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Zur Geschichte der Fortschrittsidee in der schweizerischen Arbeiterbewegung

Date post: 19-Jan-2023
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Felix Müller,] ako b Tann er « ...... im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft>> Zur Geschichte der Fortschrittsidee in der schweizerischen Arbeiterbewegung
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Felix Müller,] ako b Tann er

« ...... im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft>> Zur Geschichte der Fortschrittsidee in der schweizerischen Arbeiterbewegung

«Vorwärts zeigt die Weltenuhr. Nicht den unsinnigsten Rückschritt, son­dern den die Massen auch materiell erlösenden Fortschritt wird uns die Zukunft bringen. Nicht die unverkennbaren Vorteile des Grassbetriebes zu beseitigen, sondern dieselben der Gesamtheit des Volkes zugänglich ma­chen, ist unsere Aufgabe»: Diese optimistischen Sätze sind in der «Berner Tagwacht» von 1880 zu finden. Als sich die Arbeiterbewegung mit diesem Fortschrittsideal identifizierte und ihre technikkritische oder gar maschi­nenstürmerische Mentalität ablegte, hatte sich die Industrielle Revolution schon aus ihren Anfangen heraus entwickelt. Fabriklandschaften und ur­bane Zentren prägten zunehmend die schweizerische Gesellschaft. Das Proletariat hatte sich in Gewerkschaften, Genossenschaften und Arbeiter­parteien organisiert. Das Bewusstsein, auf der richtigen Seite, nämlich auf der Seite des «Fortschritts» zu stehen, war ein starkes Motiv im kämp­ferischen Klassenbewusstsein einer Arbeiterschaft, die nun immer mehr in die Geschichte der Schweiz einzugreifen begann. Der «Fortschritt» allerdings war keine Erfindung der Arbeiterbewegung. Ursprünglich war diese Idee ein leuchtender, richtungsweisender und zu­kunftsverheissender Fixstern am Himmel bürgerlicher Werte, der das überlegene Selbstbewusstsein der neuen herrschenden Klasse zum Aus­druck brachte. Seine Strahlkraft erzielte er durch die Bündelung verschie­dener kultureller und sozialer Energien (vgl. S. 328). Er festigte die Über­zeugung, dass das Neue, das «Moderne» immer und fraglos besser sei als das Alte, die Tradition. Das Neue: das war vor allem die Maschine, die Fabrik, die Industrie, kurz: die Technik. Als die Arbeiterbewegung im aus­gehenden 19.]ahrhundert in den technisch-industriellen Produktivkräften einen Verbündeten zu erblicken begann, verschwanden die facettenreichen Visionen einer sozialistischen Zukunftsgesellschaft, die bisher ihre Vorstel­lungskraft geprägt hatten. Der «Fortschritt» wurde zu einer Schwundkate­gorie, die an Bedeutungsgehalt verlor. Seine utopische Dimension blieb historisch auf der Strecke. Schon in der Zwischenkriegszeit (19I8-1939) war der Begriff nur noch ein Schatten seiner selbst. Er degenerierte zu einem Glauben an die Produktion. Die moderne Industriegesellschaft insti­tutionalisierte den Wachstumszwang, und die Zukunftsvorstellungen der Arbeiterbewegung wurden überrollt. Während der langen wirtschaftli­chen Aufschwungphase der 19 soer und 6oer Jahre schien der wissenschaft­lich-technische Fortschritt, die rasante Steigerung der Arbeitsproduktivität

327 Einleitung

und des Sozialprodukts ein komfortables Transportmittel in den Wohl­stand und das Glück für alle zu sein. Das war ein Irrtum. Der damals einge­schlagene Weg führte nicht in ein paradiesisches «Reich der Freiheit» (Karl Marx), sondern könnte in einer ökologischen Wüste oder in einem nuklea­ren Winter enden. Die Perspektivlosigkeit einer «Flucht-nach-vorne» wird inzwischen von vielen gesehen. Mehr als die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer sind der Meinung, der technische Fortschritt sei so gefahr­lieh geworden, dass er die Menschheit mehr bedrohe als dass er ihr nütze. Dass dieses Ergebnis einer U rufrage vom Winter 198 5 nach «Tschernobyl» (April 1986) und «Schweizerhalle» (November 1986) noch deutlicher aus­fallen würde, ist anzunehmen. Eine historische Linkspartei darf in einer solchen Situation nicht resignie­ren. Sie muss ihr traditionelles Fortschrittsverständnis überdenken, sonst würde sie sich bald nur noch als Reparaturequipe für einen krisendefekten Kapitalismus eignen. SPS und Gewerkschaften haben hier bereits einen ersten Schritt zurückgelegt. Seit mehr als einem Jahrzehnt ist die «Zukunft des Fortschritts» ein wichtiges, spannungsgeladenes und auch polarisieren­des Thema. Die Auseinandersetzungen um die Frage, was der Kampf für eine menschenwürdigere Gesellschaft heute bedeutet, ist keineswegs abge­schlossen. Lassen sich über den Rückgriff auf die alten Utopien der Arbei­terbewegung noch Orientierungsmuster für politisches Handeln in der Ge­genwart gewinnen? Oder genügt es, angesichtsder düsteren Aussicht auf einen umweltzerstörenden «Fortschritt ohne Ende» kurzerhand das «Ende des Fortschritts» zu verkünden? Beruhen solche Absagen nicht auf einer nostalgischen Verklärung der Vergangenheit? Oder eröffnen die neuen Technologienein Tor zu einem «anderen Fortschritt», welcher zwischen den widerstreitenden Erfordernissen von Ökonomie und Ökologie, von Freiheit und Gerechtigkeit, von Individuum und Gesellschaft vermitteln könnte? Den Fortschritt als Naturgesetz, als unentrinnbares Kollektivschicksal gibt es nur, wenn sich die Menschen von dieser Zwangsvorstellung fesseln las­sen. Heute geht es um die Ent-Fesselung von Zukunftsphantasien, die nicht mehr auf den eindimensionalen Fortschritt der Vergangenheit fixiert sind. Gerade in einem solchen Zeitpunkt ist es sinnvoll, einen Blick zurück­zuwerfen: Wie sind die Vorstellungen vom «Fortschritt» innerhalb der Ar­beiterbewegung entstanden? Wie haben sie sich innerhalb der sozialdemo­kratischen und der gewerkschaftlichen Tradition entwickelt? Diesen Fra­gen soll im folgenden Text nachgegangen werden.

« ••• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft» 328

Der «Fortschritt» in der modernen Industriegesellschaft Die Industrielle Revolution setzte im letzten

Drittel des 18.jahrhunderts zuerst in Eng­

land ein, griff nach 1815 auch auf die

Schweiz über und ist bis heute nicht zum

Stillstand gekommen. Sie hat das Leben, die

Arbeit und die Mentalität eines Grassteils

der Menschen tiefgreifend verändert. Nun

entstand eine Gesellschaft, in welcher die

Tradition stark abgewertet wurde. Der ra­

sche soziale Wandel verunmöglichte es den

Menschen, sich weiterhin an der Vergan­

genheit zu orientieren. In ihrer Erfahrungs­

welt wurden die natürlichen Rhythmen

(Tages-, Jahresablauf) und die zyklischen

Verlaufsmuster (Aufeinanderfolge von Ge­

nerationen, Wiederkehr von Ereignissen)

zunehmend verdrängt durch den Maschi­

nentakt, durch technisch-lineare Zeitabläu­

fe. Das Akkumulationsgesetz, das heisst das

Anhäufungs- und Wachstumsprinzip, be­

gann nun den Gang der Dinge zu bestim­

men. Bereits 1795 erklärte ein Lexikon, «Fortschritt» sei «ein neu es Wort ftir Zunah­

me, Wachstum». Mit den neuen Transport­

systemen (Eisenbahn, Dampfschiffahrt)

und der Temposteigerung maschineller

Produktion wurde die Beschleunigung von

Vorgängen direkt wahrnehmbar. Der

«Blick nach vorne» versprach nun mehr

Orientierungssicherheit als das Verhaftet­sein in dem, was früher war.

Diese Erfahrung einer enormen Beschleuni­

gung aller wirtschaftlichen und sozialen

Vorgänge lief mit einer Verweltlichung der

früheren religiösen Heilserwartungen par­

allel. An der Schwelle zum 19.]ahrhundert, welches das Fortschrittszeitalter werden

sollte, entwickelten aufklärerische Philo­

sophen die Idee einer Vervollkommnungs­

fahigkeit der menschlichen Vernunft und

den Glauben an einen unaufhaltsamen

«Fortschritt der Welt zum Besseren». Die

Utopie der Aufklärung warjene des perfek­

ten Paradieses. Auch in der Alltagssprache

wurde um die Mitte des 19.]ahrhunderts

das Fortschreiten von Wissenschaft, Bil­

dung, Technik, Wirtschaft, Politik, ja sogar

der Moral in der allgemeinen Bezeichnung

«der Fortschritt» gebündelt. Die offensicht-,

liehen Verbesserungen in verschiedenen Le­

bens- und Gesellschaftsbereichen liessen

diesen Fortschritt zum eigentlichen Zauber­

wort der Industriegesellschaft werden. So­

gar die Natur wurde nun im Sinne des

«Fortschritts» als ständige, sogar sich be­

schleunigende Höherentwicklung interpre­

tiert. Der «Fortschritt» eignete sich von An­

fang an als politische Rechtfertigungsidee.

Die Zeit arbeitete für die «fortschrittlichen

Kräfte». «Reaktion» wurde zum Schimpf­

wort.

«Modern» ist ein älterer Begriff, der im

19.]ahrhundert als Substantiv vor allem im

kulturell-künstlerischen Bereich gebraucht

wird und der eine enge Verbindung mit dem

Fortschrittsbegriff eingeht. 1910 definiert

ein Autor «modern» als «die Stecknadel­

spitze der Gegenwart». Die «Avantgarde»

stellte diese vorderste Spitze in der fort­

schrittlichen Bewegung der Zeit dar. Im

20. Jahrhundert setzten sich die Bezeich­

nungen «moderne Industriegesellschaft»

und «modernes Wirtschaftswachstum» in

den Sozialwissenschaften durch. Eine mo­

derne, nicht traditionsgebundene Gesell­

schaft muss ihre Daseinsberechtigung, ih­

ren «Sinn» dauernd neu erzeugen und bestä­

tigen können. Wenn ein linearer, eindimen­

sionaler Fortschritts begriff als sinn- und

identitätsstiftender Symbolbegriff der Mo­

derne nicht mehr tauglich ist: wodurch

kann er ersetzt werden?

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Der Zwang zum Fortschritt

Von der technikkritischen zur fortschrittsorientierten Arbeiterbewegung (1830 bis zum Ersten Weltkrieg)

Das liberale schweizerische Bürgertum fasst im 19.]ahrhundert die unge­stümen Anfange der Industrialisierung, den Aufschwung von Wissenschaft' und Volksbildung und den Triumph liberal-demokratischer Verfassungen als zusammenhängenden Ausdruck des unaufhaltsamen «Fortschrittsstro­mes», als Wirkung des vorwärts drängenden, sich emporschwingenden menschlichen Geistes auf. Demgegenüber vermag die arbeitende Bevölke­rung in dieser Entwicklung lange Zeit keine zusammenhängende Perspek­tive zu sehen. Sie nimmt die neue industrielle Wirklichkeit widersprüchlich wahr und bewertet die verschiedenen sozialen, wirtschaftlichen und politi­schen Veränderungen nicht einheitlich. Erst als im Gefolge der Grossen Depression der I 87oer Jahre die Wirtschaftsverbände entstehen, die Politik zunehmend von «organisierten Interessen» beherrscht wird und die Grass­industrie zu einem gesellschaftsprägenden Phänomen aufrückt, gerät auch die Arbeiterbewegung in den Bann eines optimistischen Fortschrittsglau­bens. Im Anfangsstadium der Industrialisierung erfahrt die Masse der Heimar­beiter die neu entstehenden mechanischen Fabriken ganz direkt als Gefähr­dung: Ihre handwerklichen Fähigkeiten und ihre einfachen Produktions­mittel werden entwertet, ihre traditionelle Lebensweise ist bedroht, ja ihre Existenz steht auf dem Spiel. Gegen die «verderblichen und unheilbringen­den Erfindungem, die sie an den «Bettelstab» zu bringen, ja in den «Hun­gertod» zu treiben drohen, greifen sie im Extremfall zum Widerstand des Maschinensturms, wiejene Heimweber des Zürcher Oberlandes, die 1832 in Uster die erste mechanische Weberei anzünden. Das ist nicht nur eine Ver­zweiflungstat gegen den technischen Fortschritt (der in ihren Augen keiner ist), sondern auch ein direkter Ausdruck der Enttäuschung über den politi­schen «Fortschritt», genauer über die neue «Volksherrschaft» der Libera­len, denen sie 1830 zur Macht verholfen haben, von denen sie sichjetzt im Kampf gegen die Maschine aber trotzVersprechungenverraten fühlen. Die Unterstützung des konservativen «Züriputsch» von 1839 ist die Folge; doch auch die Konservativen wollennun die Fabriken nicht mehr beseiti­gen. Der Fortschritt «nimmt seinen Lauf».

