Damit kõnnen Interpretationshorizonte der Feldforschung kritisch hinterfragt werden. Oder es kann gerade das Nãchstliegende mittels einer ,Ethnographie des Inneren' überhaupt erst ins Blickfeld geraten. Dieses selbstverstãndliche, kaum unter­suchte Nãchstliegende mul3 nicht unbedingt nur unter dem Mikroskop sichtbar werden. Es kann auch omniprãsent sein, in millionenfacher und multimedialer Verbreitung auftreten, wie das Universum des brasilianischen Schriftstellers Jorge Amado (1912-2001), mit dem ich mich in einer Studie für die anthro­pologische Fakultãt von São Paulo befa13t habe.2 Untersucht werden sollten Reprãsentationen Brasiliens und der Brasilianer im Werk von Jorge Amado. Schnell erwies sich dieser Gegenstand als Tor in ein weites Terrain fliel3ender Übergãnge zwischen Anthropologie, Soziologie, Historiographie und Litera­turwissenschaft. Interessant daran ist gerade im Licht heutigen Interesses an blurred genres / dal3 si c h faszinierende W echselwirkungen zwischen Person, W erk und Lebenswelt, zwischen Rea1em, Fiktivem und Imaginarem aufzeigen lassen - was Konsequenzen für den Feldbegriff der kulturanthropologischen Arbeit hat.

Eine Anekdote illustriert, wie die zuvor im akademischen Milieu von São Paulo eingeübte Distanznahme gegenüber dem literarischen Universum von

Ich danke Peter Braun und Manfred Weinberg für die Aufnahme des Beitrags und die Arbeit an Bildintegration und Layout, Christian Strube für die engagierte Übertragung ins Deutsche, Kritik und Korrekturen, was stellenweise schon den Bereich einer Ko-Autorschaft berührt. Die brasilianische Sitte, sparsamer mil einigen bibliographischen Angaben zu verfahren, war nachtrãglich nicht gãnzlich ins deutsche Zitiersystem überführbar. Jedoch nur mangels Raum wurden viele portugiesische Originale übersetzter Zitate wcggelassen. Zur Verdeutlichung: kein Zitat entstammt einem deutschsprachigen Text. Auch hochverdiente deutsche Übersetzungen der Romane Amados blieben leider aus arbeitsókonomischen Gründen unberücksichtigt.

YgL Georges Balandier, Le détour anthropologique: pouvoir et modernité, Paris 1985; George Marcus/ M. Fischer (Hgg.), Anthropology as Cultural Critique, Chicago 1986.

Ilana Goldstein, O Brasil best-sel/er de Jorge Amado: Literatura e identidade nacional, Dissertação de Mestrado, Universidade de São Paulo, Faculdad~ de Antropologia Social, 2000; weniger akademisch, aber unter gleichem Titel in São Paulo: SENAC, 200 I erschienen.

VgL Clifford Geertz, ,Blurred gemes", in: ders., Local Knowledge, San Francisco 1983.

Jorge Amado vor Ort in Bahia verunsichert werden kann. Im Mai 1997, auf dem Weg zu einem Gesprãch mit dem Autor, überraschte mich der Taxifahrer, der ,se1bstverstãndlich" wuBte, wo Amado wohnt, den doch ,alle in Bahia kennen". Ungefragt sprudelten schon aus diesem lnformanten wãhrend der Passage zur eigentlichen Quelle jene Kommentare über das ,frõhliche", ,offenherzige" und ,glückliche" Volk von Bahia, und die Herleitung dieser Mentalitãt oder ldentitãt aus der Tatsache, ,dal3 alie [auch] schwarzes Blut haben". Dabei oder desha1b gebe es ,keinen Rassismus hier, nur in vereinzelten Fãllen". Was ich dann von Jorge Amado selbst zu hõren bekam, in seinem schõnen Haus im Stadtteil Rio Vermelho, unterschied sich davon nur gering. Schon in dieser kurzen Erlebnisfolge deutete sich das Problem an, das auch anlãl3lich der Feier des 80. Geburtstags des Schriftstellers diskutiert wurde: ,Schuf Jorge Amado Bahia, oder schuf Bahia Jorge Amado?" In irgendeiner Form wird beides zugleich geltend gemacht werden müssen, ist die Reprãsentation von Identitãt doch nach Durkheim zugleich Wirkung und Ursache, Produkt und Produzent der Realitãt.4

Literatur und Medien wie Musik, Bilder oder Monumente verschiedener Art ermõglichen die Gestaltung und dauerhafte Festlegung von Information und Gedãchtnis, wobei sich über deren Rezeption ein breiterer kultureller Konsens formieren kann. So beschrieb Emest Gellner, wie Schrift und Lektüre zur Universalisierung einer Kultur und eines Idioms beitragen kõnnen, und damit etwa Voraussetzungen zur ldee der ,Nation' schaffen kõnnen. 5 Jorge Amado kommentiert dieses Potential der Schrift, wenn er den Erfolg seiner Bücher auf deren ,brasilianische Qualitãt" zurückführt und darauf, daB si e ,auf der Sei te des Volkes sind", oder wenn er bekrãftigt, daB ,di e brasilianische Literatur fortfáhrt, unsere ldentitãt hervorzubringen".6 Amados Schriften und Stellungnahmen beziehen sich fast durchgãngig auf historische und

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Vgl. Émile Durkheim, ,Représentations individuelles et représentations collectives" (1898), in: Sociologie et philosophie, Paris 1963. Ich benutze den vermittelnden Begriff der ,Reprãsentation' zur Vermeidung einer harschen Trennung des Symbolischen und des Realen. Er zielt auf die Ebene der Interpretation kultureller Deutungsmuster und vermeidet die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge, anders ais der Begriff ,Ideologie' im Gebrauch der Tradition des historischen Materialismus, wo , Verkehrungen' o der , Verschleierungen' einer dem Selbstverstãndnis nach analytisch erschliel3baren ,Realitãt' offengelegt bzw. entlarvt werden sollen. - Die Interpretation des Filters der Rezeption führt zurück zur Tatsache, dal3 nicht beliebige, sondem nur flir breitere Rezeptionskreise annehmbare Reprãsentationen zu bestimmter Zeit an bestimmten Orten durchsetzungsfáhig sind, wirksam, aktualisiert, fallweise gar ,hineingelesen' werden. Die Aufgabe einer sozialanthropologischen Forschung bestünde darin, versuchsweise den Gesamtprozel3 von Produktion und Rezeption ais lokalen, regionalen sozialen Zusammenhang zu rekonstruieren, was über den blol3en Hinweis auf die Partialitãt oder Quantitãt von Reprãsentationen, auch über Nachweise von Intertextualitãt oder Intermedialitãt hinausgeht und ohne ,Feldforschung' vor Ort nicht machbar erscheint.

Emest Gellner, Nations and nationalism, Oxford 1983.

Zit. n. Clarice Lispector, De Corpo Inteiro, Rio de Janeiro 1975, 13 und De Franceschi (Hg.), Cadernos de Literatura Brasileira n. 3: Jorge Amado, São Paulo 1997, 55, 57.

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gegenwãrtige ,Eigentlichkeiten' Brasiliens, wobei die Region Bahia in all ihren Facetten seinem Schaffen die Form liefert, mit ihren Küstenlandschaften, dem Alltag, der Armut, den Festen, der aromatischen Küche, der Capoeira und den afrobrasilianischen Kulten. Ausgehend von Bahia betont der Schriftsteller in seiner Reprãsentation von ,Brasilien' vor allem die Vorzüge der weitreichenden kulturellen und biologischen Mischung [Mestizisierung: mestiçagem] zwischen Indios, Afrikanem und Europãem. Den ProzeB, das Vorhandensein oder die ,Ethik' der mestiçagem schildert Amado als Ausdruck gleichsam naturwüchsiger Toleranz und Solidaritãt. 7 Besonders aber überführt er das Thema von der ehemals politischen in eine ,kulturanthropologische' Dimension, in Beschreibungen der fünf Sinne und sinnlicher Vergnügen, Darstellungen der Freude an Festen und Heiterkeit. Mehr noch, Amado breitet ein groBartiges Panorama des Reichtums brasilianischer Volkskultur aus [cultura popular mestiça],8 bringt dem Leser unermüdlich deren Manifesta­tionen in Musik, Kunsthandwerk, Kulinarischem und in populãrer Gesangs­dichtung nahe.

DaB Jorge Amado wãhrend seiner nunmehr 70 Jahre wãhrenden Karriere bestãndig jene Neugierde auf die Volkskultur bewahrte, unterstreicht die Nachhaltigkeit der Sozialisation ais Schriftsteller in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, die von einer ,Wiederentdeckung Brasiliens' gekennzeichnet waren. Bedeutende historisch-soziologische Abhandlungen wie Casa grande e senzala (1933) von Gilberto Freyre und Raízes do Brasil (1935) von Sergio Buarque de Holanda wurden publiziert. Mit O País do Carnaval (1931) er­scheint Amado erstmals in den literarischen Kompendien, und zwar, wie er sich auch selbst definiert, im Sektor ,Roman der 30er", den anders ais Werke des Modernismo nicht formale Innovationen charakterisieren, sondem das politisch-soziale Engagement sowie die Schilderung der Volkskultur entfemter Regionen. 9 Es war generell eine Epoche steigender Aufmerksamkeit für ,brasi­lianische' Literatur, eine Zeit der Gründung kulturfõrdemder Institutionen wie des Instituto Nacional do Livro, auBerdem eine Phase erweiterter Produktion

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Indem das Werk Solidaritãt vorwiegend auf der Ebene einer national-kulturellen Wert- und Festgemeinschaft thematisiert, wird die darin imaginierte Nation frei von den konkreten Lasten, Spannungen und Antagonismen, die sich ergeben, wenn Solidaritãt durch einen Ausgleich zwischen Interessensgruppen, bzw. von lnstitutionen, Staat, Regierung und Gesetz gewãhrleistet werden soll. Hinzuweisen ist darauf, dal3 Jorge Amados ,kommunistisches' Engagement im vorliegenden Beitrag nicht thematisiert ist.

[Anm. des Übers.:] Für den hãufig von der Autorin ve1wendeten Ausdruck ,cultura popular (e) mestiça" steht nachfolgend mangels Übertragungsmõglichkeiten oft nur ,Volkskultur". Auch bei der ab und zu gewãhlten Übertragung von ,popular" in ,volkstümlich" sollen keine Konno­tationen deutscher Vergangenheit oder Gegenwart evoziert werdep.

,Entfemung" gilt hier relativ zur Achse Rio - São Paulo. Einige weitere ,romancistas de 30": Érico Veríssimo, José Lins do Rego, Graciliano Ramos und Raquel de Queiroz. Vgl. Antonio Candido/Aderaldo Castello, Presença da Literatura Brasileira, vol. 3, São Paulo, 1964; Alfredo Bosi, História Concisa da Literatura Brasileira, São Paulo 1985.

und Leserschaft: die Verfassung von 1934 machte die achtjãhrige Elementar­schule verbindlich, wodurch sich die Zahl der Schüler und Schulen ver­grõl3erte; es florierten der Buchdruck, neue Verlage und Buchhandlungen -auch weil in Brasilien gedruckte Bücher durch eine Abwertung der Wãhrung nun billiger als importierte waren.

