ANTHONY BOZZA
EMINEMD I E B I O G R A P H I E
Whatever you say I am
Aus dem Amerikanischen von Julian Weber
EWilhelm Heyne VerlagMünchen
Marshall Bruce Mathers III gewidmet.
Seinem Leben, wie er es bisher gelebt und erzählt hat,
und für alles, was er im Laufe dessen verändert hat.
Die Originalausgabe erschien unter dem TitelWhatever You Say I Am – The Life and Times of Eminemby Crown Publishers, New York.
Umwelthinweis:Dieses Buch wurde aufchlor- und säurefreiem Papier gedruckt.
Aktualisierte Taschenbuchausgabe 10/2005
Copyright © 2003 Anthony BozzaCopyright © 2003 der deutschsprachigen Ausgabe by Ullstein Heyne List GmbH & Co. KGDer Wilhelm Heyne Verlag, München, ist ein Verlag der Verlagsgruppe Random House GmbHPrinted in Germany 2005Redaktion: Stefan Raulf und Alexander WagnerLektorat: Markus NaegeleUmschlaggkonzept und -gestaltung: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, München–ZürichUmschlagillustration: Matthew Welch/Icon Int’lSatz: Franzis print & media GmbH, München.Druck und Bindung: Offizin Andersen Nexö, Leipzig
ISBN 3-453-64007-1
www. heyne.de
Eminem bei derArbeit in
Montreal, Kanada, 21. April 2000
Danksagung 8
Einleitung 11
Willkommen zur großen Eminem-Show
1 23
Sieht aus, als hätte ich einen JobEminems Entwicklung
2 63
Ich fluche nur, damit sich deine Mami aufregtIn jedem Witz steckt ein Fünkchen Wahrheit
3 109
Mit einem Stift lässt sich verdammt viel Unheil anrichten!Marshall und die Medien: Von Verächtern zu Fans
4 163
Die Rap-SzeneVon Kool Herc bis Jay-Z: Eine kurze Geschichte des HipHop
Inhaltsverzeichnis
5 217
Weil ich ein W-E-I-S-S-E-R binEminems Vermarktung und die ethnische Identität von Rap
6 273
Motorcity DetroitEminems Leben in einer heruntergekommenen Stadt
7 309
Ich und kriminell?Papa Mathers zwischen Müttern, Ehe und Moral
8 351
Glaubt bloß nicht, ihr könnt mich festnagelnVom Sünder zum Heiligen
Epilog 367
Eminem: Quo vadis?
Bibliographie 385
Bildnachweise 394
Discographie 395
Danksagung
Ohne die tatkräftige Hilfe und aufmunternden Gespräche, die Mitarbeit und
Inspiration der folgenden Personen würde es dieses Buch nicht geben. Ich
bedanke mich bei meiner Verlegerin Carrie Thornton für die Jediritter-
Gedankentricks, die sie anwandte, um mich zu verstehen und in der Spur
und so gut wie möglich im Zeitplan zu halten: bei Trisha Howell und Patty
Bozza (nicht verwandt), die mir die nötige Ruhe gaben und viel Geduld mit
mir hatten. Bei Jim Fitzgerald für seine klugen Kürzungsvorschläge und bei
allen Mitarbeitern der Carol-Mann-Agency für ihre Unterstützung und
Repräsentation. Mein Freundeskreis, alle Bekannten und Stichwortgeber
waren für meinen Arbeitsprozess unentbehrlich, speziell Joseph Patel,Tanya
Selvaratnam, Jon Caramanica und Matt Diehl – danke vielmals für euer
Verständnis und Einfühlungsvermögen. Ich bedanke mich außerdem bei
Lindsay Goldenberg für ihren unermüdlichen Einsatz, für Recherchehilfen,
Beobachtungen, Geduld, Liebe und dafür, dass sie an mich glaubt. Dank an
meine Mutter und meinen Stiefvater für die anregenden Gespräche und
Ratschläge, genau in dieser Reihenfolge, und dafür, dass sie mich mit dem
Geschmack der »älteren« Generation vertraut gemacht haben. Ohne Wis-
sen meiner Verlegerin haben mein Vater und meine Stiefmutter für einige
notwendige Arbeitspausen gesorgt; dafür bin ich euch dankbar, sie nicht.