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«, •• im hoffnungsvollen Licht einer bt>sseren Zukunft>> 330

Ein klare Fortschrittsperspektive, die sichjedoch nicht in allen Teilen mit der bürgerlichen deckt, haben die schweizerischen Handwerksgesellen im Auge, die, zusammengeschlossen in Organisationen wie dem Grütliver­ein, seit den r84oer Jahren der jungen Arbeiterbewegung die wichtigsten Impulse geben. Ihr Fortschrittsideal findet Ausdruck in der Devise: Durch Volksbildung zur Volksbefreiung I Ihr Ziel ist es, dass überall «die Morgenröte des Fortschrittes zu leuchten beginnt und das Volk allmählich anfangt, selbständig zu denken und im Erkennen seiner selbst die Mittel und die Kraft findet, seine Rechte( ... ) zu behaupten und zu wahrem, wie es 1852' in einem Brief der Zürcher an die Einsiedler Grütlianer heisst. Dazu, «dass das Schweizervolk nach und nach immer mehr geistig selbständig werde», tragen sie selber mit ihrer harten und vielseitigen vereinsinternen Schulung am späten Feierabend bei, die den wandernden Gesellen ihr Rüstzeug für die berufliche und gesellschaftliche Selbstbehauptung vermitteln soll. Poli­tisch sehen sie ihre Perspektive einer freien Gesellschaft, die erst durch die ökonomische Unabhängigkeit und gesellschaftliche Gleichberechtigung aller ermöglicht wird, zunächst am besten bei den radikal-liberalen «Fort­schrittsmännern» aufgehoben. Dieses solidarische Bemühen um eine ständig höher entwickelte persön­liche Autonomie aller Glieder der Gesellschaft ist jedoch gleichzeitig eine Reaktion auf die Gefahr eigener ökonomischer Abhängigkeit durch die In­dustrialisierung. Nach der Schaffung des Bundesstaates imJahre 1848 setzt ein Wirtschaftsaufschwung ein, der die Schweiz augenfallig zu verwandeln beginnt. In den r8soer und 6oer Jahren, dieser «Blütezeit des Kapitals», stellen die stürmisch vorwärtsbrausenden «Dampfkolosse» der Eisenbahn und die wie aus dem Boden wachsenden Fabriken die sichtbaren Symbole des Fortschritts dar. Gewerbefreiheit, Eisenbahntransport und maschinelle Produktion konfrontieren Handwerker und Gesellen mit einerneuen Kon­kurrenzsituation, mit einer «Umwälzung, die zwar manchem nicht als Fortschritt erscheinen mag», wie ein Grütlianer schreibt. In den Diskussio­nen innerhalb dieser Vereine ist man sich während der r 86oer Jahre uneins: Bringt der neue Reichtum in den Fabriken dem Handwerker mehr Ver­dienst oder kann «ein einfacher Meister fast nicht mehr bestehen, weil die Fabrikenjetzt auf alles eingerichtet sind?» Kommt es dahin, dass die billi­gen Produkte der Fabriken mit ihrem «Zwang» und ihrer «Sklavenarbeit» den handwerklichen Arbeiter «brotlos» machen? Wird man schliesslich ge­nötigt sein, «Revolution anzufangen», oder ist es richtig, «dass die Indu­strie zu weit vorangeschritten (ist), ,als dass man dem Fabrikwesen engere Schranken setzen (und die) Fabrikarbeiten (durch) Handarbeiten ersetzen

331 Der Zwang zum Fortschritt

könnte?» Eine tiefe Unsicherheit drückt sich in diesen Diskussionen aus gegenüber einer Entwicklung, deren Ausgang nicht abzusehen ist. Die wichtigste Antwort, die in den Grütlisektionen auf diese neue Herausfor­derung gegeben wird, ist stets die gleiche; sie besteht im Glauben daran, dass der Bildungsfortschritt die ökonomischen Schwierigkeiten kompen­sieren könne. «Aus praktisch und technisch gebildeten Arbeitern gibt es später Meister mit Rat und Tat, die ihre Existenz behaupten können trotz der Konkurrenz der Fabriken.» Die Bildung steht im Dienste individueller Selbstbehauptung und persönlicher Entfaltung. Leitfigur ist der ökono~ misch selbständige, politisch selbstbewusste Staatsbürger- auch wennim­mer weniger Arbeiter dieses Ziel erreichen. Mit dem Fortschrittsideal, durch Bildung der ökonomischen Entwicklung als individueller Produzent standhalten zu können, konkurriert seit der Gründung der Internationalen Arbeiter Association (I 864) auch in schwei­zerischen Arbeitervereinen der Entwurf eines «anderen Fortschritts», ein zukunftsorientierter Gegenentwurf zur vordringenden kapitalistischen Fa­brik mit ihrer materiellen Ausbeutung, ihrer versklavenden Maschinen­arbeit, ihren hierarchischen Betriebsstrukturen und ihrer «monarchischen» Leitung: Dieser andere, soziale Fortschrittsentwurf ist die Genossenschaft, eine soziale und demokratische Konzeption von Produktion und Konsum, die auf Visionen und Experimente berühmter Frühsozialisten wie Robert Owen und Charles Fourier zurückgeht, denen sich schon seit den I 84oer Jahren einzelne schweizerische Sozialisten angeschlossen haben. In gewis­sem Sinne ist die genossenschaftliche Konzeption der Produktion eine An­passung der Zukunftsideen an die neue industrielle Realität: Die Abkehr vom individuellen Kleinbetrieb wird nun akzeptiert. Diese wird nicht mehr als Verlust, sondern- in Form der gemeinschaftlichen Arbeit- als Gewinn gedeutet. Grundlage der Genossenschaft ist die gleichberechtigte Teilhabe aller an den Produktionsmitteln, das Ziel ist eine auf die mensch­lichen Bedürfnisse abgestimmte, nicht entfremdete Arbeitsweise. Herman Greulich beschreibt seine Vorstellung einer neuen, unentfremdeten Ar:... beitsorganisation: «Die Zusammensetzung der Arbeitergruppen wechselt ab. NebenMännern arbeiten Frauen und Kinder. In jeder Gruppe wieder andere, jung und alt. Überall trifft der Neueintretende nur solche, die ihre Arbeit mit Vorliebe tun. Wer in einer Gruppe untergeordnet ist, kann in der anderen Gruppe Meister sein. Die gemeinsame Arbeit und das allgemeine Interesse am besten möglichen Gelingen schafft eine Kameradschaftlich­keit, wie sie heute unmöglich ist, leistet aber der Gesellschaft die Sicherheit, dass möglichst vorteilhaft und gut gearbeitet wird.» Greulich hat, wie sein

« ••• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft» 332

politischer Lehrer Karl Bürkli und das gemeinsame Vorbild Charles Fou­rier eine Produktionsform im Auge, die auch die Emanzipation der Frau von der «Haussklaverei» ermöglicht und die im Unterschied zum Kapita­lismus die Natur nicht zerstört. Da die Genossenschaften auf positive Ar­beitseinstellung zählen können und nicht unter dem Zwang zu Profiten stehen, werden sie die Fabriken mehr und mehr aus dem Feld schlagen können. Seine radikalste Ausprägung findet dieser Gedanke um I870 bei den jurassischen Uhrenarbeitern, die in kleinen Ateliers ihre Freiheiten in der Arbeit gegen die eindringende, zentralisierte Fabrikarbeit verteidigen, wollen und sich als Ziel eine Wirtschaft von Produktionsgenossenschaften ohne Leitung und eine freie, assoziierte Gesellschaft ohne Staat vorstellen. In der Deutschschweiz dagegen erhofft sich die an der «Demokratischen Bewegung» der I86oer Jahre teilnehmende Arbeiterbewegung vom «rein demokratischen Volksstaat» finanzielle Unterstützung flir den alternativen Fortschritt hin zu einer genossenschaftlichen Wirtschaft mit selbstbe­stimmter Arbeit. Das Programm des ersten sozialdemokratischen Grün­dungsversuchesvon I 870 ist von dieser Idee geprägt: «Aufgabe des Staates ist also nicht bloss der Schutz des Eigentums, sondern vielmehr die Förde­rung der genossenschaftlichen Arbeit, die nach und nach an Stelle der Lohnarbeit treten soll.» Diese Fortschrittskonzepte haben die persönliche Entfaltung des Arbeiters in der Arbeit zum Ziel. Heute erscheinen solche Versuche, die alles überrol­lende kapitalistische Entwicklung aufzuhalten oder in andere Bahnen zu lenken, lediglich noch rührend, und schon gegen Ende des I9.Jahrhun­derts werden sie in der Arbeiterbewegung selbst belächelt. Doch was be­deutet Fortschritt flir die Arbeiterbewegung, als klar wird, dass sich die Fabrikindustrialisierung durchgesetzt hat? Im letzten Viertel des I9.Jahr­hunderts übersteigt die Zahl der Fabrikarbeiter die der handwerklichen Ar­beiter; der neu entstandene Typus des gelernten Fabrik-Facharbeiters be­ginnt auch in der Arbeiterbewegung eine wichtige Rolle zu spielen. Die meisten handwerklichen Arbeiter müssen ihre Aufstiegshoffnungen zum Meister begraben, und die wenigen realisierten Produktionsgenossen­schaften scheitern in den schweren Wirtschaftskrisen der I 87oer und 8oer Jahre. Die Industrie lässt sich in ihrer zunehmenden Verflechtung und Kon­zentration jetzt nur noch als Wirtschafts-System verstehen, das sich nicht mehr aufhalten oder punktuell ändern lässt. In der Periode von etwa I 8 8o bis in die Jahre nach der J ahrhundertwende, die durch heftige gewerkschaftliche Kämpfe und die Herausbildung der Sozialdemokratie zur grossen Arbeiterpartei geprägt ist, werden in der Ar-

333 Der Zwang zum Fortschritt

beiterbewegung Elemente des Marx'schen Denkens übernommen und zu einer alles erklärenden «wissenschaftlichen» Weltanschauung umgewan­delt, die eine neue, sozialistische Fortschrittsperspektive aufweist. Der Ka­pitalismus mit seiner Entfesselung der Produktivkräfte, die einerseits Reichtum erzeugt und andererseits ein mächtiges Proletariat hervorbringt, erscheint darin als notwendige Stufe der historischen Entwicklung. Einer Entwicklung, die zwangsläufig zur klassenlosen Gesellschaft des Sozialis­mus ftihrt, sobald das Kapital im Zuge seiner Monopolisierung «reif» wird ftir die sozialistische Übernahme des modernen Produktionsapparates 'und sich die Lebensbedingungen und Interessen der Arbeiter als Klasse so ver­einheitlicht haben, dass sie sich als «Gegenmacht» ebenso effizient und straff organisieren, wie der moderne Kapitalismus es tut und damit «als eine, unteilbare Masse» diszipliniert vorwärts marschieren und dem kon­zentrierten Kapital als «Totengräber» entgegentreten. Die Vergesellschaf­tung der grossenkapitalistischen Betriebe kann aber nur durch das umfas­sendste Machtzentrum der Gesellschaft, den demokratisch kontrollierten Staat, garantiert werden. Verstaatlichung der Produktion ist das zentrale Ziel der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz in ihren Programmen von r888 bis r920. Vorstellu,ngen über die konkrete Ausgestaltung der Arbeits­organisation in diesem staatlich dominierten Sozialismus und die Forde­rung nach einer persönlichen Entfaltung des Arbeiters treten dagegen in den Hintergrund. Mit dieser Perspektive des weltanschaulichen Marxismus wird die Ein­bahnstrasse des industriellen Fortschritts von der Arbeiterbewegung ak­zeptiert. Die Bewunderung maschinell-rationeller Grassorganisation ver­engt den Arbeitsbegriff auf die «wertschaffende», die bezahlte (Männer-)­Lohnarb~it. Die Natur sinkt zur «Gratisproduktivkraft» herab und findet, ebenso wie die unbezahlte Haus- und Familienarbeit der Frau, kaum mehr Erwähnung in programmatischen Zukunftsäusserungen. Die wissen­schaftlich abgesicherte Überzeugung, der Kapitalismus sei nur ein Durch­gangsstadium zum Sozialismus, erleichtert es den Arbeitern, die modernen Produktionsbedingungen zu ertragen. Verdeckt durch den Klassenkampf, zunehmende Streikbewegungen und durch eine Lagermentalität- das Ab­grenzen des «Arbeitslagers» gegenüber dem Bürgertum-, setzt sich so eine gesellschaftsübergreifende Überzeugung vom Nutzen der Technik und der grossen Organisation durch. Dieser Vorgang lässt sich als «negative Inte­gration» charakterisieren. Die Arbeiterbewegung, die damals eine opposi­tionelle Kraft ist, übernimmt zentrale Werte der bürgerlichen Gesellschaft, die sich dank dieser Zustimmung nun voll entfalten können. Als «A vant-

« ••• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft» 334

garde», als Speerspitze des Fortschritts, prägt die Arbeiterbewegung das Negativbild von den ewiggestrigen Maschinenstürmern mit. Wir dürfen uns die Ausbreitung dieser Überzeugung, die Zumutungen des Fabriksystems seien in Erwartung des sozialistischen Endziels zu akzeptie­ren, nicht zu einfach vorstellen. Um diese Fortschrittsperspektive den Ar­beitern nahezu bringen, muss sie ihnen von der Arbeiterpresse und Rednern immer wieder vorgetragen werden; die Theorie fliesst von «oben» nach «unten». «Warum die Maschinen zerstören? ... » fragt r88o die «Tag­wacht». « ... Das wäre die grösste Torheit, welche die Menschheit begehen' könnte. Die Maschinen sind die Erlöser der Menschheit, wenn sie richtig angewendet werden. ( ... ) In einer demokratischen Organisation der Ar­beit und der Gesellschaft werden die Maschinen allen zum Nutzen sein. ( ... ) Die Menschheit wird infolgedessen zu einer heute noch kaum geahn­ten Kulturstufe gelangen, das geistige Niveau der Massen ungeheuer geho­ben werden. ( ... )Eine Zertrümmerung der Maschinen, ein Aufgeben des Grassbetriebes würde uns die herrliche alte Zopf- und Zunftzeit, eine un­menschliche Überbürdung mit körperlicher Arbeit bringen, ohne die grös­sern Bedürfnisse zu beseitigen, die im Laufe der Zeit sich gebildet.» Da es angesichtsdes Fabrikalltags der Gegenwart schwierig, für das Selbst­bewusstsein der Arbeiter aber auch entscheidend ist, an den Fortschritt und damit an den Sinn der eigenen Tätigkeit und des eigenen Kampfes zu glau­ben, muss das Ziel umso wertvoller und strahlender erscheinen: «Mit abso­luter Notwendigkeit bricht sich das Neue Bahn», heisst es im r. Mai-Auf­ruf des Jahres 1918 im Basler «Vorwärts» unter dem Titel «Empor». Der Text fahrt fort: «Spott und Hohn, Verleumdung und Brutalität, Verfol­gung und Leiden bezeichnen den Kampfesweg der klassenbewussten Ar­beiterschaft. Trotz alledem. Von unten kommt der sieghafte Drang nach Befreiung aus drückender Not und seelischer Knechtschaft. Die Lohnskla­ven rütteln mit schwieliger Faust an ihren Fesseln. Nicht länger mehr wol­len sie die ausbeutende Herrschaft Weniger dulden. Endlich verlangen auch sie Anteil an den Schönheiten des Lebens. Mächtig regt sich ihr Menschen­tum, wohl wissend, dass ihre Befreiung die Erlösung der Menschheit be­deutet. ( ... ) Die Menschheitsideale des Sozialismus, die internationale So­lidarität des Proletariats werden triumphieren über die Mächte der alten Welt.» Das quasi-religiöse Ideal äussert sich am eindrücklichsten in den bildliehen Sozialismus-Allegorien dieser Zeit: Der Sozialismus erscheint als trium­phierende Göttergestalt, als «gelobtes Land», als Frühling oder als Mor­genröte der Befreiung. Dabei ist es die Arbeit, die erlöst wird und trium-

335 Der Zwang zum Fortschritt

phiert, der aufrechte, kraftvolle Arbeiter, der seine Ketten abwirft, seine «Menschwerdung» feiert. Die materielle Produktion wird in diesen Bil­dern verklärt, die ständig verachtete und erniedrigte, in Wahrheit jedoch kulturschaffende materielle Arbeit findet im Sozialismus ihre Rechtferti­gung. Allerdings erscheint der idealisierte Arbeitsprozess auf den Bildern nicht etwa als Maschinenarbeit. Gerade im Kampf um den Acht-Stunden­Tag, der die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg durchzieht, werden die gesundheitlich und psychisch ruinösen Auswirkungen der Arbeit in lärmi­gen, russigen, geHihrliehen Fabrikhallen in der Arbeiterpresse immer wie~ der in grellen Farben geschildert. Dieser Widerspruch wird aufgelöst durch die Darstellung des sich befreienden Arbeiters als souveräner Prometheus: Er erscheint mit seinem Handwerkszeug, dem Hammer, am Altar seiner Arbeit, am traditionellen Amboss. Die düstere Wirklichkeit der Maschi­nenarbeit wird in der bildliehen Zukunftsvision zum Verschwinden ge­bracht.

