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Umbrische Kulte im Liber Linteus?G e r h a r d M e i s e r ( h a l l e a n d e r s a a l e )

1.

Für die etruskische Kultur und Bevölkerung spielen die Umbrer eine gewichtige Rolle; das zeigen die Namen der Götter und Menschen1. Es sind dabei zwei grundsätzlich verschiedene Phasen zu unterscheiden2. Die eine ließe sich als die Etruskisierung Inner- und Ostetruriens be zeichnen; sie fällt weitestgehend in die vorschriftliche Zeit. Die Umbrer, deren Namen damals noch die Lautform *Loukis ‚Lucius‘, *Roufs ‚Rufus‘ usw. aufwies, assimilierten sich und passten ihre Namen dem Etruskischen an – sie hießen nunmehr Laucie und Raufe. Dieser Phase dürfte der „Import“ von Götternamen angehören wie minerva, uni, selvans, fufluns und wohl auch neθuns, also von Gottheiten, die in ganz Etrurien kultische Verehrung genossen. Eine zweite Phase etruskisch-umbrischer Kontakte umfasst die spätarchaische und rezente Zeit. Hier ist nur Ostetrurien (im Wesentlichen entlang der Tiber-Grenze) betroffen, mit Städten wie Perusia, das wohl stets bis zu einem gewissen Grade zweisprachig blieb, und Volsinii.

2.

Aus unterschiedlichen Gründen ist die Entstehung des Liber Linteus in diesen ostetrus kischen Raum ver-legt worden. Nach F. Roncalli spricht die Paläographie für die Entstehung in einem Gebiet zwischen Perugia, Cortona und dem Trasimener See3. G. Colonna hat – jedenfalls zunächst – aus Gründen der Prosopographie Perugia als Ursprungsort angenommen, ebenso B. van der Meer, nunmehr allerdings aufgrund der Lexik bzw. Onomastik. Es mag daher berechtigt erscheinen, diesen Text auf seine „Umbrizität“ oder – zurückhaltender gesagt – Italizität zu untersuchen, dies umso mehr, als seit eh und je die Iguvinischen Tafeln einen Referenz-punkt für die Interpretation des Liber Linteus darstellen, wie unterschiedlich auch die Deutung der einzel nen Textpartien ausfallen mag.

Nun gibt es einige markante Parallelen, die freilich eine spezifische Nähe des Liber Linteus zu den Iguvi-nischen Tafeln nicht notwendig erweisen. Da ist zum einen die Tatsache, dass die Durchführung der Rituale in beiden Fällen einem Kollegium anvertraut ist, in Iguvium den Atiedischen Brüdern, im Liber Linteus der Sacnica des Cilθ4. Von Kollegien nach Art der Paχaθura unterscheiden sich diese Brüderschaften dadurch, dass sie wohl anders als diese verschiedenen Göttern dienen. Das einzelne Mitglied heißt im Umbrischen frater, im Liber Linteus Sacniša. Solche Sacniša sind – als Männer und Frauen – auch außerhalb des Liber

1 Zu den Theonymen vgl. Rix 1981 passim, zu den Anthroponymen vgl. Meiser 1996 passim, Meiser 2009, passim. 2 Zum Folgenden vgl. Meiser 2009, § 2.6. 3 Vgl. zum Folgenden Van der Meer 2007, 16–23. 4 Nach G. Colonna, H. Rix, M. Cristofani, A. Maggiani, K. Wylin, Van der Meer ‚Arx; citadel‘, vgl. Van der Meer 2007, 51f.

Steinbauer 1999, 319f. nimmt für sacnica und cilθl die Bedeutungen ‚quirites‘ bzw. ‚tribus‘ an, für sacniša ‚Bürger‘. Unklar bleibt dabei die Funktion der Angabe sacniša bzw. sacnišva in Grabinschriften (s. die folgende Anm.), zumal auch Frauen den sacniša-Titel tragen. Schwierig bliebe dann auch das Verständnis von Col. VIII 10f.: vacl ar flereri sacniša 11sacnicleri – „Dann soll der Bürger opfern / opfere als Bürger für die Bürgerschaft“. Eher ist anzunehmen, dass Staatsopfer wie das für flere neθunsl von Priestern vollzogen wurden. Die in der nächsten Anmerkung bezeichneten Einzelpersonen waren wohl weibliche bzw. männliche Mitglieder sakraler Kollegien, wie sie im S.C. de Bacchanalibus vorausgesetzt werden (CIL I2 581 (186 v. Chr.), Z. 10: sacerdos nequis uir eset, magister neque uir neque mulier quisquam eset ). Somit dürfte sacnica ‚Priesterschaft‘ bedeuten, vgl. auch Van der Meer 2007, 50. Anders Facchetti 2000, 269 u.ö.: ‚area sacra‘.

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Linteus bezeugt5. Natürlich wissen wir nicht, ob die Struktur und Funktion6 solcher Sacnica derjenigen der Sacnica des Liber Linteus oder der Brüderschaft in Iguvium vergleichbar war.

Eine zweite, für die Etablierung einer historischen Relation zwischen dem Liber Linteus und den Iguvi-nischen Tafeln ebenfalls nicht entscheidende Parallele ist die Tatsache, dass die Kolle gien der Atiedischen Brüder bzw. der „Sacnica des Cilθ“ einerseits für die Durchführung der großen Staatskulte zuständig waren, in Iguvium also für das Piaculum und die Lustratio, nach dem Liber Linteus für die Opfer an die aiser sic seuc, an flere in crapsti, an flere neθunsl und wohl auch an luša und lustra. Daneben gibt es aber auch die sozusagen internen Riten für die Brüderschaft selbst oder gar nur für die gentes einzelner Vertreter. In Iguvi-um sind solche Riten auf den Tafeln II–IV7, im Liber Linteus in den Col. VII und X enthalten. Sowohl in Umbrien als auch in Etrurien sind diese Riten sehr viel weniger stereotyp aufgebaut und bereiten dem Ver-ständnis deshalb sehr viel größere Schwierigkeiten als die Texte der großen „Staatsopfer“.

