04_Harrison_20130613.doc 1
1
Preprint: Final version in Theologie und Naturwissenschaften, ed. Christian Tapp and Christof Breitsameter (Berlin: De Gruyter, 2014), pp. 39-68.
Peter Harrison
„Wissenschaft“1 und „Religion“: Das Konstruieren der Grenzen2
Im Laufe des letzten Jahrzehnts haben Wissenschaftshistoriker vermehrt Vorbehalte geäußert, ob ihr Untersuchungsgegenstand überhaupt viel von einer Geschichte hat. Während es üblich ist, die Ursprünge der neuzeitlichen Naturwissenschaft [science] im 17. Jahrhundert zu suchen, haben zuletzt viele Historiker dafür argumentiert, dass Naturwissenschaft – so wie sie gegenwärtig verstanden wird – nicht vor dem 19. Jahrhundert aufgetreten ist. Vertreter dieser Position verweisen auf die Tatsache, dass die Naturforscher vor dem 19. Jahrhundert davon ausgingen, sie würden „Naturphilosophie“ oder „Naturgeschichte“ betreiben – Disziplinen mit einer etwas anderen Ausrichtung als jene der Naturwissenschaft im 21. Jahrhundert. Diese Behauptung hat offensichtliche Auswirkungen für jene, die sich für die frühere Beziehung zwischen Naturwissenschaft und Religion interessieren, denn wenn sie wahr ist, kann es eine solche Beziehung nicht vor dem 19. Jahrhundert gegeben haben. Ähnliche historische Empfindlichkeiten treten im Bereich der Religionswissenschaften auf, wo eine zunehmende Zahl an Forschern vorgeschlagen hat, dass der Begriff „Religion“ ebenso wie der Begriff „Naturwissenschaft“ eine neuzeitliche Entwicklung ist. Bis zum 17. Jahrhundert hatten die Ausdrücke „Religion“ und der Plural „Religionen“ noch nicht ihre gegenwärtige Bedeutung. Die Auffassung, dass es „Religionen“ gibt, die sich durch eine bestimmte Menge an Überzeugungen und Praktiken unterscheiden und durch eine gemeinsame und allgemeine „Religion“ verbunden sind, ist tatsächlich ein Produkt der europäischen Aufklärung. Während dieser Periode hat die akute Notwendigkeit, verschiedene Arten religiösen Glaubens mittels eines Kriteriums unterscheiden zu können, zur Konstruktion von „Religionen“ als einer Menge propositionaler Überzeugungen geführt, die man unparteiisch vergleichen und beurteilen kann.
In diesem Aufsatz werde ich die historischen Umstände des Aufkommens der dualen Kategorien Wissenschaft [science] und Religion stellenweise detailliert dahingehend untersuchen, welche unmittelbare Relevanz sie für gegenwärtige Diskussionen der Relation von Wissenschaft und Religion haben. Wie wir sehen werden, verfälschen beide Kategorien zu einem gewissen Grad das, was sie abbilden wollen, und solche Verfälschungen übertragen sich dann auch unausweichlich auf die Diskussion ihrer Beziehung. Die Berücksichtigung des historisch bedingten Wesens von 1 Anm. d. Übers.: In diesem Aufsatz wird „science“ grundsätzlich mit „Wissenschaft“ übersetzt – abgesehen von der Einleitung und den wenigen Fällen, wo es explizit um das englische Wort „science“ geht. Das ist nicht in allen Fällen glücklich, doch in der Mehrzahl der Fälle die angemessenere Übersetzung. Es wurde für einen einheitlicheren Text darauf verzichtet, in einigen wenigen Fällen die Übersetzung „Naturwissenschaft“ zu wählen. Das Problem, dass „science“ seit dem 19. Jh. zunehmend im engeren Sinne von Naturwissenschaft gebraucht wird, ist gerade deshalb kein Verständnisproblem bei der Übersetzung mit „Wissenschaft“, weil es genau darum geht, inwieweit sich Wissenschaft entwickelt hat und wann der Kern der neuzeitlichen Naturwissenschaften erstmals ausformuliert worden ist. Harrison gebraucht die Anführungszeichen im Original primär, um das zu bezeichnen, was er eine Kategorie nennt, und nicht um sich auf das Wort „science“ zu beziehen. 2 Das ist eine überarbeitete und aktualisierte Version eines Aufsatzes mit dem Titel „‚Science’ and ‚Religion’: Constructing the Boundaries“, der zuerst in The Journal of Religion 86 (2006), 81–106, erschienen ist.
04_Harrison_20130613.doc 2
2
„Wissenschaft“ und „Religion“ erhellt eine Reihe von unausgesprochenen Voraussetzungen in einigen Mainstream-‐Diskussionen über Wissenschaft und Religion und zeigt die Notwendigkeit, die üblichen Zugänge zu diesem Thema ernsthaft zu überdenken.
1. Wissenschaftsgeschichte: Ein Fach ohne Gegenstand?
Bis vor kurzer Zeit war es relativ unumstritten, von einer ehrwürdigen Geschichte der Disziplin der Wissenschaft [science] auszugehen. Die klassischen Wissenschaftsgeschichten zum Beispiel beginnen üblicherweise mit der Wissenschaft des antiken Griechenlands. Tatsächlich geht George Sartons monumentale History of Science (1927–1947), die auf neun Bände angelegt war, nicht über das hellenistische Zeitalter hinaus, mit dem der dritte Band vorzeitig endet.3 Die meisten Zugänge konstatieren für das Mittelalter im Westen eine lange Auszeit, während im 17. Jahrhundert, gemäß der gängigen Ansicht, mit der Geburt der neuzeitlichen Wissenschaft plötzlich wieder Wissenschaft betrieben wird. Wenn die Stammväter der modernen Disziplin – üblicherweise werden sie als Galilei oder Newton identifiziert – auch aus einem viel späteren Jahrgang wären, würde jene Naturforscher, die in der Antike wissenschaftliche Pionierarbeit leisteten, dennoch als ihre Ahnen ansehen.
Im Laufe der letzten Jahrzehnte haben sich allerdings viele Historiker zurückhaltend über behauptete Kontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte geäußert. Diese Zurückhaltung wurde auf unterschiedliche Art und Weise ausgedrückt. Der geläufigste Einspruch ist der Einwand gegen die anachronistische Voraussetzung, die Untersuchung der Natur sei in den früheren historischen Epochen mehr oder weniger in der gleichen Richtung abgelaufen wie bei den neuzeitlichen Wissenschaftlern.4 Margaret Osler hat z.B. die unkritische Voraussetzung, „dass disziplinäre Grenzen im Verlauf der Geschichte statisch geblieben sind“5, in Frage gestellt. In ähnlicher Richtung hat Paolo Rossi den Wissenschaftshistorikern vorgeworfen, sich mit einem „eingebildeten Gegenstand“ beschäftigt zu haben, indem er argumentierte, dass „Wissenschaft“ erst kürzlich erfunden wurde.6 Der Wissenschaftstheoretiker David Hull bekräftigt diesen Punkt, indem er anmerkt, dass „Wissenschaft als historische Entität ebenso wenig ein Wesen hat, wie spezielle wissenschaftliche Theorien oder Forschungsprogramme. Die Arten von Aktivitäten, die Teil von Wissenschaft zu irgendeinem Zeitpunkt sind, sind extrem heterogen und sie verändern sich im Laufe der Zeit.“7 Andrew Cunningham, der die traditionelle Position wohl am lautesten kritisiert, fragt geradeheraus, ob die Untersuchung von Wissenschaft in der Vergangenheit in irgendeinem nachvollziehbaren Sinn Wissenschaft untersucht.8
Diese Behauptungen werden durch eine eindrucksvolle Reihe von Belegen bestätigt. Aber der vielleicht klarste Hinweis darauf, dass die Disziplin relativ neu ist, findet sich in der breiten Bedeutung, die der Ausdruck „science“ vor dem 19. Jahrhundert haben kann. Oft wird angenommen, dass Wissenschaft mit den antiken Griechen begonnen hat, aber – wie eine der wichtigsten Autoritäten über die Gedankenwelt dieser Epoche betont hat –: Wissenschaft ist eine neuzeitliche Kategorie, keine antike; es gibt im Altgriechischen keinen einzigen Ausdruck, der exakt
3 George Sarton, A History of Science, New York: Norton 1970. 4 Für einen Überblick über unterschiedliche Konzepte vom Studium der Natur in der westlichen Geschichte vgl. Wrestling with Nature: From Omens to Science, Hrsg. v. Peter Harrison, Ronald L. Numbers, Michael H. Shank, Chicago: University of Chicago Press 2011. 5 Margaret J. Osler, „Mixing Metaphors: Science and Religion or Natural Philosophy and Theology in Early Modern Europe“, in: History of Science 35 (1997), 91–113, hier 91. Übersetzungen englischer Zitate stammen, wenn nicht anders vermerkt, vom Übersetzer dieses Aufsatzes. 6 Paolo Rossi, The Dark Abyss of Time: The History of the Earth and the History of Nations from Hooke to Vico, Chicago: University of Chicago Press 1984, vii. 7 David Hull, Science as a Process, Chicago: University of Chicago Press 1988, 25. 8 Andrew Cunningham, „Getting the Game Right: Some Plain Words on the Identity and Invention of Science“, in: Studies in the History and Philosophy of Science 19 (1988), 365–389, hier 365.
04_Harrison_20130613.doc 3
3
bedeutungsgleich mit unserem „science“ ist.9 David Lindberg hat in seiner bahnbrechenden Studie zur antiken und mittelalterlichen Naturforschung auf ähnliche Weise betont, dass selbst dann, wenn wir uns auf eine Definition von neuzeitlicher Wissenschaft einigen könnten, eine Untersuchung von bloß jenen Aspekten klassischer und mittelalterlicher Disziplinen, „insoweit diese Praktiken und Überzeugungen moderner Wissenschaft entsprechen“, zu einem „verzerrtem Bild“ führen würde. Wir müssen uns daher davor hüten, „die Vergangenheit durch ein Raster zu betrachten, das nicht genau passt“.10 Auch wenn es nicht absurd ist, z.B. von Aristoteles anzunehmen, dass er „Wissenschaft“ betrieben hat, muss daher berücksichtigt werden, dass die so beschriebenen Aktivitäten nur sehr frei als Vorläufer von dem bezeichnet werden können, was wir heute als Wissenschaft betrachten würden. Das Gleiche gilt, wenn Philosophen im Mittelalter, weitestgehend an die aristotelischen Einteilungen anknüpfend, von den drei „spekulativen Wissenschaften“ sprechen: Metaphysik (auch als „heilige Wissenschaft“ oder Theologie bekannt), Mathematik und Naturphilosophie.11 Scholastische Diskussionen ob Theologie eine spekulative Wissenschaft ist oder nicht, bieten einen guten Indikator für die Tatsache, dass „Wissenschaft“ damals eher etwas anderes bedeutet hat als heute. Daraus ergibt sich, dass die Rede von einer Beziehung zwischen Theologie und Wissenschaft jene Kategorien ignoriert, mit denen die historischen Figuren dieser Epoche selbst gearbeitet haben. Noch einmal: Damit soll nicht geleugnet werden, dass es eine fruchtbare historische Untersuchung der Beziehung zwischen Naturphilosophie und Theologie in dieser Epoche geben kann. Aber die Tatsache, dass beide Disziplinen spekulative Wissenschaften waren, macht für unsere Untersuchung einen wichtigen Unterschied.