Dank geht auch an die Familie J. Baker in Minneapolis, sowohl ihrem har-
ten Kern als auch den angeheirateten Mitgliedern, für ihre Gebete und ver-
trauensfördernden Stimmen. Sie alle sind von unschätzbarem Wert für die
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gesamte Stadt. Ich möchte mich hiermit auch bei Eli 5Stone bedanken, der
meine Bewusstseinsströme zu den Gegensätzen Gut und Böse, Licht und
Schatten, Eminem und Marshall Mathers zu Beginn dieses Buchs in eine
fesselnde (kein Wortspiel!) Illustration verwandelt hat. Ich bedanke mich
ebenfalls bei André von Outkast für seine Musik, die so intelligent ist wie
seine Ansichten. Bei Dave Marsh, der wirklich so cool ist, wie ich hoffte,
dass er es sein würde. Mein Dank gilt allen, die ich interviewt habe – Künst-
lern, Kritikern und allen anderen. Ich bin Eminem zu Dank verpflichtet,
dass er seine Leidenschaft, seine Überzeugung und seine Vision mit mir
geteilt hat. Ich bedanke mich bei ihm und Paul Rosenberg für die Einblicke,
die sie mir über die Jahre gewährt haben. Sie stellten eine Nähe her, die die-
ses Buch überhaupt erst ermöglicht hat. Dank auch Jann Wenner für die
Gründung des Rolling Stone sowie dem früheren Chef vom Dienst, Bob
Love, dass er mich gefördert hat – zwei unbestreitbare Sprungbretter auf
dem Weg zur Niederschrift dieser Arbeit.
Danksagung 9
Eminem bei derWeltpremiere von 8 Mile am 6. November2002 in WestwoodVillage, Los Angeles. Er redet mit keinem,blickt sich nur um
Am 11. November 2002 sah ich mir 8 Mile im Kino an. Wie
viele andere New Yorker schmiss ich bereitwillig meine
zehn Dollar in den Topf, dessen Inhalt am Montag nach
Filmstart bereits auf 55 Millionen Dollar angeschwollen
war – das zweithöchste Einspielergebnis aller Zeiten für
den Start eines ab achtzehn Jahren freigegebenen Spiel-
films (einsamer Spitzenreiter in dieser Kategorie ist
Hannibal, ein Film, der allerdings mit weit mehr Kopien in
den Kinosälen lief als 8 Mile). Das Kinopublikum an diesem
Abend war echter New Yorker Bevölkerungsquerschnitt:
Schwarze, Weiße, Latinos, Asiaten, junge Menschen und
Einleitung
Willkommen zur großen Eminem-Show
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solche mittleren Alters. Einigen sah man ihr HipHop-Fantum schon rein
äußerlich an, andere sahen aus, als kämen sie direkt aus einem MTV-Clip.
Manche waren schlicht und einfach durch den Medienhype angelockt wor-
den. Ein paar Wartende – zwei Schwarzkittelgruftis, eine Hand voll Metal-
kids und ein grauhaariges Ehepaar mit Akademikertouch – schienen ganz
einfach neugierig. Jedenfalls knisterte die Atmosphäre in der New Yorker
Abendluft, als stünde ich nicht in einer Schlange für einen Kinofilm, son-
dern befände mich mitten in einer Horde generationsübergreifender Fans
von Kiss, Tom Jones oder James Brown. Als wäre man bei einer Fan-Con-
vention, oder als würde man vor einem Plattenladen für ein Autogramm
anstehen.
