Date post: | 09-Jan-2023 |
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Sexualisierte Gewalt in pädagogischen Kontexten – Anfragen an eine Disziplin
Marion Baldus
„I have lost everything. I have thrown it away. Not only have I betrayed myself, I feel that other people here have betrayed themselves too. I have betrayed others and also feel that I have betrayed my profession, which is perhaps even more.“ (Colton/Vanstone 1996: 1).1
Verlust, Selbstbetrug, Betrug von Anderen und der Betrug eines ganzen Berufsstandes – mit dieser
retrospektiven Beschreibung skizziert ein Pädagoge, der über Jahre hin Schutzbefohlene unentdeckt
sexuell missbrauchte, seine bittere Lebensbilanz. Das Zusammenspiel und Zusammenwirken von
persönlichen Motiven und individuellen Strategien mit strukturellen Kontextbedingungen in
pädagogischen Institutionen wird in seiner und sechs weiteren von Colton & Vanstone 1996
publizierten Fallstudien beeindruckend aufgezeigt.
Ein differenziertes Verständnis des Phänomens sexueller Übergriffe durch Professionelle auf Kinder
und Jugendliche bedarf der genauen Analyse und Erforschung, um einem multifaktoriellen Geschehen
gerecht zu werden, das die Profession der Pädagogik im Innersten trifft und irritiert: Ausgerechnet
Orte, an denen Kinder sicher und entwicklungsfördernd leben und aufwachsen sollen, entpuppten sich
durch die Veröffentlichung von vielfältigen Missbrauchserfahrungen zu Orten, die Heranwachsende
traumatisierten und in ihrer Entwicklung beschnitten. Aus „Möglichkeitsräumen“ (Feuser 2010: 51),
deren Aufgabe es ist, Lernen anzuregen und Entwicklung zu befördern, werden durch Pädagogen, die
ihre berufliche Position zur Befriedigung eigener sexueller und psychischer Bedürfnisse ausnutzen,
Beschädigungsräume.
Wissenschaftliche Studien, die die Dynamik zwischen Pädagoge und Kind, Kollege und Team, Team
und Leitung, Kind und Eltern aus der Subjektperspektive der an ihr Beteiligten auf einer
Tiefendimension erhellen, fehlen bislang weitgehend. Die qualitative Studie von Colton & Vanstone
(1996), die auf der Basis narrativer Interviews die Übergriffe aus Sicht der Täter beleuchtet, schärft
hier den Blick auf ein Themenfeld, das im Folgenden aus der Perspektive der
Erziehungswissenschaften aufgefächert werden soll. Dabei dienen Anfragen an die Disziplin und ihre
Theoriemodelle zur kritischen Reflexion des Versagens des Schutzauftrags ihrer Institutionen. Befragt
wird die Erziehungswissenschaft nach Erklärungsansätzen und einem Orientierungs- und
Handlungswissen für eine pädagogische Praxis, die Defizite identifiziert, sexuelle Übergriffe durch
Pädagogen enttabuisiert und Maßnahmen zur Wahrnehmung ihres Schutzauftrages implementiert. Die
Befragung der Disziplin geht dabei in fünf Schritten vor: Zunächst werden Erziehungsbegriffe
1 Ich habe alles verloren. Ich habe es weggeworfen. Nicht nur ich habe mich selbst betrogen, ich habe das Gefühl, dass sich auch andere Leute selbst betrogen haben. Ich habe Andere betrogen und ich empfinde zudem, dass ich meinen Berufsstand betrogen habe, was vielleicht sogar noch schwerer wiegt (Übersetzung d.d. Verf.)
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vorgestellt und diskutiert, daraufhin wird der Aspekt der Abhängigkeits- und Machtstrukturen in
Erziehungsverhältnissen erörtert und auf den Bereich sexualisierter Gewalt transferiert. Im nächsten
Schritt werden unter Berücksichtigung der Dimension Sexualität, Orientierungspunkte für die
Professionalisierung institutioneller Erziehungskontexte aufgezeigt. Abschließend erinnert die
Darstellung national und international verbriefter Schutzrechte für Kinder daran, dass
Heranwachsende per se vulnerable Wesen sind, deren förderliche Entwicklung nicht zuletzt unter
staatliche Protektion gestellt werden muss.
Anfragen an eine Disziplin
Der erste in den Medien nach der Aufdeckung der Missbrauchserfahrungen zu beobachtende Reflex
der Erziehungswissenschaften, vertreten zunächst durch Oelkers (Schweiz) und Herrmann
(Deutschland), demonstriert eher Disparität statt Einigkeit: In der Analyse des Vorgefallenen sind sich
die Proponenten höchst strittig. Während Oelkers die Ideen und Ideale der Gründerväter der
Reformpädagogik und hier insbesondere den „pädagogischen Eros“, auf den sich Paul Geheeb,
Herrmann Lietz und Otto Kiefer beriefen (Oelkers 2010) sowie die angeblich bewusst
Herrschaftsansprüche verschleiernde Rhetorik vom partnerschaftlichen Verhältnis zwischen Lehrern
und Kindern als mitverantwortlich für die sexuellen Übergriffe identifiziert, widerspricht Herrmann
dieser Interpretation als zu kurz gegriffen und wichtige strukturelle Hintergründe ausblendend. Er
verweist stattdessen auf Herrschaft, Macht und Abhängigkeit als grundlegende Komponenten von
Erziehungsverhältnissen, die nicht typisch für die Reformpädagogik, sondern konstitutiv für
Pädagogik generell seien:
„ Erziehung ist per se keine herrschaftsfreie Zone. […] Abhängigkeit kann ausgenutzt, Autorität und Macht missbraucht werden, der Erziehungsauftrag und die Verantwortung für die Schutzbefohlenen können verfehlt werden: unwillentlich und willentlich durch psychische, körperliche oder seelische Beschädigung oder Beschämung […]“ (Herrmann 2010).
Oelkers Analyse, pädophile Strebungen und pädosexuelle Handlungen seien systembedingter
„Bestandteil reformpädagogischer Erziehungspraxis“ (Herrmann 2010) an der Odenwaldschule und
vergleichbarer Landerziehungsheime gewesen, hält Herrmann entgegen, dass nicht nur der Blick in die
Geschichte der Pädagogik, sondern auch der nüchterne Blick auf „Struktureigentümlichkeiten“ (Wolff
2007: 105) menschlicher Beziehungen, die konstitutive Machtasymmetrie und den potentiellen
Machtmissbrauch zwischen Erziehendem und zu Erziehendem offenbaren:
„[…] die Erziehungswissenschaft erinnert daran, dass Macht und Missbrauch, Führung und Verführung, Zuwendung und Ausbeutung, die prekäre Gratwanderung zwischen Nähe und Distanz die Charakteristika des pädagogischen Verhältnisses als solchem sind, […]“ (Herrmann 2010).
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Nicht die Spezifika reformpädagogischen Gedankenguts, sondern Grundkomponenten intergenerativer
Beziehungen sind laut Herrmann demnach die Basis für Grenzverletzungen, Übergriffe, Ausbeutung
und Missbrauch. Im Gegenteil sei die Reformpädagogik ja geradezu angetreten, „der erzieherischen
Machtausübung das Recht auf Selbstentwicklung“ (Oelkers 2010) und Selbstentfaltung entgegen zu
setzen.
Die Ausnutzung des Machtüberhangs des Erwachsenen gegenüber Schutzbefohlenen kann sich dabei
in vielfältiger Weise manifestieren. Sexueller Missbrauch bzw. sexualisierte Gewalt sind so betrachtet
Spezialformen des Machtmissbrauchs durch Professionelle. Sie bedienen sich - meist besonders subtil
und über einen langen Zeitraum hinweg, sorgfältig vorbereitet (s. Colton & Vanstone 1996) - des
Mediums der Sexualität. Die Grenzziehung zwischen erwachsenen und kindlichen Bedürfnissen,
zwischen erwachsener und kindlicher Erotik, zwischen erwachsenem und kindlichem Lustempfinden
wird dabei aufgehoben und zielgerichtet zugunsten der sexuellen Bedürfnisbefriedigung des
Erwachsenen perforiert.