«Utopische» Fortschrittsideale früher Sozialisten

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Auf der hier abgebildeten Karrikatur von genden Ideale eines «neuen Zion» des Kom­

I844 mokiert sich der Oltener Zeichner munisten Weitling. Die «methodische»

Martin Disteli über die in den Wolken hän- Umgestaltung der Welt wird von einigen

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« ..• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft» 336

Handwerksgesellen bestaunt, währenddem

der konservative Pfeffersack und der libera­

le «Stutzer» eiligst ihre Geldsäcke in Sicher­

heit bringen. «Diese Systeme entbehren der

Lebensfähigkeit und haben keine Zukunft»,

schreibt Disteli, eine Kritik, die auch vom

kommenden «wissenschaftlichen Sozialis­

mus» geteilt wird.

Nicht die Maschine an sich, aber die Ver­

minderung menschlicher Entfaltung durch

das aufkommende Fabrikwesen kritisieren

übereinstimmend bedeutende frühe Soziali­

sten wie Robert Owen, Charles Fourier

oder Wilhelm Weitling. Der Schneiderge­

selle Weitling spricht von der negativen

«Richtung, welche die einförmige, maschi­

nenmässige Betreibung eines Handwerks

den geistigen und körperlichen Kräften des

Arbeiters gibt». Owen klagt über das

Brachliegen «unserer natürlichen Kräfte,

die aus den physischen und intellektuellen

Fähigkeiten bestehen», der Fourierist Consi-

derant redet vom Herabsinken des Men­

schen «auf den Stand eines Automaten».

Die Gegenentwürfe gemeinschaftlicher

Grassproduktion wollen umfassender

menschlicher Entfaltung Rechnung tragen.

Fourier und Owen stellen sich eine ab­

wechslungsreiche Verbindung von land­

wirtschaftlicher und industrieller Tätigkeit

vor, Fourier empfiehlt Grassküchen zur Be-,

freiung der Frau von der «Haussklaverei»

und strebt eine Aussöhnung menschlicher

Tätigkeit mit der Natur an, Weitling propa­

giert die Beschränkung der Pflichtarbeit auf

täglich 6 Stunden ftir das Existenzminimum

(bei freiwilliger Mehrarbeit ftir die «Güter

des Angenehmen»). Weitling, der 1841-43

in der Schweiz agitiert, schockiert mit sei­

nem aus christlicher Tradition schöpfenden

«Kommunismus» einer «methodisch einge­

ftihrten Gütergemeinschaft» das schweize­

rische Bürgertum. Er wird 1843 in Zürich

zu Gefängnis verurteilt.

Genossenschaftliche Produktivassoziation und Verstaatlichung der Industrie

Kar/ Bürkli ist einer der ersten sozialistischen sen, und dann wird sich's zeigen, dass die

Theoretiker in der Schweiz. 1852 gründet er direkte Gesetzgebung durch das Volk der

den Konsumverein Zürich, in Texas ni111111t er danach teil am Experiment einer genossw­schciftlichen Siedlung, wieder zuriick in der

Schweiz, fördert er die Sektion Zürich der In­ternationalen Arbeiter-Assoziatio11 und enga­giert sich in der «Demokratischen Bewegrmg» des Kantons Zürich, um in der Kantollsvelfas­

sung die Genossenschaftsförderung zu veran­kern. (Nachfolgender Text voll Kar/ Biirkli

stammt aus «Der Gratlianer» Nm. sl/52,

1868):

«Unser Volk schwimmt im grossen Port­

schrittsstrom des Jahrhunderts, die sozialen

Ideen werden auch ihm in den Kopf schies-

wahre Jakob, das Hauptwerkzeug zur all­

mählichen Lösung der sozialen Frage ist.

( ... )In wenigen Jahren wird das Volk, wie

es jetzt ftir eine Kantonalbank ist, ebenso

einstimmig die Eisenbahnen als Staats­

resp. Bundessache erklären. Überhaupt

wird neues soziales Leben sprossen aus einer

Vervollkommneteren Volksbildung. ( ... )

Das Wichtigste aber von allem ist die all­

mähliche Republikanisierung der Industrie

durch Arbeitergenossenschaften, sog. Pro­

duktivassoziationen. ( ... ) Diese Reorgani­

sation der Industrie wird sich natürlich nicht

von heut auf morgen machen, sondern nur

nach und nach, und zwar aus kleinen Anfän­

gen heraus. Vielleicht kommen auch hie

und da grosse Industrielle zur Einsicht, ihre

Arbeiter an ihren Etablissements zu beteili­

gen, aber das werden immer Ausnahmen

sein; in der Regel werden die Produktiv­

assoziationen wie die Saat aus dem gesun­

den Boden heraus wachsen, und die Aufga­

be des Staates wäre bloss die, durch Kredit­

bewilligung das Aufsprossen dieser neuen

Gebilde inmitten des alles überwuchernden

Gestrüpps der Grassindustrie zu ermög­

lichen und zu erleichtern. Sind sie mal gross

gewachsen, was schon nach einer Genera­

tion der Fall sein dürfte, so werden sie auch

ohne Staatshilfe von selber mit der Privat­

Grossindustrie fertig werden, und einge­

denk der Hilfe des Staates werden diese Ar­

beitergenossenschaften die kräftigste Stütze

der Republik bilden, an welcher alle Sy­

stemgelüste und aristokratischen Tenden­

zen scheitern werden ... »

Das marxistisch inspirierte SPS-Programm vo11 1904, das sich ideologisch am Vorbild der deut­schen Sozialdemokratie orientiert, enthält die

Vorstellung eines dialektischen Verlaufs des Fortschritts: Die Dtmhsetzung von Maschine rmd Crossbetrieb wird als notwendiger Fort­

schritt akzeptiert, der zwangsliiufig zum Ver­staatlichungs-Sozialismttsfiihrt. « ... Die oft blutigen Klassenkämpfe des

Der zum Fortschritt

modernen Bürgertums gegen die Aristo­

kratie und die Zunftherrschaft ftihrten zu

demokratischen Einrichtungen und zur

Gleichberechtigung der Bürger vor dem

Gesetz. Das Entwicklungsbedürfnis von

Handel und Verkehr schuf sich im Sonder­

bundskrieg den Bundesstaat. Nach Beseiti­

gung dieser Schranken vollzog sich eine

Entfaltung der Produktivkräfte und eine ge­

waltige Zunahme der gesellschaftlichen

Machtmittel und des Reichtums, wie sie

vorher nie ftir möglich gehalten worden

ist. ( ... ) Die wirtschaftliche Entwicklung

ftihrte mit Notwendigkeit zum Sieg der

Maschine über das einfache Werkzeug, zum

Sieg des Grassbetriebes über Handwerk

und Kleinbetrieb. ( ... ) So tritt stets deut­

licher zu Tage, dass der Kapitalismus beim

gegenwärtigen Stand der Entwicklung ein

Hindernis des wirtschaftlichen Fortschritts

geworden ist. ( ... ) Die Schweizerische so­

zialdemokratische Partei strebt die Soziali­

sierung der Produktionsmittel an, zunächst

auf dem Wege der Verstaatlichung und

Kommunalisierung de1jenigen Gebiete des

Verkehrs, des Handels und der Industrie,

die nach ihrem Monopolcharakter und nach

dem Stande der technischen Entwicklung

sich zur Verstaatlichung eignen oder deren

Verstaatlichung das gesellschaftliche Inter­

esse sonstwie erfordert ... »

Das «hoffnungsvolle Licht einer besseren Zukunft»

Die Fortschrittsvisionen der frühen Arbei­

terbewegung haben stark pathetisch-auf­

klärerische Züge; das machtvolle Empor­

streben soll nicht zuletzt durch die «Gewalt

der Sprache» dokumentiert werden. Die

«Produktivkräfte», welche die Arbeiter

zum Sozialismus hinfUhren, haben sich

noch nicht vom natürlichen Hintergrund

abgelöst: die «PS», welche das Mass der

Kraft der neuen Maschinenmotoren in der

Industrie darstellen, sind hier noch echte

Pjerdestärke11, und auch der Blitz kommt

noch nicht aus dem Elektrizitätskraft­

werk.

« ••• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft» 338

«Brüder, zur Sonne, zur Freiheit ... » Dieses Bild aus dem «Grütlianer» vom 1. Mai

1920 zeigt einen Arbeiter, der noch nicht zum «Sklaven der Maschine» geworden

ist, sondern sein Werkzeug nach Massgabe seines eigenen Willens bedienen kann.

Am Feiertag der Arbeit ruht er und blickt der Sonne, dem leuchtenden Endziel des

Sozialismus entgegen. Der Weg dahin f'clhrt mitten durch eine schornsteinbe­

wehrte Industrielandschaft, die allerdings, obwohl sie den Glanz der Sonne etwas

beeinträchtigt, im Morgennebel verschwindet. Die Probleme, welche sich die Ar­

beiterbewegung mit dem industriellen Fortschritt einhandelt, sind damit wie weg­

gezaubert.

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6ff

« ••• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft»

<<Die Quelle jeden Fortschritts ist die Organisation»

Die Arbeiterbewegung im Banne von Produktionsrationalisierung und Wirtschaftsplanung (1914 bis Ende der 40erjahre)

340

Der Erste Weltkrieg (1914/ r8) ist auch flir die schweizerische Arbeiterbe­wegung eine Schlüsselerfahrung, welche die optimistische Fortschrittsper­spektive des 19. Jahrhunderts in ihren Grundfesten erschüttert. Die mörde­rischen Materialschlachten, welche durch die moderne Serienproduktion in der Grassindustrie überhaupt erst möglich geworden sind, demonstrie­ren mit kaum zu überbietender Deutlichkeit, dass es sich bei Wissenschaft und Technik nicht nur um menschheitsbeglückende Mächte handelt. Planung und Lenkung der Produktivkräfte: Diese Forderungen rücken nun ftir drei Jahrzehnte ins Zentrum sozialdemokratischer, gewerkschaftlicher, aber auch kommunistischer Zielvorstellungen. Die sowjetischen Anstren­gungen für einen planmässigen Aufbau des Sozialismus und die amerikani­sche Erfolgskombination von Produktionsrationalisierung, wissenschaft­licher Betriebsftihrung und Lohnerhöhungen haben einen starken Einfluss auf ein Fortschrittsmodell, welches den Übergang zum Sozialismus nun auf dem Hintergrund einer ausweglosen Krise des Kapitalismus themati­siert. Die Programmatik der Arbeiterbewegung gerät mit dieser Plan- und Pro­duktivitätsorientierung in eine konfliktreiche Nähe zum «Organisierten Kapitalismus» und zu den Unternehmerischen Rationalisierungsbestrebun­gen. Einerseits halten die Klassenspannungen an, die sich seit dem aus­gehenden 19.]ahrhundert aufgebaut haben. Der Konfliktzyklus, welcher durch die Entbehrungen und Ungerechtigkeiten des Ersten Weltkrieges ausgelöst wird, kulminiert im Landesgeneralstreik vom November 1918.

Seite 339: <<Wache auf, Winterthur! Mit verhängtem Zügel fahrt der Genius der neuen Welt über deine Gauen! Ernst und unerbittlich naht mit Sturmeseile, im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft, im Lichte der Wahrheit und Gerechtigkeit die Kraftgestalt des Friede und Glück bringenden Sozialismus. Der Hammer der Arbeit, der Hammer der Wahrheit sendet zerschmetternde Blitze hinaus in die alte Welt des Elends und der Ungerechtigkeit!­Schon zeigt ein helles Licht am Horizont das Morgenrot der verheissungsvollen Zukunft!­Es werde Licht.» (Text zum Titelbild << Winterthurer Maizeitung>> 1. Mai 1897)

341 «Die Quelle jeden Fortschritts ist ·die Organisation»

Die Arbeiterbewegung kapituliert zwar damals vor der bürgerlichen Übermacht, die sich auf eine intakte Armee stützen kann. Doch die Streik­bewegung läuft weiter und die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit sind von Misstrauen geprägt. Trotz des Vormarsches der Reaktion und trotzeiner gewissen Mutlosigkeit besteht innerhalb der Arbeiterbewegung eine zuversichtliche Beurteilung ihrer Handlungschancen und Durch­setzungsmöglichkeiten bis in die beginnenden 1930er]ahre hinein fort. Die Aussicht, das kapitalistische System auf die Länge durch ein sozialistisches ersetzen zu können, bringt die SPS immer wieder in harten politischen Gegensatz zum Bürgertum und zur Unternehmerschaft. Andererseits dauert die «negative Integration» an. Insbesondere seit dem Konjunktur­aufschwung von 1923 I 24 imitieren schweizerische Unternehmer ihre amerikanischen Vorbilder F. W. Taylor und H. Ford. Die Verwissenschaft­lichung der Betriebsführung (mit Zeitmessungen, neuen Managementme­thoden und Betriebspsychologie) und die Rationalisierung von Produk­tionsprozessen (durch Standardisierung und Mechanisierung, etwa durch die Einführung von Fliessbändern) vermögen die Arbeitsproduktivität zu steigern. Eine von Unternehmern und Betriebswissenschaftlern ins Leben gerufene Ratio11alisierungsbewegung propagiert diese Neuerungen als Aller­heilmittel zur Lösung gesellschaftlicher Probleme und insbesondere zur Entschärfung des Klassenkonflikts. Im Verlaufe der 1920er Jahre beginnen Gewerkschaftsfunktionäre und Parteivertreter von «Angebot», «Nachfrage» und «Massenkaufkraft» zu sprechen und sich in volkswirt­schaftlichen Denkkategorien heimisch zu fühlen. Damit entsteht eine sprachlich-ideelle Verständigungsgrundlage zwischen den beiden gegneri­schen Kräften. Produktivitätssteigerungen werden zum gemeinsamen Interessennenner, um den herum sich erste Ansätze für einen Klassenkom­promiss herausbilden. Dieses Gutheissen von Kapitalinvestitionen und arbeitsorganisatorischer Innovation kommt allerdings nicht bruchlos zustande und wird durch an­haltende Konflikte verdeckt. Anfanglieh herrschen offene Ablehnung oder zumindest Skepsis gegen die neuen Unternehmer-Methoden noch vor. Der Basler SP-Linke Friedrich Schneider kritisiert 1925 die Mechanisie­rung und die Akkordarbeit mit harten Worten und sieht in diesem «Terror des Arbeitsprozesses» und in dieser «Gier, mehr zu verdienen» den Ruin der arbeitenden Bevölkerung. Im r. Mai-Aufruf von 1926 wird erklärt, Industrialisierung und Kapitalismus hätten gigantische Ausmasse ange­nommen: «Sie sind zur Weltmacht geworden und die Gefahr einer völligen Mechanisierung der Arbeit und der Versklavung der Arbeiter ist nicht zu

