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Umfangslogik, Sphärenschemata und Euler-Diagramme

Date post: 13-Mar-2023
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1 Umfangslogik, Sphärenschemata und Euler-Diagramme Skizzen zur Problematik und Historie mit Bezug auf Kant Jens Lemanski (FernUniversität in Hagen) Note: An earlier version of this draft was presented at the conference ›Schema – Zeichen – Wissen‹, 19.– 21.2.2014, Technische Universität Berlin (http://www.a-priori.eu/node/587) and the proceedings will be published in volume edited by Lidia Gasperoni et al. 1. Einleitung An der berühmten Textstelle der Kritik der reinen Vernunft (= KrV) erklärt Immanuel Kant den Unterschied zwischen analytischen und synthetischen Urteilen wie folgt: „In allen Urteilen, worinnen das Verhältnis eines Subjekts zum Prädikat gedacht wird, (wenn ich nur die bejahenden erwäge, denn auf die verneinenden ist nachher die Anwendung leicht,) ist dieses Verhältnis auf zweierlei Art möglich. Entweder das Prädikat B gehört zum Subjekt A als etwas, was in diesem Begriffe A (versteckterweise) enthalten ist; oder B liegt ganz außer dem Begriff A, ob es zwar mit demselben in Verknüpfung steht. Im ersten Fall nenne ich das Urteil analytisch, in dem andern synthetisch.“ 1 Eine fundamentale Kritik an dem für die Unterscheidung zwischen synthetischen und analytischen Urteilen gebräuchlichen umfangslogischen Vokabular (hier: ‚enthalten sein‘, ‚außer(halb) liegend‘) wurde einschlägig von Willard Van Orman Quine geäußert: “Kant conceived of an analytic statement as one that attributes to its subject no more than is already conceptually contained in the subject. This formulation has two shortcomings: it limits itself to statements of subject-predicate form, and it appeals to a notion of containment which is left at a metaphorical level. But Kant’s intent, evident more from the use he makes of the notion of analyticity than from his definition of it, can be restated thus: a statement is analytic when it is true by virtue of meanings and independently of fact. Pursuing this line, let us examine the concept of meaning which is presupposed.” 2 Quines Aufsatz Two Dogmas of Empricism ist selbst zahlreich kritisiert worden. Dennoch hält sich bis heute sowohl unter Quinianern als auch in der Kantforschung die Kritik an der kantischen containment-Metapher. 3 Quine und viele seiner Nachfolger unterliegen allerdings dem 1 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, in: Ders.: Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe [= AA]), hrsg. v. Preußische/Deutsche/Göttinger/Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff., hier: AA III, S. 33 = A6f., B10 (Hervorh. v. mir, J.L.). 2 Willard Van Orman Quine: “Two Dogmas of Empiricism”, in: Ders.: From a Logical Point of View, 2. überarb. Aufl. New York; Hagerstown u.a. 1961, S. 20–57, hier: S. 20f. (Hervorh. v. mir, J.L.). 3 Vgl. bspw. Stephen Körner: Kant, Baltimore/Maryland 1955, S. 22; Richard Robinson: “Necessary Propositions”, in: Mind 67 (1958), S. 289–304, bes. S. 297; Jerrold J. Katz: Cogitations. A Study of the Cogito in Relation to the Philosophy of Logic and Language and a Study of Them in Relation to the Cogito, Oxford, New York u.a. 1988, bes. S. 52–98; Robert
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Umfangslogik, Sphärenschemata und Euler-Diagramme

Skizzen zur Problematik und Historie mit Bezug auf Kant

Jens Lemanski (FernUniversität in Hagen)

Note: An earlier version of this draft was presented at the conference ›Schema – Zeichen – Wissen‹, 19.–

21.2.2014, Technische Universität Berlin (http://www.a-priori.eu/node/587) and the proceedings will be

published in volume edited by Lidia Gasperoni et al.

1. Einleitung

An der berühmten Textstelle der Kritik der reinen Vernunft (= KrV) erklärt Immanuel Kant den

Unterschied zwischen analytischen und synthetischen Urteilen wie folgt:

„In allen Urteilen, worinnen das Verhältnis eines Subjekts zum Prädikat gedacht wird, (wenn ich nur die bejahenden erwäge, denn auf die verneinenden ist nachher die Anwendung leicht,) ist dieses Verhältnis auf zweierlei Art möglich. Entweder das Prädikat B gehört zum Subjekt A als etwas, was in diesem Begriffe A (versteckterweise) enthalten ist; oder B liegt ganz außer dem Begriff A, ob es zwar mit demselben in Verknüpfung steht. Im ersten Fall nenne ich das Urteil analytisch, in dem andern synthetisch.“1

Eine fundamentale Kritik an dem für die Unterscheidung zwischen synthetischen und

analytischen Urteilen gebräuchlichen umfangslogischen Vokabular (hier: ‚enthalten sein‘,

‚außer(halb) liegend‘) wurde einschlägig von Willard Van Orman Quine geäußert:

“Kant conceived of an analytic statement as one that attributes to its subject no more than is already conceptually contained in the subject. This formulation has two shortcomings: it limits itself to statements of subject-predicate form, and it appeals to a notion of containment which is left at a metaphorical level. But Kant’s intent, evident more from the use he makes of the notion of analyticity than from his definition of it, can be restated thus: a statement is analytic when it is true by virtue of meanings and independently of fact. Pursuing this line, let us examine the concept of meaning which is presupposed.”2

Quines Aufsatz Two Dogmas of Empricism ist selbst zahlreich kritisiert worden. Dennoch hält sich

bis heute sowohl unter Quinianern als auch in der Kantforschung die Kritik an der kantischen

containment-Metapher.3 Quine und viele seiner Nachfolger unterliegen allerdings dem

1 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, in: Ders.: Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe [= AA]), hrsg. v. Preußische/Deutsche/Göttinger/Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff., hier: AA III, S. 33 = A6f., B10 (Hervorh. v. mir, J.L.). 2 Willard Van Orman Quine: “Two Dogmas of Empiricism”, in: Ders.: From a Logical Point of View, 2. überarb. Aufl. New York; Hagerstown u.a. 1961, S. 20–57, hier: S. 20f. (Hervorh. v. mir, J.L.). 3 Vgl. bspw. Stephen Körner: Kant, Baltimore/Maryland 1955, S. 22; Richard Robinson: “Necessary Propositions”, in: Mind 67 (1958), S. 289–304, bes. S. 297; Jerrold J. Katz: Cogitations. A Study of the Cogito in Relation to the Philosophy of Logic and Language and a Study of Them in Relation to the Cogito, Oxford, New York u.a. 1988, bes. S. 52–98; Robert

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‚shortcoming‘, der daraus resultiert, dass die Kritik an der containment-Metapher nicht genauer

untersucht, expliziert und begründet wurde. Allein aus Quines A Postscript on Metaphor kann man

überhaupt ableiten, warum der zweite Kritikpunkt an Kant aus Two Dogmas eine negative

Konnotation besitzen muss, die die Fundamente der Transzendentallogik einer Uneigentlichkeit

bezichtigt; denn Quine hat in seiner kurzen Metapherntheorie eine mit der wissenschaftlichen

Expansion einhergehende Logisierung der Fachsprache eingefordert. Das heißt, wenn Metaphern

Übertragungen von Worten aus einem sinnlich-bildlichen Kontext in einen fachsprachlichen

sind, dann soll im Zuge der Verwissenschaftlichung die ihnen inhärierende Bildlichkeit und

Sinnlichkeit der ‚Schärfe‘ und ‚Klarheit‘ der Begriffe weichen. Wie die letzten beiden Sätze des

angeführten Zitats andeutet, kann man Quines Versuch eines ‚restatements‘ der containment-

Metapher im ‚concept of meaning‘ finden.

Fraglich bleibt aber, ob Kants umfangslogisches Vokabular tatsächlich ‚nur‘ metaphorisch

gemeint war und vor allem was die genuine Bildlichkeit von Vokabeln wie ‚enthalten sein‘,

‚außer(halb) liegen‘, ferner ‚beinhalten‘, ‚umfangen‘ oder sogar das ‚Begreifen des Begriffs‘

(concipere conceptus) sein könnte. In dem vorliegenden Aufsatz möchte ich die These vertreten,

dass die von Quine und seinen Nachfolgern angezeigte Metaphorik von Kants Definition der

analytischen und synthetischen Urteile auf eine Bildlichkeit rekurriert, die im Sinne der

Transzendentalphilosophie nicht als ‚Metapher‘, sondern vor allem als ‚Schema‘ verstanden

werden kann.4 Wenn man mit Kant ‚Schema‘ als eine die Begrifflichkeit und Sinnlichkeit

„vermittelnde Vorstellung“ definiert, dann könnte eine Logisierung oder auch Reformulierung

des umfangslogischen Vokabulars problematisch sein, da dann die eigentlich vermittelnde

Funktion der Schemata zugunsten einer einseitigen Begrifflichkeit unterdrückt werden oder sich

auch im ‚restatement‘ die Präsupposition einer schematischen Umfangslogik zeigen würde.

Genau diese problematische Konsequenz möchte ich in Kap. 4 und 5 aufzeigen.

Um aber das schematische Element des umfangslogischen Vokabulars herausstellen zu können,

werde ich in den vorhergehenden Kapiteln skizzieren, dass Kant seine Definition der

analytischen und synthetischen Urteile in eine lange Tradition der Logik stellt, in der die

Bildlichkeit bis zur Moderne eine immer explizitere Rolle gewinnt und zu Kants Zeiten ihren

vorläufigen Höhepunkt in den sog. ‚Euler-Diagrammen‘ findet. In Kap. 2 soll daher der Stand

der Forschung zu dieser logischen Tradition der Euler-Diagramme vorgestellt werden. In Kap. 3

versuche ich dann, einen Überblick über den historischen Verlauf dieser Schemata in der Logik

zu geben, um damit in Kap. 4 Kants Position in dieser geschichtlichen Entwicklung transparent

zu machen. In Kap. 5 werde ich zuletzt anhand einer bislang kaum erforschten Logik in der

Nachfolge Kants versuchen zu zeigen, warum Quines ‚restatement‘ und Übersetzung der

metaphorischen Definition analytischer Urteile mit dem ‚concept of meaning‘ aus der Sicht einer

kantischen Logik nicht befriedigend gewesen wäre.

Hanna: Kant and the Foundations of Analytic Philosophy, Oxford, New York u.a. 2001, bes. S. 124 (mit weiteren Literaturangaben); James Van Cleve: Problems from Kant, Oxford, New York u.a. 1999, bes. S. 18–21 (mit historischen Bezügen); Cory Juhl, Eric Loomis: Analyticity, New York, London u.a. 2010. 4 Ähnliche Thesen findet man in Robert Hanna: Kant and the Foundations of Analytic Philosophy, bes. S. 125 und vor allem in George Lakoff: Women, Fire and Dangerous Things. What Categories Reveal about the Mind, Chicago, London 1987, bes. S. 269–304.

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2. Forschungsstand zur Entwicklungsgeschichte der Euler-Diagramme

In diesem Kapitel möchte ich zunächst den Stand der Forschung zur Historie der Euler-

Diagramme vorstellen. In den herangezogenen Referenzwerken wird entweder der Ausdruck

‚Schemata‘ oder ‚Diagramm‘ verwendet, um die durch Leonard Euler und später dann durch

John Venn populär gewordenen Abbildungen logischer Verhältnisse zu bezeichnen. Wie man

beispielsweise an Venns Hauptwerk selbst sehen kann, ist die Entwicklungsgeschichte logischer

Schemata bzw. Diagramme ebenso von Interesse wie die damit verbundene Systematik. Die

historischen Referenzwerke sind in chronologischer Reihenfolge:

a) John Venn: Symbolic Logic, 2 überarb. Aufl. London 1894, bes. S. 504–527 (= chap. XX.