Ich gehe meist etwas früher ins Kino, um mir einen möglichst guten Platz
zu sichern. Aber schon mehr als eine Stunde vor Beginn der 8-Mile-Vor-
stellung gab es eine lange Schlange. Alle standen erwartungsvoll herum,
um sich am darauf folgenden Montag beim Smalltalk vor dem Wasser-
spender profilieren zu können oder endlich selbst entscheiden zu können,
was denn nun dran war an der Oscar-reifen Vorstellung des kontroversen
Rappers, wie die ersten Zeitungen schon spekulierten. Vielleicht wollten
einige auch nur wissen, ob es stimmte, was so einige Hipster behaupteten:
dass es nämlich der beste HipHop-Film seit Wildstyle sei. Manche wollten
wohl auch einfach herausfinden, wie viel von dem realen Marshall Mathers
in der Geschichte steckte. Ich selbst hatte mir darüber auch so meine Gedan-
ken gemacht. Ich sah den Film als klare Entwicklung an, nicht so sehr für
Eminem selbst, sondern eher für den Kult um seine Person insgesamt. Für
mich bot 8 Mile keinen Anhaltspunkt dafür, dass Eminem versuchte, eine
Allroundkarriere zu starten, so wie Jennifer Lopez: erst Popstar, dann Film-
karriere in Hollywood, dann unsterblich. Das behaupteten höchstens Leute,
die nicht richtig hingeschaut hatten. Ich war mir darüber hinaus sicher –
ganz egal, wie gut Em in 8 Mile war und wie viele andere Drehbücher sei-
nen Briefkasten im Moment noch so verstopften –, dass dies sein einziger
Ausflug in die Schauspielerei gewesen sein könnte. Was mich außerdem an
diesem Abend beschäftigte, war, ob sich Eminem bewusst war, dass er Ame-
rika damit ganz alleine auf den Kopf gestellt hatte. Ob er überhaupt kapier-
te, wie sehr er unsere Kultur schon an den Eiern gepackt hatte, bezie-
hungsweise die Bestandteile unserer Kultur, die er mochte, und die, die er
hasste. Ich fragte mich, ob er damit glücklich war, wenn er mit sich alleine
war; und schließlich, ob er sich nicht auch ein klein wenig davor fürchtete,
dass alles, worüber er rappte, wahr wurde.
Im Kino saß ich hinter drei Mädchen, die aussahen, als könnten sie in
jedem Sex-and-the-City-Quiz den ersten Preis gewinnen. Es wunderte mich
nicht, dass sie sich für 8 Mile interessierten. Mich überraschte aber schon,
dass ihnen der tumulthafte Andrang an diesem Startwochenende nichts
anhaben konnte. Ich hörte mir an, wie sie über Eminems Sexfaktor disku-
tierten und darüber, wie sein schauspielerisches Talent diesen noch ver-
stärkte. »Ich habe Eminem immer gehasst«, sagte eine. »Ich fand ihn ein-
fach ätzend.« Ich fragte mich, ob sich das Mädchen seine Songs schon vorher
angehört hatte, als sie ihn hasste, oder erst jetzt, nachdem sie ihre Meinung
geändert hatte. Eines der anderen beiden Mädchen sprach meinen Gedan-
ken aus: »Habt ihr denn überhaupt eine seiner CDs?« Die anderen beiden
schüttelten den Kopf, aber nach dem Film, so hatten sie geplant, wollten sie
direkt losziehen, um sich beim nächstbesten Virgin-Megastore den 8-Mile-
Soundtrack zu besorgen. »Ich liebe diesen Song ›Lose Yourself‹«, sagte eines
der Mädchen. »Er hat was von diesem Rocky-Song damals – wenn du ihn
hörst, willst du es danach richtig krachen lassen!«
Hinter mir kam eine Horde Jungs laut schwätzend angeschlurft und johl-
te, als sich die Schlange in Bewegung setzte. Sie debattierten darüber, wie
man im Internet am einfachsten MP-3-Kopien des 8-Mile-Soundtracks zie-
hen könnte und von welcher Homepage sich »Lose Yourself« herunterla-
den ließe. Natürlich redeten sie auch davon, wie scharf Brittany Murphy in
dem Film wäre, und ob ihre Rolle nun eine Karikatur von Kim wäre, Emi-
Einleitung 13
nems viel zitierter Freundin. »Nee«, sagte einer, »die spielt eher so Chris-
tina-Aguilera-mäßig!« Da musste ich schon lachen, denn sie spielten auf
eine von Eminems erklärten Feindinnen an.