<< ••• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft» 342

unterschätzen.» 1927 schreibt Konrad Ilg, «nachdem sich jetzt der erste Sturm der Rationalisierungswut etwas gelegt» habe, werde deutlich, «dass die grasszügig angelegte <Rationalisierung> in eine rücksichtslose Ausbeu­tung der Arbeiterschaft und der Angestellten ausgemündet» ist. Was ge­genwärtig erfolge, sei «in der Hauptsache nichts weiter als eine Perfektio­nierung raffinierter Methoden menschlicher Ausbeutung.>> Zu diesem Zeitpunkt sind allerdings andere Gewerkschaftsvertreter schon auf eine rationalisierungsfreundliche Linie eingeschwenkt. Für sie steht nicht mehr die Arbeitsintensivienmg und die Entmenschlichung, sondern' der «echte» technische Fortschritt, die rationelle, d. h. vernünftige Ausge­staltung der Produktionssphäre im Vordergrund. Max Weber bringt die sich nun durchsetzende Einstellung im Oktober 1926 in einem Beitrag un­ter dem Titel «Die Gewerkschaften als Bahnbrecher des wirtschaftlichen Fortschritts» zum Ausdruck. Produktivitätssteigerungen werden nun zum Dreh- und Angelpunkt einer Gewerkschaftspolitik, welche Lohnerhöhun­gen und Arbeitszeitverkürzungen im Einklang mit dem «Interesse der Ge­samtheit» darstellt. Kürzere Arbeitszeiten sind aus dieser «produktivisti­schen» Optik ein «mächtiger Hebel wirtschaftlichen Fortschritts» (und da­mit im Interesse der ganzen Bevölkerung) und zugleich die « Vorausset­zung für den Kulturaufstieg des arbeitenden Volkes». Max Weber interpre­tiert nun die ganze Fortschrittsdynamik neu: jetzt sind die Gewerkschaften der aktive Pol. Sie müssen mit ihren vernünftigen Argumenten die Unter­nehmer vom Ford'schen Modell, insbesondere vom Hochlohnprinzip und von der fünftägigen Arbeitswoche, dieser «neuesten Entdeckung zur För­derung des wirtschaftlichen Fortschritts» überzeugen. Verbunden mit die­ser Strategie ist die Betonung des Massen- und des Organisationsaspekts. Das Kriterium politischer Effizienz gebietet es der Arbeiterbewegung, die Prinzipien rationeller Organisation auch auf sich selbst anzuwenden. «Die Quelle jeden Fortschritts ist die Organisation» heisst es im r. Mai-Aufruf von 1929. Die notwendige Unterordnung des Einzelnen unter das Gesamt­ziel wird verglichen mit der militärischen Marschkolonne: «Der Massen­tritt der Arbeiterbataillone wird das Tempo des Marsches zum Endziel be­stimmen», wird im r. Mai-Aufruf von 1927 vermerkt. Der Rekurs auf die «Massen» behältjedoch immer ein aufklärerisches Moment. 1930 bemerkt Max Weber: «Die Massenschulung ist nach wie vor sehr wichtig, ja das Wichtigste, das Grundlegende der Bewegung. Denn das Verständnis der breiten Massen für die eigenen Forderungen und Ziele wird immer die Grundlage des gewerkschaftlichen wie auch des politischen Vormarsches se1n. »

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343 «Die Quelle jeden Fortschritts' ist die Organisation»

Trotz dieser grundsätzlich positiven Bewertung von Technik und Organi­sation bleibt die Unternehmerische Investitionspolitik für die Gewerkschaf­ten eine zweischneidige Herausforderung, auf die sie mit einer eigenständi­gen Rationalisierungskonzeption antworten, die sich noch nicht voll im Schlepptau der kapitalistischen Profitmaximierung befindet. Max Weber fasst dieses ambivalente Verhältnis 1927 wie folgt zusammen: «<ch habe schon darauf hingewiesen, dass die Hebung der Lebenshaltung der Arbei­termassen gegenüber dem Mittelalter oder auch gegenüber der Zeit vor so Jahren der Steigerung der Produktivität zu verdanken ist. Aus dieser Er­kenntnis heraus haben die Gewerkschaften in letzter Zeit ihre Einstellung zur Rationalisierung geändert. Früher hatten sie vielfach eine feindliche Haltung eingenommen, weil sie befürchteten, die Arbeitslosigkeit werde vermehrt; ich erinnere an die Maschinenstürmer zu Beginn des I9.Jahr­hunderts, deren geistige Nachkommen noch heute da und dort auftreten. ( ... ) Doch heute beginnen ... (die Gewerkschaften) vielerorts ( ... ) positiv Stellung zu beziehen. ( ... ) Allerdings kann das unter keinen Umständen bedeuten, dass die Gewerkschaften sich der Rationalisierungsbewegung mit Haut und Haaren verschreiben, sondern sie müssen einen energischen Kampfführen gegenjeden Raubbau an der Arbeitskraft, vor allem gegen jene Ausquetschung der Arbeiter, wie sie manchmal bei Fliessarbeit vor­kommt.» Diese Wahrung einer eigenständigen Position in der Rationalisierungsfrage hindert die Gewerkschaften jedoch nicht an der Propagierung einer har­monischen Sichtweise der Gesellschaft. Konflikte werden als Folge von gegenseitigen Missverständnissen interpretiert. r 927 streicht der SGB kon­sequenterweise den Klassenkampfparagraphen aus seinen Statuten. Die Gewerkschaftsverbände werden zu den treibenden Kräften eines gesell­schaftsübergreifenden Konsensus, welcher die «nationale Verständigung» der ausgehenden 1930erJahre vorweg nimmt und das Terrain für den Start in die Wachstumsgesellschaft der Nachkriegszeit ebnet. Die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre setzt dieser Rationalisierungs­philosophie vorerst ein Ende. Schon im Frühjahr 1930 wird in der «Gewerkschaftlichen Rundschau» vermerkt, die « ... gegenwärtige Ar­beitslosigkeit in fast allen Ländern «Zeige, wie infolge der Mechanisierung» Millionen menschlicher Arbeitskräfte aus dem Produktionsprozess einfach ausgeschaltet und auf die Strasse gestellt werden.» Auf dem Hintergrund einer krisenhaften Entwicklung wird die Technisierung der Produktion nun anders wahrgenommen; das harmonische Bild bekommt vorüberge­hend Risse. Im r. Mai-Aufruf von 1934 wird festgehalten: «Der Kapitalis-

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« ••• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft» 344

mus hat sich als unfähig erwiesen, ein Wirtschaftssystem zu schaffen, das allen Menschen Brot und Arbeit sichert. Unter seinem Regime hat sich der technische Fortschritt statt zum Segen zum Fluche flir alle Völker verwan­delt.» In dieser Phase, in welcher die technisch-arbeitsorganisatorische Ra­tionalisierung auf dem Arbeitsmarkt verheerende Auswirkungen zeitigt, geraten die Zukunftsideen der Arbeiterbewegung ins Gravitationsfeld der Planung: «Vernünftig-rationeller Plan statt anarchisch-chaotischer Markt>> heisst nun die Parole. «Aufwärts durch Arbeit» lautet der Slogan eines SP­Plakats von I93 8. Der «planmässige Aufbam wird immer wieder illustriert durch die sozialistische Baustelle, auf welcher in schöner Ordnung syste­matisch Stein auf Stein gefUgt wird. Das Fortschrittsproblem reduziert sich auf die Frage, welches System die «volkswirtschaftliche Maschine» besser am Laufen hält. Die Idee einer Umgestaltung der gesellschaftlichen Struk­turen verflüchtigt sich. Die sozialistische Planung soll das gewährleisten, wozu der anarchische Kapitalismus nicht mehr in der Lage ist: Wirtschafts­wachstum und Vollbeschäftigung. Die Verfechter der These, die Welt durchlaufe gegenwärtig eine tiefgreifende Systemkrise sind ebenso von diesem Planungsgedanken überzeugt wie die Anhänger der Auffassung, es gelte blass einen konjunkturellen, d. h. vorübergehenden Wirtschaftsein­bruch zu überwinden. In programmatischen Reden wird die sozialistische Übergangswirtschaft als einzig möglicher Weg aus der Krise dargestellt. I933 erklärt Robert Grimm, «Banken, Versicherungsgesellschaften, indu­strielle und kaufmännische Grassbetriebe (seien) flir die Sozialisierung reif, (was fehle, seien die) machtpolitischen Voraussetzungen». Die Politik der SPS verfolgt deshalb gegen Mitte der 30er Jahre hin das Ziel, eine mehrheitsfähige «rot-grüne Allianz» zu schmieden. In der Mas­senkaufkrafttheorie sieht die Partei ein wirtschaftspolitisches Programm zur Gewinnung der Bauern und der Angestellten. Nach I933 moderiert sie unter dem Eindruck der äusseren Ereignisse und aufgrund dieser innenpo­litischen Zielsetzung ihren politischen Stil: Die «Mobilisierung der Mas­sen», die anfangs der r930er Jahre noch vorherrscht, wird jetzt abgelöst durch eine defensive Grundtendenz. «Nationale Verständigung» und das Warten auf den «wirtschaftlichen Aufschwung der Heimat» stellen die Hauptpunkte im r. Mai-Aufruf von I937 dar. Dieser Kurs wird während des Zweiten Weltkrieges durchgehalten. Im Manifest «Neue Schweiz», welches die SPS I942 im Hinblick auf die Nationalratswahlen von I943 verabschiedet, ist von einer «planmässigen Ordnung der Industrie» und einer «planmässigen Förderung der Landwirtschaft» die Rede. Während­dem die in den 30er Jahren entstandene Kompromisspolitik in der Nach-

345 <<Die Quelle jeden Fortschritts ist die Organisation»

kriegszeitunter neuen Bedingungen weitergeführt wird, widerspricht die­ser planungsgläubige Krisenverhinderungssozialismus sowohl dem indivi­dualistischen, antietatistischen Lebensgefühl als auch der konjunkturellen Situation der Zeit nach 1950.

In der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre: Von der kapitalistischen Anarchie zum sozialistischen Plan

1935 verabschiedete die SPS, zusammen mit einemneuen Parteiprogramm, den «Plan der Ar­

beit», welcher die «Nationalisierung der Schliis­selindtlstrien» und die «Erweiterung des Binnen­marktes» zum Zwecke einer «erhöhten Prosperi­tät» vorsah. Diese Programmdokumente sind

stark von den beiden Begriffen «Plall» und «Markt» geprägt. Auszug aus dem SPS-Pro­

gramm:

«Mit der kapitalistischen Wirtschaft un­

trennbar verbunden ist die Planlosigkeit

und Anarchie der Produktion. Die kapitali­

stische Klasse hat die Herrschaft über die

Produktionsmittel verloren, sie sind ihr

über den Kopf gewachsen. Jeder einzelne

Unternehmer steht unter dem von der Kon­

kurrenz diktierten Zwangsgebot, stets auf

die Verbilligung seines Produktes und die

Sicherung und Erweiterung seines Absatzes

bedacht zu sein und seinen Konkurrenten zu

schlagen, um nicht von ihm geschlagen zu

werden. Wo das Unternehmertum versucht, die

Herrschaft über die Produktion durch Kar­

telle, Syndikate und Trusts zurückzugewin­

nen, steigert es den Konkurrenzkampf der

einzelnen zu rücksichtslosem Kampf zwi­

schen Unternehmergruppen und ganzer

Wirtschaftszweige. Die Konkurrenz- und

Interessenkämpfe werden dadurch ver­schärft, ihre Grundlagen erweitert, die

Planlosigkeit und Anarchie der Produktion

gesteigert, das Missverhältnis zwischen der

Grösse des Produktionsapparates un'd der

Aufnahmefähigkeit der Märkte erwei­

tert.

Die sozialistische Vollelldung. In der sozialistischen Gesellschaft dienen die

Produktionsmittel nicht mehr der Ausbeu­

tung und Beherrschung der Werktätigen

und haben dadurch aufgehört, Kapital zu

sein. Die Arbeitskräfte finden nützliche

Verwendung am richtigen Ort. Durch die

planmässig geleitete und dem Bedarf ange­

passte Produktion können dem einzelnen

die Möglichkeiten zur vollen Entfaltung

seiner Anlagen und Fähigkeiten und zu

weitgehendem Genuss der Kulturgüter ge­

währt werden.»

Die sozialistische Linke, welche die moderierte Verstiindigtmgspolitik der SPS stark kritisierte,

veifiigte, was die Kapitalismuskritik und die so­zialistische Fortschrittsperspektive anbelangt, iiber durchaus ähnliche Vorstelhmgen. (Aus: «Hallo, hallo, die sozialistische Linke spricht»,

19]7, s. 5)

«Die ungeheuer entwickelten Produktiv­

kräfte revoltieren gegen die privatkapitali­

stischen Aneignungsmethoden, gegen die

Beherrschung der Produktionsmittel durch

eine Handvoll millionenreicher Monopol­

kapitalisten und Trustherren.

Im Interesse der Erhaltung des Profites wird

der Produktionsapparat zur Hälfte bis zu

zwei Drittellahmgelegt. Wertvolle Maschi­

nen werden gewaltsam und absichtlich zer-

« ••• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft» 346

stört. Gewaltige Strecken bisherigen Kul­

turlandes werden in 1,3rache verwandelt.

Arbeitsparende neue Erfindungen werden

aufgekauft und bleiben unausgenutzt. Dut­

zende von Millionen arbeitswilliger Hände

und Hirne werden zum Feiern gezwungen.

Inmitten eines unermesslichen Reichtums

an allem, was das Leben der Menschen an­

genehm und lebenswert gestalten könnte,

steigt die Massenarmut Ungeheure Men­

gen Lebensmittel und Bedarfsgegenstände

Plan der Arbeit 1935· Die Krise, f'Ur die

auch die Metapher der «Krankheib> ver­

wendet wird, kann durch eine gesunde

Planung geheilt werden. Momentan

herrscht noch der Kapitalismus; die In­

dustrie hat Gegenwind und produziert

Kanonen, Sinnbilder f'Ur «Menschen­

und Warenvernichtung». Das bewusst

«modern» gestaltete Plakat soll auch

formal die neue Zeit vorwegnehmen.

werden vernichtet, während Millionen von

Menschen in elenden Löchern hausen müs­

sen, nicht wissen, womit sie sich kleiden,

wie sie ihren Hunger stillen sollen.

Der Kapitalismus, unfähig, die hochent­

wickelte Technik, einen bisher beispiellosen

Stand der Wissenschaft der Wohlfahrt der

breiten Volksmassen dienstbar zu machen,

sucht seine Rettung in einer künstlichen Zu­

rückbildung der technischen und wirt­

schaftlichen Entwicklung.»

Die Neue Schweiz 1943. Der Krieg geht zu Ende, und das Blatt der Geschichte

wendet sich zugunsten des Sozialismus:

«<n Trümmer sinkt die alte Welt», der­

weil sich die SPS ans Werk zum Bau der

«Neuen Schweiz» macht. Die Forde­

rung nach Planung und Lenkung der

Wirtschaft wird häufig durch eine Bau­

stelle symbolisiert, auf welcher qualifi­

zierte und kräftige Arbeiter eine präzise

Konstruktion erstellen.