II).5

b) Theodor Ziehen: Lehrbuch der Logik auf positivistischer Grundlage mit Berücksichtigung der

Geschichte der Logik, Bonn 1920, bes. S. 227–236 (= § 54).

c) Martin Gardner: Logic Machines and Diagrams, New York, Toronto u.a. 1958.

d) Margaret E. Baron: “A Note on the Historical Development of Logic Diagrams. Leibniz,

Euler and Venn”, in: The Mathematical Gazette 53:384 (May 1969), S. 113–125.

e) E[rnest] Coumet: “Sur l’histoire des diagrammes logiques, ‘figures géométriques’”, in:

Mathematiques et Sciences Humaines 60 (1977), S. 31–62.

f) Peter Bernhard: Euler-Diagramme. Zur Morphologie einer Repräsentationsform in der Logik,

Paderborn 2001, bes. S. 69–80 (s.a. Index).

g) Amirouche Moktefi, Sun-Joo Shin: “A History of Logic Diagrams”, in: Dov M. Gabbay,

John Woods u.a. (Hrsg.): Logic. A History of its Central Concepts, Oxford, Amsterdam u.a.

2012, S. 611–682.

Bis heute hat sich in diesen historischen

Referenzwerken keine einheitliche Taxonomie

entwickelt, in die Euler-Diagramme begrifflich

eingeordnet werden können: Während Ziehen

noch 1920 als Überbegriff von einer

‚mathematischen‘ oder ‚symbolische Logik‘

spricht, die entweder ‚geometrische‘ oder

‚arithmetische Symbole‘ verwendet,6 spricht man ab der internationalen Etablierung des

Ausdrucks ‚Venn diagram‘ ab den 1910er Jahren fast ausschließlich von ‚geometrischen

Diagrammen‘. (Die hier beistehende Taxonomie versucht beide Klassifikationen zu

vereinheitlichen.)

Ein heterogenes Bild liefern die Referenzwerke nicht nur in Hinblick auf ihre Taxonomie,

sondern auch in Hinblick auf die jeweils behandelten bzw. erwähnten historischen Logiker, die

bis zu Kant geometrische Diagramme verwendet haben. Die im Folgenden aufgestellte Tafel

zeigt zum einen (in der Vorspalte) alle in den Referenzwerken genannten historischen Logiker

mit den Daten ihrer einschlägigen Werke und zum anderen, in welchem Referenzwerk

5 Dieses Kapitel ist eine überarbeitete Fassung von John Venn: “On the Employment of Geometrical Diagrams for the Sensible Representation of Logical Propositions”, in: Proceedings of the Cambridge Philosophical Society IV (Oct. 25, 1880 – May 23, 1883), S. 47–59. 6 Darstellungen zur Historie der arithmetischen Symbolik in der Logik findet man bei a) Venn und b) Ziehen.

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(Kopfzeile) jene behandelt werden. Das Zeichen im Tabellenfeld gibt an, dass das

entsprechende Referenzwerk sich intensiver mit dem entsprechenden Akteur beschäftigt und

diesem eine positive Rolle in der geschichtlichen Entwicklung der Euler-Diagramme zuspricht;

für eine negative Rolle wurde das Zeichen verwendet. Die Klammern – () bzw. () – geben

an, dass die Akteure nur nebensächlich im positiven bzw. negativen Sinn erwähnt werden.

Referenzwerke Personen/ Daten

a) Venn

b) Ziehen

c) Gardner

d) Baron

e) Coumet

f) Bernhard

g) Moktefi/ Shin

Aristoteles (~ 4. Jh. v.) () () () ()

Porphyrius (~ 3. Jh. n.) ()

Ammonios (~ 5. Jh. n.) ()

J. Philoponos (~ 6. Jh. n.) () ()

R. Lull (~1305)

J.L. Vives (1551) ()

P. Tartaretus (1581) ()

J. Pacius (1584)

N. Reimers (1589)

J.H. Alsted (1611)

J.C. Sturm (1661) ()

A. Geulincx (1662)

R. Sanderson (1680) ()

C. Weise (1691) ()

G.W.F. Leibniz (~ 1690) ()

E. Weigel (1693) ()

J.C. Lange (1712) () ()

G. Ploucquet (1759) ()

J.H. Lambert (1764) ()

L. Euler (1768)

J.A.H. Ulrich (1792) ()

J.G.E. Maaß (1793)

I. Kant (1800) ()

Die Tafel verdeutlicht einerseits, dass alle Referenzwerke ein wertvolles historisches Panorama

mit bestimmten Schwerpunkten liefern. Andererseits zeigt sie aber auch die heterogene

Geschichtsschreibung zur geometrischen Logik bis Kant, die z.T. darauf beruht, dass Ergebnisse

der jeweils vorangegangenen Studien nicht immer von den nachfolgenden Referenzwerken

berücksichtigt und kritisch nachgeprüft wurden.

3. Skizzen zur Entwicklungsgeschichte der Euler-Diagramme

Aufgrund der Unstimmigkeiten der in Kap. 2 angezeigten Tafel habe ich zunächst die Schriften

der darin genannten historischen Akteure zusammengesucht, durchgesehen, die Urteile der

Referenzwerke überprüft und diese Ergebnisse im Folgenden skizziert. Fast alle historischen

Bücher und auch Forschungsarbeiten konnte ich zudem in einem frei zugänglichen digitalen

Repositorium zusammenstellen (Links unter http://blog.fernuni-hagen.de/euler-venn-

diagrams/), so dass die hier nur exemplarisch angebrachten Belege ausführlich überprüft werden

können. Aufgrund der Tafel von Kap. 2 erlaube ich mir außerdem, die aufgeführten

Referenzwerke nicht weiter zu nennen und empfehle dem Leser hiermit allgemein, meine

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Ausführungen zu den jeweiligen Personen bzw. Schriften mit den jeweiligen Referenzwerken

abzugleichen.

3.1 Antike und Mittelalter

Ob eine explizite bildbezogene Darstellung der Logik more geometrico bereits in der Antike

eingesetzt hat, ist in der Forschung umstritten. Die Forschung ist sich zwar darüber einig, dass

bislang keine antiken Logikpapyri mit geometrischen Diagrammen als gesicherte Textzeugen

gefunden wurden; aber dennoch gibt es Interpreten, die versuchen, eine implizite

Bildbezogenheit in antiken Texten zur Logik und Sprachphilosophie herauszuarbeiten. Stekeler-

Weithofer sieht bspw. in der Segeltuch-Analogie, die der platonische Parmenides gegenüber

Sokrates vorbringt (Plat. Parm. 131b f.), einen Beleg dafür, dass Platon der Meinung gewesen sei,

Begriffe verhielten sich in einem Urteil so wie Modelle geometrischer Flächenbeziehung.7 Wie

besonders Bernhard anführt, gibt es auch mehrere moderne Interpreten, die eine Verwendung

von geometrischen Diagrammen bei Aristoteles annehmen, da dieser explizit vom ‚Schema‘ und

von ‚Mitteltermen‘ spricht, umfangslogische Metaphern verwendet oder auch Analogien zwischen

den Logikern und den Mathematikern herstellt (An. pr. 49b). Auch bei Theophrast von Eresos

und später bei Alexander von Aphrodisias findet man bspw. jeweils in ihren Kommentaren zu

Aristot. an. pr. 43b36–39 (in APr.) die Rede von der Wahl des Diagramms und der Syllogismen

(ἐκλογὰς καὶ τὸ διάγραμμα ὅλον καὶ τοὺς συλλογισμούς).8

Deutlichere Hinweis auf logische Schemata und Diagramme findet man aber erst ab der

Spätantike: Augustinus (Conf. IV 16) berichtet, dass zu seiner Zeit Lehrer die aristotelische

Kategorienschrift nicht nur durch mündlichen Rede, sondern auch durch viele in den Staub

gemalte Abbildungen einsehbar machten (non loquentibus tantum, sed multa in pulvere

depingentibus intellexisse). Archäologische Belege für derartige Zeichnungen im Logikunterricht

finden sich bspw. aus dem dreizehnten Jahrhundert an den Turmwänden der gotländischen

Kirche von Bro.9 Die Bemerkungen von Theophrast, Alexander und Augustinus selbst lassen

allerdings keine Rückschlüsse darauf zu, um welche Art von Zeichnungen es sich genau handelt.

Mehrfach haben Logikhistoriker aber dafürgehalten, dass grafische Veranschaulichungen der

Logik wie die sog. ‚Urteilsquadrate‘ (quadrata formula),10 ‚Eselsbrücken‘ (pons asinorum)11 oder

auch ‚Baumdiagramme‘ (arbor prophyriana/scientia etc.) explizit schon durch die

7 Vgl. bspw. Pirmin Stekeler-Weithofer: Grundprobleme der Logik. Elemente einer Kritik der formalen Vernunft, Berlin, New York 1986, S. 27–88. 8 Vgl. dazu auch Kevin L. Flannery: Ways into the Logic of Alexander of Aphrodisias, Leiden, New York u.a. 1995 interpretiert diese Diagramme umfangslogisch (S. 136ff.) und verweist dabei auf eine aristotelische Tradition (S. 1ff., S. 41). 9 Vgl. Uaininn O'Meadhra: “Medieval Logic Diagrams in Bro Church, Gotland, Sweden”, in: Acta Archaeologica 83 (2012), S. 287–316 inkl. einer Datierung der frühesten Urteilsquadrate auf das neunte Jahrhundert. 10 Nach herrschender Meinung findet man Urteilsquadrate erstmals in der (Ps-)Apuleius von Madaura zugeschriebenen Schrift Peri hermeneias, vgl. Joachim Ritter, Karlfried Gründer u.a. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1971ff., s.v. Logisches Quadrat (Heinrich Schepers), Bd. 7, S. 1733–1736. Aufgrund bekannter Zweifel an der Echtheit, Datierung und Überlieferungsgeschichte der Schrift ist die Zuschreibung aber problematisch. 11 Vgl. Joachim Ritter u.a. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, s.v. Eselsbrücke (Heinrich Schepers), Bd. 2, 743–745; C[harles] L[eonhard] Hamblin: „An improved pons asinorum?”, in: Journal of the History of Philosophy 14:2 (1976), S. 131–136; Ivo Thomas: “The Later History of the Pons Asinorum”, in: Anna-Teresa Tymieniecka (Hrsg.): Contributions to Logic and Methodology: In Honor of J.M. Bochenski, Amsterdam 1965, S. 142–151.

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Abb.1

neuplatonischen Kommentatoren wie Ammonius, Philoponos oder Porphyrius eingeführt

wurden.12

Diese Dafürhaltungen sind in mehrfacher Hinsicht problematisch, da (1.) die Bezugnahme

moderner Historiker auf neuzeitliche Editionen oder spätmittelalterliche Handschriften und

Inkunabeln nicht ausschließt, dass die genannten Figuren erst nachträglich den spätantiken

Werken hinzugefügt worden sind13 und (2.) es darüber hinaus erklärungsbedürftig bleibt, ob die

genannten Schemata überhaupt eine ähnliche umfangslogische Funktion besaßen wie die

späteren Euler-Diagramme.

Beide Probleme lassen sich aber zumindest für das Mittelalter einschränken. Einige spezielle

Forschungsgebiete haben bislang nachweisen können, dass die Baumdiagramme und andere

logische Schemata zwar nicht eindeutig spätantiken Ursprungs sind, aber auch nicht erst durch

(früh-)neuzeitliche Editoren hinzugefügt wurden. Ich referiere im Folgenden nur exemplarische

Ergebnisse aus den Forschungsbereichen zur Logik im (1) mitteleuropäischen und (2)

byzantinisch-slawischen Kirchenraum. (1) Die ältesten Baumdiagramme lassen sich in Boethius-

Übersetzungen von Porphyrius‘ Isagoge des elften Jahrhunderts finden und noch ältere Vorformen

in einer Glosse zur Isagoge, die ein Autor namens ‚Jepa‘ im neunten oder zehnten Jahrhundert

verfasst hat.14 (2) Die im elften Jahrhundert von Michael Psellos so

bezeichneten logischen ‚Diagramme‘ (διάγραμμα) und ‚Schemata‘

(σχῆμα)15 – besonders Baumdiagramme und Eselsbrücken – wurden

zahlreich in den Schriften Gregor Palamasʼ und in Scholien seiner

serbisch-kirchenslavischen Übersetzungen im Kloster Dečani

nachgewiesen.16

12 Vgl. bspw. William Kneale, Martha Kneale: The Development of Logic, verb. Reprint. Oxford, New York u.a. 1971, S. 71f. 13 In Bezug auf Philoponos behauptet dies auch Heinrich Scholz: Abriß der Geschichte der Logik, Freiburg/Breisgau, München 31967, S. 43f., Anm. 25. 14 Vgl. Annemieke Rosalinde Verboon: Lines of Thought. Diagrammatic Representation and the Scientific Texts of the Arts Faculty, 1200–1500, s.l., 2010 (http://hdl.handle.net/1887/16029), bes. S. 35–57 (mit zahlreichen Abb.) 15 Vgl. John Duffy: “Psellos' Paraphrasis on De interpretation”. In: Katerina Ierodiakonou (Hrsg.): Byzantine Philosophy and its Ancient Sources, Oxford 2004, S. 157–183. 16 Vgl. Ioannis Kakridis: Codex 88 des Klosters Dečani und seine griechischen Vorlagen. Ein Kapitel der serbisch-byzantinischen Literaturbeziehungen im 14. Jahrhundert, München, Berlin u.a. 1988, bes. S. 150ff. – Zahlreiche Fotos der bei Kakridis besprochenen Diagramme finden sich in Slobodan Žunjić: „Logički dijagrami u srpskim srednjovekovnim rukopisima“, in: Theoria 54:4 (2011), S. 127–160.

