»Jungfrauen - Witwen – Verheiratete«: Vom Aufstieg und Untergang einer Redefigur des Sozialen

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VEROFFENTLI CHUNGENDES MAX-PLANCK-INSTITUTS FOR GESCHICHTE

145

Kulturelle Reformation

Sinnformationen im Umbruch1400-1600

Herausgegebenvon

Bernhard.1ussenun

Craig Koslofsky;:::=-

VANDENHOECK & RUPRECHTGOT TI N GEN . 1999

Inhalt

Eine Vo rbemerkung zur Arbeitsweise ... 9

Die Deutsche Bibliorhek - CIP-Einheitsaufnahme

Kulturelle Reformation:Sinnfor matione n im Um bruch 1400-1600 I

hrsg. von Bernhard Jussen und Cra ig Koslofsky. ­Go rringen : Vandenhoeck und Rupr echt , 1999

(Veroffentlichungen des Max-Planck-Institut s fur Geschichte; 145)ISBN 3-525-35460-6

© 1999, Vand enho eck & Ruprecht in Got ringen. Printed in Germ any.Aile Rechte vorbehalten. Das Werk einschlieBlich aller seiner T eile ist urheberrechtlichgeschurzr. Jede Verwertu ng aullerhalb der engen Gre nzen des Urheberechtsgesetzes ist ohneZustimmung des Verlages unzulassig und stta fbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfalrigun­gen, Obersetzungen, M ikroverfilm ungen und die Einspeicherung und Verarbeitun g in

elektronischen Systemen .Gesamtherstellung: Hubert & Co., Go tringen

-Kulturelle Reformation- und der Blick auf die Sinnformationen:Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

1. D er Blick auf die Sinnforma tionen, Bernhard ]ussen . 132. -Kulturelle Reformation- und die reformationsgeschich tliche

Forschung, Craig Ko slofsky . . . . . . . . . . . . . . . . . 183. Epochen-Imaginationen: -Reformation-, -Mittelalter«, -Sy­

stembruch- und einige Relikte des strukturalen Blicks,Bernhard ]ussen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

1. -Andacht- und -Gebarde-D as religiose Ausdrucksverhalten, Thomas Lentes 29

1. Vom heiligen Text zum Textverstehen . . . . . 332. Die Folgen des Verstehens fur das Zahl en von Fromrn igkeits-

akten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413. Vom Bildgedachtnis zum Schriftged achtnis . . . . . . . 454. Vom Korper zur Schrift und zum moralischen H andeln 54

2. »Gedanken, Herz und Sinn-Di e U nterdriickung der religio sen Emotionen,Susan C. Karant-Nunn . . 69

1. >Affektive Fro mmigkeit- . . . . . . . . 692. Sakrale Gegenstande im Kirchenraum 753. Predigt. . 804. Taufe . . . 815. Hochzeit. 836. Abendmahl 847. Letz te Olung und die Bestattun g der Toten 878. Beherrsch te Prornmigkeit : E inige Fragen . . 91

6 Inhalt Inhalt 7

3. >] ungfrauen< - >W itwen< - -Verheiratete-

Das Ende der Konsensformel moralischer Ordnung,Bernhard ]ussen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

1. Die moralische Einteilung der Gesellsch aft und das Ende des-Mittelalters« Leitfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

2. Der Standard moralischer Rede im Mittelalter: Zum BeispielCaesarius von Aries. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

3. Die Teilung der Gerechten: Hieronymus ordnet dasJenseits . 1064. Das Lohnschema fehlt : Bernhard von Clairvaux . . . . . . . . 1115. Das Loh nschema wird ange griffen: Meister Eckhart . . . . . 1166. Das Lohnschema wird umgedeutet: Vom Gesellschaftsmodell

zur Ordnung der Frauen . . . 1217. Eine Sinnfigur verschwindet. . . . . . . 126

4. -Rechte Arrne- und -Bettler Orden-

Eine neue Sicht der Armut und die Delegitimierung der Bette l-monche, Christopher Ock er . 129

1. »Von Bettlern- . 1302. Differenzierung. 1413. Reformation . . . 145

5. -H elfer- und .G espenster-

Die Toten und der Tauschhandel mit den Lebenden,Mireille Othenin- Girard . . . . 159

1. Der Dank der Toten . . . . . . 1592. Die Forderungen derToten . . 1753. Die Anonymisierung der Toten 1784. Die Problematisierung des Tauschhandels . 1825. Die Verdrangung der T oten . . . . . . . . . 186

6. -Pest- - >G ift<- -Ketzerei-

Konkurrierende Konzepte von Gemeinschaft und die Verlegungder FriedhOfe (Leip zig 1536), Craig Ko slofsky . . . . . . . . . . . 193