Im Gegensatz zur körperlichen Misshandlung durch Schläge, Tritte und anderer gewalttätiger
Grenzüberschreitungen (vgl. Müller 2010) hinterlässt sexualisierte Gewalt nicht notwendigerweise
nachweisbare Spuren. In jedem Falle beschädigt sie jedoch die körperlich-seelische Integrität der
Opfer oft dauerhaft und tiefgreifend. Wie weitgehend und lebensbegleitend die Traumatisierungen
sein können, davon zeugen in beschämender Aktualität die Anrufe bei der telefonischen Anlaufstelle
der Bundesregierung. Sie wurde als Maßnahme zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs von
Kindern und Jugendlichen an Internaten in katholischer Trägerschaft und der Odenwaldschule
eingerichtet und wird seither wissenschaftlich begleitet. Im ersten Zwischenbericht vom September
2010 heißt es im Wortlaut: „73% der Anrufenden wurden von den [telefonischen, Anm. d. Verf.]
Fachkräften als hoch belastet eingeschätzt“ (Fegert et al. 2010: 12). Bei 88% der ca. 500 Betroffenen,
die sich bei der Anlaufstelle bis September 2010 meldeten, lag der Missbrauch in der Vergangenheit
(ebd.: 11). Bei den meisten waren seitdem mindestens 20 und in vielen Fällen 40 bis 50 Jahre
vergangen (ebd.: 16). Für 60% der Männer und Frauen, die Angaben über ihr „Anvertrauen“ machten,
war das Gespräch mit den telefonischen Fachkräften das erste überhaupt, das sie über die
Missbrauchserfahrungen jemals führten (ebd.: 12). Diese aktuellen Daten weisen deutlich darauf hin,
dass nicht nur im familiären, sondern auch im außerfamiliären Kontext erfahrene sexualisierte Gewalt
in mehrfacher Hinsicht mit starken Redetabus belegt ist. Darüber zu sprechen und sich Unterstützung
bei der Bewältigung des Erlebten zu suchen, fällt den Betroffenen extrem schwer (s. a. Harnach in
diesem Buch). Fast immer wurde auch von „mehrfachen bzw. regelmäßig wiederkehrendem
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Missbrauch berichtet“ (ebd.: 11; s.a. Zinsmeister 2010). Nicht nur der einmalige Missbrauch, sondern
gerade das gezielte Gefügig-Machen von Kindern und Jugendlichen zur wiederholten bis langfristigen
Befriedigung eigener sexueller Bedürfnisse, muss deshalb kritisch auf strukturelle Hintergründe in den
Institutionen unterschiedlicher Provenienz - ob konfessionell, staatlich oder privat - untersucht
werden. Dabei soll im Folgenden der Argumentationsfigur von Herrmann, Herrschafts-,
Abhängigkeits- und Machtverhältnisse seien konstitutives Element der Pädagogik und bildeten das
Bedingungsmilieu für (sexuelle) Übergriffe und Grenzverletzungen, Ausbeutung und
Gewaltanwendung, weiter nachgegangen und mit Rekurs auf den Erziehungsbegriff von Brezinka
(1978) exemplarisch vertieft werden.
Erziehungsbegriff der Gegenwart
Erziehung stellt einen zentralen Grundbegriff der Pädagogik dar. Er versucht einen grundlegenden
„Sachverhalt in der Erziehungswirklichkeit zu erfassen“ (Koller 2006: 18). Während im öffentlichen
Diskurs eine Unschärfe in der Begrifflichkeit und der Unterscheidung von Erziehung zu anderen
Formen sozialen Handelns zu beobachten ist, bemühen sich Erziehungswissenschaftler seit Gründung
der Pädagogik als wissenschaftliche Disziplin darum, Erziehung als Spezialform menschlichen
Handelns zu beschreiben. Grundlegend für Theorien und Konzepte über Erziehung ist dabei bis heute
der anthropologische Ausgangspunkt, formuliert von Immanuel Kant im Zeitalter der Aufklärung:
„Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muss“ (Kant 1803/1893: 697).
Erziehungsbegriffe der Gegenwart leiten sich von diesem Ausgangspunkt ab. Sie thematisieren zudem
die Frage der Machtverteilung zwischen Erziehendem und zu Erziehendem. Macht wird begrifflich
„schnell mit Gewalt oder Autorität assoziiert und als Instrument der Herrschaft betrachtet“ (Wolf
2007: 114). Wo Kinder gewaltfrei, demokratisch oder antiautoritär erzogen werden, könnte daraus der
Fehlschluss abgeleitet werden, dass diese Erziehung frei sei von Machtstrukturen. Macht muss jedoch
wesentlich differenzierter verstanden werden: auch als Einflussnahme und das subtile Ausnutzen
emotionaler Interdependenzen zwischen Menschen (vgl. Wolf 2007: 107).
Eine potentielle Machtquelle stellt eben auch das Wissen um die psychische Beeinflussbarkeit meines
Gegenübers dar: Wie durch das Erwecken, Wahrnehmen und Befriedigen von Bedürfnissen,
Wünschen oder Sehnsüchten – z. B. der Sehnsucht nach Anerkennung, Zuneigung, Nähe und Wärme
– das pädagogische Einwirken so geltend gemacht werden kann, dass sich ein Kind über lange
Zeiträume hinweg sexuellem Missbrauch weder erfolgreich widersetzen noch ihn zu seinem eigenen
Schutz aufdecken und damit den Kreislauf der sexualisierten Gewalt durchbrechen kann.
Dass der in Erziehungsverhältnissen konstitutiv angelegte Machtüberhang nicht eindeutig autoritär
oder brachial eingelöst werden muss, sondern gerade auch als subtile Beeinflussung der psychischen
Disposition des Educanden erfolgen kann, geht aus dem Erziehungsbegriff von Brezinka (1978)
hervor, der daher hier in Ausschnitten zitiert und diskutiert werden soll.
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Nachdem Brezinka Erziehen zunächst als ein intentionales Handeln definiert und von anderen sozialen
Handlungen des Menschen wie bspw. Beratung oder Aufklärung abgrenzt, geht er in seinem
Bestimmungsversuch auf die Zielsetzung und beabsichtigte Wirkung von Erziehung ein:
„Die Wirkung, die der Erzieher im Educanden hervorbringen will, ist eine bestimmte Verfassung der Persönlichkeit. Er will dazu beitragen, dass der Educand bestimmte Fähigkeiten, Fertigkeiten, Kenntnisse, Einstellungen, Haltungen, Gesinnungen oder Überzeugungen erwirbt und beibehält. [...] Sie lassen sich unter dem Begriff der psychischen Disposition zusammenfassen. Damit ist eine relativ dauerhafte Bereitschaft zum Vollzug bestimmter Erlebnisse oder Verhaltensweisen gemeint, die dem flüchtigen Erleben und Verhalten zugrundeliegend gedacht wird. […] Wer erzieht, will das Gefüge der psychischen Disposition des Educanden beeinflussen“ (Brezinka 1978: 43f., zit. n. Koller 2006: 49-50).
Brezinka hat bei der Definition und dem Wortlaut seiner Erziehungstheorie vermutlich nicht an
sexuellen Missbrauch von Kindern durch Professionelle gedacht. Vielmehr ging es ihm bei seinen
Bestimmungsversuchen um Fragen der Herausbildung nicht nur von kurzfristigen oder flüchtigen
Verhaltensweisen, sondern um die nachhaltige Formung innerer Einstellungen, Überzeugungen und
Handlungsmaximen bei Kindern - und dies hinsichtlich eines Erziehungsziels, das, ähnlich wie bei
Kant, von der Idee der Verbesserung und Vervollkommnung des Menschen durch den Prozess der
Erziehung ausging. Für ein positives Ziel also, das zum Nutzen, nicht zum Schaden von Kindern und
Jugendlichen gedacht ist. Dass Erziehung in vielen Fällen eine solche oder vergleichbare Zielsetzung
nicht erfüllt, sondern vielmehr das Gegenteil bewirkt, ist nicht nur historisch hinlänglich belegt (s. de
Mause 1980; Müller, C.P. 2010), sondern Motiv vieler einschlägiger Veröffentlichungen (vgl. Miller
1980, Arnold 2007).