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Abb. 2

Für diese Diagramme und Schemata möchte ich jeweils ein Beispiel aus zwei Handschriften

anführen, nämlich (1) ein mitteleuropäisches Manuskript des Organons aus dem zwölften

Jahrhundert17 und (2) ein aus Terra d’Otranto stammendes Sammelmanuskript des späten

dreizehnten Jahrhunderts mit Auszügen aus De interpretatione und einem Kommentar von

Psellos.18 Beide sind insofern interessant, als sie jeweils alle Formen der bislang besprochenen

Schemata enthalten und mehrfach davon Gebrauch machen. Abb. 1 zeigt eine halbmondförmige

Eselsbrücke, die die Subjekt-Prädikat-Struktur der Urteile im Syllogismus abbildet, da sie oben

von links nach rechts die drei Spitzen mit den drei Variablen möglicher Prädikate besetzt (α =

terminus maior, β = medius und = Γ minor), den jeweiligen Quantor – hier jeweils π (gr:

π[άντως] = ∀; τ[ίς] = ∃; ο[ὐ πᾶς] = ¬∃ bzw. lat.: O[mne]; Q[uoddam]; N[ullam]) – an die drei

geschwungenen Verbindungslinien zeichnet, die wiederum die zwei gleichlangen und oberhalb

befindlichen Prämissen und die unterhalb befindliche sowie längere Konklusion abbilden (α‿β

= prop. maior; β‿Γ = prop. minor; α‿Γ = concl.). Abb. 2 zeigt hingegen ein typisches

Baumdiagramm, mit einem Begriff an der Spitze (G0), der sich top-down jeweils dichotomisch

über drei Grade (G-1, G-2, G-3) differenziert. Abgesehen von dem höchsten Begriff (G0) und evtl.

einem niedrigsten Begriff steht jeder Begriff eines Grades (G-1, G-2, G-3) sowohl als

Subjekt/Gattungsbegriff/Obermenge (= S/G/O) in Relation zu den unter ihm als auch als

Prädikat/Artbegriff/Untermenge (= P/A/U) in Relation zu den

über ihm befindlichen Grade. Da Baumdiagramme Regeln wie ‚Was

von S/G/O gilt, gilt auch von P/A/U‘19 illustrieren, lassen sich

prädikatenlogische/ontologische/quantorenlogische Schlüsse

ziehen, wie etwa: G0 → G-1, G-1 → G-2, also G0 → G-2. Im Hinblick

auf die Entwicklungsgeschichte von Euler-Diagrammen ist

besonders die quantorenlogische bzw. mengentheorische

Interpretation dieser Baumdiagramme von Interesse. Obwohl die beiden schematischen Typen sowohl die Subjekt-

Prädikat-Struktur als auch die Umfangslogik von Begriffen mittels

Subordination illustrieren, entsprechen sie noch nicht der

Bildlichkeit, auf die sich Euler-Diagramme beziehen. Allein bei

Baumdiagrammen könnte man die vertikale Linienstrukturierung

durch ebene geometrische Figuren ersetzen, die jeweils von

unterhalb eines Begriffes beginnend sich top-down auf alle mit ihm

zunächst mittelbar und dann unmittelbar subordinierten Begriffe erstrecken, um somit nicht nur

visualisieren zu können, was es heißt, dass Begriffe unter anderen enthalten (contineri sub), sondern

auch in anderen Begriffen enthalten sind (contineri in) – oder eben nicht. Dann wären die vertikal

verlaufenden Linien aber überflüssig, da die Begriffsrelationen durch die Anzahl und Position der

Ränder bzw. Rahmen der ebenen geometrischen Flächen angezeigt würden. In der Logik sind bis

heute viele vertikale mit ebenen geometrischen Vokabeln salva congruitate substituierbar.20

17 Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel Guelf. Gud. gr. 24. 18 Magdalen College, Gr. 15. 19 Quidquid de subiecto/genere/omni dicitur, etiam de praedicato/specie/quibusdam dicitur. 20 Leider liegt zu diesen Begriffspaaren bislang keine begriffsgeschichtliche Studie vor. Ein Meilenstein in dieser Entwicklungsgeschichte ist aber sicherlich Porph. Eisag. III.5 (Pacius 1589) mit der Gleichsetzung des vertikalen

8

Abb. 3

Abb. 4

Die angeblich bereits im Mittelalter etablierte Alternative zu Baumdiagrammen in Form von

solch ebenen geometrischen Schemata wird von mehreren Autoren behauptet, allerdings nur

selten belegt. Zwei Thesen sind aber diskussionswürdig: Gardner und an ihn anschließend Baron

haben behauptet, dass ein Ramon Lull zugesprochenes Schema, das vier sich überschneidenden

Kreise mit den Begriffen ‚Vnum‘, ‚Esse‘, ‚Verum‘ und ‚Bonum‘ zeigt (Abb. 3), die historisch erste

Vorwegnahme der ebenen geometrischen Euler-Diagramme darstellen würde. Dieses Schema hat

Gardner auf einer tragbaren Sonnenuhr mit lullschen Motiven aus dem Jahr 1593 gefunden, und

er bezieht sich zum Nachweis allein auf eine Studie von Ormonde Maddock Dalton. Bei meiner

Durchsicht der lullschen Manuskripte der sogenannten ‚ersten Generation‘21

habe ich zwar zahlreiche Diagramme mit kombinatorischen Kreisen,22 viele

Baumdiagramme23 und auch Abbildungen24 gefunden, die sich auf der

entsprechenden Uhr befinden – doch das von Gardner und Baron angeführte

Schema oder auch nur ein Schema, das offensichtlich auf geometrisch ebene

Euler-Diagramme hindeuten würde, konnte ich nicht finden. Ein Nachweis für

das Schema bei Gardner und Baron gelingt aber, wenn man die pseudo-lullsche Schrift Opusculum

de auditu Kabbalistico aus dem sechzehnten Jahrhundert heranzieht.25 Somit bleibt zwar Lulls

Verdienst um die Kombinatorik unberührt, aber die durch Gardner und Baron kolportierte

Behauptung, Lull sei ein Vorgänger Eulers, ist angesichts der dünnen

Beweislage nicht haltbar.

Um eine direkte Verbindung zwischen dem Mittelalter und den Euler-

Diagrammen herzustellen, könnte es aber naheliegender sein, auf die

These des Medizinhistorikers Michael Frampton einzugehen, der vor

wenigen Jahren eine Verbindung zwischen Venn-Diagrammen und einem

naturphilosophischen Diagramm behauptet hat, das sich in einem

Manuskript aus dem zwölften Jahrhundert mit einer Calcidius-Übersetzung

Begriffspaars ‘superiora/inferiora‘ mit den ebenen geometrischen ‚continens/continetur‘ in Bezug auf Gattung und Art. 21 Vgl. Albert Soler: “Els manuscrits lul·lians de primera generació als inicis de la primera generacio”, in: Estudis Romànics 32 (2010), S. 179–214. 22 Vgl. Arras, Bibliothèque Municipale, Ms. 78, fol. 1v; Città del Vaticano, Bibliotheca Apostolica Vaticana, Ottob. lat. 832, fol. 3v–4r; Città del Vaticano, Bibliotheca Apostolica. Ottob. lat. 2347, fol. 1v–2r; Città del Vaticano, Bibliotheca Apostolica., Vat. lat. 3858, fol. 1v–2r; Città del Vaticano, Bibliotheca Apostolica Vaticana, Vat. lat. 5112, fol. 3v–8r; Milano, Biblioteca Ambrosiana, I 121 Inf., fol. 1r; Milano, Biblioteca Ambrosiana, P 198 Sup., fol. 1v–2r, 137v–139r; München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm. 10496, fol. 1v, 2v; München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm. 10495, fol. 171v; München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm. 18446 fol. 1v–2r; Oxford, Bodleian Library, Canon. Misc. 141, fol. 69r, 70v–73r; Paris, Bibliothèque Nationale, NL Petrus von Limoges, MS lat. 16113, fol. 51v–52v, 61r; Paris, Bibliothèque Nationale, MS lat. 16116, fol. 84r; Sevilla, Biblioteca Capitular y Colombina, 5-6-35, fol. Iv, 1r; Venezia, Biblioteca Nazionale Marciana, Lat.VI.200 (2757), fol. 2v–4r, 157v–160r. 23 Vgl. Bologna, Biblioteca Universitaria, Ms. 1732, fol. 2r–4r; Dún Mhuire, Killiney, Franciscan Library, B 95, fol. Iv–IIr; Milano, Biblioteca Ambrosiana, D 549 Inf, fol. 260r, 265v, 304bis.v, 318r; Milano, Biblioteca Ambrosiana, I 121 Inf., fol. 11r; Padova, Biblioteca Capitolare, C 79, fol. 1r; París, Bibliothèque Nationale, lat. 15385, fol. 1r; Paris, Bibliothèque Nationale, NL Petrus von Limoges, lat. 16114, fol. 15v–17v; Paris, Bibliothèque Nationale, lat. 16116, fol. 84r; París, Bibliothèque Nationale, fr. 22933, fol. 61v–64r; Palma de Mallorca, Collegi de la Sapiència, Biblioteca Diocesana de Mallorca, F-129, fol. 1v, 52r–55r; Palma de Mallorca, Collegi de la Sapiència, Biblioteca Diocesana de Mallorca, F-143, fol. 153r, 156v, 160r, 180r, 188r. 24 Vgl. Paris, Bibliothèque Nationale, lat. 16115, fol. 84v. 25 Vgl. die dreidimensionale Darstellung aus Ringen in s.a. [evtl. Pietro Mainardi]: Opvscvlvm Raymvndinvum de avditv Kabbalistico Sive ad omnes scientias introdvctorivm, s.l., s.a. [1518], s.p. [ca. S. 90]; die für Dalton, Gardner und Baron relevante zweidimensionale Darstellung aus Kreisen (Abb. 3) findet sich sogar erst in Ders.: „De Audito Kabbalistico seu Kabbala“, in: Raymundi Lulli Opera ea quae ad adinventam ab ipso artem universalem […], Argentinae 1598, S. 109.

9

Abb. 5

des Timaios und dem Rolandslied befindet.26 Dieses Diagramm (Abb. 4) zeigt einen

kombinatorischen inneren Kreis mit den Jahreszeiten sowie vier äußere Halbkreise, die durch

sich überschneidende Halbkreise jeweils in drei Bereiche (Qualität, Element und Altersangabe)

sowohl differenziert als auch miteinander verbunden werden. Obwohl Frampton zwar eine

Analogie zu Venn behauptet, begründet er aber nur, dass die Funktion der trennenden sowie

verbindenden Halbkreise den Eselsbrücken entspricht, da bei beiden der terminus medius in einem

Syllogismus herausgestellt werden soll. Eine eindeutige umfangslogische Funktion von

Diagrammen im Mittelalter konnten somit weder Frampton noch Gardner und Baron

nachweisen.

3.2 Frühe Neuzeit

Erst das sechzehnte Jahrhundert bringt mehrere bedeutende Logiken, in denen

– dank des Buchdrucks – geometrische Diagramme als integraler Bestandteil

des Werkes kenntlich gemacht werden: Bereits 1503 bringt der in der

Forschung bislang kaum berücksichtigte Aristoteles-Kommentar Libri logicorum

ad archetypos recogniti von Jacques Lefèvre d’Étaples zahlreiche Diagramme.27

Dadurch dass d’Étaples beispielsweise zum einen die intensio durch Linien und

diese wiederum zur Illustration der extensio zu Flächen verbindet und zum

anderen auch die durch die Quantoren (O, Q, N) ausgedrückten Verhältnisse des Inneseins

(inesse) an Halbkreisen illustriert und diese zu immer komplexeren halbmondförmigen Flächen

zusammenschließt (Abb. 5),28 sind wohl erstmals die bekannten mittelalterlichen Diagramme im

Druck reproduziert worden. Eine Darstellung der Umfangslogik im Sinne der Euler-Diagramme

liegt allerdings meiner Meinung nach noch nicht vor.