Gleiches gilt für jene Epoche, die üblicherweise mit der Geburt der neuzeitlichen Wissenschaft in Zusammenhang gebracht wird. Nicholas Jardine hat beobachtet, dass „keine Kategorie der Renaissance auch nur annähernd ‚the sciences‘ oder ‚the natural sciences‘ in unserem Sinne dieser Ausdrücke, entspricht“.12 In der frühen Neuzeit wurde die Natur in unterschiedlichen Disziplinen studiert, von denen die wichtigsten „Naturphilosophie“ und „Naturgeschichte“ waren.13 So hat z.B. Isaac Newton selbst angenommen, dass er Naturphilosophie betreibt, wie der Titel seines bekanntesten Werkes bezeugt: Philosophiae naturalis principia mathematica (1687) – „Die mathematischen Prinzipien der Naturphilosophie“. Kurioserweise hat man zu dieser Zeit angenommen, dass für das Label „Wissenschaft“ weder Naturgeschichte noch experimentelle Naturphilosophie exakt genug sind – erstere, weil es sich um ein historisches Unternehmen handelte; letztere, weil man annahm, dass sie bloß zu wahrscheinlichem, nicht aber zu beweisbarem Wissen führt.14 John Locke, einer der Großen des empirischen Zugangs zu Wissen, merkte daher an, dass 9 G. E. R. Lloyd, Early Greek Science, New York: Norton 1970, iv. 10 David C. Lindberg, The Beginnings of Western Science, Chicago: University of Chicago Press 1992, 2f. 11 Vgl. z.B. Boethius, De Trinitate 2; Thomas von Aquin, Expositio supra librum Boethii De Trinitate, q.5 a.1.; Aristoteles, Metaphysik 1025b–1026a; Platon, Politeia, 509–511. Für die Auffassung von „Naturphilosophie“ im Mittelalter und der Renaissance vgl. William Wallace, „Traditional Natural Philosophy“, in: The Cambridge History of Renaissance Philosophy, Hrsg. v. Charles Schmitt, Quentin Skinner, Cambridge: Cambridge University Press 1988, 201–235. Zu „scientia“, vgl. Stephen F. Brown, „Later Thirteenth Century Theology: ‚Scientia’ pushed to its limits“, in: “Scientia” und “Disciplina”: Wissenstheorie und Wissenschaftspraxis im 12. und 13. Jahrhundert, Hrsg. v. R. Berndt, M. Lutz-‐Bachmann, R. Stammberger, Berlin: Akademie-‐Verlag 2002, 249–260. 12 Nicholas Jardine, „Epistemology of the Sciences“, in: Cambridge History of Renaissance Philosophy, 685. Vgl. auch Jardine, „Demonstration, Dialectic, and Rhetoric in Galileo’s Dialogue“, in: The Shapes of Knowledge from the Renaissance to the Enlightenment, Hrsg. v. Donald R. Kelley, Richard H. Popkin, Dordrecht: Kluwer 1991, 101–121; Pierre Wagner (Hg.), Les Philosophes et la Science, Paris: Gallimard 2002, Einleitung. 13 Ebd., 384. Vgl. auch Cunningham, „How the Principia got its Name: Or, Taking Natural Philosophy Seriously“, in: History of Science 28 (1991), 381; Christoph Lüthy, „What to do with Seventeenth-‐Century Natural Philosophy? A Taxonomic Problem“, in: Perspectives on Science 8 (2000), 164–195. 14 Vgl. z.B. Francis Bacon, Advancement of Learning I.i.3, II.xvii.7, in: The Works of Francis Bacon, 14 Bde., hrsg. v. James Spedding, Robert Ellis, Douglas Heath, London: Longman 1857–1874, III, 267, 405; John Sergeant, The Method to Science, London 1696, sig. d1r. Vgl. auch Ernan McMullin, „Conceptions of Science in the Scientific Revolution“, in: Reappraisals of the Scientific Revolution, Hrsg. v. David C. Lindberg, Robert Westman,
04_Harrison_20130613.doc 4
4
„Naturphilosophie ist nicht in der Lage, zu einer Wissenschaft gemacht zu werden“.15 Ebensowenig waren Naturgeschichte und Naturphilosophie Synonyme für das, was wir heute Naturwissenschaft nennen. Sie implizieren eher ein unterschiedliches Verständnis von Naturerkenntnis: Sie waren von anderen Anliegen motiviert und wurden in andere Formen von Wissen und Überzeugungen auf eine Art integriert, die den neuzeitlichen Wissenschaften fremd ist. Die Bereiche dieser Untersuchungen waren nicht deckungsgleich mit denen von „Wissenschaft“, wie sie damals oder heute aufgefasst wird.
Nirgends springt der Unterschied zwischen diesen Disziplinen und neuzeitlicher Wissenschaft stärker ins Auge als bei jenen religiösen Elementen, die ein fester Bestandteil der Praxis frühneuzeitlicher Untersuchungen der Natur waren. Naturgeschichte und Naturphilosophie wurden regelmäßig auf Grund von religiösen Motiven betrieben, sie basierten auf religiösen Voraussetzungen und sie bekamen, sofern sie als legitime Form von Wissen angesehen wurden, ihre gesellschaftliche Billigung von der Religion. Das war besonders in England der Fall, wo die Naturgeschichte bis ins 19. Jahrhundert gemäß dem theologischen Prinzips des Designs strukturiert war. Die intimen Beziehungen zwischen dem Studium der Natur und religiösen Aspekten werden durch die Allgegenwart der frühneuzeitlichen Bilder von der Natur als Buch Gottes offenbar. Der Arzt Thomas Browne bietet uns eine für diesen Zugang typische Aussage: „Es gibt zwei Bücher, aus denen ich meine Gottheit sammle“, schrieb er, „neben dem von Gott geschriebenen, ein anderes seines Dieners Natur – dieses universelle und öffentliche Manuskript, das ausgebreitet vor den Augen aller liegt.“16 In eine ähnliche Kerbe schlägt Johannes Kepler, der Astronomen beschreibt als „Priester des höchsten Gottes im Bereich des Buches der Natur“.17 Auch der Naturalist John Johnston (1657) sprach vom „Buch der Natur, durch das wir die überragende Macht Gottes betrachten können“. „Gott“, fuhr er fort, „wird unter dem Titel der Naturgeschichte erfasst“.18 Am bekanntesten ist der Standpunkt von Robert Boyle, einer Lichtgestalt des 17. Jahrhunderts, der Naturphilosophie als „den ersten Akt er Religion, der in allen Religionen gleich verbindlich ist“ beschrieb. Boyle betrachtete seine eigenen Aktivitäten und die seiner Kollegen als „philosophischen Gottesdienst“.19 Einem Historiker zufolge beschäftigte sich Naturphilosophie in der frühen Neuzeit mit „Gottes Errungenschaften, Gottes Intentionen, Gottes Absichten, Gottes Botschaften an den Menschen“.20 Die Legitimität der Naturphilosophie oder ihre „Brauchbarkeit“, wie ihre Praktiker im 17. Jahrhundert
Cambridge: Cambridge University Press 1990, 27–92; Peter Harrison, „Natural History“, in: Wrestling with Nature, hrsg. v. Harrison, Numbers, Shank, 117–148; John Heilbron, „Natural Philosophy“, ebd. 173–199. 15 „Natural philosophy is not capable of being made a science“ – John Locke, An Essay concerning Human Understanding, Hrsg. v. A. C. Fraser, 2 Bde., New York 1959, IV.xii.10 (II, 349). Vgl. auch Essay IV.iii.26; IV.iii.29; Some Thoughts Concerning Education, 190, Hrsg. v. John W. Yolton, Jean S. Yolton, Oxford: Clarendon 1989, 244. 16 Thomas Browne, Religio Medici, 1.16, in: Religio Medici Hydriotaphia, and The Garden of Cyrus, hrsg. v. Robin Robbins, Oxford: Clarendon 1982, 16f. 17 Johannes Kepler, Gesammelte Werke (München: C. H. Beck, 1937–1945), VIII, 193. Zu dieser Metapher und inwieweit sich Naturalisten der frühen Neuzeit von Wissenschaftlern der Gegenwart unterscheiden vgl. Peter Harrison, „‚Priests of the Most High God, with Respect to the Book of Nature’: The Vocational Identity of the Early Modern Naturalist“ in: Reading God’s World, hrsg. v. Angus Menuge, St. Louis: Concordia 2005, 55–80. 18 John Johnston, Wonderful Things of Nature, London 1657, sig a3v. 19 Robert Boyle, Some Considerations touching the Usefulness of Experimental Natural Philosophy, in: The Works, hrsg. v. Thomas Birch, 6 Bde., Hildesheim: Olms 1966, II, 62f. 20 Cunningham, „The Identity and Invention of Science“, 384. Vgl. Peter Harrison, The Bible, Protestantism, and the Rise of Natural Science, Cambridge: Cambridge University Press 1998, 169–176, zur essentiell religiösen Natur dieser Disziplin; Brooke, Science and Religion: Some Historical Perspectives, Cambridge: Cambridge University Press 1991, 192–225; Osler, „Mixing Metaphors“; Andrew Cunningham, Perry Williams, „De-‐centring the big picture: The Origins of Modern Science and the Modern Origins of Science“, in: British Journal for the History of Science 26 (1993), 387–483.
04_Harrison_20130613.doc 5
5
sagen würden, wurde im englischen Kontext größtenteils aus dieser religiösen Ausrichtung abgeleitet.21
Die beiden Angelegenheiten, Gott und Natur, waren so untrennbar miteinander verbunden, dass es in die Irre führt, wenn man versucht, verschiedene Arten der Beziehung zwischen Wissenschaft und Religion im 17. und 18. Jahrhundert dingfest zu machen. „Wissenschaft“ und „Religion“ waren keine voneinander unabhängigen Dinge, die eine positive oder negative Beziehung zueinander haben könnten, und zu versuchen, solche Verbindungen zu bestimmen, hieße eine Menge von Interessen, die typisch für unsere Zeit sind, auf diese Zeit zurück zu projizieren. So bekundete der Historiker Charles Webster:
„Schlussfolgerungen über die Unabhängigkeit wissenschaftlicher Betätigung im siebzehnten Jahrhundert basieren nicht auf der vorurteilsfreien und vollständigen Auswertung der Belege, sondern werden eher von den Anforderungen der gegenwärtigen Ideologie diktiert, und sie beschreiben nicht die Beziehung, die tatsächlich bestand, sondern die Beziehung, von der man glaubt, sie hätte gemäß der heutigen Meinung über die Methodologie von Wissenschaft bestehen sollen.“22
Heute ist man sich einig, dass die Geburt der neuzeitlichen Disziplin im 19. Jahrhundert stattgefunden hat. Gemäß Simon Schaffer war es das 19. Jahrhundert, das „das Ende der Naturphilosophie und die Erfindung der neuzeitlichen Wissenschaft“ gesehen hat.23 Andrew Cunningham stimmt zu, dass die „Erfindung der Wissenschaft“ ein „historisches Ereignis der Periode von ca. 1780 und 1850“ war.24 Der Ausdruck „scientist“ wurde 1833 von William Whewell geprägt, und obwohl er bis zum Ende des Jahrhunderts nicht breit rezipiert wurde, deutet er auf eine wichtige neue Allianz von früher unterschiedenen Disziplinen hin. Während dieser Zeit entstanden auch die ersten professionellen Vereinigungen für Wissenschaftler.25 Die British Association for the Advancement of Science etwa wurde in dem frühen 1830ern gegründet. Die Gründung dieser
21 Vgl. z.B. Boyle, Usefulness of Natural Philosophy; Sprat, History of the Royal Society, Teil III; Joseph Glanvill, The Usefulness of Real Philosophy to Religion, in Essays on Several Important Subjects in Philosophy and Religion (London, 1676). Man kann sich darüber streiten, in welchem Ausmaß Naturgeschichte und Naturphilosophie intrinsisch religiös waren. Bei diesen Aktivitäten ging es „um Gott“, aber nicht nur um Gott. Zur aktuellen Diskussion von Cunninghams Position vgl. Peter Dear, „Religion, Science, and Natural Philosophy: Thoughts on Cunningham’s Thesis“, in: Studies in History and Philosophy of Science 32A (2001), 377–386; Andrew Cunningham, „A Response to Peter Dear’s ‚Religion, Science, and Philosophy’“, in: Studies in History and Philosophy of Science 32A (2001), 387–391; Peter Harrison, „Physico-‐theology and the Mixed Sciences: Theology and Early Modern Natural Philosophy“, in: Peter Anstey and John Schuster, Hgg., The Science of Nature in the Seventeenth Century, Dordrecht: Kluwer 2005. 22 Webster, The Great Instauration: Science, Medicine, and Reform, 1626–1660, London: Duckworth 1975, 494. Für ähnliche Beobachtungen über andere historische Epochen vgl. Wolfgang van den Daele, „The Social Construction of Science: Institutionalisation and Definition of Positive Science in the latter half of the Seventeenth Century“, in: E. Mendelsohn, P. Wengart und R. Whitley, Hrsg., The Social Production of Scientific Knowledge, Dordrecht: Reidel 1977, 39; Robert M. Young, Darwin’s Metaphor, Cambridge: Cambridge University Press 1985, 167; Amos Funkenstein, Theology and the Scientific Imagination, Princeton: Princeton University Press 1986, 3. 23 Simon Schaffer, „Scientific discoveries and the End of Natural Philosophy“, in: Social Studies of Science 16 (1986), 387–420, hier 413. Vgl. John Henry, The Scientific Revolution and the Origins of Modern Science, London: Palgrave Macmillan 2009, 4; Peter Dear, „What Is the History of Science the History Of? Early Modern Roots of the Ideology of Modern Science“, in: Isis 96 (2005), 390–406. 24 Cunningham, „Getting the Game Right“, 385. 25 Sydney Ross, „‚Scientist’: the Story of a Word“, in: Annals of Science 18 (1962), 65–86. Vgl. Le Robert, Dictionnaire historique de la langue française (1992), Art. „scientifique“; Pierre Wagner, Hg., Les Philosophes et la Science, Paris: Editions Gallimard), vgl. besonders die Einleitung und Kapitel 6; Helmut Holzhey, „Der Philosoph im 17. Jahrhundert“, in: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Reihe 17. Jahrhundert, hrsg. v. Jean-‐Pierre Schobinger, Basel 1993, I, 3–30 (13f.).