Wie alle anderen war auch ich gespannt, wie stark sich Eminems wirk-
liches Leben im Drehbuch wiederfand, und wie eine Figur, um die sich
Gerüchte und Widersprüche nur so rankten, in einer Hollywood-Produk-
tion definiert wurde.Alle um mich herum wussten, dass Eminems Geschich-
te im Mittelpunkt des Films stehen würde – genau so, wie er in diesem
Moment im Zentrum unseres kollektiven amerikanischen Gedächtnisses
verankert war. Wie die anderen war auch ich gekommen, um zu sehen, wie
viele Kapitel seiner Lebensgeschichte er auf Zelluloid gebannt hatte. Im
Unterschied zu den anderen Zuschauern hatte ich jedoch einen gewissen
Wissensvorteil.
1999 hatte ich Eminem in seinem Wohnwagen besucht. Der Trailer stand
weder in Detroit am Filmset von 8 Mile noch in Los Angeles bei Drehar-
beiten zu einem Videoclip. Sein eigenes Haus auf Rädern stand in einer
Wohnwagensiedlung irgendwo in den unendlichen Weiten der Suburbs,
etwa 40 Minuten entfernt von seiner Heimatstadt. Es war am Ende eines
langen Tages, der von schweren grauen Wolken durchzogen war, wie sie von
September bis Mai typisch für den Himmel über dem mittleren Westen
sind. Zuvor hatten wir den Nachmittag und frühen Abend damit verbracht,
eine Spritztour durch die Gegend von Detroit zu machen. Eminem war mein
Reiseführer, er zeigte mir Orte und Schauplätze, die ihn in seiner Jugend
maßgeblich geprägt hatten – im Guten wie im Schlechten: Wir fuhren an
seiner ehemaligen Highschool vorbei und an dem Haus, in dem er aufwuchs.
Zwei Jahre später wurde es für die Bühnenshow zur Marshall-Mather-Tour
nachgebaut. Wir fuhren auch ein Stück auf der 8 Mile Road. Dort, vor dem
Bel-Air-Shopping-Center, hatten ihn einmal ein paar Schwarze mit dem
Auto verfolgt und krankenhausreif geschlagen. Damals nahm er an, sie hät-
ten es auf seine LL-Cool-J-Troop-Sneakers, zu der Zeit die teuersten Model-
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le auf dem Markt, abgesehen. Seine Mutter erzählte mir später, wie er, nur
noch in Unterhose und am ganzen Körper blutig und voller blauer Flecken,
von einem Autofahrer, der sich in die Keilerei eingemischt hatte, bei ihr
abgesetzt wurde.
Am Abend unserer Tour aßen wir in der Gilbert’s Lodge. In diesem Res-
taurant hatte er fünf Jahre lang als Tellerwäscher und Koch gearbeitet. Wäh-
rend Eminem in die düsteren Abgründe seiner eigenen Vergangenheit vor-
drang, war er so ruhig wie selten zuvor in den Tagen, die wir zusammen
verbracht hatten. Er erzählte mir gedankenversunken Geschichten zu den
Schauplätzen um uns herum. Es waren eher traurige als glückliche Erzäh-
lungen, und Eminems Tonfall verriet, dass sie ihn tief bewegten. Eminem
durchlebte seine Lebensgeschichte noch einmal; wie ein Tourist war er
unterwegs in die eigene Vergangenheit. Das Erzählen allein beschäftigte ihn
ebenso sehr wie mich das Zuhören.
Ich war bei ihm, um meine erste Coverstory für den amerikanischen Rol-
ling Stone zu schreiben. Es wurde der erste große Artikel über Eminem in
einem landesweit erscheinenden Hochglanzmagazin. Und bis jetzt ist es
immer noch die vollständigste Chronik seines Heranwachsens. Sie bleibt es
wohl so lange, bis sich Eminem dazu durchringt, Geheimnisse zu enthül-
len, die er bis jetzt verschweigt. Ursprünglich sollte das Rolling-Stone-Cover
Eminem nackt bis auf eine brennende Dynamitstange vor seinen Familien-
juwelen zeigen. Die Geschichte im Heft machte uns beide bekannt. Sie kata-
pultierte mich als Popjournalisten in die Erste-Schreiber-Liga, und gleich-
zeitig schleuderte sie auch Eminems Stern auf eine größere Umlaufbahn –
ganz gleich, ob er dafür schon bereit war oder nicht. Unsere gemeinsame
Reise endete 1999 in einem verschneiten Trailerpark am Rande von Detroit,
aber sie begann schon in New York, und zwar auf der Toilette im Büro sei-
nes Managers. Dort begegnete ich Eminem, kurz nachdem er ein Stück Pizza
und ein Fünftel Baccardi-Rum ausgekotzt hatte. Das war alles, was er an
diesem Tag zu sich genommen hatte, aber nur der Appetithappen für die
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Dinge, die an diesem Abend noch folgen sollten: drei Clubauftritte, gespickt
mit vier Ecstasypillen und reichlich Ginger-Ale zum Runterspülen.