Gleichzeitig erleben wãhrend der 30er-Jahre in der Volkskultur Elemente eine Auffrischung, anhand derer sich eine im Kontrast zu anderen Lãndem unterscheidbare brasilianische Identitãt konturierte. Emblematisch ist der Fall der Candomblé-Kulte, die zuvor alleinig marginalisierten Bevõlkerungs­schichten vorbehalten gewesen waren, nun jedoch die Wertschãtzung als ,ge­nuin' brasilianische Volksreligiositãt erhielten. 10 Der Ful3ball, den der Eng­lãnder Charles Miller 1894 in Brasilien eingeführt hatte, wandelte sich von einem aristokratischen Hobby der weil3en Elite zu einem von Personen aus allen Schichten praktizierten oder begleiteten Sport. Und gleichfalls in den 30er-Jahren eroberte der Samba, zuvor in den Aul3enbezirken von Rio de Janeiro beheimatet, das ganze Land. Femer wurde der Kampftanz Capoeira erst 1937 legalisiert. Bis 1890 galt sogar als Verbrechen, Ausdruck der Gefahren einer barbárie negra, was heutigen Betrachtem als ãsthetisches Schauspiel erscheint und in den 1990er-Jahren viele Anhãnger in Europa gefunden hat. 11

Den Prozel3 der Umwertung und Positivierung dieser Phãnomene als ,genuin' brasilianische Volkskultur begleitet Jorge Amado aktiv. Frühzeitig erhebt er den Samba zur Ikone des Geistes der Frõhlichkeit und malandragem, bezeichnet di e Capoeira als ,schõnsten Kampf der W elt", und begreift den Candomblé über seine Rolle als Ausdrucksmittel schwarzen Widerstands gegen die Sklaverei hinaus als ,eine frõhliche Religion, welche die Menschen nicht erdrückt; die Sünde existiert nicht". 12

Nachfolgend soll zuerst (2) skizziert werden, in welcher Vielfalt und Besonderheit das Werk und der Autor zwischen Volk und Elite verkehren, inwiefem folgende Selbstaussage von Jorge Amado emst zu nehmen ist: ,ich habe aus meinem Leben und meinem Werk eine einzige Sache gemacht". Wie sich zeigen wird, verãndert die Kenntnis von Ausformungen dieses Sach­verhalts in historischer und soziologischer Dimension die Analyse des Schrift­stellers als Anthropologen oder der Literatur als Medium anthropologischer Darstellung und Reflexion. Denn anschliel3end (3) wird nicht nur interessieren, wie der bahianische Romancier Volkskultur schreibend erschafft, sondem

10 Vgl. Peter Fry, ,Feijoada e sou! food: notas sobre a manipulação de símbolos étnicos e nacionais", in: ders., Para inglês ver - identidade e política na cultura brasileira, Rio de Janeiro 1982.

11 Vgl. Letícia Vida! de Souza Reis, ,Negro em terra de branco: a reinvenção da identidade", in dies./Lilia Schwarcz (Hgg.), Negras Imagens, São Paulol996, hier 43.

12 Jorge Amado, ,Samba", in: O Momento (Salvador), 15.11.1931; ders., Bahia de Todos os Santos, São Paulo 1967, 212 (EA 1945); Alice Raillard, Conversando com Jorge Amado, Rio de Janeiro 1992, 84.

auch, wie er selbst und seine Figuren tatsãchlich Eingang in die Volkskultur finden. Aul3erdem scheint sich der Schriftsteller ais reale Person zunehmend in eine typische Figur seines literarisch manifesten Imaginãren zu verwandeln.

Deshalb ist Wechselwirkungen zwischen Fiktion und Realitãt noch diffe­renzierter nachzuspüren: immerhin wird (4) der Prozel3 auch in der Volkskultur reflexiv verhandelt, was das Beispiel der corde/-Literatur illustrieren soll; femer glauben nicht nur Bahianer und nicht nur Touristen, sondem auch Akademiker - ,em geral sabidíssimos" - , Brasilien anhand der Romane Amados verstehen zu kõnnen (5). Als am Schreibtisch vollzogener Kurzschlul3 vom Text zum Leben ,der Brasilianer' kann dies wohl kaum gelingen, wes­wegen abschlie13end noch einmal die interdisziplinãre Dimension des ,Feldes' der Untersuchung betont wird (6).

2. Jorge Amado ais Wanderer zwischen Volk und Elite Im seinem Leben hat Jorge Amado rund 30 Bücher geschrieben, die in 29 Sprachen übersetzt sind, und schon in mehr als 30 Millionen Exemplaren verkauft wurden. Neben seiner Buchproduktion, die Romane, Erzãhlungen, Biographien, Reiseführer und Jugendbücher umfal3t, hat der Autor aus Bahia auch mehr ais hundert kleinere Beitrãge zu verschiedenen Themen verfal3t. Interessant ist am Verlauf der Karriere die Parallelitãt oder Duplizitãt des Erfolges in den Medien, bei einem Teil der Literaturkritiker einerseits, und in breiteren Schichten andererseits. Beispielsweise erhielt er im_ Verlauf der 80er Jahre mehrere prestigetrãchtige Literaturpreise in verschiedenen Lãndem. Gleichzeitig huldigte man ihm jedoch auch ,von unten", denn mehrere Samba­Schulen erwãhlten Autor und W erk zum Thema ihrer Darbietungen. So gewannen in der Parade von São Paulo die Vai- Vai mit dem Motto ,Amado Jorge: a história de uma raça brasileira". Die afrobrasilianische Vereinigung Monte Negro inszenierte ,Bahia de Todos os Santos" auf dem Kameval von Salvador. Und in Rio de Janeiro gestaltete die Samba-Schule Império Serrano das Motto ,Jorge Amado- Axé Brasil!"

Genauso wie der Beifall für das Werk, kommt auch das Repertorium von Jorge Amado aus zwei Richtungen. Erstens betont der Autor selbst die Erfah­rung der Lebenswelt in Salvador: ,Die Jugendjahre in der Freiheit der Stral3en von Bahia, unter das Volk an den Kais und in den Mãrkten gemischt, in den Capoeira-Zirkeln und Volksfesten [ ... ] waren meine beste Universitãt." Er schãmt sich anlãl3lich einer Rede an der Academia Brasileira de Letras keineswegs des Besuchs von Bars und Bordellen [casas de raparigas], erwãhnt die zahlreichen Ausfahrten mit den Fischem, und dal3 er schon ais Minderjãhriger den pai-de-Santo Procópio kennenlemte, der ihm spãter seinen ersten Candomblé-Rang verleihen wird, ogan de Oxós;i. 13

13 Beide Zitate aus ,Discurso de posse na Academia Brasileira de Letras", Mappe [bras. ,pasta"]

Parallel zu dieser Vertrautheit mit dem volkstümlichen Leben Bahias, ver­schafft Amado sich allerdings auch Kenntnisse aus Ethnographien über den Candomblé, rezipiert wissenschaftliche Texte über Fo1k1ore, Geschichte und di e ,Rassenfrage'. Der kaum noch bekannte Manoel Querino, Verfasser von A raça africana (1916) und anderer Studien über volkstümliche Küche oder Religiositãt in Bahia, inspirierte ihn zur Schõpfung des Pedro Archanjo, Romanheld von Tenda dos milagres (1968). Im gleichen Roman weist die Figur des vorurteilsbeladenen, bõsen Nilo Argolo zurück auf den Arzt und Kriminalitatsforscher der Jahrhundertwende Nina Rodrigues. 14 Schon in seiner Jugend war Amado mit dem Volkskundler Édison Carneiro befreundet, spater beispielsweise mit dem franzõsischen Fotografen und Ethnologen Pierre Verger.

Den grõBten EinfluB auf Amados Reprasentation Brasiliens übte jedoch Gilberto Freyre aus, der Autor von Casa Grande e Senzala (1933), berühmt als ein Hauptvertret~r der Auffassung- oder des Mythos' - einer brasilianischen democracia racial. 15 Anders ais die Mehrheit der zeitgenõssischen Rassen­theoretiker, die um die Zukunft Brasiliens fiirchteten, argumentierte Freyre, daB ,die Vermischung, die groBentei1s hier vor Ort praktiziert wurde, soziale Unterschiede korrigiert hat, die ansonsten wesentlich ausgepragter beibehalten

17, Manuskript 482 [fortan ,MS,], 1961; auch alie weiteren zit. MS aus: Arquivo da Fundação Casa de Jorge Amado.

14 Manoel Querino war ein armer Mulatte, der zu Lebzeiten kaum Wirkung erzielte, Bücher über die Küche Bahias und über ,bemerkenswerte' schwarze Mãnner in Bahia schrieb, alies genauso wie Amado die Romanfigur Pedro Archanjo in Tenda dos milagres beschreibt. Und die Figur Nilo Argolo in Tenda dos milagres schreibt unter gleichem Titel an einem Werk über die mentale Ungleichheit zwischen WeiBen und Schwarzen, wie 1894 Nina Rodrigues, der erste Professor an der medizinischen Fakultãt von Bahia: As raças humanas e a responsabilidade penal no Brasil.