04_Harrison_20130613.doc 6
6
Vereinigungen brachte für praktizierende Wissenschaftler einen neuen Status und, einhergehend mit diesem Status, eine neue Menge an professionellen Verpflichtungen.26
Die Transformation von Naturgeschichte in wissenschaftliche „Biologie“ war ein wesentlicher Teil dieses Prozesses. Während die Naturgeschichte traditionell von den Klerikern dominiert wurde, erlangten die neuen wissenschaftlichen Disziplinen Biologie und Geologie schrittweise Unabhängigkeit von klerikalem Einfluss, während sie gleichzeitig eine Reihe von nicht-‐kirchlichen Autoritäten legitimierten.27 Das war explizit das Ziel von Thomas Huxley und seinen Kollegen im „X-‐Club“, die mit evangelikalem Eifer einen wissenschaftlichen Status der Naturgeschichte etablieren und dafür alle Frauen, Amateure und Pfarrer aus der Disziplin entfernen wollten. So sollte eine säkulare Wissenschaft ins Zentrum des kulturellen Lebens des viktorianischen Englands gerückt werden.28 Es diente den politischen Absichten dieser Gruppe, eine Rhetorik des Konflikts zwischen Theologie und Wissenschaft einzusetzen; ein Konflikt, der kein Unikum des 19. Jahrhunderts war, der aber angeblich die ständigen Beziehungen zwischen diesen beiden hypostasierten Entitäten charakterisiert hatte.
Weitestgehend als Konsequenz der Bemühungen jener, die versuchten, das politische Schicksal der „Wissenschaft“ zu fördern, ist die historische These eines dauerhaften Konflikts zwischen Religion und Wissenschaft aufgekommen – eine Sichtweise, die von den mittlerweile überholten historischen Darstellungen von Andrew Dickson White und John Draper verkörpert wurde. Ein guten Eindruck vom generellen Tenor dieser Werke kann man schon durch ihre Titel bekommen: A History of the Warfare of Science with Theology in Christendom (1896) und History of the Conflict between Religion and Science (1875).29 Das weiter bestehende Erbe dieser Gruppe ist jedoch die Fortschreibung des Mythos eines andauernden Kriegs zwischen Wissenschaft und Religion.
Damit soll nicht gesagt werden, dass die Grenzen der neuen Disziplin des 19. Jahrhunderts nie angegriffen wurden. Eine Reihe von viktorianischen Naturalisten waren anfangs zögerlich, ihre Aktivitäten mit etwas anderem als Philosophie, Ethik oder Theologie zu identifizieren. Herbert Spencer, der Evolutionist, der die Phrase „the survival of the fittest“ geprägt hat, hat die viktorianische Einteilung der Wissenschaften als künstlich betrachtet, insbesondere die Trennung von Wissenschaft und Kunst und von Wissenschaft und Alltagsverstand.30 Doch solche Bedenken haben sich nicht gehalten. Am Ende des Jahrhunderts gab eine nahezu durchgehende, wenn auch stillschweigende, Übereinstimmung darüber, dass der Ausdruck „science“, das Ästhetische, Ethische und Theologische ausschloss. Max Weber konnte schon 1922 die Aufgabe des Wissenschaftlers als eine eng spezialisierte beschreiben, in der die breiteren Fragen von Wert und Sinn keinen Platz finden können.31 Auch wenn bis ins 21. Jahrhundert immer noch unterschiedliche Ansichten darüber
26 Frank Turner, „The Victorian Conflict between Science and Religion: A Professional Dimension“, in: Isis 49 (1978), 356–376; Brooke, Science and Religion, 5, 50. 27 Turner, „The Victorian Conflict“; Brooke, Science and Religion, 5, 50; Patrick Armstrong, The English Parson-‐Naturalist: A Companionship between Science and Religion, Leominster: Gracewing 2000; David Livingstone, „Science and Religion: Toward a New Cartography“, in: Christian Scholar’s Review 26 (1997), 270–292. 28 Ruth Barton, „‚An Influential Set of Chaps’: The X-‐Club and Royal Society Politics, 1864-‐85“, in: British Journal for the History of Science 23 (1990), 53–81; T. W. Heyck, The Transformation of Intellectual Life in Victorian England, London: Croom Helm 1982. 29 A. D. White, A History of the Warfare of Science with Theology in Christendom, 2 Bde., New York 1896; John Draper, History of the Conflict between Religion and Science, London, 1875. 30 Herbert Spencer, „The Genesis of Science“, in: British Quarterly Review 20 (1854), 108–162, besonders 152–159; Richard Yeo, Defining Science: William Whewell, Natural Knowledge, and Public Debate in early Victorian Britain, Cambridge: Cambridge University Press 1993, 49f. 31 Max Weber, „Science as a Vocation“, in: Max Weber’s ‘Science as a Vocation’, hrsg. v. Peter Lassman, Irving Velody, London: Unwin 1989. Dieses Werk behandelt die Auswirkungen von Weber’s Konzeptoin „des Wissenschaftlers“. Vgl. auch William A. Durbin, „What Shall We Make of Henry Margenau? A Religion and Science Pioneer of the Twentieth Century“, in: Zygon 34 (1999), 167–193.
04_Harrison_20130613.doc 7
7
bestehen, welche Aktivitäten genau zur Rubrik „Wissenschaft“ gezählt werden sollten, gibt es also einen allgemeinen Konsens darüber, dass gewisse Dinge aus ihr ausgeschlossen werden müssen.
Wir haben den Vorteil, im Nachhinein auf diesen Prozess in den letzten 150 Jahren blicken zu können, und sehen so, dass eine bemerkenswerte Umkehrung stattgefunden hat. Während einstmals die Untersuchung der Natur einen aus ihrer intimen Beziehung zu den höherwertigen Disziplinen der Ethik und Theologie abgeleiteten Status hatte, haben im Verlauf des 20. Jahrhunderts zunehmend die letzteren beiden Disziplinen demütig Bezüge zur Wissenschaft gesucht, um etwas von deren Glanz abzukriegen; daher kommen auch Bioethik und die Wissenschaft-‐und-‐Religion-‐Thematik. Das 19. Jahrhundert erlebte die Übergabe des Zepters der Autorität von denen, die einer religiösen Berufung folgten, an die neue Art der Wissenschaftler. So beobachtete der Historiker A.W. Benn mit eigenen Augen: „Ein großer Teil der Verehrung, die einst Priestern und ihren Geschichten von einem unsichtbaren Universum entgegengebracht wurde, ist transformiert worden hin auf den Astronomen, den Geologen, den Physiker und den Ingenieur.“32 Zur gleichen Zeit wurden die „Wunder der Natur“ zunehmend als „Wunder der Wissenschaft“ angesehen. Die Verschmelzung dieser neuen Allianz an Disziplinen unter dem Banner „Wissenschaft“ ermöglichte es erstmals von einer Beziehung zwischen „Wissenschaft“ und „Religion“ zu sprechen.
Es war nahezu unvermeidbar, dass in den historischen Darstellungen der relevanten menschlichen Aktivitäten verschiedene Aspekte der neuen Beziehung aus dem 19. Jahrhundert auf die Vergangenheit zurückprojiziert wurden. Wie wir bereits festgestellt haben, verkörpern die Arbeiten von Draper und White diesen Zugang. Auch andere historische Entwicklungen beförderten den Mythos vom andauernden Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion. Das Aufkommen des Berufs des Wissenschaftlers passte gut zu progressivistischen Konzeptionen von Geschichte, wie jener des Positivisten Auguste Comte, der annahm, sein Zeitalter sei Zeuge des Übergangs der Menschheit vom „metaphysischem Stadium“ zur höheren wissenschaftlichen oder „positiven“ Ebene der Entwicklung. A.D. White stellt ein klassisches Beispiel dieser Ansicht von Geschichte dar, indem er sich auf „einen Konflikt zwischen zwei Epochen in der Entwicklung des menschlichen Denkens – der theologischen und der wissenschaftlichen“33 bezieht. Hinzukommt, dass die zunehmende Popularität der Geschichtstheorie der „großen Männer“ dazu geführt hat, vergangene Helden zu identifizieren, ihnen große Leistungen zuzurechnen und sie gegen unbeugsame Institutionen und dogmatische Traditionen in Stellung zu bringen. Der Untergang der Naturphilosophie und der Aufstieg der Wissenschaft waren gemäß Simon Schaffer „gekennzeichnet durch die Vergegenständlichung heroischer Entdeckungen und wertvoller Techniken“.34 „Galileo gegen die Inquisition“ ist das beliebteste Beispiel dieser Art. Diese Art, Wissenschaftsgeschichte zu präsentieren, ist auch heute jene, die die Phantasie der Öffentlichkeit am meisten beflügelt und natürlich sind nicht alle wissenschaftlichen Historiker immun gegen deren Anziehungskraft.35
Ausgehend von dieser Geschichte können wir nun zu einigen vorläufigen Schlussfolgerungen über die Beziehung “Wissenschaft-‐Religion“ kommen. Die vielleicht offensichtlichste Lektion, die aus dieser Analyse gezogen werden kann, ist, dass die Ansicht, es habe vor dem 19. Jahrhundert eine Beziehung von Wissenschaft und Religion gegeben, der Gefahr des Anachronismus ausgesetzt ist. Zu einem gewissen Grad ist dieser Tatsache von scharfsichtigeren Historikern Rechnung getragen worden. John Brooke hat gewarnt: „Genau das Unternehmen, ‚Wissenschaft‘ und die ‚Theologie‘ früherer Generationen abstrakt und im Blick darauf zu betrachten, wie sie aufeinander bezogen waren, kann zu künstlichen Ergebnissen führen.“36 Claude Welch spricht ebenfalls von „der 32 A. W. Benn, A History of English Rationalism in the Nineteenth Century, 2 Bde., London: Longmans 1906, I, 198. 33 White, Warfare between Religion and Science, I, ix. 34 Schaffer, „Scientific Discoveries and the End of Natural Philosophy“, 413. 35 Vgl. z.B. John Brooke, „Does the History of Science have a Future?“, in: British Journal for the History of Science 32 (1999), 1–20. 36 Brooke, „Science and Theology in the Enlightenment“, in: Religion and Science: History, Method and Dialogue, hrsg. v. W. Mark Richardson, Wesley J. Wildman, London: Routledge 1996, 23; vgl. Brooke, Science
04_Harrison_20130613.doc 8
8
Hypostasierung von ‚Wissenschaft‘ und ‚Religion‘“, die durch die Werke von Draper und White repräsentiert wird.37 Manchmal jedoch scheinen Kritiker an Draper und White davon auszugehen, dass deren einziger Fehler in einer negativen Charakterisierung der vergangenen Beziehung zwischen Wissenschaft und Religion lag, während das wahre Bild das einer positiven oder „komplexen“ Beziehung sei. Tatsächlich liegt ihr grundsätzlicherer Fehler jedoch in der Annahme, dass Wissenschaft und Religion Kategorien sind, die sich auf alle Epochen westlicher Geschichte, und zu einem gewissen Grad auf die historische Entwicklung nicht-‐westlicher Kulturen sinnvoll anwenden lassen.