Auf dem Rückweg von Staten Island nach Manhattan war Eminem ein
ganz anderes Kaliber von Reiseführer. Er ritt auf einer gigantischen Eupho-
riewelle, einer Welle, die die meisten Leute schlicht wegbrettern würde. Wie
ein tasmanischer Teufel der Poesie schüttelte Eminem für alle Anwesenden
einen Reim nach dem anderen aus dem Handgelenk: für seinen Manager
Paul Rosenberg, für seinen DJ Stretch Armstrong, für seinen rappenden
Kollegen Royce Da 5’9” , und weitere Leute. Eminems Reime führten ent-
weder zu hysterischen Lachanfällen, offenen Mündern oder aber, wenn man
Zielscheibe seiner genau getimten Giftpfeile wurde (und das war jeder in
Rufweite), zu peinlicher Verlegenheit. In dieser Nacht lebte, atmete, trank
und taumelte er wirklich wie Slim Shady. Er war so energiegeladen, dass
man seinen Synapsen beim Glühen zusehen konnte. Die kleinen chemi-
schen Hilfsmittel flossen scheinbar direkt durch die geweiteten Pupillen hin-
durch, umrundeten einmal die Hirnrinde und wurden gleich wieder mit
doppelter Schubkraft in unsere Richtung herausgeschleudert – und zwar in
Form von Reimen, Sticheleien und Beleidigungen, die unmöglich zu kon-
tern waren. Er war der Chef im Ring, ob wir nun gerade in einem Zimmer
saßen, in einer Stretchlimousine, bei einer Aftershow-Party oder sonst
wo. Und zwar nicht etwa, weil wir ihn als seine Tourbegleiter vergötterten
– da gab es noch ganz andere clevere Spaßvögel in seiner Crew –, sondern
weil einfach niemand an ihn heranreichte.
Obwohl sein Video »My Name Is« auf MTV bereits mehr Sendezeit als
Carson Daly bekam, war Eminem immer noch ziemlich knapp bei Kasse.
Seine New-York-Auftritte waren schon vor Monaten gebucht worden, als
er noch das abgebrannte Phänomen aus dem HipHop-Underground war, der
weiße Schatten aus der Welt der Schallplatten und Mixtapes. Da habe ich
ihn auch zum ersten Mal gehört, auf »Five Star Generals«, der B-Seite von
Shabaam Sahdeeqs 12-inch »Sound Clash«. Ich war von seinem Stil ziem-
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lich beeindruckt. Jedenfalls weit mehr, als dann 1996 von seinem ersten
Album Infinite. 1996 war er vielleicht schon in der Lage, gute Reime zu
schmieden, aber sie hatten noch nicht genügend Witz und Schärfe, ihm fehl-
te die gewisse Scheißegal-Haltung. Er versuchte damals noch, sich der Rap-
Welt anzupassen. Seine Reime waren künstlich vertrackt und kamen selten
auf den Punkt. Die Radioaufnahmen seiner Freestyles in der Wake Up Show
von Sway und Tech (wo er zum Freestyler des Jahres 1997 gekürt wurde),
sowie die erste Version von »Just Don’t Give a Fuck«, die sogar in der Re-
daktion des Rolling Stone zirkulierte, waren da eine ganz andere Geschich-
te. Eminem hörte sich darauf schon an wie eine drogensüchtige Clive-Bar-
ker-Kreatur, die versucht, Licensed to Ill von den Beastie Boys zu covern.