Eine dritte Parallele stellt die Textsorte „Ritualbeschreibung von Staatsopfern“ dar8. Seit Olzscha wird bei der Analyse des etruskischen Textes nach dem Vorbild der Iguvinischen Tafeln zwischen wörtlich zitierten Gebetstexten einerseits und Ritualanweisungen andererseits unterschieden9. Auch die nachfolgenden Aus-führungen stehen in dieser – nicht unwider sprochen gebliebenen – Tradition10. Die Bedeutung dieser Unter-scheidung besteht darin, dass die eigentlichen, den Fortgang des Rituals steuernden Anweisungen auf wenige Zeilen reduziert werden können, und der Ablauf damit wesentlich transparenter wird.

3.

Dies soll kurz am Beispiel des Rituals für flere neθunsl in Kol. VIII–IX demonstriert werden. Es ist be-kanntlich das umfangreichste erhaltene; seine Beschreibung umfasst, die verlorenen Stücke eingerechnet, insgesamt gut 60 Textzeilen. Die in der Tradition Olzscha-Rix als Gebets texte ausgewiesenen Partien machen etwa 27 Zeilen aus, also knapp die Hälfte des Textes. Im Grunde ist es aber ein Hauptgebet, das fünf Mal wiederholt wird, wie sich an der Aufstellung in Tab. I erkennen lässt:

I (VIII 11ff.) II (VIII f.3ff.) III (IX s.2ff) IV (IX 7ff.) V (IX 18ff.)

0 11... trin f.3[trin s.2[trin 7.... trin 18... nunθenθA flere neθunśl flere neθunś]l flere neθunśl flere neθunśl flere neθunslB une 12mlaχ puθs Un mlaχ nunθen un mlaχ nunθen] un mlaχ 8nunθen 19 un mlaχ nunθenC θaclθ θartei f.4[θaclθi θartei ––– ––– –––D zivaś fler ciar] hušlne vinum eśi

f.5[šeše ramue racuśe] faśeic

1zuśleve zarve 1zuśleve zarve faseic χiś ešviśc faśei

5 Ta 1.47 (Frau), 1.159 (Mann), 5.4 (Mann), 5.5 (Mann), AT 1.193 (Frau), Vs 1.248 (Mann), Vc 1.8 (Frau, gleichzeitig hatrencu), 1.17 (Frau); Pl. sanišva, Cr 5.2 (apac atic ‚Vater und Mutter‘).

6 D.h. die Durchführung der staatlichen Kulte. 7 Also die Opfer für die karu* speturio* Tab. IIa 1–14, das „Hondia-Opfer“ 2a 15–44, das Opfer ařmune iuve patre IIb 1–21, für

iupater IIb 21–29, das esonom arven III–IV. 8 Vgl. Rix 1985b. 9 Cf. Olzscha 1939; Olzscha 1959; Rix 1985b, 21–37 (= Rix 2001, 181ff.); Rix 1991, 666–691 (= Rix 2001, 333ff.): Rix 1997,

391–397. Steinbauer spricht von „Formeln“ (Steinbauer 1999, 316 und passim) und „Anruf“ (op. cit. 327), ohne die Textstruktur im Allgemeinen zu thematisieren.

10 Entscheidend ist hier die Interpretation des den „Formelkomplex“ (s.u. § 3) einleitenden Verbums nunθen (s.u. § 4). Wird es als Entsprechung zu umbr. subocau (suboco) TI. VI a 22. 24 u.ö. ‚ich rufe an‘ o.ä. verstanden (Rix 1991, 678–681 = Rix 2001, 346–9; Facchetti 2000, 271 u.ö.), ist der Text A-L/M (s. im Folgenden) als Ge betstext aufzufassen, übersetzt man nunθen dagegen mit Pfiffig 1969, 297; Cristofani 1995, 74f.; De Simone 1998, 30 u. 94: Van der Meer 2007, 68 als ‚opfere!‘, folgt weiterhin eine Ritualbeschreibung, in die Zitate aus den Gebetstexten eingebaut sind. Nach Steinbauer 1999, 330 „könnte man z.B. die Bedeu-tung ‚darbringen, weihen‘ einsetzen.“ Für die „Gebetinterpretation“ spricht die stereotype Struktur des voraus gehenden Abschnitts (A) und der folgenden Partien, gegen eine Deutung als ‚opfern‘ oder ‚weihen‘ die Grammatik: neben nunθen wäre nicht der Casus absolutus, sondern der Ausdruck des Indirekten Objekts (Dativ / Pertinentiv oder Lokativ + Post position -ri wie in ar flereri (vgl. Anm. 4) oder allenfalls der Genitiv (vgl. tur- ‚dedizieren‘ mit Gen.) zu erwarten.

167Umbrische Kulte im Liber Linteus?

I (VIII 11ff.) II (VIII f.3ff.) III (IX s.2ff) IV (IX 7ff.) V (IX 18ff.)