Die erste schematische Darstellung, die John Venn selbst als einen Vorläufer seiner und Eulers

Diagramme interpretiert hatte, stammt aus dem Jahr 1531 von Juan Luis Vives.29 Im Syllogismus-

Kapitel des zweiten Buches von De censura veri et falsi beschreibt Vives zunächst den klassischen

Syllogismus, dann den Unterschied zwischen dem terminus maior und minor und skizziert

schließlich das aristotelischen dictum de omni (et nullo):30

„vt si tres trianguli pingantur, quorum vnus b sit maximus, & capiet alterum a, tertius sit minimus intra a, qui sit c: ita dicimus si omne b est a, & omne c est b, omne c est a.“

26 Vgl. Michael Frampton: Embodiments of Will. Anatomical and Physiological Theories of Voluntary Animal Motion from Greek Antiquity to the Latin Middle Ages, 400 B.C.–A.D. 1300, Saarbrücken 2008, S. 307. 27 William Hamilton: Lectures on Logic. Bd. II. Hrsg. v. H. L. Mansel u. J. Veitch. London 1860, S. 420 behauptet sogar, es gäbe keine Diagramme bei d’Étaples. 28 Jacobus Faber Stapulensis: Libri logicorum, ad archetypos recogniti […], Parisius 1503, fol. 27r (zu Cat. 4b–5b), 82v (zu Anal.pr. 25a). 29 Venn entnimmt diesen Hinweis aus Friedrich Albert Lange: Logische Studien. Ein Beitrag zur Neubegründung der formalen Logik und der Erkenntnistheorie, Iserlohn 1877, S. 10. Da bei Vives „statt der im Text genannten Dreiecke nur Winkel“ zu finden sind, geht Lange von einer „typographische[n] Bequemlichkeit“ aus und glaubt zudem, dass die Veranschaulichung kaum „eine Erfindung des scharfsinnigen Spaniers“ sei, sondern eher eine Schultradition. Als Hinweis für weitere Forschungsarbeiten sei hier aber angemerkt, dass man zahlreiche logische Abbildungen und auch Winkeldarstellungen in der spanischen Ausgabe von Thomas Bradwardine: Preclarissimum mathematicarum opus […], s.l.

[Valenica] 1503, findet, die für Vivesʼ Lehrer Hieronymus Amiguetus angefertigt wurde. 30 Vgl. Aristot. kat. III. 1b10–16, V. 3b4f.; an. pr., I. 24b26–30, IV. 25b39–26a2, 26a23–26, IX. 30a17–23, XIV. 32b38–33a38; top. D. I, 121a25f.; Porph. eisag. VIII.2–3 (Pacius 1589).

10

„Wenn drei Dreiecke gemalt werden, von denen eines b das Größte sei und ein anderes a umfasst, ein drittes sei aber das Kleinste in a, welches c sei, so sagen wir, wenn alle b nun a sind und alle c sind b, [so] sind alle c [auch] a.“31

Das Zitat ist nicht metaphorisch zu verstehen, da Vives explizit von Dreiecken (trianguli), nicht

von Begriffen spricht, die umfasst werden (capiet).32 Das ganze Zitat ist aber in eine Analogie

eingebettet, die den direkten Schluss des terminus minor aus dem maior exemplifizieren soll,

wodurch eine Verbindung zwischen der containment-Metapher und der Logik hergestellt wird.

Ebenso zahlreiche und ähnliche Diagramme wie bei d’Étaples findet man auch in dem 1536

gedruckten Kommentar von Johannes Philoponnos, in den kommentierten Aristoteles-Ausgaben

des Johannes Franciscus Burana ab 1536, in der Dialektik von Georgios Trapezuntios von 1538

und in der Organon-Ausgabe von Giulio Pace 1584.33 Auf die eigenständige Schrift Metamorphosis

Logicae von Nicolaus Reimarus Ursus aus dem Jahr 1589 hatte bereits Coumet hingewiesen.

Reimers ist für die Geschichte der Euler-Diagramme insofern von höchster Bedeutung, als er

erstmals ein Sphärendiagramm benutzt, um damit Schlüsse zu skizzieren.34 Er führt zunächst eine

Tafel (deductionis tabulâ)35 ein, die ähnlich dem vertikalen Baumdiagramm nun horizontal

Oberbegriffe nach dem platonischen Prinzip der διαίρεσις bzw. divisio in jeweils zwei Teilbegriffe

unterteilt. Der Oberbegriff ‚animal‘ wird in ‚irrationale, vt brutum‘ oder ‚rationale, vt Homo‘

eingeteilt. Letzterer wird wiederum in ‚Mas seu vir‘ und ‚Fæmina seu vir‘ eingeteilt. Diese

Ontologie ermöglicht es Reimers nun, den modus Barbara – allquantifiziert mit O[mnia] –

aufzustellen:

„O. Homo est Animal: (quia Homo inest Animali) O. Mulier est Homo: (quia et Mulier inest homini) O. Ergo Mulier est Animal.“

Reimers erklärt, dass dieser Schluss auf dem „Principium per intellectum internum“

zurückzuführen sei, das dictum de omni et nullo, das er abstrakt an einem Sphärendiagramm

illustriert:

„Sit enim Circulus EF. intimus: CD. intermedius: AB. verò extremus. Cùm itaq[ue] intimus EF. sit comprahensus in intermedio CD. rusumquè intermedius in extreme AB. necessariò erit etiam intimus EF. contentus in Extremo AB.”

„Es sei EF der innerste, CD der mittlere und AB der äußerste Kreis. Wenn daher der innerste EF im mittleren CD enthalten sei, und wiederum der mittlere in dem

31 Ioannes Ludovicus Vives: “De censura veri et falsi”, in: Ders.: De disciplinis Libri XX, Tertio tomo de artibus libri octo, Antverpia, 1531, fol. 57v. Weitere Schemata in tom. III finden sich auf fol. 27v, 37r. 32 Ein sich aufdrängender Vergleich zwischen Aristoteles, Vives und den frühneuzeitlichen Ausgaben von Euklids Elementen (bes. lib. V) wäre ein eigenes Forschungsthema und kann hier nicht geleistet werden. 33 Vgl. Ioan[nes] Gram[maticus] Philoponus: Commentaria in priora Analytica Aristotelis. Magentini Comentaria in eadem Libellvs de Syllogismus, Venetia 1536; Ioannes Franciscus Burana Veronensis: Interpretatio fidissima necnon exactissima expositio in Priores Aristotelis resolutorios nuper accuratius recognita, Venetiis 1536; Gregorius Trapezvntius: De re dialectica […]. Colonia 1538; Aristoteles Stagaritae Peripateticorum: Principis Organon, Hrsg. v. Iulius Pacius. Morgia 1584. 34 Nicolaus Raymarvs Vrsvs Dithmarsivs: Metamorphosis Logicae […], Argentorati 1589, S. 32. 35 Die historischen wie systematischen Verbindungen in der Entwicklungsgeschichte der Kombinatorik, der Baumstrukturen, Tabellenwerke etc. sind noch nicht ausreichend erforscht. Vgl. aber mit der dort angeführten Literatur Steffen Siegel: Tabula. Figuren der Ordnung um 1600. Berlin 2009.

11

Abb. 6 Abb. 7

äußersten AB, dann wird auch der innerste EF in dem äußersten AB enthalten sein.“36

Mit diesem Beispiel sind somit alle grundlegenden Verwendungsweisen von Sphärendiagrammen

in der Logik angerissen worden: (1) Begriffe wie ‚animal‘ besitzen eine Sphäre bzw. einen

Umfang, in welcher bzw. welchem Unterbegriffe wie ‚brutum‘, ‚homo‘ und weiter vermittelte

Unterbegriffe enthalten sind (comprahensus in). (2) Die Ontologie ermöglicht wahre Aussagen

(wie bspw. ‚Homo inest Animali‘) von falschen (wie bspw. ‚Mulier inest Brutum‘) zu

unterscheiden und zu erklären (‚quia…‘), so dass (3) diese Urteile zusammengenommen einen

Schluss ergeben können (‚…Ergo Mulier est Animal‘).

Eine Entwicklung von Verhältnisbestimmungen durch Linien vor dem 18. Jahrhundert kann man

bei Bartholomäus Keckermann finden: während in der Systema

Logicae von 1601 noch Begriffsumfänge bei der Begründung von

Urteilen durch gleichlange Linien dargestellt wurden (Abb. 6),

illustrieren spätere Ausgaben, wie bspw. die von 1611, dieselben

Verhältnisse durch unterschiedlich lange Linien (Abb. 7). Das

dargestellte Argument nach dem dictum de omni (et nullo) lautet enthymemisch: „Homo est animal,

quia sentit: hîc animal, est instar lineæ a, b, homo instar linæ e,f: sentit, instat linæ c,d.“ Auch Johann

Heinrich Alsted übernimmt 1614 die frühere schematische Fassung von Keckermann.37 Dass

allerdings auch der ‚cubus logicus‘ von Arnold Geulincx geometrischen Logikdiagrammen

zuzuordnen sei, wie Ziehen und andere diskutieren,38 konnte bislang nicht bewiesen werden.

Von größerer Relevanz als Keckermann, Alsted und ferner Geulincx für die geometrische Logik

sind allerdings die Schriften von Sturm und Leibniz – den beiden Schülern Erhard Weigels.

Johann Christoph Sturm verwendet in dem Traktat Novi Modi Syllogizandi aus dem Jahr 1661 nicht

nur fünf Diagramme („diagrammate“) zur Illustration logischer Schlüsse, sondern auch erstmals

die Kreisschemata ohne Bezug auf das dictum de omni et nullo. Als Beispiel sei hier Sturms erstes

geometrisches Diagramm angeführt, bei dem aus einer universalen Affirmation in der propositio

maior und einer universalen Negation im minor eine partikuläre Affirmation mit einem

unbestimmten Subjekt gefolgert werden soll:

„Si omne B est A, & nullum C est B, sequitur formaliter &

ἐξ ἀναγ´κης [sic] haec: Quodam non-C est A.“

„Wenn alle B A sind und kein C B ist, dann folgt formal und mit Notwendigkeit, dass einige nicht-C A sind.“39

36 Raymarvs: Metamorphosis Logicae, S. 33. 37 Vgl. Johanne-Henrico Alstedio: Logicæ Systema Harmonicum […], Herbornæ Nassoviorum 1614, S. 395 (= VII, IV 1). 38 Vgl. Gabriel Nuchelmans: Geulincx Containment Theory of Logic, Amsterdam 1988. Ein negatives Urteil fällt Carl Friedrich Bachmann: System der Logik. Ein Handbuch zum Selbststudium, Leipzig 1928, S. 148f. 39 Vgl. Joh[ann] Christopherus Sturmius: Universalia Euclidea […] Accedunt ejusdem XII. Novi Syllogizandi Modi in propositionibus absolutis, cum XX. aliis in exclusivis, eâdem methodo Geometricâ demonstrates, Hagæ-Comitis 1661, S. 84, Abb. S. 86.

12

Abb. 8

Abb. 9

Auch der Weigel-Schüler Gottfried Wilhelm Leibniz kannte Sturms Arbeit40 und hatte schon früh

logische Diagramme verwendet.41 Aber erst um ca. 1690 entstand eine – erst 1903 von Louis

Couturat veröffentlichte – Reihe von Fragmenten, in denen sowohl Linien- und

Sphärendiagramme als auch arithmetrische Darstellungen der Logik kulminierten, um den

aristotelischen Syllogismus zu perfektionieren. So stellt bspw. Leibniz direkt zu Beginn von De

formæ logicæ per linearum ductus (Abb. 8) eine

schematische Darstellung der traditionellen

vier Urteilstypen auf (AffIrmo, nEgO) und

illustriert dann den modus Barbara am dictum

de omni (et nullo).