In besagter Nacht musste Eminem in New York zuerst eine All-Ages-
Show in Staten Island bestreiten, dann versuchte er, eine schwarze HipHop-
Crowd in Manhatten für sich zu gewinnen. Und um vier Uhr morgens
schließlich sollte er noch einen Club voller Models, Möchtegernmodels und
deren schmieriger Begleitung unterhalten. Eminem war ungefähr so abge-
fuckt wie ein peinlicher Alleinunterhalter auf einer Hochzeit, aber er heiz-
te ihnen trotzdem mächtig ein.
Dieser Trip nach New York offenbarte Szenen eines Lebens, das noch
nicht ganz das seine war. Es war, als ob er in einer Fernsehserie aufträte –
ein Leben, das Eminem in naher Zukunft rund um die Uhr leben sollte. Er
würde schon bald im Blickfeld der Musikindustrie stehen, dann von ganz
Amerika und schließlich der ganzen Welt. Aber bei ihm zu Hause in Det-
roit ging es zu wie immer, das heißt, wenn man bei Eminem überhaupt von
einem Zuhause sprechen konnte. Er wohnte mal bei seinen Freunden, mal
bei seiner Mutter, bis diese für eine Zeit wegzog. Als er durch den Platten-
vertrag endlich zu Geld kam, kaufte er ihr den Wohnwagen ab, der irgend-
wo in »hickville bumfuck« stand, weil es dort seiner kleinen Tochter Hailie
Jade am besten gefiel. Seine Mutter musste damals aus Detroit wegziehen,
und sie ging zurück in ihre Heimatstadt St. Joseph, Missouri, weil sie mit
Einleitung 17
den staatlichen Behörden von Michigan Ärger bekam: Eminems jüngerer
Halbbruder Nathan hatte zu viele Schultage geschwänzt (das gesetzliche
Limit in Michigan liegt bei 100 Fehltagen). Ihr wurde deshalb das Sorge-
recht entzogen, und erst nach monatelangen Einsprüchen vor Gericht und
einem längeren Papierkrieg wurde ihr das Kind wieder zuerkannt, und sie
verließ Detroit postwendend.
Nach der langen Konzertnacht verpassten wir am nächsten Morgen erst
mal einige Flüge nach Detroit. Auf dem Rückflug unterhielt ich mich die
ganze Zeit mit Eminem. Während seine Crew über den Wolken ein Nicker-
chen machte, gingen wir ungestört seine zerrütteten Familienverhältnisse
durch. Wir redeten über seine Mutter, über seine Oma, über die ganze Fami-
liengeschichte, die jetzt den Stoff für Eminems Texte lieferte. Ähnlich wie
bei der Sightseeing-Tour durch Detroit war er bedächtig und ruhig, so wie
er immer ist, wenn man mit ihm allein zu tun hat. Er wirkte nachdenklich,
redete, ohne anzugeben, ohne großes Gepose. In diesen Momenten schien
er in sich zu ruhen, aber er kann ansatzlos von Shady zu Eminem schalten,
von Eminem zu Marshall und wieder zurück. Es tut dies anscheinend immer
dann, wenn der Eindruck entstehen könnte, er habe sich zu lange in einer
dieser Figuren aufgehalten. Der wahre Marshall Mathers, den, den ich ken-
nen gelernt habe, bevor er berühmt wurde, und von dem ich seither immer
weniger gesehen habe, ist sicherlich die interessanteste Seite seiner Per-
sönlichkeit. Er kann wütend sein und dabei gleichzeitig ziemlich sensibel,
schüchtern und doch neugierig. Uns Amerikaner beschäftigt der wahre, der
echte Marshall am meisten. Er verkörpert ein völlig neues Rollenbild des
weißen männlichen Amerikaners: talentiert und bescheiden, stolz und zor-
nig, hasserfüllt und gleichzeitig fähig zu Mitgefühl. Eminem personifiziert
all diese Widersprüche, die sich im Herzen der amerikanischen Gesellschaft
abspielen.