E 13θezine ruze nuzlχnezati zatlχne

––– ––– ––– –––

F ––– ––– ecn zeri lecinin zec fler 2θezince

ecn zeri 9lecinin zec fler θezinc[e

–––

G 14śacnicśtres cilθśśpureśtreś enaś

śacnicśtres cilθśf.6[śpureśtreś enaś

śacnicśtres cilθś3śpureśtreś enaś

ś]acnicśtres 10cilθśśpureśtreś enaś

–––

H 15eθrše tinśitiurim avilś χiś

eθ]rše tinśii.1[tiurim avilś χiś

eθrše tinśitiurim 4avilś χiś

eθrše tinśi11tiurim avilś χiś

–––

I ––– cišum pute tul cišum pute tul cišum put[e] tul 20cišum pute tulK ––– θanš] i.2[hatec

repinec θanš haθe 5repinec

θanš 12haθec repinec

θanš haθec repinec

L ––– Śacnicleri cilθlIX s.1śpurerimeθlumeric enaś]

śacnicleri cilθlśpureri6meθlumeric enaś

śacnicleri cilθlśpureri13meθlumeric enaś

21śacnicleri cilθlśpurerimeθlumeric 22enaś

M hetrn 16aclχn aiś cemnaχ

––– ––– ––– śin flere neθunsl χiś 23[ešviśc faśe(i). sin aiser faśe śin ais cemnac faśeiś

N θezin fler vacl 17etnam tešim

? raχθ tur heχśθ 7vinum ... (s.o. IV)

raχθ šuθ nunθenθ14zusleve faśeic

raχθ. šutanas. celi šuθ]

Tab 1.11

Der Text ändert sich nur in gewissen, voraussagbaren Grenzen. Das betrifft nach der An rufung, der Invo-catio in Zeile A–C, die Präsentation der Opfergaben in Zeile D–F. Dagegen bleibt die a-quo-Formel in Zeile G–H, die die Initiatoren des Opfers benennt – sacnicstres cilθs spurestres „durch die Brüderschaft von der Cilθ und die Stadtgemeinde“ – gleich, ebenso wie die pro-quo-Formel in Zeile J-L: sacnicleri cilθl spureri meθlumeric enas „für die Brüderschaft der Cilθ, für die Stadtgemeinde und die Stadt enas“. Die Variation beruht hier lediglich darauf, dass im ersten Gebet die pro-quo-Formel wegbleibt, im fünften und letzten da-gegen die a-quo-Formel. Insgesamt kehrt dieses Hauptgebet mit spezifischen Varianten im Text des Liber Linteus 12 Mal wieder, wobei die fragmentarischer erhaltenen Rituale immerhin erkennen lassen, dass die Abfolge der Gebete I–V im Grundsatz stets die gleiche gewesen sein muss12. Für den Ansatz Olzschas spricht eben die Tatsache der hochgradigen Stereotypie und Rekurrenz be stimmter Textteile im Vergleich zur sprach-lichen Variabiltität anderer Partien; wie van der Meer beobachtet hat, lassen sich auch hier Elemente von sakraler Kunstprosa ausmachen13.

4.

Zuzugeben ist freilich, dass die Gebetstheorie auf ein grammatikalisches Problem trifft. Die Übersetzung des Gebetsanfangs vom Typ flere neθunsl, un mlaχ nunθen „Gottheit des Neptunus, dich, Guter, rufe ich an“14, wie sie Helmut Rix in der Nachfolge Olzschas vorge schlagen hat15, lässt einen assertierenden Modus – den Indikativ Präsens – erwarten. Der endet im Etruskischen aber auf -e, vgl. ame ‚ist‘, und so auch bei

11 Der Text ist nach den ET gegeben, Kursive bezeichnet ergänzte Textstücke. Der in den ET als σ wiedergegebene Buchstabe er-scheint hier als š́, dementsprechend σ́ als š.

12 Weitere Belegstellen: 1. II n1–5 (II) – 2. II 2–9 (III?) – 3. III 19–23 (II) – 4. IV 1–6 (IV) – 5. IV 14–21 (V) – 6. V 1–7 (IV) – 7. V 11–15 (V).

13 Van der Meer 2007, 26. 14 Der Olzscha-Rix’schen Interpretation liegt das Modell der iguvinischen Tafeln zugrunde, vgl. etwa VIa 22: teio suboco subocau

23dei graboui ocriper fisiu totaper iiouina – „Dich rufe ich an, Iupiter Grabovius, für die fisische Stadt und die iguvinische Ge-meinde“.

15 Olzscha 1939, 153–157; Rix 1991 = 2001 passim, s.o. Anm. 10.

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den Verben auf Nasal, wie die Inschrift Vc 3.4 mine muluvene avile acvilnas „mich schenkt Avile Acvilnas“ 6:m zeigt16. In der Tat ist, wie Koen Wylin konstatiert hat17, nunθen ut sic als Imperativ zu übersetzen: ‚du sollst anrufen‘, allenfalls ‚er soll anrufen‘, also als an den Priester gerichtete Aufforderung, was nicht in ein Gebet passen will und sich schon gar nicht mit der Olzscha-Rix’schen Übersetzung von un als ‚dich‘ ver-trägt.

Wylins durchaus berechtigter Einwand, in nunθen läge ein Imperativ vor und nicht der Indi kativ, den die Übersetzung ‚ich rufe an‘ verlangen würde, spricht freilich noch nicht zwingend gegen die „Gebetstheorie“. Es wäre denkbar, dass das Gebet im Text nicht in seinem tat sächlichen Wortlaut angeführt, sondern nur zitiert ist: statt „ich rufe dich an“ „du sollst anru fen“/„er soll anrufen“18. Der ganze Rest des „Gebetstextes“ wäre dann gewissermaßen konzep tionell in der indirekten Rede verfasst, auch wenn das im Weiteren in der Sprach-form nicht zum Vorschein kommt. Jedenfalls lässt sich die Olzscha-Rix’sche Auffassung ohne Ad-hoc-An-nahmen über die Konjugation etruskischer Verben nur unter den Annahme halten, dass der Imperativ nunθen sich grundsätzlich auch an die 1. Person richten kann: „ich will dich an rufen“19. Für sich genommen ist weder die Existenz eines Imperativs der 1. Person problema tisch20noch der für das etruskische Verbum auch sonst charakteristische Nichtausdruck der Person. In der Konsequenz ließe sich dann freilich formal nicht mehr zwischen al ‚ich will geben‘ und al ‚du sollst geben‘ unterscheiden, was in der Tat Zweifel an der pragmati-schen Funktionalität einer solchen Morphologie aufwirft. Natürlich könnte der Ausdruck bei Bedarf durch den Zusatz des Personalpronomens desambiguiert werden: mi al ‚ich will geben‘ vs. al ‚gib‘21. In der Gebets-formel kann eine Unsicherheit schon deshalb nicht eintreten, weil die 2. Person ja als Objekt des transitiven Verbs erscheinen würde: un mlaχ nunθen „Dich, Guter, will ich anrufen“.