Es sind nicht nur die Historiker, die die Lektionen ihrer eigenen Disziplin beherzigen sollten. Zu einem gewissen Grad nehmen die „künstlichen Resultate“, vor denen Brooke uns warnt, unter denen, die sich gegenwärtig mit dem Dialog von Wissenschaft und Religion beschäftigen, einen ebenso großen Raum ein, denn von einer allgemeinen Entität Wissenschaft zu sprechen, heißt auf eine enorme Simplifizierung festgelegt zu sein. Die Geschichte des Ausdrucks zeigt, dass „Wissenschaft“ eine menschliche Konstruktion oder Vergegenständlichung ist. Damit ist nicht notwendigerweise gesagt, dass wissenschaftliches Wissen sozial konstruiert wird: es ist eher die Kategorie „Wissenschaft“ – ein Weg, gewisse Formen des Wissens zu identifizieren und andere auszuschließen – die konstruiert ist. Diese historischen Behauptungen über den Ursprung der Disziplin sind daher relativ unabhängig von allen Behauptungen, die man für jene Aktivitäten vorbringen könnte, die sie beschreibt. Eine unvermeidbare Konsequenz der Konstruktion der Kategorie ist jedoch, dass Wissenschaft umstrittenen Inhalt und in Frage gestellte Grenzen hat.38 Die bleibenden Fragen über die Einheit der Wissenschaft, die sich entweder durch das Bewusstsein der Geschichten der Wissenschaften oder durch heutige Analysen der Ziele und Methoden unterschiedlichster Wissenschaften ergeben, legen nahe, dass es keine normative Beziehung zwischen Wissenschaft und Religion als solche geben kann, denn die Wissenschaften sind vielfältig und verschieden. Wie Fraser Watts festgestellt hat: „Es gibt viele verschiedene Wissenschaften und jede hat ihre eigene Geschichte, ihre eigenen Methoden und Annahmen. Jede hat auch eine unterschiedliche Beziehung zu Religion.“39
Nun kann es scheinen, als wäre am besten, die Beziehung zwischen Religion und verschiedenen Wissenschaften jeweils für sich zu diskutieren, doch auch dieses Vorgehen hat seine Schwierigkeiten. Offensichtliche Übereinstimmungen zwischen Wissenschaft und Religion sind in einem gewissen Grad eine Funktion davon, wo die relevanten Grenzen gezogen werden. Der Wissenschaftstheoretiker David Hull benutzt im Hinblick auf die unterschiedlichen Arten von Disziplinen, die zu den Wissenschaften gezählt wurden, eine bekannte biologische Metapher: „In den meisten Fällen existiert innerhalb einer Art mehr Variation als zwischen nah verwandten Arten.“40 Mit anderen Worten: Es könnte sein, dass es zwischen den Wissenschaften größere Unterschiede gibt, als zwischen einer einzelnen Wissenschaft und einer nicht-‐wissenschaftlichen Disziplin (z.B. der Theologie). Dass die gegenwärtige Kosmologie und Quantenphysik Wasser auf den Mühlen der
and Religion, 6–11. Vgl. auch David Wilson, „On the Importance of Eliminating Science and Religion from the History of Science and Religion: The Cases of Oliver Lodge, J. H. Jeans and A. S. Eddington“, in: Facets of Faith and Science, hrsg. v. Jiste van der Meer, New York: University Press of America 1996, 27–47. 37 Claude Welch, „Dispelling some Myths about the Split between Theology and Science in the Nineteenth Century“, in: Ebd., 29–40, hier 29. 38 The Disunity of Science, hrsg. v. Peter Galison, David Stump, Stanford: Stanford University Press 1996; R. G. A. Dolby, Uncertain Knowledge, Cambridge: Cambridge University Press 1996, Teil II; Joseph Margolis, Science without Unity, Oxford: Blackwell 1987; S. Jasonoff, „Contested Boundaries in Policy Relevant Science“, in: Social Studies of Science 17 (1987), 195–230; Charles Taylor, Defining Science: A Rhetoric of Demarkation, Madison: University of Wisconsin Press 1996. Für ein energisches Argument gegen die Auffassung, dass es eine einheitliche Methode in der Wissenschaft gibt, vgl. Paul Feyerabend, Against Method: Outline of an Anarchistic Theory of Knowledge, London: Verso 1975. 39 Fraser Watts, „Are Science and Religion in Conflict?“, in: Zygon, 32 (1997), 125–139. 40 David Hull, Science as a Process, 512f.
04_Harrison_20130613.doc 9
9
Theologen ist, sagt weniger über eine allgemeine Beziehung zwischen Wissenschaft und Religion aus, als über die Nähe dieser beiden Wissenschaften zur Theologie. Tatsächlich ist Paul Feyerabends Behauptung, dass „Wissenschaft dem Mythos viel näher steht, als ein wissenschaftlicher Philosoph bereit ist, zuzugeben“41, nirgends zutreffender als im Fall der Quantenkosmologie. Der Hinweis auf solche Nähe sagt insofern mehr über die Grenzen der betreffenden Disziplinen aus, als irgendetwas über eine tatsächliche substantielle Beziehung zwischen unabhängigen Entitäten. Hier wäre auf jeden Fall noch etwas zu sagen, aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, was das genau ist.
Um das Argument bis hierher zusammenzufassen: Während die Untersuchung der Natur im Westen einen langen Stammbaum hat, ist „Wissenschaft“, wie wir sie gegenwärtig auffassen, eine Kategorie, die ihre charakteristische Form während des 19. Jahrhunderts angenommen hat. Von einer Beziehung zwischen Wissenschaft und Religion vor dieser Zeit zu sprechen, erfordert eine Reihe von sorgfältigen Näherbestimmungen. Es kommt hinzu, dass es in einem gewissen Ausmaß historischen Zufällen zugeschrieben werden kann, was „Wissenschaft“ einschließt und ausschließt. Daher ist jede Beziehung zwischen „Wissenschaft“ und anderen menschlichen Einrichtungen von den Umständen ihres Ursprungs bedingt. Wie wir sehen werden, ist das insbesondere dann der Fall, wenn der andere Teil der Beziehung, in diesem Fall „Religion“, wiederum selbst als intellektuelle Konstruktion angesehen werden kann.
2. „Religion“, Theologie, und „die Religionen“
Während einer Reihe von Wissenschaftshistorikern die Bedingungen bewusst sind, die die neuzeitliche Auffassung von „Wissenschaft“ geprägt haben, sind sich nur wenige über die Behauptung einiger Religionsgeschichtler im Klaren, dass der neuzeitliche Begriff „Religion“ lediglich 150 Jahre zuvor aufgekommen ist. Wurde „Wissenschaft“ im 19. Jahrhundert erfunden, so kann man sagen, dass „Religion“ im Verlauf der europäischen Aufklärung erfunden worden ist, und zwar im Gefolge der post-‐reformatorischen Zersplitterung des Christentums. Wilfried Cantwell Smith, einer der ersten, die unsere Aufmerksamkeit auf die Künstlichkeit der Kategorie „Religion“ gelenkt haben, schreibt:
„Dann entwickelte sich im Westen der Begriff ‚Religion’. Seine Entstehung hat eine langfristige Entwicklung beinhaltet, die wir einen Prozess der Vergegenständlichung nennen könnten: eine Religion mental zu einem Ding zu machen und so schrittweise dazu zu kommen, sie als einen objektiven systematischen Gegenstand wahrzunehmen.“42
Wie Smith’s Pionierarbeit gezeigt hat, ist der religiöse Schwerpunkt des Mittelalters im Westen Glaube und Frömmigkeit gewesen – eine innere Dynamik des Herzens. In den religiösen Kontroversen der frühen Neuzeit hat man jedoch die Aufmerksamkeit zunehmend auf diese externen objektiven Aspekte des Lebens der Gläubigen gerichtet, da es eine immer drängendere Frage wurde, wie man jene entscheidenden Unterschiede, von denen die ewige Erlösung abhängt, identifizieren kann.
Eine Folge davon war, dass spezifische Bekenntnisse und rituelle Handlungen zum Wesen der neuen Vorstellung „Religion“ wurden. Plötzlich hatte wahre Religion weniger mit aufrichtiger Hingabe zu tun, sondern damit, ob die Propositionen, denen man seine intellektuelle Zustimmung gab, wahr waren. Im Gefolge des sich entwickelnden Geists der Aufklärung wurde Vernunft der ultimative Maßstab wahrer Religion, wodurch sich die objektive, rationalistische Ausrichtung der neuen Entität bestätigte. Seit diese These erstmals aufgekommen ist, haben eine Reihe von Historikern ihre wesentlichen Implikationen weiter herausgearbeitet.43
41 Feyerabend, Against Method, 295. 42 Wilfred Cantwell Smith, The Meaning and End of Religion, London: SPCK 1978, 51. 43 Vgl. z.B., Michel Despland, La religion en occident: évolution des idées et du vécu, Montréal: Fides 1979; Ernst Feil, Religio: Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs vom Frühchristentum bis zur Reformation, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1986, und „From the Classical Religio to the Modern Religion: Elements of
04_Harrison_20130613.doc 10
10
Wenn die Erfindung von Wissenschaft im 19. Jahrhundert erstmals eine Beziehung zwischen Wissenschaft und Religion möglich gemacht hat, hat die Geburt von „Religion“ und „die Religionen“ während der Aufklärung eine vergleichende Tätigkeit anderer Art möglich gemacht – den Vergleich von einer „Religion“ mit einer anderen.44 Wiederum wurde der Vernunft eine Rolle beim „unparteilichen“ Vergleich von Religionen gegeben. Sie sollte theoretisch ein Urteil über den relativen Nutzen der miteinander konkurrierenden Bekenntnisse und Kulte erlauben. Die vergleichende Religionswissenschaft ist daher aus der Objektivierung der Glaubensrichtungen der frühen Neuzeit hervorgegangen, wobei der Prozess schnell auf die anderen drei „Religionen“ – „Mohammedanismus“, „die jüdische Religion“ und die Fang-‐sie-‐alle-‐ein-‐Kategorie „Heidentum“ – ausgeweitet wurde, von denen jede in unterschiedlichem Ausmaß als dem Christentum unterlegen konstruiert wurde. In all diesen Fällen wurden der religiöse Glaube und die Lebensweise ganzer Völker auf eine Menge an Dogmen reduziert, und zum wesentlichen Merkmal einer Religion wurde das, was ihre Anhänger glaubten. „Religion“ wurde so zum konzeptuellen Raster, durch das das Wissen exotischer Völker in die westliche Vorstellungswelt hineingefiltert wurde.
