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Felix Müller,] ako b Tann er
« ...... im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft>> Zur Geschichte der Fortschrittsidee in der schweizerischen Arbeiterbewegung
«Vorwärts zeigt die Weltenuhr. Nicht den unsinnigsten Rückschritt, sondern den die Massen auch materiell erlösenden Fortschritt wird uns die Zukunft bringen. Nicht die unverkennbaren Vorteile des Grassbetriebes zu beseitigen, sondern dieselben der Gesamtheit des Volkes zugänglich machen, ist unsere Aufgabe»: Diese optimistischen Sätze sind in der «Berner Tagwacht» von 1880 zu finden. Als sich die Arbeiterbewegung mit diesem Fortschrittsideal identifizierte und ihre technikkritische oder gar maschinenstürmerische Mentalität ablegte, hatte sich die Industrielle Revolution schon aus ihren Anfangen heraus entwickelt. Fabriklandschaften und urbane Zentren prägten zunehmend die schweizerische Gesellschaft. Das Proletariat hatte sich in Gewerkschaften, Genossenschaften und Arbeiterparteien organisiert. Das Bewusstsein, auf der richtigen Seite, nämlich auf der Seite des «Fortschritts» zu stehen, war ein starkes Motiv im kämpferischen Klassenbewusstsein einer Arbeiterschaft, die nun immer mehr in die Geschichte der Schweiz einzugreifen begann. Der «Fortschritt» allerdings war keine Erfindung der Arbeiterbewegung. Ursprünglich war diese Idee ein leuchtender, richtungsweisender und zukunftsverheissender Fixstern am Himmel bürgerlicher Werte, der das überlegene Selbstbewusstsein der neuen herrschenden Klasse zum Ausdruck brachte. Seine Strahlkraft erzielte er durch die Bündelung verschiedener kultureller und sozialer Energien (vgl. S. 328). Er festigte die Überzeugung, dass das Neue, das «Moderne» immer und fraglos besser sei als das Alte, die Tradition. Das Neue: das war vor allem die Maschine, die Fabrik, die Industrie, kurz: die Technik. Als die Arbeiterbewegung im ausgehenden 19.]ahrhundert in den technisch-industriellen Produktivkräften einen Verbündeten zu erblicken begann, verschwanden die facettenreichen Visionen einer sozialistischen Zukunftsgesellschaft, die bisher ihre Vorstellungskraft geprägt hatten. Der «Fortschritt» wurde zu einer Schwundkategorie, die an Bedeutungsgehalt verlor. Seine utopische Dimension blieb historisch auf der Strecke. Schon in der Zwischenkriegszeit (19I8-1939) war der Begriff nur noch ein Schatten seiner selbst. Er degenerierte zu einem Glauben an die Produktion. Die moderne Industriegesellschaft institutionalisierte den Wachstumszwang, und die Zukunftsvorstellungen der Arbeiterbewegung wurden überrollt. Während der langen wirtschaftlichen Aufschwungphase der 19 soer und 6oer Jahre schien der wissenschaftlich-technische Fortschritt, die rasante Steigerung der Arbeitsproduktivität
327 Einleitung
und des Sozialprodukts ein komfortables Transportmittel in den Wohlstand und das Glück für alle zu sein. Das war ein Irrtum. Der damals eingeschlagene Weg führte nicht in ein paradiesisches «Reich der Freiheit» (Karl Marx), sondern könnte in einer ökologischen Wüste oder in einem nuklearen Winter enden. Die Perspektivlosigkeit einer «Flucht-nach-vorne» wird inzwischen von vielen gesehen. Mehr als die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer sind der Meinung, der technische Fortschritt sei so gefahrlieh geworden, dass er die Menschheit mehr bedrohe als dass er ihr nütze. Dass dieses Ergebnis einer U rufrage vom Winter 198 5 nach «Tschernobyl» (April 1986) und «Schweizerhalle» (November 1986) noch deutlicher ausfallen würde, ist anzunehmen. Eine historische Linkspartei darf in einer solchen Situation nicht resignieren. Sie muss ihr traditionelles Fortschrittsverständnis überdenken, sonst würde sie sich bald nur noch als Reparaturequipe für einen krisendefekten Kapitalismus eignen. SPS und Gewerkschaften haben hier bereits einen ersten Schritt zurückgelegt. Seit mehr als einem Jahrzehnt ist die «Zukunft des Fortschritts» ein wichtiges, spannungsgeladenes und auch polarisierendes Thema. Die Auseinandersetzungen um die Frage, was der Kampf für eine menschenwürdigere Gesellschaft heute bedeutet, ist keineswegs abgeschlossen. Lassen sich über den Rückgriff auf die alten Utopien der Arbeiterbewegung noch Orientierungsmuster für politisches Handeln in der Gegenwart gewinnen? Oder genügt es, angesichtsder düsteren Aussicht auf einen umweltzerstörenden «Fortschritt ohne Ende» kurzerhand das «Ende des Fortschritts» zu verkünden? Beruhen solche Absagen nicht auf einer nostalgischen Verklärung der Vergangenheit? Oder eröffnen die neuen Technologienein Tor zu einem «anderen Fortschritt», welcher zwischen den widerstreitenden Erfordernissen von Ökonomie und Ökologie, von Freiheit und Gerechtigkeit, von Individuum und Gesellschaft vermitteln könnte? Den Fortschritt als Naturgesetz, als unentrinnbares Kollektivschicksal gibt es nur, wenn sich die Menschen von dieser Zwangsvorstellung fesseln lassen. Heute geht es um die Ent-Fesselung von Zukunftsphantasien, die nicht mehr auf den eindimensionalen Fortschritt der Vergangenheit fixiert sind. Gerade in einem solchen Zeitpunkt ist es sinnvoll, einen Blick zurückzuwerfen: Wie sind die Vorstellungen vom «Fortschritt» innerhalb der Arbeiterbewegung entstanden? Wie haben sie sich innerhalb der sozialdemokratischen und der gewerkschaftlichen Tradition entwickelt? Diesen Fragen soll im folgenden Text nachgegangen werden.
« ••• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft» 328
Der «Fortschritt» in der modernen Industriegesellschaft Die Industrielle Revolution setzte im letzten
Drittel des 18.jahrhunderts zuerst in Eng
land ein, griff nach 1815 auch auf die
Schweiz über und ist bis heute nicht zum
Stillstand gekommen. Sie hat das Leben, die
Arbeit und die Mentalität eines Grassteils
der Menschen tiefgreifend verändert. Nun
entstand eine Gesellschaft, in welcher die
Tradition stark abgewertet wurde. Der ra
sche soziale Wandel verunmöglichte es den
Menschen, sich weiterhin an der Vergan
genheit zu orientieren. In ihrer Erfahrungs
welt wurden die natürlichen Rhythmen
(Tages-, Jahresablauf) und die zyklischen
Verlaufsmuster (Aufeinanderfolge von Ge
nerationen, Wiederkehr von Ereignissen)
zunehmend verdrängt durch den Maschi
nentakt, durch technisch-lineare Zeitabläu
fe. Das Akkumulationsgesetz, das heisst das
Anhäufungs- und Wachstumsprinzip, be
gann nun den Gang der Dinge zu bestim
men. Bereits 1795 erklärte ein Lexikon, «Fortschritt» sei «ein neu es Wort ftir Zunah
me, Wachstum». Mit den neuen Transport
systemen (Eisenbahn, Dampfschiffahrt)
und der Temposteigerung maschineller
Produktion wurde die Beschleunigung von
Vorgängen direkt wahrnehmbar. Der
«Blick nach vorne» versprach nun mehr
Orientierungssicherheit als das Verhaftetsein in dem, was früher war.
Diese Erfahrung einer enormen Beschleuni
gung aller wirtschaftlichen und sozialen
Vorgänge lief mit einer Verweltlichung der
früheren religiösen Heilserwartungen par
allel. An der Schwelle zum 19.]ahrhundert, welches das Fortschrittszeitalter werden
sollte, entwickelten aufklärerische Philo
sophen die Idee einer Vervollkommnungs
fahigkeit der menschlichen Vernunft und
den Glauben an einen unaufhaltsamen
«Fortschritt der Welt zum Besseren». Die
Utopie der Aufklärung warjene des perfek
ten Paradieses. Auch in der Alltagssprache
wurde um die Mitte des 19.]ahrhunderts
das Fortschreiten von Wissenschaft, Bil
dung, Technik, Wirtschaft, Politik, ja sogar
der Moral in der allgemeinen Bezeichnung
«der Fortschritt» gebündelt. Die offensicht-,
liehen Verbesserungen in verschiedenen Le
bens- und Gesellschaftsbereichen liessen
diesen Fortschritt zum eigentlichen Zauber
wort der Industriegesellschaft werden. So
gar die Natur wurde nun im Sinne des
«Fortschritts» als ständige, sogar sich be
schleunigende Höherentwicklung interpre
tiert. Der «Fortschritt» eignete sich von An
fang an als politische Rechtfertigungsidee.
Die Zeit arbeitete für die «fortschrittlichen
Kräfte». «Reaktion» wurde zum Schimpf
wort.
«Modern» ist ein älterer Begriff, der im
19.]ahrhundert als Substantiv vor allem im
kulturell-künstlerischen Bereich gebraucht
wird und der eine enge Verbindung mit dem
Fortschrittsbegriff eingeht. 1910 definiert
ein Autor «modern» als «die Stecknadel
spitze der Gegenwart». Die «Avantgarde»
stellte diese vorderste Spitze in der fort
schrittlichen Bewegung der Zeit dar. Im
20. Jahrhundert setzten sich die Bezeich
nungen «moderne Industriegesellschaft»
und «modernes Wirtschaftswachstum» in
den Sozialwissenschaften durch. Eine mo
derne, nicht traditionsgebundene Gesell
schaft muss ihre Daseinsberechtigung, ih
ren «Sinn» dauernd neu erzeugen und bestä
tigen können. Wenn ein linearer, eindimen
sionaler Fortschritts begriff als sinn- und
identitätsstiftender Symbolbegriff der Mo
derne nicht mehr tauglich ist: wodurch
kann er ersetzt werden?
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329
Der Zwang zum Fortschritt
Von der technikkritischen zur fortschrittsorientierten Arbeiterbewegung (1830 bis zum Ersten Weltkrieg)
Das liberale schweizerische Bürgertum fasst im 19.]ahrhundert die ungestümen Anfange der Industrialisierung, den Aufschwung von Wissenschaft' und Volksbildung und den Triumph liberal-demokratischer Verfassungen als zusammenhängenden Ausdruck des unaufhaltsamen «Fortschrittsstromes», als Wirkung des vorwärts drängenden, sich emporschwingenden menschlichen Geistes auf. Demgegenüber vermag die arbeitende Bevölkerung in dieser Entwicklung lange Zeit keine zusammenhängende Perspektive zu sehen. Sie nimmt die neue industrielle Wirklichkeit widersprüchlich wahr und bewertet die verschiedenen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen nicht einheitlich. Erst als im Gefolge der Grossen Depression der I 87oer Jahre die Wirtschaftsverbände entstehen, die Politik zunehmend von «organisierten Interessen» beherrscht wird und die Grassindustrie zu einem gesellschaftsprägenden Phänomen aufrückt, gerät auch die Arbeiterbewegung in den Bann eines optimistischen Fortschrittsglaubens. Im Anfangsstadium der Industrialisierung erfahrt die Masse der Heimarbeiter die neu entstehenden mechanischen Fabriken ganz direkt als Gefährdung: Ihre handwerklichen Fähigkeiten und ihre einfachen Produktionsmittel werden entwertet, ihre traditionelle Lebensweise ist bedroht, ja ihre Existenz steht auf dem Spiel. Gegen die «verderblichen und unheilbringenden Erfindungem, die sie an den «Bettelstab» zu bringen, ja in den «Hungertod» zu treiben drohen, greifen sie im Extremfall zum Widerstand des Maschinensturms, wiejene Heimweber des Zürcher Oberlandes, die 1832 in Uster die erste mechanische Weberei anzünden. Das ist nicht nur eine Verzweiflungstat gegen den technischen Fortschritt (der in ihren Augen keiner ist), sondern auch ein direkter Ausdruck der Enttäuschung über den politischen «Fortschritt», genauer über die neue «Volksherrschaft» der Liberalen, denen sie 1830 zur Macht verholfen haben, von denen sie sichjetzt im Kampf gegen die Maschine aber trotzVersprechungenverraten fühlen. Die Unterstützung des konservativen «Züriputsch» von 1839 ist die Folge; doch auch die Konservativen wollennun die Fabriken nicht mehr beseitigen. Der Fortschritt «nimmt seinen Lauf».