Mit Berücksichtigung dieser Schwierigkeit lässt sich an der Scheidung zwischen Gebets texten und umge-benden Ritualanweisungen in den vier großen Ritualen festhalten, woraus sich ein entscheidender Interpreta-tionszugang ergibt. Gewisse Aussagen etwa zum konkreten Voll zug des Rituals wird man innerhalb solcher Partien von vorneherein nicht erwarten, während andererseits aber die Gebete den Hergang des Opfers so-zusagen in seinen Höhepunkten be gleiten und insofern schon einen gewissen Aufschluss darüber geben, an welcher Stelle des Ab laufs man sich gerade befindet.

5.

Die umbrische Opfersystematik teilt die großen Staatsopfer nach ihrer Abfolge in drei Teile ein, wie sich aus der Regelung der Aufwandsentschädigung für den Adfertor in Tafel Va ab lesen lässt, die jeweils am Ende eines Teils erfolgt: erstens nach der Präsentation der Opfergaben und der Schlachtung der Opfertiere (TI. Va 17): ape a(m)pelust ‚wenn er ge schlachtet haben wird‘, zweitens nach der Darbringung der hauptsächlichen Opfergaben (Va 18f.): ape purtitu fust ‚wenn es dargebracht sein wird‘, und die letzte Rate am Ende des Opfers (Va 20): ape subra spafu fust ‚wenn es darüber ge-X-t sein wird‘22. Bei dieser Schluss phase, die im Weiteren behandelt werden soll, haben die Götter ihren Anteil am Opfertier bereits erhalten; nach römischer Terminologie also die exta: Leber, Lunge, Galle, Herz und Netz, die als prosiciae auf den Altar gesetzt und dort verbrannt werden23. Den übrigen Teil, die viscera, erhalten im Schlussteil die Menschen, also Priester

16 Gegen die Möglichkeit, dieses auslautende -e könnte in späterer Zeit apokopiert sein, sprechen die Belege in AS 1.311 mi murš arnθal veteś 2nufreś laris vete mulune 3la(r)θia petruni mulune „Ich bin die Urne des Arnth Vete Nufre; Laris Vete schenkt (mich), Larthia Petruni schenkt (mich)“.

17 Wylin 2000, 90f. Jedoch nach Facchetti 2002, 587 „è dunque legittimo avanzare l’ipotesi che l‘ ingiuntivo fosse marcato (con -e) solo alla III persone (singolare e plurale), mentre per le altre persone la voce verbale era uguale al tema puro e dissambiguata ... dall‘ uso dei pronomini personali“. Vgl. dazu noch Anm. 21.

18 Was die Übersetzung von trin (s.o. § 3, Tab. 1A) als ‚er soll sprechen‘ nach sich ziehen würde. Die Abweichung nunθenθ in Tab. 1 A V gegenüber sonstigem (Ta. 1 A I–IV) trin spricht übrigens ebenfalls dafür, dass nunθen einen Sprechakt bezeichnet.

19 Entsprechend dem „Lasset uns beten“ im kirchlichen Ritus. 20 Vgl. klass. Sanskrit bharāni ‚ich will/soll tragen‘. 21 In vergleichbarer Weise interpretiert Facchetti 2002, 587 die Texte Cm 2.46 … mi nuna (a)r ‘io prego’ (w. ‘mache eine Bitte’)

vs. Fa 0.4 … ar nuna turaniri ‘porgi preghiera a favore di Turan’. 22 Der eigentliche Sinn des Ausdrucks ist in meinen Augen immer noch unklar. 23 Vgl. Wissowa 1912, 418.

169Umbrische Kulte im Liber Linteus?

und ggfs. weitere Teilnehmer. Im Umbrischen wird dieser Akt mit erus dirstu bezeichnet: ‚er soll den Hei-schenden geben‘24.

Erus wird im Allgemeinen als Akk.Sg. Neutrum aufgefasst25. Eine solche Analyse erscheint ausgeschlos-sen. Ein auslautendes, durchgängig geschriebenes -s muss im Spätumbrischen aus einer Konsonanten-gruppe entwickelt worden sein, also aus Dental oder Labial + -s. Deshalb ist erus eher auf ein uritalisches *aisußos zurückzuführen26 und die Form deshalb als Dativ / Ablativ / Lokativ Plural eines Konsonanten-stamms oder eines u-Stamms zu bestimmen. Neben einem Verbum der Bedeutung „geben“ ist am ehesten ein Dativ zu erwarten. erus bezeichnet dann die menschlichen Empfänger der Opfergaben. Das Wort lässt sich wohl mit der uridg. Wz. *h2eys- ‘suchen nach’ verbinden. Das Wurzelnomen iṣ- ist im Vedischen nur als Hinterglied im Kompositum bezeugt, z.B. gav-iṣ- ‚Kühe ersehnend‘. Wenn zugehörig, kann erus ohne Schwierigkeiten als Konsonantenstamm bzw. Wurzelnomen erklärt werden. Die Semantik er fordert ein Nomen agentis; solche werden in den italischen Sprachen von u-Stämmen nicht gebilde; erus (Nom. Sg. wohl err*) bezeichnet also die „Menschen, die wünschen / begehren“, nämlich vom Opfer ihren Anteil zu bekommen.