In der Epoche der Kolonisierung, die auf die Entdeckungsreisen folgte, wurden immer mehr empirische Daten aus fernen Ländern gesammelt, was spezielle Arten von „Heidentum“ erzeugt hat. Im Laufe der Zeit verwuchsen sich die „östlichen Religionen“ zu minderwertigen unvollständigen Versionen des Christentums, mit ihren unvollkommenen Gottheiten, ihren fehlerhaften Schriften, ihren betrügerischen Wundern und ihren abergläubischen Kulten. Diese Entitäten hatten ihre Geburt in den Vorstellungen westlicher Denker, für die entfernte und exotische Orte ein Hintergrund wurden, auf den die provinziellen europäischen Konfessionsstreitigkeiten projiziert werden konnten.45 Entscheidend dafür war die Annahme, dass sich die anderen „Religionen“ in dem Sinne gegenseitig ausschließen, wie die unterschiedlichen Formen des Christentums. Kurz gesagt wurden die Weltreligionen durch eine Projektion der Uneinigkeit des Christentums auf die Welt geschaffen. Ihre Erfindung in der westlichen Vorstellungswelt wird durch die Ausdrücke, die ihre Geburt anzeigen, festgehalten: „Boudhism“ taucht zuerst 1821 auf, „Hindooism“ 1829, „Taouism“ 1829 und „Confucianism“ 1862.46
Wenn das 19. Jahrhundert die Entstehung der östlichen Religionen als vergegenständlichte Entitäten beobachtet hat, repräsentiert es schließlich auch eine weitere Phase in der Entwicklung von „Religion“. Denn wenn dies die Epoche ist, aus der „Wissenschaft“ letztlich als eine Disziplin hervorging, die frei von religiösen und theologischen Angelegenheiten ist, dann wurde logischerweise „Religion“ nun auch als ein Unternehmen verstanden, das das Wissenschaftliche
a Transformation between 1550 and 1650“, in: Religion in History: The Word, the Idea, the Reality, hrsg. v. Michel Despland, Gérard Vallée, Waterloo: Wilfrid Laurier University 1992, 31–43; Peter Harrison, „Religion“ and the Religions in the English Enlightenment, Cambridge: Cambridge University Press 1990; John Bossy, „Some Elementary Forms of Durkheim“, in: Past and Present 95 (1982), 3–18. Vgl. auch Russell McCutcheon, „The Category ‚Religion’ in Recent Publications: A Critical Survey“, in: Nvmen 42 (1995), 285–301; Nicholas Lash, The Beginning and End of ‚Religion’, Cambridge: Cambridge University Press 1996. 44 Harrison, “Religion” and the Religions in the English Enlightenment; Guy G. Stroumsa, A New Science: The Discovery of Religion in the Age of Reason, Cambridge: Harvard University Press 2010. 45 Wie Edward Said über den Prozess der „Orientalisierung“ schreibt: „The imaginative examination of things Oriental was based more or less exclusively upon a sovereign Western consciousness out of whose unchallenged centrality an Oriental world emerged, first according to general ideas about who or what was an Oriental, then according to a detailed logic governed not simply by empirical reality but by a battery of desires, repressions, investments, and projections“, in: Orientalism, London: Routledge 1978, 8. Vgl. auch Talal Asad, Genealogies of Religion: Discipline and Reasons of Power in Christianity and Islam, Baltimore: John Hopkins University Press 1996; Richard King, Orientalism and Religion: Postcolonial Theory, India, and „The Mystic East“, London: Routledge 1999. 46 Smith, Meaning and End of Religion, 61. Für detaillierte Studien zur Formulierung dieser Traditionen, vgl. Philip C. Almond, The British Discovery of Buddhism, Cambridge: Cambridge University Press 1988; P. J. Marshall (Hg.), The British Discovery of Hinduism in the Eighteenth Century, Cambridge: Cambridge University Press 1970; Tomoko Masuzawa, The Invention of World Religions, Chicago: University of Chicago Press 2005.
04_Harrison_20130613.doc 11
11
ausschloss. Die Geburt von „Wissenschaft“ war Teil der fortlaufenden Geschichte der Vorstellung von „Religion“.
Die Konsequenzen dieser insgesamt nicht allzu glücklichen historischen Prozesse sind folgende. Erstens gibt es eine Reihe von Bruchstellen, die deutlich zeigen, wie fragil die dualen Kategorien „Religion“ und die „Religionen“ sind. So ist es kein Wunder, dass die meisten Wissenschaftler bemerkenswerte Schwierigkeiten haben, eine exakte Definition von Religion vorzulegen.47 Die Unfähigkeit, zu einem Konsens darüber zu kommen, was „Religion“ wirklich ist oder was als „eine Religion“ zählt, kann vernünftigerweise als Beleg für die problematische Natur der Kategorie genommen werden. Außerdem können wir auch einige Kategorien aufzählen, die unterschiedliche Traditionen umgreifen und trotzdem eine gewisse Einheit behalten. „Mystizismus“ z.B. beschreibt Anhänger verschiedener Glaubensrichtungen, und man könnte sagen, dass einige christliche, jüdische, islamische und buddhistische Mystiker mehr miteinander gemein haben als mit anderen, die sich zur gleichen „Religion“ zählen.48 Die Kategorie „Fundamentalist“ scheint ebenso einen Kernbestand an Haltungen zu bestimmen, der vor den niedlichen Grenzen „der Religionen“ keinen Halt macht. In der Tat kann der Ausdruck „Fundamentalist“ mit einer gewissen Berechtigung auch auf die extremeren Vertreter des wissenschaftlichen Naturalismus angewandt werden.
Zweitens ist das philosophische Problem des religiösen Pluralismus – dass die Weltreligionen konkurrierende Wahrheitsansprüche haben und deshalb nicht alle wahr sein können – zu einem gewissen Grad aus der Kategorie „Religion“ hervorgegangen. Die konfligierenden Wahrheitsansprüche der Weltreligionen ergeben sich nicht aus der Art, wie einzelne religiöse Menschen ihren Glauben praktizieren, sondern aus der Klassifizierung dessen, was sie tun, wenn sie eine „Religion“ praktizieren. Durch die Klassifizierung von Überzeugungen als Lehren und indem man ihnen jenen Status aufzwingt, den sie im nach-‐aufgeklärten Christentum hätten, werden Konflikte erzeugt. Die Konsequenzen dieses Prozesses sind in den sogenannten östlichen Religionen am offensichtlichsten. Die gängige westliche Annahme, dass es drei Religionen in China gibt – Konfuzianismus, Taoismus und Buddhismus – zwingt den Chinesen Kategorien auf, auf die sie nicht von alleine gekommen wären. Viele Chinesen kombinieren Aspekte dieser drei Traditionen, ohne dass sich für sie irgendeine Art von Verwirrung ergibt. Das macht die Auffassung unsinnig, dass Konfuzianismus, Taoismus und Buddhismus abgesonderte und sich gegenseitig ausschließende „Religionen“ sind. Diese Verwirrung muss auf die Kategorie zurückgeführt werden. Wie Cantwell Smith in Bezug auf eine dieser Traditionen feststellt, ist die Frage, ob Konfuzianismus eine Religion ist, eine Frage, die der Westen nie beantworten und der Chinese nie stellen konnte.49
Drittens und im Anschluss an den vorhergehenden Punkt, werden die Kategorien häufig von denen zurückgewiesen, die sie zu charakterisieren vorgeben. Der neo-‐orthodoxe protestantische Theologe Karl Barth hat darauf bestanden, dass das Christentum keine Religion ist. Dietrich Bonhoeffer plädierte für ein „religionsloses Christentum“50. Das Judentum auf eine Religion zu reduzieren „ist ein Verrat an seiner wahren Natur“, erklärt Milton Steinberg. Anhänger anderer sogenannter Religionen sind genauso unnachgiebig: „Buddhismus ist keine Religion“; „Islam ist nicht bloß eine ‚Religion’“; „Es ist kaum möglich zu sagen, ob Hinduismus eine Religion ist oder nicht“.51
47 Vgl. z.B. Thomas Lawson und Robert McCauley, Rethinking Religion, Cambridge: Cambridge University Press 1990; J. Samuel Preuss, Explaining Religion: Criticism and Theory from Bodin to Freud, New Haven: Yale University Press 1987; Stewart Guthrie, „Religion: What is it?“, in: Journal of the Scientific Study of Religion 35 (1996), 412–420, und „Buddhism and the Definition of Religion“, in: Journal for the Scientific Study of Religion 32 (1993), 1–17; Brian K. Smith, „Exorcising the Transcendent: Strategies for Defining Hinduism and Buddhism“, in: History of Religions 27 (1987), 32–55. 48 Zur Geschichte der Kategorie „Mystizismus“ vgl. Leigh Eric Schmidt, „The Making of Modern ‚Mysticism’“, in: Journal of the American Academy of Religion 71 (2003), 273–302. 49 Smith, Meaning and End of Religion, 69. 50 Karl Barth, Kirchliche Dogmatik, I/2, Zürich: EVZ 1938, 313f; Dietrich Bonhoeffer, Letters and Papers from Prison, New York: Macmillan 1962, 161–169, 194–200, 226. 51 Die Beispiele werden zitiert bei: Smith, Meaning and End of Religion, 125f.
04_Harrison_20130613.doc 12
12
Während zugestanden werden muss, dass die Begriffe „Religion” und „die Religionen“ sich am Ort ihres Ursprungs, dem Westen, in bemerkenswerter Weise eingebürgert haben, kann man dagegenhalten, dass diese Zustimmung, insbesondere bei jenen, die sich selbst als religiös verstehen, zu einer Verarmung des religiösen Lebens geführt hat.
Wenn wir die Geschichte des Christentums als Beispiel nehmen, kann man einen gewissen Eindruck davon gewinnen, was in der frühen Neuzeit durch die Transformation von „christlichem Glauben“ zu „der christlichen Religion“ an die Tradition verloren worden ist. Der erste Ausdruck hatte auf einen Glauben Bezug genommen, der Christus-‐ähnlich war, der zweite bezeichnete eine Religion – eine Menge an Überzeugungen –, die Christus angeblich gepredigt hatte. Das christliche Leben besteht in dieser neuen Konzeption weniger in der Nachahmung Christi, als vielmehr in der intellektuellen Zustimmung zu den Lehren, die er gepredigt hat. Das Konzept der Offenbarung hat einen ähnlichen Wandel erfahren. Während einst angenommen wurde, dass Gott sich in Christus selbst offenbart hat, offenbarte er nun Lehren.52 Repräsentativ für diese Veränderungen ist die Behauptung von Nathaniel Crouch, einem vergleichenden Religionswissenschaflter des 17. Jahrhunderts, dass „dass das Christentum die Lehre von der Erlösung ist, dem Menschen übergeben durch Jesus Christus.“53 Daher liegt der Schwerpunkt in den Konfessionsstreitigkeiten der frühen Neuzeit nicht auf dem besten Weg ein Christus-‐gemäßes Leben zu führen, sondern auf der Identifizierung jener spezifischen Lehren, von denen angenommen wird, Christus und seine rechtmäßigen Erben hätten sie verkündigt. Das ist die Ansicht, gemäß der das Christentum eine Religion ist, und zwar die paradigmatische Religion, die das Modell dafür darstellt, wie die „anderen Religion“ konstruiert werden müssen.
Während viele Christen sich heutzutage so verstehen, dass sie einer „Religion“ im neuzeitlichen Sinne angehören, und das bestimmt auch von vielen Außenstehenden so wahrgenommen wird, sind gegen diese Kategorisierung auch Einwände vorgebracht worden. Die Vorbehalte von Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer gegenüber „Religion“ sind bereits angemerkt worden. Raimundo Panikkar hat ähnliche Beobachtungen gemacht und seine Sehnsucht nach vorneuzeitlicher Frömmigkeit zum Ausdruck gebracht: „Der christliche Glaube muss sich der ‚christlichen Religion’ entledigen.“54 Panikkar verweist auf wichtige Unterscheidungen zwischen Christenheit (eine Zivilisation), Christentum (eine Religion) und Christlichkeit (eine persönliche Religiosität): Ein Christ zu sein, so argumentiert er, muss nicht notwendigerweise bedeuten, zu „der christlichen Religion“ zu gehören. Entsprechend
„kann ein Christ zu sein, auch so verstanden werden, dass ein persönlicher Glaube bekannt wird und man eine Christus-‐ähnliche Haltung einnimmt, insofern Christus das zentrale Symbol des eigenen Lebens repräsentiert. Ich nenne das Christlichkeit. Christlichkeit unterscheidet sich von der Christenheit, da sich die Christenheit vom Christentum ableitet.“55
Während wir unseren Schwerpunkt bisher auf die subtilen Veränderungen gelegt haben, die das Aufkommen des Begriffs Religion für das christliche Selbstverständnis gehabt hat, gibt es hinreichende Belege dafür, ähnliche Verzerrungen in anderen Traditionen zu vermuten. „Religion“ hat wie „Wissenschaft“ eine Geschichte, und diese Geschichte hat essentielle Auswirkungen auf Behauptungen über ihre Beziehungen mit anderen menschlichen Aktivitäten und Formen des Wissens. In der vorliegenden historischen Analyse wird nicht nahegelegt, dass lehrmäßige Bindungen keine legitime Rolle im religiösen Leben spielen oder dass religiöse Überzeugungen als non-‐kognitiv angesehen werden sollten. Eher soll betont werden, dass der Begriff „Religion“ zu einer Erhöhung des Stellenwerts propositionaler Behauptungen führt, und dass der damit einhergehende Vergleich 52 Zu diesen Transformationen, vgl. Harrison, ‘Religion’ and the Religions, 19–28. 53 Nathaniel Crouch, The Strange and Prodigious Religions, Customs, and Manners of Sundry Nations, London 1683, 27f. 54 Nathaniel Crouch, The Strange and Prodigious Religions, Customs, and Manners of Sundry Nations, London 1683, 27f. 55 Panikkar, „The Jordan, the Tiber, and the Ganges“, in: The Myth of Christian Uniqueness, London: SCM 1988, 104–105.