347

Fortschritt als Wirtschaftswachstum:

Die Arbeiterbewegung in der Hochkonjunktur zwischen dynamischem Pragmatismus und konservativer Stagnation

Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Hoffnung auf einen sozialistischen Aufschwung in der Arbeiterbewegung weit verbreitet. Die Durchsetzung einer staatlichen Planwirtschaft als Antwort auf kapitalistische Krise und kapitalistischen Krieg scheitert nicht nur an der desillusionierenden Erfah­rung der faschistischen Staatsverherrlichung und der stalinistischen Partei­diktatur. Es ist vor allem die einsetzende Hochkonjunktur, der unerwartete und entgegen aller Krisenprophezeiung anhaltende, gewaltige Auf­schwung des Kapitalismus, der die Situation ftir die Arbeiterbewegung gründlich verändert. Der Kapitalismus bringt jetzt selber zustande, was bisher nur durch bewusste Lenkung und systematische Planung für mög­lich gehalten wurde: stetiges und rasches Wirtschaftswachstum. Steigende Reallöhne, die Aussicht der Arbeiter, dank einem neuen Typ von Massen­produktion ständig neue Konsumgüter zu kaufen, die bisher als Luxus gal­ten, und schliesslich die Perspektive eines kollektiven sozialen Aufstieges: diese handgreiflichen Fortschritte lassen den Willen zu einer Änderung der Gesellschaftsordnung erlahmen. Den Gewerkschaften gelingt es, nach einer kurzen Streikwelle, nach Kriegsende in allen wichtigen Branchen Gesamtarbeitsverträge mit den Unternehmern abzuschliessen, welche die Arbeitsbedingungen verbessern. Die Einigung auf friedliche Konflikt­lösungen fördert die Vorstellung einer «Sozialpartnerschaft» zwischen Un­ternehmer- und Arbeiterverbänden, die jetzt auch formell gleichberechtigt in die Vernehmlassungen des Bundes einbezogen werden. Die sich schon gegen Ende des Weltkrieges abzeichnende Bereitschaft der bürgerlichen Parteien zu sozialen Zugeständnissen führt 1947 zur Einführung und später zum schrittweisen Ausbau der AHV; soziale Postulate finden sich jetzt selbst in bürgerlichen Parteiprogrammen, soziale Ideen und der Gedanke des Sozialstaates werden Allgemeingut. Dieser rasante soziale Wandel mit der greifbaren Perspektive eines Wohl­standes, an dem alle partizipieren, kann nicht ohne Auswirkungen auf die Fortschrittsvorstellungen der Arbeiterbewegung bleiben. Während ältere Genossen die Konjunktur zunächst als kurze Scheinblüte betrachten, kriti­sieren die Jüngeren, die «skeptische Generation«, dass die Arbeiterbewe-

« ••• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft>> 348

gung ihre Ideale nicht mehr aus der Zukunft, sondern aus der Vergangen­heit schöpfe, dass sie sich in ihren Formen und Symbolen nach rückwärts orientiere, ja dass eine marxistisch erzogene Funktionärsgeneration buch­stäblich der Zeit nicht mehr nachkomme. Die Diskussion der frühen soer Jahre um eine Neuorientierung der SPS beinhaltet vor allem eine heftige Kritik am Fundament der bisherigen marxistischen Fortschrittsorientie­rung, wobei die vom Antikommunismus geprägten Kritiker einen sche­matischen und ökonomistisch verengten Marxismus vor Augen haben: Die marxistische Schule habe sich totgelaufen, weil sie sich nicht mit den modernen Wissenschaften auseinandersetze; die marxistische Soziologie sei überholt: Der Lebensstandard der qualifizierteren Industriearbeiter habe sich gehoben, ihre Rechte in Betrieb und Staat seien vermehrt worden; die Mittelschichten seien nicht zerrieben worden, neben den neuen selbständi­gen Existenzen nehme vor allem der Angestelltensektor zu. Der Staat schließlich sei nicht mehr Unterdrückungsinstrument, sondern der bedeu­tendste Träger der sozialen Ausgestaltung des Kapitalismus. Angesichts dieser Unhaltbarkeit marxistischer Analysen solle die Zukunftsorientie­rung auf eine sozialistische Gesellschaftsordnung hin, die durch den Kom­munismus diskreditiert erscheint, ersetzt werden durch die als zeitlos gül­tig verstandenen sozialistischen Leitvorstellungen «Freiheit, Gerechtig­keit, Demokratie und allgemeiner Wohlstand». An diesen Werten habe sich die politische Arbeit pragmatisch, je nach Situation, zu orientieren. Diese Absage an eine eigene, «andere» Zukunftsvorstellung, dieser Ver­zicht auf die Überwindung der bestehenden Gesellschaftsform wird im be­wusst pragmatischen SPS-Programm von 1959 mit der Vorstellung ver­brämt, dass sich die schweizerische Gesellschaftsordnung, geschichtlich betrachtet, bereits im «Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus» be­finde. EinJahr später betont der Gewerkschaftsbund in einem neuen Ar­beitsprogramm, er habe «seine Aufgabe in der bestehenden Wirtschafts­ordnung zu erftillem. Der Ruf nach Entideologisierung der Politik wird in den 6oer Jahren immer deutlicher: Die SPS soll sich nach Meinung der «Antiideologem als pluralistische Partei in einer pluralistischen Gesell­schaft verstehen. Ihre Aussöhnung mit der Gesellschaft vollzieht die Arbeiterbewegung im stolzen Bewusstsein auf das Erreichte. «Es sind sozialistische Bausteine be­reits in der heutigen Wirtschaftsform eingebaut worden», erklärt Alt-Bun­desrat Max Weber in seinem Referat zum neuen SPS-Programm, und auf einen Zuruf des Präsidenten hin: «Das ist unser Erfolg», ftigt er bei: «Ja, wir haben es erreicht. Wir wollen die Gloriole nicht den anderen überlassen.

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349 Fortschritt als Wirtschaftswachstum

Die AHV, die Invalidenversicherung, die Verkürzung der Arbeitszeit, die Ferien-all das ist von den Gewerkschaften und unserer Partei erkämpft worden.» In einer Wahlbroschüre von 1963 heisst es: «Heute geht es vielen von uns recht gut. Man verdient, man kann sich etwas leisten. Unser Leben ist reicher geworden. Das freut die Sozialdemokraten. Mit dem Ziel, dass die Sonne für alle scheinen möge, begann der Aufstieg der Industriearbei­terschaft. Aus den Hinterhöfen des Lebens erwuchs die moderne Zeit. Es ist das bleibende Verdienst der Sozialdemokraten und Gewerkschaften, dass wir heute in unserem Lande weniger Not, weniger Ungerechtigkeit und mehr Freiheit besitzen.» Auf den sozialdemokratischen Wahlplakaten erscheint nicht mehr der klassenbewusste Kämpfer ftir eine neue Arbeits­ordnung, sondern ein strahlender, gut gekleideter, selbstbewusster Arbei­ter mit seiner Familie: das Ziel einer Umgestaltung der Produktionssphäre durch das kämpferische Klassenkollektiv weicht der Sehnsucht nach indi­viduell-familiären Freizeitbedürfnissen, nach sozialem Aufstieg und sozia­ler Anerkennung. Es geht immer weniger darum, sozialen Fortschritt zu erkämpfen, sondern darum, die erreichte soziale Sicherheit zu verteidigen: «Wir wollen nicht, dass die gute Wirtschaftslage mit ihrer Vollbeschäfti­gung durch leichtfertige Experimente gefährdet wird», heisst es in der schon oben zitierten Wahlbroschüre. Damit versteht sich aber die Arbeiterbewegung keineswegs als konserva­tiv; sie will vielmehr teilhaben am harmonischen Fortschrittsideal der gan­zen Gesellschaft: Die Regierungsbeteiligung in der «Konkordanzdemokra­tie» soll, ebenso wie der «Arbeitsfriede», das Ziel sichern: wachsenden Wohlstand ftir alle, als dessen Motor Produktivitätssteigerung und Wirt­schaftswachstum erscheinen. Da die Verteilung des Wohlstandskuchens trotz der sozialdemokratischen Reformpolitik nicht ausgeglichener wird, richten sich die Erwartungen vor allem auf dessen Wachstum. Max Weber referiert zum neuen SPS-Programm: «Es ist eine Binsenwahrheit, dass nicht mehr verteilt werden kann, als vorhanden ist. Daher muss die Erhö­hung der Produktivität an den Anfang gestellt werden.» Und 5GB-Präsi­dent Hermann Leuenherger charakterisiert das neue Arbeitsprogramm des Gewerkschaftsbundes mit den Worten: «Ein dynamischer Wachstumspro­zess ist Voraussetzung daftir, dass sich die schöpferischen Fähigkeitenjedes einzelnen besser entfalten können. Das wirtschaftliche Wachstum ermög­licht auch uns, den Lebensstandard der Unselbständigerwerbenden zu ver­bessern, Not und Armut zu überwinden. Nur in einer wachsenden Wirt­schaft können sich die Gewerkschaften voll entfalten, positiv wirken.( ... ) Eine expansive Wirtschaft schafft auch die Luft, in der die Demokratie am

« ••• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft» 350

besten gedeiht, wo sich die verschiedenen Interessengruppen leichter zu gemeinsamen Aufgaben zusammenfinden können.» Die Arbeiterbewe­gung will dazu beitragen, alle produktivitätshemmenden Faktoren syste­matisch auszuschalten, so durch Unterstützung von Rationalisierung, Au­tomatisierung, betrieblicher Forschung sowie durch die Ausschöpfung der «Arbeits- und Begabtenreserve». «Fortschritt» heisst jetzt Wirtschafts­wachstum und technischer Wandel. «Die Geschichte hat das Tempo der Düsenflugzeuge übernommen», erklärt Bundesrat Hans Peter Tschudi 1966. Das atemberaubende Entwicklungstempo der Technik, die Dynamik des industriellen Wandels, die Automation und die Möglichkeiten und Gefah­ren des Atomzeitalters verunsichern und faszinieren die Arbeiterbewegung zugleich. Die neue Angst vor dem Atomkrieg, der «Verlust der Gemüt­lichkeit», die sinnentleerte, automatische Produktion und die Zunahme seelischer Krankheitentrotz Wohlstand, werden durchaus registriert. We­nige Einzelkämpfer wenden sich auch in technik-und wachs turnskritischem Sinn gegen die fortschreitende Umweltzerstörung und entwerfen eindrück­liche, visionäre Bilder der Schweiz als betonierter und asphaltierter Stadt­landschaft. Wenn sie auch alle betonen, dass sie sich nicht gegen die techni­sche Entwicklung an sich wenden, warnen sie doch deutlich «vor der Vereh­rung des technischen Fortschritts, die in vielen Fällen zur eigentlichen Anbe­tung geworden ist .... Oftmals ist das Drängen nach technischem Fort­schritt nichts anderes als ein sündiger Tanz um das goldene Kalb.>> Doch die vorherrschende Wohlstands- und Wachstumsoptik lässt die meisten glauben, die Entwicklung der Technik sei unvermeidbar, ein «Ein­bahnprozess», wie sich Ueli Götsch 1967 ausdrückt, «weil er keine Gegen­entwicklung kennt, sondern unabhängig von Politik und geistigen Strö­mungen sich immer höher und weiter entwickelt, ohne dass ein Weg zu­rück möglich wäre. Damit soll nicht gesagt werden, dass dieser Ablauf nicht beeinflussbar ist, aber nur in bezug auf die Richtung und auf das Tempo, nicht im Sinne seiner Umkehrung.>> Das eigentliche Problem ist vielmehr der Mensch, der die Entwicklung nicht «verdaut», und das «Zu­rückbleiben der politischen Fähigkeiten hinter den Anforderungen der sich mehr und mehr wissenschaftlich-technisch integrierenden Welt». Eine zentrale Aufgabe der Sozialdemokratie besteht daher im «HeranfUhren der Gesellschaft an den Stand von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft» durch Förderung von Erziehung und Bildung sowie durch prognostische Planung der vernachlässigten Infrastruktur in Vorwegnahme weiteren Wachstums.

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351 Fortschritt als Wirtschaftswachstum

Von der technikgläubigen, auf die Anhäufung materiellen Wohlstandes zu­sammengeschrumpften Fortschrittsideologie der Arbeiterbewegung sind viele überzeugte Sozialdemokraten allerdings selber nicht begeistert, weil sie eine umfassendere «Menschwerdung des Arbeiters» im Auge haben. Der Arbeiter sei «kulturell konservativ geworden» und neige unter dem Einfluss neuer Produktionsbedingungen und unter dem lawinenartigen Druck moderner Massenmedien zum Konformismus, stellt alt SPS-Präsi­dent Hans Oprecht 19 55 fest. Der jüngere Hans Ulrich Amberg konstatiert schon zwei Jahre früher eine veränderte Haltung der Arbeiter unter dein Einfluss des Wohlstandes: Solange der Arbeiter gegen seine Ausbeutung rebelliert habe, sei er «Träger des Fortschritts» gewesen, dochjetzt versage die «alte Fortschrittsformel»: «Die Verfechtung materieller Interessen stellt einen wichtigen Teil der von der Arbeiterbewegung zu erbringenden Lei­stung dar; echter Fortschritt ist jedoch an die viel umfassendere Aufgabe geistiger Neugestaltung gebunden. Der einzelne Mensch, der sich aus freiem Entschluss und aus Verantwortung solidarisch verhält, muss als so­zialistisches Menschenbild in die Theorie und die Propaganda der Arbeiter­bewegung Eingang finden.» Ganz ähnlich wirft Karl Äschbach der sozial­demokratischen Bewegung vor, sie trage mit die Verantwortung daftir, «dass das Streben nach materiellem Erfolg zum Massstab unseres Lebens geworden ist», denn sie verfüge über keine brauchbare Konzeption, «die diesen Lebensstil ersetzen soll.» In der zweiten Hälfte der 6oer Jahre ver­stärken sich solche kritischen Äusserungen an der ideologischen Anpas­sung an bürgerliche Leitbilder, an der «Angleichung der Standpunkte» und der «Verwischung der Gegensätze». Für den bestandenen Politiker Erwin A. Lang zeigt die Arbeiterschaft, «von der Wohlstandsmentalität überkru­stet», jetzt auch politisch konservative Züge: «<m Wettrennen um den Be­sitz möglichst vieler Konsumgüter gerieten die Ideale hoffnungslos ins Hintertreffen und sind nicht mehr gefragt. Das Klassenbewusstsein wurde vom Trend nach dem unauffälligen, farblosen Durchschnittsbürger abge­löst, und aus dem Proletarier von gestern wurde der Staatsbürger von heute, dem Experimente ein Greuel sind und Sekurität viel, beinahe alles ist.» Die Kritik am modernistischen, von «Reklamebüro-Sozialisten» gepräg­ten Image der Arbeiterbewegung verstärkt sich um so mehr, als gerade die favorisierte Wohlstandsmentalität in den 6oer Jahren Teile der Arbeiterba­sis ihrer eigenen Bewegung entfremdet, was sich in leicht sinkenden Mit­gliederzahlen und wachsender Stimmabstinenz äussert. Seit den 50er Jah­ren wird über den Individualismus und die Entsolidarisierung der Arbeiter

« ••• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft» 352

geklagt, welche soziale Errungenschaften der Arbeiterbewegung nur noch als selbstverständliche « Versicherungsleistungen» betrachten. Angesichts des Nachhinkens der Vertragslöhne hinter den wirklichen Löhnen ver­stärkt sich bei vielen die trügerische Vorstellung einer automatischen Ver­laufsform des Fortschritts in einer Ära immerwährender Prosperität; fur die Mitglieder verliert der Zusammenhang zwischen eigenem Engagement und dem «sozialen Fortschritt» zunehmend an Plausibilität. Der materielle Zwang zum Klassenbewusstsein schwindet: «Sobald Aufstiegsmöglich­keiten offenstehen, wird die Solidarität mit den Berufsgenossen der glei­chen Stufe kleiner». Die Arbeiterorganisationen beklagen schliesslich den Fluchtcharakter der Freizeitbeschäftigung der Arbeitnehmer und sehen im­mer klarer die Grenze ihrer Erfolge darin, dass «unsere Epoche des über­handnehmenden Materialismus den Willen zur Solidarität nicht fordert, sondern vielmehr den Egoismus hochzüchtet.»

