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Yearbook for Anglo-German Literary Criticism, Intellectual History and Cultural Transfers Jahrbuch für britisch-deutsche Kulturbeziehungen Edited by/Herausgegeben von Rüdiger Görner in collaboration with/unter Mitwirkung von Steffan Davies ‧ Margit Dirscherl ‧ Angus Nicholls Advisory Board/Wissenschaftlicher Beirat Jeremy Adler (London) ‧ Norbert Bachleitner (Wien) ‧ Christian Benne (Odense) Frederick Burwick (Los Angeles) ‧ Helen Chambers (St Andrews) ‧ Tom Cheesman (Swansea) Peter Davies (Edinburgh) ‧ Angela Esterhammer (Toronto) ‧ Lara Feigel (London) Andreas Gardt (Kassel) ‧ Eckart Goebel (New York) ‧ Julika Griem (Frankfurt/Main) Thomas Pfau (Durham NC) ‧ Sandra Richter (Stuttgart) ‧ Ritchie Robertson (Oxford) Silvio Vietta (Hildesheim)

Volume/Band 7 2014

Bereitgestellt von | Ruhr-Universität BochumAngemeldet

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Andreas
Textfeld

Andreas Beck Bau auf, bau auf! Poetische Ingenieurskunst in Theodor Fontanes „Die Brück’ am Tay“

Von dem Eisenbahnunglück, das ihn zu seiner „Brück’ am Tay“ anregte, erfuhr Theodor Fontane sehr wahrscheinlich aus der Vossischen Zeitung. Das ist be-kannt, doch seit Walter Keitel einen Artikel aus diesem Blatt recht willkürlich selektiert und vage psychologisierend zur „Quelle des berühmten Gedichts ‚Die Brück am Tayʻ“ erklärt hatte,1 ist niemand, soweit ich sehe, solchem Hinweis konstruktiv-kritisch gefolgt, um jene Ballade entschieden von ihrer journalisti-schen Vorgeschichte her in den Blick zu nehmen.2 Dies werde ich versuchen; ich

1 Walter Keitel: „Wer ist John Maynard?“. Vom Abenteuer einer Fontane-Ausgabe. In: Neue Zürcher Zeitung, 5. April 1964, Literatur und Kunst; vgl. ebd., nach teils ungenauem, überdies fehldatiertem Teilzitat des besagten Artikels (der am 31., nicht am „28. Dezember 1879“ er-schien): „Echt fontanisch ist es nun, wie dieses Schreckens- und Sturmereignis ihn schöpfe-risch stimmt […]. Sicher aus dem Eindruck des Sturms, der Schicksalsatmosphäre und wohl auch von dem Wortklang ‚Dundeeʻ her trieben Shakespeare-Bilder auf ihn zu […]. – Nach der Lektüre dieses Berichts war alles klar.“ Derartige Schlüsse hätte Keitel auch anhand der Be-richterstattung anderer Tageszeitungen ziehen können, vgl. etwa die ähnlich lautende der Zürcherischen Freitagszeitung, zit. bei Paul Nentwig: Dichtung im Unterricht. Grundlegung und Methode. Braunschweig, 4. Aufl. 1969 [zuerst 1960] (Grundthemen der pädagogischen Praxis), S. 153. – In Theodor Fontane: Sämtliche Werke. [Abteilung I]. Romane. Erzählungen. Gedichte. Bd. 6. Hg. v. Walter Keitel. München 1964, S. 953–955, bleibt Keitel abermals Argumente dafür schuldig, weswegen er in jenem Artikel (den er nun auf den „30. Dez. 1879“ datiert und erneut fehlerhaft transkribiert) „[d]ie unmittelbare Quelle“ für Fontanes Ballade vermutet. 2 Philip Grundlehner: The Lyrical Bridge. Essays from Hölderlin to Benn. Rutherford, Madison, Teaneck u. London 1979, S. 83, lässt es bei der Bemerkung bewenden, die „Brück’ am Tay“ sei „based directly on newspaper accounts, and as such rely on reported material rather than invention for their stimulus“; Johannes Mahr: Eisenbahnen in der deutschen Dichtung. Der Wan-del eines literarischen Motivs im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. München 1982, S. 163f., und Philipp Frank: Theodor Fontane und die Technik. Würzburg 2005 (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft 526), S. 47, nützen den von Keitel ausgemachten Bericht, um die öffentliche Betroffenheit nach dem Taybrückenunglück zu illustrieren, die mögliche Abhängigkeit der „Brück’ am Tay“ von diesem Text spielt keine Rolle; Harro Segeberg: Literarische Technik-Bilder. Studien zum Verhältnis von Technik- und Literatur-geschichte im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Tübingen 1987 (Studien und Texte zur Sozialge-schichte der Literatur 17), S. 129, präsentiert en passant die mythisierte Natur in Fontanes Ballade als Reaktion auf ratlose Zeitungsberichterstattung; Gilbert Carr: „Entgleisung und Dekonstruktion. Theodor Fontanes ‚Die Brück’ am Tayʻ“. In: Das schwierige neunzehnte Jahr-

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möchte die Abhängigkeit der „Brück’ am Tay“ von verschiedenen Artikeln der Vossischen Zeitung plausibilisieren – nicht nur von dem einen von Keitel eruier-ten, und auch nicht nur von Berichten zum Taybrückenunglück –, um eine ungewohnte Sicht auf Fontanes Balladenklassiker zu entwickeln. Mir ist es darum zu tun, die „Brück’ am Tay“ in ihrer Reaktion auf journalistische Text-produktion als einen Text vorzustellen, der zuletzt gerade nicht zivilisationskri-tische Destruktion, gerade keine Brückenvernichtung im Triumph unzähmbarer elementarer Naturgewalten zur Darstellung bringt. Vielmehr möchte ich in ein-gehender Textanalyse3 zeigen, dass sich das Gedicht dem genauen Gegenteil verschreibt: dem erfolgreichen Wiederaufbau des zerstörten Bauwerks mit Hilfe poetischer Ingenieurskunst; mit Hilfe einer rasanten künstlerischen Schreib-technik,4 die, was Weltabbildung, bzw. stärker formuliert: was narrative Welter-zeugung angeht, sich mit einem anderen Welterzählungsmodus misst. Fontanes Dichtung erlaubt sich hier, so meine These, einen Wettstreit mit telegrafiege-stützter Zeitungsberichterstattung, mit dem angeblichen Fortschritt derartiger Hochgeschwindigkeitsreportagen, die mit der Erschließung und Beherrschung

hundert. Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von Eda Sagarra im August 1998. Hg. v. Jürgen Barkhoff, Gilbert Carr u. Roger Paulin. Tübingen 2000, S. 319–333, Zitat S. 323, ver-nimmt in den Stimmen der Rahmenstrophen „‚gespensti[sch]e Reporterʻ […], deren unheimli-che Vorhersagen und Meldungen jene Ritualfunktion der Informationsmedien parodieren, die dem Journalisten Fontane allzu bekannt war“, die „Gedichtform“ werde zum „Vehikel einer Pressekritik“ – das klingt reizvoll, stellt jedoch, ohne Rückbindung des Gedichttexts an kon-krete journalistische Prä- und Kontexte, nur eine Assoziation vor. Lediglich in Theodor Fonta-ne: Große Brandenburger Ausgabe. Hg. v. Gotthard Erler. Gedichte. Bd. 1: Gedichte (Sammlung 1898). Aus den Sammlungen ausgeschiedene Gedichte. Hg. v. Joachim Krueger u. Anita Golz. Berlin, 2., durchgesehene u. erweiterte Aufl. 1995, S. 526 f., findet sich eine kritisch reflektierte Reaktion auf Keitels Recherche: Vorsichtig ist hier von einer bloß ‚wahrscheinlichenʻ Quelle die Rede, die bibliographisch endlich korrekt nachgewiesen wird. 3 Anders als Ulrich Kittstein: „‚Wie Splitter brach das Gebälk entzweiʻ. Das Tay-Unglück von 1879 in der zeitgenössischen deutschen Balladendichtung“. In: Fontane Blätter 81 (2006), S. 34–45, Zitat S. 39, halte ich es für nicht vertretbar, auf eine „detaillierte Untersuchung“ von „sprachlich-stilistischen und formalen Mitteln“ zu „verzichte[n]“; denn – nicht nur hier – scheint es mir unmöglich, die „kunstvolle sprachliche und formale Machart“ des Gedichts von seiner „reflektierende[n] Dimension“ zu trennen (S. 44). 4 Die „Brück’ am Tay“ gilt es m.E. dezidiert als Produkt einer – ganz und gar nicht negativ konnotierten – kunsthandwerklichen Virtuosität, als Ergebnis von „artistische[r] Intelligenz“ (Fritz Martini: „Theodor Fontane. Die Brück’ am Tay“. In: Wege zum Gedicht. II. Interpretation von Balladen. Hg. v. Rupert Hirschenauer u. Albrecht Weber. München u. Zürich 1976, S. 377–392, Zitat S. 378), von „technisch-stilistische[m] Vermögen“, von „artistische[r] Rationalität“ (S. 380) zu würdigen.

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der Welt durch die Eisenbahn einhergehen.5 In solcher Konkurrenz reklamiert die „Brück’ am Tay“ die Überlegenheit weltbewältigender, stringenter poeti-scher Darstellung als einer gegenüber dem Medium Zeitung privilegierten Form medialer Wirklichkeitskonstruktion.6 Die „Brück’ am Tay“ bietet derart ein Bei-spiel dafür, wie gut sich, dem Vorschlag von Daniela Gretz folgend, die Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts „im Rekurs auf ihre medialen Entste-hungsbedingungen und deren Selbstreflexion im Medium der Literatur […] als genuin ‚medialer Realismusʻ beschreiben“ lässt;7 die „Brück’ am Tay“ zeigt, wie fruchtbar es sein kann, poetisch ‚verklärendeʻ Fontane-Texte unter der Rubrik „Realismus als Medieneffekt“8 zu behandeln.

5 „In Deutschland war die Entwicklung der Telegrafenlinien wie in England an den Ausbau der Eisenbahnlinien gekoppelt“ (Werner Faulstich: Medienwandel im Industrie- und Massen-zeitalter (1830–1900). Göttingen 2004 (Die Geschichte der Medien 5), S. 52; vgl. auch S. 54) – ein Neben- und Miteinander, das sich auch der Vossischen Zeitung in zeitlicher Nähe zum Taybrückenunglück ablesen lässt: So beginnt z.B. der Artikel „Der telegraphische Verkehr in Europa im Jahre 1878“ mit einem Hinweis auf die Relevanz der „Ausbildung der Verkehrsan-stalten“, auf die „Wichtigkeit der Eisenbahnen und die Frequenz derselben“; Königlich privile-girte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen. Vossische Zeitung. Nr. 363, Morgen-Ausgabe, 30. Dezember 1879. Zweite Beilage, S. [2], mittl. Sp. u. 6 Zur Konstruiertheit der in ‚realistischerʻ Literatur dargestellten ‚Realitätʻ vgl. etwa Edward McInnes u. Gerhard Plumpe: „Vorbemerkung“. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. 6: Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit. 1848–1890. Hg. v. Edward McInnes u. Gerhard Plumpe. München u. Wien 1996, S. 7–15 u. S. 731, hier S. 9–11; Gerhard Plumpe: „Einleitung“. In: McInnes u. Plumpe: Bürgerlicher Realis-mus und Gründerzeit, S. 17–83 u. S. 731–736, hier S. 83; Gerhard Plumpe: „Realismus2“. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deut-schen Literaturgeschichte. Hg. v. Jan-Dirk Müller u.a. Bd. 3. Berlin u. New York 2003, S. 221–224, hier S. 223. 7 Daniela Gretz: „Einleitung: ‚Medien des Realismusʻ – ‚Medien im Realismusʻ – ‚medialer Realismusʻ. In: Medialer Realismus. Hg. v. Daniela Gretz. Freiburg i.Br., Berlin u. Wien 2011 (Rombach Litterae 145), S. 8–15, Zitat S. 11; vgl. ebd. zu dem von Rudolf Helmstetter geprägten Begriff des ‚medialen Realismusʻ; vgl. außerdem S. 7–9. 8 Manuela Günter: Im Vorhof der Kunst. Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert. Bielefeld 2008, S. 209 – das S. 209–237 folgende Fontane-Kapitel wird dieser seiner Überschrift allerdings nicht gerecht: Kein einziger Fontane-Text wird dort im spezifischen (mas-sen-)medialen Kontext seiner Erstpublikation herangezogen; Günter zitiert stattdessen meta-massenmedienliterarische Zeugnisse, die fast ausschließlich intimer, brieflicher Kommunika-tion bzw. Tagebucheinträgen entstammen und deren Relevanz an geeigneten Textbeispielen erst zu erweisen wäre. Zitate aus literarischen Texten, die in Zeitungen bzw. Zeitschriften erstpubliziert wurden, fehlen weitgehend bzw. werden, selten genug, fatalerweise nach der Hanser Fontane-Ausgabe zitiert; letzteres wiegt indes insofern nicht allzu schwer, als Günter die betreffenden literarischen Texte lediglich inhaltistisch auf metamassenmediale bzw. me-takommunikative Aussagen hin liest und nirgends das Verhältnis der Faktur dieser Texte zum