04_Harrison_20130613.doc 13
13
von „Religionen“ oder „Religion“ und „Wissenschaft“ ebenso die Idee fördert, dass diese Unternehmungen einen wesentlichen Kern haben, der ausschließlich mit ihrem kognitiven Gehalt identifiziert werden kann.
Eine umfassende Analyse, was in anderen Traditionen geschehen ist, muss notwendigerweise Gegenstand anderer Untersuchungen sein, aber eine kurze Anmerkung zu einigen kürzlich erschienenen Arbeiten zu Buddhismus und Wissenschaft ist möglich. Der Fall des Buddhismus passt besonders gut zu dem Argument, das in diesem Aufsatz dargestellt wird, da die westliche Konstruktion eines idealen schriftlichen Buddhismus in der viktorianischen Epoche mit der Erfindung der neuzeitlichen Wissenschaft zusammenfällt.56 Es ist vielleicht nicht überraschend, dass eine Reihe von einflussreichen westlichen Apologeten des Buddhismus, diese neu „entdeckte“ Religion als mit der westlichen Wissenschaft besonders kompatibel präsentiert hat. Im Lichte der Kontroversen, die sich durch die Evolutionstheorie ergeben haben, wurde behauptet, der Buddhismus stimme mit den neuesten wissenschaftlichen Entwicklung besser überein als das Christentum. Helena Blavatsky, die Anführerin der theosophischen Bewegung, hat kühn behauptet, der Buddhismus sei wissenschaftlich und philosophisch reiner als jede andere der religiösen Alternativen. Ebenso hat der amerikanische Befürworter eines „wissenschaftlichen Buddhismus“, Paul Carus, die wissenschaftlichen Errungenschaften des Buddhismus hervorgehoben und behauptet, er sei „eine Religion, die keine andere Offenbarung anerkennt, außer der Wahrheit, die durch Wissenschaft bewiesen werden kann.“57 Diese Behauptungen stimmen auch mit einigen asiatischen Buddhisten überein, besonders mit Anagarika Dharmapala, der die Begriffe der Evolution, der Naturgesetze und von Ursache und Wirkung mit grundlegenden buddhistischen Lehren verbunden hat. In einem gewissen Sinn hat Dharmapala sich hier auf eine Art inversen Orientalismus berufen oder, um es mit James Ketelaar zu sagen, auf einen „strategischen Okzidentialismus“. Wie David McMahan vorgeschlagen hat, haben beide Seiten – die westlichen Aneigner und die einheimischen Apologeten – „Buddhismus in wissenschaftlichen rationalistischen Ausdrücken als Antwort auf die unterschiedlichen Krisen in ihren verschiedenen kulturellen Kontexten konstruiert“. Im einen Fall war dies die viktorianische Glaubenskrise, im anderen Fall eine Krise, die durch den Kolonialismus ausgelöst wurde.58 Letztlich wurden selbst bei diesen Versuchen, einen Buddhismus zu fördert, der auf einzigartige Weise mit neuzeitlichen Wissenschaft übereinstimmt – und insofern Vorteile gegenüber dem Christentum genießt –, dem Buddhismus jene tiefgehenden Strukturen der protestantischen Religion aufgezwungen, die eine so bedeutende Rolle bei der Erschaffung des Begriffs „Religion“ gespielt haben.59 Am Fall des Buddhismus ist vor allem interessant, dass seine Rekonstruktion in wissenschaftlicher Form nicht nur von außen aufgezwungen wurde, sondern durch manche auch als apologetische Strategie von innen angeeignet wurde. In diesem letzteren Aspekt gibt es eine interessante Übereinstimmung zwischen „wissenschaftlichem Buddhismus“ und „wissenschaftlichem Christentum“, die beide zu selbstverschuldeten Kategorien geworden sind. 60
56 Zur Entdeckung, oder Konstruktion, des neuzeitlichen Buddhismus, vgl. Almond, British Discovery of Buddhism, besonders 24–28. Ich stehe bei diesem Abschnitt in der Schuld von Almonds Buch und David L. McMahon, „Modernity and the Early Discourse of Scientific Buddhism“, in: Journal of the American Academy of Religion 72 (2004), 897–933. 57 Paul Carus, Buddhism and its Christian Critics, Chicago: Open Court 1897, 114, zitiert in McMahon, „Early Discourse of Scientific Buddhism“, 917. Siehe auch Almond, British Discovery of Buddhism, 84–93. 58 McMahan, „Discourse of Scientific Buddhism“, 908, 924f. 59 Stephen Prothero, The White Buddhist: The Asian Odyssey of Henry Steel Olcott, Bloomington: Indiana University Press 1996, 7–9; MacMahan, „Discourse of Scientific Buddhism“, 924f. Vgl. auch Donald S. Lopez, Jr., A Modern Buddhist Bible: Essential Readings from East and West, Boston: Beacon 2002, Einleitung. 60 Zur Frage des konstruierten Wesens des Buddhismus im Vergleich zur Wissenschaft, vgl. besonders Donald S. Lopez Jr., Buddhism and Science: A guide for the perplexed, Chicago: University of Chicago Press 2009, und Peter Harrison, „A Scientific Buddhism?“, in: Zygon 45 (2010), 861–870.
04_Harrison_20130613.doc 14
14
3. „Wissenschaft“ und „Religion“ in Beziehung setzen
Die Geschichte der kulturellen Konstruktion von beiden Kategorien in der Paarbildung „Wissenschaft und Religion“ hat eine tiefgehende Bedeutung für jeden gegenwärtigen Versuch, die vermeintlichen Beziehungen zwischen ihnen zu erkennen. Während sich einige Diskussionsteilnehmer, wie wir gesehen haben, auf die vergegenständlichte Natur eines der Ausdrücke der Relation – „Wissenschaft“ – eingelassen haben, wurde fast immer angenommen, dass der andere Ausdruck der Relation relativ unproblematisch ist. Nun sind wir in der Lage, zu sehen, dass das nicht der Fall ist. Eine mögliche Antwort auf die Geschichte von „Religion“ wäre es, die Aufmerksamkeit auf die Beziehung einzelner religiöser Traditionen zur Wissenschaft (oder, genauer gesagt, zu einzelnen Wissenschaften) zu richten. Das würde zu einem gewissen Ausmaß der irreführenden Ansicht begegnen, es gäbe ein allgemeines Etwas – „Religion“ –, das von all diesen Traditionen, die wir mit dem Label „Religion“ versehen, geteilt wird. Zu einem gewissen Grad ist diese Option schon im Spiel, denn die große Mehrheit der Arbeiten, die das Verhältnis von Wissenschaft und Religion zum Gegenstand haben, beschäftigen sich mit Wissenschaft und christlicher Theologie. Angesichts der Natur der Kategorie „Religion“ mag das als eine vielversprechende Entwicklung erscheinen. Allerdings kann es dazu führen, dass lediglich die Verzerrung der allgemeineren Kategorie aufrecht erhalten wird, denn es wird oft angenommen, dass „die christliche Religion“ problemlos mit christlicher Theologie identifiziert werden kann und dass eine Betrachtung von christlicher Theologie und Wissenschaft Licht auf die allgemeinere Frage nach Wissenschaft und Religion werfen wird.
Zum Beispiel hat Arthur Peacocke in einem einflussreichen Werk zur Beziehung zwischen Wissenschaft und Theologie behauptet, die Beziehung des Christentums zur Wissenschaft „hat eine besondere Bedeutung für alle Formen von religiöser Erfahrung und Kulturen“.61 In seiner Rechtfertigung dieser Behauptung bezieht sich Peacocke auf die einzigartige Geschichte des Christentums:
Der zweite Grund, warum die christliche Religion als paradigmatischer Fall einer Religion, die in dem neuen kulturellen Klima operiert, das mit dem Aufstieg der Wissenschaft zusammenhängt, besondere Aufmerksamkeit verdient, ist, dass die christliche Religion den Fehdehandschuh annehmen musste, der durch das geworfen wurde, was man grob ‚Aufklärung’ nennt. Unter den großen Weltreligionen war es nahezu allein damit, in seiner eigenen Kultur zum Gegenstand kritischer, historischer, linguistischer und literarischer Analysen seiner heiligen Schriften und ihrer Quellen zu werden; seine Überzeugungen sind skeptischer philosophischer Kritik ausgesetzt worden; seine Haltungen psychologischer Untersuchung; und seine Strukturen soziologischen Untersuchungen.62
Man kann dem zustimmen, dass „die christliche Religion“ in der Tat ein „paradigmatischer Fall“ ist, so dass eine Explikation ihrer Beziehung zur Wissenschaft „besondere Aufmerksamkeit“ verdient. Doch sind wir nun in einer Position, in der wie sehen können, warum und in welchem Sinne das wahr ist. Das Christentum ist die paradigmatische Religion, weil die „anderen Religionen“ nach ihrem Bild konstruiert wurden. Hinzukommt, dass Peacocks Darstellung, wie der christliche Glaube Gegenstand verschiedenster Formen rationaler Untersuchungen war, nicht die Geschichte der christlichen Religion in ihrer Beziehung zu einer kritischen Kultur beschreibt. Tatsächlich ist dieser Prozess eher das Entstehen „der christlichen Religion“, die als eine Menge von propositionalen Wahrheiten wahrgenommen wird, die den Grundsätzen rationaler Forschung unterworfen werden können. „Die christliche Religion“ wird daher eher durch diese Interaktionen konstituiert, als dass sie einer der beiden Pole [co-‐respondents] in einer Beziehung ist. Es war genau die Entwicklung der Überlegenheit der rationalen Autorität in der Aufklärung, die die Idee der Religion und ihren Archetyp, „die christliche Religion“, hervorgebracht hat.63
61 Arthur Peacocke, Theology for a Scientific Age, erweiterte Auflage, London: SCM 1993, 3. 62 Ebd., 4f. 63 Variationen dieses Schrittes sind in der Literatur zu Wissenschaft und Religion nicht ungewöhnlich. John Polkinghorne beginnt seine Diskussion in Belief in God in an Age of Science indem er anmerkt, dass unterschiedliche religiöse Gruppierungen unterschiedliche Antworten auf die Frage haben, was es bedeutet in Gott zu glauben. Dabei scheinen polytheistische und atheistische Religionen ausgeschlossen zu werden. Das
04_Harrison_20130613.doc 15
15
Das Problem der Beziehung des Christentums zur Wissenschaft ist daher ein Problem, das in großem Maße von den in Frage stehenden Kategorien kreiert wurde. Auf ziemlich ähnliche Weise, wie die objektivierenden und logozentrischen Tendenzen der Aufklärung die „anderen Religionen“ produziert haben – was zur gleichen Zeit die schwierige Frage ihrer Relation zueinander erschaffen hat –, ist auch „Wissenschaft und Religion“ eine Beziehung, die sich nur auf Grund der verzerrenden Zersplitterung von Mengen menschlicher Aktivitäten ergeben hat. Mit der Erschaffung jeder Kategorie ist eine unwillkommene Abstraktion von der Wirklichkeit hinzugekommen. Der Historiker Andrew Cunningham hat dafür in Hinblick auf die Wissenschaft argumentiert:
„Der gewöhnliche Fokus unserer Aufmerksamkeit als Wissenschaftshistoriker hat nicht primär auf den Menschen in der Praxis dieser menschlichen Aktivität ‚Wissenschaft’ gelegen, sondern auf der einen oder anderen Abstraktion einer anderen Art – abstrahiert nämlich von der menschlichen Aktivität, die sie ausmacht.“64
Diese Beobachtung ist nicht nur auch für die Kategorie „Religion“ wahr, sondern ihre Konsequenzen für die Aktivitäten, die diese Kategorie repräsentieren sollte, sind in diesem Fall sogar noch vernichtender als im Fall von „Wissenschaft“. Der unreflektierte Gebrauch von „Religion“ diente daher dazu, das Aufklärungsideal von der „christlichen Religion“ als einem primär intellektuellen Unternehmen zu erhalten, und (was eine weniger offensichtliche Konsequenz ist) auch dazu, die privilegierte Stellung des Christentums unter den Weltreligionen zu erhalten. Beide Tendenzen sind zu einem großen Ausmaß unbewusste und vielleicht sogar unerwünschte Konsequenzen eines unkritischen Gebrauchs der Kategorien.