Mehrfach ist in der Forschung diskutiert

worden, ob die Schemata bei Sturm und

Leibniz von Weigel beeinflusst worden sind. Während beispielsweise Bernhard diese Hypothese

für ungesichert erachtet, hat Bullynck aufgrund einer geometrisch-logische Analogie des dictum de

omni et nullo im Frühwerk Weigels jüngst für eine Beeinflussung argumentiert.42 Bekannt ist, dass

man erst 1693 explizit umfangslogische Illustrationen im Anhang von Weigels

Philosophia Mathematica findet. Wie hier am Beispiel des modus Barabara und

Celarent gezeigt wird (Abb. 9), hat Weigel die termini minor, maior und medius

in unterschiedlichen Syllogismen durch die in- und auseinandergesetzten

Initialien A, B und C visualisiert. Bislang wurde in der Forschung aber übersehen,

dass Weigel schon 1669 in seiner Idea Matheseos universae darauf hingewiesen hat, dass alle Arten

der Syllogismen durch Schemata und geometrische Figuren (per schemata figurasque

geometricas) viel einfacher zu unterscheiden sind, wie man besonders am modus Barbara und

Celarent (dem „dictum de omni & nullo“) sehen könne. Diese von Weigel als „Logometrum“

bzw. „Schluß-Maaß“ bezeichnete Erfindung habe „Sturmium meum“ bei den Belgiern bekannt

gemacht.43

40 Vgl. Stefan Kratochwil: „Johann Christoph Sturm und Gottfried Wilhelm Leibniz“, in: Hans Gaab, Pierre Leich u.a. (Hrsg.): Johann Christoph Sturm (1635 – 1703). Frankfurt a.M. 2004, S. 104–119, bes. S. 107f. 41 Das in der Forschung als das früheste geltende Kreisdiagramm von Leibniz findet sich auf Blatt N. 4932 in Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe, hrsg. v. Preußische/Deutsche/Göttinger/Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Darmstadt, Berlin u.a. 1923ff., VI 4 A, S. 2773. (Ich danke Hubertus Busche für den Hinweis.) 42 Vgl. bspw. Maarten Bullynck: “Erhard Weigel’s Contributions to the Formation of Symbolic Logic”, in: History and Philosophy of Logic 34 (2013), S. 25–34. 43 Erhardus VVeigelus: Idea Matheseos universæ cum speciminibus Inteventionum Mathematicarum, Jenae 1669, S. 46f. (= VIII, § 18).

13

Abb. 10

3.3 Das 18. Jahrhundert

Bereits John Venn hatte zu Recht festgestellt, dass die bis

heute häufig in der Literatur zu findende Behauptung,

Christian Weises Logiken – die Doctrina Logica von 1686,

Nucleus Logicæ von 1691 und Curieuse Fragen u ͤber die Logica

von 1696 – enthielten logische Diagramme, falsch sei. Ein

Meilenstein der geometrischen Logik stellen aber die

Additamenta zur dritten Auflage der Nvclevs Logicae Weisianae

dar, die der Weise-Schüler Johann Christian Lange

angefertigt hat. Lange erklärt explizit, dass er mit seinen

dreiecks- und halbmondförmigen Eselsbrücken („Schema Triangvlare“, „Schematibus semi-

circvlaribvs“) an Autoren wie Georgios Trapezuntios, Johann Heinrich Schellenbauer, Jakob

Martini oder auch Samuel Grosser (ebenfalls ein Weigel-Schüler) anknüpfe und seine „Circulos aut

Sphæras“ von Sturm übernommen habe44. Bemerkenswert ist, dass Lange schon vor Euler klare

Schnittflächen in diese Kreisschemata einzeichnete und mittels dieser nicht nur zunächst

(ir)reguläre Schlüsse beginnend mit dem modus Barbara (Abb. 10), grundlegende Klassen und

Stufen von Begriffsrelationen, sondern auch logische und methodische Sonderfälle wie

Konditionale, Enthymeme, Sorites und Induktionen darstellte. Daher wäre eine intensive Studie

zu Langes Logik nicht nur eine historische verdienstvolle, sondern vielleicht auch eine

systematisch ertragreiche Forschungsaufgabe.

Venn und ferner Baron hatten auch darauf hingewiesen, dass die zahlreichen Diagramme des

Weise-Schülers Johann Christian Lange im Inventum novum quadrati logici von 1714 nur eine ebene

geometrische Flächendarstellung von Baumdiagrammen nach dem Prinzip der διαίρεσις

darstellen, aber keine direkte Verwandtschaft mit Euler-Diagrammen besitzen.45

Das mit Lange aufgekommene Interesse an der Historie wuchs im Laufe des 18. Jahrhunderts an.

Einige Jahre nachdem auch Hermann Samuel Reimarus 1756 in seiner Vernunftlehre den

Wertverlauf von Urteilen durch die Quantität der Linien in einer Eselsbrücke veranschaulicht

hatte,46 entbrannte ein – aufgrund der heute bekannten Logikgeschichte anachronistisch

wirkender – Streit zwischen Johann Heinrich Lambert und Gottfried Ploucquet um die

Urheberschaft und Gültigkeit der ebenen geometrischen Logikdiagramme.47 Fest steht, dass

44 Vgl. Iohannes Christianus Langius: Nvclevs Logicae Weisianae. […] illustrates […] per varias schematicas […] ad ocularem evidentiam deducta […]. Editus antehac Avctore Christiano Weisio, Gissae-Hassorum 1712, bes. S. 248, ferner: S. 160, S. 205, S. 603. – Vgl. auch Jacobus Martini: Institutionum Logicarum Libri VII, Wittebergae 1610, S. 359ff., S. 432, S. 491ff. (Eselsbrücken), S. 472 („circuli probatio“); Jo[annes] Henricus Schellenbauerus: Compendium logices, Stuttgardiae 1715, S. 163ff. [Ausg. 1682 u. 1704 nicht auffindbar]; Samuel Grosser: Pharus Intellectus, sive Logica Electiva, Lipsiae 1697, Beiblätter nach S. 110, S. 132. 45 Venns Urteils stehen allerdings die positiven Aussagen zu Langes Nucleus und ferner zu Johann Andreas Segners Specimen Logicae vniversaliter (1740) von Johann Heinrich Lambert: Anlage zur Architectonic, oder Theorie des Einfachen und des Ersten in der philosophischen und mathematischen Erkenntniß, 2 Bde, Riga 1771, hier: Bd. 1, S. XIII, XXI, S. 128 entgegen, die ich in Bezug auf Lange hier nicht entscheiden und in Bezug auf die von mir durchgesehene Ausgabe Segners nur für die algebraische Logik bestätigen kann. 46 Vgl. bes. H[ermann] S[amuel] Reimarus: Vernunftlehre, als eine Anweisung zum richtigen Gebrauche der Vernunft […], Hamburg 1756, S. 196 (= § 136). 47 Ausführliche Abbildungen von Diagrammen zur frühen Neuzeit findet man auch bei Wilhelm Risse: Die Logik der Neuzeit, 2 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 1964/1970, Bd. 1, S. 221 (Urteilsquadrate), 225 u. 542 (Eselsbrücken); Bd. 2, S. 90f. (Geulincx), 128 (Baumdiagramme), 145 (Weigel), 168 (Sturm), 202 (Leibniz), 280f. (Ploucquet), 286–289 (Euler), 562–564 (Lange), 656f. (Reimarus).

14

Abb. 11

Ploucquet 1759 in seiner Fvndamanta Philosophiæ Speculativaæ drei ineinander geschachtelte

Quadrate einzeichnet, um einen Schluss nach dem dictum (de omni et nullo) zu demonstrieren:

“Ex intuitione patet, P esse prædicatum omnis M, & M esse prædicatum omnis S. Sed prædicatum prædicati est prædicatum Subjecti. P itaque est prædicatum omnis S, id quod ita exprimitur: Omne S est P.” “Durch die Intuition liegt offen vor Augen, dass P das Prädikat von allen M, & M das Prädikat von allen S ist. Aber das Prädikat des Prädikats ist das

Prädikat des Subjekts. P ist daher das Prädikat von allen S, so dass anschaulich wird: Alle S ist P.“48

Bemerkenswert an diesem Zitat ist zunächst die im zweiten Satz befindliche und für das 18.

Jahrhundert typische Wiederaufnahme eines zwischen dem Neuplatonismus und der

Spätscholastik entstandenen Lemmas für das aristotelische Diktum.49 Die drei ineinander

geschachtelten Quadrate zeigen, dass das Urteil der Konklusion ‚Alle S sind P‘ identisch ist mit

dem Urteil ‚P ist in allen S‘ („P esse in omni S, seu, quod idem est, omne S esse P“).

Johann Heinrich Lambert hatte 1762 in der Bürgerbibliothek der Züricher Wasserkirche eine

„alte scholastische Logik, oder […] ein Commentarius uͤber die Logik des Aristoteles“ mit

logischen „Figuren in Holzschnitten“ gefunden, die „viele Begriffe und Verha ͤltnisse“

illustrierten.50 Dass er noch sechs Jahre später einen Brief nach Zürich schickt, um das Buch noch

einmal inspizieren zu dürfen, darf als Indiz dafür genommen werden, dass die 1764 in der Schrift

Neues Organon entwickelten logischen Linien- und Punktdiagramme durch diese „scholastische

Logik“ angeregt wurden. Für Lambert war die Logik more geometrico ein Mittel, „Ungereimtheiten

zu entdecken, weil die Geometrie die Fehlschlüsse bald verräth“.51 Im Neuen Organon wird die

„Ausdehnung“ eines Abstractums mittels einer gezeichneten Linie dargestellt, deren Länge die

Anzahl aller Individua illustriert, die selbst aber mit Punkten dargestellt werden, da sie keine

Ausdehnung besitzen. Das beistehende Diagramm (Abb. 11) ermöglicht

daher eine Erklärung von Schlüssen mit dem dictum de omni et nullo wie

bspw.: alle M sind P, alle S sind M, also alle S sind P.52

Lambert hatte in einem Zeitungsartikel im Januar 1765 eine eher

Ploucquets Methode favorisierende Abhandlung über die Mathematik von Georg Jonathan von

Holland zumindest dafür gelobt, dass sie versuche, die „Epoquen von solchen Rechnungsarten

festzusetzen, damit man, wenn sie einmal zu ihrer wahren Vollkommenheit und Brauchbarkeit

kommen, sich u ͤber ihre Erfindung nicht so bitter zanke, wie es bey dem Differential-calculo

geschehen“.53 Lambert versicherte, dass er seine geometrische Methode mindestens ein Jahr vor

48 Gottfredus Ploucquet: Fvndamenta Philosophiæ Speculativæ. Tübingae 1759, S. 25 (= § 71). 49 Bspw. findet man eine stark überspitzte scholastische Variante dieser Phrase in [Ps.-]Joslenus Suessionensis: “De generibus et speciebus“, in: Victor Cousin (Hrsg.): Ouvrages inédits d'Abélard, Paris 1836, S. 520: „Si enim aliquid praedicatur de aliquo et aliud subiciatur subiecto, subiectum subiecti subicitur praedicato praedicati.“ 50 Johann Heinrich Lambert an Johann Jakob Steinbrüchel, 14.4.1768, in: Joh[ann II.] Bernoulli (Hrsg.): Joh[ann] Heinrich Lamberts deutscher gelehrter Briefwechsel, Bd. 1. Berlin s.a. (1782), S. 403–408. 51 Vgl. J. H. Lambert: „Neue Zeitung von gelehrten Sachen 1765:1 (3. Januar)“, in: August Friedrich Bo ͤk (Hrsg.):

Sammlung der Schriften, welche den logischen Calcul Herrn Prof. Ploucquets betreffen, mit neuen Zusa ͤzen, Frankfurt, Leipzig 1766, S. 149–156, hier: S. 150. 52 J. H. Lambert: Neues Organon. oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrthum und Schein. 2 Bde. Leipzig 1764, hier: Bd. 1, S. 109–125 (= §§ 173–202). 53 Vgl. J. H. Lambert: „Neue Zeitung von gelehrten Sachen 1765:1 (3. Januar)“, in: Bo ͤk (Hrsg.): Sammlung der Schriften, S. 152.

15

Abb. 12

Abb. 13

Abfassung des Neuen Organons entwickelt habe – scheinbar ging er davon aus, dass Ploucquets

Methode erst 1763/64 entstanden sei.