15 Der ,Mythos' der ,democracia racial" wurde ais solcher von verschiedenen Autoren problema­tisiert, die Befassung damit gehiirt auch zum Hintergrund des vorliegenden Beitrags, der aus dem Kontext einer von Lilia K.M. Schwarcz geleiteten Forschungsgruppe in São Paulo hervorgeht. Neben der affirmativen Traditionslinie Gilberto Freyre/Darcy Ribeiro, di e bis heute wirkungsmãchtig ist, gibt es eine auch schon tief verankerte, kritisch-sozialpolitisch orientierte Interpretationslinie. So betrachtete Florestan Fernandes den Mythos ais ,falsches BewuBtsein", das der herrschenden Schicht die Beibehaltung ihrer Privilegien erlaube: O Negro no mundo dos brancos. São Paulo 1972. Àhnlich macht Kabengele Munanga diesen ,Gründungsmythos" verantwortlich flir die Erschwerung der BewuBtseins- und Identitãtsbildung unterdrückter Gruppen (ais solche): ,Mestiçagem e experiências interculturais no Brasil", in: Reis/Schwarcz (Anm. 11). Demgegenüber wird in distanzierterer Perspektive bemerkt, daB eine ,ethnisch' orientierte Stigmatisierung in Brasilien tatsãchlich weniger harsche Formen annimmt ais in anderen Lãndem und die Kategorie des mestiço in besonderer Weise den Raum anderswo klar definierter ,Kasten" eingenommen hat: Pierre Bourdieu/Lolc Wacquant, ,Sur les ruses de la raison impérialiste", in: Actes de la Recherche en Sciences Sociales, 1211122 (1998). Deshalb schlãgt Lilia Schwarcz vor, den ,mito da democracia racial" zwar nicht mehr zu naturalisieren, jedoch ein lokales Modell zu suchen, das sich vom nordamerikanischen unterscheidet, die Spezifika der sozialen und ,ethnischen' Beziehungen in Brasilien emst nimmt, beispielsweise hinsichtlich der darin zum Ausdruck kommenden Flexibilitãt und des Personalismus: ,Questão racial no Brasil", in Reis/Schwarcz (Anm. 11).

worden wãren". 16 Jorge Amado sieht in Gilberto Freyre einen ,groBartigen Schriftsteller, von überbordender Neugierde [ ... ] er wuBte alies über Brasilien und lehrte uns alles". 17

Offensichtlich wandelt Amado also im Übergang zweier Spharen, zwischen dem gelehrten Wissen und dem volkstümlichen Wissen. Diese intermediare und vermittelnde Position gibt der Autor ais bewuBte Option klar zu erkennen in Navegação de Cabotagem (1992), ,beinahe" ein ,Buch der Lebenserinnerung", publiziert mit 80 gelebten Jahren: 18 ,lch kam mit einigen der wahrhaften Meister des Universums der Wissenschaft, Literatur und der Künste zusammen, mit Picasso, Sartre [ ... ]; das Privileg bestand darin, sie kennengelemt zu haben. Nicht weniger zahlt der Vorzug, die Freundschaft von Schõpfem der Volkskultur Bahias erhalten zu haben, volkstümlichen Gesangsdichtem [trovadores populares] als Motto gedient zu haben."

Eine Ursache des Erfolges von Jorge Amado besteht sehr wahrscheinlich im Verhaltnis zur Volkskultur, in seiner geschickten Teilnahme und Anteil­nahme. Ein weiterer Faktor ist jedoch darüber hinaus seine symbolische Macht in Bahia, sein vielgestaltiger Verkehr mit verschiedenen Schichten [excelente trânsito social]. In Bahia gibt es einen Kreis von Intellektuellen und Künstlem, die eine gewisse Reprasentation der baianidade, der lokalen Indentitat Bahias hervorbringen. Dazu zahlen neben Amado Künstler wie Mestre Didi, Carybé, Floriano Teixeira, Calasans Neto, Mário Cravo und andere. Diese Persõnlichkeiten des õffentlichen Lebens widmen sich wechselseitig ihre W erke und sind bekennende Liebhaber des Volkes von Bahia. Alie publizieren in der Revista Exu, die von der Stiftung des Jorge-Amado-Hauses heraus­gegeben wird, und sind Illustratoren oder Figuren der Bücher von Amado. 19

Die Künstlergruppe, die sich an der bahianischen Volkskultur inspiriert und sich ihr nahert, wird freilich auch vom Kern der 1okalpolitischen Machthaber unterstützt. Von den 1970er bis zur Mitte der 1980er-Jahre sicherte sich das Militarregime seine Hegemonie durch eine Kontrolle des Kulturprozesses; es gründete Folklore- und Kulturzentren und errichtete eine Reihe reprasentativer õffentlicher Skulpturen und Denkmaler. In Bahia eignete sich diese Bewegung Elemente der afrobrasilianischen Alltagskultur an, um ein Bild einzigartiger und exotischer baianidade zu entwerfen, das fiir den Tourismus als ,bahia­nische Lebensart" eingesetzt werden konnte. Daher rührte das Interesse der

16 Gilberto Freyre, Casa Grande & Senzala. Rio de Janeiro 1958, XXXIV (EA 1933).

17 ,Dois mestres", Mappe 22, MS 640, I 987.

18 Navegação de Cabotagem: apontamentos para um livro de memórias que jamais escreverei. Rio de Janeiro 1992, 95.

19 Die Illustrationen des Romans Tenda dos milagres (1968) sind von Carybé, die von Dona Flor e seus dois maridos (I966) von Floriano Teixeira; Calasans Neto hat Tereza Batista (1972) illustriert usw. Gleichzeitig ist der Maler Carybé eine Figur in Dona flor; der Graphiker und Bühnenbildner Calasans Neto ist in Dona Flor und Tenda dos milagres zitiert; Mestre Didi, Folklorist und Bildhauer ,bewohnt" zumindest Dona Flor und Os pastores da noite (1964).

Regierung, populare Kunst zu fõrdem, und ihr Zugestandis, Vertreter wichtiger intellektueller und künstlerischer Zirkel in leitende Positionen zu setzen.Z0

Bei der 1992 bis 1997 vollzogenen Restaurierung des historischen Stadt­viertels Pelourinho wurden 60 Mio. R$ in die Renovierung von circa 400 Ge­bauden investiert. Die hergerichteten Hauser wurden an Finnen vennietet, die darin Bars, Restaurants, Kunsthandwerk-Laden und Galerien einrichteten. Die ehemaligen Bewohner ,verlieBen" den Ort (wohl eher nicht aufgrund der geringen Wiedergutmachungen) und zogen in entfemte AuBenbezirke, was von einer nordamerikanischen Anthropologin als ,cleaning process" bezeichnet wurde. 21 Die Überreste kolonialer Architektur auBerhalb des restaurierten Bezirks befinden sich weiterhin in prekarem Zustand. Gleichwohl verfaBte Jorge Amado 1993 einen offenen Brief an den Gouvemeur von Bahia in lob­preisend-freundschaftlichem Tonfall?

2 ,ich schreibe meinem Freund noch

einmal [ ... ],um mit Enthusiasmus und Jubel dem Wunder, dem ich beiwohnen durfte, Beifall zu spenden [ .. .]. Zélia und ich haben vor Rührung geweint". So mag es nicht überraschen, daB die wichtigsten Orte des wiederbelebten histo­rischen Zentrums Namen von Figuren aus dem Werk Amados tragen: ,Tereza Batista - Platz", ,Pedro Archanjo - Platz", ,Quincas Berro D'água - Platz". DaB diese Ehrung des ,Dichters der Nutten und Vagabundierer" im jetzt für Touristen schmuck herausgeputzten Viertel ein gewisses Fragezeichen hinter­laBt, da solche Subjekte dort kaum noch verkehren kõnnen oder dürfen, muB

nicht eigens betont werden. Mitten im Herz des restaurierten Altstadt-Zentrums, in einem groBen

Kolonia1bau, residiert die 1987 inaugurierte Stiftung Jorge Amado Haus [Fundação Casa de Jorge Amado]. Die Stiftung besitzt einen Studienraum, organisiert kleinere Ausstellungen - etwa von Buchillustrationen- und publi­ziert Beitrage, die Jorge Amado oder die Kultur von Bahia behandeln. Das Archiv sammelt Fanbriefe, Biographien und andere Studien über Jorge Amado, Fotografien, Gravuren, Zeitungsartikel, Zeugnisse von Ehrungen und kommerzielle Produkte, die den Namen des Schriftsteller tragen.

Am Eingang des Gebaudes werden die Besucher von einer Skulptur des Exu begrüBt, der auch als ,Markenzeichen' von Jorge Amado in seinen Bü­chem und auf den Briefkõpfen seiner Korrespondenz erscheint (Abb. 1 ): ,eine

20 Vgl. hierzu Jocélio Teles dos Santos, ,Nação corretamente política? As políticas oficiais e os afrobrasileiros" (Relatório para exame de Qualificação, Departamento de Antropologia Social da Universidade de São Paulo, August 1997). Jorge Amado selbst erzahlt in Navegação de cabotagem (Anm. 18), 459 beispielsweise, dal3 A.C. Magalhães- dessen Familie seit Genera­tionen die Macht in Bahia bekleidet, und der paternalistische Beziehungen zur Wahlerschaft sowie Klientelbeziehungen zu Politikern und Richtern unterhalt - den Künstlerkreis beauftragte, ein neues õffentliches Gebaudes auszugestalten.

21 Margaret Willson, ,Playing the dance, dancing the game: race, sex and stereotype m anthropological fieldwork", in: Ethnos- Journal o f anthropology 62 ( 1997), hier 30.

22 Jorge Amado, ,A grandeza restaurada", in: O Globo, 12.12.1993.

Gottheit des Übergangs, ein Kind, das es liebt, Streiche zu machen, und keine Einschrankung seiner Freiheit duldet", begründet der Autor die Wahl des Symbols.23 Exu - dem Ursprung nach eine Yoruba-Gottheit - symbolisiert Bewegung zwischen verschiedenen Spharen, wie etwa im Übergang von Leben und Tod oder zwischen Gutem und Bi:isem, was ahnlich für den im Werk Amados haufig auftretenden mestiço oder malandro gilt. Es erscheint nicht selbstverstandlich, daB ein ehemaliger Kommunist, der sich als ,Materialist" bezeichnet, eine Gottheit zum Markenzeichen macht. Die Wahl von Exu un­terstreicht eine besondere Beziehung zur Volkskultur von Bahia, zu den afro­brasilianischen Candomblé-Kulten.

Abb. I - Die Candomble-Gott­heit Exu, hier gezeichnet vom

Künstler Carybé, dient Jorge

Amado ais ,Markenzeichen'.

In der Stiftung bringt sich die õffentliche Anerkennung und ungewi:ihnliche Institutionalisierung des lebenden Schriftstellers zum Ausdruck. Doch wird Jorge Amado gleichennaBen vom ,Volk' angenommen, auch wenn ein GroBteil ihn nie gelesen hat. Denn sein Universum erreicht die Menschen auch über andere Medien- wie Musik, Filme, Themen des Kamevals und Abendserien im Femsehen, die von Millionen Zuschauem gesehen werden.24 Mario Vargas Llosa war als Gast der Feier zum 70. Geburtstag von Amado in Bahia überrascht, daB der Schriftsteller auch noch eine erstaunliche Zahl seiner Bewunderer beim Namen und Vomamen kannte, und unter diesen sogar mit

23 De Franceschi (Anm. 6), 23.

24 Terras do sem fim wurde 1966 im TV Tupi ais Abendserie (telenovela) umgesetzt. 1969 filmte Hall Barthet Capitães de areia. 1977 erschien der Film Tenda dos milagres von Nelson Pereira dos Santos. Dona Flor e seus dois maridos fand 1979 nicht nur in einer Filmversion von Bruno Barreto Publikum, sondem auch ais Broadway-lnszenierung. Barreto flihrte ferner Regie in Gabriela Cravo e Canela, 1982. lm Jahr 1989 startete Rede Globo die Abendserie Tieta do Agreste. Ein Kinoversion von Tieta, unter der Regi e von Cacá Diegues, erreichte das Publikum 1997. Vgl. hierzu Rosane und Carneiro Rubim, Jorge Amado: 80 anos de vida e obra. Subsídios para pesquisa, Salvador: Fundação Casa de Jorge Amado, 1992.

einem jeden eine persõnliche Erinnerung verbinden konnte.Z5 Seit 1959 zum Oba emannt (hoher Erwãhlter, Weiser des Candomblé), hat Amado gegenüber seiner Gemeinde eben auch Pflichten. So klopfte 1989 eine Frau an seine Türe, weil ein Taxifahrer ihrer Tochter ,ein Kind gemacht babe'. Der Schriftsteller sollte in der Angelegenheit das Schiedsgericht führen.