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Bereits am Tag nach dem Eisenbahnunglück in Schottland, am 29. Dezem-ber 1879, bringt die Vossische Zeitung die Notiz, dass „[d]urch einen außeror-dentlich heftigen Sturm – so meldet der Telegraph – […] ein Theil der über den Tay führenden Brücke zerstört [wurde], während der Personenzug von Edinburg nach Dundee gestern Abend […] die Brücke passirte. Der Zug stürzte in den Fluß“.9 Fast täglich, das internationale Telegrafennetz erlaubt solch raschen Informationstakt,10 berichtet nun die Vossische Zeitung in den nächsten zwei Wochen von diesem Unglück,11 das den technikzentrierten Fortschrittsoptimis-mus des späten 19. Jahrhunderts empfindlich trifft. Jene Eisenbahnbrücke, heißt es später, „ist eines der Wunder der Brückenbaukunst gewesen; sie ist ohne

Medium ihrer Erstpublikation thematisiert. So sind es zuletzt unterkomplexe Romanhand-lungsschablonen (etwa S. 227 f.: Gattinnen brechen die Ehe und werden dafür bestraft), die belegen sollen, dass Fontanes programmatische ‚Verklärungʻ (hier: poetischer Aufweis der Wirksamkeit gesellschaftlicher Normen in der Realität) vom Unterhaltungsanspruch wertkon-servativer periodischer Massenmedien vorprogrammiert sei. Hiergegen wäre, neben philolo-gisch-methodischen Einwänden, die Sicht von Hugo Aust zu eingehender Prüfung anzumah-nen, dass „die Realisten“ gerade bei Publikationen in der periodischen Presse „im ‚Schraubstock der Vorabdruckeʻ ihrem Material ungeahnte Facetten abzuringen“ vermochten; Hugo Aust: Realismus. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart u. Weimar 2006, S. 46. 9 Vossische Zeitung. 29. Dezember 1879, Abendausgabe – in solcher bzw. vergleichbarer Kurz-form nachfolgend Zitatnachweise aus diesem Blatt, soweit sie das Taybrückenunglück betref-fen; für ausführliche bibliographische Informationen s. Anm. 11. 10 Entsprechend heißt es in den betreffenden Artikeln der Vossischen Zeitung: „so meldet der Telegraph“ (29. Dezember, Abendausgabe); „[w]ie es jetzt in den telegraphischen Meldungen heißt“ (30. Dezember, Abendausgabe); „[d]ie telegraphischen Meldungen über das Unglück besagen Folgendes“ (31. Dezember, Abendausgabe); „[d]as letzte Telegramm datirt aus London vom 1. Januar und lautet“ (2. Januar 1880, Abendausgabe); „[b]ei Abgang der letzten Tele-gramme“ (3. Januar 1880, Abendausgabe). 11 Bis zum 31. Januar 1880 bringt die Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen. Vossische Zeitung Berichte bzw. Notizen zum Taybrückenunglück in folgen-den Ausgaben: Nr. 362, Abend-Ausgabe, 29. Dezember 1879, S. [1], mittl. Sp. u. – Nr. 363, Abendausgabe, 30. Dezember 1879, S. [1], mittl. Sp. u. – „Das Eisenbahnunglück auf der Taybrücke“. In: Nr. 364, Abendausgabe, 31. Dezember 1879, S. [2], mittl. Sp. u. bis rechte Sp. o. – Nr. 1, Morgenausgabe, 1. Januar 1880, S. [4], linke Sp. m. – „Das Eisenbahnunglück auf der Taybrücke“. In: Nr. 2, Abendausgabe, 2. Januar 1880, S. [2], mittl. Sp. o. bis rechte Sp. m. – Nr. 3, Abendausgabe, 3. Januar 1880, S. [2], rechte Sp. u. – Nr. 4, Morgenausgabe, 4. Januar 1880, Erste Beilage, S. [2], rechte Sp. o. – Nr. 6, Morgenausgabe, 6. Januar 1880, Erste Beilage, S. [3], mittl. Sp. u. – Nr. 7, Morgenausgabe, 7. Januar 1880, S. [3], mittl. Sp. u. bis rechte Sp. o. – Nr. 8, Morgenausgabe, 8. Januar 1880, S. [3], linke Sp. m. – Nr. 9, Morgenausgabe, 9. Januar 1880, S. [3], mittl. Sp. o. – Nr. 11, Morgenausgabe, 11. Januar 1880, S. [3], rechte Sp. m. – Nr. 15, Morgenausgabe, 15. Januar 1880, S. [4], mittl. Sp. m. – Nr. 17, Morgenausgabe, 17. Januar 1880, S. [4], linke Sp. m. – Nr. 18, Morgenausgabe, 18. Januar 1880, S. [4], rechte Sp. o. – Nr. 22, Mor-genausgabe, 22. Januar 1880, S. [3], rechte Sp. m.

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Frage die längste Brücke in der Welt […]. Alle Hilfsmittel, welche die moderne Technik an die Hand giebt, waren aufgeboten, um dies Werk herzustellen“;12 die Brücke war, wie kurz darauf zu lesen, „im vorigen Sommer als ein Triumph der Ingenieurkunst begrüßt“ worden – um gut ein Jahr später nach einer „Katastro-phe, die […] beispiellos ist“, in Trümmern zu liegen.13

Ein epochemachendes Desaster, von dessen Darstellung in der Vossischen Zeitung Fontanes „Brück’ am Tay“ bis ins Detail abhängig ist14 – zwei Beispiele: Am 31. Dezember 1879 berichtet die Abendausgabe der Vossischen Zeitung, dass sich zwei Männer in der Unglücksnacht auf die Brücke hinausgewagt hätten: „Sie glaubten […] am anderen Ende der Brücke ein rothes Licht zu entdecken, und gaben sich der Hoffnung hin, daß der Zug zum Stillstand gebracht worden, nachdem der Maschinist den Einsturz der Brücke bemerkt. Diese Hoffnung er-wies sich aber leider als eine trügerische“, und als solche fand sie Eingang in einen handschriftlichen Entwurf Fontanes zur dritten Strophe der „Brück’ am Tay“; dort heißt es:

12 Vossische Zeitung. 31. Dezember 1879, Abendausgabe. 13 Vossische Zeitung. 2. Januar 1880, Abendausgabe. 14 Es bietet sich an, just die Vossische Zeitung als vermutliche Quelle in den Blick zu nehmen, denn „[i]m Zentrum von Fontanes Zeitungsbeziehungen“ stand „die Berliner Presse, allen voran die Kreuzzeitung und die Vossische Zeitung“; beide Blätter, schrieb Fontane „am 23. No-vember 1882 seinem Verleger Friedrich[,] ‚[…] umfassen mein allereigentlichstes Publikumʻ“ (Roland Berbig: „Fontane und das literarische Leben seiner Zeit“. In: Fontane-Handbuch. Hg. v. Christian Grawe u. Helmuth Nürnberger. Stuttgart 2000, S. 192–280, Zitat S. 202) – was im Umfeld der „Brück’ am Tay“ insbesondere für die Vossische Zeitung gilt: Zwischen Januar 1879 und Mai 1880 erschienen sämtliche Zeitungsveröffentlichungen Fontanes in der ‚Vossinʻ, und zwar einundachtzig an der Zahl (vgl. Wolfgang Rasch: Theodor Fontane Bibliographie. Werk und Forschung. Hg. v. Ernst Osterkamp u. Hanna Delf von Wolzogen. Bd. 1. Berlin u. New York 2006, S. 686–707); häufiger als einmal pro Woche publizierte Fontane in diesem Zeitraum durchschnittlich in der Vossischen Zeitung (zwischen dem 4. Dezember 1879 und dem 9. Janu-ar 1880 sogar noch öfter, nämlich achtmal) – was doch nahelegt, dass er zur Entstehungszeit der „Brück’ am Tay“ im Rahmen seiner institutionalisierten täglichen Lektüre der Tagespresse (vgl. Berbig: „Fontane und das literarische Leben“, S. 203) die Vossische regelmäßig gelesen haben dürfte (deren täglicher Bezug immerhin für das Frühjahr 1880 belegt ist, vgl. die Briefe Fontanes an seine Frau Emilie vom 4. und 10. April 1880; Theodor Fontane: Große Brandenbur-ger Ausgabe. Hg. v. Gotthard Erler. Emilie u. Theodor Fontane: Der Ehebriefwechsel. Bd. 3: Die Zuneigung ist etwas Rätselvolles. Der Ehebriefwechsel 1873–1898. Hg. v. Gotthard Erler. Berlin, 2. Aufl. 1998, S. 204 u. S. 211). – Meine Ausführungen werden die Annahme der Abhängigkeit der Ballade von jenem Blatt hoffentlich plausibilisieren; natürlich wäre im Grunde die gesamte Berliner Presselandschaft, wären außerdem überregionale auswärtige Blätter im Hinblick auf das Taybrückenunglück zu sichten; eine Sisyphusarbeit, die ein Einzelner kaum zu leisten vermag.

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Und der Brückner spricht

Ich seh einen Schein Ein röthlich Licht, das

muß er sein, Nun Mutter rasch – –

– – – – Und zünde die Stümpf-

chen an am Baum,15

Das „rothe[ ] Licht“ aus dem Zeitungsbericht kehrt als „röthlich Licht“ wieder, als irreführender bloßer „Schein“, der zum Wiederanzünden des Christbaums, zu verfrühter erleichterter Reinszenierung des erlösenden Weihnachtsfests verführt. – Am 2. Januar 1880 ist dann in der Abendausgabe der Vossischen Zeitung die Rede von einem „vom Ufer aus bemerkten Feuerregen“; zudem wird ein „Augenzeuge der Katastrophe“ erwähnt, der von einem „Windstoß, wüthender als vorher“, erzählt habe sowie davon, dass es, „am Fenster“ zur „Südseite“ blickend,

dem Auge schien […], als ob fast gleichzeitig mit der Einfahrt des Zuges in diesem Theil der Brücke ein Comet mit feurigem Schweife von der Locomotive gewaltsam in die Dun-kelheit geschleudert worden wäre. Der Feuerstreifen wurde in einem langen sichtbaren Schweife gesehen, bis er in dem stürmischen Gewässer darunter erstickt wurde. Dann herrschte absolute Finsterniß auf der Brücke.

Diese Elemente erscheinen in der Schreckensvision der sechsten Strophe der „Brück’ am Tay“ konzentriert:

Auf der Norderseite, das Brückenhaus – Alle Fenster sehen nach Süden aus, Und die Brücknersleut’ ohne Rast und Ruh Und in Bangen sehen nach Süden zu; Denn wüthender wurde der Winde Spiel, Und jetzt, als ob Feuer vom Himmel fiel’, Erglüht es in niederschießender Pracht Ueberm Wasser unten … Und wieder ist Nacht. (VI/1–8)16

15 Nachl. Theodor Fontane, Notizbuch B5, fol. 2r (Staatsbibliothek zu Berlin – Preussischer Kulturbesitz). 16 Zitate aus dem Gedicht unter Angabe von Strophen- und Verszahl nach dem Erstdruck: Theodor Fontane: „Die Brück’ am Tay. (28. December 1879)“. In: Die Gegenwart. Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben. Hg. v. Paul Lindau. Bd. XVI. Nr. 2, 10. Januar 1880, S. 20b–21a; s. die Abb.

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Hier weht ebenfalls der auffällig alliterierende ‚wütendere Windʻ, und auch hier blickt man durchs Fenster nach Süden; überdies erscheint das feurige quasime-teorologische Phänomen in seinem konjunktivischen Modus des ‚als obʻ über-nommen; außerdem findet das „Gewässer darunter“ im „Wasser unten“ sein Pendant, und analog verhält es sich mit der ihm jeweils folgenden, zuletzt wie-der eintretenden Dunkelheit.

Doch nicht nur durch motivische und wörtliche Übernahmen, sondern auch, was das Tempo der poetischen Produktion angeht, ist die Ballade der Zeitung verpflichtet. Die journalistischen Artikel zum Eisenbahnunglück ent-stehen naturgemäß rasch – was auch, weniger selbstverständlich, für Fontanes Gedicht gilt. Die Artikel, an denen es sich orientiert, erscheinen bis zum 2. Janu-ar 1880, und bereits am 10. Januar präsentiert die Zeitschrift Die Gegenwart Fontanes Ballade:

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Abb. 1: Erstdruck der „Brück’ am Tay“, in: Die Gegenwart 17/2 (10. Januar 1880), S. 20 f. (Re-produktion nach dem Exemplar der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf, Sign. zd 943)

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Das Gedicht entstand also in wenigen Tagen17 – eine beachtliche Schaffens- und Publikationsgeschwindigkeit für Fontane, der wochenlang an einem Gedicht herumbasteln konnte18 und seine Reimereien mitunter auch in merklichem Ab-stand zu deren historischem Anlass veröffentlichte.19 Warum hier solche Eile? Meiner Ansicht nach, wie bereits skizziert, um die rasante journalistische Text-produktion, die sich auf Dauer so amorph ausnimmt wie die zerstörte Taybrü-cke,20 durch eine noch rasantere poetische Rekonstruktion dieses Bauwerks zu überbieten – um die techne poetischer Ingenieurskunst als wahren technischen Fortschritt zu feiern, der den erfolgreichen Wiederaufbau einer von Katastro-phen erschütterten Welt erlaubt.