«Vernichtung und Fortschritt schreiten in der Welt nebeneinander»

Die jubiläumsrede des Präsidenten des Schwei­

zerischen Gewerkschaftsbtmdes, Artltur Stei­ner, wirkt wie eine Rede bei einer Siegesfeier,

nachdem das Ziel erreicht ist. Steilter weist zwar auf die Zwiespältigkeit eines rasante11 tedmischen Fortschritts hi11, doch er zieht keine konkreteren Scltliisse daraus, als dass die Ge­

werkscluiften auch in Zukunft nötig seien. Wie­so bleiben die «denkenden Staatsbürger» (zu de­nen die Arbeiter nach der Meinung von Stei11er geworden sind) immer mehr der Umefem? Wie

stellen sielt die Gewerkschqfte11 zu dett «ver­nichtmden» Folgm des Fortschritts? ( Arthur Steiners Rede ist in der «Gewerkschaftlichen

Rundschau» von 1955 (Nr. 1 o !I 1) abge­druckt.)

«75 Jahre Schweizerischer Gewerkschafts­

bund fallen aber auch in die Zeit einer un­

glaublichen technischen Entwicklung und

gewaltiger wissenschaftlicher Forschung

und Fortschritte. Der Zeit, in der wir noch

über den Schulaufgaben bei der trauten Pe­

troleumlampe sassen, folgte der Siegeszug

der Elektrizität, und in den grossen Städten

wurde die Nacht hell wie der Tag. Die

Handarbeit wich der Maschinenarbeit, und

wenn wir heute über des Menschen Stärke

reden, dann rechnen wir, wie viele motori­

sche Pferdestärken auf den Kopf der Bevöl­

kerung fallen. Je mehr es ihrer sind, um so

mehr entfernen wir uns von der Unterent­

wicklung und schweben in die Nähe des au­

tomatischen Zeitalters. Unser Staunen über

das Unmögliche, das doch Wirklichkeit

wurde, hört nimmer auf. Und schon stehen

wir wieder an der Schwelle eines neuen

Zeitalters, demjenigen des Atoms, von dem

wir wohl ahnen, dass es uns eine gewaltige

Umwälzung bringen wird, aber nicht wis­

sen können, was seine Folgen sein werden.

Und doch grübeln wir bei allem Fortschritt

darüber nach, wieso trotz aller Hilfe, die

dem Menschen zuteil wird, Stück um Stück

Beschaulichkeit aus unserem Leben schei­

det. Die Eroberung der Luft, die schnelleren

Flugzeuge, die rascheren Eisenbahnen, der

Siegeszug des Automobils, die leistungsfä-

'~~~~~~--------'~

353

higeren Maschinen in der Werkstätte und

die Motorisierung des Büros, sie alle haben

dem Menschen Tempo und nochmals

Tempo auferlegt, und über ihm schwebt

das Damoklesschwert, trotzTempoüberall

zu spät zu sein. Es fehlt uns immer noch die

grosse Erfindung, die den Menschen in

zwei Hälften spaltet, von der abwechs­

lungsweise die eine ruhen kann, während

die andere arbeitet. Die Maschine aber hat

uns immer noch besiegt, und immer noch

sollten wir ihr Herr zum Wohle der

Menschheit werden.

Vernichtung und Fortschritt schreiten in der

Welt nebeneinander. Die eine, diabolisch

des Menschen Untergang erstrebend, die

andere, sein Leben angenehmer gestaltend.

Beide haben auf die Gewerkschaftsbewe­

gung ihren Einfluss während 75 Jahren

ausgeübt und ihr Wirken massgeblich be­

stimmt. Der Schweizerische Gewerk­

schaftsbund und dessen Familie, die Berufs­

verbände, setzten sich ein - wie Herman

Greulich es klassisch prägte - ftir die

Menschwerdung des Arbeiters. Wo war der

Arbeiter vor 75 Jahren? Er war klein, so

klein, dass man ihn übersah, er hatte eine

Fortschritt als Wirtschaftswachstum

leise Stimme, so dass man ihn nicht hörte.

Er lebte als Lohnarbeiter abseits der Gesell­

schaft. Schritt um Schritt aus dem Dunkel

des Lebens hinauf an das Licht musste bei

oft unverständlicher Gegenwehr gegangen

werden. Man mag heute über die Gewerk­

schaften das Urteil fällen, sie wären verma­

terialisierte Gebilde, sie würden den Arbei­

ter zur Eitelkeit erziehen, indem er so gut

gekleidet wie die andern einhergehen wolle,

die Gewerkschaften würden ihn zum Ver­

schwender machen, weil er anständig er­

nährt sein wolle und nach des Tages Arbeit

ein anständiges Heim wünsche.

Ich glaube, es ist das gute Recht des Arbei­

ters, auf das Anspruch zu erheben, was bes­

seres Arbeiten seiner Hände geschaffen hat.

Für die Gewerkschaften gab es aber nie nur

eine Magenfrage. Die Gewerkschaften ha­

ben den Arbeiter zum denkenden Staatsbür­

ger erzogen, sie haben diesen Staatsbürger

in die Demokratie hineingestellt und ihr da­

mit ein solideres und breiteres Fundament

gegeben. Um sinngernäss die Worte des

Dichters zu gebrauchen: der Arbeiter ist vor

sein Haus getreten, um mit im Staate zum

Rechten zu sehen.>>

Von der Zukunfts- zur Gegenwartsorientierung: Der Stolz auf das Erreichte

Der Text dieser SP-Wahlbroschüre von scheinen. Das Sujet nimmt positiv Stellung

1963 fährt fort: «Vieles haben die Sozialde- zur gegenwartsbezogenen, individuali­

mokraten erreicht. Man lebt glücklicher in stisch-familiären Freizeitidylle, die in der

unserem Lande.>> Als Gegenwartsprobleme Hochkonjunktur als Vorstellung die klas­

werden Wohnungsmangel und Bodenspe- sensolidarische, arbeitsbezogene Fort-

kulation genannt.

Mit dieser Wahlpropaganda wollen sich die

SP-Wahlstrategen bewusst vom anklagen­

den Ton früherer SP-Propaganda absetzen:

die Sozialdemokraten sollen als fröhliche

Schrittsperspektive verdrängt. Der Tenor ist

der Stolz auf das Erreichte, auf die Teilhabe

am Wohlstand, auf soziale Anerkennung,

auf die Bundesratsbeteiligung. Die Sozial­

demokratie muss sich aber zugleich dage-

Menschen, nicht als verbissene Kämpfer er- gen verteidigen, dass ihre materiellen

« ••• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft»

Errungenschaften nicht den «guten Maschi­

nen», den Erfindungen und der Technik zu­

geschrieben werden im Sinne eines «auto­

matischen Fortschritts», der sie als Partei

überflüssig machen würde.

«Daran sind gar nicht die Sozialdemo­kraten schuld, dass wir heute besser leben. Das sind die guten Maschinen, die Erfin­dungen, die Technik ... » Das eine und das andere! Die Vorteile, die Maschinen und Technik boten, kamen nämlich jahrzehntelang nur ihren Besit­zern zugute. Wurden die Maschinen bes­ser, so waren einfach Gewinne und Brief­taschen der Fabrikanten dicker. Bis es Sozialdemokraten gab! Ja, die er­sten Sozi wurden verspottet. Man ging mit Polizei und Militär auf sie los. Wer denkt heute nochdaran? BundesratSpüh­ler, Bundesrat Tschudi sind Sozialdemo­kl·aten. Der Kampf der alten Idealisten­schar war nicht umsonst.

Der einst erniedrigte Arbeiter Ist zum selbstbewussten Bürger un· seres Landes geworden. Er hat mit seiner Familie teil am Wohlstand.

354

.---

355 Fortschritt als Wirtschaftswachstum

1950er und 1960erjahre: Einheitliches Fortschrittsideal und austauschbare Parolen.

In der Wachstumsperiode der soer und 6oer durch «Freiheit» - damals herrscht «Kalter

Jahre verwandelt sich der «Fortschritt» in Krieg»- und durch «Sicherheit». Auf dem

ein einheitliches, klassen-und parteienüber- Weg in die materiell gesicherte Wohlstands-

greifendes, abstraktes Modernisierungside- gesellschaft gewinnt eine konservative Si-

al. «Fortschritt» als Slogan wird ergänzt cherheitsmentalität die Oberhand. Die Risi-

1951 1958 1961

Bürgerliche Plakate: «Freiheit, Fortschritt, Frieden»: Das war zwischen 1948 und 1954 die I. Mai-Parole des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes. Mit einem einprägsamen vierten «F» und mit einem Schweizerkreuz ergibt das ohne Probleme ein bürgerliches Programm. Was das Atom f'rlr die Familie ist, stellt die Autobahn f'rlr den Verkehr dar: «Fortschritt und

Sicherheit».

1951

;I !

Sonaldemokraten_ · · ·· und Gewerkschaner

1958 1960

aufgesclilossen sozial lortscbritllich modern demokranseil

SPS-Plakate: Die Parolen <<soziale Sicherheit>> und «sozialer Fortschritt» beziehen sich auf ein staatlich-gewerkschaftliches Verteilungskorrektiv in der Wachstumsgesellschaft: Die Unter­nehmer sorgen f'Ur die stete Zunahme des Bruttosozialprodukts. Gewerkschaften und SPS

streben dann dessen gerechte Verteilung an .

« ••• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft» 356

kominimierung im Privatleben läuft par­

allel mit der Entstehung von technisch-in­

dustriellen Grossrisiken, die damals noch

kaum zur Kenntnis genommen werden.

Die Vermarktungstendenz greift jetzt auf

die Politik über. Die Wahl- und Abstim-

mungsslogans werden so «billig» wie die

Massenprodukte, die damals die (Super-)

Märkte zu überschwemmen beginnen. Mit

der Angleichung des Lebensstils über Klas­

sen und Regionen hinweg wird auch die po­

litische Propaganda immer uniformer.

Abschied vom Wachstum: Abschied vom Fortschritt?

Vom wachstumsorientierten « Verteilungssozialismus» der Hochkonjunktur zum ökosozialistischen Programm der 198oer Jahre

In diesen ernüchternden Einsichten der Arbeiterbewegung spiegelt sich das veränderte gesellschaftliche Klima der ausgehenden r96oer Jahre. Das «Fortschrittsparadigma», welches technologische Innovation, Produktivi­tätssteigerung, Mehrproduktion und Konsumzuwachs absolut setzt und immer nur positiv wertet, verliert nun an Überzeugungskraft. Hinter der glitzernden Fassade der « Überflussgesellschaft» breitet sich ein « Unbeha­gen in der Modernität» aus. In dieser Situation tritt die rebellierende «pro­gressive» Jugend auf die politische Bühne. Nach dem «Globus-Krawall» vom Sommer 1968 schreibt Monica Blöckerunter dem Titel «Die Zeit der Windstille ist vorbei», dieser Protest drücke nicht nur «ein unbestimmtes Unbehagen an der extrem materialistischen Umwelt aus», sondern besitze einen «spezifisch politischen Gehalt: Er versteht sich selbst als radikale Kri­tik an der etablierten Gesellschaft, an dem versteinerten Bau des Establish­ments, um eine seiner Lieblingsvokabeln zu gebrauchen. Er reagiert scharf gegen Unterdrückung in jeder Form, fordert das Mitbestimmungsrecht aller Beteiligten, also echte Demokratie, und will die leeren Worte und heuchlerischen Gebärden der Herrschenden entlarven. Er orientiert sich an einem Marxismus, der im Gegensatz zu allem Bestehenden- auch der kommunistischen Staatsordnung- gesehen wird und mündet in eine Uto­pie.» Wichtige Teile der 68er Bewegung versuchen rasch, die früheren, blass verschüttet geglaubten Traditionen der Arbeiterbewegung freizulegen.

357 Abschied vom Wachstum: Abschied vom Fortschritt?

Mit dem Anknüpfen an proletarische Protestformen verbunden ist die Wiederaufnahme einer marxistischen Kapitalismuskritik, die sich am Ziel einer « herrschaftsfreien Gesellschaft» und eines radikaldemokratischen So­zialismus orientiert. Die aufbrechende junge Generation schöpft ihre Ener­gien und ihre Hoffnungen auf eine gesellschaftliche Veränderung auch aus der romantisierenden Erinnerung an die «grossen Zeiten» des Klassen­kampfes und an die solidarische Gegenkultur einer revolutionären Arbei­terschaft. Doch unterscheidet sich das Selbstverständnis der sich herausbil­denden «Neuen Linken», ohne dass ihr das immer klar bewusst ist, in entscheidenden Punkten von ihren historischen Vorläufern. Die Rebellion der sozial sehr heterogenen 68er Bewegung ist geprägt von den wider­sprüchlichen Erfahrungen der «Wohlstandsgesellschaft»: Im Mittelpunkt ihres kulturellen Unbehagens steht die Kritik der herrschenden Konsum­und Leistungsnormen, die Ablehnung von Konkurrenzzwängen und bür­gerlichen Karrieremustern. Materielle Interessen rücken hinter immaterielle Werte zurück. Die Suche nach solidarischen Formen der Gesellschaft findet ihr Gegenstück im «antiautoritären» Streben nach persönlicher, individuel­ler Selbstbestimmung- eine Vorstellung, die der straff disziplinierten frü­heren marxistischen Arbeiterbewegung mit ihrem Willen zur kollektiven Macht fremd war. Das Selbstverständnis dieser «Neuen Linken» ist durchaus «fortschritt­lich». Bezeichnungen wie «Fortschrittliche Arbeiter, Schüler und Studen­ten» (FASS) oder «Progressive Organisationen der Schweiz» (POCH) be­legen dies deutlich. Der antiautoritäre Protest stellt zwar grundlegende moderne Entwicklungstendenzen in Frage. Die komplexe Ausdifferenzie­rung der Gesellschaft mit ihren erdrückenden Apparaten, ihrer starren Rollenteilung und ihren Anforderungen an die Selbstdisziplin verhindern in den Augen der rebellierenden Jugend die Entfaltung der Persönlichkeit. Doch werden mit der neomarxistisch fundierten Kritik am «eindimensio­nalen Menschen» und an der «repressiven Toleranz» zugleich alte Ver­sprechungen der aufklärerischen Fortschrittstradition radikalisiert: Die Zielsetzung der Selbstverwirklichung führt zur Kampfansage auch an bis­her verdeckte und verdrängte Formen von Herrschaft. Die Frauenbewe­gung, welche gegen die offene und subtile Macht der Männer ankämpft, knüpft ebenso an aufklärerisch-moderne Grundhaltungen an, wie der enga­gierte «Antiimperialismus», welcher sich nicht nur gegen den Vietnam­krieg der USA, sondern gegen die Ausbeutung der Dritten Welt durch die reichen Industrieländer insgesamt richtet. Die Hoffnung auf gesellschaft­liche Emanzipation hat sich keineswegs vom «technischen Fortschritt» ab-