Jorge Amado verkõrpert das Modell der cordialidade (Herzlichkeit),26 das auf persõnlichen und informellen Beziehungen basiert. Er ist tãtig ais Ver­bindungsmann und informeller Reprãsentant der Bevõlkerung. Seiner Bio­graphin Alice Raillard erlãutert er, dal3 ihm das Volk einen ,von Kenntnis, Intimitãt und Zuneigung geprãgten Respekt" entgegenbringe; ,ich übe keinerlei Amt und keinerlei Funktion aus [ ... ], aber die Leute suchen mich auf, und ich fühle mich verantwortlich".27 Ein englischer Joumalist kam zu der Einschãtzung:28 ,In Bahia, he has become a benign version of the feudal patriarch, a man who could, if he chose, topple the Brazilian govemment tomorrow". Aufschlul3reich ist ein Zeitungsartikel des Schriftstellers Adinoel Motta Maia, der Kollegen und andere Künstler aus Bahia aufruft, sich zu vereinen und vom ,Paten" [cacique] Jorge Amado unabhãngig zu machen.29

,Ob Jorge Amado sich seiner Position bewul3t ist oder nicht: Tatsache ist, dal3 die jungen Künstler und Schriftsteller zu ihm laufen, die einen kleinen An­schub mõchten [ ... ], eine beachtliche Zahl von Intellektuellen ruht sich in seinem Schatten aus". So verwundert folgender Denkspruch einer Zeitung zum 80. Geburtstag Jorge Amados nicht: ,nach Salvador zu gehen, ohne das Jorge Amado Haus zu besuchen, ist das gleiche, wie nach Rom zu gehen, ohne den Papst zu sehen". 30

In Kenntnis der Wirkung des Bildes von Jorge Amado nutzen Firmen des­sen Unterschrift oder Antlitz zur Werbung für die unterschiedlichsten Pro­dukte. Zuerst benutzte 1971 die Schreibmaterialfirma Carbex den Namen Jorge Amados, ais sie eine Filiale in Bahia erõffnete. 1978 setzte Nestlé einen Text des Autors bei der Erõffnung ihrer Niederlassung in ltabuna ein. 1984 griff die Buchhandlung Siciliano zur Erõffnung eines Ladens in São Paulo auf

25 Vgl. De Franceschi (Anm. 6), 38.

26 Der Historiker Sérgio Buarque de Holanda schuf den Begriff ,homem cordial" in Raízes do Brasil (1936), worin er den entscheidenden Einflul3 der Familie seit den Zeiten der Kolonisierung beschreibt, und die Vorherrschaft der ,laços de sangue e de coração" (Bluts­und Herzensbande) bei der Entwicklung der brasilianischen Gesellschaft. Zitat Raízes do Brasil, São Paulo 1995, 146. Dem Historiker zufolge erschwert diese Form familiarer Verflechtungen die notwendige Trennung zwischen Staat und Familienkreis. Bei Jorge Amado hingegen erscheint das Modell ohne politische Implikationen, konstituieii lediglich einen sympathischen Zug der Mentalitat- den er seinerseits im Privatleben zu verkõrpern sucht.

27 Raillard (Anm. 12), 81.

28 ,With a little help from his friends", in: The lndependent, 5.8.1989.

29 Adinoel Motta Maia, ,Agnus Jorge Amadus ou O que cada ovelha espera de seu pastor", in: A Tarde, 17.11.1985.

30 ,Jorge Amado faz 80 anos", in: O Estado de Minas, 29.8.1992.

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Textauszüge des Schriftstellers zurück. Und 1988 lancierte die brasilianische F1uggesellschaft Varig in Lissabon den Slogan ,Varig fliegt vom und zum Land von Jorge Amado". Auch half der Name beim Verkaufvon Appartements im von ihm selbst bewohnten Stadtviertel Salvadors: ,Residenz Jorge Amado", der ,Bestseller mit limitierter Auflage". 31 Die jüngste kommerzielle Aneignung von Jorge Amado aul3erhalb der literarischen Sphare ergab sich im Januar 2000 wãhrend einer Modenschau der Sommerkollektion der Marke ModAxé, die 1400 Jugendliche sozial benachteiligter Familien aus Salvador erzieht und ausbildet. 150 Modelle auf dem Laufsteg zeigten sich inspiriert von der ,Wãrme und Sinnlichkeit" des literarischen Werks. Zwischen den Gabrielas, Dona Flors und Vadinhos begeisterten die Candomblé-Orixás das Publikum mit ihren Tanzschritten und der verschwenderischen Pracht ihrer Kostüme. In den darauffolgenden Tagen war in Zeitungen zu lesen: ,Jorge Amado ist fashion." 32

Abb. 2 - Die Illustration des kritischen Beitrags von Adinoel Motta Maia (A Tarde, Salvador, 17.11.1995) zeigt Jorge Amado ais Schafshirten, der seine Schafe mit einem Stock dirigiert.

31 ,Um best seller com tiragem limitada: Residencial Jorge Amado", [Annonce] in: A Tarde, 18.9.1994.

32 Elaine Lima, ,ModAxé apresenta coleção de verão", in: O Estado de São Paulo, 27.1.2000.

Beeindruckend ist, da13 Bewunderer des Schriftstellers sich nicht scheuen, von ihm in Briefen allerlei Gefallen und Geschenke zu erbitten.33 Die Schreib­kraft Eldenir Vargas bittet um eine elektrische Schreibmaschine vom Typ IBM 82C oder 196C ,in gebrauchsfáhigem Zustand" [Brief vom 19.9 .1985]. Etwas weiter geht Aldri Alves, der Jorge Amado vorschlãgt, einen von ihm begon­nenen Roman zu beenden; er würde bis Sei te 100 schreiben, dann kõnnte Amado einsetzen: ,Das Werk von Aldri und Jorge Amado wird ein Erfolg sein" [21.9.1985]. Dulcinéia Oliveira bittet den vielübersetzten Schriftsteller um die Angabe einiger in Dãnemark oder benachbarten Lãndem ver­õffentlichter Titel, damit sie ihre Gastfamilie in Europa darauf hinweisen kann [13.3.1974]. Kurios ist die Existenz eines zweiten Briefs, in dem Dulcinéia sich für die Zusendung der deutschen Ausgabe von Gabriela bedankt [7.4.1974]. Und rührend ist ein Brief des Italieners Eugenio aus Kalabrien, der Jorge Amado auf die bedeutende Rolle von dessen Romanen in seinem Leben hinweist. Bei deren Lektüre ,war mein Eindruck, daB die europãische Kultur im Sterben begriffen ist, wãhrend die südamerikanische gerade geboren wird". Spontan kauft Eugenio im Dezember 1981 ein Flugticket nach Salvador. Schon am ersten Tag, an einer Bushaltestelle, steigt er als Mitfahrer in genau den VW Kãfer ein, der von Nicinha, seiner jetzigen Ehefrau gesteuert wird. ,Witzig, nicht? Ohne Sie, ohne Ihre Bücher, hãtte ich die Frau meines Lebens gar nicht kennengelemt" [3.9.1983].

Fiktion und Realitãt sind neuerlich verschrãnkt, wenn Jorge Amado sich in Geschmack und Einstellung gleichsam unter die eigenen Figuren mischt, womit er die Aura eines Folklore-Wesens erzeugt, das untrennbar mit Bahia verbunden ist. Entsprechend stellte er sich 1980 in Europa vor: ,Ich fühle mich den Charakteren meiner Bücher ãhnlich, diesen guten Bahianem". Etwas abwegig angesichts seiner tatsãchlichen sozialen Position fáhrt er fort: ,Gleich ihnen bin ich ein Mulatte, ein beliebiger Mensch, ein Armer, ich erstrebe nicht mehr, als einer von ihnen zu sein".34 Früher schon bekrãftigte er diese Beziehung zu seinen Figuren: ,einfache Leute aus dem Volk, ich bin nicht mehr als sie, und wenn ich sie schuf, haben sie mich auch geschaffen". 35 Unter den in Navegação de Cabotagem (1992) enthaltenen Erinnerungen erzãhlt Amado einige Streiche und Schlitzohrigkeiten, die durchaus seiner Fiktion zugehõrig sein kõnnten. Und mit Stolz erinnert er sich an das Dasein als Don Juan: ,Ich ging von Schlafstãtte zu Schlafstãtte: Frauen im Überflu13, so viele, da13 mein groBenteils von politischen Aktivitãten ausgefüllter Zeitplan es kaum erlaubte, dem Genüge zu tun. [ ... ] Von den politischen Kãmpfen erholte ich mich nur im Scho13 von verheirateten und alleinstehenden Frauen".36

33 Kartons ,Fanbriefe" [cartas de fans] im Archiv der Fundação Casa de Jorge Amado. 34 ,Fala para o prêmio Cino de! Duca", Mappe 21, MS 627, 1980. 35

,Discurso de posse na Academia Brasileira de Letras", Mappe 17, MS 482, 1961. 36

Navegação de Cabotagem (Anm. 18), 8.

Dergestalt konstruiert der Schriftsteller das eigene Bild ais malandro der die kulinarischen Genüsse Bahias wertschãtzt, als Frauenliebhaber und Meister in der Kunst der Freundschaft. AuJ3erdem sind in di gene V orfahren in verschiedenen Interviews erwãhnt, was die Selbstbeschreibung als mestiço zusãtzlich legitimiert.37 So gleicht die Person Jorge Amado den Charakteren des eigenen literarischen Werkes, und auch der Reprãsentation des ,typischen' Bahianers, wie er in Bahia de Todos os Santos ( 1945) beschrieben ist:

Immer wenn ich an den bahianischen Mulatten denke, sehe ich einen dicken Mann. Nicht nur kõrperlich dick. Auch als Charakter: gut, liebenswert, dem Essen zugeneigt, sinnlich, von ausgeprãgter Intelligenz, redegewandt, aber ge­mãJ3igten Ausdrucks, mit dem Geschick, Tieferstehende und Hõherstehende gleichermaBen ~ut zu behandeln. Fettreiche Kost genieBend, voller OI, aber auch gepfeffert. 8

Zusammenfassend: Jorge Amado versteht sich gut mit Kommunisten und mit Politikem, die die Diktatur unterstützt haben. Er liest Ethnographien, fungiert jedoch gleichzeitig als obá in einer Candomblé-Gemeinde. Er wird vom Volk und von der Elite geliebt, unterhãlt vertraute Beziehungen zu seinen Bewun­derem, ist ein Zugpferd im Marketing und zeichnet das eigene õffentliche Bild ãhnlich dem seiner Romanhelden [heróis malandros], wenn nicht sogar in direkter Wiederaufnahme literarisch manifester W eltanschauungen von ihm geschaffener Figuren.