Selbstverständlich bleibt der Vorrang der Götter vor den Menschen gewahrt. Bei der Lustratio Populi finden die Opfer an drei verschiedenen, offenbar nicht allzuweit voneinander entfernten Plätzen statt, die der Ařfertur der Reihe nach aufsucht: in Fondlus, Rubinia und Trans Saatam (TI. Ib 24–39 ~ VII a 3–45). In einer etwas umständlich formulierten Anweisung wird dafür Sorge getragen, dass auch in Fondlus, der ersten Station, den erus – den „heischenden Menschen“ – ihr Anteil erst dann gegeben wird, wenn der Adfertor in der dritten Station, Tans Saatam, die Darbringung beendet hat27. Der gleichen Pietät ist es wohl geschuldet, dass im Piaculum die Ausgabe des Anteils an die erus nur bei den Opfern hinter den Stadttoren28 vor gesehen ist. Würde die Ausgabe auch bei den zeitlich jeweils vorausgehenden Opfern vor den beiden Stadttoren erfolgen, dann begänne vielleicht bereits auf der einen Seite der Mauer ein fröhliches Schmausen, während in geringem Abstand auf der anderen Seite der Vollzug der heiligen Handlung noch andauerte, was ihrer korrekte Durchführung sicherlich nicht zuträglich wäre. Am Trebulanertor sowie an den Hainen des Iupiter und des Koredis scheint die Ausgabe gänzlich zu unterbleiben; mag sein, dass ihre Nichterwähnung lediglich durch den Telegramm stil der ersten Tafel verursacht ist – von der Verteilung an die erus hinter dem Tesenaker-Tor erfährt man auch nur aus der Version in Tafel VI; die Kurzfassung in Tafel I lässt sie unerwähnt.

6.

Bei den in Rede stehenden Opfern werden sowohl blutige Opfergaben – z.B. vatuva29, arvia ‚Eingewei-de‘30 – als auch unblutige, z.B. mefa ‚Kuchen‘ und poni ‚Brei‘, wohl auch vestišia, dargebracht. Götter und Menschen erhalten von beiden Kategorien ihren Anteil; dementspre chend findet sich in manchen Opfer-

24 Übersetzung entsprechend der Etymologie, s. im Folgenden. 25 Weiss 2009 passim fasst erus als Form des Akk.Sg. auf, stimmt aber mit der hier gegebenen Auffassung insofern überein, als dass

die Austeilung des erus an die Teilnehmer des Opfers erfolgt: „These points taken together suggest a plausible, and hardly novel, solution to the question to whom was the erus given: The erus was the portion of the key bloody and non-bloody sacrifices dis-tributed to the participants in the sacrifice“ (Weiss 2009, 255).

26 Cf. Untermann 2000, 231–233: erus < protoital. *aisußos dat.pl. cons.-st. or u-st. nach H. Rix apud Meiser 1986, 253. Zur Wz. uridg. *h2eys- ‚suchen, erstreben‘ (LIV2 260) vgl. ved. icchati, gav-iṣ- ‚Kühe begehrend‘ (cf. EWAia I 270f.; Scarlata 1999, 54–58).

27 TI VII a 42 ... ape 43 purdinśiust carsitu pufe abrons facurent, puse erus dersa. ape erus dirsust, postro combifiatu rubiname erus 44dersa. enem traha sahatam combifiatu, erus dersa. enem rubiname postro couertu. … „Wenn er [der Adfertor/Opferpriester] dort, wo sie die Eber geopfert haben [d.h. in Fondlus, GM, vgl. VIIa 3] die Dar bringung beendet haben wird, dass er [der Opfer-diener] dann den Teilnehmern gebe. Wenn er den Teilnehmern gegeben hat, soll er zurückmelden nach Rubinia, dass er den Teilnehmern austeile. Dann soll er nach Trans Saata melden, dass er den Teilnehmern austeile. Dann soll er nach Rubinia zu-rückkehren“.

28 Hinter der Porta Tesenaca (VI b 16f.) und der Porta Veia (VI b 38.39). 29 Vgl. Untermann 2000, 827. 30 Vgl. Untermann 2000, 126.

Gerhard Meiser170

ritualen zweimal die Anweisung, den Anteil an die erus zu verteilen, so in VIb 16 (Opfer hinter der Porta Tesenaka):

ape eam purdinsust, proseseto erus dito „Wenn er sie dargebracht hat, soll er das Zugeschnittene den teilnehmenden erus geben“.

eno scalseto uestisiar erus conegos dito. „Dann soll er aus dem SCALK von der VESTIšIA den teilnehmenden erus CONEGOS geben“.

Bei skalk (Nom.Sg. wohl skalšs) handelt es sich um eine Gefäß oder eine Schale zur Darbringung der Opfergaben vestišia und mefa spefa31, von dem sie zum Opfern oder auch an die erus gegeben werden, außer an der zitierten Stelle auch in IV 15.18.20.

Dieselbe Abfolge findet sich am Schluss des Opfers hinter dem Veiertor, VIb 38:

ape persondro purdinśus(t), proseseto erus dirstu„Wenn er das PERSONDRO dargebracht hat, soll er das Zugeschnittene den teilnehmenden erus ge-ben“.

enom uestisiar sorsalir destruco persi persome erus dirstu.„Dann soll er von der VESTIšIA SORSALIR beim rechten Fuß / auf der rechten Seite in die Boden mulde32 den teilnehmenden erus geben“.

pue sorso purdinsus(t), enom 39uestisiam staflarem netruco persi sururont erus dirstu. „Wenn er das Sořom dargebracht hat, dann soll er die Uestisia Staflar beim linken Fuß (auf der linken Seite) in ebendieser Weise geben“.