Zugegeben – nach all dem sieht die „Brück’ am Tay“ zunächst nicht aus. Warum also nicht im Gleis herkömmlicher Deutungstradition bleiben, warum das Gedicht nicht als Reanimation der ‚naturmagischen Balladeʻ21 aus dem spä-ten achtzehnten im späten neunzehnten Jahrhundert lesen? In Goethes „Fi-scher“ oder „Erlkönig“ etwa bricht eine Natur, der technische Instrumente so-wie aufgeklärt-vernünftige Anschauungen nicht gewachsen sind, todbringend in die Menschenwelt ein – und in der „Brück’ am Tay“ scheinen die Dinge ähn-lich zu liegen: Die tödliche Aggression personifizierter Elementargewalten kon-zentriert sich „am Brückendamm“ (I/2), um „die Brücke“ (I/7 und I/8), dieses Instrument technisch-rationaler Naturbeherrschung, aus der Welt zu schaffen – und damit zuletzt auch aus dem Gedicht zu entfernen: Von Anfang an ist die ‚Brückeʻ, beginnend mit dem Titel, präsent – in jeder Strophe,22 bis sich in der letzten die Spur des inzwischen vernichteten Bauwerks verliert: Jenseits fahr-planmäßigen Eisenbahntakts verabreden sich die Hexen dort nicht mehr auf die soundsovielte, sondern auf die geheimnisvolle Geister-Stunde, auf „Mitter-

17 „In den ersten Tagen des Januar schreib ich, unter dem Eindruck des furchtbaren Eisen-bahn-Unglücks in Schottland, ‚Die Brück am Tayʻ. Die Ballade erscheint eine Woche später in der ‚Gegenwartʻ“, heißt es in Fontanes Tagebuch; zit. nach Fontane: Gedichte. Bd. 1, S. 526. 18 So hat er an „Sanssouci“ etwa „runde 3 Wochen […] gearbeitet“; Brief an Georg Friedlaen-der vom 6. Januar 1886, zit. nach Fontane: Gedichte. Bd. 1, S. 593. 19 Vgl. etwa die „Siegesbotschaft“ (1889) – sie stellt das „Telegramm“, das „[a]m Abend des 18. April 64“ den Sieg bei Düppel meldet, erst ein Vierteljahrhundert später durch den behäbi-gen „Laatsche-Neumann“, eine Art ‚hinkenden Botenʻ zu; Fontane: Gedichte. Bd. 1, S. 213f. 20 Vgl. S. 151 f. 21 Vgl. zu ihr etwa Wolfgang Kayser: Geschichte der deutschen Ballade. Berlin 1936, S. 116–120; Rudolf Wildbolz: „Kunstballade“. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Hg. v. Werner Kohlschmidt u. Wolfgang Mohr. Bd. 1. Berlin, 2. Aufl., 1958, S. 902–909, hier S. 904. 22 „die Brücke“ (I/7 u. 8); „das Brückenhaus“ (II/1), „die Brücknersleut’“ (II/3); „der Brück-ner“ (III/1); „Die Brücke“ (IV/3); „unsre Brück’“ (V/1); „das Brückenhaus“ (VI/1), „die Brück-nersleut’“ (VI/3).

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nacht“ (VII/2), und zwar „‚am Bergeskamm.ʻ/‚Auf dem hohen M[oo]r23, am Er-lenstammʻ“ (VII/2f.)24 – nun herrscht kulturbereinigte, magiedurchwaltete Na-tur, von einer ‚Brückeʻ ist keine Rede mehr.

So erscheint der Mensch gezüchtigt, der im Glauben an seine technischen Errungenschaften sein will wie Gott und sich selbst zum Erlöser stilisiert:

„[…] Unser Johnie kommt und will seinen Baum, Und was noch am Baume von Lichtern ist, Zünd’ Alles an wie zum heiligen Christ, Der will heuer z w e i m a l mit uns sein, – Und in elf Minuten ist er herein.“ (III/4–8)

Wer ist „er“? Durch syntaktische Unschärfe avanciert Johnie, der auf den Sieg der Industrialisierung schwört, zum modernen Pseudo-Messias25 – der in seiner Hybris einem quasi-apokalyptischen (vgl. Apok 8,5, 13,13, 20,9)26 bzw. an So-dom und Gomorrha (vgl. Gen 19,24)27 gemahnenden Strafgericht verfällt:

Und jetzt, als ob Feuer vom Himmel fiel’, Erglüht es in niederschießender Pracht Ueberm Wasser unten … Und wieder ist Nacht. (VI/6–8)

Weswegen nun nicht in solchen Interpretationsbahnen verbleiben und die „Brück’ am Tay“ als zivilisationskritische Wiederbelebung der naturmagischen Ballade begreifen, die das industriell hochgerüstete späte 19. Jahrhundert mit einer skeptischen, schicksalsschwanger-numinosen Tiefendimension ver-

23 Vgl. Fontane an Paul Lindau am 14. Januar 1880: „Am Schlusse [der Ballade] muß es heißen ‚Auf dem hohen Moorʻ etc. statt ‚auf den hohen Meerʻ, und ich lag schon mit einer in Briefform gehaltenen Druckfehlerberichtigung im Anschlag.“ Theodor Fontane: Werke, Schriften und Briefe. Abteilung IV. Briefe. Bd. 3. Hg. v. Otto Drude, Manfred Hellge u. Helmuth Nürnberger. München 1980, S. 57. 24 Ähnlich Grundlehner: Lyrical Bridge, S. 93. 25 Zu dieser als Überblendung von Johnie und Christus lesbaren Passage vgl. Carr: „Entglei-sung und Dekonstruktion“, S. 329 f. 26 Vgl. Hugo Aust: Theodor Fontane. Ein Studienbuch. Tübingen u. Basel 1998 (Uni-Ta-schenbuch 1988), S. 200; Theo Elm: „Alter Balladenton und neue Stoffwelt. Theodor Fontane: ‚Die Brück am Tayʻ“: In: Interpretationen. Gedichte von Theodor Fontane. Hg. v. Helmut Scheu-er. Stuttgart 2001 (RUB 17515), S. 154–163, hier S. 156; Frank: Fontane und die Technik, S. 50. 27 Vgl. Martini: „Fontane, ‚Brück’ am Tayʻ“, S. 389; Hartmut Laufhütte: „Moderne Technik in Balladen des 19. Jahrhunderts“. In: Ballade und Historismus. Die Geschichtsballade des 19. Jahrhunderts. Hg. v. Winfried Woesler. Heidelberg 2000 (Beihefte zum Euphorion 38), S. 135–155, Zitat S. 150 f., denkt an die „‚höllische Prachtʻ des Engelsturzes“.

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sieht?28 Warum nicht in solch düsterer Wiederverzauberung einer entzauberten Welt das Zentrum des Gedichts vermuten – in einer poetischen Wiederverzau-berung, die als eine problematische reflektiert wird, da das Gedicht ja keine ‚echtenʻ, sondern nur zitierte literarische Hexen29 bzw. christlich-religiöse Moti-ve im Modus des ‚als obʻ aufbietet,30 also, was höhere strafende Mächte angeht, nur mit säkularem Zweifel operiert und das auch zeigt?

Ich folge dieser gängigen Sicht nicht, da gerade solche Zitationstechnik in der „Brück’ am Tay“ nahelegt, sich vom Erzählinhalt eines von destruktiver Elementargeisterhand vernichteten Bauwerks abzuwenden, um stattdessen gegenläufige formale, konstruktive Prinzipien der Textarchitektur in den Blick zu nehmen.

Beginnen wir mit dem Schluss: Auf der Ebene der histoire ist die Brücke sturmzerstört und auch auf der des discours scheint sie nicht mehr greifbar – das Wort ‚Brückeʻ, sonst in jeder Strophe präsent, fehlt in der letzten. Ein Aus-druck der Eitelkeit menschlichen Schaffens, die die Schlussverse nochmals betonen: „‚Tand, Tand,/Ist das Gebilde von Menschenhand.ʻ“ Mit diesen Versen aber, die die Nichtigkeit menschlichen Tuns, speziell des Brückenbaus, poin-tiert aussprechen, gewinnt eine ‚Brückeʻ, ein ‚Gebilde von Menschenhandʻ, abschließend Gestalt: das Gedicht „Die Brück’ am Tay“.31 Sicher, irgendwie

28 Dieses Generalthema bestimmt vielfach, gehörig variiert, die Auseinandersetzung mit der „Brück’ am Tay“: vgl. Kayser: Deutsche Ballade, S. 268; Kurt Bräutigam: „Theodor Fontane[:] ‚Die Brück am Tayʻ“. In: Die deutsche Ballade. Wege zu ihrer Deutung auf der Mittelstufe. Hg. v. Kurt Bräutigam. Frankfurt am Main, Berlin u. München, 5. Aufl. 1971 [zuerst 1962], S. 108–116, hier S. 110–116; Martini: „Fontane, ‚Brück’ am Tayʻ“, S. 381, 383 u. S. 390 f.; Walter Hinck: Die deutsche Ballade von Bürger bis Brecht. Kritik und Versuch einer Neuorientierung. Göttingen, 3. Aufl. 1978 (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1273), S. 95; Grundlehner: Lyrical Bridge, S. 84 und S. 87; Helen Chambers: Supernatural and Irrational Elements in the Works of Theodor Fontane. Stuttgart 1980 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 82), S. 48; Mahr: Eisenbahnen in der deut-schen Dichtung, S. 165; Segeberg: Literarische Technik-Bilder, S. 127–129; Alfred Ch. Heinimann: Technische Innovation und literarische Aneignung. Die Eisenbahn in der deutschen und engli-schen Literatur des 19. Jahrhunderts. Bern 1992 (Basler Studien zur deutschen Sprache und Li-teratur 63), S. 277 f.; Winfried Woesler: „Ballade“. In: Handbuch der literarischen Gattungen. Hg. v. Dieter Lamping. Stuttgart 2009, S. 37–45, hier S. 41. 29 Vgl. Martini: „Fontane, ‚Brück’ am Tayʻ“, S. 383 und S. 392; Carr: „Entgleisung und Dekon-struktion“, S. 332; Elm: „Alter Balladenton und neue Stoffwelt“, S. 156–159; Kittstein: „Tay-Unglück in der deutschen Balladendichtung“, S. 42 f. 30 Übrigens ein romantisch-ironisch anmutender Konjunktiv à la „Mondnacht“, wie ihn Fohrmann in realistischer Lyrik vermisst; vgl. Jürgen Fohrmann: „Lyrik“. In: Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit. Hg. v. McInnes u. Plumpe, S. 394–461 u. S. 784–792, hier S. 427. 31 Dieser Titel liegt natürlich nicht allzu fern, entsprechend überschreibt August Leverkühn einige Jahre später seine Terzinen zum nämlichen Sujet mit „Die Taybrücke“ (in: Deutsches

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muss der Text ja aufhören – aber dieser Schluss ist kein beliebiger, sondern ein gezieltes Zitat auf zwei Ebenen. Die eine Ebene liegt auf der Hand: Die letzten Verse der letzten Strophe wiederholen die Schlussverse der ersten – was zeigt, dass das Ende des Gedichts tatsächlich einen performativen Widerspruch aus-stellt, dass hier tatsächlich der ausgesagten Nichtigkeit menschlichen Schaffens der Schaffensakt dieser Aussage entgegensteht. Denn als Verswiederholung betont der Gedichtschluss dasjenige Moment, das die Konstruktion der Ballade insgesamt prägt: die symmetrische Anlage ihrer Textarchitektur.32

Nicht nur in ihrem Schluss, auch in ihrem Beginn gleichen sich die Rah-menstrophen: „‚Wann treffen wir drei wieder zusamm?ʻ“ (I/1; VII/1) Daneben begegnet hier wie dort, jeweils von den gleichen Sprechern geäußert, dreimali-ges anaphorisches „Ich“ (I/3f.; VII/4), direkt gefolgt von zweimaligem anapho-rischem „Und ich“ (I/5; VII/5), und die neunte Strophenzeile leitet jeweils der Ausruf „Hei“ ein. Die aus Shakespeares Macbeth eingewanderten Hexen mögen auf der Inhaltsebene chaotisch-natürlich agieren und auch formal in dieser Hinsicht tun, was sie können; sie mögen „zerklüftete[ ], aufgebrochene[ ] Vers-zeilen“33 produzieren, so dass, „im Gegensatz zu der festen Strophenfügung des Mittelteils“, die Rahmenstrophen „in eine große Beweglichkeit aufgelöst“ er-scheinen34 – ihr verbales Destruktionsgebaren präsentiert sich dennoch als Teil

Dichterheim 5 [1885], S. 498–500). In zeitlicher Nähe zum Unglück jedoch nimmt sich ‚Die Brück’ am Tayʻ einigermaßen singulär aus, ein anderer Titel wäre durchaus denkbar gewesen. So wählt Johannes Proelß „Der Todesgruß auf der Tay-Brücke“ (in: Die Gartenlaube Nr. 15 [1880], S. 230), und unter englischen broadside ballads findet sich: „In Memory of the Tay Bridge Disaster“ (1880, http://digital.nls.uk/broadsides/broadside.cfm/id/16622); „The Tay Bridge Disaster“ (wohl 1880, http://digital.nls.uk/broadsides/broadside.cfm/id/15027), ein gleichnamiges Gedicht des berüchtigten William McGonagall datiert vom 9. Januar 1880 (http://www.leisureandculturedundee.com/sites/default/files/taybridge.jpg); „Fall of Tay Bridge“ (http://www.leisureandculturedundee.com/sites/default/files/falloftay.png); abgeru-fen am 18. Juni 2014. 32 Zu entsprechenden Beobachtungen, die sich mit denen im Folgenden teils überschneiden, vgl. Bräutigam: „Fontane, ‚Brück’ am Tayʻ“, S. 110 u. S. 114–116; Martini: „Fontane, ‚Brück’ am Tayʻ“, S. 387; Grundlehner: Lyrical Bridge, S. 88 u. 92 f.; Heinimann: Technische Innovation und literarische Aneignung, S. 278; Carr: „Entgleisung und Dekonstruktion“, S. 324; Jens Erik Clas-sen: „Altpreußischer Durchschnitt“? Die Lyrik Theodor Fontanes. Frankfurt am Main, Berlin, Bern u.a. 2000 (Historisch-kritische Arbeiten zur deutschen Literatur 29), S. 125; Laufhütte: „Moderne Technik in Balladen“, S. 150. 33 Martini: „Fontane, ‚Brück’ am Tayʻ“, S. 384. 34 Martini: „Fontane, ‚Brück’ am Tayʻ“, S. 386; vgl. auch Bräutigam; „Fontane, ‚Brück’ am Tayʻ“, S. 115; Grundlehner: Lyrical Bridge, S. 93; Mahr: Eisenbahnen in der deutschen Dichtung, S. 167 f.; Heinimann: Technische Innovation und literarische Aneignung, S. 277; Classen: Lyrik