3. Dialoge mit der Volkskultur von Bahia Zur vielfáltigen Verarbeitung von Aspekten der Volkskultur Bahias seien Beispiele aus drei Romanen erwãhnt, Jubiabá (1935), Gabriela (1958), und Tenda dos milagres (1968). 39

In Jubiabá werden Candomblé-Rituale mit Lebhaftigkeit erzãhlt, ein­schlie13lich Y oruba-Gesãngen. Das Kapitel ,Macumba" beschreibt im Rhyth­mus von Trommelschlãgen vibrierende Kõrper, eine Momentaufnahme des Zustands der Personen im Zentrum des Saals, wenn die Eingeweihten des Hauses, die filhas de santo, beginnen, Heilige zu empfangen. ,Der orixalá40

37 Vgl. z.B. ,Discurso na Universidade de Bari", Mappe 17, MS 500, 1990: ,Ich bin ein alter Brasilianer indigenen Blutes - meine Mutter war eine kleine lndianerin voller Weisheit -afrikanischen und portugiesischen Blutes, wer weil3 ob auch jüdischen Blutes, arabischen Blutes". Auch in der 1994-1995 ftir Arte aufgenommenen Video-Dokumentation Jorge Amado von João Moreira Salles erklãrt er die Herkunft als ,aus allen Bluten gemischt. Die indianische Urgro13mutter hat im Wald gejagt."

38 Jorge Amado, Bahia de Todos os Santos, São Paulo 1967, 31. 39 Jorge Amado, Jubiabá, Rio de Janeiro 1987; ders.,Gabriela, Cravo e Canela, Rio de Janeiro

1995; ders.,Tenda dos milagres, São Paulo 1970. ' 40 Ein ,orixalá" ist ein orixá im inkorporierten Zustand, wenn er von einer Person Besitz ergriffen

hat.

war Xangó, der Gott des Blitzes und Donners [ ... ]. Die mãe do terreiro41 lie/3 einen Gesang erklingen [ ... ]: Edurô dêmin lonan ô yê!" Anschlie/3end wird jeder eintreffende orixá vorgestellt: ,Omolu, Gõttin der Blãtter", ,Oxóssi, der Gott der Jagd", ,Oxalá, der bedeutendste von allen orixás". Spãtestens wenn au/3erdem in die jeweiligen Farben und Instrumente eingeführt wird, fühlt man sich beinahe als Leser eines ethnographischen Berichts. (Jubiabá, 103).

Es gibt im gleichen Roman zwei weitere ergreifende kollektive Feiem: Szenen im Zirkus und den Samba im Haus von Fabrício, bei dem ,die Kõrper sich an der Gürtellinie vereinten und wieder loslie/3en [ ... ] Bauch mit Bauch, Geschlecht mit Geschlecht" (Jubiabá, 164). Eines der letzten Kapitel von Gabriela erschafft gleichfalls eine Form volkstümlicher Kommunion bzw. communitas, mit Ansãtzen zu magischem Realismus. Die Feier entwickelt sich zu einem Mischung aus traditionellen Festspielen [folguedos], Macumba- und Candomblé-Ritualen. Ein Mann verwandelt sich gleichzeitig in mehrere orixás, in Ogun, Xang~, Oxóssi und Omolu. Andere vollführen Zirkuskunststücke, üben sich in Capoeira und spielen auf dem Berimbau. Die Protagonistin Gabriela ist von Iemanja besessen, der Gõttin der Wasser, und ,reiste zu Wiesen und Bergen, Tãlem und Meeren, tiefen Ozeanen" (Gabriela, 347).

Femer ist die malandragem42 ein wiederkehrendes Thema in vielen der Romane. Der Junge Baldo bewundert in Jubiabá den Zé Camarão, der auf sympathische Weise in den Tag lebt, mutig und geschickt ohne Arbeit aus­kommt. Ze Camarão ,war ein hochgewachsener und gelbhãutiger Mulatte, der fortwãhrend den Kõrper wiegte; Ruhm erlangte er, seitdem er zwei Seeleute mit einigen Capoeira-Attacken entwaffnet hatte [ ... ]. Er wurde von den Mãd­chen geliebt, die ihn zu ihrem Ido! machten" (Jubiabá, 26). Die in Jubiabá vorgestellten malandros sind freiheitsliebend, frõhlich, vielseitig und musisch talentiert - sowohl Zé Camarão ais auch Antônio Balduino komponieren Sambas und spielen Geige.

Amados Untemehmen, Kultur ais sinnlich geprãgte und wahrgenommene Sphãre zu charakterisieren, führt endgültig in Gabriela dazu, Bahia ais eine kulinarische Landschaft darzustellen.43 Die Protagonistin Gabriela ist am Herd

41 Mãe do terreiro wird synonym zu mãe-de-santo gebraucht, also zur Bezeichnung der hõchsten Stellung im Kult der jeweiligen ,Gemeinde', die ursprünglich auBerhalb der Stadte zusam­menkam, daher terreiro.

42 Der malandro- in etwa: das Schlitzohr- wurde in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Rio de Janeiro popular, wahrend der Binnenwanderung vom Land zur Stadt. Der malandro war ein Arbeitsloser, der dabei nicht die Laune verlor, von kleinen Gelegenheitsjobs lebte, mit Kreativitat und aufgrund von Gunstbezeigungen überlebte. Seitdem erscheint er haufig in der Volksmusik und in der Literatur. Nicht nur die Folklore, sondem auch die Forschung bringt ihm Sympathie entgegen, was hier nicht ausgeführt werden kann.

43 Die Bedeutung des Essens nimmt in den Romanen von Jorge Amado immer weiter zu. In Cacau (1932) werden getrocknetes Fleisch, Bohnen, ,Streumehl' (farinha) und frisch gepflückte Früchte gegessen, dazu reichlich Zuckerrohrschnaps getrunken. Jubiabá (1935) beschreibt rituelle Kost, die im Candomblé Verpflichtungen gegenüber den Heiligen erfüllt. In

unschlagbar. Nicht einmal dem franzõsischen Koch gelingt es im Roman, sie zu übertreffen: ,Nicht da/3 das Essen schlecht ist. Doch wie soll man es ver­gleichen mit den duftenden, pikanten und farbigen Gerichten der heimischen Küche?" (os pratos da terra, 345). Darüber hinaus sind Sinneswahmehmungen selbst in nebensãchlichen Erzãhlpassagen von Gabriela bedeutsam. Die Nachbarin Arminda ist gekennzeichnet ,durch den ausgeprãgten Knoblauchgeruch" (30) und von Gabriela ,geht ein Zimtduft aus" (127). In der Szene vor der ersten Begegnung von Gabriela und Nacib überlagem sich akustische Signale: ,die Schreie waren bis hierher zu hõren. [ ... ] Melodische Harmonikaklãnge stiegen auf, eine Frauenstimme sang Volksweisen" (114). Das der Ehekrise zwischen Nacib und Gabriela gewidmete Kapitel hei/3t ,Von guten und schlechten Geschmãckem des Ehelebens" (Dos Sabores e Dissa­bores do Matrimônio, 289). Am traurigsten stimmt es Gabriela jedoch, ,keinen Geschmack im Mund zu haben" (348). Wiederum ergeben sich Berührungen zur Kulturanthropologie, etwa nach Ma/3gaben von Constance Classen: ,Sensory values not only frame a culture's experience, they express its ideais, its hopes and its fears. [ ... ]. When sensory orders express cosmic orders, cosmologies are not only read about or heard of, but lived through one's body".44

Auch der literatura de cordel, volkstümlicher Dichtung in billig gedruckten Heftchen, kommt in den Büchem des Romanciers eine nachgerade ,onto­logische Realitãt" zu.45 Sie erscheint nicht nur ais Inhalt von Erzãhlungen Amados, sondem wird auch zu einem besonders charakteristischen Struktur­moment seiner Erzãhlweise. So ahmt schon in Mar morto (1936) die Einleitung den Stil der volkstümlichen Erzãhler nach: ,Jetzt mõchte ich die Geschichten von den Kais an den Ufem Bahias erzãhlen [ ... ] lch habe sie in mondbeschienenen Nãchten an den Mãrkten am Kai gehõrt." Das voran­gestellte Motto von Teresa Batista (1977) macht deutlich: ,Pest, Hunger, Krieg, Tod und Liebe, das Leben von Teresa ist eine Cordel-Geschichte". Im frühen Roman Jubiabá ist der gro/3e Traum des Protagonisten, da/3 auch sein Leben einst in Versen erzãhlt wird, und zwar in der populãren Form einer ,ABC"-Biographie, in der jeder Paragraph mit einem Buchstaben des Alpha-

Mar Morto (I936) und Capitães da Areia (1937) kommt der landestypische Fischeintopf (moqueca de peixe) zu Ehren. Doch erst O Capitão de Longo Curso (1961) liefert dem Leser ein vollstandiges Kochrezept. Dona Flor (1966) lehrt nach Anlassen differenzierte Zubereitungen: spezielle Kost für die Totenwache, Imbisse fiir den Nachmittag sowie aus Sicht der Heiligen bevorzugte oder verbotene Gerichte. - Die Tochter des Schriftstellers hat inzwischen ein Kochbuch publiziert, das bezeichnenderweise die Küche Bahias nicht zuletzt aus dessen Romanen erschlieBt: Paloma Amado Costa, A comida baiana de Jorge Amado ou o livro de cozinha de Pedro Archanjo com as merendas de D. Flor, São Paulo 1994.

44 Constance Classen, Worlds o f Senses, London/New York 1993. 45 Mark J. Curran, Jorge Amado e a literatura de cordel, Salvador 1981. Die Blatter der Heftchen

waren ursprünglich einfach mit einem Faden, einer Schnur oder einem Band- ,cordel"- ver­bunden.

bets beginnt. Unterdessen werden die Abenteuer von Baldo ja tatsãchlich schon vom Erzãhler des Romans Jubiabá ãhnlich wie in der cordel-Literatur aufbereitet. So wird der Leser nicht mit einer langfristig angelegten Erzãhl­struktur überfordert, sondem in zahllosen kleineren Erzãhlkreisen unterhalten, wobei nicht an dramaturgischen Gipfeln und Überraschungen gespart wird. Genauso wie in der cordel-Literatur werden femer mehrere Ereignisse im V oraus angekündigt, beispielsweise antizipiert eine traurige Musik das kom­mende tragische Schicksal der Geliebten. Wie in den Heftchen für breiten Literaturkonsum gibt es einen schlichten Romantizismus - Lindinalva, die kranke Prostituierte, wird von der Liebe und Hingabe von Baldo geheilt - und einen übersteigerten Heroismus - Baldo ist seit seiner Kindheit ein tapferer Anführer, so auch spãter als Kopf eines Streiks.