Übertragen auf die Thematik des sexuellen Missbrauchs, lassen sich aus Brezinkas Bestimmungen
folgende Überlegungen ableiten:
1. Erziehungsverhältnisse sind Beeinflussungsverhältnisse.
2. Beeinflussung der kindlichen Seele kommt prinzipiell ohne physische Gewalt aus.
3. Die Bereitschaft zum „Vollzug“ bestimmter, hier der sexuellen Befriedigung des Täters
dienenden, Verhaltensweisen kann gezielt eingeleitet und gefördert werden.
4. Erziehungsmacht ist Seelenmacht.
5. Seelenmacht wird beim sexuellen Missbrauch bewusst und strategisch eingesetzt, um die
psychische Disposition des Opfers „Täter-freundlich“ zu gestalten.
Dass nicht nur individuelle, geschickt lancierte Beeinflussungsstrategien des Täters, sondern durchaus
auch übergeordnete Aspekte wie z.B. kulturelle, religiöse oder institutionelle Werte, Haltungen,
Überzeugungen und Rahmenbedingungen eine Rolle spielen und das Milieu für sexuelle Übergriffe
bilden, geht aus einer weiteren Bestimmungsgröße von Brezinkas Erziehungsbegriff hervor:
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.„Wer erzieht, will den Educanden in irgendeiner Hinsicht besser, vollkommener, tüchtiger oder fähiger machen, als er ist. […] Als Maßstab dient dabei die Wertordnung der jeweiligen Erzieher und ihrer Auftraggeber“ (Brezinka 1978: 43f., zit. n. Koller 2006: 51).
Erziehung will, so Brezinka, die zu Erziehenden einer bestimmten Idealvorstellung näher bringen.
Dabei gelten die eigenen Werte und Normorientierungen des Erziehenden oder seines Auftraggebers.
Eine Aussage darüber, welche Wertordnung oder welches Ideal dem erzieherischen Handeln zu
Grunde liegen soll, trifft der Erziehungsbegriff jedoch nicht. Da sich das Erziehungsverhältnis im
Verständnis von Brezinka als eine „Subjekt-Objekt-Relation“ (Koller 2006: 55) beschreiben lässt, „in
der die beiden Beteiligten einander in unaufhebbar asymmetrisch-hierarchischer Weise
gegenüberstehen“ (ebd.), ist davon auszugehen, dass die Werte und Normen einseitig vom Pädagogen
und/oder seinem Umfeld diktiert werden. Wertvorstellungen, Normen, Bedürfnisse und Intentionen
des zu Erziehenden kommen in diesem Modell schlichtweg nicht vor. Der Educand ist bloßes Objekt
des Erziehers. Seine Wertvorstellungen und Normen stülpt er dem Kind über. Die Werte können dabei
hochgradig einseitig bestimmt und zu Recht geschnitten sein – ob subjektiv durch Sinnkonstruktionen
des Einzelnen oder intersubjektiv durch Ideologien, Glaubenssysteme oder Denktraditionen.
Übertragen auf Missbrauchsbeziehungen zwischen Pädagogen und Kindern sollen im Folgenden
Beispiele für individuell zurecht gelegte „Wertordnungen“ und Sinnkonstruktionen vorgestellt werden,
die als Begründungs- und Legitimationsfiguren für das Zulassen, Tolerieren oder Initiieren von
sexuellen Grenzverletzungen bemüht werden. Sie stammen überwiegend aus den Fallstudien von
Colton & Vanstone (1996), die mittels narrativer Interviews und gegenstandsbezogener
Theoriebildung rekonstruiert wurden. Wiederholt auftauchende Denkmuster und
Argumentationsfiguren sowie verzerrte Wirklichkeitskonstruktionen lassen sich an ihnen vorstellen
und erläutern.
Ideologische Überhöhung
Eine der zentralen beobachtbaren Strategien, in der sich eine Verschiebung der Werte und Normen
zugunsten sexueller Grenzverletzungen manifestiert, ist die ideologische Überhöhung der zum Kind
empfundenen erotischen Anziehung, Zuneigung und der in Folge an ihm ausgelebten Sexualität.
Motto Ideologische Überhöhung:
Erotische Liebe zum Kind ist wertvoll und moralisch-ethisch vertretbar. Sie kommt den
Bedürfnissen des Kindes entgegen.
Textbeispiel:
„I had no guilt at all about them. I knew what I was doing was illegal, but I couldn’t see that it was immoral, because what I was doing was giving love and affection, in every sense of the word. It
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wasn‘t just a physical thing, it was a feeling, a total relationship, with a huge commitment on my side, to them, to their needs. (Colton & Vanstone 1996: 135).2
Durch die Einbettung des sexuellen Missbrauchs in den Kontext von Liebe, Zuneigung und eine
„totale Beziehung“ werden die dem Täter durchaus als illegal bewussten sexuellen Handlungen
ideologisch überhöht und moralisch-ethisch gerechtfertigt. Der rein physische Akt des Missbrauchs
erhält somit eine höhere Sinnkonstruktion und wird durch die Behauptung, sich den Bedürfnissen des
Kindes „committed“ zu haben, kontextualisiert. Der Täter entbindet sich dadurch der Schuldgefühle
und Verantwortung für sein kriminelles Tun.
Das Motiv der ideologischen Überhöhung ist auch im Theorem des „pädagogischen Eros“ zu finden.
Das Ideal der bereits in der Antike praktizierten und für legitim geglaubten „Knabenliebe“ wurde,
Oelkers (2010, s.o.) und Fried (2010) zufolge, auch von Gründern und Lehrern der Odenwaldschule
bemüht. Die Bindung und Beziehung zwischen dem Erwachsenem und dem Knaben wird als wertvoll
und lehrreich erachtet. Der heranwachsende Junge wird durch einen reifen, erwachsenen und
„verehrten“ (Fried 2010) Mann sexuell initiiert. In der Odenwaldschule, so Amelie Fried (2010),
wurde es den Betroffenen als Privileg und Auszeichnung dargestellt, von als charismatisch
bezeichneten Personen wie dem Rektor oder dem Musiklehrer diese Form der körperlichen Zuneigung
empfangen zu dürfen. Das eigene Empfinden, hier sei etwas nicht in Ordnung, unmoralisch, illegal
und kriminell, wurde den Kindern durch die ideologische Überhöhung und Verbrämung zu nehmen
versucht.
Eine ideologische Überhöhung kann auch auf libertär-aufklärerischen Motiven begründet sein: als
Tribut an den Zeitgeist einer politischen Bewegung, die in Gegenreaktion zu der damals üblichen,
rigiden Sexualmoral die sexuelle Liberalisierung proklamierte und zum Mittel der Befreiung des
Menschen aus politischen Herrschaftsverhältnissen und Unterdrückung insgesamt (Reich 1966) hoch
stilisierte:
„Mich bewegt, dass eine libertäre Sexualmoral, die auf Emanzipation angelegt ist, für sexuellen Missbrauch und sexuelle Ausbeutung benutzt wurde. Ich bin immer für diese libertäre Sexualmoral eingetreten und werde es auch weiter tun, denn die repressive Vor-68er-Sexualmoral hat großen Schaden angerichtet. Aber wir haben im Überschwang auch Fehler gemacht, die man korrigieren muss. Wir haben keine klaren Grenzen gezogen. Den Kindern und Jugendlichen eine eigene Sexualität, einen eigenen Weg zur Entwicklung der Sexualität zuzugestehen war und ist richtig. Dass Erwachsene Kindern ihre Art von Sexualität, auch wenn sie einen libertären Anstrich hat, überstülpen, das verkehrt Emanzipation in ihr Gegenteil“ (Cohn-Bendit 2010).
2 Ich hatte keinerlei Schuldgefühle ihnen gegenüber. Ich wusste zwar, dass das, was ich tat, illegal war, aber Ich sah nichts Unmoralisches darin, denn das, was ich tat, war, ihnen Liebe und Zuwendung zu geben, in jederlei Hinsicht dieses Wortes. Es war nicht nur eine körperliche Angelegenheit, es war ein Gefühl, eine totale Beziehung, mit einem enormen Bekenntnis meinerseits ihnen und ihren Bedürfnissen gegenüber (Übersetzung d. d. Verf.).