Bau auf, bau auf! 137

einer straffen Konstruktion. Jene Hexen leisten poetische Aufbauarbeit, gehor-chen offenkundig einem präzisen artifiziellen Kalkül: einem Kalkül, das auch den Mittelteil der Ballade prägt und ihn mit den vermeintlich so andersartigen Rahmenstrophen zu einem Ganzen zusammenschweißt.35

Sehen wir uns in puncto Symmetrie die Binnenstrophen an. Auch die zweite und vorletzte Strophe korrespondieren einander durch Verswiederholungen, die jeweils ersten vier Verse sind so gut wie identisch (vgl. II/1–4 und VI/1–4).36 Auch die zweiten Strophenhälften erscheinen aufeinander bezogen: „Ueber’s Wasser“ (II/6), entspricht „Ueberm Wasser“ (VI/8), und ‚überʻ dieses nur dort vorhandene ‚Wasserʻ hin wird in der zweiten Strophe „ein Licht“ (II/5) erwartet, das unten dann als jenes „Feuer vom Himmel“ (VI/6) leuchtet. Eine Steigerung, ebenso wie das ‚wütendere Spiel der Windeʻ (vgl. VI/5), zu dem in der sechsten Strophe der „Sturmesflug“ (II/7) der zweiten intensiviert erscheint.

Dritte und fünfte Strophe weisen zwar keine zwillingsgleichen Elemente auf, doch auch sie sind einander eng verwandt. „Ich seh’ einen Schein“, ruft der Brückner (III/1), worauf Johnie später ‚antwortetʻ: „[I]ch […]/[…] sah unsrer Fenster lichten Schein“ (V/7 f.). Auch dieses ‚lichtʻ ist ein Echo der dritten Stro-phe,37 wo, „was noch am Baume von Lichtern ist“, angezündet werden soll „wie zum heiligen Christ“ (III/5 f.) – der tatsächlich „heuer z w e i m a l mit uns sein“ will (III/7): leider nicht auf der Ebene der histoire, dafür aber auf der des dis-cours, denn dort begegnen wir ihm in der fünften Strophe aufs Neue, in der Erinnerung an „manche liebe Christfestnacht“ (V/5; Kursivierungen: A.B.).38

Theodor Fontanes, S. 128; Elm: „Alter Balladenton und neue Stoffwelt“, S. 161; Kittstein: „Tay-Unglück in der deutschen Balladendichtung“, S. 40. 35 Vgl. die eingehende Analyse der Rahmenstrophen bei Hartmut Laufhütte; er sieht in ihnen „gegen den ersten Anschein […] bemerkenswert regelmäßige Versgebilde“ – einen „metrisch streng geregelte[n], formal mit der Binnengruppe genau korrespondierende[n] Hexensabbath“; Laufhütte: „Moderne Technik in Balladen“, S. 151. 36 Sie unterscheiden sich lediglich darin, dass die Hervorhebung der „N o r d e r seite“ (II/1) allein der zweiten Strophe angehört und II/4 mit Komma, VI/4 hingegen mit Semikolon schließt. 37 Solche strukturelle Funktion des „lichten Schein[s]“ verkennt Martini: „Fontane, ‚Brück’ am Tayʻ“, S. 390; er sieht in dieser Wendung eine „abgemattete[ ] Formel[ ]“. Ähnlich Elm: „Alter Balladenton und neue Stoffwelt“, S. 162 – er kritisiert jene Formulierung samt einigen andern als „abgetakelte[ ] Wendungen und tautologische[ ] Füllungen aus hundert Balladenjahren“. 38 Auch die Erwähnung des „eben zurückliegenden Christfest[s]“ missfällt Martini: „Fontane, ‚Brück’ am Tayʻ“, S. 388 (ähnlich Elm: „Alter Balladenton und neue Stoffwelt“, S. 162): Sie stelle „eine Schwäche der Ballade, zugleich eine Künstlichkeit und eine Sentimentalisierung“ dar, denn es leuchte „nicht recht als […] notwendig ein“, „daß Johnie, der Mann des Kessels und des Dampfes, ‚heuer zweimalʻ das Christfest […] feiern“ wolle – vielleicht doch, wenn man

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Und schließlich sind da noch die Zahlen: „[…] Der will heuer z w e i m a l mit uns sein, –/Und in elf Minuten ist er herein.“ (III/7 f.)“

Nur an dieser Stelle finden sich im Binnenteil der „Brück’ am Tay“ Zahlen – und sie versprechen nichts Gutes, denn „z w e i [ ]“ plus „elf“, das führt auf die Unglückszahl Dreizehn.39 Aber wer käme hier schon darauf, zu rechnen, die nach den Lichtern am Christbaum in der dritten Strophe erwähnten Zahlen zu-sammenzuzählen? Nun, vielleicht der Rezipient, der an entsprechender Stelle weiter unten, nach der Erwähnung „manche[r] liebe[r] Christfestnacht“, erfährt, dass Johnie vordem die lichten „Fenster“ am andern Ufer „zählte“ (V/5–8; Kur-sivierung: A.B.).

Also eine planvolle symmetrische Anlage des Gedichts; doch eint sie Rah-men- und Binnenteil? Bislang wirken die Paare der aufeinander bezogenen Strophen eher beziehungslos ineinandergeschachtelt – aber das ändert sich, wenn wir prüfen, was die noch übrige vierte Strophe, außer ihrer Position, als Mittelstrophe qualifiziert: Ihr kommt aufgrund ihrer Beziehungen, die sie als Element der symmetrischen Textarchitektur zu den anderen Strophen unterhält, tatsächlich eine zentrale Position zu – die das spezifische Ganze des Gedichts in den Blick geraten lässt.

Mit den Nachbarstrophen ist die vierte durch ihr Eröffnungs-„Und“ (IV/1) anaphorisch verknüpft (vgl. III/1 und V/1) – während sie sich durch den „S ü-d e r thurm“ im selben Vers komplementär auf das „Brückenhaus“ „[a]uf der N o r d e r seite“ (II/1, vgl. VI/1) zu Beginn der beiden anderen Binnenstrophen bezieht (Kursivierungen: A.B.). Bleibt die merklich komplexere – und für das Textverständnis entscheidende – Verbindung zu den Rahmenstrophen: „wir zwingen es doch“ (IV/4), „Wir kriegen es unter: das Element“ (IV/8); nur hier sowie in den rahmenden Hexenstrophen – „‚Wann treffen wir drei wieder zusamm?ʻ“ (I/1 und VII/1; Kursivierungen: A.B.) – begegnet der Leser dem Wort ‚wirʻ. Solche Textsymmetrie stellt die feindlichen Kollektive einander gegen-über, und sie macht das ‚Wirʻ einer Menschheit, die „mit Technik und Maschine

solche Dopplung als Zeichen der Hoffart des modernen Menschen sowie als strukturelles Sig-nal liest. 39 Vgl. den zu solcher skeptischen Lesart passenden Tempuswechsel im nächsten Vers, dem ersten der nachfolgenden Strophe: „Und es war der Zug“ (IV/1; Kursivierung: A.B.) – diese erste (und vorerst, vgl. IV/2 „[k]eucht“, einzige) präteritale Verbform des Gedichttexts präsen-tiert das ‚Seinʻ des Zugs pointiert als ein vergangenes, nimmt dessen Vernichtung vorweg. – In einem hs. Entwurf hieß es noch „Und dicht am/Ufer ist der/Zug,“; Nachl. Theodor Fontane, Notizbuch B2, fol. 14r (Staatsbibliothek zu Berlin – Preussischer Kulturbesitz; vgl. Fontane: Gedichte. Bd. 1, S. 526).

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den Kampf gegen den Sturm der Naturelemente wagt“40 und scheitert, auf ein triumphierendes poetisch-auktoriales ‚Wirʻ hin durchsichtig: Mit der vierten Strophe der „Brück’ am Tay“ öffnet sich deren Verlierer-histoire auf einen Sie-ger-discours hin, der die dämonische Natur bezwingt.

Johnie mag „feste[n] Kessel“ und „doppelte[n] Dampf“ zu Unrecht als „Sie-ger in solchem Kampf“ (IV/5f.) ausrufen – seine Behauptung „wir zwingen es doch“ (IV/4) ist trotzdem richtig, denn dies trifft auf anderem Gebiet sehr präzi-se zu. Das zeigt ein Vergleich des Erstdrucks mit einem hs. Entwurf zur vierten Strophe:

Es Unterliegt das Ele[men]t41

heißt es dort zunächst, bevor sich, noch auf demselben Blatt, die endgültige Version des Strophenschlusses findet:

Wir kriegen es unter: das Ele[ment] (vgl. IV/8).42

Eine feinsinnige Änderung: ‚Es unterliegt das Elementʻ – hier ist letzteres zwar semantisch, nicht aber syntaktisch der Verlierer, denn als Subjekt des Satzes behält es grammatisch das Heft des Handelns in der Hand, bleibt es nominati-visch undekliniert, ungebeugt. Bei ‚Wir kriegen es unter: das Elementʻ hingegen ist dessen Niederlage vollständig – hier nämlich büßt es, zum Akkusativobjekt herabgesunken, auch seinen grammatischen Handlungsspielraum ein. Der Strophenschluss gewinnt so den Charakter performativen Sprachhandelns: Johnies Industrialisierungsheroismus mag dem ‚Elementʻ nicht gewachsen sein – als Sprecher ‚kriegt er esʻ indes tatsächlich ‚unterʻ; er ist ein Maulheld, und

40 Martini: „Fontane, ‚Brück’ am Tayʻ“, S. 382. 41 Nachl. Theodor Fontane, Notizbuch B5, fol. 5r (Staatsbibliothek zu Berlin – Preussischer Kulturbesitz). – Am Ende des Verses ist wohl zweifelsfrei ‚Elementʻ anzusetzen, auch wenn die rasch geschriebene, aufgrund des nahenden Papierrands abschüssige Zickzacklinie der deut-schen Kurrentschrift im Wortinnern nicht die eigentlich erforderliche Anzahl von ‚Gipfelnʻ aufweist und das Schriftbild daher nach ‚Elenetʻ aussieht. 42 Nachl. Theodor Fontane, Notizbuch B5, fol. 5r (Staatsbibliothek zu Berlin – Preussischer Kulturbesitz). – ‚Elementʻ am unteren Blattrand nicht ausgeschrieben.

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das sind in Fontane-Texten nicht die schlechtesten. 43 Mit jener gelungenen For-mulierung arbeitet Johnie, beinahe ein Wortkünstler, der Instanz zu, die jen-seits der katastrophischen histoire den poetischen discours organisiert; und es hält nicht schwer, diese auktoriale Instanz aus Johnies ‚Wirʻ herauszuhören.

Nicht nur das „Wir“ stiftet im Schlussvers der Mittelstrophe, der Textsym-metrie gemäß, eine Verbindung zum Rahmen. Gleiches gilt für das ‚unterzu-kriegendeʻ „Element“, das die letzten Verse der Rahmenstrophen zu einem auf-schlussreichen intertextuellen Bezug ergänzt. „‚Tand, Tand,/Ist das Gebilde von Menschenhand!ʻ“ (I/10 f. vgl. VII/8 f.) – von einem Zitat auf zwei Ebenen war die Rede, und eine bin ich noch schuldig. In Schillers „Lied von der Glocke“ heißt es zur Zerstörungskraft des Feuers: „Denn die Elemente hassen/Das Gebild der Menschenhand.“44 Hierauf beziehen sich in ihrem Zusammenspiel die Schluss-verse der ersten, mittleren und letzten Strophe der „Brück’ am Tay“; 45 eine mar-kant platzierte Reminiszenz, die die Dialektik von erzählter Destruktion und konstruktiv aufbauendem Erzählen weiter profiliert.