1. Die Leipziger Begrabniskontroverse von 1536. . . . . . . . . . 1932. Konkurrierende Vorstellungen von Gemeinwesen und Gemein -

schaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1993. De r Ausschluf der Toten aus der Gemeinsch aft mit den Le-

benden 206

7. -Abbild , und -Marter -

Das Bild des Gekreuzigten und die stadtische Strafgewalt,Valentin Groebner. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

1. Ambivalente Empfindungen: Die Bilde r und ihre Betrachter . . 2112. Inszenierungen : Christus als D elinquent und die obrigkeitliche

Gewalt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2193. Inszenierungsprobleme: Doppelte Codierungen . 2254. Bedrohliche Imitation 2305. Bewegte Bilde r . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

8. -Ehrlicher Totschlag- - -Rache- - -Notwehr-Zwischen mannlichem Ehrencode und dem Primat des Stadtfrie-dens (Zurich 1376-1 600), Susanne PoM . . . . . . 239

1. Ehrliche Gewalt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2392. Ratsgericht und au6erger ichtliche Vergeltung . . . . . . . . 2463. D ie Selbstdarstellung der T ater und der ehrliche Totschlag 2524. Der unehrliche Totschlag . . . . . . . . . . . . . . 2595. D ie T otschlagssatzungen des Rates 1480-ca. 1539 . . . . . 2636. Vergeltung durch da s Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . 2687. Stad tische Tugenden, Notwehr und die neuen theologischen

Lehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

9. -K irchenbru ch- und -lose Rotten-

Gewalt, Recht und Reformation (Stralsund 1525) ,Norbert Schnitz ler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

1. -Bildersturm- als Medium innerstadtischer Konflikte . 2852. Ein Fall fur die Gesellschaftsgeschichte? . 2893. T ater , Akteure, Gruppenbildung . . . . . . . . . . . . 2944. Konfliktfelder - Krisensituationen . . . . . . . . . . . 3005. D er -Kirchenbruch- vor Gericht: Das Zeugenver hor von 1529 307

10. -M agie- - -Zauberei- - -H exerei-

Bildmedien und kultureller Wandel, Charles Z ika . . . . . . . . . 317

1. D ie Welt der Volksmagie und des Zauberglaubens : Die Vint­ler-Holzschnitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324

2. Die Molitor-Holzschnitte und der Wandel des Zauberglau-bens im spaten 15. Jahrhundert 341

8 Inh alt

3. Uberreste und Wandlungen des Za uberglaubens in D arstellun-gen des 16. J ahrhunder ts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364

Abbildungsnac hweise

Uber die Autoren

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387

MPITEL 3>J ungfr auen< - >W itwen< - -Ver heir atete-

Das E n d e d er Konsensformel moralischer Ordnung

Bernhard ]ussen

1. Die moralische Einteilung der Gesell schaft und

das E nd e des -M ittelalters« Leitfragen

1m Zentrum dieses Buch es, das - versuchsweise - den Epochenbegriff -Re­form ation- von der Ereignisgeschichte der 1520er J ahre losen will, steht einemethodische H ypothese: Wenn Gesellschaften d ie Prin zipien ihrer sozialenOrdnung in kulturspezifischen Ausdrucksweisen speichem , dann muG sichkulture ller Wa ndel im Wa ndel dieser Ausdruckswe isen untersuchen lassen.Solche Uberlegungen find et man zwar als theoretische seit langem hier unddort in der Geschichtswissensch aft, doch in der empirischen Arbeit miissensie ihren Nutzen erst noch unter Beweis stellen. Sie miissen ihn erweisen inder Ausein andersetzung mit einer etablier ten und durch viele empirische Ar­beiten gestiitz ten Deutung, die mit dem Stichwort -Reforrnation- einen »Sy­stembruc h« auf den Begriff bringt. D as System, da s mit der Reformation alsgebrochen gilt, heiGt seit dem spa ten 17.J ahrhundert -Mittelalter-, und spa­testens seit dem 19.Jahrhundert hat sich die Auffassung durchgesetzt, daG eswesenha ft »organisch« ode r »gradualistisch« sei.'

Phanornenologisch ist in der T at nicht zu iiberseh en, daG mittelalterlicheAutoren und manchmal Autorinnen (wie H ildegard von Bingen ) auffallendhaufig von Modellen gradueller Abstufung Gebrauch machten. Dies verwun­dert nicht in einer Kultur, die aus der antiken romischen Welt das Ordo­und Ko smo sdenken geerbt hat. Augustin hat den Histo rikern einen Merk­satz hinterlassen, der gem als locus classicus fiir dieses Denken zitiert wird:

1 Vgl. dazu ausfuhrlicher oben Teil 1 und 3 der Einleitung. Die in diesem Kapitel vorgestellteSkizze entwickle ich ausfiihrlich in den Kapiteln 2 und 3 einer Monograph ie zur Denkfigur,Witwe< im Mittelalter (Veroffentlichungen des Max-Planck-Instituts fur Geschichte), Gott in­gen (2000).