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Der libertär-emanzipatorische Impetus schoss hier - in kritischer Selbstreflexion von Cohn-Bendit
selbst benannt - über sein Ziel hinaus. Indem Erwachsene sich der Ideologie der sexuellen Befreiung
verpflichtet fühlten und diese auch für Kinder als Maßstab anlegten, übersahen sie dabei, wie wichtig
es ist, zwischen kindlicher und erwachsener Sexualität und kindlichen und sexuellen Bedürfnissen zu
unterscheiden. Die Grenze, die hier überschritten wurde, war der Diffusion zwischen dem
notwendigen Eintreten für das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung von Kindern und der
Definitionsmacht von Erwachsenen, wie eine selbstbestimmte Sexualität auszusehen habe, geschuldet.
Übersehen wurde im Reformeifer, wie bei Cohn-Bendit (1975) nachzulesen ist, wie notwendig eine
abstinente und reflektierende Haltung des Erwachsenen hinsichtlich kindlicher Erotik und Sexualität
ist. Diese Haltung hat sich auch im Wahrnehmen und Einhalten von Körpergrenzen, Schamgrenzen
und Intimitätsräumen zu realisieren.
Bagatellisierung und ‚Zustimmungslüge‘
Ein häufig in der Fachliteratur beschriebenes Legitimationsmuster ist das der Bagatellisierung. Die
Vorfälle der sexuellen Übergriffe und sexualisierten Gewalt werden in ihrer Bedeutung und den
Folgen für das Kind minimiert bis verleugnet oder ins Gegenteil verkehrt.
Motto Bagatellisierung:
Dem Kind schadet es nicht, sexuelle „Gefälligkeiten“ (Sigusch 2010) zu erbringen oder zu
empfangen, es will diese selbst, stimmt ihnen zu und genießt sie sogar!
Textbeispiel:
„But I chose to disabuse the concept of victim and replace it with the concept of consensual – consensual acts, whatever you want to call it. And the fact that there was never any physical force, or violence, I did have a consensual lie. But now you identify the fact that there is no need for violence, because you ‚groom‘ people, you prepare people. You normalise things. And people then accept normalisations you have created within the relationship between two people.“ (Colton & Vanstone 1996: 122).3
Dieses Bagatellisierungs- und Legitimierungsmotiv, das sich der ‚Zustimmungslüge‘ bedient, taucht in
mehreren Fallstudien von Colton & Vanstone auf. Das Gefügig-Machen der Kinder wird nicht mit
Macht und Gewalt gleichgesetzt, sondern als Ausdruck gegenseitigen Einvernehmens innerhalb einer
Beziehung interpretiert. Schaden kann in diesem mentalen Konstrukt nicht entstehen, da weder
3 Aber ich habe mich entschlossen, das Opferkonzept zu diskreditieren und durch ein Zustimmungskonzept zu ersetzen – Zustimmungshandlungen oder wie immer man es nennen mag. Und aufgrund der Tatsache, dass ich niemals physische Kraft oder Gewalt anwandte, konnte ich diese Zustimmungslüge aufrechterhalten. Aber jetzt ist mir die Tatsache klar, dass es keine Notwendigkeit für Gewalt gibt, weil man die Leute ‚pflegt‘, sie vorbereitet, die Dinge als normal darstellt. Und die Leute akzeptieren diese Normalisierungen, die man innerhalb der Beziehung zwischen zwei Menschen geschaffen hat (Übersetzung d. d. Verfasserin).
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physische Kraft noch Gewalt eingesetzt werden und das Kind oder der Jugendliche dem Handeln
vermeintlich zustimmt.
Dieses „Zustimmungskonzept“ verharmlost nicht nur die Missachtung der intergenerativen Grenzen
und der Unterscheidung zwischen erwachsener und kindlicher Sexualität, sondern auch die
Beschädigung der psychisch-emotionalen und körperlichen Integrität der Opfer.
Dass es sich um eine Selbstlüge handelt, sich der Täter also etwas ‚vormacht‘, sich selbst täuscht, ist
dem Zitat deutlich zu entnehmen. Diese Selbsttäuschung umfasst das Konzept, die sexuelle
Selbstbestimmung des Kindes ja ernst zu nehmen und nicht zu hintergehen. Ignoriert wird dabei die
Tatsache, dass ein Kind gar nicht über die Fähigkeit verfügt, „informed choices“4 (Colton & Vanstone
1996: 5) über sexuelle Einlassungen mit Erwachsenen zu treffen.
Der Pädosexuelle baut seine Begründung auf einer Fehlkonstruktion auf. Das Kind kann
entwicklungsbedingt gar nicht über eine reflektierte sexuelle Selbstbestimmung verfügen (vgl. Sigusch
2010). Es muss diese erst noch entwickeln und Grenzen zwischen erwachsener und kindlicher
Sexualität verstehen lernen. Dafür ist es auf die kompetente Begleitung des Erwachsenen (Eltern,
Lehrer/innen, Pädagog/innen) angewiesen, der ihm diese Grenzen adäquat aufzeigt und in einer
„Kultur der Grenzachtung“ (Zartbitter 2010) vorlebt. In Verantwortung ist allein der Erwachsene:
„Er hat seine sexuelle Entwicklung hinter sich weiß in der Regel, was er transpubertär, das heißt, jenseits der Pubertät, begehrt. Das Kind dagegen ist noch zispubertär, diesseits der Pubertät, weiß es in der Regel nicht. Es herrscht eine Disparität der Entwicklung und Fantasien, die der Erwachsene durch große Verführungen und das Kind durch kleine Gefälligkeiten zu überwinden sucht […]“ (Sigusch 2010).
Nutzenhypothese
Eine dritte, wiederholt auffindbare Verzerrung von Realität, Wahrnehmung und Deutung der
Wirkungen und Folgen von sexuellem Missbrauch kann als ‚Nutzenhypothese‘ bezeichnet werden.
Gemeint ist damit die Strategie, negative Folgen für das Kind zu verleugnen oder zu minimieren,
positive Folgen und Effekte hingegen zu behaupten und zu betonen und als kompensatorisch und
legitimierend für das eigene Handeln zu deklarieren.
Motto Nutzenhypothese:
Das Kind profitiert von den sexuellen Handlungen. Es erfährt eine Zuwendung und Anerkennung,
die es sonst nicht bekäme. Das nutzt seiner Entwicklung.
Textbeispiel:
„There was none of that sort of thing around in their homes. There was no love, or compassion, or treats. Some of them lived in complete squalor. And I suppose there are two sides of looking at
4 informed choices = informierte Entscheidungen
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that. You know, because they were living like that, they were easy victims; and the other way that I was looking at it, because they were living like that, I was giving them something that they wouldn‘t otherwise have had“ (Colton & Vanstone 1996: 135).5
Der Nutzen, den der pädosexuell tätige Pädagoge in diesem Zitat identifizieren zu meinen glaubt,
rechtfertigt in seinem Selbstverständnis das Handeln, das er zuvor als zwar illegal, aber nicht
unmoralisch interpretiert hatte (s.o.). Er legitimiert seine Übergriffe und sein gezieltes Ausnutzen der
emotionalen Unterversorgung der Kinder in ihren Familien, indem er vorgibt, ihnen in anderer
Hinsicht zu nutzen. Diese Argumentationsweise mutet ein utilitaristisches Aufrechnen von
zugefügtem Schaden mit scheinbar erworbenem Glück an. Das Ausblenden der Tatsache, dass die
Motivation, nicht der vermeintliche Nutzen der Kinder, sondern die Befriedigung der ureigenen
egoistischen Bedürfnisse war, scheint integraler Bestandteil der Selbsttäuschungstheorien zur
Rechtfertigung des sexuellen Missbrauchs zu sein.
Die bis hierhin aufgezeigten exemplarischen Einblicke in die Subjektlogiken der zitierten Pädagogen,
die ihre berufliche Position ausnutzten, um die psychische Disposition der ihnen anvertrauten Kinder
und Jugendlichen für Missbrauchsintentionen zu instrumentalisieren, weist auf einen ersten
dringenden Handlungsbedarf für pädagogische Institutionen hin: die unhintergehbare Einführung und
das kontinuierliche Monitoring von Reflexions- und Kontrollinstanzen und -prozessen, die den
programmatischen Durchgriff auf die Seele der ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen
verhindern helfen.