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«, •• im hoffnungsvollen Licht einer bt>sseren Zukunft>> 330
Ein klare Fortschrittsperspektive, die sichjedoch nicht in allen Teilen mit der bürgerlichen deckt, haben die schweizerischen Handwerksgesellen im Auge, die, zusammengeschlossen in Organisationen wie dem Grütliverein, seit den r84oer Jahren der jungen Arbeiterbewegung die wichtigsten Impulse geben. Ihr Fortschrittsideal findet Ausdruck in der Devise: Durch Volksbildung zur Volksbefreiung I Ihr Ziel ist es, dass überall «die Morgenröte des Fortschrittes zu leuchten beginnt und das Volk allmählich anfangt, selbständig zu denken und im Erkennen seiner selbst die Mittel und die Kraft findet, seine Rechte( ... ) zu behaupten und zu wahrem, wie es 1852' in einem Brief der Zürcher an die Einsiedler Grütlianer heisst. Dazu, «dass das Schweizervolk nach und nach immer mehr geistig selbständig werde», tragen sie selber mit ihrer harten und vielseitigen vereinsinternen Schulung am späten Feierabend bei, die den wandernden Gesellen ihr Rüstzeug für die berufliche und gesellschaftliche Selbstbehauptung vermitteln soll. Politisch sehen sie ihre Perspektive einer freien Gesellschaft, die erst durch die ökonomische Unabhängigkeit und gesellschaftliche Gleichberechtigung aller ermöglicht wird, zunächst am besten bei den radikal-liberalen «Fortschrittsmännern» aufgehoben. Dieses solidarische Bemühen um eine ständig höher entwickelte persönliche Autonomie aller Glieder der Gesellschaft ist jedoch gleichzeitig eine Reaktion auf die Gefahr eigener ökonomischer Abhängigkeit durch die Industrialisierung. Nach der Schaffung des Bundesstaates imJahre 1848 setzt ein Wirtschaftsaufschwung ein, der die Schweiz augenfallig zu verwandeln beginnt. In den r8soer und 6oer Jahren, dieser «Blütezeit des Kapitals», stellen die stürmisch vorwärtsbrausenden «Dampfkolosse» der Eisenbahn und die wie aus dem Boden wachsenden Fabriken die sichtbaren Symbole des Fortschritts dar. Gewerbefreiheit, Eisenbahntransport und maschinelle Produktion konfrontieren Handwerker und Gesellen mit einerneuen Konkurrenzsituation, mit einer «Umwälzung, die zwar manchem nicht als Fortschritt erscheinen mag», wie ein Grütlianer schreibt. In den Diskussionen innerhalb dieser Vereine ist man sich während der r 86oer Jahre uneins: Bringt der neue Reichtum in den Fabriken dem Handwerker mehr Verdienst oder kann «ein einfacher Meister fast nicht mehr bestehen, weil die Fabrikenjetzt auf alles eingerichtet sind?» Kommt es dahin, dass die billigen Produkte der Fabriken mit ihrem «Zwang» und ihrer «Sklavenarbeit» den handwerklichen Arbeiter «brotlos» machen? Wird man schliesslich genötigt sein, «Revolution anzufangen», oder ist es richtig, «dass die Industrie zu weit vorangeschritten (ist), ,als dass man dem Fabrikwesen engere Schranken setzen (und die) Fabrikarbeiten (durch) Handarbeiten ersetzen
331 Der Zwang zum Fortschritt
könnte?» Eine tiefe Unsicherheit drückt sich in diesen Diskussionen aus gegenüber einer Entwicklung, deren Ausgang nicht abzusehen ist. Die wichtigste Antwort, die in den Grütlisektionen auf diese neue Herausforderung gegeben wird, ist stets die gleiche; sie besteht im Glauben daran, dass der Bildungsfortschritt die ökonomischen Schwierigkeiten kompensieren könne. «Aus praktisch und technisch gebildeten Arbeitern gibt es später Meister mit Rat und Tat, die ihre Existenz behaupten können trotz der Konkurrenz der Fabriken.» Die Bildung steht im Dienste individueller Selbstbehauptung und persönlicher Entfaltung. Leitfigur ist der ökono~ misch selbständige, politisch selbstbewusste Staatsbürger- auch wennimmer weniger Arbeiter dieses Ziel erreichen. Mit dem Fortschrittsideal, durch Bildung der ökonomischen Entwicklung als individueller Produzent standhalten zu können, konkurriert seit der Gründung der Internationalen Arbeiter Association (I 864) auch in schweizerischen Arbeitervereinen der Entwurf eines «anderen Fortschritts», ein zukunftsorientierter Gegenentwurf zur vordringenden kapitalistischen Fabrik mit ihrer materiellen Ausbeutung, ihrer versklavenden Maschinenarbeit, ihren hierarchischen Betriebsstrukturen und ihrer «monarchischen» Leitung: Dieser andere, soziale Fortschrittsentwurf ist die Genossenschaft, eine soziale und demokratische Konzeption von Produktion und Konsum, die auf Visionen und Experimente berühmter Frühsozialisten wie Robert Owen und Charles Fourier zurückgeht, denen sich schon seit den I 84oer Jahren einzelne schweizerische Sozialisten angeschlossen haben. In gewissem Sinne ist die genossenschaftliche Konzeption der Produktion eine Anpassung der Zukunftsideen an die neue industrielle Realität: Die Abkehr vom individuellen Kleinbetrieb wird nun akzeptiert. Diese wird nicht mehr als Verlust, sondern- in Form der gemeinschaftlichen Arbeit- als Gewinn gedeutet. Grundlage der Genossenschaft ist die gleichberechtigte Teilhabe aller an den Produktionsmitteln, das Ziel ist eine auf die menschlichen Bedürfnisse abgestimmte, nicht entfremdete Arbeitsweise. Herman Greulich beschreibt seine Vorstellung einer neuen, unentfremdeten Ar:... beitsorganisation: «Die Zusammensetzung der Arbeitergruppen wechselt ab. NebenMännern arbeiten Frauen und Kinder. In jeder Gruppe wieder andere, jung und alt. Überall trifft der Neueintretende nur solche, die ihre Arbeit mit Vorliebe tun. Wer in einer Gruppe untergeordnet ist, kann in der anderen Gruppe Meister sein. Die gemeinsame Arbeit und das allgemeine Interesse am besten möglichen Gelingen schafft eine Kameradschaftlichkeit, wie sie heute unmöglich ist, leistet aber der Gesellschaft die Sicherheit, dass möglichst vorteilhaft und gut gearbeitet wird.» Greulich hat, wie sein
« ••• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft» 332
politischer Lehrer Karl Bürkli und das gemeinsame Vorbild Charles Fourier eine Produktionsform im Auge, die auch die Emanzipation der Frau von der «Haussklaverei» ermöglicht und die im Unterschied zum Kapitalismus die Natur nicht zerstört. Da die Genossenschaften auf positive Arbeitseinstellung zählen können und nicht unter dem Zwang zu Profiten stehen, werden sie die Fabriken mehr und mehr aus dem Feld schlagen können. Seine radikalste Ausprägung findet dieser Gedanke um I870 bei den jurassischen Uhrenarbeitern, die in kleinen Ateliers ihre Freiheiten in der Arbeit gegen die eindringende, zentralisierte Fabrikarbeit verteidigen, wollen und sich als Ziel eine Wirtschaft von Produktionsgenossenschaften ohne Leitung und eine freie, assoziierte Gesellschaft ohne Staat vorstellen. In der Deutschschweiz dagegen erhofft sich die an der «Demokratischen Bewegung» der I86oer Jahre teilnehmende Arbeiterbewegung vom «rein demokratischen Volksstaat» finanzielle Unterstützung flir den alternativen Fortschritt hin zu einer genossenschaftlichen Wirtschaft mit selbstbestimmter Arbeit. Das Programm des ersten sozialdemokratischen Gründungsversuchesvon I 870 ist von dieser Idee geprägt: «Aufgabe des Staates ist also nicht bloss der Schutz des Eigentums, sondern vielmehr die Förderung der genossenschaftlichen Arbeit, die nach und nach an Stelle der Lohnarbeit treten soll.» Diese Fortschrittskonzepte haben die persönliche Entfaltung des Arbeiters in der Arbeit zum Ziel. Heute erscheinen solche Versuche, die alles überrollende kapitalistische Entwicklung aufzuhalten oder in andere Bahnen zu lenken, lediglich noch rührend, und schon gegen Ende des I9.Jahrhunderts werden sie in der Arbeiterbewegung selbst belächelt. Doch was bedeutet Fortschritt flir die Arbeiterbewegung, als klar wird, dass sich die Fabrikindustrialisierung durchgesetzt hat? Im letzten Viertel des I9.Jahrhunderts übersteigt die Zahl der Fabrikarbeiter die der handwerklichen Arbeiter; der neu entstandene Typus des gelernten Fabrik-Facharbeiters beginnt auch in der Arbeiterbewegung eine wichtige Rolle zu spielen. Die meisten handwerklichen Arbeiter müssen ihre Aufstiegshoffnungen zum Meister begraben, und die wenigen realisierten Produktionsgenossenschaften scheitern in den schweren Wirtschaftskrisen der I 87oer und 8oer Jahre. Die Industrie lässt sich in ihrer zunehmenden Verflechtung und Konzentration jetzt nur noch als Wirtschafts-System verstehen, das sich nicht mehr aufhalten oder punktuell ändern lässt. In der Periode von etwa I 8 8o bis in die Jahre nach der J ahrhundertwende, die durch heftige gewerkschaftliche Kämpfe und die Herausbildung der Sozialdemokratie zur grossen Arbeiterpartei geprägt ist, werden in der Ar-
333 Der Zwang zum Fortschritt
beiterbewegung Elemente des Marx'schen Denkens übernommen und zu einer alles erklärenden «wissenschaftlichen» Weltanschauung umgewandelt, die eine neue, sozialistische Fortschrittsperspektive aufweist. Der Kapitalismus mit seiner Entfesselung der Produktivkräfte, die einerseits Reichtum erzeugt und andererseits ein mächtiges Proletariat hervorbringt, erscheint darin als notwendige Stufe der historischen Entwicklung. Einer Entwicklung, die zwangsläufig zur klassenlosen Gesellschaft des Sozialismus ftihrt, sobald das Kapital im Zuge seiner Monopolisierung «reif» wird ftir die sozialistische Übernahme des modernen Produktionsapparates 'und sich die Lebensbedingungen und Interessen der Arbeiter als Klasse so vereinheitlicht haben, dass sie sich als «Gegenmacht» ebenso effizient und straff organisieren, wie der moderne Kapitalismus es tut und damit «als eine, unteilbare Masse» diszipliniert vorwärts marschieren und dem konzentrierten Kapital als «Totengräber» entgegentreten. Die Vergesellschaftung der grossenkapitalistischen Betriebe kann aber nur durch das umfassendste Machtzentrum der Gesellschaft, den demokratisch kontrollierten Staat, garantiert werden. Verstaatlichung der Produktion ist das zentrale Ziel der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz in ihren Programmen von r888 bis r920. Vorstellu,ngen über die konkrete Ausgestaltung der Arbeitsorganisation in diesem staatlich dominierten Sozialismus und die Forderung nach einer persönlichen Entfaltung des Arbeiters treten dagegen in den Hintergrund. Mit dieser Perspektive des weltanschaulichen Marxismus wird die Einbahnstrasse des industriellen Fortschritts von der Arbeiterbewegung akzeptiert. Die Bewunderung maschinell-rationeller Grassorganisation verengt den Arbeitsbegriff auf die «wertschaffende», die bezahlte (Männer-)Lohnarb~it. Die Natur sinkt zur «Gratisproduktivkraft» herab und findet, ebenso wie die unbezahlte Haus- und Familienarbeit der Frau, kaum mehr Erwähnung in programmatischen Zukunftsäusserungen. Die wissenschaftlich abgesicherte Überzeugung, der Kapitalismus sei nur ein Durchgangsstadium zum Sozialismus, erleichtert es den Arbeitern, die modernen Produktionsbedingungen zu ertragen. Verdeckt durch den Klassenkampf, zunehmende Streikbewegungen und durch eine Lagermentalität- das Abgrenzen des «Arbeitslagers» gegenüber dem Bürgertum-, setzt sich so eine gesellschaftsübergreifende Überzeugung vom Nutzen der Technik und der grossen Organisation durch. Dieser Vorgang lässt sich als «negative Integration» charakterisieren. Die Arbeiterbewegung, die damals eine oppositionelle Kraft ist, übernimmt zentrale Werte der bürgerlichen Gesellschaft, die sich dank dieser Zustimmung nun voll entfalten können. Als «A vant-
« ••• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft» 334
garde», als Speerspitze des Fortschritts, prägt die Arbeiterbewegung das Negativbild von den ewiggestrigen Maschinenstürmern mit. Wir dürfen uns die Ausbreitung dieser Überzeugung, die Zumutungen des Fabriksystems seien in Erwartung des sozialistischen Endziels zu akzeptieren, nicht zu einfach vorstellen. Um diese Fortschrittsperspektive den Arbeitern nahezu bringen, muss sie ihnen von der Arbeiterpresse und Rednern immer wieder vorgetragen werden; die Theorie fliesst von «oben» nach «unten». «Warum die Maschinen zerstören? ... » fragt r88o die «Tagwacht». « ... Das wäre die grösste Torheit, welche die Menschheit begehen' könnte. Die Maschinen sind die Erlöser der Menschheit, wenn sie richtig angewendet werden. ( ... ) In einer demokratischen Organisation der Arbeit und der Gesellschaft werden die Maschinen allen zum Nutzen sein. ( ... ) Die Menschheit wird infolgedessen zu einer heute noch kaum geahnten Kulturstufe gelangen, das geistige Niveau der Massen ungeheuer gehoben werden. ( ... )Eine Zertrümmerung der Maschinen, ein Aufgeben des Grassbetriebes würde uns die herrliche alte Zopf- und Zunftzeit, eine unmenschliche Überbürdung mit körperlicher Arbeit bringen, ohne die grössern Bedürfnisse zu beseitigen, die im Laufe der Zeit sich gebildet.» Da es angesichtsdes Fabrikalltags der Gegenwart schwierig, für das Selbstbewusstsein der Arbeiter aber auch entscheidend ist, an den Fortschritt und damit an den Sinn der eigenen Tätigkeit und des eigenen Kampfes zu glauben, muss das Ziel umso wertvoller und strahlender erscheinen: «Mit absoluter Notwendigkeit bricht sich das Neue Bahn», heisst es im r. Mai-Aufruf des Jahres 1918 im Basler «Vorwärts» unter dem Titel «Empor». Der Text fahrt fort: «Spott und Hohn, Verleumdung und Brutalität, Verfolgung und Leiden bezeichnen den Kampfesweg der klassenbewussten Arbeiterschaft. Trotz alledem. Von unten kommt der sieghafte Drang nach Befreiung aus drückender Not und seelischer Knechtschaft. Die Lohnsklaven rütteln mit schwieliger Faust an ihren Fesseln. Nicht länger mehr wollen sie die ausbeutende Herrschaft Weniger dulden. Endlich verlangen auch sie Anteil an den Schönheiten des Lebens. Mächtig regt sich ihr Menschentum, wohl wissend, dass ihre Befreiung die Erlösung der Menschheit bedeutet. ( ... ) Die Menschheitsideale des Sozialismus, die internationale Solidarität des Proletariats werden triumphieren über die Mächte der alten Welt.» Das quasi-religiöse Ideal äussert sich am eindrücklichsten in den bildliehen Sozialismus-Allegorien dieser Zeit: Der Sozialismus erscheint als triumphierende Göttergestalt, als «gelobtes Land», als Frühling oder als Morgenröte der Befreiung. Dabei ist es die Arbeit, die erlöst wird und trium-
335 Der Zwang zum Fortschritt
phiert, der aufrechte, kraftvolle Arbeiter, der seine Ketten abwirft, seine «Menschwerdung» feiert. Die materielle Produktion wird in diesen Bildern verklärt, die ständig verachtete und erniedrigte, in Wahrheit jedoch kulturschaffende materielle Arbeit findet im Sozialismus ihre Rechtfertigung. Allerdings erscheint der idealisierte Arbeitsprozess auf den Bildern nicht etwa als Maschinenarbeit. Gerade im Kampf um den Acht-StundenTag, der die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg durchzieht, werden die gesundheitlich und psychisch ruinösen Auswirkungen der Arbeit in lärmigen, russigen, geHihrliehen Fabrikhallen in der Arbeiterpresse immer wie~ der in grellen Farben geschildert. Dieser Widerspruch wird aufgelöst durch die Darstellung des sich befreienden Arbeiters als souveräner Prometheus: Er erscheint mit seinem Handwerkszeug, dem Hammer, am Altar seiner Arbeit, am traditionellen Amboss. Die düstere Wirklichkeit der Maschinenarbeit wird in der bildliehen Zukunftsvision zum Verschwinden gebracht.