Schillers „Glocke“ zeigt mit ihren zwei Erzählebenen ein verwandtes Wider-spiel; auf der einen Ebene wird die Herstellung der Glocke geschildert, während die andere dazu dient, in Anknüpfung an die Stadien des handwerklichen Fer-tigungsprozesses Bilder menschlichen Lebens zu entfalten. Einer solchen Refle-xionspassage entstammen nun jene Verse, die die „Brück’ am Tay“ zitiert:

Wohl! nun kann der Guß beginnen; Schön gezacket ist der Bruch. […] Rauchend in des Henkels Bogen Schießt’s mit feuerbraunen Wogen.46

43 Vgl. etwa die Figur des Ezechiel van der Straaten in L’Adultera; an der Fertigstellung dieses Romans arbeitete Fontane zur Entstehungszeit der „Brück’ am Tay“, vgl. Fontane an Paul Lindau am 14. Januar 1880, Fontane: Briefe. Bd. 4, S. 57. 44 Friedrich Schiller: „Das Lied von der Glocke“. In: Schillers Werke. Bd. 1. Stuttgart 1867, S. 289–301, Zitat S. 294. 45 Carr: „Entgleisung und Dekonstruktion“, S. 325 f., sieht in solchem Anklang an das „Lied von der Glocke“ eine Umkehrung „des rationale[n] auktoriale[n] Urteil[s] Schillers über den Sieg des gestaltenden zivilisierten Menschen“; in der „Brück’ am Tay“ werde „den ‚hassendenʻ Elementen das Schlußwort überl[assen]“ – ähnlich bereits Mahr: Eisenbahnen in der deutschen Dichtung, S. 168; beiden entgeht die Zweistimmigkeit dieses Schlussworts als destruktiver Figuren- und konstruktiver Erzählerrede. Laut Elm: „Alter Balladenton und neue Stoffwelt“, S. 161 f., zeugt jenes Schillerzitat – wie die erborgten Macbeth-Hexen (s. Anm. 29) – von einer „Rückwärtsorientierung“, einer „Flucht vor dem […] Fortschritt der Geschichte zurück in bil-dungsliterarische Vergangenheit“. 46 Schiller: Werke, Bd. 1, S. 293.

Bau auf, bau auf! 141

Man gießt das Erz in die Glockenform – was Gelegenheit bietet, die Zerstö-rungskraft des Feuers bzw. von Unwettern darzustellen, darüber zu sinnieren, dass die „Elemente […] [d]as Gebild der Menschenhand“ „hassen“. Und nach-dem dies geschehen ist, heißt es:

In die Erd’ ist’s aufgenommen, Glücklich ist die Form gefüllt.47

Im Erzählvordergrund wird eine Naturkatastrophe geschildert, hier

Weicht der Mensch der Götterstärke, Müßig sieht er seine Werke Und bewundernd untergehen48

– doch gegenläufig zu solcher Zerstörung gewinnt ein künstliches, artifizielles „Gebild der Menschenhand“ im narrativen Hintergrund ‚glücklichʻ seine ‚Formʻ. Analog verhält es sich nun in, oder besser: mit der „Brück’ am Tay“; sie formt sich als ein ‚Gebild(e) von Menschenhandʻ, als ein minutiös organisiertes Gan-zes aus durch Erzählung des genauen Gegenteils – ein Vorgang, den gerade die Zentralstrophe kenntlich macht, da sie erstens: die Strophen zum Ganzen einer symmetrischen Textarchitektur eint, und zweitens: mit ihrem Schlussvers die Formwerdung des Gedichts in strukturbildendem Rückgriff auf Schillers „Glo-cke“ als eine genuin poetische reflektiert; als Formwerdung von Literatur, die verwandte literarische Phänomene fortschreibt und so die für das erzählte Un-glück verantwortlichen Mächte bändigt: „Wir kriegen es unter: das Element“ (IV/8), indem ‚wirʻ es in tragender Funktion in unsere Textarchitektur einbauen.

Der Schlussvers der Mittelstrophe mag einen wesentlichen Beitrag zur straf-fen Textkonstruktion des Gedichts liefern, letzteres mag sich mit ihm als eine solche selbst bespiegeln, und zugleich mag dieser Vers einen gelungenen per-formativen Sprechakt darstellen – damit aber zeichnet sich noch nicht ab, in-wiefern die „Brück’ am Tay“ sich in ihrer poetischen Form als spezifische Reak-tion auf das Taybrückenunglück verstehen lässt. Daher möchte ich den Schluss der Mittelstrophe und sein Umfeld noch genauer untersuchen.

„Wir kriegen es unter: das Element“ (IV/8; Kursivierung: A.B.) – das räum-lich-konkrete Moment, das in ‚unterʻ mitschwingt, dürfen wir durchaus mithö-ren: ist doch das „Element“ im letzten Strophenvers platziert, ganz ‚untenʻ, wo Verlierer hingehören. Eine ernst zu nehmende Positionierung, das zeigt der ähnlich gelagerte Schluss der sechsten Strophe:

47 Schiller: Werke, Bd. 1, S. 295. 48 Schiller: Werke, Bd. 1, S. 295.

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Und jetzt, als ob Feuer vom Himmel fiel’, Erglüht es in niederschießender Pracht Ueberm Wasser unten […] (VI/6–8; Kursivierungen: A.B.)

Eine räumliche Abwärtsbewegung, die ihren Tiefpunkt ebenfalls im letzten Vers, ganz unten in der Textanordnung erreicht – mit dem Wort ‚untenʻ. Im Gesamt des Gedichts jedoch kommen diese Phänomene nicht recht zur Geltung, der Text geht ja weiter, andere Verse stehen noch weiter ‚untenʻ. Sollte also die „Brück’ am Tay“ ‚das Elementʻ tatsächlich wirkungsvoll ‚unterkriegenʻ, dann wären jene Strophen in ihrer Beziehung zum Gedichtkontext anders in Stellung zu bringen: so, dass ihre Schlussverse visuell fraglos als Tiefpunkte wahrnehm-bar sind.

Fokussieren wir weiter die Mitte des Gedichts – von dessen Anfang her, wo allein in lokalem Sinn von einer ‚Mitteʻ die Rede ist: „Wann treffen wir drei wie-der zusamm?“/[…]/„Am Mittelpfeiler.“ (I/1–3) Am Mittelpfeiler? Die Taybrücke weist „85 Spannungen“49 auf, da ist es nicht nur wahrnehmungspsychologisch schwierig, einen „Mittelpfeiler“ auszumachen – sondern schlicht unmöglich, denn bei ungerader Bogenzahl ist die der Pfeiler eine gerade und es gibt keinen „Mittelpfeiler“.50 Ist die Rede von ihm ein Lapsus? Nein, denn die neuerliche Verabredung der Hexen in der Schlussstrophe fällt auf „Mitternacht“ (VII/2; Kursivierung: A.B.), die Mitte kehrt, der Textsymmetrie gemäß, wieder. À pro-pos Symmetrie: Nur an den Texträndern sollte von einer Mitte die Rede sein, und die sollte mit der Mittelstrophe des Gedichts nichts zu tun haben, mit einer Mittelstrophe, die sich gerade in ihren Beziehungen zum Rahmen als eine sol-che qualifiziert? Wie ungereimt. Angenommen also, die Erwähnung einer ‚Mitteʻ in den Rahmenstrophen hätte doch etwas mit der Zentralstrophe zu tun – dann liegt es nahe, auf letztere versuchsweise den Geistertreffpunkt des „Mittelpfei-ler[s]“ (I/2) zu beziehen.51 Wo aber kommen nun jene „drei wieder zusamm“ (I/1)? Beim Zugunglück natürlich, wenn in dreifacher Alliteration ‚der Winde Spiel wüthender wirdʻ, sowie in der letzten Strophe. Auf der Ebene der histoire war es das – aber nicht auf der des discours. Dort versammeln sich die Hexen

49 Vossische Zeitung. 31. Dezember 1879, Abendausgabe. 50 Zumindest nicht im Singular – vgl. in Max Eyths Berufstragik, einer novellistischen Behand-lung des Taybrückenunglücks, die Rede von den „zwölf Mittelpfeiler[n]“ der „Ennobrücke“; Max Eyth: „Berufstragik“. In: ders.: Hinter Pflug und Schraubstock. Skizzen aus dem Tagebuch eines Ingenieurs. Bd. 2. Stuttgart u. Leipzig, 2. Aufl. 1899, S. 181–333, Zitat S. 324. 51 Eine verwandte Position bietet Grundlehner: Lyrical Bridge, S. 84; er bezieht den „Mittel-pfeiler“ auf die Binnenstrophen, auf den Mittelteil des Gedichts: „The powerlessness of the human realm in the middle section is […] reflected thematically in the collapse of the bridge’s ‚Mittelpfeilerʻ.“

Bau auf, bau auf! 143

schon früher aufs Neue: wenn bereits in Johnies Rede „das Element“ dreifach alliterierend „rast und ringt und rennt“ (IV/7f.; Kursivierungen: A.B.).52 Noch vor der Katastrophe ‚treffenʻ also die Hexen ‚wieder zusammʻ, auf der auktoria-len Ebene der Textkomposition53 – wie angekündigt an zentraler Stelle, am Text-Ort der Mittelstrophe,54 auf die sich jener „Mittelpfeiler“ (IV/3) demnach beziehen lässt.

Die Mittelstrophe als ‚Mittelpfeilerʻ der „Brück’ am Tay“ – deren Textgebäu-de sich mithin als konstruktive Kompensation der dargestellten Vernichtung der Taybrücke begreifen lässt. Dies führt auf eine alternative typographische Darbietung, die jene Textarchitektur als präzise Reaktion auf das Taybrücken-unglück sowie auf die Zeitungsberichterstattung darüber ausweist: als umge-henden destruktionsbannenden poetischen Wiederaufbau der zerstörten Brü-cke.

Am Abend des 2. Januar 1880 berichtet die Vossische Zeitung über Beden-ken, die schon der Brückenentwurf rege gemacht hatte:

Die vorsichtigeren Ingenieurfirmen setzten daran aus, daß die Brücke […] im Fundament schmal gehalten werden sollte. Damit wurde jede Sicherheit gegen einen ungewöhnlich starken seitlichen Druck verabsäumt. Nur auf den senkrechten Druck wurde Rücksicht genommen […]. Der seitliche Druck, dem die Brücke vorgestern Abend ausgesetzt war, mag allerdings so stark gewesen sein, wie er selten vorkommt.55

52 Ähnlich Grundlehner: Lyrical Bridge, S. 90: „‚Ringenʻ is reminiscent of the ‚Ringelreihnʻ whirlwind that the witches […] anticipate in the first stanza“. Anders Martini: „Fontane, ‚Brück’ am Tayʻ“, S. 390; er sieht in jener Trias, auch hier (s. Anm. 37) gefolgt von Elm: „Alter Balladen-ton und neue Stoffwelt“, S. 162, eine weitere ‚abgemattete Formelʻ. 53 Johnie weiß ja nicht um die poetisch-strukturelle Relevanz seiner Rede, und ebensowenig dürften die Hexen ahnen, dass sie bereits in dieser wieder gemeinsam auftreten. 54 Die explizite Präsenz des Hexenmotivs in einem Entwurf zur vierten Strophe stützt diese Lesart; zwischenzeitlich erwog Fontane

Und wie die Hex’ auch ringt und rennt

zu setzen; Nachl. Theodor Fontane, Notizbuch B5, fol. 5r (Staatsbibliothek zu Berlin – Preussi-scher Kulturbesitz). 55 Vossische Zeitung. 2. Januar 1880, Abendausgabe. – Dieser Passus, mit seinen Ausführun-gen zu senkrechtem bzw. seitlichem Druck entscheidend für meine Lesart der „Brück’ am Tay“, wurde aus der Kölnischen Zeitung, dem „auflagenstärksten Blatt Deutschlands“ (Faulstich: Medienwandel 1830–1900, S. 30), in die Vossische Zeitung übernommen: „Endlich lassen wir noch folgen, was ein Londoner Correspondent der ‚Köln. Ztg.ʻ aus London unterm 30. Dezem-ber über das Unglück schreibt“. Auch unabhängig von der Berichterstattung der ‚Vossinʻ ließe

144 Andreas Beck

Nun ist auch Fontanes „Brück’ am Tay“ typographisch offensichtlich ‚auf senkrechten Druckʻ hin berechnet – in schmalen Spalten sind die Strophen untereinander gesetzt und nehmen nicht einmal die gesamte Spaltenbreite ein. Aber wenn diese Textarchitektur mehr taugen soll, als das Gebäude, von dessen Zerstörung sie erzählt, dann müsste sie einem ‚seitlichen Druck, wie er selten vorkommtʻ, standhalten. Und das verblüffende Resultat eines Stresstests:

Dieses ‚Gebilde von Menschenhandʻ ist augenscheinlich kein ‚Tandʻ, denn es liegt bei ‚starkem seitlichen Druckʻ nicht in Trümmern – sondern präsentiert sich erst recht als eine ‚Brück’ʻ, als ein Figurengedicht56 in Brückenform,57 als

sich also, mit der gebotenen Vorsicht, bei Fontane eine Kenntnis jener Druckverhältnisse annehmen – wie auch bei den Lesern der „Brück’ am Tay“, zumal nicht nur die Kölnische und Vossische Zeitung, sondern auch andere Blätter hierüber informierten; so meldet etwa die Zürcherische Freitagszeitung am 9. Januar 1880, dass die Taybrücke „[f]ür senkrechten Druck vollständig richtig berechnet“ gewesen sei; es habe „[o]ffenbar […] der Seitendruck, welchen der Orkan ausübte, den Zug mit der Brücke ins Wasser geworfen“; zit. nach Nentwig: Dichtung im Unterricht, S. 153. 56 Solche schriftbildliche Auffassung der „Brück’ am Tay“ macht die „Betonung des optischen Elements“ (Heinimann: Technische Innovation und literarische Aneignung, S. 278) bei der er-zählten Rezeption des Unglücks auch für die Rezeption des Gedichts geltend: Die intensive Wiederholung von ‚sehenʻ in der zweiten Strophe (vgl. Bräutigam: „Fontane, ‚Brück’ am Tayʻ“, S. 113; Grundlehner: Lyrical Bridge, S. 88) kehrt in der sechsten teilweise wieder, gefolgt von einem „optischen Spektakel“ (Heinimann: Technische Innovation und literarische Aneignung, S. 278), das die „Brücknersleut’“ (VI/3) wahrnehmen, Perspektivfiguren, aus deren Blickwinkel auch der Leser das Geschehen ‚siehtʻ (vgl. Classen: Lyrik Theodor Fontanes, S. 300). Der Rezipi-ent erscheint als Zuschauer konzipiert – dem allerdings das Schauspiel der „Brück’ am Tay“ erst mit dem unter seitlichen Druck geratenen Schriftbild des Gedichts tatsächlich sichtbar wird. 57 Anregungen verdankt diese Perspektive Philip Grundlehners Studie zur ‚Lyrical Bridgeʻ; bereits dort begegnet Fontanes Ballade als ‚Brückeʻ (s. auch Anm. 51): „The reader is constantly reminded of the portentous forces delineated in the first stanza. In this way a structural ‚bridgeʻ is created between the first and the final stanzas“ (Grundlehner: Lyrical Bridge, S. 91); eine Stimmungs-‚Brückeʻ, für die Grundlehner optische Präsenz reklamiert; „[s]tructurally, the bridge is visualized in the mid-section of the poem, which spans the abyss between the first and final stanzas. While man’s physical bridge falls asunder, an artistic ‚bridgeʻ, comprising the dark motif of the mother’s dream and supernatural forces behind the storm, joins the intro-

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poetischer Wiederaufbau der auf der Ebene der histoire zerstörten Brücke.58 Die erste, höher aufragende Hexenstrophe ist nun, samt Titel und Motto, als ‚Sü-derthurmʻ lesbar, den der Zug59 passiert, um über die Brücken-‚Pfeilerʻ der Bin-nenstrophen schließlich ‚auf der Norderseite das Brückenhausʻ, die letzte, nied-rigere Hexenstrophe zu erreichen – Triumph einer poetischen Ingenieurskunst, die dem rasenden Element eine konstruktive Rolle aufzwingt, es in straffer Textarchitektur tatsächlich ‚unterkriegtʻ, es an zentraler Stelle, ganz unten, als Fundament eines poetischen ‚Mittelpfeilersʻ verbaut.60

duction and conclusion of the poem.“ (S. 95) – Nun mag eine atmosphärisch dunkle Spannung die Rahmenstrophen über den Mittelteil des Gedichts hinweg verbinden, was sich rhetorisch ins Bild einer ‚Brückeʻ fassen lässt; doch inwiefern solche durchgehende Stimmungsdüsternis die ‚Visualisierungʻ einer Brücke darstellt, vermag ich nicht einzusehen. 58 Damit dürfte sich der Vorwurf erledigt haben, dass die Erzählung eines tragisch-schick-salhaften, naturmagisch grundierten Geschehens in der „Brück’ am Tay“ „das reale technikge-schichtliche Ereignis verschwinde[n]“ und „[d]ie Brücke selber“ in der Ballade „keine konkrete Kontur“ gewinnen lasse; vgl. Segeberg: Literarische Technik-Bilder, S. 127–129, Zitate S. 128 f.; ähnlich Aust: Theodor Fontane, S. 200; Frank: Fontane und die Technik, S. 49; vgl. auch Hinck: Deutsche Ballade, S. 95; Elm: „Alter Balladenton und neue Stoffwelt“, S. 156. 59 Er entstammt einer Briefmarke der Deutschen Bundespost zum 200. Geburtstag von Fried-rich List (1989). 60 Laut Fritz Martini hält in der „Brück’ am Tay“ Fontanes „Realismus […] noch das Eigenge-setz der Balladenform als eine eigene objektive Realität fest“ – während Liliencrons „naturalis-tisch-impressionistische[r]“ „Blitzzug“ (1901) „den Gegenstand selbst zum bestimmenden Formelement mach[t]“ und so „die Eigenform der Ballade“ „zerstört“; solche Annahme einer „charakteristische[n] literaturgeschichtliche[n] Bruchstelle“ (Martini: „Fontane, ‚Brück’ am Tayʻ“, S. 382) dürfte mit der unter seitlichen Druck geratenen „Brück’ am Tay“ obsolet sein. Deren ‚Realismusʻ gründet entschieden in jenem angeblich jüngeren Darstellungsverfahren – wodurch jedoch das ‚Eigengesetz der Balladeʻ keineswegs verletzt, sondern in poetischer Reak-tion auf die Tagespresse akkurat erfüllt erscheint. Wenn man bedenkt, dass „die alten Balla-denstoffe […] auch einmal Tagesereignis“ waren (Fontane an Paul Schlenther am 30. Juni 1889, zit. nach Theodor Fontane: Schriften zur Literatur. Hg. v. Hans-Heinrich Reuter, Berlin 1960, S. 520); dass am Beginn der deutschen Kunstballade mit Gleims „Romanzen“ (1756) und Bür-gers „Lied vom braven Mann“ (1777) Texte stehen, für die der (bei Gleim ironisch vorgetäusch-te) Bezug auf aktuelle Sensationsereignisse konstitutiv ist (vgl. Kayser: Deutsche Ballade, S. 70–72; Erich Seemann: „Bänkelsang“. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Hg. v. Werner Kohlschmidt u. Wolfgang Mohr. Bd. 1. Berlin, 2. Aufl. 1958, S. 128 f., hier S. 128; Wild-bolz: „Kunstballade“, S. 903; Hinck: Deutsche Ballade, S. 94); dass mithin die ‚Balladeʻ dem ‚Zeitungsliedʻ, der ‚Moritatʻ, dem ‚Bänkelsangʻ verwandt ist (vgl. u.a. Kayser: Deutsche Ballade, S. 58–65 u. S. 70–72; Seemann: „Bänkelsang“, S. 128; Wildbolz: „Kunstballade“, S. 903; Winfried Woesler: „Ballade“. In: Handbuch der literarischen Gattungen. Hg. v. Dieter Lamping. Stuttgart 2009, S. 37–45, hier S. 37, 39 u. S. 43) – wenn man all dies bedenkt, dann dürfte Fon-tanes gewagt-experimentell anmutende (vgl. Martini: „Fontane, ‚Brück’ am Tayʻ“, S. 389 f.; Heinimann: Technische Innovation und literarische Aneignung, S. 277), an Zeitungsberichten

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So bietet die „Brück’ am Tay“ zuletzt keine naturmagisch-balladeske Kritik technischen Fortschritts; sie führt diesen vielmehr weiter, transponiert ihn vom Gebiet industrieller Technik auf das der Poesie, feiert Dichtkunst als überlegene menschliche techne. Aber ist das mehr als nur Spielerei? Zumindest eignet sol-cher poetischen Ingenieurskunst, ganz konkret diesem textarchitektonischen ‚Unterkriegenʻ Shakespearscher Elementargeister, eine existentielle Dimension.

Auf welchem Weg finden die Hexen aus Macbeth Eingang in die Ballade? Diese Anleihe scheint kaum erklärungsbedürftig: „Der Schauplatz“ – die Tay-brückenkatastrophe ereignete sich in Schottland und Macbeth ist Schotte – „hat die Anlehnung an Macbeth fast von selbst eingegeben“;61 außerdem hatte Fon-tane am 23. Dezember 1879, wenige Tage vor dem Eisenbahnunglück, eine Ber-liner Macbeth-Aufführung in der Vossischen Zeitung rezensiert,62 und dies „er-klärt gewiß die rasche Entstehung der Ballade“.63 Die Frage, wie es Fontane einfallen konnte, jenes Zugunglück mit den Macbeth-Hexen in Verbindung zu bringen, mag also obsolet anmuten – doch sie stellt sich bei Lektüre besagter Rezension sowie bei einem Vergleich des Beginns der „Brück’ am Tay“ mit dem des Macbeth.

Fontanes Macbeth-Rezension übt zur Hälfte herbe Kritik an der Lady Mac-beth-Darstellerin; danach passieren die übrigen Schauspieler Revue, auch Be-obachtungen zur Anlage des Dramas fehlen nicht – was aber fehlt, sind die Hexen, die der Rezensent mit keinem Wort erwähnt, für die er sich offenbar nicht interessiert. Vor der Folie der wenig später verfassten „Brück’ am Tay“ doch ein bemerkenswerter Befund – ebenso wie der Umstand, dass der Auftritt der Macbeth-Hexen bei Fontane nicht recht vereinbar scheint mit der ersten Szene von Shakespeares Drama, deren Einsatz64 („When shall we three meet

orientierte balladeske Behandlung des Taybrückenunglücks, samt ihren schriftbildlichen Kon-sequenzen, im Grunde ‚nurʻ einen gattungskonstitutiven Zug der ‚Balladeʻ zur Geltung bringen. 61 Carr: „Entgleisung und Dekonstruktion“, S. 323; ähnlich Keitel: „‚Wer ist John Maynard?ʻ“; u. Keitel in Fontane: Sämtliche Werke. Abt. I, Bd. 6, S. 955 f.; Martini: „Fontane, ‚Brück’ am Tayʻ“, S. 383; Grundlehner: Lyrical Bridge, S. 85; Frank: Fontane und die Technik, S. 48 f. 62 Theodor Fontane: „Königliche Schauspiele. Sonnabend, den 20. Dezember: Macbeth, Trau-erspiel in 5 Akten von Shakespeare. Nach der Schlegel-Tieck’schen Uebersetzung für die Bühne bearbeitet von W. Oechelhäuser. Frau Marie Niemann-Seebach Lady Macbeth als Gastrolle“. In: Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen. Vossische Zeitung. Nr. 357, Morgen-Ausgabe, 23. Dezember 1879, Zweite Beilage, S. [2], rechte Sp. m., bis S. [3], linke Sp. m. – Zitate aus Macbeth im Folgenden nach einer zeitgenössischen englischsprachi-gen Edition sowie nach der Erstausgabe der Tieck-Schlegel-Übersetzung. 63 Carr: „Entgleisung und Dekonstruktion“, S. 323; vgl. Frank: Fontane und die Technik, S. 49. 64 Vgl. William Shakespeare: Macbeth. Leipzig 1843 (The Plays of William Shakespeare 28), S. 1.

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again?/Macbeth“) das Motto der Ballade samt Quellenangabe zitiert und den der erste Vers des Gedichts dann übersetzt: Denn was qualifiziert die drei Hexen zu Beginn des Macbeth eigentlich dafür, in der „Brück’ am Tay“ als unzähmba-re, zivilisationszerstörende Elementargeister aufzutreten? Bei Shakespeare ver-abreden sie sich keineswegs dazu, Naturkatastrophen zu entfesseln: Sie wollen ‚nurʻ – „Wann sprechen wir drei uns wieder den Gruß […]?“ – auf der „Haide dort“65 wieder zusammenkommen, um „Macbeth“ nach gewonnener Schlacht prophetisch als „künft’ge[n] König“ zu grüßen;66 und um seinem Begleiter Banquo zu sagen, dass er „Kleiner als Macbeth, und größer“ sei: „Kön’ge er-zeugst du, bist du selbst auch keiner“.67 Das setzt eine blutige Haupt- und Staatsaktion in Gang, hat aber nichts mit dem Thema der „Brück’ am Tay“ zu tun; zwar mag das schlechte Wetter, das in den betreffenden Szenen herrscht,68 eine gewisse Gemeinsamkeit stiften, und der Beginn von I/3 zeigt nebenbei, dass die Hexen über Winde gebieten69 – doch für die Gewitterkulisse sind sie nicht verantwortlich, und mit jenen Winden, die nicht einmal hinreichen, ein Schiff zu versenken,70 planen sie kleinliche, persönliche Rache, nicht aber einen Fundamentalangriff auf die menschliche Zivilisation.

Vielleicht versteht es sich also doch nicht ‚fast von selbstʻ, die Macbeth-Hexen als zivilisationszerstörende Elemente in die „Brück’ am Tay“ zu zitieren. Wie also kommt Fontane dazu? Am 29. Dezember 1879 berichtet die Vossische Zeitung abends, auf ihrer Titelseite, erstmals über das Taybrückenunglück mit wohl „über 200“ Todesopfern – eine Notiz, die Fontane wahrscheinlich liest, und zwar nicht zu irgendeinem Zeitpunkt: dieser Abend nämlich ist der Vor-abend seines 60. Geburtstags. Die Vorgeschichte der „Brück’ am Tay“ nimmt ihren Ausgang derart von einer ambivalenten existentiellen Situation, in der

65 I/1, William Shakespeare: „Macbeth“. In: Shakspeare’s dramatische Werke. Übersetzt v. August Wilhelm von Schlegel, ergänzt u. erläutert von Ludwig Tieck. Bd. 9. Berlin 1833, S. 277–349, Zitat S. 279; vgl. Shakespeare: Macbeth, S. 1 f.: „When shall we three meet again […]? Upon the heath“. 66 I/3, Shakespeare: „Macbeth“, S. 283; vgl. Shakespeare: Macbeth, S. 6: „All hail, Macbeth! that shalt be king hereafter“. 67 I/3, Shakespeare: „Macbeth“, S. 283; vgl. Shakespeare: Macbeth, S. 6: „Lesser than Mac-beth, and greater. […] Thou shalt get kings though thou be none“. 68 „Donner und Blitz“, „In Donner, in Blitz, in Regenguß“ bzw. „Gewitter“; Shakespeare: „Macbeth“, S. 279 bzw. S. 282. „Thunder and lightning“, „In thunder, lightning, or in rain“ bzw. „thunder“; Shakespeare: Macbeth, S. 1 bzw. S. 4. 69 Vgl. Shakespeare: „Macbeth“, S. 282; Shakespeare: Macbeth, S. 4 f. 70 „Kann ich nicht sein Schiff zerschmettern,/Sey es doch umstürmt von Wettern“, Shake-speare: „Macbeth“, S. 282; „Though his bark cannot be lost,/Yet it shall be tempest-toss’d“, Shakespeare: Macbeth, S. 5.