Kommen wir noch einmal auf Arthur Peacockes Theology of a Scientific Age zurück.65 Hier finden wir das frühe Dementi, seine Schlussfolgerungen seien keinesfalls „so gedacht, dass impliziert wird, dass andere nicht-‐christliche Religionen kein Weg zu der Wirklichkeit sein können, die, wie ich argumentieren werde, Gott ist“.66 Nichtsdestotrotz erscheint diese Aussage seltsam im Lichte einger anderer in dem Buch diskutierter Themen: Gottes Interaktion mit der Welt, Gottes Kommunikation mit der Menschheit, Die Lange Suche und Jesus von Nazareth,67 Göttliches Wesen und Menschwerdung. Wenn man zeigen kann, dass die Wissenschaft der Gegenwart kompatibel ist mit der Existenz eines persönlichen Gottes, der mit der Welt interagiert, mit der Menschheit kommuniziert und in der Person Jesu Christi Fleisch geworden ist – welche Konsequenzen hat das für den Wahrheitsanspruch des atheistischen Buddhismus, des polytheistischen Hinduismus und den strikten Monotheismus von Judentum und Islam? Pace Peacocke, je enger man die Verbindung zwischen Wissenschaft und christlichen Überzeugungen macht, umso mehr scheint man auf den christlichen Exklusivismus festgelegt zu sein – die Position, gemäß der der Wahrheitsanspruch des Christentums wahr ist, während jene der anderen Religionen falsch sind. Daher ist eine der
Kapitel „Science and Religion Compared“, in dem die Christologie diskutiert wird, geht unmerklich in eine Diskussion von „science and [Christian] theology“ über (1998, 45–47). Philip Clayton hält fest, dass Gott-‐Welt-‐Verhältnis „is a question shared by numerous religious traditions, each of which turns to a different set of scriptures for its answer“, wobei er wiederum die paradigmatische Natur von monotheistischen „religions of the book“ impliziert (God and Contemporary Science, Grand Rapids: Eerdmans 1997). Zugegeben, an anderer Stelle scheint Clayton etwas mehr Feingefühl für die Probleme zu haben, die sich durch religiösen Pluralismus ergeben (vgl. z.B. x, 58, 66 Fn. 12, 155), aber diese Schwierigkeiten werden letztlich bei Seite gelassen. Keith Ward hat sich auch dem Problem des religiösen Pluralismus zugewandt, aber seine sorgfältige Diskussion von „other religions“ wird nicht wirklich in seinen Zugang zur Relation von Christentum und Wissenschaft miteinbezogen. Vgl. God, Faith, and the New Millenium: Christian Belief in an Age of Science, Oxford: Oneworld 1997, 10f., 152–171. 64 Cunningham, „The Identity and Invention of Science“, 372. 65 Ich komme nicht wieder auf Peacockes Werk zurück, weil ich denke, dass es besonders einfach zu kritisieren ist. Im Gegenteil, es ist eines der Besten dieses Genres. Nichtsdestotrotz sind es die Voraussetzungen dieses Genres, die ich untersuchen will. 66 Peacocke, Theology for a Scientific Age, 3. 67 Hier handelt es sich um eine Aufzählung von Kapitelüberschriften aus Peacockes Werk, wobei die „Lange Suche“, sich die Suche nach dem historischen Jesus bezieht. (A.d.Ü.)
04_Harrison_20130613.doc 16
16
unvorhergesehenen Konsequenzen dieses gängigen Ansatzes, dass Wissenschaft, wenn sie gewisse religiöse Überzeugungen stützen kann, andere notwendigerweise ausschließt.
Ich sage hier nicht, dass der christliche Exklusivismus notwendigerweise falsch ist. Es ist nicht offensichtlich, dass der religiöse Exklusivismus philosophisch oder moralisch unangemessen ist, auch wenn manche in dieser Richtung argumentiert haben. Trotzdem kann es sein, dass der Wunsch, nach einer Annäherung von Christentum und Wissenschaft zu suchen, die Aussicht auf einen sinnvollen Dialog von Christentum und anderen Glaubensrichtungen verringert. Das Argument einer engen Übereinstimmung zwischen der neuzeitlichen Wissenschaft und der christlichen Religion führt das Ideal der Aufklärung, ein rationales Christentum sei die Religion, die den Angriffen von Vernunft und Naturphilosophie am besten widerstehen kann, fort. Die Berufung auf die Vernunft, daran sollten wir uns erinnern, diente nicht primär dazu, christliche Überzeugungen gegen die Angriffe von Atheismus und Naturphilosophie zu verteidigen, sondern dazu, die Wahrheit des Christentums, bzw. einer seiner konfessionellen Formen, gegenüber konkurrierenden Formen der Religiosität nachzuweisen. Man kann der Ansicht sein, dass diese vergangenen Siege des Christentums nur für den hohen Preis einer Verzerrung des christlichen Glaubens und des religiösen Lebens jener, die ungewollt den anderen „Religionen“ zugeordnet wurden, errungen wurden.
Diejenigen, die einen rationalen und unparteiischen Zugang zu Wissenschaft und christlichem Glauben erlangen wollen, stehen vor nahezu exakt demselben Dielamma wie jene, die während der Aufklärung „die Religionen“ objektiv verglichen, nur um, nahezu ausnahmslos, zu dem Schluss zu kommen, dass das Christentum überlegen ist. Wie ich vorgeschlagen habe, sind für diese Situation größtenteils die in Frage stehenden Kategorien verantwortlich, aber diese Kategorien repräsentieren wiederum sich widersprechende Festlegungen – einerseits auf die Wahrheit einer einzelnen Tradition, andererseits auf eine Menge rationaler, kritischer Verfahren, die einen unbefangenen Vergleich der Alternativen erlauben. Ohne Neutralität ist der Vergleich sinnlos. Aber ist eine solche neutrale Objektivität überhaupt mit religiöser Überzeugung vereinbar? Die Aufklärung hat zur Verwandlung des christlichen Glaubens in „die christliche Religion“ geführt – einer Menge an Dogmen, die rationaler Kritik widerstehen konnten – und in ihrem Gefolge zur Verwandlung der „anderen Religionen“, die ähnlich aufgefasst wurden, wenn sie auch weniger dazu in der Lage waren, den Angriffen der Vernunft zu widerstehen, als das Original.
Die Schwierigkeit mit einer solchen Sichtweise von Religion ist, dass sie wirksam jene persönlichen und affektiven Verpflichtungen ausblendet, von denen man vernünftigerweise argumentieren könnte, dass sie wichtig für Glaubensgemeinschaften sind. Sie reduziert Glaube auf Theologie; sie verwandelt Frömmigkeit in „eine Religion“. Schon während diese Verwandlungen ausgeführt wurden, ging diese Marginalisierung von Frömmigkeit und Glauben nicht ohne Protest durch. Das zeigt sich am Aufkommen des Pietismus im frühen 18. Jahrhundert und der noch früheren berühmten Unterscheidung von Blaise Pascal zwischen dem Gott des Glaubens, „Abrahams, Isaaks und Jakobs“, und „dem Gott der Philosophen“ – einer bewohnt den Bereich des Glaubens, der andere den von Vernunft und „Religion“.68 Es ist, so vermute ich, der Gott der Philosophen, der in vielen Diskussion der Beziehung von Wissenschaft und Religion vorkommt – der Gott, der die notwendige Ursache für die Existenz des Universums ist, der die erschaffene Ordnung und ihre mathematischen Gesetze erhält, der, wenn es nötig sein sollte, in Quantenunsicherheiten arbeitet, kurz gesagt, der Gott, zu dessen Glauben Vernunft führt. Dieser Gott ist auch der Gott der „Religion“
68 Blaise Pascal, Gedanken über die Religion und einige andere Themen, Stuttgart: Reclam 1997, „Memorial“, S. 484. Søren Kierkegaard wies auf ein ähnliches Dilemma hin, mit dem ein Befürworter einer objektiven und rationalen Religion konfrontiert ist: „The inquiring subject must be in one or the other of two situations. Either he is in faith convinced of the truth of Christianity, and in faith assured of his own relationship to it; in which case he cannot be infinitely interested in all the rest, since faith itself is the infinite interest in Christianity, and since every other interest may readily come to constitute a temptation. Or the inquirer is, on the other hand, not in an attitude of faith, but objectively in an attitude of contemplation, and hence not infinitely interested in the determination of the question“, Concluding Unscientific Postscript, übersetzt v. David Swenson und Walter Lowrie, Princeton: Princeton University Press 1968, 23.
04_Harrison_20130613.doc 17
17
und damit auch der von „Wissenschaft und Religion“: Ob er mit dem Gott des Glaubens vereinbar ist, bleibt eine offene Frage.
Letztlich kann der Historiker keine Antworten auf normative Fragen dieser Art geben. Es ist gut vorstellbar, dass die Arten konzeptueller Transformationen, wie sie in diesem Aufsatz kurz dargestellt wurden, von einigen religiösen Menschen willkommen geheißen werden. Ein wissenschaftlich ausgerichtetes Christentum könnte von jenen, deren christliche Hingabe nicht ernsthaft in Frage steht, gut als positive Entwicklung angesehen werden. Es kann auch nicht ignoriert werden, dass z.B. einige Vertreter eines „wissenschaftlichen Buddhismus“ eine tadellose buddhistische Glaubwürdigkeit haben – nicht zuletzt hat der Dalai Lama die wissenschaftliche Rechtfertigung von Aspekten der buddhistischen Praxis hervorgehoben. Was Historiker aber schon tun können, ist, Daten zur Verfügung zu stellen, die diejenigen mit religiösen Verpflichtungen bei der Bewertung verschiedener historischer Übergänge und ihrer Auswirkungen hilfreich finden könnten. Es ist zuguterletzt wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, dass diese Übergänge schon stattgefunden haben. Die anschließende Frage, wie gut diese Entwicklungen – besonders das Aufkommen der neuzeitlichen Begriffe „Wissenschaft“ und „Religion“ – mit der langen Geschichte dieser Traditionen zusammenpassen, sollte eine Frage von ziemlicher Wichtigkeit für jene sein, die sich mit diesen Traditionen identifizieren.
4. Schlussfolgerung: Welche Zukunft gibt es für „Wissenschaft und Religion“?
Was lässt sich im Lichte all dieser Überlegungen über die zukünftige Aussicht für Diskussionen über Wissenschaft und Religion sagen? Lassen Sie mich zum Abschluss einige kurze und vorläufige Vorschläge machen. Erstens muss zugestanden werden, dass Abstraktionen verschiedenster Art eine notwendige Bedingung für Wissen sind. Das gilt auch für „Wissenschaft“ und „Religion“. Während diese Kategorien wie viele andere die Tendenz haben, ein Eigenleben zu entwickeln und die Wirklichkeit, die sie abbilden sollen, zu verdunkeln, haben sie nichtsdestotrotz ihren Platz im Lexikon des 20. Jahrhunderts so sicher, dass es nutzlos wäre, zu versuchen, vollkommen auf sie zu verzichten. Was mittlerweile jedoch klar sein sollte, ist, dass jene, die ganz auf diese Ausdrücke bauen, darauf achten müssen, sie mit einem erneuerten Feingefühl für ihre Grenzen und die ihnen eigenen Verzerrungen, zu denen sie unausweichlich Anlass geben, anzuwenden. Religiöse Dogmen machen nicht die Gesamtheit des religiösen Lebens aus, noch verkörpern wissenschaftliche Theorien alles, was zum wissenschaftlichen Unternehmen dazugehört. Es sollte auch klar sein, dass wenn die konstruierte Natur der Kategorien erst einmal mit berücksichtigt wird, sich wechselseitige Beziehungen zwischen Wissenschaft und Religion als Produkt der Kategorien selbst herausstellen könnten. Ob Wissenschaft und Religion in Konflikt stehen, unabhängige Entitäten sind, sich im Dialog befinden oder wesentlich miteinander zusammenhängen, wird davon bestimmt sein, wo genau jemand die Grenzen innerhalb der breiten Rahmenbedingungen zieht, die durch die Konstruktionen gegeben sind.69 In der Tat ist die Tatsache, dass jede dieser Positionen auch an diesem Punkt der Geschichte noch Anhänger anziehen kann, ein Hinweis auf die künstliche Natur beider Termini der Relation.