Halten wir also zunächst fest:• Die Opfergaben werden zum Opfer gebracht, die unblutigen vestišia und mefa spefa in einem Gefäß

oder einer Schale (skalk-).• Zunächst erhalten die Götter ihren Anteil, dann die Menschen. Einer der Texte schreibt vor, dass der

Anteil für die Menschen auf einen bestimmten, rituell herge richteten Fleck Boden (persom-e) zu stellen ist.

• Wie die Götter, so erhalten auch die Menschen Anteil sowohl an den tierischen wie an den unblutigen Opfergaben.

7.

Wie das umbrische lässt sich auch das etruskische Ritual, wie es uns im Neptunsritual entgegentritt, in die drei Phasen „Präsentation – Darbringung – Schlussteil“ gliedern. Die ersten beiden Gebete (vgl. § 3, Tab. 1 I–II) gehören zum „Präsentationsteil“: das erste stellt das ‚zu schlachtende‘ (θezine) ‚Opfertier‘ (fler) vor – die Anweisung θezin fler ‚schlachte das Opfertier‘ folgt unmittelbar im Anschluss. Im II. Gebet geht es um Wein und fase – offensichtlich eine un blutige Opfergabe. Gebet III und IV begleiten die eigentliche Darbringung: wieder wird das Opfertier genannt, aber nun präzisiert als zusle33. Das V. Gebet gehört schon in den dritten, den Schlussteil des Rituals nach dem Vollzug des Hauptopfer des zusle. Es erfolgt noch einmal ein Nach-opfer mit fase.

Eine der regelmäßig wiederkehrenden Anweisungen im Schlussteil des Opfers ist celi šuθ. Der Satz selbst ist gut verständlich „Lege auf die Erde“ (celi Lok.Sg. von cel ‚Erde‘34, šuθ Imperativ zu einem Verbum šuθ- ‚legen‘ o.ä.35). Die Wendung ist insgesamt sechsmal bezeugt, zweimal im Ritual für flere in crapsti, zweimal

31 VIb 5, VIIa 37. 32 Persom ist nach Bücheler u.a. eine ‚Grube, in die die Opferobjekte dargebracht werden‘ (Untermann 2000, 524). 33 Wahrscheinlich ‚Schwein‘, s. im Folgenden. 34 Colonna 1976/77. 35 Steinbauer 1999, 472 verbindet damit plausibel šuθi ‚Grab‘ im Sinne von ‚Grablege‘.

171Umbrische Kulte im Liber Linteus?

im Ritual für die aiser sic seuc, einmal im Neptunsritual und einmal in Kol. XI. Einmal bezeugt ist die Wendung celi tur ‚gib auf die Erde‘; tur- bezeichnet sonst i.A. eine Dedikation an die Götter36.

(Ritual für flere in crapsti)IV 10 ... raχθ šuθ 11[zarfneθ] zusleveś. – nunθen estrei 12alφazei cletram śrenχve – eim tul var – 13raχθ tur

nunθenθ faśi cntram. – ei tul 14var – celi šuθ.IV 20 ... śin 21aiś cemnac faśeiś. – raχθ. šutanaś. celi 22šuθ.

(Ritual für die aiser sic seuc)V 8 ... racθ 9šuθ nunθenθ estrei alφazei – eim tul 10var – celi šuθ.V 15 ... śin eiser faśeiś – raχθ. šutanaś 16celi šuθ.

(Ritual für flere neθunsl)IX 15 raχθ [sc. šuθ ? GM] cletram śrenχve nunθenθ 16estrei alφazei zusleve raχθ37 – eim tul var – 17nunθenθ

estrei alφazei tei faśi – eim 18tul var – celi šuθ.IX 23 [... śin aiser faśe – śin ais 24cemnac faśeiś – raχθ šutanas celi šuθ ] (Text nach Ergänzung in ET)

XI 1 ... etnam ---sna celi. šuθXI 2 ... trutum 3θi θapneśtś trutanaśa hanθin. celi 4tur.

Die Texte in IV 10, V 8 und IX 15 schließen jeweils unmittelbar an die Anrufung des farθan fleres in crapsti bzw. farθan aiseras seus bzw. farθan fleres neθunsl – also „Genius des Flere in Crapsti“ usw. – am Ende des Hauptopfers an. Die Differenz zwischen IV 10ff. und IX 15ff. einerseits gegenüber V 8ff. anderer-seits hängt offenbar damit zusammen, dass für die eiseras sic seuc im 2. Ritual keine Tieropfer dargebracht werden; entsprechend kürzer ist die betreffende Ritualanweisung. Gleichzeitig ist erkennbar, dass die Text-stücke XI 1 und XI 2 einem Ritual ganz anderer Struktur angehören.

In zwei Fällen ist celi šuθ verbunden mit vorausgehendem raχθ šutanas. Diese Form gehört wohl trotz der unterschiedlichen Schreibung des Dentals zum Verbum šuθ und ist wie ein „Absolutivum“ ‚legend/gelegt habend‘ zu übersetzen. Daneben finden sich die Wendungen raχθ šuθ und raχθ tur, also ‚lege‘ bzw. ‚gib ins/in die/in den raχ‘; raχ bedeutet wohl ‚Opferfeuer‘38.