Natürlich ließ Ploucquet es sich nicht nehmen, auf seine bereits angesprochene Schrift aus den

1750er Jahren zu verweisen: Es sei ihm, so Ploucquet, „nicht undienlich […], dem Verlangen des

Herrn Prof. Lambert ein Genu ͤge zu thun, und die Epoquen dieser Rechnungsart fest zu sezen“.

Schon 1758 kam ihm die Idee, „Schlu ͤsse zu zeichnen, und in Figuren vorzustellen, um dieselbe

auf eine anschauende Erkenntniß dergestalten zu bringen, daß der ganze Schluß mit einem Blik,

ohne an die Folgen zu gedenken, u ͤbersehen, mithin aller Zweifel wider die Untru ͤglichkeit der

Schluͤsse ga ͤnzlich aufgehoben werde“.54 Bemerkenswert ist, dass Ploucquet sich zudem gegen die

historische Zuschreibung von Heinrich Wilhelm Clemm wehrt,55 seine Logik habe Ähnlichkeit

mit der characteristica universalis Ramon Lulls, Richard Suiseths oder Gottfried Leibnizʼ.56 Lambert

konnte in all diesen historischen Zurechtweisungen Ploucquets nur noch eine „umständlichere

Erzählung“ sehen und schwenkte schnell zur inhaltlichen Kritik über.57

Als eine Bestätigung des alten Sprichworts „duobus litigantibus tertius gaudet“ kann man es

ansehen, dass neben John Venn ausgerechnet Leonhard Euler

zum Namenspatron der geometrischen Logik erklärt wurde.

Euler hatte seine Kreisdiagramme fast zeitgleich mit Ploucquet

und Lambert in Band 2 seiner Lettres à une princesse d'Allemagne sur

divers sujets de physique et de philosophie entwickelt, die 1760–62

geschrieben und 1768 veröffentlicht wurden. Euler wollte darin

zunächst den Unterschied zwischen den Individualien und den

davon abstrahierten Abstracta erklären, um dann ähnlich wie

Lambert eine Urteilslogik aufzubauen, die die Relation von

Subjekt und Prädikat anhand von Zirkeln („figures rondes“) vorstellt.58

Wie der Anfang von Lettre CIII zeigt, hat Euler sich nicht bewusst auf Zirkel

festgelegt und sieht allgemein in der Illustration nur eine Erleichterung („faciliter“)

mittels Intuition („faute dʼabord aux yeux“). Euler beginnt ähnlich wie Leibniz

damit (Abb. 12), zunächst die traditionellen vier Urteilstypen darzustellen (A =

Affirmative-Universelle, E = Négative-Universelle, I = Affirmative-Particulière, O

= Négative-Particulière). Anhand dieser Sphärendiagramme kann Euler Bedingungen illustrieren

wie „Si la notion C est contenuë tout entiere dans la notion A, elle sera aussi contenuë toute

entière dans lʼespace B“, die dann zu einem Schluss (Abb. 13) nach dem dictum de omni et nullo

berechtigen wie „Tout A est B: Or Tout C est A: Donc Tout C est B“.59

54 G[ottfried] Ploucquet: „Untersuchung und Aba ͤnderung der logikalischen Constructionen des Hrn. Prof.

Lambert“, in: Bo ͤk (Hrsg.): Sammlung der Schriften, S. 157–202, hier: S. 157. 55 Henr[icus] Gvil[ielmus] Clemmius: Novae amoenitates literariae. Fascicvlvs Qvartvs, Stvtgardiae 1764, S. 549–556, hier: S. 554. 56 G. Ploucquet: „Untersuchung und Aba ͤnderung der logikalischen Constructionen des Hrn. Prof. Lambert“, in: Bo ͤk (Hrsg.): Sammlung der Schriften, S. 157–160. 57 Vgl. J. H. Lambert: „Neue Zeitungen von gelehrten Sachen. 1765:58 (22. Juli)“, in: Bo ͤk (Hrsg.): Sammlung der Schriften, S. 207–215, hier: S. 207. 58 Leonard Euler: Lettres à une princesse d'Allemagne sur divers sujets de physique & de philosophie, 2 Bde. Saint Petersbourg 1768, hier: Bd. 2, S. 96–101 (= L. CIIf.). 59 Ebd., S. 104, (= L. CIII).

16

Abb. 14

Im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert konzentrierte man sich

verstärkt auf die Untersuchung der Möglichkeiten der

algebraischen Logik. Liniendiagramme findet man nur vereinzelt,

wie bspw. 1792 in Johann August Heinrich Ulrichs Institutiones

Logicae et Metaphysi-cae.60 Allein in dem Grundriß der Logik

entwickelte Johann Gebhard Ehrenreich Maaß 1793 eine Semiotik, in der

das Zeichen in Form von geometrischen Dreiecken „die Erfindung neuer Wahrheiten erleichtert,

indem es uns das Bezeichnete in allen seinen Verha ͤltnissen gleichsam mit einem Blicke u ͤbersehen

la ͤßt“. Als Beispiel für diese Heuristik sei hier die Besprechung der ersten beiden Logikdiagramme

angeführt (Abb. 14), an denen diskutiert wird, ob die „Sphaͤre eines Begriffes“ bis zu α, κ oder μ

reiche.61

3.4 Kant

Kant spielt in den historischen Referenzwerken zu den logischen Diagrammen gewöhnlich nur

eine marginale Rolle. Sehr verhalten verweisen mehrere Historiker auf die sog. Jäsche-Logik, deren

Publikation genau auf das Jahr 1800 fällt. Die verhaltene Nennung dürfte darauf beruhen, dass

Kant zum einen seine Logik-Vorlesungen nicht selbst, sondern durch Gottlob Benjamin Jäsche

hat ausarbeiten lassen, und zum anderen darin nur isolierte logische Diagramme vorhanden sind.

Die in dem Werk enthaltene Urteilslogik wird in gewohnter kantischer Manier durch die sog.

‚Urteilstafel‘ charakterisiert. Das heißt, Kant unterteilt die Urteilslogik in die vier Hauptmomente:

Quantität, Qualität, Relation und Modalität (§ 20), und kombiniert in Anm. 5 von § 21 bezüglich

der Quantität der Urteile das geometrische Bild einer Sphäre mit dem Bild eines Quadrats, um

besondere Urteile darstellen zu können:

„Von den besondern Urtheilen ist zu merken, daß, wenn sie durch die Vernunft sollen können eingesehen werden und also eine rationale, nicht bloß intellectuale (abstrahirte) Form haben: so muß das Subject ein weiterer Begriff (conceptus latior) als das Prädicat sein. Es sei das Prädicat jederzeit = ○, das Subject □, so ist

ein besonderes Urtheil, denn einiges unter a Gehörige ist b, einiges nicht b, das folgt aus der Vernunft. Aber es sei

so kann zum wenigsten alles a unter b enthalten sein, wenn es kleiner ist, aber nicht wenn es größer ist, also ist es nur zufälliger Weise particular.“62

Nach der Darstellung der Qualität (§ 22) erläutert Kant ab § 23 die Relation der Urteile und

skizziert anhand eines „Schemas“ die begrifflichen „Sphären“, um den ‚eigentümlichen Charakter

der disjunktiven Urteile‘ zu veranschaulichen. Genau genommen zeigt der § 29 zwei Schemata, da

60 Vgl. Io[annes] Avg[vstvs] Henr[icus] Vlrich: Institvtiones logicae et metaphysicae. Scholae svae scripsit perpetva Kantianae disciplinae ratione habita, Ienae 1792, S. 171. 61 Johann Gebhard Ehrenreich Maaß: Grundriß der Logik, zum Gebrauche bei Vorlesungen, Halle 1793, S. 294 (= § 365). 62 AA IX, S. 103.14–22 (= Immanuel Kant: Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen, Hrsg. v. G. B. Jäsche, Königsberg 1800, S. 149f.).

17

Kant die disjunktiven Urteile mit den kategorischen kontrastiert, wobei er eine Variante des dictum

de omni et nullo anführt, das er auch in den §§ 14 und 63 diskutiert:

„Daß in den disjunctiven Urtheilen nicht die Sphäre des eingetheilten Begriffs, als enthalten in der Sphäre der Eintheilungen, sondern das, was unter dem eingetheilten Begriffe enthalten ist, als enthalten unter einem der Glieder der Eintheilung, betrachtet werde, mag folgendes Schema der Vergleichung zwischen kategorischen und disjunctiven Urtheilen anschaulicher machen. In kategorischen Urtheilen ist x, was unter b enthalten ist, auch unter a:

In disjunktiven ist x, was unter a enthalten ist, entweder unter b oder c etc. enthalten:

“63

Die beiden oben gemutmaßten Gründe für die verhaltene Auseinandersetzung der

Logikhistoriker mit den Schemata aus der Jäsche-Logik sind meiner Meinung nach gegenstandslos.

Zum einen findet man in Kants mit Papier durchschossener Ausgabe zu Georg Friedrich Meiers

Auszüge aus der Vernunftlehre, die Kant seinen Logikvorlesungen ab 1765 zu Grunde gelegt hat,

mehrere und zudem sehr unterschiedliche Schemata und Diagramme. Zum anderen

korrespondieren diese Notizen und Reflexionen Kants zum Teil stark mit dem Text und den

Schemata in der Jäsche-Logik, da Jäsche bei der Erstellung der veröffentlichten Logik Kants eigene

Manuskripte und Notizen kompiliert hat.64 So entspricht bspw. die oben angeführte Anm. 5 zu §

21 (Jäsche-Logik) sehr genau Kants eigenem Kommentar zu Meiers § 292; und auch der zitierte

Absatz aus § 29 ist textlich und besonders schematisch nahe an Kants Kommentar zu den §§

307ff. von Meiers Auszüge aus der Vernunftlehre.65

Der von Erich Adickes herausgegebene Band XVI der Akademie-Ausgabe Kants (mit den

Notizen zu Meier) enthält noch mindestens sieben weitere Reflexionen mit Diagrammen bzw.

Schemata: Nr. 3063, 3215, 3216, 3229, 3235, 3236, 3239–3240. Adickes hatte in seinem

Kommentar zu Nr. 3215 darauf hingewiesen, dass die dort befindlichen Kreisdiagramme Kants

evtl. von Euler übernommen sein könnten. Peter Schulthess hat Adickes Vermutung durch die

These dahingehend verallgemeinert, dass Kants Diagramme von Euler beeinflusst sein dürften,

da zum einen Kant in der sog. Logik Philippi selbst auf Eulers Diagramme hinweist und zum

anderen die Diagramme in den Logikreflexionen erst nach der Veröffentlichung von Eulers

Briefen um 1768 auftreten.66 Von der Zeitangabe selbst hängt nicht viel ab, obwohl man anmerken

kann, dass nach Adickesʼ Datierung einige der sieben genannten Reflexionen mit Diagrammen

evtl. schon vor 1768 entstanden sind.

63 AA IX, S. 108.1–8 (= I. Kant: Logik, S. 168.); Hervorh. v. mir, J.L. 64 Vgl. AA IX, S. 3f. (= I. Kant: Logik, S. V–VIII). 65 AA XVI, S. 627 (= Nr. 3036); AA XVI, S. 657f. (= Nr. 3096). 66 Vgl. Peter Schulthess: Relation und Funktion. Eine systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchung zur theoretischen Philosophie Kants, Berlin, New York 1981, S. 101, Anm. 28. In der Logik Philippi heißt es (AA XXIV/I, S. 454): „Euler hat das durch Figuren sinnlich zu machen gesucht.“

18

Nicht die Datierung, sondern die Zeichnungen selbst

zeigen, dass Kant von logischen Schemata mehr wusste,

als in Eulers Briefen enthalten war. Besonders die

Reflexion Nr. 3235 zeigt Eselsbrücken (S = Subjekt, M

= Medius, P = Prädikat) in vielen unterschiedlichen

Varianten, von denen mehrere Halbmond- und

Dreiecksformen bilden (zweite Zeile von Abb. 15) –

also in der Gestalt, wie wir sie oben bereits im

Mittelalter und in der frühen Neuzeit nachgewiesen

haben. Da derartige Diagramme bei Euler aber fehlen,

können die Lettres à une princesse d'Allemagne nicht Kants

einzige Informationsquelle zu logischen Diagrammen

gewesen sein – und auch Langes Zusätze zum Nucleus

enthalten nicht alle diese Formen (bspw. Zeile 3 und 4

von Abb. 15). Obwohl die in dem vorliegenden Aufsatz

skizzierte Geschichte logischer Schemata zwar gewiss unvollständig ist, kann man dennoch sagen,

dass es ein zu großer Zufall wäre, wenn Kant ohne Wissen von ihrer Historie genau diejenigen

kontraintuitiven Dreiecks-, Halbmond- und Liniendiagramme konstruiert und mit denselben

Funktionen versehen hätte, wie sie auch im Mittelalter und in der frühen Neuzeit zu finden sind.