«Utopische» Fortschrittsideale früher Sozialisten
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Auf der hier abgebildeten Karrikatur von genden Ideale eines «neuen Zion» des Kom
I844 mokiert sich der Oltener Zeichner munisten Weitling. Die «methodische»
Martin Disteli über die in den Wolken hän- Umgestaltung der Welt wird von einigen
I I,
« ..• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft» 336
Handwerksgesellen bestaunt, währenddem
der konservative Pfeffersack und der libera
le «Stutzer» eiligst ihre Geldsäcke in Sicher
heit bringen. «Diese Systeme entbehren der
Lebensfähigkeit und haben keine Zukunft»,
schreibt Disteli, eine Kritik, die auch vom
kommenden «wissenschaftlichen Sozialis
mus» geteilt wird.
Nicht die Maschine an sich, aber die Ver
minderung menschlicher Entfaltung durch
das aufkommende Fabrikwesen kritisieren
übereinstimmend bedeutende frühe Soziali
sten wie Robert Owen, Charles Fourier
oder Wilhelm Weitling. Der Schneiderge
selle Weitling spricht von der negativen
«Richtung, welche die einförmige, maschi
nenmässige Betreibung eines Handwerks
den geistigen und körperlichen Kräften des
Arbeiters gibt». Owen klagt über das
Brachliegen «unserer natürlichen Kräfte,
die aus den physischen und intellektuellen
Fähigkeiten bestehen», der Fourierist Consi-
derant redet vom Herabsinken des Men
schen «auf den Stand eines Automaten».
Die Gegenentwürfe gemeinschaftlicher
Grassproduktion wollen umfassender
menschlicher Entfaltung Rechnung tragen.
Fourier und Owen stellen sich eine ab
wechslungsreiche Verbindung von land
wirtschaftlicher und industrieller Tätigkeit
vor, Fourier empfiehlt Grassküchen zur Be-,
freiung der Frau von der «Haussklaverei»
und strebt eine Aussöhnung menschlicher
Tätigkeit mit der Natur an, Weitling propa
giert die Beschränkung der Pflichtarbeit auf
täglich 6 Stunden ftir das Existenzminimum
(bei freiwilliger Mehrarbeit ftir die «Güter
des Angenehmen»). Weitling, der 1841-43
in der Schweiz agitiert, schockiert mit sei
nem aus christlicher Tradition schöpfenden
«Kommunismus» einer «methodisch einge
ftihrten Gütergemeinschaft» das schweize
rische Bürgertum. Er wird 1843 in Zürich
zu Gefängnis verurteilt.
Genossenschaftliche Produktivassoziation und Verstaatlichung der Industrie
Kar/ Bürkli ist einer der ersten sozialistischen sen, und dann wird sich's zeigen, dass die
Theoretiker in der Schweiz. 1852 gründet er direkte Gesetzgebung durch das Volk der
den Konsumverein Zürich, in Texas ni111111t er danach teil am Experiment einer genosswschciftlichen Siedlung, wieder zuriick in der
Schweiz, fördert er die Sektion Zürich der Internationalen Arbeiter-Assoziatio11 und engagiert sich in der «Demokratischen Bewegrmg» des Kantons Zürich, um in der Kantollsvelfas
sung die Genossenschaftsförderung zu verankern. (Nachfolgender Text voll Kar/ Biirkli
stammt aus «Der Gratlianer» Nm. sl/52,
1868):
«Unser Volk schwimmt im grossen Port
schrittsstrom des Jahrhunderts, die sozialen
Ideen werden auch ihm in den Kopf schies-
wahre Jakob, das Hauptwerkzeug zur all
mählichen Lösung der sozialen Frage ist.
( ... )In wenigen Jahren wird das Volk, wie
es jetzt ftir eine Kantonalbank ist, ebenso
einstimmig die Eisenbahnen als Staats
resp. Bundessache erklären. Überhaupt
wird neues soziales Leben sprossen aus einer
Vervollkommneteren Volksbildung. ( ... )
Das Wichtigste aber von allem ist die all
mähliche Republikanisierung der Industrie
durch Arbeitergenossenschaften, sog. Pro
duktivassoziationen. ( ... ) Diese Reorgani
sation der Industrie wird sich natürlich nicht
von heut auf morgen machen, sondern nur
nach und nach, und zwar aus kleinen Anfän
gen heraus. Vielleicht kommen auch hie
und da grosse Industrielle zur Einsicht, ihre
Arbeiter an ihren Etablissements zu beteili
gen, aber das werden immer Ausnahmen
sein; in der Regel werden die Produktiv
assoziationen wie die Saat aus dem gesun
den Boden heraus wachsen, und die Aufga
be des Staates wäre bloss die, durch Kredit
bewilligung das Aufsprossen dieser neuen
Gebilde inmitten des alles überwuchernden
Gestrüpps der Grassindustrie zu ermög
lichen und zu erleichtern. Sind sie mal gross
gewachsen, was schon nach einer Genera
tion der Fall sein dürfte, so werden sie auch
ohne Staatshilfe von selber mit der Privat
Grossindustrie fertig werden, und einge
denk der Hilfe des Staates werden diese Ar
beitergenossenschaften die kräftigste Stütze
der Republik bilden, an welcher alle Sy
stemgelüste und aristokratischen Tenden
zen scheitern werden ... »
Das marxistisch inspirierte SPS-Programm vo11 1904, das sich ideologisch am Vorbild der deutschen Sozialdemokratie orientiert, enthält die
Vorstellung eines dialektischen Verlaufs des Fortschritts: Die Dtmhsetzung von Maschine rmd Crossbetrieb wird als notwendiger Fort
schritt akzeptiert, der zwangsliiufig zum Verstaatlichungs-Sozialismttsfiihrt. « ... Die oft blutigen Klassenkämpfe des
Der zum Fortschritt
modernen Bürgertums gegen die Aristo
kratie und die Zunftherrschaft ftihrten zu
demokratischen Einrichtungen und zur
Gleichberechtigung der Bürger vor dem
Gesetz. Das Entwicklungsbedürfnis von
Handel und Verkehr schuf sich im Sonder
bundskrieg den Bundesstaat. Nach Beseiti
gung dieser Schranken vollzog sich eine
Entfaltung der Produktivkräfte und eine ge
waltige Zunahme der gesellschaftlichen
Machtmittel und des Reichtums, wie sie
vorher nie ftir möglich gehalten worden
ist. ( ... ) Die wirtschaftliche Entwicklung
ftihrte mit Notwendigkeit zum Sieg der
Maschine über das einfache Werkzeug, zum
Sieg des Grassbetriebes über Handwerk
und Kleinbetrieb. ( ... ) So tritt stets deut
licher zu Tage, dass der Kapitalismus beim
gegenwärtigen Stand der Entwicklung ein
Hindernis des wirtschaftlichen Fortschritts
geworden ist. ( ... ) Die Schweizerische so
zialdemokratische Partei strebt die Soziali
sierung der Produktionsmittel an, zunächst
auf dem Wege der Verstaatlichung und
Kommunalisierung de1jenigen Gebiete des
Verkehrs, des Handels und der Industrie,
die nach ihrem Monopolcharakter und nach
dem Stande der technischen Entwicklung
sich zur Verstaatlichung eignen oder deren
Verstaatlichung das gesellschaftliche Inter
esse sonstwie erfordert ... »
Das «hoffnungsvolle Licht einer besseren Zukunft»
Die Fortschrittsvisionen der frühen Arbei
terbewegung haben stark pathetisch-auf
klärerische Züge; das machtvolle Empor
streben soll nicht zuletzt durch die «Gewalt
der Sprache» dokumentiert werden. Die
«Produktivkräfte», welche die Arbeiter
zum Sozialismus hinfUhren, haben sich
noch nicht vom natürlichen Hintergrund
abgelöst: die «PS», welche das Mass der
Kraft der neuen Maschinenmotoren in der
Industrie darstellen, sind hier noch echte
Pjerdestärke11, und auch der Blitz kommt
noch nicht aus dem Elektrizitätskraft
werk.
« ••• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft» 338
«Brüder, zur Sonne, zur Freiheit ... » Dieses Bild aus dem «Grütlianer» vom 1. Mai
1920 zeigt einen Arbeiter, der noch nicht zum «Sklaven der Maschine» geworden
ist, sondern sein Werkzeug nach Massgabe seines eigenen Willens bedienen kann.
Am Feiertag der Arbeit ruht er und blickt der Sonne, dem leuchtenden Endziel des
Sozialismus entgegen. Der Weg dahin f'clhrt mitten durch eine schornsteinbe
wehrte Industrielandschaft, die allerdings, obwohl sie den Glanz der Sonne etwas
beeinträchtigt, im Morgennebel verschwindet. Die Probleme, welche sich die Ar
beiterbewegung mit dem industriellen Fortschritt einhandelt, sind damit wie weg
gezaubert.
« ••• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft»
<<Die Quelle jeden Fortschritts ist die Organisation»
Die Arbeiterbewegung im Banne von Produktionsrationalisierung und Wirtschaftsplanung (1914 bis Ende der 40erjahre)
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Der Erste Weltkrieg (1914/ r8) ist auch flir die schweizerische Arbeiterbewegung eine Schlüsselerfahrung, welche die optimistische Fortschrittsperspektive des 19. Jahrhunderts in ihren Grundfesten erschüttert. Die mörderischen Materialschlachten, welche durch die moderne Serienproduktion in der Grassindustrie überhaupt erst möglich geworden sind, demonstrieren mit kaum zu überbietender Deutlichkeit, dass es sich bei Wissenschaft und Technik nicht nur um menschheitsbeglückende Mächte handelt. Planung und Lenkung der Produktivkräfte: Diese Forderungen rücken nun ftir drei Jahrzehnte ins Zentrum sozialdemokratischer, gewerkschaftlicher, aber auch kommunistischer Zielvorstellungen. Die sowjetischen Anstrengungen für einen planmässigen Aufbau des Sozialismus und die amerikanische Erfolgskombination von Produktionsrationalisierung, wissenschaftlicher Betriebsftihrung und Lohnerhöhungen haben einen starken Einfluss auf ein Fortschrittsmodell, welches den Übergang zum Sozialismus nun auf dem Hintergrund einer ausweglosen Krise des Kapitalismus thematisiert. Die Programmatik der Arbeiterbewegung gerät mit dieser Plan- und Produktivitätsorientierung in eine konfliktreiche Nähe zum «Organisierten Kapitalismus» und zu den Unternehmerischen Rationalisierungsbestrebungen. Einerseits halten die Klassenspannungen an, die sich seit dem ausgehenden 19.]ahrhundert aufgebaut haben. Der Konfliktzyklus, welcher durch die Entbehrungen und Ungerechtigkeiten des Ersten Weltkrieges ausgelöst wird, kulminiert im Landesgeneralstreik vom November 1918.