98 3. 'J ungfrauen< - ,Witwen< - -Verheiratete- Die moralische Ein teilung del' Gesellschaft 99

»Ordo ist die Anordnung gleicher und ungleicher D inge, bei del' jed em ein­zelnen del' ihm zu kommende Ort angewiesen wird.«2 Anders gesagt: In ei­nem von Gott geordneten sinnvollen U ber- und Untereina nder aller Berufs­und Lebensformen findet aile Ungleichhei t ihre Einheit. :' D iese Art del' Ver­schrankung vo n Moral-, Gesellschafts- und Erkenntnis lehre gilt gemeinhinals sign ifikant fiir d ie mittelalterliche Konstruktion del' We lt , und es ist wo hld ies, was mit Wendungen wie -Gradualismus- gesagt werden solI. Wo Leit­bilder und Ordnungsprinzipien mittelalterlicher Autoren untersuch t werden,ist die Vorstellung von ordo im Sinne Augustins nie weit ."

O bgleich diese wissenschaftl iche Sichtweise inzwischen durchaus pop ularist , gilt das Interesse zumeist einem stets gleiche n Ausschn itt del' mitte lalter­lichen De nkformen des Sozialen. Viele Untersuchu nge n gibt es tiber dieDreiteilung del' Gesellscha ft in -Kleriker - Monche - Laien- oder in -Beter ­Arbeiter - Krieger-. Augenscheinlich dienten d iese Einteilungen dazu, »dieFeudalgese llschaft zu beschreiben und zu begriinden«, und eben desh alb er­freuen sie sich des Interesses del' H istoriker. f Ausgiebig befalit sich die Me ­diavistik damit, mit welche n Formeln Autoren im 5., 10. oder 13. Jahrhun­dert di e O rganisationsweisen ihrer Gesellschaft erfallt hab en. We nig Inter­esse finden hingegen Form ulierungen zu r moralischen Klassifizierung del'Gesellschaft. Di ese Einseitigkeit erweist sich zumindest dann als Nachteil,wenn - wie in diesem Buch - eine Transformation gedeutet werde n soli, d iesich wei tgehend in Form einer religio sen Auseinandersetzung vo llzogen hat.WeI' die Dreiteilung -M onche - Kleriker - Laie n- nicht un terscheidet von del'Dreitei lung ~Jungfrauen - W itwe n - Verhe iratete-, kommt moralisch en Klas-

2 Vgl. Augustinus, De civita te dei 19, 13 (S.Au relii Augustini episcop i opera 5.2, ed. E. HOFF­MANN, CSEL 40/2, Prag -Wien-Leipzig 1900, S. 395): Ordo est parium dispariumque rerum sua

euique loca tribuens dispositio .3 Die verschiede nen Deutungsschem at a und ihre n Bezug W I' soz ialen Wirklichkeit sowie die

Probleme des geschichtswissenschaftlichen Um gangs mit ihnen hat Orro G ERHARD OEXLE inmehreren Arbeiten behandelt; vgl. bes. DERS., Deutungsschemata del' soz ialen Wirk lichkeit imfriihen und hohen Mittelalter. Ein Beitrag WI' Geschichte des Wissens, in: Ment alitaten im Mit­telalter . Methodische und inha ltliche Probleme, hg. von F. GRAUS (Vortrage und Forschungen35), Sigmarin gen 1987, S.65-11 7.

4 Vgl. etwa , urn ein bekann tes Beispiel zu nennen, H EI NRI CH FICHTENAU, Lebensordnungendes 10.Jahrhunderts (Monographi en WI' Geschichte des Mittelalters 30) 2 Bde., Stuttgart 1984,del' einen von sechs Tei len dem Leitbild ordo widm et, zudem die Band e mit einem Kapitel »O rd­nun g als Rangordnung« beginnen lallt.

5 Zitat von G ENEVI EVE HASENOHR, La vie quotidienn e de la femme vue par l'eglise: l'enseigne­ment des -journees chre tiennes- de la fin du moyen age, in: frau und spa tmittelalterlicher Alitag.Kon greflband Krem s 1984 (Veroffent lichun gen des Institu ts Fiir mitte lalterli che RealienkundeOsterreichs 9) Wien 1986, S. 19-1 01, hier S. 21.

sifizierungen nicht auf die Spur . Damit abel' vers tellt man sich einen erfolg­vers prechende n Weg zum Phanomen -Reformation ..