Da hier kein abschließender Nachweis erbracht werden kann, woher Kant die vielen logischen

Diagramme kannte, ist es naheliegend, sich dem Urteil von Gardner, Baron und vielen anderen

Historikern anzuschließen, dass besonders die sog. Euler-Diagramme und Eselsbrücken

mündlich durch den Logikunterricht an höheren Schulen über die Jahrhunderte tradiert wurden.

4. Kants „notion of containment“

Ich habe zu Beginn dieses Aufsatzes die These vertreten, dass die umfangslogischen Ausdrücke

(hier: ‚enthalten sein‘, ‚außer(halb) liegend‘), die Kant bei der Definition analytischer und

synthetischer Urteile verwendet, kein ‚shortcoming‘ ist, wie Quine behauptet hat und wie in der

aktuellen Kantforschung diskutiert wird. Vielmehr habe ich zu verstehen gegeben, dass diese

umfangslogischen Ausdrücke eine aus der logischen Tradition erwachsene Bildlichkeit

implizieren, die heutzutage unter dem Stichwort ‚Euler-Diagramme‘ diskutiert wird.

Kant selbst hat an einer Stelle seines Handexemplars zu Meiers Auszüge aus der Vernunftlehre

explizit die Bildlichkeit dargestellt, die den analytischen und synthetischen Urteilen zugrunde

liegt. Diese Darstellung befindet sich in der Reflexion Nr. 3216 und kommentiert zusammen mit

den Reflexionen 3214–3219, denen Adickes eine Abhängigkeit von Euler-Diagrammen attestiert

hat, den § 363 der meierschen Logik. Dieser Hinweis auf § 363 von Meier ist keinesfalls unnütz,

sondern zeigt überhaupt erst deutlich, in welcher Tradition Kants ‚Euler-Diagramme‘ in diesen

Reflexionen stehen: Meier führt in § 362 zunächst den Satz des Widerspruchs ein und begründet

damit in § 363 das dictum de omni et nullo. Wie Vives, Reimers, Keckermann, Alsted, Leibniz,

Ploucquet, Lambert und auch Euler selbst verwendet Kant ‚Euler-Diagramme‘, um das dictum de

omni et nullo zu kommentieren, darzustellen und zu bewerten.

Aufgrund verschiedener Aspekte erscheint Kants Bewertung des dictum de omni et nullo sowohl

progressiv und problematisch als auch konservativ und traditionsbewusst. Der Jäsche-Logik (§ 63)

Abb. 15

19

und vielen weiteren Logikmitschriften der Schüler Kants kann man entnehmen, dass Kant

progressiv das dictum de omni (et nullo) aus dem obersten Prinzip nota notae est nota rei ipsius… (Was

dem Merkmal einer Sache zukommt, das kommt auch der Sache selbst zu…) ableiten wollte. Es

ist leicht ersichtlich, dass das nota notae-Prinzip, das Kant schon in Die Falsche Spitzfindigkeit der vier

syllogistischen Figuren 1762 publik gemacht hatte, eine – evtl. an Meier (§ 115–123) angepasste –

Paraphrase des bereits oben bei Ploucquet zitierten neuplatonisch-scholastischen Lemmas

praedicatum praedicati est praedicatum subjecti ist. Einerseits ist nun die Abhängigkeit des dictum de omni

vom nota notae-Prinzip problematisch, da das Prinzip und das Diktum in ihrer

ideengeschichtlichen Verwendung bis Kant meistens synonym gebraucht wurden (siehe

Ploucquet) und zudem Kant sogar selbst, bspw. in Reflexion Nr. 3218, das dictum de omni et nullo

mit dem nota notae übersetzt. Andererseits zeigt aber die Erklärung des Diktums bzw. Prinzips

durch die vermeintlichen ‚Euler-Diagramme‘, dass Kant die Diagramme an dieser Stelle weder

gewählt hat, weil sie durch Euler in Mode gekommen sind, noch weil sie, wie bspw. bei Sturm

oder Lange, irgendwelche problematischen Schlüsse demonstrieren können. Somit liegt eine

Zweischneidigkeit von Konservatismus und Progression vor: Kants logische Diagramme

knüpfen nicht nur an eine Tradition an – sie führen diese auch bewusst fort.

Nähern wir uns aber nun den Diagrammen und somit der Bildlichkeit der kantischen containment-

Metaphern, wie man sie in Kants Kommentaren zu Meiers Auszüge aus der Vernunftlehre § 363,

besonders in Reflexion Nr. 3216 findet. In Reflexion Nr. 3214 gibt Kant zunächst ein Beispiel für

das Diktum bzw. das Prinzip an; In Reflexion Nr. 3215 finden wir dann die Illustration der vier

Satztypen (A, E, I, O) in ähnlicher Form wie bei Euler und ferner bei Leibniz67 sowie die

Darstellung von drei Schlüssen anhand von zwei grafischen Kombinationen der vier Satztypen.

In Reflexion Nr. 3216 finden wir schließlich eine kreisdiagrammatische Illustration der

analytischen und synthetischen Schlüsse:

„Das logische Verhältnis aller Urt Begriffe ist, daß der eine unter der sphaera

notionis des Subjects andern enhalten sey: . Das metaphysische Verhältnis besteht darin, ob der eine mit dem andern synthetisch oder analytisch verbunden

sey: .“

Das Zitat Kants dürfte genauso viele Antworten geben, wie es neue Fragen aufwirft. Ich möchte

an dieser Stelle den angesprochenen Unterschied zwischen dem „logischen Verhältnis“ und dem

„metaphysischen“68 ebenso wenig diskutieren wie die Frage, inwiefern die Illustration des

‚logischen Verhältnisses‘ mit dem Euler-Diagramm des Satztyps 1 von Reflexion Nr. 3215 und

mit Eulers eigenem Diagramm übereinstimmt. Auch die sich aufdrängende Vermutung über die

Funktion von Reflexion Nr. 3216 in den Kommentaren zu Meiers Auszüge aus der Vernunftlehre §

363 – nämlich dass Kant die Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen

67 Adickes Kommentar ist m.M. in mehrfacher Hinsicht nicht schlüssig und müsste überprüft werden. 68 Vgl. dazu aber Schulthess: Relation und Funktion, S. 118–121. Schulthess deutet das ‚logische Verhältnis‘ von P (größerer Kreis) und S (kleinerer Kreis) extensional, das metaphysische Verhältnis von S (größerer Kreis) und P (kleinerer Kreis) bei analytischen Urteilen intensional. Auch wenn man die Interpretation von Bernhard: Euler-Diagramme, S. 42f., S. 55–69 hinzuzieht, korrespondiert nur Kants ‚logisches Verhältnis‘ mit den extensionalen Euler-Diagrammen.

20

hier einschiebt, um den Status des nota notae-Satzes selbst zu klären – kann hier nicht behandelt

werden.

Festhalten kann man aber, dass die die analytischen und synthetischen Urteile darstellenden

Schemata, also die beiden ‚metaphysischen Verhältnisse‘, zwar auf Euler-Diagrammen basieren,

selbst aber keine Euler-Diagramme im engeren Sinn sind. Die eulersche Basis besteht darin, dass

Kant zum einen für die analytischen Urteile auf das ineinander geschachtelte Kreisverhältnis für

den Satztyp a (Reflexion Nr. 3215) bzw. auf Eulers ‚Affirmative – Universelle‘-Sätze und zum

anderen für synthetische Urteile auf Satztyp e bzw. Eulers ‚Négative – Universelle‘-Sätze

zurückgreift. Der Unterschied zwischen Kants Schemata und Eulers Diagrammen entsteht aber

durch den jeweils äußeren Kreis, da dieser bei Kant keine klar zugewiesene Funktion in Form

einer Variablen, Konstanten, eines Quantors o.ä. besitzt. Da alle Diagrammelemente in Eulers

Lettres à une princesse aber eine derart klare Funktion besitzen – bspw. A, B als Variable oder

Konstante, ein Stern ✳ für die Schnittmenge usw. –, so können die letzten beiden Diagramme

im angegebenen Zitat keine Euler-Diagramme im strengen Sinn sein. Alles Weitere, was sich zu

diesen Schemata sagen lässt, ist somit Interpretation.

Da Kant in dem zweiten Satz des Zitats den Unterschied zwischen analytischen und

synthetischen Urteilen an der Art festmacht, wie die Begriffe miteinander verbunden sind, so

vermute ich, dass mit der jeweils äußeren Linie die Verbindung (Kopula) bzw. das Urteil selbst

dargestellt wird. Wenn die beiden inneren Kreise die Begriffe darstellen und S und P jeweils für

‚Subjekt‘ und ‚Prädikat‘ stehen, dann sind Subjekt und Prädikat im synthetischen Urteil nur durch

die Kopula verbunden, wohingegen im analytischen Urteil die Verbindung von Subjekt und

Prädikat bereits vollständig durch das Subjekt gegeben zu sein scheint, da das Prädikat schon im

Subjekt ‚enthalten‘ ist. Anders gesagt kann im synthetischen Urteil Subjekt und Prädikat –

aufgrund ihrer Differenz (‚Négative – Universelle‘) – nur die Kopula verbinden, während im

analytischen Urteil die Kopula entweder das Prädikat ersetzen kann, da das Subjekt schon das

Prädikat impliziert, oder nur als Hilfsmittel fungieren kann, um das implizierte Prädikat explizit

zu machen.69

Da nun die beiden besprochenen Schemata bildlich das illustrieren, was die eingangs in Kap. 1

angeführten Definitionen der analytischen und synthetischen Urteile aus der KrV begrifflich

darstellen, kann man die die Ausdrücke ‚enthalten in‘ und ‚außer(halb) liegen‘ weder als

metaphorische ‚shortcomings‘ noch als Uneigentlichkeit, die einer Logisierung bedürfen,

verstehen. Denn ‚enthalten in‘ und ‚außer(halb) liegen‘ sind in der KrV diejenigen Ausdrücke, die

das verbalisieren, was Kant in Reflexion Nr. 3216 nur bildlich exemplifiziert hat. Was in der KrV

allein ‚metaphorisch‘ angedeutet zu sein scheint, wird in Reflexion Nr. 3216 als ausschließende

Alternativen visuell wahrnehmbar schematisiert: In analytischen Aussagen liegt das Prädikat im

Subjekt und nicht außerhalb des Subjekts; In synthetischen Aussagen liegt das Prädikat außerhalb

des Subjekts und nicht im Subjekt.

Man könnte nun darüber debattieren, ob die Ausdrücke, die Kant bei der Definition analytischer

und synthetischer Urteile in der KrV verwendet und die Quine unter dem ‚notion of

containment‘ subsumiert, tatsächlich eine metaphorische Bedeutung haben.70 Sicherlich würde ein

Urteil davon abhängen, was man selbst wieder als Metapher definiert und welcher

69 Das ist der Sinn der scholastischen Merksätze: Omne subjectum est praedicatum sui. Quod in subjecto implicite est, in praedicato est explicite. 70 Bspw. plädiert Bernhard unter Rückgriff auf viele Studien zur logischen Diagrammatik dafür, dass zwischen dem umfangslogischen Vokabular und den Euler-Diagrammen weniger eine negativ konnotierte Metaphorik als vielmehr eine gleichwertige Isomorphie vorliegt.

21

Metapherntheorie man sich bedient. Und natürlich könnte man in der KrV das Fehlen einer

derartigen Bildlichkeit wie in Reflexion Nr. 3216 als ein Argument dafür verwenden, dass die

Ausdrücke ‚enthalten in‘ und ‚außer(halb) liegen‘ metaphorisch bleiben.