Seite 339: <<Wache auf, Winterthur! Mit verhängtem Zügel fahrt der Genius der neuen Welt über deine Gauen! Ernst und unerbittlich naht mit Sturmeseile, im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft, im Lichte der Wahrheit und Gerechtigkeit die Kraftgestalt des Friede und Glück bringenden Sozialismus. Der Hammer der Arbeit, der Hammer der Wahrheit sendet zerschmetternde Blitze hinaus in die alte Welt des Elends und der Ungerechtigkeit!Schon zeigt ein helles Licht am Horizont das Morgenrot der verheissungsvollen Zukunft!Es werde Licht.» (Text zum Titelbild << Winterthurer Maizeitung>> 1. Mai 1897)
341 «Die Quelle jeden Fortschritts ist ·die Organisation»
Die Arbeiterbewegung kapituliert zwar damals vor der bürgerlichen Übermacht, die sich auf eine intakte Armee stützen kann. Doch die Streikbewegung läuft weiter und die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit sind von Misstrauen geprägt. Trotz des Vormarsches der Reaktion und trotzeiner gewissen Mutlosigkeit besteht innerhalb der Arbeiterbewegung eine zuversichtliche Beurteilung ihrer Handlungschancen und Durchsetzungsmöglichkeiten bis in die beginnenden 1930er]ahre hinein fort. Die Aussicht, das kapitalistische System auf die Länge durch ein sozialistisches ersetzen zu können, bringt die SPS immer wieder in harten politischen Gegensatz zum Bürgertum und zur Unternehmerschaft. Andererseits dauert die «negative Integration» an. Insbesondere seit dem Konjunkturaufschwung von 1923 I 24 imitieren schweizerische Unternehmer ihre amerikanischen Vorbilder F. W. Taylor und H. Ford. Die Verwissenschaftlichung der Betriebsführung (mit Zeitmessungen, neuen Managementmethoden und Betriebspsychologie) und die Rationalisierung von Produktionsprozessen (durch Standardisierung und Mechanisierung, etwa durch die Einführung von Fliessbändern) vermögen die Arbeitsproduktivität zu steigern. Eine von Unternehmern und Betriebswissenschaftlern ins Leben gerufene Ratio11alisierungsbewegung propagiert diese Neuerungen als Allerheilmittel zur Lösung gesellschaftlicher Probleme und insbesondere zur Entschärfung des Klassenkonflikts. Im Verlaufe der 1920er Jahre beginnen Gewerkschaftsfunktionäre und Parteivertreter von «Angebot», «Nachfrage» und «Massenkaufkraft» zu sprechen und sich in volkswirtschaftlichen Denkkategorien heimisch zu fühlen. Damit entsteht eine sprachlich-ideelle Verständigungsgrundlage zwischen den beiden gegnerischen Kräften. Produktivitätssteigerungen werden zum gemeinsamen Interessennenner, um den herum sich erste Ansätze für einen Klassenkompromiss herausbilden. Dieses Gutheissen von Kapitalinvestitionen und arbeitsorganisatorischer Innovation kommt allerdings nicht bruchlos zustande und wird durch anhaltende Konflikte verdeckt. Anfanglieh herrschen offene Ablehnung oder zumindest Skepsis gegen die neuen Unternehmer-Methoden noch vor. Der Basler SP-Linke Friedrich Schneider kritisiert 1925 die Mechanisierung und die Akkordarbeit mit harten Worten und sieht in diesem «Terror des Arbeitsprozesses» und in dieser «Gier, mehr zu verdienen» den Ruin der arbeitenden Bevölkerung. Im r. Mai-Aufruf von 1926 wird erklärt, Industrialisierung und Kapitalismus hätten gigantische Ausmasse angenommen: «Sie sind zur Weltmacht geworden und die Gefahr einer völligen Mechanisierung der Arbeit und der Versklavung der Arbeiter ist nicht zu
<< ••• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft» 342
unterschätzen.» 1927 schreibt Konrad Ilg, «nachdem sich jetzt der erste Sturm der Rationalisierungswut etwas gelegt» habe, werde deutlich, «dass die grasszügig angelegte <Rationalisierung> in eine rücksichtslose Ausbeutung der Arbeiterschaft und der Angestellten ausgemündet» ist. Was gegenwärtig erfolge, sei «in der Hauptsache nichts weiter als eine Perfektionierung raffinierter Methoden menschlicher Ausbeutung.>> Zu diesem Zeitpunkt sind allerdings andere Gewerkschaftsvertreter schon auf eine rationalisierungsfreundliche Linie eingeschwenkt. Für sie steht nicht mehr die Arbeitsintensivienmg und die Entmenschlichung, sondern' der «echte» technische Fortschritt, die rationelle, d. h. vernünftige Ausgestaltung der Produktionssphäre im Vordergrund. Max Weber bringt die sich nun durchsetzende Einstellung im Oktober 1926 in einem Beitrag unter dem Titel «Die Gewerkschaften als Bahnbrecher des wirtschaftlichen Fortschritts» zum Ausdruck. Produktivitätssteigerungen werden nun zum Dreh- und Angelpunkt einer Gewerkschaftspolitik, welche Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen im Einklang mit dem «Interesse der Gesamtheit» darstellt. Kürzere Arbeitszeiten sind aus dieser «produktivistischen» Optik ein «mächtiger Hebel wirtschaftlichen Fortschritts» (und damit im Interesse der ganzen Bevölkerung) und zugleich die « Voraussetzung für den Kulturaufstieg des arbeitenden Volkes». Max Weber interpretiert nun die ganze Fortschrittsdynamik neu: jetzt sind die Gewerkschaften der aktive Pol. Sie müssen mit ihren vernünftigen Argumenten die Unternehmer vom Ford'schen Modell, insbesondere vom Hochlohnprinzip und von der fünftägigen Arbeitswoche, dieser «neuesten Entdeckung zur Förderung des wirtschaftlichen Fortschritts» überzeugen. Verbunden mit dieser Strategie ist die Betonung des Massen- und des Organisationsaspekts. Das Kriterium politischer Effizienz gebietet es der Arbeiterbewegung, die Prinzipien rationeller Organisation auch auf sich selbst anzuwenden. «Die Quelle jeden Fortschritts ist die Organisation» heisst es im r. Mai-Aufruf von 1929. Die notwendige Unterordnung des Einzelnen unter das Gesamtziel wird verglichen mit der militärischen Marschkolonne: «Der Massentritt der Arbeiterbataillone wird das Tempo des Marsches zum Endziel bestimmen», wird im r. Mai-Aufruf von 1927 vermerkt. Der Rekurs auf die «Massen» behältjedoch immer ein aufklärerisches Moment. 1930 bemerkt Max Weber: «Die Massenschulung ist nach wie vor sehr wichtig, ja das Wichtigste, das Grundlegende der Bewegung. Denn das Verständnis der breiten Massen für die eigenen Forderungen und Ziele wird immer die Grundlage des gewerkschaftlichen wie auch des politischen Vormarsches se1n. »
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343 «Die Quelle jeden Fortschritts' ist die Organisation»
Trotz dieser grundsätzlich positiven Bewertung von Technik und Organisation bleibt die Unternehmerische Investitionspolitik für die Gewerkschaften eine zweischneidige Herausforderung, auf die sie mit einer eigenständigen Rationalisierungskonzeption antworten, die sich noch nicht voll im Schlepptau der kapitalistischen Profitmaximierung befindet. Max Weber fasst dieses ambivalente Verhältnis 1927 wie folgt zusammen: «<ch habe schon darauf hingewiesen, dass die Hebung der Lebenshaltung der Arbeitermassen gegenüber dem Mittelalter oder auch gegenüber der Zeit vor so Jahren der Steigerung der Produktivität zu verdanken ist. Aus dieser Erkenntnis heraus haben die Gewerkschaften in letzter Zeit ihre Einstellung zur Rationalisierung geändert. Früher hatten sie vielfach eine feindliche Haltung eingenommen, weil sie befürchteten, die Arbeitslosigkeit werde vermehrt; ich erinnere an die Maschinenstürmer zu Beginn des I9.Jahrhunderts, deren geistige Nachkommen noch heute da und dort auftreten. ( ... ) Doch heute beginnen ... (die Gewerkschaften) vielerorts ( ... ) positiv Stellung zu beziehen. ( ... ) Allerdings kann das unter keinen Umständen bedeuten, dass die Gewerkschaften sich der Rationalisierungsbewegung mit Haut und Haaren verschreiben, sondern sie müssen einen energischen Kampfführen gegenjeden Raubbau an der Arbeitskraft, vor allem gegen jene Ausquetschung der Arbeiter, wie sie manchmal bei Fliessarbeit vorkommt.» Diese Wahrung einer eigenständigen Position in der Rationalisierungsfrage hindert die Gewerkschaften jedoch nicht an der Propagierung einer harmonischen Sichtweise der Gesellschaft. Konflikte werden als Folge von gegenseitigen Missverständnissen interpretiert. r 927 streicht der SGB konsequenterweise den Klassenkampfparagraphen aus seinen Statuten. Die Gewerkschaftsverbände werden zu den treibenden Kräften eines gesellschaftsübergreifenden Konsensus, welcher die «nationale Verständigung» der ausgehenden 1930erJahre vorweg nimmt und das Terrain für den Start in die Wachstumsgesellschaft der Nachkriegszeit ebnet. Die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre setzt dieser Rationalisierungsphilosophie vorerst ein Ende. Schon im Frühjahr 1930 wird in der «Gewerkschaftlichen Rundschau» vermerkt, die « ... gegenwärtige Arbeitslosigkeit in fast allen Ländern «Zeige, wie infolge der Mechanisierung» Millionen menschlicher Arbeitskräfte aus dem Produktionsprozess einfach ausgeschaltet und auf die Strasse gestellt werden.» Auf dem Hintergrund einer krisenhaften Entwicklung wird die Technisierung der Produktion nun anders wahrgenommen; das harmonische Bild bekommt vorübergehend Risse. Im r. Mai-Aufruf von 1934 wird festgehalten: «Der Kapitalis-
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« ••• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft» 344
mus hat sich als unfähig erwiesen, ein Wirtschaftssystem zu schaffen, das allen Menschen Brot und Arbeit sichert. Unter seinem Regime hat sich der technische Fortschritt statt zum Segen zum Fluche flir alle Völker verwandelt.» In dieser Phase, in welcher die technisch-arbeitsorganisatorische Rationalisierung auf dem Arbeitsmarkt verheerende Auswirkungen zeitigt, geraten die Zukunftsideen der Arbeiterbewegung ins Gravitationsfeld der Planung: «Vernünftig-rationeller Plan statt anarchisch-chaotischer Markt>> heisst nun die Parole. «Aufwärts durch Arbeit» lautet der Slogan eines SPPlakats von I93 8. Der «planmässige Aufbam wird immer wieder illustriert durch die sozialistische Baustelle, auf welcher in schöner Ordnung systematisch Stein auf Stein gefUgt wird. Das Fortschrittsproblem reduziert sich auf die Frage, welches System die «volkswirtschaftliche Maschine» besser am Laufen hält. Die Idee einer Umgestaltung der gesellschaftlichen Strukturen verflüchtigt sich. Die sozialistische Planung soll das gewährleisten, wozu der anarchische Kapitalismus nicht mehr in der Lage ist: Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung. Die Verfechter der These, die Welt durchlaufe gegenwärtig eine tiefgreifende Systemkrise sind ebenso von diesem Planungsgedanken überzeugt wie die Anhänger der Auffassung, es gelte blass einen konjunkturellen, d. h. vorübergehenden Wirtschaftseinbruch zu überwinden. In programmatischen Reden wird die sozialistische Übergangswirtschaft als einzig möglicher Weg aus der Krise dargestellt. I933 erklärt Robert Grimm, «Banken, Versicherungsgesellschaften, industrielle und kaufmännische Grassbetriebe (seien) flir die Sozialisierung reif, (was fehle, seien die) machtpolitischen Voraussetzungen». Die Politik der SPS verfolgt deshalb gegen Mitte der 30er Jahre hin das Ziel, eine mehrheitsfähige «rot-grüne Allianz» zu schmieden. In der Massenkaufkrafttheorie sieht die Partei ein wirtschaftspolitisches Programm zur Gewinnung der Bauern und der Angestellten. Nach I933 moderiert sie unter dem Eindruck der äusseren Ereignisse und aufgrund dieser innenpolitischen Zielsetzung ihren politischen Stil: Die «Mobilisierung der Massen», die anfangs der r930er Jahre noch vorherrscht, wird jetzt abgelöst durch eine defensive Grundtendenz. «Nationale Verständigung» und das Warten auf den «wirtschaftlichen Aufschwung der Heimat» stellen die Hauptpunkte im r. Mai-Aufruf von I937 dar. Dieser Kurs wird während des Zweiten Weltkrieges durchgehalten. Im Manifest «Neue Schweiz», welches die SPS I942 im Hinblick auf die Nationalratswahlen von I943 verabschiedet, ist von einer «planmässigen Ordnung der Industrie» und einer «planmässigen Förderung der Landwirtschaft» die Rede. Währenddem die in den 30er Jahren entstandene Kompromisspolitik in der Nach-
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kriegszeitunter neuen Bedingungen weitergeführt wird, widerspricht dieser planungsgläubige Krisenverhinderungssozialismus sowohl dem individualistischen, antietatistischen Lebensgefühl als auch der konjunkturellen Situation der Zeit nach 1950.
In der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre: Von der kapitalistischen Anarchie zum sozialistischen Plan
1935 verabschiedete die SPS, zusammen mit einemneuen Parteiprogramm, den «Plan der Ar
beit», welcher die «Nationalisierung der Schliisselindtlstrien» und die «Erweiterung des Binnenmarktes» zum Zwecke einer «erhöhten Prosperität» vorsah. Diese Programmdokumente sind
stark von den beiden Begriffen «Plall» und «Markt» geprägt. Auszug aus dem SPS-Pro
gramm:
«Mit der kapitalistischen Wirtschaft un
trennbar verbunden ist die Planlosigkeit
und Anarchie der Produktion. Die kapitali
stische Klasse hat die Herrschaft über die
Produktionsmittel verloren, sie sind ihr
über den Kopf gewachsen. Jeder einzelne
Unternehmer steht unter dem von der Kon
kurrenz diktierten Zwangsgebot, stets auf
die Verbilligung seines Produktes und die
Sicherung und Erweiterung seines Absatzes
bedacht zu sein und seinen Konkurrenten zu
schlagen, um nicht von ihm geschlagen zu
werden. Wo das Unternehmertum versucht, die
Herrschaft über die Produktion durch Kar
telle, Syndikate und Trusts zurückzugewin
nen, steigert es den Konkurrenzkampf der
einzelnen zu rücksichtslosem Kampf zwi
schen Unternehmergruppen und ganzer
Wirtschaftszweige. Die Konkurrenz- und
Interessenkämpfe werden dadurch verschärft, ihre Grundlagen erweitert, die
Planlosigkeit und Anarchie der Produktion
gesteigert, das Missverhältnis zwischen der
Grösse des Produktionsapparates un'd der
Aufnahmefähigkeit der Märkte erwei
tert.
Die sozialistische Vollelldung. In der sozialistischen Gesellschaft dienen die
Produktionsmittel nicht mehr der Ausbeu
tung und Beherrschung der Werktätigen
und haben dadurch aufgehört, Kapital zu
sein. Die Arbeitskräfte finden nützliche
Verwendung am richtigen Ort. Durch die
planmässig geleitete und dem Bedarf ange
passte Produktion können dem einzelnen
die Möglichkeiten zur vollen Entfaltung
seiner Anlagen und Fähigkeiten und zu
weitgehendem Genuss der Kulturgüter ge
währt werden.»
Die sozialistische Linke, welche die moderierte Verstiindigtmgspolitik der SPS stark kritisierte,
veifiigte, was die Kapitalismuskritik und die sozialistische Fortschrittsperspektive anbelangt, iiber durchaus ähnliche Vorstelhmgen. (Aus: «Hallo, hallo, die sozialistische Linke spricht»,
19]7, s. 5)
«Die ungeheuer entwickelten Produktiv
kräfte revoltieren gegen die privatkapitali
stischen Aneignungsmethoden, gegen die
Beherrschung der Produktionsmittel durch
eine Handvoll millionenreicher Monopol
kapitalisten und Trustherren.
Im Interesse der Erhaltung des Profites wird
der Produktionsapparat zur Hälfte bis zu
zwei Drittellahmgelegt. Wertvolle Maschi
nen werden gewaltsam und absichtlich zer-
« ••• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft» 346
stört. Gewaltige Strecken bisherigen Kul
turlandes werden in 1,3rache verwandelt.
Arbeitsparende neue Erfindungen werden
aufgekauft und bleiben unausgenutzt. Dut
zende von Millionen arbeitswilliger Hände
und Hirne werden zum Feiern gezwungen.
Inmitten eines unermesslichen Reichtums
an allem, was das Leben der Menschen an
genehm und lebenswert gestalten könnte,
steigt die Massenarmut Ungeheure Men
gen Lebensmittel und Bedarfsgegenstände
Plan der Arbeit 1935· Die Krise, f'Ur die
auch die Metapher der «Krankheib> ver
wendet wird, kann durch eine gesunde
Planung geheilt werden. Momentan
herrscht noch der Kapitalismus; die In
dustrie hat Gegenwind und produziert
Kanonen, Sinnbilder f'Ur «Menschen
und Warenvernichtung». Das bewusst
«modern» gestaltete Plakat soll auch
formal die neue Zeit vorwegnehmen.
werden vernichtet, während Millionen von
Menschen in elenden Löchern hausen müs
sen, nicht wissen, womit sie sich kleiden,
wie sie ihren Hunger stillen sollen.
Der Kapitalismus, unfähig, die hochent
wickelte Technik, einen bisher beispiellosen
Stand der Wissenschaft der Wohlfahrt der
breiten Volksmassen dienstbar zu machen,
sucht seine Rettung in einer künstlichen Zu
rückbildung der technischen und wirt
schaftlichen Entwicklung.»
Die Neue Schweiz 1943. Der Krieg geht zu Ende, und das Blatt der Geschichte
wendet sich zugunsten des Sozialismus:
«<n Trümmer sinkt die alte Welt», der
weil sich die SPS ans Werk zum Bau der
«Neuen Schweiz» macht. Die Forde
rung nach Planung und Lenkung der
Wirtschaft wird häufig durch eine Bau
stelle symbolisiert, auf welcher qualifi
zierte und kräftige Arbeiter eine präzise
Konstruktion erstellen.