Abhängigkeits- und Machtverhältnisse
Wie die vorangegangenen Reflektionen über den Erziehungsbegriff der Gegenwart zeigten, kommt ein
kritisches und selbstreflexives Erziehungsverständnis nicht um die Bestimmung und Regelung des in
ihm konstitutionell angelegten Machtüberhangs herum. Abgeleitet aus der anthropologischen
Grundkonstante, dass Kinder nicht nur zum Überleben, sondern auch für ihre Entwicklung und das
Hineinwachsen in gesellschaftliche Bezüge auf Erwachsene angewiesen sind, gilt es, dieses
Angewiesensein entwicklungsfördernd zu gestalten. Das zwangsläufig durch den Vorsprung an
Erfahrungen, an „Orientierungsmitteln“ (Wolf 2007: 108) und an materiellen Ressourcen entstehende
Machtdifferential ist dann umso größer, je jünger die Kinder sind oder je stärker sie – aufgrund von
5 Da gab es nichts dergleichen in ihren Familien. Da gab es keine Liebe, kein Mitgefühl, keine Leckereien. Einige von ihnen lebten in komplettem Elend. Und ich nehme an, es gibt zwei Betrachtungsweisen. Wissen Sie, weil diese Kinder so lebten, waren sie leichte Opfer; auf der anderen Seite sah ich es so, dass ich ihnen, weil sie so lebten, etwas gab, was sie ansonsten nichts bekommen hätten (Übersetzung d.d. Verf.).
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physischen, emotionalen oder intellektuellen Beeinträchtigungen – auf die Hilfe und Unterstützung
von Anderen angewiesen sind.
Insbesondere emotionale und seelische Vernachlässigung oder Mangelversorgung machen Kinder für
Anerkennungsgesten, Würdigung und Zuneigung besonders empfänglich. Sie sind in spezifischer
Weise sensibilisiert für Zuwendungen materieller wie emotionaler Art, die ihnen das zu geben
versprechen, was sie zuvor bitter entbehrten. In stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe
sind solche Mangelerfahrungen häufig charakteristisch für ihre Klientel. Abhängigkeiten von den
Anerkennungsbekundungen und Zuwendungen der Pädagoginnen und Pädagogen sind insofern an
diesen Orten tendenziell vorprogrammiert:
„Insbesondere als bitter empfundene Mangelerfahrungen können sehr für Abhängigkeiten sensibilisieren und zu einer andauernden Ohnmachtsquelle werden.“ (Wolf 2007: 118).
Umso professioneller und reflektierter muss mit Sensibilitäten und Sensibilisierungen umgegangen
werden. Die anthropologisch gegebene Tatsache des Machtüberhangs ist zwar die konstitutive
Voraussetzung für die Erziehung und Entwicklung von Kindern, zugleich aber ein prekäres
Ungleichgewicht, das Kinder ausliefert an die Kontextsituationen, in denen sie aufwachsen;
unabhängig davon, ob diese entwicklungsfördernd oder entwicklungsblockierend sind : „Viele Kinder
leben nicht in Paradiesen, sondern in Höllen“ (Sigusch 2010).
Eine der zentralen Aufgaben von Erziehung, unterstützende Kontexte zur Verfügung zu stellen (vgl.
Arnold 2007), in denen Kinder Weltbegegnung erfahren und strukturieren lernen, ist in diesen Fällen
gescheitert. Kommen Kinder und Jugendliche mit Erfahrungen solchen Scheiterns in Einrichtungen
der Sozialen Arbeit - wie Heime oder Tages-Intensivgruppen - oder auch in Internate in privater oder
konfessioneller Trägerschaft - sind sie prädisponiert für weitere Verletzungen. Sie brauchen Nähe, sie
benötigen Zuwendung und sind doch zugleich auf Distanz angewiesen; Distanz der Erziehenden zum
Kind, zum eigenen Handeln, zur eigenen Verführbarkeit - Verführbarkeit zur Macht sowie zum
Machtmissbrauch. Distanz und Nähe - ein prekäres Verhältnis, das der bewussten Gestaltung bedarf:
„Die Gestaltung dieses besonders profilierten – gleichsam in Extreme von Nähe und Distanz getriebenen – Umgangs ist prekär. Die Heranwachsenden sind zugleich auf den Pädagogen angewiesen und durch ihn gefährdet. Er ist strukturell durch seine Position in der Vorhand; das verführt zu Macht und Bemächtigung, die den Heranwachsenden in seiner unterlegenen Position und der Ungesichertheit seiner Suchbewegungen einengt und unterdrückt, aber auch zu realitätsabgewandten Formen der Gegenmacht treibt.“ (Thiersch 2007: 35).
Angewiesenheit und Gefährdetsein – darin spiegelt sich eine Ambiguität, die nur mit dem Zugewinn
an Autonomie der Heranwachsenden und dem umsichtigen und professionellen Umgang der
Erziehenden sukzessive überwunden werden kann. Ziel jedes pädagogischen Verhältnisses muss die
perspektivische Auflösung der Machtasymmetrie zugunsten eines nicht nur gleichwürdigen, sondern
gleichwertigen Beziehungsmodus´ sein. Dass dieser Beziehungsmodus erst im Laufe der Adoleszenz
12
erreicht werden kann, verlangt dem Prozess und den Prozessbeteiligten viel Können oder mit Kant
gesprochen „Erziehungskunst“ (Kant 1803) ab.
Brezinka blendet, wie dargelegt (s.o.), in seinem Erziehungsbegriff die tendenzielle Auflösung der
Machtasymmetrie aus. Die Monopolstellung des Erwachsenen bleibt unhinterfragt. Weder die
zunehmenden Autonomiebestrebungen des Kindes, noch seine Bedürfnisse, Motive und Intentionen
sind in seinem Erziehungsbegriff mitgedacht. Er reduziert Erziehung auf einen Ursache-
Wirkungszusammenhang, auf ein lineares Geschehen – vom Erzieher zum Educanden.
Wechselwirkungsprozesse, Interdependenzen und die Erfahrung der Gegenseite bleiben
unberücksichtigt.
An diesem Vakuum setzt der Erziehungsbegriff von Kron (1996) an, der darauf aufmerksam macht,
das Erziehung ein „aufeinander bezogenes gegenseitiges soziales Handeln“ (Kron 1996: 57) sei, in
dem es „um die gegenseitige Aufhellung und Aufklärung von Rollen, Positionen und
Wertorientierungen, Normen, Intentionen und Legitimationen des sozialen Handelns und des dieses
mitbedingenden sozialen und gesellschaftlichen Feldes geht“ (Kron 1996: 57 f.).
Kron erweitert also den Erziehungsbegriff um die Erfahrbarkeit der Gegenseite und die
Notwendigkeit, das erzieherische soziale Handeln transparent zu gestalten und die dahinter liegenden
Intentionen zu reflektieren. Auch die Intentionen des Kindes sowie seine Bedürfnisse und seine
Eigenlogik geraten in den Blick. Das Kind wird aus dem Objektstatus entlassen und erscheint als
Subjekt in einem wechselseitigen Prozess der Interaktion und Interpretation. Gegenseitige
Rollenerwartungen und Rollenhandeln werden zum Gegenstand der Reflexion. Erziehung trägt damit
auch zu einem aufklärerischen und reflexiven Effekt bei - indem Rollen hinterfragt, pädagogische
Interventionen begründet, Intentionen offengelegt werden.
Pädagogische Maßnahmen oder Interventionen müssen sich an Kriterien ihrer ethischen
Legitimierbarkeit, der Umsetzung und Förderung des Entwicklungsgedankens und ihrem
Zukunftsbezug messen lassen: Zur „pädagogischen Ressource“ (Wolf 2007: 138) wird die
Machtdifferenz nämlich erst durch die „Bindung des Machtüberlegenen an die Förderung der
Entwicklungspotentiale“ (ebd.). Auch in Momenten, in denen Entwicklung aus Sicht der beteiligten
Akteure stagniert oder nicht stattzufinden scheint, ist es dennoch wichtig, den Entwicklungs- und
Zukunftsbezug sicherzustellen und an ihm programmatisch festzuhalten:
„Es müsste eigentlich ein ureigenes pädagogisches Anliegen sein, sich auf das zu orientieren, was aus einem Menschen seiner Möglichkeit nach werden kann und nicht auf das, wie er uns gerade erscheint, dass er sei.“ (Feuser 1996: 5).