Die beiden Wendungen raχθ šuθ und raχθ tur meinen dasselbe – die Opfergaben werden ins Feuer gelegt –, aber sie bezeichnen den Vorgang unterschiedlich. Während šuθ auf den Vorgang des Legens selbst zielt, bezeichnet tur exklusiv die Übereignung an die Götter (s.o. Anm. 34). Der nahezu durchgängige Gebrauch der Wendung celi šuθ legt den Gedanken nahe, dass beim Legen der Opfergaben auf die Erde nicht etwa eine Übereignung an die Gottheit, also ein Opfer i.e.S. beschrieben wird. Der Gebrauch der Formulierung celi tur ‚spende auf die Erde‘ (s.o. Col. XI 2) lässt dagegen annehmen, dass in diesem einen Fall der Ritus des Auf-der-Erde-Opferns für den Empfänger die angemessene Übereignung der Gabe darstellt. Der Anfang von Col. XI setzt offensichtlich das am Ende von Col. X beschriebene Ritual fort; in der Lücke fehlen kaum mehr als vier Zeilen. Nach Col. X f6 trinum vetis … = ‚und sprich: Vetis …‘ wird dieses Opfer für den Gott Vetis „Vedius“ bzw. „Veiovius“ durchgeführt39. Nach Gellius wurde ihm, der als Unterweltsgott galt, humano ritu geopfert, das meinte wohl ursprünglich: humi ‚am Boden‘40. Dass hingegen bei den anderen Ritualen, also für flere in crapsti (Col. IV), für aiser sic seuc (Col. V) und für flere neθunsl (Col. VIII/IX) die Wendung celi šuθ ein Opfer für irgendwelche nicht weiter benannte Götter der Unterwelt bezeichnen würde, ist nicht anzu nehmen; umso weniger als – wie Col. IV und V zeigen – die Handlung celi šuθ zweimal hinter einander vollzogen wurde. Während raχθ šuθ und raχθ tur also denselben Vorgang bezeichnen, eignet celi šuθ in IV, V und IX einerseits und celi tur in XI offenbar eine unterschiedliche rituelle Qualität.

36 Vgl. Steinbauer 1999, 484. 37 Eine der beiden Formen raχθ scheint an dieser Stelle überzählig zu sein. 38 Vgl. Van der Meer 2007, 64. 39 Vgl. Rix 1998, 216–218; Van der Meer 2007, 38. 40 Gellius, Noctes Atticae 5,12: 11 Simulacrum igitur dei Vediovis, quod est in aede, de qua supra dixi, sagittas tenet, quae sunt

videlicet partae ad nocendum. 12 Quapropter eum deum plerumque Apollinem esse dixerunt; immola-turque ritu humano capra, eiusque animalis figmentum iuxta simulacrum stat.

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Das Objekt zu celi šuθ ‚lege auf die Erde‘ ist nirgendwo unmittelbar ausgedrückt. Nach dem Nachopfer, also in den Stellen IV 20ff.., V 15f. und IX 23f., ist davon auszugehen, dass es sich um fase41 handeln muss – etwas anderes kommt an dieser Stelle gar nicht mehr in Betracht. Im und nach dem Hauptopfer ist vor celi šuθ jeweils von estra alφaza die Rede; eine Gabe, die in keinem der Hauptgebete erwähnt wird, in Kol. V, beim Ritual für die aiseras sic seuc jedoch als einzige Gabe nach dem 4. Gebet erscheint. Ob aber in den Opfern für flere in crapsti und flere neθunsl auch Teile der Opfertiere (zusle) „auf den Boden“ gelegt werden, muss Spekulation bleiben.

Der Ablauf der Schlussphase des Opfers stellt sich damit folgendermaßen dar:

• In dreien der großen Rituale folgt unmittelbar auf die eigentliche Darbringung der Opfergabe, die mit den Worten raχθ tur oder raχθ šuθ bzw. šutanas beschrieben wird „gib“ bzw. „lege ins Feuer“ oder „nachdem du ins Feuer gelegt hast“, der Satz celi šuθ „Lege auf die Erde“.

• Da ein eigenes Objekt nicht genannt wird, ist davon auszugehen, dass es sich eben falls um Opfergaben handelt, die auf die Erde gelegt werden.

• In Col. IV und V findet sich die Anweisung celi suθ zweimal, jeweils vor und hinter dem letzten der fünf Hauptgebete des Rituals.

Die Opfergaben für die Götter, also diejenigen, die ins Feuer gelegt werden, werden auf einem mit Bildern versehenen Traggestell oder Tablett, cletram srenχve „einer Kletra (mit Bil dern verziert?)“42 – dargebracht. Aus II 10f. scheint hervorzugehen, dass sowohl tierische Opfergaben – zarfneθ zusle – als auch die fase auf der kletra gebracht werden: 10raχθ. tura. nunθenθ. cletram. śrenχve 11tei. faśei. zarfneθ. zuśle: „Du mögest/er möge ins Feuer spenden, nachdem du/er gebetet/angerufen ha(s)t über dieser FASE und dem erlesenen ZUSLE-Opfertier ...“. Da kletra als umbrisches Lehnwort im Etruskischen nicht dekliniert wird, ist die genaue syntaktische Einbindung unklar: Eine Interpretation als Akk. würde implizieren, dass die ganze kletra mitsamt den Opfergaben darauf ins Feuer geschoben würde. Die Wortstellung macht allerdings eher eine Auffassung als Lok. – „über den Opfergaben auf der Kletra gebetet ha bend“ – wahrscheinlicher. Ob die Opfergaben, die später auf die Erde gelegt werden, sich zu nächst ebenfalls auf der Kletra befinden, darüber ist in den acht Stellen, an denen die Kletra er wähnt wird, nichts gesagt.