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Fortschritt als Wirtschaftswachstum:
Die Arbeiterbewegung in der Hochkonjunktur zwischen dynamischem Pragmatismus und konservativer Stagnation
Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Hoffnung auf einen sozialistischen Aufschwung in der Arbeiterbewegung weit verbreitet. Die Durchsetzung einer staatlichen Planwirtschaft als Antwort auf kapitalistische Krise und kapitalistischen Krieg scheitert nicht nur an der desillusionierenden Erfahrung der faschistischen Staatsverherrlichung und der stalinistischen Parteidiktatur. Es ist vor allem die einsetzende Hochkonjunktur, der unerwartete und entgegen aller Krisenprophezeiung anhaltende, gewaltige Aufschwung des Kapitalismus, der die Situation ftir die Arbeiterbewegung gründlich verändert. Der Kapitalismus bringt jetzt selber zustande, was bisher nur durch bewusste Lenkung und systematische Planung für möglich gehalten wurde: stetiges und rasches Wirtschaftswachstum. Steigende Reallöhne, die Aussicht der Arbeiter, dank einem neuen Typ von Massenproduktion ständig neue Konsumgüter zu kaufen, die bisher als Luxus galten, und schliesslich die Perspektive eines kollektiven sozialen Aufstieges: diese handgreiflichen Fortschritte lassen den Willen zu einer Änderung der Gesellschaftsordnung erlahmen. Den Gewerkschaften gelingt es, nach einer kurzen Streikwelle, nach Kriegsende in allen wichtigen Branchen Gesamtarbeitsverträge mit den Unternehmern abzuschliessen, welche die Arbeitsbedingungen verbessern. Die Einigung auf friedliche Konfliktlösungen fördert die Vorstellung einer «Sozialpartnerschaft» zwischen Unternehmer- und Arbeiterverbänden, die jetzt auch formell gleichberechtigt in die Vernehmlassungen des Bundes einbezogen werden. Die sich schon gegen Ende des Weltkrieges abzeichnende Bereitschaft der bürgerlichen Parteien zu sozialen Zugeständnissen führt 1947 zur Einführung und später zum schrittweisen Ausbau der AHV; soziale Postulate finden sich jetzt selbst in bürgerlichen Parteiprogrammen, soziale Ideen und der Gedanke des Sozialstaates werden Allgemeingut. Dieser rasante soziale Wandel mit der greifbaren Perspektive eines Wohlstandes, an dem alle partizipieren, kann nicht ohne Auswirkungen auf die Fortschrittsvorstellungen der Arbeiterbewegung bleiben. Während ältere Genossen die Konjunktur zunächst als kurze Scheinblüte betrachten, kritisieren die Jüngeren, die «skeptische Generation«, dass die Arbeiterbewe-
« ••• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft>> 348
gung ihre Ideale nicht mehr aus der Zukunft, sondern aus der Vergangenheit schöpfe, dass sie sich in ihren Formen und Symbolen nach rückwärts orientiere, ja dass eine marxistisch erzogene Funktionärsgeneration buchstäblich der Zeit nicht mehr nachkomme. Die Diskussion der frühen soer Jahre um eine Neuorientierung der SPS beinhaltet vor allem eine heftige Kritik am Fundament der bisherigen marxistischen Fortschrittsorientierung, wobei die vom Antikommunismus geprägten Kritiker einen schematischen und ökonomistisch verengten Marxismus vor Augen haben: Die marxistische Schule habe sich totgelaufen, weil sie sich nicht mit den modernen Wissenschaften auseinandersetze; die marxistische Soziologie sei überholt: Der Lebensstandard der qualifizierteren Industriearbeiter habe sich gehoben, ihre Rechte in Betrieb und Staat seien vermehrt worden; die Mittelschichten seien nicht zerrieben worden, neben den neuen selbständigen Existenzen nehme vor allem der Angestelltensektor zu. Der Staat schließlich sei nicht mehr Unterdrückungsinstrument, sondern der bedeutendste Träger der sozialen Ausgestaltung des Kapitalismus. Angesichts dieser Unhaltbarkeit marxistischer Analysen solle die Zukunftsorientierung auf eine sozialistische Gesellschaftsordnung hin, die durch den Kommunismus diskreditiert erscheint, ersetzt werden durch die als zeitlos gültig verstandenen sozialistischen Leitvorstellungen «Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie und allgemeiner Wohlstand». An diesen Werten habe sich die politische Arbeit pragmatisch, je nach Situation, zu orientieren. Diese Absage an eine eigene, «andere» Zukunftsvorstellung, dieser Verzicht auf die Überwindung der bestehenden Gesellschaftsform wird im bewusst pragmatischen SPS-Programm von 1959 mit der Vorstellung verbrämt, dass sich die schweizerische Gesellschaftsordnung, geschichtlich betrachtet, bereits im «Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus» befinde. EinJahr später betont der Gewerkschaftsbund in einem neuen Arbeitsprogramm, er habe «seine Aufgabe in der bestehenden Wirtschaftsordnung zu erftillem. Der Ruf nach Entideologisierung der Politik wird in den 6oer Jahren immer deutlicher: Die SPS soll sich nach Meinung der «Antiideologem als pluralistische Partei in einer pluralistischen Gesellschaft verstehen. Ihre Aussöhnung mit der Gesellschaft vollzieht die Arbeiterbewegung im stolzen Bewusstsein auf das Erreichte. «Es sind sozialistische Bausteine bereits in der heutigen Wirtschaftsform eingebaut worden», erklärt Alt-Bundesrat Max Weber in seinem Referat zum neuen SPS-Programm, und auf einen Zuruf des Präsidenten hin: «Das ist unser Erfolg», ftigt er bei: «Ja, wir haben es erreicht. Wir wollen die Gloriole nicht den anderen überlassen.
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349 Fortschritt als Wirtschaftswachstum
Die AHV, die Invalidenversicherung, die Verkürzung der Arbeitszeit, die Ferien-all das ist von den Gewerkschaften und unserer Partei erkämpft worden.» In einer Wahlbroschüre von 1963 heisst es: «Heute geht es vielen von uns recht gut. Man verdient, man kann sich etwas leisten. Unser Leben ist reicher geworden. Das freut die Sozialdemokraten. Mit dem Ziel, dass die Sonne für alle scheinen möge, begann der Aufstieg der Industriearbeiterschaft. Aus den Hinterhöfen des Lebens erwuchs die moderne Zeit. Es ist das bleibende Verdienst der Sozialdemokraten und Gewerkschaften, dass wir heute in unserem Lande weniger Not, weniger Ungerechtigkeit und mehr Freiheit besitzen.» Auf den sozialdemokratischen Wahlplakaten erscheint nicht mehr der klassenbewusste Kämpfer ftir eine neue Arbeitsordnung, sondern ein strahlender, gut gekleideter, selbstbewusster Arbeiter mit seiner Familie: das Ziel einer Umgestaltung der Produktionssphäre durch das kämpferische Klassenkollektiv weicht der Sehnsucht nach individuell-familiären Freizeitbedürfnissen, nach sozialem Aufstieg und sozialer Anerkennung. Es geht immer weniger darum, sozialen Fortschritt zu erkämpfen, sondern darum, die erreichte soziale Sicherheit zu verteidigen: «Wir wollen nicht, dass die gute Wirtschaftslage mit ihrer Vollbeschäftigung durch leichtfertige Experimente gefährdet wird», heisst es in der schon oben zitierten Wahlbroschüre. Damit versteht sich aber die Arbeiterbewegung keineswegs als konservativ; sie will vielmehr teilhaben am harmonischen Fortschrittsideal der ganzen Gesellschaft: Die Regierungsbeteiligung in der «Konkordanzdemokratie» soll, ebenso wie der «Arbeitsfriede», das Ziel sichern: wachsenden Wohlstand ftir alle, als dessen Motor Produktivitätssteigerung und Wirtschaftswachstum erscheinen. Da die Verteilung des Wohlstandskuchens trotz der sozialdemokratischen Reformpolitik nicht ausgeglichener wird, richten sich die Erwartungen vor allem auf dessen Wachstum. Max Weber referiert zum neuen SPS-Programm: «Es ist eine Binsenwahrheit, dass nicht mehr verteilt werden kann, als vorhanden ist. Daher muss die Erhöhung der Produktivität an den Anfang gestellt werden.» Und 5GB-Präsident Hermann Leuenherger charakterisiert das neue Arbeitsprogramm des Gewerkschaftsbundes mit den Worten: «Ein dynamischer Wachstumsprozess ist Voraussetzung daftir, dass sich die schöpferischen Fähigkeitenjedes einzelnen besser entfalten können. Das wirtschaftliche Wachstum ermöglicht auch uns, den Lebensstandard der Unselbständigerwerbenden zu verbessern, Not und Armut zu überwinden. Nur in einer wachsenden Wirtschaft können sich die Gewerkschaften voll entfalten, positiv wirken.( ... ) Eine expansive Wirtschaft schafft auch die Luft, in der die Demokratie am
« ••• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft» 350
besten gedeiht, wo sich die verschiedenen Interessengruppen leichter zu gemeinsamen Aufgaben zusammenfinden können.» Die Arbeiterbewegung will dazu beitragen, alle produktivitätshemmenden Faktoren systematisch auszuschalten, so durch Unterstützung von Rationalisierung, Automatisierung, betrieblicher Forschung sowie durch die Ausschöpfung der «Arbeits- und Begabtenreserve». «Fortschritt» heisst jetzt Wirtschaftswachstum und technischer Wandel. «Die Geschichte hat das Tempo der Düsenflugzeuge übernommen», erklärt Bundesrat Hans Peter Tschudi 1966. Das atemberaubende Entwicklungstempo der Technik, die Dynamik des industriellen Wandels, die Automation und die Möglichkeiten und Gefahren des Atomzeitalters verunsichern und faszinieren die Arbeiterbewegung zugleich. Die neue Angst vor dem Atomkrieg, der «Verlust der Gemütlichkeit», die sinnentleerte, automatische Produktion und die Zunahme seelischer Krankheitentrotz Wohlstand, werden durchaus registriert. Wenige Einzelkämpfer wenden sich auch in technik-und wachs turnskritischem Sinn gegen die fortschreitende Umweltzerstörung und entwerfen eindrückliche, visionäre Bilder der Schweiz als betonierter und asphaltierter Stadtlandschaft. Wenn sie auch alle betonen, dass sie sich nicht gegen die technische Entwicklung an sich wenden, warnen sie doch deutlich «vor der Verehrung des technischen Fortschritts, die in vielen Fällen zur eigentlichen Anbetung geworden ist .... Oftmals ist das Drängen nach technischem Fortschritt nichts anderes als ein sündiger Tanz um das goldene Kalb.>> Doch die vorherrschende Wohlstands- und Wachstumsoptik lässt die meisten glauben, die Entwicklung der Technik sei unvermeidbar, ein «Einbahnprozess», wie sich Ueli Götsch 1967 ausdrückt, «weil er keine Gegenentwicklung kennt, sondern unabhängig von Politik und geistigen Strömungen sich immer höher und weiter entwickelt, ohne dass ein Weg zurück möglich wäre. Damit soll nicht gesagt werden, dass dieser Ablauf nicht beeinflussbar ist, aber nur in bezug auf die Richtung und auf das Tempo, nicht im Sinne seiner Umkehrung.>> Das eigentliche Problem ist vielmehr der Mensch, der die Entwicklung nicht «verdaut», und das «Zurückbleiben der politischen Fähigkeiten hinter den Anforderungen der sich mehr und mehr wissenschaftlich-technisch integrierenden Welt». Eine zentrale Aufgabe der Sozialdemokratie besteht daher im «HeranfUhren der Gesellschaft an den Stand von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft» durch Förderung von Erziehung und Bildung sowie durch prognostische Planung der vernachlässigten Infrastruktur in Vorwegnahme weiteren Wachstums.
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351 Fortschritt als Wirtschaftswachstum
Von der technikgläubigen, auf die Anhäufung materiellen Wohlstandes zusammengeschrumpften Fortschrittsideologie der Arbeiterbewegung sind viele überzeugte Sozialdemokraten allerdings selber nicht begeistert, weil sie eine umfassendere «Menschwerdung des Arbeiters» im Auge haben. Der Arbeiter sei «kulturell konservativ geworden» und neige unter dem Einfluss neuer Produktionsbedingungen und unter dem lawinenartigen Druck moderner Massenmedien zum Konformismus, stellt alt SPS-Präsident Hans Oprecht 19 55 fest. Der jüngere Hans Ulrich Amberg konstatiert schon zwei Jahre früher eine veränderte Haltung der Arbeiter unter dein Einfluss des Wohlstandes: Solange der Arbeiter gegen seine Ausbeutung rebelliert habe, sei er «Träger des Fortschritts» gewesen, dochjetzt versage die «alte Fortschrittsformel»: «Die Verfechtung materieller Interessen stellt einen wichtigen Teil der von der Arbeiterbewegung zu erbringenden Leistung dar; echter Fortschritt ist jedoch an die viel umfassendere Aufgabe geistiger Neugestaltung gebunden. Der einzelne Mensch, der sich aus freiem Entschluss und aus Verantwortung solidarisch verhält, muss als sozialistisches Menschenbild in die Theorie und die Propaganda der Arbeiterbewegung Eingang finden.» Ganz ähnlich wirft Karl Äschbach der sozialdemokratischen Bewegung vor, sie trage mit die Verantwortung daftir, «dass das Streben nach materiellem Erfolg zum Massstab unseres Lebens geworden ist», denn sie verfüge über keine brauchbare Konzeption, «die diesen Lebensstil ersetzen soll.» In der zweiten Hälfte der 6oer Jahre verstärken sich solche kritischen Äusserungen an der ideologischen Anpassung an bürgerliche Leitbilder, an der «Angleichung der Standpunkte» und der «Verwischung der Gegensätze». Für den bestandenen Politiker Erwin A. Lang zeigt die Arbeiterschaft, «von der Wohlstandsmentalität überkrustet», jetzt auch politisch konservative Züge: «<m Wettrennen um den Besitz möglichst vieler Konsumgüter gerieten die Ideale hoffnungslos ins Hintertreffen und sind nicht mehr gefragt. Das Klassenbewusstsein wurde vom Trend nach dem unauffälligen, farblosen Durchschnittsbürger abgelöst, und aus dem Proletarier von gestern wurde der Staatsbürger von heute, dem Experimente ein Greuel sind und Sekurität viel, beinahe alles ist.» Die Kritik am modernistischen, von «Reklamebüro-Sozialisten» geprägten Image der Arbeiterbewegung verstärkt sich um so mehr, als gerade die favorisierte Wohlstandsmentalität in den 6oer Jahren Teile der Arbeiterbasis ihrer eigenen Bewegung entfremdet, was sich in leicht sinkenden Mitgliederzahlen und wachsender Stimmabstinenz äussert. Seit den 50er Jahren wird über den Individualismus und die Entsolidarisierung der Arbeiter
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geklagt, welche soziale Errungenschaften der Arbeiterbewegung nur noch als selbstverständliche « Versicherungsleistungen» betrachten. Angesichts des Nachhinkens der Vertragslöhne hinter den wirklichen Löhnen verstärkt sich bei vielen die trügerische Vorstellung einer automatischen Verlaufsform des Fortschritts in einer Ära immerwährender Prosperität; fur die Mitglieder verliert der Zusammenhang zwischen eigenem Engagement und dem «sozialen Fortschritt» zunehmend an Plausibilität. Der materielle Zwang zum Klassenbewusstsein schwindet: «Sobald Aufstiegsmöglichkeiten offenstehen, wird die Solidarität mit den Berufsgenossen der gleichen Stufe kleiner». Die Arbeiterorganisationen beklagen schliesslich den Fluchtcharakter der Freizeitbeschäftigung der Arbeitnehmer und sehen immer klarer die Grenze ihrer Erfolge darin, dass «unsere Epoche des überhandnehmenden Materialismus den Willen zur Solidarität nicht fordert, sondern vielmehr den Egoismus hochzüchtet.»