Wenn man aber bedenkt, dass der Logikunterricht wohl spätestens seit der Zeit Augustinus‘

diejenigen Bilder lebendig gehalten hat, die eine verbale Entsprechung in Ausdrücken wie

‚enthalten in‘ und ‚außer(halb) liegen‘ findet, kann man sich dann nicht zu Recht die Frage stellen,

ob auch Kant und seine Zeitgenossen es so empfunden haben, ‚that the notion of containment is

left at a metaphorical level‘? Ist nicht auch derjenige, der Ausdrücke wie

‚Verknüpfung‘, ‚hinzutun‘, ‚Zergliederung‘, ‚zerfällen‘, ‚in etw. denken‘, ‚herausziehen‘ u.v.a. – also

die Ausdrücke, die Kant bei weiteren Definitionen analytischer und synthetischer Urteile

gebraucht – den entsprechenden logischen Bildern zuzuordnen weiß, im Vorteil gegenüber

demjenigen, der diese Ausdrücke nur als solche Metaphern versteht, die reformuliert und

übersetzt werden müssen?

5. Übersetzung und der ‚concept of meaning‘

Obwohl viele historische und systematische Ausführungen hier nur skizzenhaft dargelegt werden

konnten, hoffe ich, einige Fragen zur geometrischen Logik aufgeworfen und andere beantwortet

zu haben. Sicherlich sind die historischen Lücken immer noch unbefriedigend und sicherlich

haben die bisherigen Ausführungen keine Lösung zu dem in der Kantforschung stark

diskutierten Thema ‚Extensionalität/Intensionalität‘ geleistet, dessen Nennung ich hier

größtenteils zu umgehen versucht habe.71 Ich hoffe aber vor allem gezeigt zu haben, dass die

Annäherung aus der logischen Entwicklungsgeschichte (Kap. 2–3) eine neu begründete Antwort

(Kap. 4) auf die Frage gegeben hat, ob Kants Definition analytischer und synthetischer Urteile

nur metaphorisch bleibt.

Ich hatte in der Einleitung (Kap. 1) erklärt, mit einer von der Forschung bislang vernachlässigten

Logik eine Antwort auf die Frage liefern zu können, ob Quines Reformulierung und Übersetzung

der scheinbar nur metaphorischen Definition analytischer Urteile mit dem Begriff der Bedeutung

aus der Sicht einer kantischen Logik befriedigend gewesen wäre. Bei dieser kantischen Logik

handelt es sich um ein Vorlesungsmanuskript Arthur Schopenhauers, das erst 1913 im

Handschriftlichen Nachlaß von Franz Mockrauer ediert und herausgegeben wurde. Schopenhauer

erweiterte seine geometrische Logik aus § 9 der Welt als Wille und Vorstellung, die allgemein für ein eher

bildungsbürgerliches Publikum geschrieben war, für seine Berliner Studenten in den 1820er Jahren

um fast 200 Seiten. Damit ist Schopenhauers sog. ‚große Logik‘ die wohl ausführlichste geometrische

Logik bis zu John Venn, die darüber hinaus eine konsequente diagrammatische Interpretation der

kantischen Logik liefert.

Ich möchte aus dieser großen Logik hier besonders eine Textstelle hervorheben, in der viele für

Wittgenstein, Quine oder auch Davidson wichtige Themen wie bspw. das Übersetzungsproblem, die

Gebrauchstheorie der Sprache, das Kontextprinzip und die Bedeutungsfrage an einem logischen

Diagramm dargestellt werden.72 Ich bin der Meinung, dass bereits diese Textstelle aufzeigt, dass aus

der Sicht eines – ob ‚guten‘ oder ‚schlechten‘ – Kantianers wie Schopenhauer, Quines Versuch einer

71 Vgl. dazu Rico Hauswald: „Umfangslogik und analytisches Urteil bei Kant“, in: Kant-Studien 101 (2010), S. 283–308. 72 Vgl. die ausführliche Analyse in Jens Lemanski: „Schopenhauers Gebrauchstheorie der Bedeutung und das Kontextprinzip. Eine Parallele zu Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen“, im Ersch.

22

Übersetzung von Kants scheinbar metaphorischer Definition der analytischen Urteile mit einem

Begriff der Bedeutung nicht die Bildlichkeit ausspart, die Quine zu eliminieren gehofft hatte.

Während ich in Kapitel 4 gezeigt habe, dass – im Unterschied zu Quine – Kant seine Definition

analytischer Urteile nicht als Übertragung (Metapher), sondern als Vermittlung (Schema) zwischen

Begrifflichkeit und Sinnlichkeit versteht, werde ich hier abschließend zeigen, dass in einer kantischen

Logik auch Bedeutungstheorien schematisch verstanden werden.

Die Bedeutungsfrage an der entsprechenden schopenhauerschen Textstelle eröffnet sich ähnlich wie

bei Quine an der Frage, inwiefern die Bedeutung eines Wortes bei einer lexikalischen Übersetzung in

eine andere Sprache erhalten bleiben kann. Vorauszuschicken ist, dass Schopenhauer zwischen Wort

und Begriff unterscheidet: jenes ist das Zeichen, das die Semantik von diesem repräsentieren soll. Das

Bedeutungsproblem entsteht dadurch, dass es in manchen Sprachen gar keine Wörter für einen

Begriff aus einer anderen Sprache gibt, weshalb man sich dann gegebenenfalls eines Lehnwortes

bedient. Bei lexikalischen Übersetzungen ist es aber oftmals so, dass das zu übersetzende Wort einer

Sprache A durch viele Wörter der Sprache B repräsentiert wird, weil kein Begriff von B genau dem

Begriff von A entspricht. Vielmehr ‚kreisen‘ die Wörter der Begriffe von B den Begriff von A ein:

„bildlich: keine der Sphären die die Worte der zweiten Sprache bezeichnen liegt genau auf der Sphäre

des fremden Worts […]“.73 Schopenhauer illustriert nun gemäß seiner geometrischen Logik an einem

exemplarischen Begriff, dass das Bedeutungsproblem bei Übersetzungen ein ‚anschauliches Schema‘

impliziert:

„nehmen Sie das Wort honestum: seine Sphäre wird nie konzentrisch getroffen von der des Begriffs den irgend ein Teutsches Wort bezeichnet, wie etwa Tugendhaft, Ehrenvoll, anständig, ehrbar, geziemend, rühmlich: sie treffen alle nicht koncentrisch: sondern so:

“74

Bedeutung ist für Schopenhauer nichts anderes, als sich den Umfang eines Begriffes durch eine

geometrische ebene Figur vorzustellen, auf den die Metapher ‚Begriff‘ (conceptum) selbst hindeutet:

„er begreift mehrere Dinge: dies ist ohne Zweifel der Ursprung des Namen[s] Begriff“.75 Insofern sind

die „anschaulichen Schemata viel besser“ als jeder Beweis, da „sie eine ganz genaue Analogie zum

Umfang der Begriffe haben“.76 Diese Erkenntnis ist für Schopenhauer Grund genug, um

Bedeutungstheorien – wie im Neuaristotelismus des neunzehnten und der Analytischen Philosophie

des zwanzigsten Jahrhunderts77 – nicht aus einer Repräsentations-, sondern aus einer

Gebrauchstheorie der Sprache abzuleiten, die selbst wieder durch das Kontextprinzip gestützt wird:

73 Arthur Schopenhauer: Handschriftlicher Nachlaß. Philosophische Vorlesungen. Erste Hälfte. Theorie des Erkennens, hrsg. v. F. Mockrauer. München 1913, S. 245. 74 Ebd., S. 246. 75 Ebd., S. 257. 76 Ebd., S. 272. 77 Vgl. Jens Lemanski: „Die neuaristotelischen Ursprünge des Kontextprinzips und die Fortführung in Freges Begriffsschrift“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 67:4 (2013), S. 566–587.

23

„Darum lernt man nicht den wahren Werth der Wörter einer fremden Sprache durch das Lexikon, sondern erst ex usu, durch Lesen bei Alten Sprachen und durch Sprechen, Aufenthalt im Lande, bei neuen Sprachen: nämlich erst aus dem verschiednen Zusammenhang in dem man das Wort findet abstrahirt man sich dessen wahre Bedeutung, findet den Begriff aus, den das Wort bezeichnet.“78

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1 Aristoteles: Organon, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Katalog-Nr. 4211, Cod. Guelf. 24 Gud. graec., fol. 32r (<http://diglib.hab.de/mss/24-gud-graec/start.htm>). – Abb. 2 Aristoteles: De interpretatione, mit einem Kommentar von Michael Psellus, Terra d'Otranto, 13.–15. Jh., Magdalen College, P. Magdalen Gr. 15, fol. 1r ( <http://image.ox.ac.uk/show?collection=magdalen&manuscript=msgr15>). – Abb. 3 Ps.-Lull: „De Audito Kabbalistico seu Kabbala“, in: Raymundi Lulli Opera ea quae ad adinventam ab ipso artem universalem […], Argentinae 1598, S. 109. – Abb. 4 Bodelain Lib. MS Digby 23, fol. 54v; <http://image.ox.ac.uk/images/bodleian/msdigby23/f054av.jpg>. – Abb. 5 Jacobus Faber Stapulensis: Libri logicorum, ad archetypos recogniti […], Parisius 1503, fol. 169r. – Abb. 6 Vgl. Bartholomæo Keckermanno: Systema Logicæ. Sompendiosa methodo […], Hanoviae 1601, S. 91 (= III, I 3). – Abb. 7 Bartholomæo Keckermanno: Systema Logicæ. Tribus Libris Adornatvm, […], Hanoviae 1611, S. 426 (= III, I 6). – Abb. 8 G. W. Leibniz: “De formæ logicæ per

linearum ductus”, in: Louis Couturat (Hrsg.): Opuscules et fragments ine ́dits de Leibniz. Extraits des manuscrits de la Bibliothegue royale de Hanovre. Paris 1903, S. 292–321, hier: 294. – Abb. 9 Erhardus VVeigelus: Idea Matheseos universæ cum speciminibus Inteventionum Mathematicarum, Jenae 1669, Anhang. – Abb. 10 Iohannes Christianus Langius: Nvclevs Logicae Weisianae. […] illustrates […] per varias schematicas […] ad ocularem evidentiam deducta […]. Editus antehac Avctore Christiano Weisio, Gissae-Hassorum 1712, S. 250. – Abb. 11 J. H. Lambert: Neues Organon. oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrthum und Schein. 2 Bde. Leipzig 1764, hier: Bd. 1, S. 124 (= § 201). – Abb. 12 Leonard Euler: Lettres à une princesse d'Allemagne sur divers sujets de physique & de philosophie, 2 Bde. Saint Petersbourg 1768, hier: Bd. 2, S. 101 (= L. CIII). – Abb. 13 Ebd., S. 104 (= L. CIII). – Abb. 14 Johann Gebhard Ehrenreich Maaß: Grundriß der Logik, zum Gebrauche bei Vorlesungen, Halle 1793, Beiblatt S. III. – Abb. 15 Immanuel Kant, AA XVI, S. 726 (= Nr. 3235).

Datenbanken, Digitale Repositorien und Blogs

Early Modern Texts Online, (FernUniversität in Hagen), <http://emto.fernuni-

hagen.de/emto/>.

History of Euler-Venn-Diagrams, < http://blog.fernuni-hagen.de/euler-venn-diagrams/>.

Manuscripta Mediaevalia (Staatsbibliothek zu Berlin, Bildarchiv Foto Marburg, Bayerische

Staatsbibliothek München), <http://www.manuscripta-mediaevalia.de/>.

Ramon Llull Database, Centre de Documentació Ramon Llull (University of Barcelona),

<http://orbita.bib.ub.edu/llull/>.

Teuchos – Zentrum für Handschriften- und Textforschung (Universität Hamburg),

<http://beta.teuchos.uni-hamburg.de/>.

Bibliographie

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Aristoteles Stagaritae Peripateticorum: Principis Organon, Hrsg. v. Iulius Pacius. Morgia 1584.

78 Schopenhauer: Theorie des Erkennens, S. 246.

24

Bachmann, Carl Friedrich: System der Logik. Ein Handbuch zum Selbststudium, Leipzig 1928.

Baron, Margaret E.: “A Note on the Historical Development of Logic Diagrams. Leibniz, Euler

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Bernhard, Peter: Euler-Diagramme. Zur Morphologie einer Repräsentationsform in der Logik, Paderborn

2001.

Bernoulli, Joh[ann II.] (Hrsg.): Joh[ann] Heinrich Lamberts deutscher gelehrter Briefwechsel, Bd. 1. Berlin

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Bo ͤk, August Friedrich (Hrsg.): Sammlung der Schriften, welche den logischen Calcul Herrn Prof. Ploucquets

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