Zweitens folgt direkt aus dem ersten Punkt, dass es wichtig ist, ein Augenmerk auf die politischen Dimensionen der Kategorien und ihrer Relationen zu legen. Wie es John Bowker kurz und bündig ausgedrückt hat, hat die Frage von Wissenschaft und Religion weniger mit Propositionen als vielmehr mit Macht zu tun.70 In diesem Licht betrachtet, könnten einige gut gemeinte Versuche, den Dialog zwischen Wissenschaft und Religion zu fördern, die kulturelle Autorität der Wissenschaften
69 Ich baue hier auf Ian Barbour’s bekannte Typologie zur Kategorisierung der Relation von Wissenschaft und Religion auf: Konflikt, Unabhängigkeit, Dialog, und Integration. Religion and Science: Historical and Contemporary Issues, San Francisco: Harper 1997, Kapitel 4. 70 John Bowker, „Science and Religion: Contest or Confirmation?“, in: Science meets Faith, hrsg. v. Fraser Watts, London: SPCK 1998.
04_Harrison_20130613.doc 18
18
stillschweigend bekräftigen, christliche und andere Glaubenstraditionen verzerren und die problematischen Aspekte der Kategorie „Religion“ fortführen. Manchmal ist das, was als Interaktion zwischen Religion und Wissenschaft durchgeht, eine versteckte Berufung auf das Prestige der Wissenschaften samt der dazugehörigen Gefahr eines Verlusts von dem, was religiöse Traditionen ausmacht. Symptomatisch für diese Tendenz sind die kürzlich gemachten Studien über christliche Überzeugungen und Praktiken, die vorgeben zu zeigen, dass Vergebung gut für die Gesundheit ist, dass Kirchenbesuch zu einem langen Leben führt oder dass Bittgebete medizinische Auswirkungen haben. Solche Studien sind auf einem gewissen Level ganz harmlos, aber die allgemeine, wenn auch unausgesprochene, Annahme, dass diese empirische Forschung bedeutsame religiöse Implikationen hat, ergibt sich aus einer tiefreichenden Verwirrung. Auch der Buddhismus hat unter gelegentlichen Tendenzen gelitten, seine epistemische Autorität an wissenschaftliche Experten abzugeben. Ein Wachstumsgebiet für empirischer Studien des Buddhismus ist die Untersuchung von Meditationstechniken mittels Magnet-‐Resonanz-‐Tomographie gewesen. Die Ergebnisse solcher Studien – die z.B. berichten, dass es in den „Lustzentren“ der Gehirne von meditierenden Mönchen hohe Aktivität gibt – werden oft als Bestätigung der buddhistischen Lehren präsentiert; als ob religiöse Praktiken und Überzeugungen vorläufig bleiben würden, bis sie den Stempel der empirischen Verifikation erhalten.71
Ein damit zusammenhängender Fall einer unziemlichen Kollision von Wissenschaft und Religion betrifft die religiösen und moralischen Absegnungen der biotechnologischen „Fortschritte“. Bioethik, sei es unter ihrem religiösen oder ihrem säkularen Deckmantel, ist daher regelmäßig (wenn auch nicht ausnahmslos) eine Quelle der Legimitation für die heutige Medizin gewesen, indem sie zur Fortschreibung fragwürdiger Modelle wissenschaftlicher Medizin und zur Medikalisierung der westlichen Gesellschaft im Namen des wissenschaftlichen Fortschritts beigetragen hat.72 Die Lektion darin liegt in der Notwendigkeit einer kritischen Distanz, die zwischen Theologie und Wissenschaft aufrechterhalten werden muss. Das ist keine Verteidigung eines Unabhängigkeits-‐Modells der Art, unterschiedliche Sphären zu postulieren, in denen Theologie und Wissenschaft ohne die Angst vor gegenseitiger Beeinflussung arbeiten können. Noch viel weniger ist es eine Kritik all deren, die versuchen, moralische und religiöse Wegweiser in einer Arena aufzustellen, in der eine solche Anleitung wohl mehr nötig ist als jemals zuvor. Der Vorschlag ist eher, dass es für die Theologie unmöglich sein wird, eine kritische – oder religiös ausgedrückt: eine „prophetische“ – Rolle in einer Gesellschaft auszuüben, wenn sie nicht eine angemessene Distanz gegenüber den dominanten kulturellen Kräften beibehält. Das ist eine Unabhängigkeit der Theologie von der Wissenschaft, die Raum für legitimen Konflikt lässt.
Drittens sollte klar sein, dass Diskussionen über die Relation von Wissenschaft und Religion nicht unabhängig von der Thematik des religiösen Pluralismus diskutiert werden können. Die gängige Annahme des 19. Jahrhunderts, dass alle „Religionen“ irgendeine gemeinsames Wesen teilen oder verschiedene Manifestationen einiger zentraler Wahrheiten darstellen, ist in unserer heutigen Zeit zunehmend schwerer beizubehalten. Der Dialog zwischen Wissenschaft und Religion kann nicht auf Basis der Annahme geführt werden, dass der religiöse Pol der Diskussion eine Art von allgemeiner natürlicher Religion ist, die im Hinblick auf den spezifischeren Gehalt verschiedener Glaubensrichtungen im Wesentlichen neutral ist. Behauptungen, die über die Kompatibilität von wissenschaftlichen Behauptungen mit den religiösen Dogmen einer Tradition gemacht werden, haben Implikationen für den Wahrheitsanspruch der anderen Traditionen. Jene, die auf Diskussionen der Beziehung von Wissenschaft und Religion festgelegt sind, können diese Dimension nicht ignorieren. Es ist verführerisch zu glauben, dass die Lösung für dieses Dilemma darin liegt, die 71 Vgl. z.B. Visions of Compassion: Western Scientists and Tibetan Buddhists examine Human Nature, hrsg. v. Richard Davidson und Anne Harrington, Oxford: Oxford University Press 2001; Cary Barbour, „The Science of Meditation“, in: Psychology Today 05/2001; Daniel Goleman, „Taming Destructive Emotions“, in: Tricycle: The Buddhist Review 47 (2003), 75–78; McMahan, „Discourse of Scientific Buddhism“, 927f. 72 Stanley Hauerwas, „Styles of Religious Reflection in Medical Ethics“, in: Religion and Medical Ethics: Looking Back, Looking Forward, hrsg. v. Allen Verhey, Grand Rapids: Eerdmans 1996.
04_Harrison_20130613.doc 19
19
Beziehung von jeder dieser Traditionen zu den Wissenschaften zu untersuchen. Die historischen Überlegungen dieses Aufsatzes schlagen hingegen vor, dass „Wissenschaft und Religion“ primär ein westliches Problem ist, denn dort sind die entsprechenden Kategorien entstanden und am wirkmächtigsten. Bei „den östlichen Religionen“ beispielsweise dringt die Thematik von Wissenschaft und Religion nur in dem Ausmaß ein, dass die Leute im Osten überlegen, ob sie sich „einer Religion“ zuordnen. Aus dieser relativen Indifferenz von Leuten aus anderen Traditionen lässt sich etwas für die Thematik von Wissenschaft und Religion lernen – und ich beziehe mich hier auf jene, die gegenüber dem westlichen Konzept von „Religion“ und der kulturellen Autorität von Wissenschaft immun geblieben sind. Es könnte besser sein, diese Gleichgültigkeit zu übernehmen, anstatt eine Menge von Problemen zu exportieren, die zu einem großen Ausmaß Schöpfungen der Kategorien des westlichen Wissens sind. Was den Zuwachs von wissenschaftsbezogenen Themen in Traditionen wie Islam und Buddhismus betrifft, würden sie einen interessanten Testfall für die in diesem Aufsatz entworfene These darstellen.
Viertens sollten die persönlichen Dimensionen wissenschaftlicher und religiöser Aktivitäten ernster genommen werden. In einem bestimmten Sinne sollten wir abstrakte Diskussionen über Theologie und Wissenschaft mehr als persönliche Aussagen denn als Äußerungen über die Beziehung zwischen zwei unabhängigen Denksystemen lesen. Theoretische Zugänge zu Wissenschaft und Theologie werden vielleicht am besten verstanden als autobiographische Aussagen darüber, wie Individuen, die religiösen Glauben ernst nehmen, zu einem persönlichen Umgang mit der mächtigen und dominierenden Ansicht der natürlichen Welt gefunden haben, von der sie bemerkt haben, dass sie sie nicht ignorieren können. Zu einem gewissen Grad ist eine solche Lesart bloß eine Erweiterung des historischen Vorgehens mittels „Fallstudien“ auf die gegenwärtige Debatte hin, und ausgehend von der Annahme, dass dies ein fruchtbarer Weg ist, um zu einem Verstehen der Vergangenheit zu kommen, gibt es keinen Grund, warum das nicht auch für die Gegenwart gelten sollte. Dieser nahegelegte Perspektivenwechsel soll Arbeiten, die vorgeben, substantielle Themen zu diskutieren, nicht abwerten oder schlecht machen. Nicht zuletzt gibt es im Westen eine lange Tradition religiöser Biographien und Autobiographien, auch wenn diese Praxis zugegebenermaßen mit der Erfindung der propositionalen „Religion“ in der Aufklärung einen Rückschlag erfahren hat. Vielleicht sollten wir „wissenschaftliche“ Kritiker von Religion in einem ähnlichen autobiographischen Licht betrachten. Der Historiker Owen Chadwick hat bei seiner Bezugnahme auf den wechselseitigen Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion im viktorianischen Zeitalter unterschieden „zwischen Wissenschaft, die gegen die Religion war und Wissenschaftlern, die gegen die Religion waren“.73 Eine solche Charakterisierung ist heute nicht weniger angemessen. Es gibt auch im 21. Jahrhundert immer noch jene, die mit einer reizendenden Wunderlichkeit eine Fackel für das „Kriegs-‐Modell“ der Beziehung zwischen Wissenschaft und Religion tragen. In einem starken Sinn verraten solche Überzeugungen mehr darüber, was sich solche Personen persönlich unter „Religion“ vorstellen, als sie über zwei vermeintlich im Konflikt zueinander stehenden Zugänge zur Welt aussagen. Die Macht ihrer Rhetorik hat jedoch meistens weniger mit der Kohärenz ihrer Ansichten zu tun, als vielmehr mit ihrer kulturellen Autorität als Wissenschaftler.
Zu guter Letzt, und in einem gewissen Sinne mit den vorgehenden Punkten zusammenhängend, spielt die historische Analyse eine zentrale Rolle in der gegenwärtigen Diskussion um Wissenschaft und Religion. Die Geschichte ist es, die Einsicht in die Machtdimensionen menschlicher Aktivitäten gibt, ob sie nun religiösen Glauben oder das Studium der Natur betreffen; und durch historische Studien kann das menschliche Moment, das für wissenschaftliche und religiöse Aktivitäten fundamental ist, besser gesehen werden. John Brooke ist einer von denen, die schon zu mehr Fallstudien in der Wissenschaftsgeschichte aufgerufen haben, um die Nuancen und Komplexitäten der Vielfalt der Beziehungen besser zu erfassen; und das scheint vollkommen angemessen zu sein.74
73 Owen Chadwick, The Victorian Church, Oxford: Oxford University Press 1970, II, 3. 74 Brooke, „Religious Belief and the Natural Sciences: Mapping the Historical Landscape“, in: Facets and Faith and Science, hrsg. v. van der Meer, I; Durbin, „What Shall We Make of Henry Margenau?“; Geoffrey Cantor,
04_Harrison_20130613.doc 20
20
Auch wenn historischen Erwägungen oft nur ein geringer Wert für Argumente über den gegenwärtigen Status der Beziehung von Wissenschaft und Religion beigemessen werden, können Historiker bedeutende Beiträge zu den andauernden Diskussionen leisten, indem sie die Aufmerksamkeit auf die historischen Bedingungen lenken, die zu den heute im Spiel befindlichen Kategorien geführt haben. Es ist wiederum die Geschichte, die die Umstände aufzeigt, unter denen menschliche Akteure am Werk sind, und die einzigartige Einsichten darüber liefern kann, auf welche Art die verschiedenen Aspekte des Lebens dieser Akteure – die „wissenschaftlichen“ und die „religiösen“ eingeschlossen – zusammenhängen.
Michael Faraday, London: Macmillan 1991; John Brooke und Geoffrey Cantor, Reconstructing Nature: The Engagement of Science and Religion, Edinburgh: T. & T. Clark 1998, 247–281. Vgl. Telling Lives in Science: Essays on Scientific Biography, hrsg. v. Michael Shortland und Richard Yeo, Cambridge: Cambridge University Press 1996.