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Vernichtung und Entstehung menschlichen Lebens pointiert verschränkt er-scheinen. Aber ist das nicht bloß Fontanes Privatsache? Nein; im Bemühen um eine präzise Lektüre spielt bei der Suche nach den Textumständen, die den Macbeth-Hexen den Weg in die „Brück’ am Tay“ bahnen, Fontanes durch die Vossische Zeitung todverschatteter Geburtstag eine wichtige Rolle – weniger als Geburtstag einer Privatperson, sondern vielmehr als Geburtstag des Künstlers, an dem dieser lebendig wird, um aus dem tödlichen Ereignis in Schottland Dichtung zu generieren.

In der nächsten Ausgabe der Vossischen Zeitung nämlich konnte sich Fon-tane, am Morgen seines 60. Geburtstags, über „Die Todten des Jahres 1879“71 informieren. En détail wird er die viereinhalb eng gedruckten Spalten72 kaum durchstudiert haben – aber bis zum Ende des zweiten Absatzes, bis zur Nach-richt „Earl of Fife, Nachkomme der Macduff, † 7. August in Schottland“,hat er es wohl geschafft; denn diese Meldung dürfte, zusammen mit der ersten Notiz vom Taybrückenunglück abends zuvor, den Nukleus der „Brück’ am Tay“ vorstellen. „Earl of Fife, Nachkomme der Macduff, […] in Schottland“ gestorben; das lässt, zumal in dieser entindividualisierenden Namensform sowie der weiträumigen Angabe des Sterbeorts,73 an Shakespeares Macbeth denken – dessen Auffüh-rung Fontane ja erst kürzlich in der Vossischen besprochen hatte –, und zwar konkret an die erste Szene des vierten Aufzugs. Nur dort wird in diesem Drama der dem ‚Earl of Fifeʻ entsprechende Titel in einem Atemzug mit dem Namen ‚Macduffʻ genannt:

Macbeth! Macbeth! Macbeth! beware Macduff; Beware the thane of Fife. – Dismiss me: – enough.

Macbeth! Macbeth! Macbeth! scheu’ den Macduff, Scheue den Than von Fife. – Laßt mich: – genug.74

71 Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen. Vossische Zeitung. Nr. 363, Morgen-Ausgabe, 30. Dezember 1879, S. [4], rechte Sp. o. 72 Vossische Zeitung. Nr. 363, Morgen-Ausgabe, 30. Dezember 1879, S. [4], rechte Sp. o., bis S. [6], linke Sp. m. u. rechte Sp. o. 73 Bei dem Verstorbenen handelt es sich um James Duff, 5th Earl of Fife, † 7. August 1879 in Aberdeen (vgl. die Royal Genealogy Database der University of Hull, http://www.hull.ac.uk/ php/cssbct/cgi-bin/gedlkup.php/n=royal?royal30614, abgerufen am 19. Juni 2014). – Die Nen-nung der anderen Toten gerät deutlich ‚persönlicherʻ und geographisch präziser; vgl. etwa, dem „Earl of Fife“ unmittelbar vorausgehend bzw. nachfolgend: „Herzogin Adele Castiglione-Aldovrandi, † 29. Juli in Castelamare; […] ; Graf Carlo Pecci, Bruder des Papstes Leo XIII., † 29. August in Rom“. 74 IV/1, Shakespeare: Macbeth, S. 47; Shakespeare: „Macbeth“, S. 324.

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So warnt den König Macbeth eine Geistererscheinung, heraufbeschworen von jenen drei Hexen, an die sich Macbeth zuvor wie folgt gewandt hatte:

[...] answer me: Though you untie the winds, and let them fight Against the churches; though the yesty waves Confound and swallow navigation up; Though bladed corn be lodg’d, and trees blown down; Though castles topple on their warders’ heads; Though palaces, and pyramids, do slope Their heads to their foundations; [...] […] […] answer me To what I ask you. […] […] antwortet mir: Entfesselt Ihr den Sturm gleich, daß er kämpfe Auf Tempel, und die schäum’gen Wogen ganz Vernichten und verschlingen alle Schiffahrt: Daß reifes Korn sich legt, und Wälder brechen; Daß Burgen auf den Schloßwart nieder prasseln, Daß Pyramiden und Palläste beugen Bis zu dem Grund die Häupter: […] […] […] Antwort gebt auf meine Fragen!75

Antwort bekommt Macbeth auch, u.a von jener Geistererscheinung, und wir haben nun eine Antwort auf unsere Frage, wie die Macbeth-Hexen ihren Weg in die „Brück’ am Tay“ finden: Die Zeitungsnachricht von dem ‚in Schottlandʻ verstorbenen ‚Earl of Fife, Nachkomme der Macduffʻ war es wohl, die Fontane an seinem 60. Geburtstag, am Morgen nach der ersten Meldung vom Taybrü-ckenunglück, auf jene eine Stelle im Macbeth aufmerksam machte, an der die drei Hexen als zivilisationszerstörende Naturdämonen apostrophiert werden – und sich derart für ihre nachmalige Rolle in der „Brück’ am Tay“ empfehlen.76

75 IV/1, Shakespeare: Macbeth, S. 46; Shakespeare: „Macbeth“, S. 323. 76 Zumal sie in Macbeth IV/1 überdies (bei unverändert schlechtem Wetter, vgl. Shakespeare: „Macbeth“, S. 322; Shakespeare: Macbeth, S. 44) eine Art „Ringelreihn“ („Brück’ am Tay“, I/6) tanzen: „Um den Kessel tanzt und springt,/Elfengleich den Reihen schlingt“ (Shakespeare: „Macbeth“, S. 323); da ist der ‚Reih(e)nʻ, und die Reimwörter erinnern klanglich nicht umsonst an ‚Ringʻ. Heißt es doch im englischen Original: „And now about the cauldron sing,/Like elves and fairies in a ring“ (Shakespeare: Macbeth, S. 46). – In Macbeth I/3 veranstalten die Hexen zwar auch einen Rundtanz, doch dessen Begleittext weist keinerlei lautlichen Anklang an ‚Ringelreihnʻ auf; vgl. Shakespeare: „Macbeth“, S. 282 f.; Shakespeare: Macbeth, S. 5.

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Solche textuelle Gemengelage im Kontext des runden Dichtergeburtstags lässt, anthropologisch-allgemein formuliert, den poetisch-technisch tätigen Men-schen lebendig werden, der sich im Fortschritt dichterischer Ingenieurskunst gegen Vernichtung dräuende Naturgewalten behauptet, die er nach Anleitung der Vossischen Zeitung aus Shakespeares Macbeth importiert, um sie in seiner poetischen Taybrückenarchitektur ‚unterzukriegenʻ.77

Also wohl keine bloße Spielerei, Fontanes Gedicht-Brücke; aber inwiefern lässt sich solche Wiederaufbauleistung als ernsthafte Konkurrenz zur katastro-phischen textexternen Wirklichkeit begreifen? Nun, mit letzterer hat die „Brück’ am Tay“ wenig zu schaffen. „Der faktische Raum, in dem sich das katastrophale Ereignis abgespielt hatte, wird […] zum Mittel […] literarische[r] Stilisierung“78 – das ist richtig, aber im Fall der „Brück’ am Tay“ ist dieser faktische Raum nicht das winddurchbrauste Schottland, sondern eine printmediale Landschaft: Shakespeares Macbeth, Schillers „Lied von der Glocke“, Berichte der Vossischen Zeitung – das sind die Gemarkungen des Blätterwalds, des intertextuellen Schauplatzes, auf dem ein Unglück stattfindet, das als ein textuell verfasstes in konstruktiver Textarchitektur aufgehoben erscheint. Hier geht es weniger um ein Bauwerk aus Stein, Zement und Eisen, das weder Fontane noch die meisten seiner Leser je gesehen haben, sondern um überlegene mediale Techniken der Welterzählung, der Erzeugung von Welt-Bildern. Es stellt sich mithin die Frage, inwiefern die „Brück’ am Tay“ in dieser Hinsicht ernst zu nehmen ist?

Anfangs hatte ich die rasche Entstehung der „Brück’ am Tay“ im Anschluss an Berichte der Vossischen Zeitung erwähnt: Fontanes fast journalistische Schreibgeschwindigkeit sowie die umgehende Publikation der hochaktuellen Ballade in der Gegenwart, einer Zeitschrift mit passendem Titel. Dieses Schnell-

77 Dass Fontane an seinem 60. Geburtstag das Totenregister in der Vossischen Zeitung studiert haben soll, mag befremdlich anmuten; plausibler wird diese Annahme vielleicht angesichts des Briefs seiner Frau Emilie an Clara Stockhausen vom 1. Januar 1880: „Vorgestern ist er nun 60 Jahre geworden und war dies doch ein Abschnitt, den er ernster nahm, als ich erwartet hatte. […] Weder[ ] der Rückblick auf sein Leben, noch der Ausblick in die Zukunft konnten ihn befriedigen“ (zit. nach Roland Berbig: Theodor Fontane Chronik. Berlin und New York 2010, Bd. 3, S. 2232); immerhin erlaubt die an dieses Zeugnis anknüpfende Vermutung, der wenig heitere Jubilar habe sich bei seiner täglichen Zeitungslektüre mit den „Todten des Jahres 1879“ befasst, obige Rekonstruktion erhellender möglicher intertextueller Beziehungen. – Freilich bleibt dieses analytische Vorgehen ein methodisch heikles psychologisierendes; aber es kann sich zumindest auf präzise Textbeobachtungen stützen und so darauf verzichten, nicht minder psychologisierend mit ‚fast von selbstʻ eintretenden intertextuellen ‚Eingebungenʻ (vgl. Carr: „Entgleisung und Dekonstruktion“, S. 323) zu operieren. 78 Martini: „Fontane, ‚Brück’ am Tayʻ“, S. 383.

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verfahren hat m.E. Methode und verdankt sich einem Wettlauf von Dichtung und telegrafiegestützter Zeitungsreportage.79

Wiederholt nennen die Taybrückenberichte der Vossischen Zeitung den Te-legrafen als Quelle80 – was zwar auch andernorts geschieht, hier aber besonders bemerkenswert ist, da die telegrafisch übermittelte Nachricht vom Einsturz der Taybrücke erst durch das Versagen des Telegrafen entsteht. „Die telegraphi-schen Meldungen über das Unglück“81 handeln nicht zuletzt vom Telegrafen-verkehr: „Von der Fifeseite war gehörig signalisirt worden, daß der Zug […] die Dundeebrücke überschritten habe“; und „sofort“ nach dessen Absturz „setzt[ ] sich“ die Station Dundee „in telegraphische Verbindung mit dem Signalisten auf der Nordseite der Brücke; als man den Telegraph über die Brücke spielen lassen wollte, ergab es sich, daß die Drähte zerrissen waren“ – so erfährt man vom „Einsturz der Brücke“,82 der mit der Störung telegrafischer Kommunikation und Texterzeugung enggeführt erscheint. Und doch ist es kurz darauf der „Te-legraph“,83 der den Berliner Zeitungslesern die Zerstörung der Brücke anzeigt.

Eine Vorwegnahme der Anlage der „Brück’ am Tay“. Die destruktive histoire des Zeitungsberichts ist auf der Ebene des discours, im Faktum des telegrafieba-sierten Berichts, in medientechnischer Hinsicht bewältigt. Diese Konstellation variiert und überbietet Fontanes Ballade. Nur partiell behebt der Zeitungsbe-richt im discours die Zerstörungen auf der Ebene der histoire – während die poetische Textgestalt der „Brück’ am Tay“ nicht nur sich selbst gegen destrukti-ve Kräfte verwahrt, sondern zugleich die zerstörte Brücke wiedererrichtet, von der sie erzählt. Dem hinkt die Blitzberichterstattung der Vossischen Zeitung hinterher – dort liegt die Taybrücke nach wie vor in Trümmern, und die hoch-

79 Die „Brück’ am Tay“ als Auseinandersetzung mit telegrafischer Nachrichtenübermittlung zu lesen, erscheint mir insofern berechtigt, als letztere dem Gedicht eingeschrieben ist: „Sehen und warten, ob nicht ein Licht/Ueber’s Wasser hin ‚ich kommeʻ spricht,/‚Ich komme, trotz Nacht und Sturmesflug,/I c h, der Edinburger Zug[ ]ʻ“ (II/5–8) – das ist weniger ein sprechen-der Zug (Bräutigam: „Fontane, ‚Brück’ am Tayʻ“, S. 113; vgl. Grundlehner: Lyrical Bridge, S. 88 f.; Heinimann: Technische Innovation und literarische Aneignung, S. 277 f.; Classen: Lyrik Theodor Fontanes, S. 125; Elm: „Alter Balladenton und neue Stoffwelt“, S. 159 f.), als zunächst vielmehr ein sprechendes Licht, ein Beispiel „optische[r] Telegraphie“, von der sich „Spuren […] schon bei den ältesten Völkern“ finden, und „noch jetzt“ sind „Signallampen zum Telegra-phiren bei Nacht […] bei den optischen Zeichentelegraphen, besonders bei Eisenbahntelegra-phen u. auf Schiffen, in Gebrauch“ (Pierer’s Universal-Lexikon der Vergangenheit und Gegen-wart. Bd. 17. Altenburg, 4., umgearbeitete und stark vermehrte Aufl. 1863, S. 324). 80 Siehe Anm. 10. 81 Vossische Zeitung. 31. Dezember 1879, Abendausgabe. 82 Vossische Zeitung. 31. Dezember 1879, Abendausgabe. 83 Vossische Zeitung. 29. Dezember 1879, Abendausgabe.