13
Machtmissbrauch im Kontext von Sexualität
Wolf zeigt in seiner Analyse über „Machtprozesse in der Heimerziehung“ (Wolf 1999) und seinen
Reflektionen „Zur Notwendigkeit des Machtüberhangs in der Erziehung“ (Wolf 2007) auf, dass Macht
nicht nur ein Merkmal von pädagogischen, sondern ein „Merkmal aller menschlichen Beziehungen
und somit ein ubiquitäres Phänomen ist“ (Wolf 2007: 104). Nicht nur durch einen strukturellen
Machtvorsprung, auch durch Liebe subtil entstehende Abhängigkeiten oder durch das Bedürfnis nach
Anerkennung und Würde entstehende Verstrickungen sind Elias (1986, zit. n. Wolf 2007: 105) zufolge
konstitutiv für menschliche Beziehungen. Die Befriedigung von Bedürfnissen, das Vermeiden von
Unlust, das Verdrängen von Gefühlen oder Unbehagen können Auslöser von Abhängigkeitsstrukturen
sein, die sich auf den Bereich der Sexualität ausdehnen oder sich sogar besonders in ihr manifestieren.
Da Sexualität nicht nur eine Energiequelle und Lebenskraft darstellt, sondern auch ein wesentliches
Medium menschlicher Kommunikation ist, liegt es nahe, dass sich Macht und Abhängigkeit gerade in
und mittels menschlicher Sexualität manifestieren:
„Aber es ist offensichtlich, dass sexuelle Bedürfnisse asymmetrische Abhängigkeiten hervorbringen können. Sexualität neben emotionaler Zuwendung (und der Machtquelle körperliche Überlegenheit) als eigenständige Machtquelle zu betrachten, erscheint […] sehr naheliegend“ (Wolf 2007: 125).
Diese eigenständige Machtquelle kann prinzipiell ohne die Anwendung physischer Gewalt
auskommen. Das in der sexuellen Ausbeutung von Kindern durch Erwachsene strukturell vorgegebene
Machtdifferential entfaltet sich unter Umständen allein durch eine Dynamik innerpsychischer
Strukturen, die nach außen hin unauffällig und subtil, eine ihr eigene, fatale Wirkweise entwickelt.
Dabei – so der Hinweis von Wolf – ist in Abhängigkeitsbeziehungen nicht generell von einer rein
einseitigen Abhängigkeit des Machtunterlegenen vom Machtüberlegenen auszugehen (Wolf 2007:
107). Selbst in „extrem asymmetrischen Machtbalancen“ (ebd.) ist die Vorstellung, dass nur der
Machtunterlegene abhängig sei, „unterkomplex“ (ebd.). Diese Betrachtungsweise, die Wolf in Rekurs
auf Elias darlegt, lenkt den Blick auf die zunächst ungewohnte Perspektive, dass potentiell nicht nur
Opfer von ihren Tätern abhängig sind, sondern Täter umgekehrt selbst ebenso verstrickt sein können,
dass sie eine emotionale Abhängigkeit von ihren Opfern erleben - die Abhängigkeit von deren
Anerkennung und Bedürfniserfüllung beispielsweise sowie vom eigenen Streben nach
Überlegenheitsgefühlen und Bewundert-Werden. Dieser vorgestellte Machtüberlegene ist zwar
weniger abhängig als der Machtunterlegene, „ihm ist aber auch nicht völlig gleichgültig, was der
andere denkt, fühlt oder tut“ (Wolf 2007: 106). So ist der Machtüberlegene beispielsweise angewiesen
auf „ein Minimum an Kooperationsbereitschaft“ (Wolf 2007: 107).
14
Mit dieser Betrachtungsweise soll nicht der Entlastung der Täter von Verantwortung und/oder Schuld
Vorschub geleistet werden, dann wäre sie falsch verstanden und falsch interpretiert. Vielmehr weist sie
darauf hin, wie komplex und verwoben sich die Dynamik zwischen sexuell übergriffigem
Erwachsenen und betroffenem Kind gestalten kann. Unter Umständen erlebt sich der Täter in seinen
Handlungen und Übergriffen unter Umständen gar nicht als klar selbstbestimmt und bewusst
entscheidender Akteur, sondern als von Bedürfnissen und inneren Dynamiken Getriebener (vgl.
Sigusch 2010), der wiederum abhängig ist von der ‚compliance‘6 seiner Opfer.
Für die von sexuellen Übergriffen und sexueller Ausbeutung betroffenen Kinder und Jugendliche ist
die komplexe Verstrickung kaum durchdringbar:
„Andere bedürften wegen des süchtigen Verlaufs ihres Begehrens einer Behandlung; sie wenden Tricks und Verführungen an, denen so gut wie kein Kind widerstehen kann. So liest ein beruflich sehr erfolgreicher und in seiner Umwelt außerordentlich angesehener, verheirateter Pädosexueller den Kindern der Nachbarschaft ihre Wünsche von den Augen ab; die Eltern sind froh, die Kinder reißen sich um seine Nähe, alle sind glücklich. Nur der Mann war nicht so gut, wie es die Eltern hofften. Er stürzte die Kinder in eine Abhängigkeit, die insofern inakzeptabel war, als sie sich ihr nicht entziehen konnten. Doch auch das vermochte sein Begehren nicht zu stillen; er betäubte die Kinder, um über sie in diesem Zustand „frei“ verfügen zu können, um sie auch sexuell penetrierend zu „gebrauchen“ (Sigusch 2010).
Besonders dann, wenn die Betroffenen nicht nur Entsetzen, Scham und Ohnmacht verspüren, sondern
Gefallen finden an der besonderen Aufmerksamkeit, die ihnen zu Teil wird, sie unter Umständen nicht
nur Abscheu, sondern auch Lust empfinden während der sexuellen Handlungen oder ihre eigene
‚Machtposition‘7 wahrnehmen, ist die emotionale Verstrickung und das eigene Verfangensein in der
Dynamik unaufhaltbar.
Übertragen auf den sexuellen Missbrauch lassen sich die Analysen von Wolf über Machtprozesse in
der Heimerziehung folgendermaßen fassen: Die betroffenen Kinder bemerken, wie sehr der
missbrauchende Täter auf seine Bedürfnisbefriedigung durch sie angewiesen ist und in welche
Abhängigkeit er sich dadurch auch von ihnen begibt. Der Täter wiederum versucht seine Abhängigkeit
von der Kooperationsbereitschaft des Kindes, seine ‚compliance‘ und Verschwiegenheit durch
Versprechen, Drohungsszenarien oder Entzug von Vorteilen und Zuwendungen zu minimieren. Er
setzt also gezielt Strategien ein, um das Kind davon abzuhalten, sich mit einer Offenbarung einem
anderen Menschen gegenüber wohl und gut und im Recht zu fühlen.
Hinweise auf diese gegenseitige Verstrickung und die für die Opfer daraus resultierende
Schwierigkeit, sich der Abhängigkeit zu entziehen und über das Vorgefallene zu sprechen, gehen auch
aus folgendem Zitat aus Colton & Vanstone hervor:
6 compliance (engl.) = Befolgung, Fügsamkeit, Mitwirkung 7 Macht ist hier in der von Wolf (2007) skizzierten Bedeutung der gegenseitigen emotionalen Abhängigkeit und Verstrickung gemeint.
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„Many abusers report ‚grooming‘ their victims and may be very adept at obtaining compliance and ensuring that the child stays silent later on.“ (ebd.).8
Das Einhalten des Schweigegebots über den Missbrauch wird von Seiten der Täter geschickt lanciert,
und dies, wie sowohl der Zwischenberichte von Fegert (2010) über die telefonische Anlaufstelle als
auch der Zwischenbericht von Zinsmeister (2010) über die Grenzverletzungen im Aloisiuskolleg
dokumentieren, in vielen Fällen über Zeiträume von 20 bis 50 Jahre hinweg. Erwachsene Menschen,
die in ihrer Kindheit und/oder Jugend sexuell missbraucht und/oder körperlich misshandelt9 wurden,
eröffnen sich erstmalig nach Jahrzehnten. Ein Grund, warum sie diesen Schritt nicht zuvor wagten
oder er ihnen nicht möglich war, wird in dem Zwischenbericht über das Aloisiuskolleg von den
Betroffenen mit Angst und Scham begründet: „Als Kinder und Jugendliche hätten sie aus Angst und
Scham nicht gewagt, offen über ihre Erlebnisse zu sprechen. Ihre damalige Sorge war es, als
„Nestbeschmutzer stigmatisiert und ausgegrenzt zu werden […]“ (Zinsmeister 2010: 21).