Vielleicht hing es mit seinem massiven Hangover zusammen, vielleicht
lag es auch an meiner Bereitschaft zuzuhören, an meinem Enthusiasmus –
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jedenfalls schien Eminem darüber erleichtert zu sein, dass er sich mit mir
auf Anhieb gut verstand. Er erzählte mir so viel wie jedem anderen Jour-
nalisten anfangs auch, doch zur maßlosen Bestürzung seines heimlich lau-
schenden Managers entschied Eminem irgendwo über den Wolken zwischen
New York und Detroit, dass ich der einzige Journalist werden sollte, dem er
ausdrücklich erlauben würde, seine Mutter zu interviewen. Journalistisch
war das ein Coup: den Eingang zum Heiligen Gral gefunden zu haben, bevor
die Suche überhaupt losging. Diese besondere Ehre war aber auch mit Ver-
antwortung verbunden. Noch Monate, nachdem die Story längst veröf-
fentlicht war, rief mich Eminems Mama, die sich damals Debbie Mathers-
Briggs nannte, regelmäßig an. Es waren intensive, seltsame, manchmal auch
enorm verstörende Telefonate, mit die traurigsten Äußerungen, die ich
jemals gehört habe. Wir sprachen über Marshalls Kindheit, und für mich
als Außenstehenden klangen ihre Erinnerungen wie das Märchen von der
armen Familie, die sich mit ihrem kärglichen Dasein abgefunden hatte und
im gemeinsamen Überlebenskampf das Glück fand. Sie fragte mich ganz
offen, warum Marshall sie denn so hassen würde, und warum er ihr das
alles antat. Als sie dann ihre schon legendäre Klage gegen ihren Sohn
anstrengte, brachen die Anrufe ziemlich plötzlich ab. Ich nehme an, weil sie
mitbekommen hatte, dass meine Interviewbänder mit ihr von der Vertei-
digung als Beweisstück zugelassen würden, sollte die Klage vor Gericht
kommen.
Als wir damals in Detroit das erste Mal zusammen abhingen, wurde es
späte Nacht. Eminem, Hailie Jade, seine Freundin Kim, sein Manager Paul
und ich summten vor uns hin, als wir in einem Kleinbus auf dem nasskal-
ten Highway Richtung Nirgendwo unterwegs waren. Einige Kilometer hin-
ter den Ortschaften Warren und St. Claire Shores in Michigan, wo Mar-
shall ziemlich viel Zeit damit vergeudet hatte, in Aushilfsjobs unterhalb der
Mindestlohngrenze zu arbeiten und spätabends vor seinem Schlafzimmer-
spiegel Tupac und die Beastie Boys nachzuahmen, nickten alle im Bus ein.
Einleitung 19
Hailie als Erste, dann Paul. Ich war ebenfalls schon ziemlich müde, und das
gleichmäßige Röhren des Motors, das den inzwischen dritten oder vierten
Durchlauf der Slim Shady LP in der Stereoanlage übertönte, half mir wenig
bei meinen Bemühungen, wach zu bleiben. Den ganzen Tag über fühlte ich
mich wie ein Schwamm, der alles, was geschah, begierig aufsaugte, aus einem
Interesse, das längst jenseits aller beruflichen Verpflichtungen lag. Eminem
saß auf der Sitzbank vor mir. Er hatte seit drei Tagen kaum geschlafen. Er
saß kerzengerade, starrte geradeaus auf die vorbeifliegende nächtliche Stra-
ße, dachte angestrengt nach und bewegte seine Hände rhythmisch zum Beat.
Er schien auf einem ganz anderen Planeten zu sein. In der Rückschau kommt
mir diese eisklare Winternacht auf dem Highway in Michigan vor wie die
Ruhe vor dem Sturm, der da draußen auf ihn wartete. Da ich seine Karrie-
re seit 1999 verfolge, mit ihm viel Zeit verbracht und ihn mehrfach inter-
viewt habe, sollte ich die Auswirkungen, die der Sturm auf ihn hatte, sehr
genau miterleben.