« ••• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft» 358

gelöst. Vielmehr soll die «entfremdete» Arbeit mit Hilfe von Automatisa­tion aufgehoben werden. Von Anfang an bestehen erhebliche Verständigungsschwierigkeiten zwi­schen der in das «System» integrierten Arbeiterbewegung und der rebellie­renden Jugend. Der Aufbau neuer linker Konkurrenzorganisationen steht ebenso wie die Eintrittswelle von Jungen in die SPS und in die Gewerk­schaften im Zeichen einer harten Kritik am vorherrschenden pragmati­schen Reformismus. So sehr die schweizerischen Arbeiterorganisationen Nachwuchs in ihren Reihen begrüssen, so sehr haben sie Mühe mit der Kritik der 68er am satten Wohlstand und am verlogenen Nebeneinander von «bewaffneter Neutralität» und wirtschaftlicher Ausbeutung der Drit­ten Welt. Ein früherer Linker wie Fritz Marbach erklärt 1970 im «Profil»: «Wir kämpften an der Aufbaufront ftir ein gehobeneres Dasein der am Rande der Proletarität dahinvegetierenden Lohnarbeiterschaft. Die sich falschlieherweise sozialistisch nennende extreme Linke von heute legt die Axt der Zerstörung an die ökonomischen und ideellen Voraussetzungen eines vorher nie erreichten Wohlstandes. Zudem gefährdet sie- wider alle Erfahrung- die äussere Sicherheit des Landes. Das ist mehr als eine Nu­ance. Es ist ein Unterschied.» Am vehementesten ist die Abgrenzung bei den Nachkriegsfunktionären. Martel Gerteis zum Beispiellässt in einem AZ-Presseartikel 1971 verlau­ten: «Wer heute unter dem Deckmantel radikalisierender Agitation die längst ausdiskutierten und <durch das Leben> bestätigten Erkenntnisse wie­der in Frage stellen will und durch Richtungskämpfe die Gewerkschaften und die Sozialdemokratische Partei von ihrem erfolgreichen schweizeri­schen Weg zum demokratischen Sozialismus abhält, muss sich nicht wun­dern, wenn er in den Verdacht kommt, dass er im Grunde die Geschäfte der Reaktion besorgt.» Traditionelle Sozialdemokraten haben das Gefühl, die besserwisserische «Neue Linke» wolle sie um die verdienten Lorbeeren bringen. 1973 schreibt Otto Lezzi: «Auch den Fortschritt, so möchte ich meinen, sollte man nicht unbedingt mit dem <linken Flügel> gleichsetzen. ( ... ) Das U rhe­berrecht steht weder der neuen noch der jungen Linken zu.» Die « Zentri­stem der SPS sehen demgegenüber mehr die Chancen, welche der Auf­bruch der Jugend ftir eine etwas flügellahm gewordene Partei eröffnen kann. Richard Lienhard, damals «Profil»-Redaktor, stellt Fritz Marbach die Frage, ob er der Meinung sei, «dass die Impulse aus der Arbeiterschaft genügen, um alle langfristigen Zielvorstellungen, wie sie ftir eine linke Ge­sellschaftspolitik unabdingbar erscheinen, zu verwirklichen,» und stellt

359 Abschied vom Wachstum: Abschied vom Fortschritt?

fest: «Die Kritik der Jungen, mag sie noch so pauschal formuliert sein, zwingtjedenfalls die Vertreter der traditionellen Linken dazu, ihre Position stets erneut zu überprüfen. Oder haben wir uns der Dialektik, dem vor­wärtstreibenden Element politischer Entwicklung, so sehr entfremdet, dass wir diese Denkmethode überhaupt nicht mehr in Betracht ziehen?» Immer wieder wirft die «alte» der «neuen» Linken vor, sie übe zwar an allem Kritik, unterlasse es jedoch, ihre eigenen Ziele zu deklarieren. Tat­sächlich erreichen die Forderungen der «Neuen Linkem niejenen Grad an ideologischer Geschlossenheit und Zukunftsausrichtung, die der älteren marxistischen Programmatik eigen war. Die neuen theoretischen Analysen wiederum bewegen sich auf einem abstrakten Niveau und bedienen sich einer verschlüsselten Sprache. In dieser Situation entzünden sich die Kon­flikte zwischen den Generationen der Linken an konkreten Einzelthemen, welche einerseits um das Eingebundensein der Arbeiterbewegung ins herr­schende System und andererseits um die Suche nach Demokratisierung und Lebensqualität kreisen: Abkehr vom Arbeitsfrieden, Armeekritik, Dritte-Welt-Politik, Bildungsreform, Minderheiten und Fremdarbeiter sind die wichtigsten Stichworte. Die immer direkter erfahrbare Beein­trächtigung der Lebensqualität in den Städten und Agglomerationen (Au­toverkehr, Citywildwuchs) lenkt das Engagement vieler <~unger Linker» schon früh auf Umweltprobleme. Die Zerstörung natürlicher Lebens­räume wird dabei als «logische Folge» der kapitalistischen Herrschaft und der «Macht der Monopole» dargestellt. In dieser Kritik am unkoutrollier­ten Wirtschaftswachstum ist das im folgenden Jahrzehnt an Bedeutung ge­winnende ökologische Bewusstsein bereits angelegt. Insgesamt bergen diese Themen, welche die Auseinandersetzungen innerhalb der SPS und der Gewerkschaften immer stärker bestimmen, einen Konfliktstoff, der sich bis heute keineswegs erschöpft, sondern seine Brisanz bewahrt hat.

Das Engagement der «Neuen Linkem, die radikale Infragestellung von gesellschaftlichenNormen und politischen Institutionen, hat eine beträcht­liche Langzeitwirkung. Die von einer breiten Aufbruchstimmung getra­gene 68er Bewegung bricht zwar auseinander, nachdem klar wird, dass der angestrebte Bruch mit dem bestehenden Gesellschaftssystem nicht gelingt. Aus den vorhandenen gesellschaftskritischen Ansätzen heraus entwickelt sichjedoch eine ganze Reihe von neuen sozialen Bewegungen, die aussethalb der Arbeiterbewegung aktiv werden. Zur Frauenbewegung und zu den Dritte-Welt-Organisationen gesellen sich Alternativprojekte, Selbstver­waltungs betriebe, Quartiergruppen, Bürgerinitiativen, die Anti-AKW-

« ••• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft» 360

Bewegung, 1980 eine autonomistische Jugendbewegung und schliesslich eine neue Friedensbewegung. All diese Bewegungen formieren sich ent­lang verschiedener Lebenslagen und dokumentieren eine abnehmende Be­deutung der Klassenstruktur für die Artikulation von Interessen und die Basisaktivierung. Sie sind zwar lose vernetzt zu einer alternativen Subkul­tur. Der vielfaltige Protest wird jedoch nicht mehr gebündelt durch eine umfassende Systemkritik am Kapitalismus, sondern richtet sich direkt ge­gen unterschiedliche Erscheinungsformen von Herrschaft und Umwelt­zerstörung wie: «das Patriarchat», «das Wachstum», «die Grosstechnolo­gie», «das Packeis». In der Entwicklung der sozialen Bewegungen wie auch in den Themen der öffentlichen Diskussion wird deutlich, dass seit Mitte der 70er Jahre die Zukunft zunehmend mit Angst besetzt und als Bedrohung verstanden wird. So rücken die Begrenzung der weltweiten Ressourcen («Grenzen des Wachstums»), die ökologischen und sozialen Kosten der dauernden Expansion von Produktion und Konsum allmählich in den Brennpunkt des Interesses. Die r 97 4 I 7 5 einsetzende wirtschaftliche Strukturkrise, die eine Wende auf dem Arbeitsmarkt hervorruft, markiert den Auftakt zu einer staatlichen Sparpolitik und einem Druck auf die Löhne. In diesem veränderten gesellschaftlichen Klima finden Reforman­sätze ihr Ende und verengen sich die bisherigen Spielräume für persönliche Entfaltung und kollektive Partizipation. Doch die soziale Verunsicherung verbindet sich mit einer zunehmenden Sensibilisierung für individuelle Zu­mutungen und ökologische Gefahren. Arbeitsstress und Psychopharmaka­konsum, City-Wucherung und Wohnraumverdrängung, Übermotorisie­rung und Verbetonierung der Landschaft, Wasser-, Luftverschmutzung und Lärmemissionen, industrielle Landwirtschaft und Chemie im Koch­topf, Wald- und Bodensterben, Ozonloch am Südpol und Urwaldvernich­tung am Amazonas, Grassrisiken der Atomtechnik und der chemischen Industrie sind Probleme, welche das Bewusstsein von immer mehr Men­schen zu prägen beginnen. Die fröhlich-geschäftige Massenkonsumgesell­schaft zeigt in der umweltzerstörenden Wegwerfgesellschaft und in der angsterzeugenden Risikogesellschaft ihre anderen Gesichter. Damit ver­flüchtigt sich der Wachstumskonsens der Nachkriegszeit. In der Machbar­keitsphilosophie, welche das gesellschaftsübergreifende Credo des vergan­geneu Vierteljahrhunderts war, erkennen nun viele eine technokratische Ideologie. Schreckensvisionen einer «strahlenden Zukunft» im Atomstaat Orwell'scher Prägung oder einer menschheitsvernichtenden Katastrophe beschäftigen nicht nur Aktivistinnen und Aktivisten radikaler Strömun­gen. In der Zeit des «No future» werden auch die utopischen Ziele und die

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361 Abschied vom Wachstum: Abschied vom Fortschritt?

Zukunftszuversicht der «Neuen Linken» und der «Alternativbewegung» gerade von den Jüngeren nur noch als naiv belächelt. Eine solche Stim­mungslage kippt leicht um in Resignation. Wenn jedoch der Widerstand gegen die bestehenden Zustände erlahmt, machen sich desillusionierte An­passung, zynisches Abwarten der «Apokalypse» oder Flucht in Ersatzwel­ten breit. Manche erklären in dieser Situation, das von der Aufklärung for­mulierte «Projekt der Moderne», das darin bestand, die Menschheit mittels Kenntnissen und Techniken, Künsten und Freiheiten aus Unwissenhe,it, Unterwerfung und Elend zu befreien, sei am Ende angelangt. Sie plädieren ftir die Preisgabeall der mit diesem Fortschrittsglauben verbundenen Hoff­nungen und Träume in heiterer Gelassenheit, die das Heute nicht mehr auf ein Morgen bezieht.

Die traditionellen Organisationen der Arbeiterbewegung werden in der Auseinandersetzung mit den neuen sozialen Bewegungen zu eigentlichen Brennspiegeln gesellschaftlicher Konflikte um kulturelle Orientierungs­muster. Dabei verschieben sich auch hier die Themen, auf welche sich die Streitpunkte konzentrieren. Die neulinke Opposition macht in der Periode wirtschaftlicher Stagnation in der zweiten Hälfte der 70er Jahre die Erfah­rung, dass eine Wiederbelebung des «schlafenden Riesen Proletariat» im Sinne des Marxismus, erfolglos bleibt. Der Mentalitätswandel in der Ar­beiterschaft ist als «konjunktureller Schein», d. h. als vorübergehendes Phänomen der Hochkonjunktur, missverstanden worden. Die organisa­tionsinterne Opposition wendet sich nun zunehmend immateriellen Wer­ten und neuen Themen zu. Debatten um Strassenbauten und Atomkraft­werke, um ökologische Produktion, Selbstverwaltung und Teilzeitarbeit, um Jugendprotest und um den Status von Randgruppen fUhren zu Span­nungen, die sich häufig zu eigentlichen Zerreissproben zuspitzen. Seit den ausgehenden 70erJahren ereigneten sich mehrere Abspaltungen am «rech­ten Rand» der SPS. Die traditionelle Richtung innerhalb der Arbeiterbewe­gung betrachtet die neuen Ideen als «Spiel mit dem Feuer»; sie stellt den bürgerlichen Kreisen, die den Sozialstaat demontieren und den Arbeits­markt deregulieren möchten, die alten, aus ihrer Sicht bewährten, etatisti­schen Konzepte entgegen, welche « Verteilungsgerechtigkeit» und «soziale Sicherheit>> auf der Grundlage einer wachsenden Wirtschaft anstreben. Die Kritiker dagegen betrachten die Wiederankurbelung eines quantitativen Wirtschaftswachstums und damit das herkömmliche «Fortschrittsmodell» als eine «Option auf Selbstmord» (wie Oscar Lafontaine das 1983 im «Pro­fil» ausdrückt). Der Schriftsteller Peter Bichsel erklärt 1978 vor den zum

« ••• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft» 362

75-Jahresjubiläum ihrer Gewerkschaft versammelten GTCP-Mitgliedern: «Wir sind eine Gesellschaft von potentiellen Selbstmördern geworden. Eine Gesellschaft, die nur zynisch und sarkastisch von dem spricht, was einmal Zukunft hiess. » Im Entwurf von 1980 für ein «Selbstverwaltungsprogramm» der SPS heisst es: «Für uns war 100 Jahre lang klar: Ohne technologisch-industriel­les Wachstum ist kein sozialer Fortschritt möglich. Entsprechend haben wir im Verein mit der Gewerkschaftsbewegung den Grundsatz «Wachs­tum um jeden Preis» mitgefordert und mitvertreten. Heute, angesichtsder Verwüstung unserer Umwelt, der Zerstörung derNaturund deren Folgen ftir unser aller Zusammenleben, sind wir zu neuem und differenziertem politischen Denken auch dem Wachstumsproblem gegenüber gezwun­gen.» Die Autoren wollen aber die Vorstellung eines «Fortschritts» nicht verab­schieden, sie verlangen allerdings einen «neuen Fortschritts begriff»: «Fort­schritt ist nicht eine gesellschaftlich und politisch blinde Vervollkomm­nung bestehender Wissenschaft und Technik ... , sondern Fortschritt ist nur, was der Verbesserung der Lebensqualität und der Emanzipation des Einzelnen und des Volkes dient.» Der Wertwandel bleibt nicht ohne Ein­fluss auf die offizielle Haltung der Organisationen. «Was nützt die beste AHV -Rente, wenn der alte Mensch vereinsamt?» fragt SPS-Präsident Hu­bacher in einem Interview 1981: «Jetzt rückt also die Lebensqualität in den Vordergrund. Darum geht es doch auch beim Aufstand der Jungen. Die haben genug von unserer ewigen Prozent- und Prämienpolitik im Sozial­bereich, wenn in Basel Atomkraftwerke gebaut werden und weitere Auto­bahnen unsere Städte kaputtmachen. » Ein Blick in das Arbeitsprogramm des SGB von 1980 und in das SPS­Parteiprogramm von 1982 zeigt, dass sich diese beiden Organisationen in beträchtlichem Ausmass «enttraditionalisiert» haben. In diesen neuen Programmen wird versucht, aus der Kritik an der «Ausbeutung der natür­lichen Umwelt und der Rohstoffe» (SPS) und der «Zerstörung der Natur» (SGB) die Umrisse einer ökologischen Wirtschaft in einer bedürfniszen­trierten, vermehrt auf immaterielle und postindustrielle Werte konzen­trierten Gesellschaft zu entwerfen. Auch in der politischen Praxis drückt sich diese veränderte Einstellung aus: Sowohl die Abstimmungsergebnisse in Parlamenten wie auch die Beteiligung an ökologisch motivierten Basis­aktivitäten machen deutlich, dass die Linke viel häufiger mit den neuen Umweltgruppen und-parteienzusammenspannt als die bürgerlichen «Eli­tekartell»-Parteien.