«Vernichtung und Fortschritt schreiten in der Welt nebeneinander»
Die jubiläumsrede des Präsidenten des Schwei
zerischen Gewerkschaftsbtmdes, Artltur Steiner, wirkt wie eine Rede bei einer Siegesfeier,
nachdem das Ziel erreicht ist. Steilter weist zwar auf die Zwiespältigkeit eines rasante11 tedmischen Fortschritts hi11, doch er zieht keine konkreteren Scltliisse daraus, als dass die Ge
werkscluiften auch in Zukunft nötig seien. Wieso bleiben die «denkenden Staatsbürger» (zu denen die Arbeiter nach der Meinung von Stei11er geworden sind) immer mehr der Umefem? Wie
stellen sielt die Gewerkschqfte11 zu dett «vernichtmden» Folgm des Fortschritts? ( Arthur Steiners Rede ist in der «Gewerkschaftlichen
Rundschau» von 1955 (Nr. 1 o !I 1) abgedruckt.)
«75 Jahre Schweizerischer Gewerkschafts
bund fallen aber auch in die Zeit einer un
glaublichen technischen Entwicklung und
gewaltiger wissenschaftlicher Forschung
und Fortschritte. Der Zeit, in der wir noch
über den Schulaufgaben bei der trauten Pe
troleumlampe sassen, folgte der Siegeszug
der Elektrizität, und in den grossen Städten
wurde die Nacht hell wie der Tag. Die
Handarbeit wich der Maschinenarbeit, und
wenn wir heute über des Menschen Stärke
reden, dann rechnen wir, wie viele motori
sche Pferdestärken auf den Kopf der Bevöl
kerung fallen. Je mehr es ihrer sind, um so
mehr entfernen wir uns von der Unterent
wicklung und schweben in die Nähe des au
tomatischen Zeitalters. Unser Staunen über
das Unmögliche, das doch Wirklichkeit
wurde, hört nimmer auf. Und schon stehen
wir wieder an der Schwelle eines neuen
Zeitalters, demjenigen des Atoms, von dem
wir wohl ahnen, dass es uns eine gewaltige
Umwälzung bringen wird, aber nicht wis
sen können, was seine Folgen sein werden.
Und doch grübeln wir bei allem Fortschritt
darüber nach, wieso trotz aller Hilfe, die
dem Menschen zuteil wird, Stück um Stück
Beschaulichkeit aus unserem Leben schei
det. Die Eroberung der Luft, die schnelleren
Flugzeuge, die rascheren Eisenbahnen, der
Siegeszug des Automobils, die leistungsfä-
'~~~~~~--------'~
353
higeren Maschinen in der Werkstätte und
die Motorisierung des Büros, sie alle haben
dem Menschen Tempo und nochmals
Tempo auferlegt, und über ihm schwebt
das Damoklesschwert, trotzTempoüberall
zu spät zu sein. Es fehlt uns immer noch die
grosse Erfindung, die den Menschen in
zwei Hälften spaltet, von der abwechs
lungsweise die eine ruhen kann, während
die andere arbeitet. Die Maschine aber hat
uns immer noch besiegt, und immer noch
sollten wir ihr Herr zum Wohle der
Menschheit werden.
Vernichtung und Fortschritt schreiten in der
Welt nebeneinander. Die eine, diabolisch
des Menschen Untergang erstrebend, die
andere, sein Leben angenehmer gestaltend.
Beide haben auf die Gewerkschaftsbewe
gung ihren Einfluss während 75 Jahren
ausgeübt und ihr Wirken massgeblich be
stimmt. Der Schweizerische Gewerk
schaftsbund und dessen Familie, die Berufs
verbände, setzten sich ein - wie Herman
Greulich es klassisch prägte - ftir die
Menschwerdung des Arbeiters. Wo war der
Arbeiter vor 75 Jahren? Er war klein, so
klein, dass man ihn übersah, er hatte eine
Fortschritt als Wirtschaftswachstum
leise Stimme, so dass man ihn nicht hörte.
Er lebte als Lohnarbeiter abseits der Gesell
schaft. Schritt um Schritt aus dem Dunkel
des Lebens hinauf an das Licht musste bei
oft unverständlicher Gegenwehr gegangen
werden. Man mag heute über die Gewerk
schaften das Urteil fällen, sie wären verma
terialisierte Gebilde, sie würden den Arbei
ter zur Eitelkeit erziehen, indem er so gut
gekleidet wie die andern einhergehen wolle,
die Gewerkschaften würden ihn zum Ver
schwender machen, weil er anständig er
nährt sein wolle und nach des Tages Arbeit
ein anständiges Heim wünsche.
Ich glaube, es ist das gute Recht des Arbei
ters, auf das Anspruch zu erheben, was bes
seres Arbeiten seiner Hände geschaffen hat.
Für die Gewerkschaften gab es aber nie nur
eine Magenfrage. Die Gewerkschaften ha
ben den Arbeiter zum denkenden Staatsbür
ger erzogen, sie haben diesen Staatsbürger
in die Demokratie hineingestellt und ihr da
mit ein solideres und breiteres Fundament
gegeben. Um sinngernäss die Worte des
Dichters zu gebrauchen: der Arbeiter ist vor
sein Haus getreten, um mit im Staate zum
Rechten zu sehen.>>
Von der Zukunfts- zur Gegenwartsorientierung: Der Stolz auf das Erreichte
Der Text dieser SP-Wahlbroschüre von scheinen. Das Sujet nimmt positiv Stellung
1963 fährt fort: «Vieles haben die Sozialde- zur gegenwartsbezogenen, individuali
mokraten erreicht. Man lebt glücklicher in stisch-familiären Freizeitidylle, die in der
unserem Lande.>> Als Gegenwartsprobleme Hochkonjunktur als Vorstellung die klas
werden Wohnungsmangel und Bodenspe- sensolidarische, arbeitsbezogene Fort-
kulation genannt.
Mit dieser Wahlpropaganda wollen sich die
SP-Wahlstrategen bewusst vom anklagen
den Ton früherer SP-Propaganda absetzen:
die Sozialdemokraten sollen als fröhliche
Schrittsperspektive verdrängt. Der Tenor ist
der Stolz auf das Erreichte, auf die Teilhabe
am Wohlstand, auf soziale Anerkennung,
auf die Bundesratsbeteiligung. Die Sozial
demokratie muss sich aber zugleich dage-
Menschen, nicht als verbissene Kämpfer er- gen verteidigen, dass ihre materiellen
« ••• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft»
Errungenschaften nicht den «guten Maschi
nen», den Erfindungen und der Technik zu
geschrieben werden im Sinne eines «auto
matischen Fortschritts», der sie als Partei
überflüssig machen würde.
«Daran sind gar nicht die Sozialdemokraten schuld, dass wir heute besser leben. Das sind die guten Maschinen, die Erfindungen, die Technik ... » Das eine und das andere! Die Vorteile, die Maschinen und Technik boten, kamen nämlich jahrzehntelang nur ihren Besitzern zugute. Wurden die Maschinen besser, so waren einfach Gewinne und Brieftaschen der Fabrikanten dicker. Bis es Sozialdemokraten gab! Ja, die ersten Sozi wurden verspottet. Man ging mit Polizei und Militär auf sie los. Wer denkt heute nochdaran? BundesratSpühler, Bundesrat Tschudi sind Sozialdemokl·aten. Der Kampf der alten Idealistenschar war nicht umsonst.
Der einst erniedrigte Arbeiter Ist zum selbstbewussten Bürger un· seres Landes geworden. Er hat mit seiner Familie teil am Wohlstand.
354
.---
355 Fortschritt als Wirtschaftswachstum
1950er und 1960erjahre: Einheitliches Fortschrittsideal und austauschbare Parolen.
In der Wachstumsperiode der soer und 6oer durch «Freiheit» - damals herrscht «Kalter
Jahre verwandelt sich der «Fortschritt» in Krieg»- und durch «Sicherheit». Auf dem
ein einheitliches, klassen-und parteienüber- Weg in die materiell gesicherte Wohlstands-
greifendes, abstraktes Modernisierungside- gesellschaft gewinnt eine konservative Si-
al. «Fortschritt» als Slogan wird ergänzt cherheitsmentalität die Oberhand. Die Risi-
1951 1958 1961
Bürgerliche Plakate: «Freiheit, Fortschritt, Frieden»: Das war zwischen 1948 und 1954 die I. Mai-Parole des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes. Mit einem einprägsamen vierten «F» und mit einem Schweizerkreuz ergibt das ohne Probleme ein bürgerliches Programm. Was das Atom f'rlr die Familie ist, stellt die Autobahn f'rlr den Verkehr dar: «Fortschritt und
Sicherheit».
1951
;I !
Sonaldemokraten_ · · ·· und Gewerkschaner
1958 1960
aufgesclilossen sozial lortscbritllich modern demokranseil
SPS-Plakate: Die Parolen <<soziale Sicherheit>> und «sozialer Fortschritt» beziehen sich auf ein staatlich-gewerkschaftliches Verteilungskorrektiv in der Wachstumsgesellschaft: Die Unternehmer sorgen f'Ur die stete Zunahme des Bruttosozialprodukts. Gewerkschaften und SPS
streben dann dessen gerechte Verteilung an .
« ••• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft» 356
kominimierung im Privatleben läuft par
allel mit der Entstehung von technisch-in
dustriellen Grossrisiken, die damals noch
kaum zur Kenntnis genommen werden.
Die Vermarktungstendenz greift jetzt auf
die Politik über. Die Wahl- und Abstim-
mungsslogans werden so «billig» wie die
Massenprodukte, die damals die (Super-)
Märkte zu überschwemmen beginnen. Mit
der Angleichung des Lebensstils über Klas
sen und Regionen hinweg wird auch die po
litische Propaganda immer uniformer.
Abschied vom Wachstum: Abschied vom Fortschritt?
Vom wachstumsorientierten « Verteilungssozialismus» der Hochkonjunktur zum ökosozialistischen Programm der 198oer Jahre
In diesen ernüchternden Einsichten der Arbeiterbewegung spiegelt sich das veränderte gesellschaftliche Klima der ausgehenden r96oer Jahre. Das «Fortschrittsparadigma», welches technologische Innovation, Produktivitätssteigerung, Mehrproduktion und Konsumzuwachs absolut setzt und immer nur positiv wertet, verliert nun an Überzeugungskraft. Hinter der glitzernden Fassade der « Überflussgesellschaft» breitet sich ein « Unbehagen in der Modernität» aus. In dieser Situation tritt die rebellierende «progressive» Jugend auf die politische Bühne. Nach dem «Globus-Krawall» vom Sommer 1968 schreibt Monica Blöckerunter dem Titel «Die Zeit der Windstille ist vorbei», dieser Protest drücke nicht nur «ein unbestimmtes Unbehagen an der extrem materialistischen Umwelt aus», sondern besitze einen «spezifisch politischen Gehalt: Er versteht sich selbst als radikale Kritik an der etablierten Gesellschaft, an dem versteinerten Bau des Establishments, um eine seiner Lieblingsvokabeln zu gebrauchen. Er reagiert scharf gegen Unterdrückung in jeder Form, fordert das Mitbestimmungsrecht aller Beteiligten, also echte Demokratie, und will die leeren Worte und heuchlerischen Gebärden der Herrschenden entlarven. Er orientiert sich an einem Marxismus, der im Gegensatz zu allem Bestehenden- auch der kommunistischen Staatsordnung- gesehen wird und mündet in eine Utopie.» Wichtige Teile der 68er Bewegung versuchen rasch, die früheren, blass verschüttet geglaubten Traditionen der Arbeiterbewegung freizulegen.