Das vorangestellte Motto von Gabriela deutet als Inspiration des Roman­ciers eine schon existierende traditionelle Volksweise Südbahias an: ,Der Duft von Nelken/ Die Farbe des Zimts/ Ich kam von weit her/ Kam um Gabriela zu sehen" (IX). Und wenn der Erzãhler sich vermittels freier indirekter Rede in das BewuBtsein der Heldin hineinversetzt, dann sind die Gedanken im typi­schen fünfsilbigen volkstümlichen Versma/3 der ,redondilha" verfaBt: ,Ficava sem jeito, vestida de seda, sapato doendo, em dura cadeira [ ... ] Queria um fogão, um quintal de goiaba, mamão e pitanga, um quarto dos fundos, um homem tão bom". 46

Reichlichen Gebrauch macht Jorge Amado von einem weiteren Aus­drucksmittel der cordel-Literatur: der Hyperbole. So gibt es in Tenda dos milagres immer etwas ,Besseres", ,GrõBeres" oder ,niemals Dagewesenes", ,Intellektuelle hõchster Kategorie", ,sabidíssimos" oder di e Aussage einer verliebten Person, ,jede Nacht vor lauter Eifersucht zu sterben". Femer ver­deutlichen die enormen Untertitel des Romans diese Verwandtschaft: ,Wo von Büchem, Thesen und Theorien erzãhlt wird, von Lehrstuhlinhabem und Troubadouren, von der Kõnigin von Saba, der Grãfin von Iaba [eine ,teu­flische' Person im Candomblé] und inmitten dieser Unordnung [em meio a tanto ipsilone] wird ein Rãtsel vorgestellt und eine gewagte Meinung ausge­sprochen" (134). Der zentrale Disput der Haupthandlung - zwischen Pedro Archanjo, dem Verteidiger der mestiçagem, und Nilo Argolo, dem Rassisten­wird in einer der von Amado geme eingesetzten Variationen der Erzãhlstruktur von sechs fiktiven Troubadouren in Versen kommentiert [157]:

46 Betonung auf der zweiten und fünften Vers-Silbe; vgl. José Paulo Paes, De Cacao a Gabriela: um percurso pastoral, Salvador 1991, 31. Übertragung sinngemãl3: ,Ich war verlegen, in Sei de gekleidet, der Schuh schmerzte, auf einem harten Stuhl ( ... ). Ich wollte geme einen Herd, einen Goiaba-Garten, Papaya und Pitanga [exot. Frucht], ein Zimmer nach hinten, einen guten Mann" - dies, wãhrend Gabriela eher unwillig einem pseudo-intellektuellen Vortrag fúr die Iokale Elite beiwohnt.

V ou cantar em versos brancos

Para evitar rimas em preto O caso que se passou: O doutor Nilo Argola Nosso nobre catedrático Com preconceito de cor Mandou raspar os pentelhos da condessa dona Augusta tão lindos, mais ai, tão negros ...

Ich werde in ,weif.len Versen' [Wortspiel] erzãhlen, Um schwarze Verse zu vermeiden, Was sich als Fali ereignet hat: Der Doktor Nilo Argola Unser ehrwürdiger Lehrstuhlinhaber Mit Rassenvorurteil Befahl die Rasur der Schamhaare der Grãfin Dona Augusta wunderschõn waren sie, aber ach, so schwarz ...

Das ,Zelt der Wunder" des gleichnamigen Romans Tenda dos milagres ist übrigens ein wahrhaftiger Tempel volkstümlicher Kreativitãt. Darin ist eine typographische Druckpresse für die cordel-Bãndchen aufgebaut. ,Trouba­doure, Fiedler, Improvisationskünstler, Autoren kleiner Broschüren, die typo­graphisch komponiert und gedruckt sind. Sie notieren und kommentieren das Leben der Stadt, in Reime fassen sie jedes Ereignis und erfinden Geschichten, protestieren und kritisieren, lehren und unterhalten" (Tenda dos milagres, 15).

Zur Abrundung der Skizze des Dialoges mit der Volkskultur mu/3 das Zusammenspiel von Text und Bild in den Romanen erwãhnt werden, das sich hierbei wiederum an den cordel-Heftchen orientiert. Fast alle Ausgaben Amados enthalten Illustrationen, manchmal nur ein halbes Dutzend, nicht selten jedoch mehrere pro Kapitel. Selbst wenn die Illustrationen von bekann­ten Künstlem verfertigt sind, eignen diese sich Graphiken aus der literatura de cordel an, genauso wie der berühmte Schriftsteller sich Rede und Gesang des Volkes zu eigen macht. Die populãren Heftchen sind üblicherweise im Holzschnittdruck illustriert, von den Autoren des Textes oder anonymen Künstlem. Femer kommt es zum Recycling von Abbildungen aus Feen­mãrchen, aus der Bibel oder zu Nachdrucken berühmter Künstler. Die in ein­facher Linien- oder Flãchenkomposition aufgebauten Illustrationen drücken den Wunsch nach Synthese aus, enthalten dãmonisch-phantastische Elemente, sollen dabei freilich nur begleitend, untergeordnet illustrieren, machen - auch aus Gründen der Drucktechnik- wenig Gebrauch von Farbe.47

47 Vgl. Roberto Pontual, ,A xilogravura de cordel", in: José Marques de Melo u.a. (Hgg), Folkcomunicação, São Paulo 1971; Ivan Cavalcanti Proença, A ideologia do cordel, Rio de Ja­neirol976.

Abb. 3a- Illustration von Calasans Neto fur den Roman Tieta do Agreste

von Jorge Amado. Der rustikale Holzschnittdruck und die schwarz-weiBe Ausfuhrung verweisen auf die Gravuren der cordel­

Hefte.

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Abb. 3b- Titelblatt von Tieta do

Agreste. Vida harmoniosa e conflitante,

heroína e anti-heroína (o.J.) von Lúcia Peltier de Queiroz. Interessant ist die Nebeneinander-stellung dieser cordel­Illustration mit derjenigen von Calasans Neto zum gleichnamigen Roman Amados.

4. Die cordel-Literatur im Dialog mit Jorge Amado Bemerkenswert ist, dal3 die Aneignung und das Zitieren auch in umgekehrter Richtung vorkommen: mehr ais 50 cordel-Dichtungen beziehen sich in ihren Versen auf die Biographie und die Literatur von Jorge Amado. Venturas e aventuras de Jorge que é muito Amado, das gewitzte Bandchen eines gewissen L.V.P.Q. (o.J.), erzahlt von der ,Offenbarung" des Talentes schon im jungen Alter des Schriftsteller, als ein Portugiesisch-Lehrer, der auch noch wie der Entdecker ganz Brasiliens Cabral hieB, sensibel die Klassenarbeit des lljahrigen Jorge lobte:

Todo Cabral português Tem gana de discubrimento Cum Jorge Amado, na classe Deu-se o acontecimento: Seu professô jesuíta Descubriu o seu talento

Jedem portugiesischen Cabral Gelüstet es nach Entdeckung Mit Jorge Amado, in der Schulklasse Ergab sich das Ereignis: Sein jesuitischer Lehrer entdeckte sein Talent.

Rodolfo Coelho Cavalcante, ein Bestseller dieses Gemes, ist der Autor zweier Heftchen über den Romancier aus Bahia: eines erzahlt das Leben, das andere von den Büchem. Im ABC de Jorge Amado (1979) stellt Cavalcante seine Vertrautheit mit dessen literarischer Produktion deutlich zur Schau und hebt die Tatsache hervor, Amado sei Mythos und Held geworden, befàhigt, die Realitat seiner Umwelt zu gestalten.48 Ein anderes Heftchen des gleichen Autors, Tereza Batista Cansada de Guerra (1973), erschien ein Jahr nach der ersten Ausgabe des gleichnamigen Romans von Amado. Freilich erzahlt das cordel-Heft seine eigene Version der Geschichte von der mutigen Prostituierten Tereza, überspringt Passagen und modifiziert andere. Anhand der Romanfigur Tereza wird über Prostitution [hier distanzierter: meretrício] nachgedacht. Allerdings kommt Cavalcante zu einem anderen, moralisch strengeren und pessimistischeren Schlul3 als Amado:

O fim de toda mulher Que se entregue ao meretrício É arrastar-se na lama Como verme em seu ofício

Das Schicksal jeder Frau Die sich der Prostitution ausliefert, ist es, sich in ihrem Geschaft wie ein Wurm im Lehm zu winden. 49

Die sozialkritische Geschichte von Pedro Bala, dem Anführer der Capitães da Areia, hat Adolfo Moreira Cavalcante neu geschrieben. Dem Leser erklart er: ,Jorge Amado stützt si c h auf aul3erst wirkliche Fakten [fatos muitos reais], den

48 ,Escreveu umas 30 obras/ Todas elas conhecidas/ Em temas mais variados,/ Fixando muitas vidas: ( ... ) É ele o ecritor do século/ Virou lenda, virou mito/ Virou gênio, Virou fábula/ Por tudo que tem escrito/ Por tudo que ele constróe,/ Ja virou até he~ói".

49 Zit. n. Curran (Anm. 45), 86 [Schon die Wortwahl meretrício bringt mehr Distanz zum Ausdruck].

geringsten Verwahrlosten, wahrhafte Randexistenzen". Auf andere Weise gelangt ,Gabriela, der schon verfilmte Roman" in den Versen von Manoel D' Almeida Filho zu neuem Leben. Dieser Autor zitiert gleichermaBen aus der telenovela der Rede Globo wie aus dem Buch Jorge Amados, und sendet ,eine herzliche Umarmung" an die Schauspieler.50

f

~

Venturas e aventuras de

Jorge que é muito

Abb. 4 - Das Titelblatt des cordel-Heftes Venturas e aventuras de Jorge que é muito Amado von L.V.P.Q. (o.J.) stellt den Schriftsteller ais Heiligen Georg im Kampf mit dem Drachen dar. Im Bildhintergrund ist darüber hinaus ein orixá abgebildet, mõglicherweise Oxóssi, Yoruba-Gottheit der Jagd, üblicherweise ausgestattet mit Pfeil und Bogen, Beschützer der Glaubigen gegen die Raubtiere. Das Bild kõnnte auch auf Ogun hinweisen, der mit dem Krieg und dem Metall in Verbindung gebracht wird, gewõhnlich mit Helm und Schwert

'IA-'A abgebildet ist.