363 Abschied vom Wachstum: Abschied vom Fortschritt?

Die Auseinandersetzungen in Gewerkschaften und Sozialdemokratie um den «Fortschritt» und damit auch um ihr Verhältnis zur Zukunft ist keines­wegs zu Ende. Die Entwicklung der Wirtschaft drängt nach wie vor auf die Steigerung der Zuwachsraten in Produktion und Konsum. Die Wachs­tumsfrage-bezogen auf die Dritte Welt, die Begrenztheit der Rohstoffvor­kommen und die ökologischen Schäden - ist nicht gelöst. Der Konflikt zwischen materiellem Lebensstandard und einer immateriell verstandenen Lebensqualität geht weiterhin mitten durch die arbeitende Bevölkerung, und das heisst auch durch die Individuen hindurch. Auch wenn die tradi­tionelle Basis der historischen Arbeiterbewegung, die Stamm-Industriear­beiterschaft, an Bedeutung verliert und sich wandelt, finden die gesell­schaftlichen Wertkonflikte auch in einer verjüngten «Arbeiterbewegung» mit verändertem Berufsspektrum einen breiten Resonanzboden. Während die einen nach dem «Stillstand», wenn nicht nach einem «Zurück» in der technischen Entwicklung als Antwort auf eine bedrohliche «Fünf-vor­Zwölf-Situation» rufen, sehen andere in den neuen Technologien die Chance für einen sanften Umgang mit der Natur (ressourcensparender technischer Fortschritt) und für humanere Arbeitsbedingungen (neue Qua­lifikations- und Mitbestimmungsmöglichkeiten). Zur wechselseitigen Charakterisierung dienen die Etiketten «Fundamentalisten» oder «Apoka­lyptiker» und «Realisten» oder «Technokraten». Im Zeichen der abneh­menden Attraktivität grosser (Regierungs-)Parteien und fest etablierter Verbände und einer Verdüsterung der Zukunftsperspektiven erhalten die in einem konflikthaften Veränderungsprozess begriffenen Organisationen der Arbeiterbewegung auch vermehrt Konkurrenz von aussen. Grüne Par­teien mit einem radikalökologisch inspirierten Weltbild bieten übersicht­lichere Orientierungen und eine klarere Ausrichtung des Engagements an, als dies grösseren Parteiformationen möglich ist, welche die Wachstums­gesellschaft der Nachkriegszeit mitgestaltet haben. In den Auseinanderset­zungen um den Fortschritt geht es um die Zukunft der Gesellschaft. Wie die Weichen gestellt werden: das hängt auch von zukunftsgerichteten Ver­änderungsspielräumen innerhalb der SPS ab.

Blenden wir noch einmal zurück: Wir haben in unserer Geschichte der Fortschrittsidee in der Arbeiterbewegung einen weiten Weg zurückgelegt. Der «Fortschritt» orientiert sich anfanglieh an Zielen, die von der geistigen Aufklärung des r8.Jahrhunderts formuliert wurden: Naturbeherrschung, menschliche Autonomie in einer freien, gerechten und friedlichen Gesell­schaft. Wahrnehmbar wird der Fortschritt in der Industrialisierungsphase

« ••• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft» 364

des 19.Jahrhunderts als rasante, Wirtschaft und Gesellschaft umwälzende, aber auch <mngesteuerte» Entwicklung, deren sichtbarste negative Folge das soziale Elend einerneuen Klasse, des Proletariats ist. Soziale Utopien stellen diesem realen Fortschritt schon früh Modelle einer bewußt geplan­ten harmonischen Gesellschaft gegenüber. Deren Anhänger finden sich vor allem in der entstehenden Arbeiterbewegung. Nach der unaufhaltsamen Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise mit ihrer rationellen Grassorganisation gewinnt gegen Ende des 19. Jahrhunderts innerhalb der Arbeiterbewegung die Überzeugung Oberhand, die industriellen Produk­tivkräfte selbst würden die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft vorantreiben. Je mehr die Arbeiter im 2o.Jahrhundert an den Segnungen des materiellen Wohlstandes selber teilhaben, desto weniger haben sie noch das Ziel einer Überwindung des Kapitalismus vor Augen. V)elmehr stellen sie nun das Wachstum der Produktion selbst ins Zentrum eines wissen­schaftsgläubigen Fortschrittsdenkens. Gleichzeitig wird aber die Utopie eines gelenkten Fortschritts diskreditiert durch Erfahrungen mit dem «rea­len Sozialismus». In derNachkriegszeitüberrollt dann ein nie dagewesener kapitalistischer Fortschritt die alternativen Orientierungen der Arbeiterbe­wegung vollends. Die Protestwelle von 1968 ist das erste Anzeichen dafür, dass sich die Lebensvorstellungen einerneuen Generation aufimmaterielle Bedürfnisse verlagert haben. Materielle Fortschritte werden immer stärker als sozialer Zwang erfahren und schliesslich als Risiko für die gesamte Zivi­lisation gewertet. Damit e.rlahmt aber der Gedanke eines umfassenden, eigendynamischen «Fortschritts» als Leitbild der Gesellschaft selber. Die Arbeiterbewegung, die sich lange diesem Ideal verpflichtet fühlte, muss deshalb Abschied nehmen von Grundsätzen, die sich überlebt haben. Überholt ist die Vorstellung, bei der unersättlichen Steigerung der Produk­tion handle es sich um eine Zielsetzung mit Ewigkeitswert. Vorbei ist die Einbildung, der «wissenschaftlich-technische Fortschritt» sei ein natur­wüchsiger Prozess, den man einfach hinzunehmen gezwungen sei und den man bestenfalls mit eigenen Zielsetzungen kombinieren könne. Überlebt ist auch das Sichklammern an grosse Gesellschaftskonzepte und das Behar­ren aufkollektiven Machtphantasien. Aber auch wenn wir Abschied nehmen vom Glauben an den Fortschritt: Auf die Dimension der Zukunft können wir in unserem Denken und Han­deln nicht verzichten. Deswegen hat gerade heute eine Bewegung, die eine so reiche Tradition an Kämpfen gegen eine schlechte Gegenwart und an Entwürfen für eine bessere Zukunft hat wie die Arbeiterbewegung, eine wichtige Aufgabe. Sie kann uns davon überzeugen, dass gerade heute Wi-

365 Abschied vom Wachstum: Abschied vom Fortschritt?

derstand gegen unmenschliche gesellschaftliche Entwicklungen notwen­dig ist. Widerstand gegen eine Produktion als Selbstzweck, welche mit dem Reichtum immer auch soziale Not und Umweltzerstörung hervor­bringt. Widerstand auch gegen jene schiefe Alternative, die uns glauben machen möchte, es gäbe nur die Wahl zwischen einem Rückfall in die Steinzeit oder einem Vorwärts in die «schöne neue Welt» (mit Genmanipu­lation und totaler Verwaltung). Widerstände gegen alljene Kräfte, die uns nichts besseres anzubieten haben. Die Angst vor einer Katastrophe (als dem Gegenbild zum Vertrauen auf den Fortschritt) darf uns nicht so lähmen, ' dass wir nur noch auf den Zusammenbruch warten. Trotz der Zukunftsge­fahren sollten wir versuchen, unsere Wünsche und Hoffnungen, unsere Utopien und Phantasien zu formulieren- ohne falsche Anpassung an die bestehende «Realität», welche Entwicklung nur nach einer Richtung zulas­sen möchte. Gerade die Sozialdemokratie muss sich heute auch als Faktor einer demokratischeren politischen Kultur begreifen. Sie hat eine Aufgabe als «Zukunftswerkstatt», in der gesellschaftliche Probleme ernsthaft disku­tiert und in Handlungsperspektiven übersetzt werden können. Diese müs­sen nicht zu einer neuen, alles umfassenden Weltanschauung gerinnen. Denn eine solche kann schon morgen wieder überholt sein. Aber aus ihnen können konkrete Projekte und weiterführende Schritte resultieren. Ein sol­ches Engagement kann in einen gesellschaftlichen Lernprozess einmünden, der die Menschen befähigt, gesellschaftliche Probleme anzugehen und ihre Persönlichkeit auch in komplexen Strukturen zu entwickeln. Gegenüber einer fremdbestimmten Gegenwart, welche die Zukunft zur Müllhalde de­gradiert, geht es um den Versuch einer selbstbestimmten Gegenwart, für eine offene Zukunft.

Das Auftreten einer ökologischen Bewegung

tmd die zunehmende Wachstumskritik lässt

die Fortschrittsvorstellungen von SPS und

SGB nicht unbeeinflusst. 1976 äussert sich

SP-Btmdesr~t Willi Ritschard, welcher einen

bemerkenswerten Wandel vom fortschrittstüch­

tigen kantonalen Atom-Minister zu einem

problemsensibilisierten Zeitgenossen zurück­

gelegt hat, wie folgt zum technischen Fort­

schritt (Gewerkschaftliche Rundschau 1976/

s. 9): «Die meisten von uns sind immer noch auf

einen fast unbedingten Fortschrittsglauben

eingeschworen, der den Namen «Fort­

schritt» wahrscheinlich schmählich miss­

braucht. Ein «Fortschritt», vor dem man

manchmal wirklich fortschreiten möchte.

Viele von uns sind noch immer davon über­

zeugt, dass der Fortschritt der Menschheit

weitgehend ein technisches Problem sei.

Wir hätten an sich heute genug Anlass, an

diesem Glauben zu zweifeln. Aber nicht

einmal die bittern Erfahrungen aus zwei

Weltkriegen vermochten der Menschheit

den fast blinden Glauben an die «rettende»

Technik zu nehmen.

« ... im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft» 366

«Die Politik des 19.Jahrhunderts ist im zwanzigsten Jahrhundert endgültig gescheitert>> schrieb Peter Bichsel im <<Öffentlichen Dienst>> Ende 1986. Die in den 70er Jahren entstandene ökologische Bewegung erblickt im Begriff <<Fortschritt>> den Kern einer naturzerstörerischen Wachstumsideologie und eines grössenwahnsinnigen Machbarkeitsglaubens. Der eindimen­sionale, die Menschen entmündigende Fortschritt würde beim genormten, genmanipulier­ten Menschen enden. Das Bild zeigt Teilnehmerinnen an einer Demonstration gegen das Atomkraftwerk Mühleberg von Ende August 1986.

367 Abschied vom Wachstum: Abschied vom Fortschritt?

Ich will nicht etwa einfach die Technik ver­

dammen. Wir haben ihr vieles, auch einen

guten Teil des sozialen Fortschrittes, zu ver­

danken. Aber wir haben ohnejeden Zweifel

diese Technik als Motor des wirtschaftlichen Wachstums zu lange missbraucht. So ist uns

diese Technik davongelaufen. Sie hat sich

dem Menschen entfremdet. Und je unver­

ständlicher uns die Technik wurde, desto

grösser wurde eigentümlicherweise unser

Glaube an sie.

Man spricht von den «Wundern der Tech­

nik» und vergisst dabei, dass Wunder aus­

serhalb des Menschlichen stehen. Wunder

entziehen sich unserer Kontrolle. Und weil

man wegen Wundern früher noch Wall­

fahrtskirchen baute, glauben wir noch heu­

te, dass Wunder nur etwas Gutes sein kön­

nen. Wir vergessen, dass auch Wunder -

und wahrscheinlich vor allem sie - unsere

Skepsis nötig haben.

Heute beginnt es in uns zu dämmern. Die Distanz zwischen Mensch und Technik ist so

gross geworden, dass unser Wunderglaube ab­bröckelt. Der Glaube an das Allheilmittel

Technik schwindet. Der Mensch will wie­

der wissen, was hinter dieser Technik steht.

Dabei schlägt dann vieles ins Gegenteil, ins

Extreme und oft auch in die falsche Rich­

tung um. Der Widerstand gegen die Kern­

kraftwerke, übrigens auch die Rebellion ge­

gen andere technische Einrichtungen in der

Fabrikation, sind Ausdruck dafür.»

Der gesellschaftliche Stimmtmgswandel u11d die Atifechttmgen, deneil sich die traditionelle Port­schrittsmission der Arbeiterbewegung ausgesetzt sieht, findet auch im <<SGB-Arbeitsprogramm»

fiir die achtziger Jahre seinen Niederschlag.

«Das seelische Unbehagen vieler Men­

schen, das Ausbrechen vieler Jugendlicher

und das Entstehen einer vielfältigen Al-

ternativbewegung sind unübersehbare An­

zeichen daftir, dass die bürgerliche Wert­

ordnung in Frage gestellt wird. Die Unter­

ordnung des menschlichen Lebens unter das

Gewinndenken wird von immer mehr

Menschen zu Recht kritisiert. Ihre Suche

nach neuen Werten beweist, dass eine

grundsätzliche Wende im Denken und Ver­

halten, eine Hinwendung vom Quantitati­

ven zum Qualitativen in allen Lebensberei­

chen not tut.

Die Gewerkschaften beruhen auf der prakti­

zierten Solidarität der Arbeitnehmer. Sie

sind nicht nur ein politisches und wirt­

schaftliches Kampfinstrument, sondern

ebensosehr ein Ort der Gemeinschaft der

Arbeitnehmer, des solidarischen Lebens

und Erlebens. Das innere Unbehagen des

Menschen, der zum Instrument, zur Mani­

puliermasse geworden ist, und der sich den

Massenmedien einerseits und den Wirt­

schaftsmächten anderseits ausgeliefert

fühlt, kann nur in der Gemeins'chaft der Ar­

beitnehmer beseitigt werden. Die Gewerk­

schaften haben den Menschen aus seinem

Alleinsein, aus seiner Ohnmacht, aus der

Entfremdung gegenüber seiner Arbeit her­

auszuftihren. So verstanden, sind die Ge­

werkschaften nicht nur Interessenvertre­

tung und Sprachrohr des Arbeitnehmers,

sondern auch Ort zur persönlichen Entfal­

tungjedes einzelnen. Deshalb haben die Ge­

werkschaften den Arbeitnehmer nicht nur

aus gesellschaftlichen und wirtschaftlichen

Abhängigkeiten zu befreien; sie haben eine

umfassende kulturelle Aufgabe zu erfüllen,

sowohl in ihrem inneren Gemeinschaftsle­

ben und ihrer Bildungstätigkeit wie auch in

der Gesellschaft als Träger der Grundgedan­

ken einer neuen, solidarischen Wertord­

nung.>>

Solidarität, Widerspruch, Bewegung 100 Jahre Sozialdemokratische Partei der Schweiz Herausgegeben von der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz durch Karl Lang, Peter Hablützel, Markus Mattmüller und Heidi Witzig

Limmat Verlag Genossenschaft Zürich

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