Die Übergänge zwischen einer latenten psychischen Gewalt (Formen der Schikane, Bloßstellung,
Beschämung, soziale Isolation) und der Vorbereitung und Anwendung sexualisierter Gewalt sind
oftmals fließend. Dies dokumentiert ebenfalls der Zwischenbericht über die sexuellen
Grenzverletzungen, die in den 1950er Jahren begannen und sich bis ins Jahre 2008 erstreckten
(Zinsmeister 2010: 10): Der „Zwang zur Nacktheit“ (ebd.: 11) bei Gemeinschaftsaktionen (Duschen,
FKK Baden, Sauna) oder der Zwang zu Nacktaufnahmen leitete genauso wie die Aufforderung „sich
zum rektalen Fiebermessen vollständig entkleidet vor dem Präfekten auf den Boden zu legen“ (ebd.)
oder der „Missbrauch der Beichte“ (ebd.) für die Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse der Patres ein
Beklemmungs- und Ausbeutungsszenario ein, das im Extrem in den Zwang zu Oral- und Analverkehr
gipfelte (ebd.: 10).
Die Untersuchung der Vorfälle am Aloisiuskolleg wurde mittlerweilen von ehemals fünf
tatverdächtigen Patres und einem Mitarbeiter auf insgesamt 18 Personen ausgeweitet (ebd.). Die
Mehrheit der Tatverdächtigen rekrutiert sich aus dem Kreis der Ordensmitglieder. Der Missbrauch von
Macht zur Befriedigung emotionaler und sexueller Interessen und Bedürfnisse ist demnach kein
Phänomen, das auf einige, wenige ‚pathologische‘ Tätergruppen beschränkt werden kann. Täter sind
nicht gleich Täter. Vielmehr sind Täter eine höchst heterogene Gruppe:
„Auf der Suche nach Erklärungen, wie es zu sexuellen Übergriffen kommen kann, hat es sich seit einiger Zeit als nicht mehr haltbar erwiesen, davon auszugehen, dass Mißbrauchende sich erheblich von anderen unterscheiden würden. Sie sind so normal und unauffällig wie der Durchschnitt der Bevölkerung. Sie stammen aus allen gesellschaftlichen Schichten und auch aus allen
8 Viele Missbrauchende berichten davon, ihre Opfer vorzubereiten und verhalten sich sehr versiert, um die Fügsamkeit/Mitwirkung aufrecht zu erhalten und sicherzustellen, dass das Kind über das Vorgefallene im Nachhinein schweigt (Übersetzung d.d. Verf.). 9 „Körperliche Misshandlungen von Schülern, beginnend von schweren Ohrfeigen bis hin zum Schlagen mit Gegenständen“ (Zinsmeister et al. (2010: 10)
16
Berufsgruppen; Berufe, in denen die Täter leichten Zugang zu Kindern und Jugendlichen finden können (Pfarrer, Ärzte, Lehrer, Sozialpädagogen, Erzieher u.a.m.) sind in nicht geringem Maße dabei vertreten.“ (Conen 2006: 54).
Die Tendenz, pädosexuell aktive Menschen als abnormal und pathologisch einstufen zu wollen, hilft
deshalb weder bei der Aufklärung über sexuellen Missbrauch noch bei der Prävention desselben:
„The concept of ‚abnormality‘ obscures rather than illuminates, and thus decreases the chances of prevention“ (Colton & Vanstone 1996: 184).10
Die Grenze zwischen Normalität und ‚Abnormalität‘ ist fließend und nicht statisch. Sie wird kulturell
geprägt und unterliegt dem Wandel von Zeitgeist und Moralvorstellungen. Zudem muss die
prinzipielle sexuelle Erregbarkeit von Erwachsenen durch kindliche Körper als gegeben hingenommen
werden. Auch Männer, die keine pädosexuellen Absichten oder Neigungen haben, reagieren auf
„Bilder vorpubertärer nackter Mädchen“ (Sigusch 2010) mit einer messbaren sexuellen Erregung. Die
Aufgabe und Erwartung an sie lautet eindeutig, sich dieser Reaktionen bewusst zu werden und
verantwortlich und ‚erwachsen‘ mit ihnen umzugehen. Dazu bedarf es eines offenen Diskurses, der
Enttabuisierung und der Entwicklung einer reflektierten Selbstbeobachtung.
Professionalisierung institutioneller Erziehungskontexte
Als „unausweichliche Aufgabe“ (Dörr; Müller 2007: 8) professionellen Handelns in Feldern der
sozialen und pädagogischen Arbeit bezeichnen Dörr und Müller die Vermittlung von Nähe und
Distanz. Soziale Arbeit und Pädagogik bewegen sich oftmals genau in diesem Spannungsverhältnis.
Bei jeder Kontakt- und Beziehungsaufnahme zwischen Professionellem und Klienten geht es um
Klärung dieses Spannungsverhältnisses: Wie viel Nähe ist zulässig, wie viel Distanz nötig, um
Entwicklung zu ermöglichen und Grenzen zu wahren? Dass die Regulierung des Nähe-Distanz-
Verhältnisses zwischen Professionellen und ihrer Klientel maßgeblich auf ‚Leiberfahrungen‘ und
‚Leibwissen‘ angewiesen ist, macht diese Professionalisierungsaufgabe nicht einfacher. Der Leib kann
bei Reflexionen über Nähe-Distanz-Verhältnisse und deren Regulierung nicht ausgeklammert werden.
Vielmehr stellt er die Verbindung zwischen „Innen und Außen, Nahem und Fernem“ (ebd.) dar und
vermittelt zwischen diesen.
Die Professionalisierungsaufgabe der Vermittlung zwischen Nähe und Distanz und der Bewältigung
von Ungewissheit“ (ebd.) besteht - bezogen auf die Prävention von sexuellem Missbrauch in
pädagogischen Institutionen - demnach auch darin, nicht nur Einstellungen, Haltungen, Konzepte oder
Interventionen, sondern gerade auch die eigene Leiblichkeit, Körperlichkeit, Erotik und Sexualität zu 10 Das Konzept der ‚Abnormalität‘ verschleiert statt erhellt und vermindert deshalb die Chancen von Prävention (Übersetzung d.d. Verf.).
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reflektieren. Fragen der Beziehungsaufnahme, der Berührung, der Erotisierung, des Lustempfindens
spielen hierbei ebenso eine Rolle wie Fragen nach den Leiberfahrungen und dem ‚Leibwissen‘ der
Kinder und Jugendliche, das sie in die Institutionen aus ihren Vorgeschichten mitbringen und den
Pädagoginnen und Pädagogen Anknüpfungspunkte ‚anbieten‘.
Vorangetrieben werden kann diese Professionalisierungsaufgabe durch die Einrichtung von Foren für
regelmäßigen Austausch, Reflexion und Supervision. Erforderlich ist die Bereitschaft der
Mitarbeiter/innen, sich dafür zu öffnen und auch vor Tabuthemen nicht halt zu machen. Die in
pädagogischen Einrichtungen häufig erforderliche und fachlich gewollte „Alltagsnähe“ (Müller 2007)
kann durch solche Foren reflektiert, kritisch hinterfragt und damit perspektivisch besser bewältigbar
werden. Grundkonzepte der psychoanalytischen Pädagogik, wie Übertragungs- und
Gegenübertragungsreaktionen oder das szenische Verstehen, können dabei einen orientierenden
theoretischen Rahmen bilden.
Neben dieser Ebene der Reflexion und Supervision ist ein zweites Feld in den Blick zu nehmen: die
Frage nach strukturellen Bedingungen von Erziehungsarrangements wie z.B. Heimen und
Lebensgemeinschaften. Wolf hat dazu in seiner Untersuchung „Machtprozesse in der Heimerziehung“
(Wolf 1999) interessante Kriterien analysieren können. So hat er bspw. den Zusammenhang zwischen
Organisationsstrukturen und Abhängigkeitsgraden ermittelt und Heimerziehungsarrangements danach
typisiert:
„Wenn wir unterschiedliche Heimerziehungsarrangements miteinander vergleichen, können wir feststellen, dass das Niveau der Abhängigkeit zum Beispiel in Betreuungsformen, in denen die Erziehenden eine Lebensgemeinschaft mit den Kindern eingehen, fast immer deutlich größer ist als ein einer Schichtdienstgrupe, in der die Kinder es mit sich ständig abwechselnden Erziehenden zu tun haben und die Mitarbeiterinnen nach dem Dienst in ihren vom Heim getrennten privaten Lebensbereich wechseln“ (Wolf 20007: 114).