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frequente Journalistenschreibe gerät entsprechend amorph, geht in stereotypen Leerlauf über: Die „Taucheroperationen an der Taybrücke“ bleiben „erfolglos“, da man „keine weiteren Entdeckungen [ ]macht“,84 sie werden „unterbrochen“85 bzw. „ohne allen Erfolg“ fortgesetzt;86 „fortgesetzt“ wird auch die „amtliche Untersuchung des Taybrücken-Unglücks“, doch „[a]us den Zeugenaussagen ergab sich wenig“87 – das ist der blasse Grundton der Zeitungsmeldungen, die, anders als jene poetische Ingenieurskunst, kein stringent geformtes Textganzes liefern. Solche formlose Fortsetzungstextur mag einer außertextuellen Wirk-lichkeit entsprechen – doch sie befriedigt nicht, bietet kein griffiges Bild der Wirklichkeit, worauf es hier wohl ankommt.

Fontane dürfte mit der „Brück’ am Tay“ im Gefolge seines 60. Geburtstags eine Gattung fortschreiben, für die sein Geburtsort berühmt war – den Neurup-piner Bilderbogen.88 So bieten der erste Teil der Wanderungen durch die Mark Brandenburg (21865; 41883) und der autobiographische Roman Meine Kinderjah-re (1894) mediengeschichtliche Reflexionen, die das Verhältnis von Bilderbogen und Zeitung unter dem Aspekt von Wirklichkeitsvermittlung und -erzeugung behandeln – Reflexionen, die sich in wichtigen Punkten über Jahrzehnte hin-weg konstant ausnehmen und an die sich die „Brück’ am Tay“ anschließen lässt.

Kinderjahre wie Wanderungen thematisieren die mediale Bedingtheit des Bewusstseins von ‚Weltʻ. Mancherorts in Deutschland, so die Wanderungen, wüsste man „nichts“ von der „Welt draußen […], wenn nicht der Kühn’sche

84 Vossische Zeitung. 4. Januar 1880, Morgenausgabe. 85 Vossische Zeitung. 6. Januar 1880, Morgenausgabe, Erste Beilage. 86 Vossische Zeitung. 7. Januar 1880, Morgenausgabe. 87 Vossische Zeitung. 8. Januar 1880, Morgenausgabe. 88 Von der Affinität Fontanescher Reimereien zum Neuruppiner Bilderbogen zeugt – ein ästhetischer Ritterschlag für diesen – das Versmotto „‚Bei Gustav Kühn/In Neu-Ruppinʻ“ (The-odor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Erster Theil. Die Grafschaft Ruppin. Berlin, 4. vermehrte Aufl. 1883, S. 126; Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Bran-denburg. Erster Theil. Die Grafschaft Ruppin. Barnim. Teltow. Berlin, 2. vermehrte Aufl. 1865, S. 110), das dem Kapitel Gustav Kühn in den Wanderungen vorausgeht; es entbirgt die krypto-poetische Dimension prosaischer Impressumsangaben wie ‚Neu-Ruppin, zu haben bei Gustav Kühnʻ oder ‚Neu-Ruppin bei Gustav Kühnʻ (vgl. z.B. die Reproduktionen bei Stefan Brakensiek, Regine Krull u. Irina Rockel (Hg.): Alltag, Klatsch und Weltgeschehen. Neuruppiner Bilderbogen. Ein Massenmedium des 19. Jahrhunderts. Bielefeld 1993, S. 66–72). – Zum Neuruppiner Bilder-bogen vgl. Gertraud Zaepernick: Neuruppiner Bilderbogen der Firma Gustav Kühn. Leipzig, 2. Auflage 1982; Brakensiek, Krull u. Rockel (Hg.): Alltag, Klatsch und Weltgeschehen; Faulstich: Medienwandel 1830–1900, S. 117–121.

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Bilderbogen die Vermittelung übernähme“;89 und für den jungen Theodor der Kinderjahre sind die Vorgänge „d r a u ß e n in der Welt […] da, […] wie sie mir unsere Zeitung vermittelte.“90 Weiterhin sehen beide Texte in der Zeitung das gegenüber dem Bilderbogen angemessenere, in seiner Leistungsstärke zu-kunftsträchtige Medium: Den Wanderungen zufolge haben „[d]ie letzten Jahr-zehnte mit ihrem rasch entwickelten Zeitungswesen, mit ihrer in’s Unglaubliche gesteigerten Communication […] viel geändert“, sie haben den Neuruppiner Bilderbogen, der „den Geschmack mehr verwilder[t] als bilde[t]“, in „abgelege-ne Sumpf- und Haide-Plätze“ zurückgedrängt;91 in den Kinderjahren wiederum tritt für den Knaben „[v]on Sommer 1830 an […] die Zeitung an die Stelle des […] Gustav Kühn’schen Bilderbogens“, der in „Gröblichkeit und Trivialität“ exzel-liert.92

Diesen fragwürdigen Bildern jedoch eignet, „trotz all ihrer Gröblichkeit und Trivialität, oder vielleicht auch um dieser willen“,93 eine Einprägsamkeit, die die offenkundige Kluft zwischen medialem Abbild und der Sache selbst vergessen macht, die den Bilderbogen zu letzterer werden lässt. So zeigt er sich plötzlich der sachlich ‚eigentlichʻ adäquateren Zeitung überlegen; durch Bilderbögen glaubt der Erzähler der Kinderjahre, „über die Personen, Schlachten und Hel-denthaten jener Epoche“ vor seiner Zeitungslektüre

besser als die Mehrzahl meiner Mitlebenden unterrichtet zu sein […]. Griechische Brander stecken die türkische Flotte in Brand […] – […] das steht in einer Deutlichkeit vor mir, als wär ich mit dabei gewesen und läßt mich nicht bedauern, meine früheste zeitgeschichtli-che Belehrung aus einem Guckkasten erhalten zu haben.94

Die Schilderung der späteren Begegnung mit der Zeitung hingegen gerät merk-lich kühler: Der verlebendigende Sprung der Erzählerrede ins Präsens fehlt, und das teils konjunktivische Nachrichtenreferat in indirekter Rede schwächt die Inhalte der Zeitungslektüre.95

89 Fontane: Wanderungen. Erster Theil 1883, S. 128; vgl. Fontane: Wanderungen. Erster Theil 1865, S. 113. 90 Theodor Fontane: Meine Kinderjahre. Autobiographischer Roman. Berlin 1894, S. 190. 91 Fontane: Wanderungen. Erster Theil 1883, S. 128; vgl. Fontane: Wanderungen. Erster Theil 1865, S. 112 f.; zur boomartigen Entwicklung des Zeitungsmarkts im 19. Jahrhunderts vgl. etwa Faulstich: Medienwandel 1830–1900, S. 28–47. 92 Fontane: Meine Kinderjahre, S. 190 f. 93 Fontane: Meine Kinderjahre, S. 190. 94 Fontane: Meine Kinderjahre, S. 191. 95 Vgl. Fontane: Meine Kinderjahre, S. 192 f.: „Als dann aber die die französische Flotte […] vor Algier erschien und […] der Dey mit seinem Harem um freien Abzug bat, da kannte mein Ent-

154 Andreas Beck

Ähnliches bieten die Wanderungen, unter Betonung journalistischer Schnel-ligkeit der Bilderbögen:

Lange bevor die erste „Illustrirte Zeitung“ in die Welt ging, illustrirte der Kühn’sche Bil-derbogen die Tagesgeschichte, und […] die Illustration hinkte nicht langsam nach, son-dern folgte den Ereignissen auf dem Fuße. Kaum, daß die Trancheen vor Antwerpen er-öffnet waren, so flogen in den Druck- und Colorirstuben zu Neu-Ruppin die Bomben und Granaten durch die Luft.96

Dort sei die „Aufgabe“, „[i]n jedem Augenblicke zu wissen, […] was das eigent-lichste Tagesinteresse bildet“, so

glänzend gelöst worden, […] daß ich Personen mit sichtlichem Interesse vor diesen Bil-dern habe verweilen sehn, die vor der k ü n s t l e r i s c h e n Leistung […] einen unaffek-tirten Schauder empfunden haben würden[,] […] und sie zählten (wie ich selbst) mit leiser Befriedigung die Leichen der gefallenen Dänen97.

Erneut avancieren die Bilderbögen zur Wirklichkeit selbst, was hier, logisch mäßig stringent, erhellend aber im Hinblick auf die „Brück’ am Tay“, nicht in ihrer visuellen Prägnanz, sondern in ihrer journalistisch-tagesaktuellen Ge-schwindigkeit gründet – durch die sie mit der Zeitung zumindest medienhisto-risch konkurrieren können, ihr einen Schritt voraus sind.

In diese Tradition des Neuruppiner Bilderbogens möchte ich Fontanes „Brück’ am Tay“ stellen. Am 3. Januar berichtet die Vossische Zeitung, dass „[d]ie Directoren der Nordbrittischen Eisenbahn-Gesellschaft […] über die Wie-deraufrichtung der Brücke Beschluß […] fassen“ wollten98 – und am 18. des Monats meldet das Blatt dann, dass man „den einstimmigen Beschluß“ gefasst habe, „die Brücke über den Tay […] wieder aufzubauen“;99 da war indes längst Fontanes Ballade erschienen – die die Vossische Zeitung tags zuvor angezeigt hatte100 – und mit ihr die Taybrücke bereits seit gut einer Woche poetisch wie-dererrichtet. Fontanes Gedicht, das sich unter seitlichem Druck in eine einpräg-

zücken keine Grenze, das auch nicht voll mehr erreicht wurde, als ich hörte, daß Karl X. ge-stürzt und Louis Philipp König geworden sei.“ 96 Fontane: Wanderungen. Erster Theil 1883, S. 127; Fontane: Wanderungen. Erster Theil 1865, S. 111. 97 Fontane: Wanderungen. Erster Theil 1883, S. 128; vgl. Fontane: Wanderungen. Erster Theil 1865, S. 112. 98 Vossische Zeitung. 3. Januar 1880, Abendausgabe. 99 Vossische Zeitung. 18. Januar 1880, Morgenausgabe. 100 Vgl. Vossische Zeitung. 17. Januar 1880, Morgenausgabe, Erste Beilage: „Die am 10. Januar ausgegebene No. 2. der ‚Gegenwartʻ […] enthält: […] Die Brück’ am Tay. (28. Dezember 1879) Von Theodor Fontane.“

Bau auf, bau auf! 155

same bildliche Brückendarstellung verwandelt, als noch rasanteres Pendant zum rasanten Neuruppiner Bilderbogen hat es die Zeitung überflügelt, sich einer künftigen Wirklichkeit verschrieben, diese schriftbildlich in der Gegenwart bereits erschrieben.101 Das scheint mir der Anspruch der „Brück’ am Tay“ als eines prägnanten dichterischen Welt-Bilds zu sein: Auf gehobenem ästheti-schem Niveau tritt sie das Erbe des allmählich veraltenden Bilderbogens102 an, verteidigt dessen medienhistorische Gerechtsame gegen die telegrafiebasierte Nachrichtenflut der mediengeschichtlich siegreichen Zeitung; ihr stellt sich die „Brück’ am Tay“ entgegen – als künstlerisch-technische weltbewältigende Wirklichkeitserzeugung, die sich um textexterne Realität wenig bekümmert und in solcher ‚Unsachlichkeitʻ dem in Welt-Bildern sich bewegenden Menschen angemessen ist.

101 Eine stimmige Fortführung des Neuruppiner Bilderbogens auch angesichts dessen, dass knapp ein Jahr zuvor, als 1878 russische Truppen auf Konstantinopel vorrückten, ein Kühnscher Bilderbogen flugs das anstehende Bombardement der Stadt geschildert haben soll, das aber ausblieb; dennoch habe der betreffende Bogen den erhofften Absatz gefunden; vgl. Zaepernick: Neuruppiner Bilderbogen, S. 31 und S. 57. – Eine Anekdote von mäßiger Glaubwür-digkeit, die allerdings davon zeugt, wie in zeitlicher Nähe zur „Brück’ am Tay“ genau dasjenige als faszinierende Pointe des Neuruppiner Bilderbogens ins Spiel gebracht wurde, was Fontanes Ballade dann poetisch praktiziert. 102 Vgl. das Ende des betreffenden Kapitels in den Wanderungen: „Seine Uhr [die des Kühn’schen Bilderbogens] ist noch nicht abgelaufen und das schmale Haus in der Ruppiner Friedrich-Wilhelmsstraße hat noch immer seine Bedeutung.“ Fontane: Wanderungen. Erster Theil 1883, S. 128; Fontane: Wanderungen. Erster Theil 1865, S. 113.


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