Der Vergleich von umbrischen und etruskischem Ritual ergibt nun: Im dritten Teil des Opfers, also nach der Darbringung der hauptsächlichen Opfergaben an die Götter, findet sich eine – u.U. ein zweites Mal wiederholte – Anweisung, die in beiden Traditionen dasselbe meinen dürfte, aber unterschiedlich bezeichnet wird, nämlich die Verteilung der Opfergaben an die Teilnehmer am Ritual, die erus, wie es im Umbrischen heißt. Konstitutiv für diesen Akt ist zunächst, dass die Gaben dadurch der sakralen Verwendung als Gaben an die Götter dadurch entzogen – profaniert – werden, dass sie auf den Boden gelegt werden, was in dieser Deutlich keit vor allem im etruskischen Text zum Ausdruck kommt. Funktional (!) entspricht also dem umbr. erus dirstu das etruskische celi šuθ. Die originäre Einheit der Gaben für Götter und Menschen wird aber im Umbrischen dadurch symbolisiert, dass für beide dasselbe Gerät skals als Behältnis oder Untersatz dienen kann; der etruskische Text macht hierzu leider keine An gabe. Wie das römische, so kennt auch das umbrische Opfer die Unterscheidung von exta – Fleisch für die Götter – und viscera – Fleisch für die Menschen. Die doppelte Aufforderung in den Ritualen für flere in crapsti Kol. IV bzw. aiser sic seuc Kol. V lässt vermuten, dass dies auch im Etruskischen so gewesen sein könnte; denkbar wäre aber auch, dass nach dem Haupt opfer

41 Nach Van der Meer 2007, 65 ‚oil‘, nach Steinbauer 1999, 420f. ‚Libation‘. Allerdings ist einem Gebetstext die Be-zeichnung der Opfergabe durch einen abstrakten Begriff wenig wahrscheinlich; eher ist ihre konkrete Angabe (‚Milch‘ o.ä.) zu erwarten. Für den flüssigen Charakter von faśe spricht jedenfalls die auf einem Askos (Sp 2.36 Mitte 4. Jh.) zu lesende Aufschrift mi faśena tataś tulaluś – ‚ich bin das Faśe-Gefäß des T.T.‘ (zur Bildung vgl. θina ‚Wassergefäß‘ zu θi, vgl. Steinbauer 1999, 488), da ein Askos mit seinem engen Hals sich kaum zur Auf-nahme von Brei eignet. Fraglich wird allerdings diese Interpretation, wenn faśle (Col. II 3, V 2; Po 4.3 – dort auf einem Cippus) als Diminutiv zu faśe aufgefasst wird (so van der Meer l.c.) – zu einem Masse-nomen erwartet man keine Diminutivbildung, letztere ließe eher auf ein festes Objekt schließen. Könnte sich die Bedeutung von faśe gewandelt haben oder im LL als pars pro toto stehen? An unblutigen Opfergaben sind in Rom Speltschrot (mola salsa), Brei (puls), Kuchen (strues, fertum), Milch und Wein bezeugt, außerdem Bohnen, Käse, Früchte und Ho-nig, vgl. Wissowa 1912, 411.

42 Vgl. van der Meer 2007, 68.

173Umbrische Kulte im Liber Linteus?

nur die estra alφaza – ganz offensichtlich kein Bestandteil des Opfertieres – abgelegt wird. In diesem Falle hätten die Etrusker das Opfer als Holokaust-Opfer dargebracht, wenigs tens, was das Opfertier angeht.

Die Sacnica der Cilθ wirkt also unter den gleichen Voraussetzungen wie die Atiedische Brüderschaft; ihr Kultudienst scheint in ähnlicher Weise organisiert und ist in ähnlicher Weise beschrieben. Schließlich stimmt der Ritus – wenn die Interpretation des Aktes celi šuθ ‚lege auf die Erde‘ zutrifft – in einem recht neben-sächlichen Detail überein, dem zweimaligen Verteilen des Opferrestes an die erus. Genügt dies, um vom „Umbrischen im Liber Linteus“ zu sprechen?

Neben der gleichartigen Organisation des Opferdienstes und der Parallelität im Ablauf des Opfers mag noch ein weiterer Aspekt bedacht werden. Von uni, der das letzte Ritual im Liber Linteus gilt, abgesehen, werden in den erhaltenen Partien ansonsten nur Götter erwähnt, die – so wie neθuns – in der kultischen Ver-ehrung in Etrurien nur eine marginale Rolle spielen, oder aber wie vetis allenfalls in der Theologie der Ha-ruspizes, oder schließlich völlig unbekannt sind wie flere in crapsti, veive und die aiser sic seuc. Vielleicht wurden sie aber auch in Etrurien sonst unter anderem Namen verehrt. Das mag besonders für die beiden letztgenannten gelten, in denen die Entsprechung des römischen Göttinnenpaares Ceres und Tellus gesehen werden kann43. Das Opfertier für Ceres ist in Rom das Schwein; somit könnte zusle, das außer für neθuns auch für die aiser sic seuc geopfert wird, als Schwein zu interpretieren sein. Hier ergibt sich freilich auch ein gravierender Unterschied zu den Iguvinischen Tafeln. Der ökonomische Hintergrund, vor dem die im Liber Linteus beschriebenen Opfer vollzogen wurden, muss offen bar recht karg gewesen sein. Im Höchstfall werden fünf zusle – Schweine – geschlachtet. Man halte daneben die 24 Tiere, die in Iguvium für das Piaculum, oder die 12 Tiere, die für die Lustratio aufgeboten werden! Abgesehen davon atmet der Liber Linteus auch in Bezug auf das Pantheon durchaus italischen (umbrischen) Geist. Wie immer man sich seine Entstehung vorzu-stellen hat, er zeugt von einer kulturellen und religiösen Offenheit, die seit jeher Kennzeichen der etruskischen Kultur war44.

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43 Für die kultische Verehrung der aiser sic seuc im LL sind folgende Merkmale charakteristisch: zweifache Ausfüh-rung des Ritu-als: Jahresanfang (?) [col. II], Frühling [col. V], die Opferung von fase und zusle (Tier) beim ersten Ritual, keine Opferung von Wein. Die Opfer für Ceres und Tellus in Rom finden an 2 Tagen im Januar sowie am 15. bzw. 19. April statt. Im Januar wird „der Tellus eine trächtige Sau geschlachtet …, während am zweiten [Tag] Ceres ein Speltopfer erhielt“ (Wissowa 1912, 193).

44 Zum wechselseitigen Einfluss von etruskischer und umbrischer Religion vgl. auch Van der Meer 1997 passim.

Gerhard Meiser174

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