357 Abschied vom Wachstum: Abschied vom Fortschritt?
Mit dem Anknüpfen an proletarische Protestformen verbunden ist die Wiederaufnahme einer marxistischen Kapitalismuskritik, die sich am Ziel einer « herrschaftsfreien Gesellschaft» und eines radikaldemokratischen Sozialismus orientiert. Die aufbrechende junge Generation schöpft ihre Energien und ihre Hoffnungen auf eine gesellschaftliche Veränderung auch aus der romantisierenden Erinnerung an die «grossen Zeiten» des Klassenkampfes und an die solidarische Gegenkultur einer revolutionären Arbeiterschaft. Doch unterscheidet sich das Selbstverständnis der sich herausbildenden «Neuen Linken», ohne dass ihr das immer klar bewusst ist, in entscheidenden Punkten von ihren historischen Vorläufern. Die Rebellion der sozial sehr heterogenen 68er Bewegung ist geprägt von den widersprüchlichen Erfahrungen der «Wohlstandsgesellschaft»: Im Mittelpunkt ihres kulturellen Unbehagens steht die Kritik der herrschenden Konsumund Leistungsnormen, die Ablehnung von Konkurrenzzwängen und bürgerlichen Karrieremustern. Materielle Interessen rücken hinter immaterielle Werte zurück. Die Suche nach solidarischen Formen der Gesellschaft findet ihr Gegenstück im «antiautoritären» Streben nach persönlicher, individueller Selbstbestimmung- eine Vorstellung, die der straff disziplinierten früheren marxistischen Arbeiterbewegung mit ihrem Willen zur kollektiven Macht fremd war. Das Selbstverständnis dieser «Neuen Linken» ist durchaus «fortschrittlich». Bezeichnungen wie «Fortschrittliche Arbeiter, Schüler und Studenten» (FASS) oder «Progressive Organisationen der Schweiz» (POCH) belegen dies deutlich. Der antiautoritäre Protest stellt zwar grundlegende moderne Entwicklungstendenzen in Frage. Die komplexe Ausdifferenzierung der Gesellschaft mit ihren erdrückenden Apparaten, ihrer starren Rollenteilung und ihren Anforderungen an die Selbstdisziplin verhindern in den Augen der rebellierenden Jugend die Entfaltung der Persönlichkeit. Doch werden mit der neomarxistisch fundierten Kritik am «eindimensionalen Menschen» und an der «repressiven Toleranz» zugleich alte Versprechungen der aufklärerischen Fortschrittstradition radikalisiert: Die Zielsetzung der Selbstverwirklichung führt zur Kampfansage auch an bisher verdeckte und verdrängte Formen von Herrschaft. Die Frauenbewegung, welche gegen die offene und subtile Macht der Männer ankämpft, knüpft ebenso an aufklärerisch-moderne Grundhaltungen an, wie der engagierte «Antiimperialismus», welcher sich nicht nur gegen den Vietnamkrieg der USA, sondern gegen die Ausbeutung der Dritten Welt durch die reichen Industrieländer insgesamt richtet. Die Hoffnung auf gesellschaftliche Emanzipation hat sich keineswegs vom «technischen Fortschritt» ab-
« ••• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft» 358
gelöst. Vielmehr soll die «entfremdete» Arbeit mit Hilfe von Automatisation aufgehoben werden. Von Anfang an bestehen erhebliche Verständigungsschwierigkeiten zwischen der in das «System» integrierten Arbeiterbewegung und der rebellierenden Jugend. Der Aufbau neuer linker Konkurrenzorganisationen steht ebenso wie die Eintrittswelle von Jungen in die SPS und in die Gewerkschaften im Zeichen einer harten Kritik am vorherrschenden pragmatischen Reformismus. So sehr die schweizerischen Arbeiterorganisationen Nachwuchs in ihren Reihen begrüssen, so sehr haben sie Mühe mit der Kritik der 68er am satten Wohlstand und am verlogenen Nebeneinander von «bewaffneter Neutralität» und wirtschaftlicher Ausbeutung der Dritten Welt. Ein früherer Linker wie Fritz Marbach erklärt 1970 im «Profil»: «Wir kämpften an der Aufbaufront ftir ein gehobeneres Dasein der am Rande der Proletarität dahinvegetierenden Lohnarbeiterschaft. Die sich falschlieherweise sozialistisch nennende extreme Linke von heute legt die Axt der Zerstörung an die ökonomischen und ideellen Voraussetzungen eines vorher nie erreichten Wohlstandes. Zudem gefährdet sie- wider alle Erfahrung- die äussere Sicherheit des Landes. Das ist mehr als eine Nuance. Es ist ein Unterschied.» Am vehementesten ist die Abgrenzung bei den Nachkriegsfunktionären. Martel Gerteis zum Beispiellässt in einem AZ-Presseartikel 1971 verlauten: «Wer heute unter dem Deckmantel radikalisierender Agitation die längst ausdiskutierten und <durch das Leben> bestätigten Erkenntnisse wieder in Frage stellen will und durch Richtungskämpfe die Gewerkschaften und die Sozialdemokratische Partei von ihrem erfolgreichen schweizerischen Weg zum demokratischen Sozialismus abhält, muss sich nicht wundern, wenn er in den Verdacht kommt, dass er im Grunde die Geschäfte der Reaktion besorgt.» Traditionelle Sozialdemokraten haben das Gefühl, die besserwisserische «Neue Linke» wolle sie um die verdienten Lorbeeren bringen. 1973 schreibt Otto Lezzi: «Auch den Fortschritt, so möchte ich meinen, sollte man nicht unbedingt mit dem <linken Flügel> gleichsetzen. ( ... ) Das U rheberrecht steht weder der neuen noch der jungen Linken zu.» Die « Zentristem der SPS sehen demgegenüber mehr die Chancen, welche der Aufbruch der Jugend ftir eine etwas flügellahm gewordene Partei eröffnen kann. Richard Lienhard, damals «Profil»-Redaktor, stellt Fritz Marbach die Frage, ob er der Meinung sei, «dass die Impulse aus der Arbeiterschaft genügen, um alle langfristigen Zielvorstellungen, wie sie ftir eine linke Gesellschaftspolitik unabdingbar erscheinen, zu verwirklichen,» und stellt
359 Abschied vom Wachstum: Abschied vom Fortschritt?
fest: «Die Kritik der Jungen, mag sie noch so pauschal formuliert sein, zwingtjedenfalls die Vertreter der traditionellen Linken dazu, ihre Position stets erneut zu überprüfen. Oder haben wir uns der Dialektik, dem vorwärtstreibenden Element politischer Entwicklung, so sehr entfremdet, dass wir diese Denkmethode überhaupt nicht mehr in Betracht ziehen?» Immer wieder wirft die «alte» der «neuen» Linken vor, sie übe zwar an allem Kritik, unterlasse es jedoch, ihre eigenen Ziele zu deklarieren. Tatsächlich erreichen die Forderungen der «Neuen Linkem niejenen Grad an ideologischer Geschlossenheit und Zukunftsausrichtung, die der älteren marxistischen Programmatik eigen war. Die neuen theoretischen Analysen wiederum bewegen sich auf einem abstrakten Niveau und bedienen sich einer verschlüsselten Sprache. In dieser Situation entzünden sich die Konflikte zwischen den Generationen der Linken an konkreten Einzelthemen, welche einerseits um das Eingebundensein der Arbeiterbewegung ins herrschende System und andererseits um die Suche nach Demokratisierung und Lebensqualität kreisen: Abkehr vom Arbeitsfrieden, Armeekritik, Dritte-Welt-Politik, Bildungsreform, Minderheiten und Fremdarbeiter sind die wichtigsten Stichworte. Die immer direkter erfahrbare Beeinträchtigung der Lebensqualität in den Städten und Agglomerationen (Autoverkehr, Citywildwuchs) lenkt das Engagement vieler <~unger Linker» schon früh auf Umweltprobleme. Die Zerstörung natürlicher Lebensräume wird dabei als «logische Folge» der kapitalistischen Herrschaft und der «Macht der Monopole» dargestellt. In dieser Kritik am unkoutrollierten Wirtschaftswachstum ist das im folgenden Jahrzehnt an Bedeutung gewinnende ökologische Bewusstsein bereits angelegt. Insgesamt bergen diese Themen, welche die Auseinandersetzungen innerhalb der SPS und der Gewerkschaften immer stärker bestimmen, einen Konfliktstoff, der sich bis heute keineswegs erschöpft, sondern seine Brisanz bewahrt hat.
Das Engagement der «Neuen Linkem, die radikale Infragestellung von gesellschaftlichenNormen und politischen Institutionen, hat eine beträchtliche Langzeitwirkung. Die von einer breiten Aufbruchstimmung getragene 68er Bewegung bricht zwar auseinander, nachdem klar wird, dass der angestrebte Bruch mit dem bestehenden Gesellschaftssystem nicht gelingt. Aus den vorhandenen gesellschaftskritischen Ansätzen heraus entwickelt sichjedoch eine ganze Reihe von neuen sozialen Bewegungen, die aussethalb der Arbeiterbewegung aktiv werden. Zur Frauenbewegung und zu den Dritte-Welt-Organisationen gesellen sich Alternativprojekte, Selbstverwaltungs betriebe, Quartiergruppen, Bürgerinitiativen, die Anti-AKW-
« ••• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft» 360
Bewegung, 1980 eine autonomistische Jugendbewegung und schliesslich eine neue Friedensbewegung. All diese Bewegungen formieren sich entlang verschiedener Lebenslagen und dokumentieren eine abnehmende Bedeutung der Klassenstruktur für die Artikulation von Interessen und die Basisaktivierung. Sie sind zwar lose vernetzt zu einer alternativen Subkultur. Der vielfaltige Protest wird jedoch nicht mehr gebündelt durch eine umfassende Systemkritik am Kapitalismus, sondern richtet sich direkt gegen unterschiedliche Erscheinungsformen von Herrschaft und Umweltzerstörung wie: «das Patriarchat», «das Wachstum», «die Grosstechnologie», «das Packeis». In der Entwicklung der sozialen Bewegungen wie auch in den Themen der öffentlichen Diskussion wird deutlich, dass seit Mitte der 70er Jahre die Zukunft zunehmend mit Angst besetzt und als Bedrohung verstanden wird. So rücken die Begrenzung der weltweiten Ressourcen («Grenzen des Wachstums»), die ökologischen und sozialen Kosten der dauernden Expansion von Produktion und Konsum allmählich in den Brennpunkt des Interesses. Die r 97 4 I 7 5 einsetzende wirtschaftliche Strukturkrise, die eine Wende auf dem Arbeitsmarkt hervorruft, markiert den Auftakt zu einer staatlichen Sparpolitik und einem Druck auf die Löhne. In diesem veränderten gesellschaftlichen Klima finden Reformansätze ihr Ende und verengen sich die bisherigen Spielräume für persönliche Entfaltung und kollektive Partizipation. Doch die soziale Verunsicherung verbindet sich mit einer zunehmenden Sensibilisierung für individuelle Zumutungen und ökologische Gefahren. Arbeitsstress und Psychopharmakakonsum, City-Wucherung und Wohnraumverdrängung, Übermotorisierung und Verbetonierung der Landschaft, Wasser-, Luftverschmutzung und Lärmemissionen, industrielle Landwirtschaft und Chemie im Kochtopf, Wald- und Bodensterben, Ozonloch am Südpol und Urwaldvernichtung am Amazonas, Grassrisiken der Atomtechnik und der chemischen Industrie sind Probleme, welche das Bewusstsein von immer mehr Menschen zu prägen beginnen. Die fröhlich-geschäftige Massenkonsumgesellschaft zeigt in der umweltzerstörenden Wegwerfgesellschaft und in der angsterzeugenden Risikogesellschaft ihre anderen Gesichter. Damit verflüchtigt sich der Wachstumskonsens der Nachkriegszeit. In der Machbarkeitsphilosophie, welche das gesellschaftsübergreifende Credo des vergangeneu Vierteljahrhunderts war, erkennen nun viele eine technokratische Ideologie. Schreckensvisionen einer «strahlenden Zukunft» im Atomstaat Orwell'scher Prägung oder einer menschheitsvernichtenden Katastrophe beschäftigen nicht nur Aktivistinnen und Aktivisten radikaler Strömungen. In der Zeit des «No future» werden auch die utopischen Ziele und die
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361 Abschied vom Wachstum: Abschied vom Fortschritt?
Zukunftszuversicht der «Neuen Linken» und der «Alternativbewegung» gerade von den Jüngeren nur noch als naiv belächelt. Eine solche Stimmungslage kippt leicht um in Resignation. Wenn jedoch der Widerstand gegen die bestehenden Zustände erlahmt, machen sich desillusionierte Anpassung, zynisches Abwarten der «Apokalypse» oder Flucht in Ersatzwelten breit. Manche erklären in dieser Situation, das von der Aufklärung formulierte «Projekt der Moderne», das darin bestand, die Menschheit mittels Kenntnissen und Techniken, Künsten und Freiheiten aus Unwissenhe,it, Unterwerfung und Elend zu befreien, sei am Ende angelangt. Sie plädieren ftir die Preisgabeall der mit diesem Fortschrittsglauben verbundenen Hoffnungen und Träume in heiterer Gelassenheit, die das Heute nicht mehr auf ein Morgen bezieht.
Die traditionellen Organisationen der Arbeiterbewegung werden in der Auseinandersetzung mit den neuen sozialen Bewegungen zu eigentlichen Brennspiegeln gesellschaftlicher Konflikte um kulturelle Orientierungsmuster. Dabei verschieben sich auch hier die Themen, auf welche sich die Streitpunkte konzentrieren. Die neulinke Opposition macht in der Periode wirtschaftlicher Stagnation in der zweiten Hälfte der 70er Jahre die Erfahrung, dass eine Wiederbelebung des «schlafenden Riesen Proletariat» im Sinne des Marxismus, erfolglos bleibt. Der Mentalitätswandel in der Arbeiterschaft ist als «konjunktureller Schein», d. h. als vorübergehendes Phänomen der Hochkonjunktur, missverstanden worden. Die organisationsinterne Opposition wendet sich nun zunehmend immateriellen Werten und neuen Themen zu. Debatten um Strassenbauten und Atomkraftwerke, um ökologische Produktion, Selbstverwaltung und Teilzeitarbeit, um Jugendprotest und um den Status von Randgruppen fUhren zu Spannungen, die sich häufig zu eigentlichen Zerreissproben zuspitzen. Seit den ausgehenden 70erJahren ereigneten sich mehrere Abspaltungen am «rechten Rand» der SPS. Die traditionelle Richtung innerhalb der Arbeiterbewegung betrachtet die neuen Ideen als «Spiel mit dem Feuer»; sie stellt den bürgerlichen Kreisen, die den Sozialstaat demontieren und den Arbeitsmarkt deregulieren möchten, die alten, aus ihrer Sicht bewährten, etatistischen Konzepte entgegen, welche « Verteilungsgerechtigkeit» und «soziale Sicherheit>> auf der Grundlage einer wachsenden Wirtschaft anstreben. Die Kritiker dagegen betrachten die Wiederankurbelung eines quantitativen Wirtschaftswachstums und damit das herkömmliche «Fortschrittsmodell» als eine «Option auf Selbstmord» (wie Oscar Lafontaine das 1983 im «Profil» ausdrückt). Der Schriftsteller Peter Bichsel erklärt 1978 vor den zum
« ••• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft» 362
75-Jahresjubiläum ihrer Gewerkschaft versammelten GTCP-Mitgliedern: «Wir sind eine Gesellschaft von potentiellen Selbstmördern geworden. Eine Gesellschaft, die nur zynisch und sarkastisch von dem spricht, was einmal Zukunft hiess. » Im Entwurf von 1980 für ein «Selbstverwaltungsprogramm» der SPS heisst es: «Für uns war 100 Jahre lang klar: Ohne technologisch-industrielles Wachstum ist kein sozialer Fortschritt möglich. Entsprechend haben wir im Verein mit der Gewerkschaftsbewegung den Grundsatz «Wachstum um jeden Preis» mitgefordert und mitvertreten. Heute, angesichtsder Verwüstung unserer Umwelt, der Zerstörung derNaturund deren Folgen ftir unser aller Zusammenleben, sind wir zu neuem und differenziertem politischen Denken auch dem Wachstumsproblem gegenüber gezwungen.» Die Autoren wollen aber die Vorstellung eines «Fortschritts» nicht verabschieden, sie verlangen allerdings einen «neuen Fortschritts begriff»: «Fortschritt ist nicht eine gesellschaftlich und politisch blinde Vervollkommnung bestehender Wissenschaft und Technik ... , sondern Fortschritt ist nur, was der Verbesserung der Lebensqualität und der Emanzipation des Einzelnen und des Volkes dient.» Der Wertwandel bleibt nicht ohne Einfluss auf die offizielle Haltung der Organisationen. «Was nützt die beste AHV -Rente, wenn der alte Mensch vereinsamt?» fragt SPS-Präsident Hubacher in einem Interview 1981: «Jetzt rückt also die Lebensqualität in den Vordergrund. Darum geht es doch auch beim Aufstand der Jungen. Die haben genug von unserer ewigen Prozent- und Prämienpolitik im Sozialbereich, wenn in Basel Atomkraftwerke gebaut werden und weitere Autobahnen unsere Städte kaputtmachen. » Ein Blick in das Arbeitsprogramm des SGB von 1980 und in das SPSParteiprogramm von 1982 zeigt, dass sich diese beiden Organisationen in beträchtlichem Ausmass «enttraditionalisiert» haben. In diesen neuen Programmen wird versucht, aus der Kritik an der «Ausbeutung der natürlichen Umwelt und der Rohstoffe» (SPS) und der «Zerstörung der Natur» (SGB) die Umrisse einer ökologischen Wirtschaft in einer bedürfniszentrierten, vermehrt auf immaterielle und postindustrielle Werte konzentrierten Gesellschaft zu entwerfen. Auch in der politischen Praxis drückt sich diese veränderte Einstellung aus: Sowohl die Abstimmungsergebnisse in Parlamenten wie auch die Beteiligung an ökologisch motivierten Basisaktivitäten machen deutlich, dass die Linke viel häufiger mit den neuen Umweltgruppen und-parteienzusammenspannt als die bürgerlichen «Elitekartell»-Parteien.