Einem beeindruckenden Fall wechselseitiger Durchdringung zwischen dem Werk Jorge Amados und dem Universum, das er neu zu erschaffen versucht, begegnet man in einem der cordel-Hefte, die auf Tieta do Agreste (1977) Be­zug nehmen. Tieta ist eine Ziegenhirtin, die vom V ater aus dem Haus gewiesen wird und in die gro13e Stadt geht, wo sie als Prostituierte zu Reichtum kommt. Nach vielen Jahren kehrt sie heim und wird zum treibenden Element einer Modemisierung der rückschrittlichen Kleinstadt Santana do Agreste. Das Bandchen Tieta do Agreste no Picado é filmado romance de Jorge Amado, 1995 von Aurino Pimentel Ribeiro verfa13t, thematisiert in analoger Übertragung di e V erwandlung einer anderen Kleinstadt wegen einer anderen Tieta. Dabei handelt es sich um die Siedlung Picado im Bezirk Jacuípe, wo der Regisseur Caça Diegues eine Verfilmung des Romanes von Amado durch­führte. Nach den Dreharbeiten wurde die Namensgebung des Stadtchens dis­kutiert, beinahe so, als würde das von Jorge Amado erfundene Santano do Agreste tatsiichlich eine Existenz erlangen:

50 ,[ ... ] A todas as personagens/ Às atrizes e aos atores/ Nosso afetuoso abraço,/ Com parabéns e louvores -I Que façam outras novelas,/ Em cenários multicores[ ... ]".

Hoje o povoado do Picado Tem uma nova aparência Com Tieta do Agreste Filme de grande concorrência E também tem correio Pra receber correspondência [ ... ] Os moradores do Picado Ficaram tão empolgados Que até já pensaram Em seu nome ser mudado Para Santana do Agreste Lugar do filme afamado

Heute hat die Siedlung Picado Ein neues Erscheinungsbild Mit Tieta aus Agreste Einem vielgesehenen Film Auch hat si e jetzt eine Post Um Briefverkehr zu empfangen [ ... ] Di e Bewohner von Picado Waren so angeregt Daf3 sie sogar schon daran dachten dessen Namen zu andem in Santana do Agreste Drehort des berühmten Films

Francisco Minelvino Silva, ein weiterer corde/-Schreiber, verarbeitet die Be­gegnung zwischen Volkstümlichem und Gelehrtem, Volk und Elite im Uni­versum Jorge Amados zu einer scharfsinnigen Allegorie, indem er den gro13en Romancier mit dem populiiren Gesangsdichter Rodolfo Coelho Cavalcante in Verbindung bringt. O Encontro de dois Astros Luminosos: Rodolfo e J. Amado (o.J.) setzt die beiden Autoren- ,leuchtende Steme" - in Bezug zueinander und enthüllt, da13 sie sich wechselseitig bewundem:

O Rodolfo sempre lia Cada vez mais de bom grado Os livros grandes em prosa Escritos por Jorge Amado E Jorge Amado também Que de vez em quando lia Um livrinho de cordel Com saborosa poesia[ ... ]

Immer schon las Rodolfo Mit steigendem Gefallen Die in Prosa geschriebenen Grol3en Bücher von Jorge Amado Und auch Jorge Amado las ab und zu eines der Cordel-Büchlein mit geschmackvoller Poesie [ ... ]

Bleibt zu erwiihnen, da13 auch di e Betonung des Sinnlichen im W erk Amados von der literatura de cordel augenzwinkemd kommentiert wurde:

Pra intendê sua obra É preciso muito orfato Modi senti o cheirinho Di cabruca, estufa e mato Patichuli e canela Côco, dendê e mulato.

Um sein Werk zu verstehen Bedarf es einer guten Nase Auf daf3 man den Geruch spüre Von Mulattin, [Treibhaus?], Busch Patchouli und Zimt Kokos, Dendê und Mulatte.

51

51 L.P.V.G., Venturas e aventuras de Jorge que é muito Amado, o.J.

5. Exkurs: Feldforschung im imaginãren Dorfvon Jorge Amado Der schwedische Anthropologe Ulf Hannerz erõffnet einen Beitrag über trans­nationale Anthropologie mit einem Hinweis auf Jorge Amado.52 In Tenda dos milagres kommunizieren die Figuren Pedro Archanjo (Brasilianer) und Kirsi (Schwedin) untereinander nur mit Gesten. Auch ohne Worte verstehen sie sich bestens und Kirsi erlernt bahianische Tanze. Hannerz bedient sich der Kom­munikation zwischen Pedro und Kirsi im Roman, um davon ausgehend Gren­zen, flieBende Übergange und Hybrides in der gegenwartigen Welt zu thema-

. tisieren. AuBerdem nutzt er noch die Debatte zwischen dem lokalen Wissen von Archanjo und den international informierten akademischen Theorien von Nilo Argolo, einem Rassentheoretiker, ais Ausgangspunkt von Ausführungen zu kulturellen Vernetzungen in einer globalisierten Welt und zur assyme­trischen Reorganisation kultureller Diversitat. Es ware aus brasilianischer Sicht auBerst anregend gewesen, diese konzeptuelle Orientierung weiterzuverfolgen. Jedoch bestand das Interesse des Beitrags offensichtlich nicht darin, sich eingehender mit Reprasentationen oder Lebenspraktiken Brasiliens zu befassen. So ist der eklektische Rekurs auf Amado hier nur ein Beispiel dafür, daB der Charme seiner Texte auch in ambitionierte Diskussionen zeitgemaBer Anthropologie hinein ragt.

Anders verhalt es sich, wenn die von Jorge Amado konstruierte Reprasen­tation Bahias oder Brasiliens mit der bahianischen oder brasilianischen ,Rea­litat' vermengt wird. Anreize dafür schaffen verschiedene narrativ erzeugte Authentizitats-Signale, darunter die Verwandlung historischer oder dem Autor bekannter Personen in Romanfiguren. 53 Besonders aber beeindruckt di e ,einge­borene" Haltung des Schriftstellers, der seinen ArbeitsprozeB folgendermaBen darstellt:

54 ,ich schreibe über das, was ich erlebt habe, was ich kenne" -

,wichtig ist es [ ... ] über gelebtes Lebens zu schreiben, nicht über ein Wortspiel".

Wirkung zeigt dies beispielsweise beim afrikanischen Soziologen Komoe Gastou Yao, der Auszüge aus dem Werk von Amado zusammenstellt, welche hinsichtlich Brasiliens die Gegenwart einer ,vitalen Kraft" bestatigen sollen, einer Energie, die für viele afrikanischen Gesellschaften die Fahigkeiten oder MiBerfolge von Personen determiniere. So zitiert Yao eine Passage aus Mar

52 Ulf Hannerz, ,Fluxos, fronteiras, híbridos: palavras-chave da antropologia transnacional", in: Mana- Estudos de Antropologia Social, Rio de Janeiro 3,1 (1997). 53 V gl. Fn. 19. Die Figur der Dona Flor e seus Dois Maridos ( 1966) ist von einem Fa!J inspiriert, den der Dichter Álvaro Moreyra 1933 berichtet, nãmlich Probleme der Schwester eines seiner Freunde: Witwe eines Joumalisten-Bohemiens, verheiratete sie sich mit einem portugiesischen Hãndler. Da si e jedoch Spiritistin war, legte sich ihr der verstorbene Ehemann jede Nacht zur Sei te. Vgl. ltazil Benício dos Santos, Retrato Incompleto, Rio de Janeiro 1993, ll O.

54

,escrevo sobre aquilo que vivi, aquilo que conheco", zit. n. De Franceschi (Anm. 6 ), 45 - ,o importante é [ ... ] criar sobre a vida vivida e não sobre um jogo de palavras", zit. n. Gil Clemente, 365- Seleção de leitura e informação n.l, São Paulo 1975, 152.

morto, die den Mut von Guma wertschãtzt, der ein havariertes Schiff rettet. Ferner zieht Yao einige Beispiele direkt aus den Romanen, um die Bedeutung der Namensgebung nach afrikanischer Art zu bestãtigen - in der brasi­lianischen Gesellschaft ais ein Ganzes. W eiter durchlauft der Soziologe Be­schreibungen religiõser Initiation in Afrika und Brasilien, wobei Amados Schriften neben akademischen Studien zur Religiositat zitiert werden. Bei­spielsweise ist zu lesen: Manoel Querino (1955) ist der Ansicht, daf3 kurz nach diesem ersten Akt - dem Bad der Novizin in Blattem, gefolgt von einem Schnitt in die Haut, um das Eindringen des orixá in die Person zu ermõglichen - der Initiierte die efun-Zeremonie durchlãuft, wie auch bei Jorge Amado erwiihnt. 55 [Hervorhebung von mir, I.G.]

Der afrikanische Soziologe betrachtet die Fiktion von Amado in solchem Maf3 ais ,wahrhaftige' Beschreibung, daB sie ais Quelle eines Vergleichs sozialer Praxis zwischen Brasilien und Afrika dient. Ãhnlich bezieht Joseph Page sich in The brazilians (1995) auf sieben Romane des bahianischen Best­sellers.56 Anhand der Figur des Nacib aus Gabriela illustriert er die Gegenwart von Immigranten aus dem Mittleren Osten in Brasilien (117); die drei Bãnde Subterrâneos da liberdade werden zur Nachzeichnung der Unterdrückung der Kommunistischen Partei im Estado Novo benutzt (205); O País do carnaval erõffnet ein Kapitel über die Vitalitãt des Karnevals in Rio de Janeiro (466); Tenda dos milagres dient als Referenz zur Beschreibung von Repressionen gegen den Candomblé in den 20er Jahren; schlief3lich wird O sumiço da santa vom Brasilianisten jedem empfohlen, der eine Beschreibung des synkretistischen Borifim-Festes in Salvador lesen will.

Es ist richtig, daf3 Bahia de todos os santos, ein 1945 geschriebener Führer durch Salvador, Züge einer Ethnographie aufweist: er beschreibt Stadtviertel, das traditionelle Fest der Jemanja im Februar, er katalogisiert 117 Candomblé­Hãuser [terreiros], erklart regionale Mahlzeiten und Figuren der Folklore. Doch ausgenommen von diesem Führer ist die gesamte übrige Produktion des Romanciers nicht als Dokumentation angelegt. In der literarischen Neu­erschaffung wird ohne Bemühen um Exaktheit oder Nachprüfbarkeit sowohl auf Elemente der Volkskultur wie auch akademische Studien zurückgegriffen. Wie der brasilianische Soziologe und Literaturkritiker Antônio Candido be­kraftigte, ,zu glauben, es genüge das W erk an der auf3eren Realitat zu messen, um letztere zu erkennen, heif3t das Risiko einer gefahrlichen kausalen Ver­einfachung einzugehen".57 Der Anthropologe Ordep Trindade-Serra weist darauf hin, daB man sagen kõnnte, der Romancier habe einige Fehler in seinen Beschreibungen des Candomblé begangen - handelte es sich nicht sowieso um

55 Komoe Gaston Yao, Brasil e /Ífrica em textos de Jorge Amado, Diss. de Mestrado, FFLCH-USP, 1996, 118. '

56 Joseph A. Page, The Brazilians, New York/London/Bonn 1995.

57 Antônio Candido, Literatura e Sociedade, São Paulo 1965, 14.

Fiktion.58 Man kann dabei etwa an die Speichelproduktion zweier in Trance befindlicher Personen in Jubiabá denken, ,sie schãumen aus dem Mund und aus dem Geschlecht", eine eher ungewõhnliche Situation. Gleichwohl be­trachten mehrere, vorwiegend auslãndische Autoren das fiktionale Universum von Jorge Amado ais ethnographisches Feld, dessen Personen den ,Brasi­lianem' gleichkommen.