Je größer das Niveau der Abhängigkeit, umso größer ist die Gefahr, dass sich das Nähe-Distanz-
Verhältnis zu Ungunsten von zu viel Nähe, Privatheit und Intimität verschiebt. Am Beispiel der
Odenwaldschule wurde diese Gefahr deutlich: Gerold Becker leitete die Schule nicht nur, sondern
lehrte und lebte auch in ihr, in einer Lebensgemeinschaft mit Kindern, und verbrachte nicht nur seine
Freizeit, sondern teilweise auch seinen Urlaub mit einzelnen Schülern. Hier waren die Grenzen
zwischen verschiedenen Lebensbereichen und zwischen formaler Berufsrolle und persönlichen
Einlassungen aufgehoben (s.a. Beitrag von Utz). Für die von sexuellen Übergriffen betroffenen
Schüler eine fatale Rollendiffusion, der sich zu entziehen kaum möglich war. Diese Rollendiffusion
kommt auch in dem – von Becker besonders revolutionär gemeinten – Zitat zum Ausdruck:
„Die Lehrer sind Kameraden und Freunde ihrer Zöglinge. Das ist eine unerhörte Veränderung gegenüber der Vorstellung des vor allem Disziplin haltenden, strengen und gerechten Lehrers der normalen Schule“ (Becker 1996).
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Organisationsstrukturen beeinflussen demnach in „sehr filigraner Weise die Machtbalancen in
einzelnen dyadischen Beziehungen und den größeren Geflechten“ (Wolf 2007: 117-118). Auch
‚Aufopferung‘ und übermäßiges Engagement sowie die Vermischung von privaten und beruflichen
Ebenen kann das fachlich erforderliche Nähe-Distanz-Verhältnis ins Wanken bringen. Wenn
Sinnkonstruktionen vorrangig aus menschlichen Beziehungen, die dem Kontext Beruf entstammen,
gewonnen werden müssen, erhalten sie einen erhöhten Stellenwert für das eigene Selbstbild und die
eigene Bedürfnisbefriedigung. Dies macht anfällig für Grenzüberschreitungen.
Die Bedeutung von Schutzrechten
Schutzrechte für Kinder sind in jeglicher Hinsicht unerbittlich einzufordern und über ihre Einhaltung
ist Kontrolle zu halten. Die Befassung mit der Thematik des sexuellen Missbrauchs und der
sexualisierten Gewalt an Kindern kann ohne den Hinweis auf diese Notwendigkeit nicht auskommen.
Kindern müssen ihre Rechte aber auch zugänglich gemacht werden. Das Wissen darüber allein ist kein
Schutz vor dem Rechtsbruch, unterstützt aber Heranwachsende darin, sich ihres Status zu
vergewissern. Noch sind Aufklärung, Information und Transparenz über Schutzbestimmungen und
Schutzabkommen keine Routine in pädagogischen Institutionen. Speziell sexuelle Schutzrechte von
Kindern sind bislang nicht ausreichend bekannt und werden nur selten kommuniziert.
Sowohl die UN-Kinderrechtskonvention als auch die International Planned Parenthood Federation
(IPPF)11 treffen klare Aussagen zu dem Anspruch und Recht von Kindern, von allen Formen des
sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung geschützt zu werden.
Sie seien deshalb an den Schluss dieses Beitrags über die Zusammenhänge zwischen
Machtverhältnissen, Machtstrukturen und Machtmissbrauch in pädagogischen Kontexten gestellt.
Zielleitend ist dabei die Absicht, sexuelle Schutzrechte einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu
machen und damit noch einmal zu verdeutlichen, dass Kinder vulnerable Wesen sind, deren
förderliche Entwicklung nicht zuletzt unter staatliche Protektion gestellt werden muss.
11 Die IPPF ist eine internationale Dachorganisation für Verbände und Organisationen aus dem Arbeitsfeld Familienplanung.
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UN-Kinderrechtskonvention „Die Vertragsstaaten verpflichten sich, das Kind vor allen Formen der sexuellen Ausbeutung
und sexuellen Missbrauchs zu schützen. Zu diesem Zweck treffen die Vertragsstaaten insbesondere alle geeigneten inner-staatlichen, zweiseitigen und mehrseitigen Maßnahmen, um zu verhindern, dass Kinder a) zu Beteiligungen an rechtswidrigen sexuellen Handlungen verleitet oder gezwungen werden; b) für die Prostitution oder andere rechtswidrige sexuelle Praktiken ausgebeutet werden.“ (UN-Kinderrechtskonvention 1989, zit. n. pro familia Bundesverband 2010)
International Planned Parenthood Federation
„Die Sicherstellung sexueller Rechte für alle Menschen bedeutet auch ein Bekenntnis zur Freiheit und zum Schutz vor Schaden. […] Alle Kinder und Jugendliche haben einen Rechtsanspruch auf besonderen Schutz vor allen Formen der Ausbeutung. Dazu gehört der Schutz vor sexueller Ausbeutung, Kinderprostitution und allen Formen von sexuellem Missbrauch, Gewalt und Belästigung einschließlich der Nötigung von Kindern zu sexuellen Aktivitäten oder Praktiken und des Einsatzes von Kindern in pornografischen Darbietungen und Materialien.“ (IPPF 2008, zit. n. pro familia Bundesverband 2010)
Diese spezifisch auf den Bereich Sexualität bezogenen Schutzrechte für Kinder sind hartnäckig
einzufordern. Den Kindern sind sie in einer ihnen verständlichen Form zugänglich zu machen, so, dass
sie diese auf ihre Lebenssituation und ihre Lebenswelt beziehen können. Kinder brauchen zur
Wahrnehmung ihrer sexuellen Schutzrechte eine kompetente und qualifizierte Begleitung durch
Pädagoginnen und Pädagogen, die ihre eigene Beziehung zu Körperlichkeit, Leib, Sexualität und
Erotik reflektiert haben und in der Lage sind, Kinder und Jugendliche in ihrer psychosexuellen
Entwicklung förderlich und unterstützend zu begleiten.
Diese Kompetenz ist nicht naturgegeben, sondern wird in der Befassung mit Sexualpädagogik und
Sexueller Bildung erworben. Die Eignung und Kompetenz der pädagogischen Fachkräfte ist jedoch
nicht allein durch eine entsprechende Ausbildung und Weiterqualifizierung sicherzustellen, sondern
benötigt flankierend eine Personalpolitik, die das Thema der Prävention von sexuellen
Grenzverletzungen und sexuellem Missbrauch auf die eigene Agenda setzt und zum Bestandteil des
Leitbildes und der pädagogischen Konzeption von Einrichtungen macht. Gebraucht wird eine „Kultur
der Grenzachtung“ (Zartbitter 2010), die unter Partizipation der Kinder und Jugendlichen klare
institutionelle Regeln aufstellt und für den Fall der Nicht-Beachtung eine niederschwellige Form des
Beschwerdemanagements sicherstellt.
Pädagogik als professionelle Disziplin hat dabei die Aufgabe, Entwicklungs- und Möglichkeitsräume
für Kinder bereitzustellen und zu garantieren, die sie nicht nur schützen und Schaden von ihnen
fernhalten, sondern sie in der Entfaltung des individuellen Potenzials befördern. Der unverzichtbare
Anspruch an Pädagogik als Fachdisziplin ist es deshalb, die Entwicklungs- und Wachstumsprozesse
„auf der Basis humanwissenschaftlicher Erkenntnisse reflexiv zu planen, sie zu begleiten und zu
analysieren, sie zu evaluieren und gegebenenfalls zu revidieren, […]“ (Feuser 2010: 50). Mit weniger
kommt die Pädagogik nicht aus.
20
Marion Baldus
Die Autorin ist Professorin für Allgemeine Pädagogik und Heilpädagogik an der Hochschule
Mannheim.
Zusatzausbildung in Integrativer Gestalttherapie
Langjährige Berufstätigkeit in der Sexualpädagogik und Familienplanung
21
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