Dieses Buch ist weniger eine Biographie. Vielmehr besteht es aus
Schnappschüssen und riesigen Reklameflächen, die ich vor dem Hinter-
grund der ständigen Veränderungen in Eminems Leben und seiner Karrie-
re eingefangen habe. Die anekdotischen Episoden, mit denen ich jedes Kapi-
tel beginne, erzählen die Geschichte eines Mannes an einem bestimmten
Ort zu einer bestimmten Zeit. Diesen Mann, Marshall Mathers, habe ich
erst nach und nach kennen gelernt; es dauerte von unserem ersten Treffen
1999 bis zum heutigen Tag. Die folgenden Kapitel sind eine Analyse. Sie
handeln von Eminem, aber sie handeln auch von Amerika. Sie sind einer-
seits das Porträt einer Gesellschaft, andererseits das der Persönlichkeit eines
Mannes. Seit ich ihn kennen gelernt habe, hat sich Eminems Leben in ver-
schiedene Richtungen aufgespalten. In vielerlei Hinsicht ist es nicht mehr
sein eigenes. Er ist nicht mehr länger nur eine Person, sondern ein Sym-
bol, das für vieles steht. Die Erwartungen, die Verantwortungen, auch das
Chaos in seinem Leben in den letzten vier Jahren haben die Figur Eminem
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vielschichtiger gemacht. Davon abgesehen, ist er meiner Meinung nach tief
in seinem Innern der Gleiche geblieben, ein Mensch mit einfachen Bedürf-
nissen: Er lebt für HipHop und für seine Tochter, sonst nichts.
Ich war immer der Ansicht, dass man, um jemanden besser zu verste-
hen, sein eigenes Ego zurückstellen und denjenigen, sooft es geht, in sei-
nem persönlichen und professionellen Umfeld erleben muss. Man muss
schätzen lernen, was auch er schätzt, erst dann wird sich sein wahres Selbst
offenbaren. Obwohl Eminem ein Rap-Superstar und gefeierter Hollywood-
Hotshot des Jahres 2003 ist, sind seine Ansprüche immer noch so schlicht
wie die weißen T-Shirts, die er trägt. Er verlässt sich noch immer darauf,
was er am besten kann: Worte so lange zu drehen und zu wenden und Dop-
peltreimstrukturen auszufeilen, bis er mit ihnen das über die Rampe bringt,
was das Leben ihm beschert hat. Es scheint, als könne er es damit unge-
schehen machen, zumindest für die Länge eines Songs. Seine Lyrics sind
bissig, schlagen um sich und zeugen von einer Dringlichkeit, die wenige
andere Künstler aufbringen. Er benutzt Rap-Musik, bedient sich dabei aber
einer universellen Sprache. Es ist die gleiche Sprache aus Erfahrung, Ent-
behrung und auch Humor, die man gleichermaßen vom Blues, Jazz, Count-
rymusic und Folk her kennt, wie von der Literatur und der Stand-Up-Come-
dy. Man spricht sie überall dort, wo eine Geschichte in der Nacherzählung
durch die Leidenschaft des Vortrags zu etwas Echtem wird. Marshall Bruce
Mathers III., geboren in Kansas City, aufgewachsen in Detroit, hat sein
Leben zu einer Kunstform erhoben. Kunst kann vieles bedeuten, aber wenn
sie wahrhaftig ist, kann sie jeder, egal woher er ist, zu jeder Zeit verstehen
und seine Empfindungen nachvollziehen. Auch dann, wenn man die jewei-
lige Sprache nicht spricht. Wenn die Emotionen unverfälscht sind, kann die
Kunstform die ganze Welt hinter sich her ziehen, bis hinein in den Fuchs-
bau des Künstlers, wenigstens für kurze Zeit. Wenn diese Kunstform ein
Song ist, versteht die Botschaft wirklich jeder, sogar dann, wenn man die
Worte gar nicht mag.
Einleitung 21
UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE
Anthony Bozza
Eminem - Whatever you say I amDie Biographie
Taschenbuch, Broschur, 400 Seiten, 17,0 x 22,5 cmISBN: 978-3-453-64007-8
Heyne
Erscheinungstermin: September 2005
Vom Staatsfeind Nummer eins hat sich Eminem zum amerikanischen Idol hochgearbeitet undist heute mit über 30 Millionen verkauften Platten der erfolgreichste weiße Rapper. AnthonyBozza, renommierter Rolling- Stone-Journalist, zeichnet den ungewöhnlichen Lebensweg deseinstigen Underdogs nach und gestattet aufschlussreiche Einblicke in das Privatleben des erstenwirklichen Superstars des 21. Jahrhunderts.