363 Abschied vom Wachstum: Abschied vom Fortschritt?
Die Auseinandersetzungen in Gewerkschaften und Sozialdemokratie um den «Fortschritt» und damit auch um ihr Verhältnis zur Zukunft ist keineswegs zu Ende. Die Entwicklung der Wirtschaft drängt nach wie vor auf die Steigerung der Zuwachsraten in Produktion und Konsum. Die Wachstumsfrage-bezogen auf die Dritte Welt, die Begrenztheit der Rohstoffvorkommen und die ökologischen Schäden - ist nicht gelöst. Der Konflikt zwischen materiellem Lebensstandard und einer immateriell verstandenen Lebensqualität geht weiterhin mitten durch die arbeitende Bevölkerung, und das heisst auch durch die Individuen hindurch. Auch wenn die traditionelle Basis der historischen Arbeiterbewegung, die Stamm-Industriearbeiterschaft, an Bedeutung verliert und sich wandelt, finden die gesellschaftlichen Wertkonflikte auch in einer verjüngten «Arbeiterbewegung» mit verändertem Berufsspektrum einen breiten Resonanzboden. Während die einen nach dem «Stillstand», wenn nicht nach einem «Zurück» in der technischen Entwicklung als Antwort auf eine bedrohliche «Fünf-vorZwölf-Situation» rufen, sehen andere in den neuen Technologien die Chance für einen sanften Umgang mit der Natur (ressourcensparender technischer Fortschritt) und für humanere Arbeitsbedingungen (neue Qualifikations- und Mitbestimmungsmöglichkeiten). Zur wechselseitigen Charakterisierung dienen die Etiketten «Fundamentalisten» oder «Apokalyptiker» und «Realisten» oder «Technokraten». Im Zeichen der abnehmenden Attraktivität grosser (Regierungs-)Parteien und fest etablierter Verbände und einer Verdüsterung der Zukunftsperspektiven erhalten die in einem konflikthaften Veränderungsprozess begriffenen Organisationen der Arbeiterbewegung auch vermehrt Konkurrenz von aussen. Grüne Parteien mit einem radikalökologisch inspirierten Weltbild bieten übersichtlichere Orientierungen und eine klarere Ausrichtung des Engagements an, als dies grösseren Parteiformationen möglich ist, welche die Wachstumsgesellschaft der Nachkriegszeit mitgestaltet haben. In den Auseinandersetzungen um den Fortschritt geht es um die Zukunft der Gesellschaft. Wie die Weichen gestellt werden: das hängt auch von zukunftsgerichteten Veränderungsspielräumen innerhalb der SPS ab.
Blenden wir noch einmal zurück: Wir haben in unserer Geschichte der Fortschrittsidee in der Arbeiterbewegung einen weiten Weg zurückgelegt. Der «Fortschritt» orientiert sich anfanglieh an Zielen, die von der geistigen Aufklärung des r8.Jahrhunderts formuliert wurden: Naturbeherrschung, menschliche Autonomie in einer freien, gerechten und friedlichen Gesellschaft. Wahrnehmbar wird der Fortschritt in der Industrialisierungsphase
« ••• im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft» 364
des 19.Jahrhunderts als rasante, Wirtschaft und Gesellschaft umwälzende, aber auch <mngesteuerte» Entwicklung, deren sichtbarste negative Folge das soziale Elend einerneuen Klasse, des Proletariats ist. Soziale Utopien stellen diesem realen Fortschritt schon früh Modelle einer bewußt geplanten harmonischen Gesellschaft gegenüber. Deren Anhänger finden sich vor allem in der entstehenden Arbeiterbewegung. Nach der unaufhaltsamen Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise mit ihrer rationellen Grassorganisation gewinnt gegen Ende des 19. Jahrhunderts innerhalb der Arbeiterbewegung die Überzeugung Oberhand, die industriellen Produktivkräfte selbst würden die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft vorantreiben. Je mehr die Arbeiter im 2o.Jahrhundert an den Segnungen des materiellen Wohlstandes selber teilhaben, desto weniger haben sie noch das Ziel einer Überwindung des Kapitalismus vor Augen. V)elmehr stellen sie nun das Wachstum der Produktion selbst ins Zentrum eines wissenschaftsgläubigen Fortschrittsdenkens. Gleichzeitig wird aber die Utopie eines gelenkten Fortschritts diskreditiert durch Erfahrungen mit dem «realen Sozialismus». In derNachkriegszeitüberrollt dann ein nie dagewesener kapitalistischer Fortschritt die alternativen Orientierungen der Arbeiterbewegung vollends. Die Protestwelle von 1968 ist das erste Anzeichen dafür, dass sich die Lebensvorstellungen einerneuen Generation aufimmaterielle Bedürfnisse verlagert haben. Materielle Fortschritte werden immer stärker als sozialer Zwang erfahren und schliesslich als Risiko für die gesamte Zivilisation gewertet. Damit e.rlahmt aber der Gedanke eines umfassenden, eigendynamischen «Fortschritts» als Leitbild der Gesellschaft selber. Die Arbeiterbewegung, die sich lange diesem Ideal verpflichtet fühlte, muss deshalb Abschied nehmen von Grundsätzen, die sich überlebt haben. Überholt ist die Vorstellung, bei der unersättlichen Steigerung der Produktion handle es sich um eine Zielsetzung mit Ewigkeitswert. Vorbei ist die Einbildung, der «wissenschaftlich-technische Fortschritt» sei ein naturwüchsiger Prozess, den man einfach hinzunehmen gezwungen sei und den man bestenfalls mit eigenen Zielsetzungen kombinieren könne. Überlebt ist auch das Sichklammern an grosse Gesellschaftskonzepte und das Beharren aufkollektiven Machtphantasien. Aber auch wenn wir Abschied nehmen vom Glauben an den Fortschritt: Auf die Dimension der Zukunft können wir in unserem Denken und Handeln nicht verzichten. Deswegen hat gerade heute eine Bewegung, die eine so reiche Tradition an Kämpfen gegen eine schlechte Gegenwart und an Entwürfen für eine bessere Zukunft hat wie die Arbeiterbewegung, eine wichtige Aufgabe. Sie kann uns davon überzeugen, dass gerade heute Wi-
365 Abschied vom Wachstum: Abschied vom Fortschritt?
derstand gegen unmenschliche gesellschaftliche Entwicklungen notwendig ist. Widerstand gegen eine Produktion als Selbstzweck, welche mit dem Reichtum immer auch soziale Not und Umweltzerstörung hervorbringt. Widerstand auch gegen jene schiefe Alternative, die uns glauben machen möchte, es gäbe nur die Wahl zwischen einem Rückfall in die Steinzeit oder einem Vorwärts in die «schöne neue Welt» (mit Genmanipulation und totaler Verwaltung). Widerstände gegen alljene Kräfte, die uns nichts besseres anzubieten haben. Die Angst vor einer Katastrophe (als dem Gegenbild zum Vertrauen auf den Fortschritt) darf uns nicht so lähmen, ' dass wir nur noch auf den Zusammenbruch warten. Trotz der Zukunftsgefahren sollten wir versuchen, unsere Wünsche und Hoffnungen, unsere Utopien und Phantasien zu formulieren- ohne falsche Anpassung an die bestehende «Realität», welche Entwicklung nur nach einer Richtung zulassen möchte. Gerade die Sozialdemokratie muss sich heute auch als Faktor einer demokratischeren politischen Kultur begreifen. Sie hat eine Aufgabe als «Zukunftswerkstatt», in der gesellschaftliche Probleme ernsthaft diskutiert und in Handlungsperspektiven übersetzt werden können. Diese müssen nicht zu einer neuen, alles umfassenden Weltanschauung gerinnen. Denn eine solche kann schon morgen wieder überholt sein. Aber aus ihnen können konkrete Projekte und weiterführende Schritte resultieren. Ein solches Engagement kann in einen gesellschaftlichen Lernprozess einmünden, der die Menschen befähigt, gesellschaftliche Probleme anzugehen und ihre Persönlichkeit auch in komplexen Strukturen zu entwickeln. Gegenüber einer fremdbestimmten Gegenwart, welche die Zukunft zur Müllhalde degradiert, geht es um den Versuch einer selbstbestimmten Gegenwart, für eine offene Zukunft.
Das Auftreten einer ökologischen Bewegung
tmd die zunehmende Wachstumskritik lässt
die Fortschrittsvorstellungen von SPS und
SGB nicht unbeeinflusst. 1976 äussert sich
SP-Btmdesr~t Willi Ritschard, welcher einen
bemerkenswerten Wandel vom fortschrittstüch
tigen kantonalen Atom-Minister zu einem
problemsensibilisierten Zeitgenossen zurück
gelegt hat, wie folgt zum technischen Fort
schritt (Gewerkschaftliche Rundschau 1976/
s. 9): «Die meisten von uns sind immer noch auf
einen fast unbedingten Fortschrittsglauben
eingeschworen, der den Namen «Fort
schritt» wahrscheinlich schmählich miss
braucht. Ein «Fortschritt», vor dem man
manchmal wirklich fortschreiten möchte.
Viele von uns sind noch immer davon über
zeugt, dass der Fortschritt der Menschheit
weitgehend ein technisches Problem sei.
Wir hätten an sich heute genug Anlass, an
diesem Glauben zu zweifeln. Aber nicht
einmal die bittern Erfahrungen aus zwei
Weltkriegen vermochten der Menschheit
den fast blinden Glauben an die «rettende»
Technik zu nehmen.
« ... im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft» 366
«Die Politik des 19.Jahrhunderts ist im zwanzigsten Jahrhundert endgültig gescheitert>> schrieb Peter Bichsel im <<Öffentlichen Dienst>> Ende 1986. Die in den 70er Jahren entstandene ökologische Bewegung erblickt im Begriff <<Fortschritt>> den Kern einer naturzerstörerischen Wachstumsideologie und eines grössenwahnsinnigen Machbarkeitsglaubens. Der eindimensionale, die Menschen entmündigende Fortschritt würde beim genormten, genmanipulierten Menschen enden. Das Bild zeigt Teilnehmerinnen an einer Demonstration gegen das Atomkraftwerk Mühleberg von Ende August 1986.
367 Abschied vom Wachstum: Abschied vom Fortschritt?
Ich will nicht etwa einfach die Technik ver
dammen. Wir haben ihr vieles, auch einen
guten Teil des sozialen Fortschrittes, zu ver
danken. Aber wir haben ohnejeden Zweifel
diese Technik als Motor des wirtschaftlichen Wachstums zu lange missbraucht. So ist uns
diese Technik davongelaufen. Sie hat sich
dem Menschen entfremdet. Und je unver
ständlicher uns die Technik wurde, desto
grösser wurde eigentümlicherweise unser
Glaube an sie.
Man spricht von den «Wundern der Tech
nik» und vergisst dabei, dass Wunder aus
serhalb des Menschlichen stehen. Wunder
entziehen sich unserer Kontrolle. Und weil
man wegen Wundern früher noch Wall
fahrtskirchen baute, glauben wir noch heu
te, dass Wunder nur etwas Gutes sein kön
nen. Wir vergessen, dass auch Wunder -
und wahrscheinlich vor allem sie - unsere
Skepsis nötig haben.
Heute beginnt es in uns zu dämmern. Die Distanz zwischen Mensch und Technik ist so
gross geworden, dass unser Wunderglaube abbröckelt. Der Glaube an das Allheilmittel
Technik schwindet. Der Mensch will wie
der wissen, was hinter dieser Technik steht.
Dabei schlägt dann vieles ins Gegenteil, ins
Extreme und oft auch in die falsche Rich
tung um. Der Widerstand gegen die Kern
kraftwerke, übrigens auch die Rebellion ge
gen andere technische Einrichtungen in der
Fabrikation, sind Ausdruck dafür.»
Der gesellschaftliche Stimmtmgswandel u11d die Atifechttmgen, deneil sich die traditionelle Portschrittsmission der Arbeiterbewegung ausgesetzt sieht, findet auch im <<SGB-Arbeitsprogramm»
fiir die achtziger Jahre seinen Niederschlag.
«Das seelische Unbehagen vieler Men
schen, das Ausbrechen vieler Jugendlicher
und das Entstehen einer vielfältigen Al-
ternativbewegung sind unübersehbare An
zeichen daftir, dass die bürgerliche Wert
ordnung in Frage gestellt wird. Die Unter
ordnung des menschlichen Lebens unter das
Gewinndenken wird von immer mehr
Menschen zu Recht kritisiert. Ihre Suche
nach neuen Werten beweist, dass eine
grundsätzliche Wende im Denken und Ver
halten, eine Hinwendung vom Quantitati
ven zum Qualitativen in allen Lebensberei
chen not tut.
Die Gewerkschaften beruhen auf der prakti
zierten Solidarität der Arbeitnehmer. Sie
sind nicht nur ein politisches und wirt
schaftliches Kampfinstrument, sondern
ebensosehr ein Ort der Gemeinschaft der
Arbeitnehmer, des solidarischen Lebens
und Erlebens. Das innere Unbehagen des
Menschen, der zum Instrument, zur Mani
puliermasse geworden ist, und der sich den
Massenmedien einerseits und den Wirt
schaftsmächten anderseits ausgeliefert
fühlt, kann nur in der Gemeins'chaft der Ar
beitnehmer beseitigt werden. Die Gewerk
schaften haben den Menschen aus seinem
Alleinsein, aus seiner Ohnmacht, aus der
Entfremdung gegenüber seiner Arbeit her
auszuftihren. So verstanden, sind die Ge
werkschaften nicht nur Interessenvertre
tung und Sprachrohr des Arbeitnehmers,
sondern auch Ort zur persönlichen Entfal
tungjedes einzelnen. Deshalb haben die Ge
werkschaften den Arbeitnehmer nicht nur
aus gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Abhängigkeiten zu befreien; sie haben eine
umfassende kulturelle Aufgabe zu erfüllen,
sowohl in ihrem inneren Gemeinschaftsle
ben und ihrer Bildungstätigkeit wie auch in
der Gesellschaft als Träger der Grundgedan
ken einer neuen, solidarischen Wertord
nung.>>