6. Fazit Am Ende meines Durchgangs angelangt, beeindruckt die wechselseitige Befruchtung zwischen dem Universum der Romane, dem Alltag von Salvador und dem Bild und der Person des Schriftstellers. In den 1930er Jahren gekürte nationale Symbole erscheinen in den Romanen und in anderen Texten von Jorge Amado. Die Identifikation des Schriftstellers mit einigen seiner Figuren ist offenkundig, genauso wie die Anschlüsse zwischen dem fiktionalen und dem sozialen Universum von Jorge Amado. Es scheint, ais sei Jorge Amado von einer Mission erflillt gewesen und benutzte sein Leben, sein Werk und seine Beziehungen, um sie zu konkretisieren. Diese Mission hat wohl darin bestanden, die Konstruktion einer Reprãsentation Brasiliens vorzugeben, welche die Realitãt in eine Form gieBt, die seinen Auffassungen und Wünschen entspricht- einfach, heiter, sinnlich, solidarisch, kurz: mestiça.

Der Anthropologe Roberto DaMatta fragte sich einmal, ob die fiktionale Welt von Jorge Amado jene ist, in der die Brasilianer geme leben würden. Er selbst antwortete: ,der Erfolg der Bücher scheint zu belegen, daB die Antwort positiv ausfallt". Ich bediene mich seiner Worte: ,das soziologische Problem kann nicht nur sein, darin eine Mystifikation zu sehen, sondem der partiellen Wahrheit Aufmerksamkeit entgegenzubringen".59 Deshalb stimme ich auch mit Eduardo Duarte überein, der die Geringschãtzung des erfolgreichen Schriftstellers im akademischen Milieu kritisiert: ,dieses V orurteil ist ein Zeichen des Elitarismus der brasilianischen Universitãt, die üblicherweise nur jene Autoren liest, die nur sie liest. Jorge Amado ist doppelt stigmatisiert: als Kommunist und als Bestseller-Autor".60

Hat Jorge Amado Stereotype und Reprãsentationen der baia­nidade/brasilidade geschaffen, oder hat er sie genutzt, um Erfolg zu haben?

58 Ordep Trindade-Serra, ,Jorge Amado, sincretismo e candomblé: duas travessias", in: Revista de Antropologia, São Paulo, 38, I (1995).

59 Roberto DaMatta, ,Dona Flor e seus dois maridos: um romance relaciona!", in: A casa & a rua, Rio de Janeiro 1985, hier 140; vgl. ders., ,A obra literária como etnografia: notas sobre as relações entre literatura e antropologia", in ders., Conta de Mentiroso. Sete ensaios de antropo­logia brasileira, Rio de Janeiro 1993.

60 Eduardo de Assis Duarte, zit. n. José Castello, ,Livro resgata pioneirismo da obra de Jorge Amado", in: O Estado de São Paulo, 22.6.1996, D-12; vgl. ders., Jorge Amado: romance em tempo de utopia, Tese de doutoramento em Letras, FFLCH-USP, São Paulo 1991.

Beides. Existieren in Bahia keine Gabrielas, nur im Buch? Falsch, ein italie­nischer Verehrer Amados hat seine Gabriela in Bahia getroffen. War Nina Rodrigues ein Wissenschaftler des ausgehenden 19. Jahrhunderts? Kaum: er lebt heute in Tenda dos Milagres, unter dem Pseudonym Nilo Argolo. Wer ist heiter, sinnlich und mestiço, irgendwelche Figuren von Jorge Amado? Sicher, viele derer, aber auch ihr Schõpfer und jene Brasilianer ,aus Fleisch und Blut [de carne e osso]", di e sich mit solchen Bildem identifizieren. Und Santana do Agreste ist zwar nur eine im Roman Tieta erfundene Kleinstadt, die von Caça Diegues im realen Provinznest Picado filmisch in Szene gesetzt wurde; sie kõnnte aber bald gãnzlich existieren, wenn der Plan eines corde/-Gesangs­dichters gelingt, dem Ort der Filmkulisse nun den Namen aus der Roman­vorlage zu geben, weil das Kleinstãdtchen sich durch den Film tatsãchlich ãhnlich dem literarischen Santana do Agreste transformiert und modemisiert

hat. Ursprünglich neigte auch ich zur Annahme, die Gründe des Erfolgs von

Jorge Amado lieBen sich auf das Marketing zurückführen, auf ein Produkt nach dem Geschmack des Massenpublikums, sowie auf ein einfluBreiches Beziehungsnetz mit anderen Künstlem und Teilen der Elite Bahias. Doch muBte ich mich davon überzeugen, daB dieser Schriftsteller - jenseits der Manipulationen, Opportunismen und Leichtigkeiten - die Menschen auf irgendeine Art berührt, indem er volkstümliche Formen des Lebens und Erzãhlens in literarische Poesie und Prosa umsetzt. Schrieb doch Ricardo Oiticica, ,aus den Menschen und Büchem von Jorge Amado ist ein ganzes Land gemacht".61 Zur eingehenderen Beschreibung dieser Feststellung bedarf es interdisziplinãrer Nachforschung, besonders des Dialogs zwischen Litera­turwissenschaft und Anthropologie.62 Wie ich anhand einiger Beispiele zu

61 Ricardo Oiticica, ,Jorge Amado e suas duas leituras", in: Verve, Dezember 1988. 62 Andernorts (Anm. 2, Kap. 4, S. 191 f.) habe ich beispielsweise di e Frage nach der ,Konsum­

literatur' aufzugriffen. Karlheinz Stierle zufolge lost sie auf der Ebene der Imagination oder Emotion im Rezeptionsprozel3 die Aktualisierung schon bekannter Klischees aus: ,Réception et fiction", hier 301 [frz. Übers. von ,Was heil3t Rezeption bei fiktionalen Texten", in: Poetica 7 (1975), 345-387]. Stierle geht davon aus, dal3 sich in der Konsumliteratur nur Stereotype spiegeln, die der Leser selbst produziert bzw. vor dem Eingang in die Literatur produziert hat. Dabei entstünde also nichts wirklich Neues. Áhnlich urteilt Walnice Galvão hinsichtlich der Ausformung bei Amado: ,die Fiktion nach Geschmack des Marktes" unterliege einem Innovationsverbot und enthielte, jenseits der flüssigen Diktion und einer Armada von Spannungsmomenten, immer ,eine Prise humanitãrer ldeen". Walnice Nogueira Galvão, ,Amado: respeitoso, respeitavel", in dies., Saco de Gatos, São Paulo 1976, hier 14. -Wiederholungen, Stereotype, etmge humanitare Ideen, flüssige Erzãhlweise und Spannungsmomente sind zweifellos im Werk Amados priisent. Aber ich widerspreche der Auffassung, da13 damit absolut nichts Neues entsteht, gerade wenn die Rezeption, Intertextualitãt und Intermedialitãt berücksichtigt wird. Vor aliem ermoglicht das Lektüre­vergnügen seiner ,romances romanescos' in Brasi(ien ein ,unvergleichliches Demokratisierungsphãnomen der Lektüre, deren Rezeptionshorizont sich unter uns in nicht dagewesener Weise erweitert hat", De Franceschi (Anm. 6), 88. Aul3erdem reproduzieren die Bücher Amados eben nicht nur, was schon vorhanden ist, sondem entwerfen Repriisentationen

zeigen versucht habe, werden freilich am Schreibtisch erzeugbare MaBstãbe für die Interpretation des Schriftstellers ais Anthropologen differenziert oder re1ativiert, wenn das ,Fe1d' dieser Reflexion auch die Erfahrung der Praxis in Bahia ist, zumindest die Erfahrung der Existenz anderer Gemes, die mit dem Autor oder seinen textuell und multimedial manifesten Reprãsentationen auf verschiedene W eise in Kommunikation treten. So kann di e Intuition, daB auch die Lebenswelt von Bahia sich im Werk von Jorge Amado eine Nachahmung verschafft hat, auf einer breiteren Materialbasis reflektiert werden. Gezeigt werden sollte, daB Jorge Amados Werk in ein sozio-kulturelles Gebi1de über­führt wurde, das weit über gedruckten Text hinausgeht. Erst in verschiedenen Perspektiven auf diese Interaktions- und Kommunikationsfelder kõnnen Span­nungen oder erstaunliche Symmetrien zwischen dem Realen, dem Fiktiven und dem Imaginãren deutlich werden. Das Oszillieren von ,Reprãsentationen brasilianischer" Identitãt' zwischen diesen Dimensionen erscheint aufgrund der Felderfahrung des Fallbeispiels gewollt: eine Tendenz zum humorvoll-spiele­rischen Umgang mit der Reprãsentation des ,Nationalcharakters' scheint be­obachtbar.63 Gerade diesbezüglich sind Werk und Wirkung von Jorge Amado im ,Land des Kamevals" emst zu nehmen. Wie dem auch sei: dieser Gegen­stand einer Ethnologie Brasiliens ist nicht vom Aussterben bedroht.64 Weiterhin ,konstruiert' und ,aktualisiert' sich das Bestseller-Brasilien von Jorge Amado, in den Buchhandlungen, dem Femsehen, auf dem Pelourinho, im Kino, im Theater, in italienisch-brasilianischen Heiraten, im Bãnkelgesang und in cordel-Heften, in Tourismus-Broschüren, am Strand, beim Kameval und zuweilen in akademischen Beitrãgen.

und Bilder, die ungewõhnlich breite Resonanz finden, wie Fankarten, Karikaturen, cordei­Hefte und andere oben vorgestellte Dokumente beweisen.

63 AufschluJ3reich ist e in Ausloten der Grenzen ( des eben behaupteten) humorvoll-spielerischen Umgangs mit der Repriisentation des Nationalen oder des Nationalcharakters: gerade indignierte Reaktionen auf stereotyp-,kritische' Thematisierungen Brasiliens seitens von Ausliindern (Kolonisierung und Võlkermord, Umweltzerstõrung, soziale Frage) erweisen hiiufig den Ernst des humorvollen Selbstbildes und die Grenzen der Reflexivitat ludischer Repriisentation des Nationalen.

64 Erwiihnt sei, daJ3 in der Reprasentation Bahia-Brasiliens von Jorge Amado trotz der hiiufig wiederholten Dreizahl (,Mischung dreier Rassen") kein Raum fur Beschreibungen der Alteritãt indigener Kulturen bleibt. Und übrigens treten zur Mischrepriisentation der mestiçagem gerade in Salvador auch aus den USA importierte Modelle einer ,schwarzen', genuin ,afrikanischen' oder genuin ,afroamerikanischen' Identitat in Konkurrenz.

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