Dieses Ka pite l beha nde lt eine Formel zur moralischen Einteilung del' Ge­sellschaft, die zw ischen dem 5. und 13.J ahrhund ert di e Sprache del' Moralbeherrscht hat . Es geht urn eine Ein teilung del' Me nschen in drei Leistungs­klasse n, die im Jenseits einen gestaffelten 100-, 60 - und 30fachen Loh n er­warten durften: >J ungfrauen - W itwe n - Verheiratete-. D ieses am jenseitigenLo hn orientierte Gesellscha ftsmode ll ka nn als Paradigma mo ra lischer Red eim Mi ttela lter ge!ten. In den Zei ten unan gefochtener kirchli cher Definitions ­macht war diese Formel das beherrschende Muster, urn die moralische Ord­nung del' Gesellschaft auszudriicken, Di e Forme! mag desh alb geeignet sein,urn jen es Denken in Graden exemplarisch zu beobach ten, das mit Wissen­schaftsbegriffen wie -G radualismus- umschrieben werden solI.

Urn das -epochale- d iesel' Argumenta tio nsfigur zu erfasssen, ist es unum­ganglich, zunachs t bis zu m Anfang jener Ze itspanne zuriickzuschreiten, diewir -M ittelalter- nennen. Eine Skizze anhand weniger Schliisseltex te reichtaus, urn das Argume nt zu verde utlic hen. Was eige ntlich ist in diesel' Red efi­gur von den >J ungfrauen - Witwen - Verheira te ten- kodiert wo rde n? Wor­iiber vers ta nd igte man sich mit diesel' Forme! und welches Wissen setz te je­del' Prediger voraus, del' sie verwende te (Absc hnitt 2 dieses Ka pite!s) ? Diesist am besten zu klaren mit einem Blick weit zuriick in die Spa tantike, zuni ckauf jene Auseinandersetzungen, in denen die Argumentationsfigur ers tma lswirkungsvoll eingesetzt worden ist (Abschnitt 3). Erst nach diesem Riick­blick werden ausfiihrlicher die Jahrhunderte vor dem Auftri tt Luthers undseiner M its trei ter befragt (Abschnitte 4 bis 7).

Wie also so li ma n sich vorstellen, daB diese Erne uerer del' 1520er J ah re ra­di kal brachen mit einem Denken in Stufen und Graden, dasJahrhund erte altwar und gerade das ausmachen so li, was wir -M ittelalter- nennen ? Als Ein­stieg in die Problemstellung mag es niitzl ich sein, zunachst die zentralen H e­terodoxien des durch sch nittlichen Reformato rs ins Auge zu fassen:

»Er sagt, daBJ ungfrauen, Witwen und Verheira tete, wen n sie einmal in Christus ge­reinigt sind und sich nicht in anderen D inge n unterscheiden, denselben Lohn erh al­ten. Er versucht zu bewei sen, d aB die, die in del' Taufe voll des G laubens wiedergebo­ren sind, vom Teufel nicht rnehr unterworfen werde n konnen, Drittens schlagt er VOl',daB kein Unterschied sei zwischen del' dankbaren Anna hme del' Nahnmg und Fasten.Viertens und besonders extrem: Aile, die ihre Taufe bewah rt haben, erhalten im Him­melreich denselben Lohn.e"

• Ziti ert unten Anm. 16.

100 3. >] ungfrauen<- >Witwen<- -Verheiratete- Die mo rali sche Einteilung der Gesellscha ft 101

Hier spricht zweifellos ein orthodoxer Vertreter des Kathol ischen iiber einenKetzer . Und es ist kein Geheimni s, da G die orthodoxen Vertre ter die Gefahrder neuen Lehre sehr schnell erkannt haben und auch auf den Begriff zubringen wuliten. Sie erkannten die ande re Qualit at dieser H eterodoxie imVergleich zu allen iibri gen abweichen den Meinungen , die man bis dahin ver­urteilt hatte. Eine weitere Stimm e:

»Andere H aretiker verstehen einige Arte n von Fragen tiber d ie gottlichen Institutio­nen faisch, weil sie sie aus dem Zusam men ha ng reilsen. .

Die neuen H aretiker aber zielten auf das Ganze :

»Sie fiigen den Rechtglaub igen Schade n zu, deuten die Zusa rnmenha nge des Neuenund des Alten Te staments in teufli scher Manier und stiirzen sie urn. Schon haben siebegonn en, nicht wenige Christen mit verfilhrerischen und erdichteten Rede n zu ver­derb en und ihrem Wahn sinn beizugesellen. . 7

Die beiden Verteidiger des Katholischen, die die Gefahr in dieser De utl ich­keit erkannten, lebten nicht im 16.Jahrhundert. Die letzten Bemerkungenstammen von Siricius, dem romischen Bischof von 384 bis 399. U nd die ersteAuGerung, die in wenigen Satzen das Skandalose der Lehre auf den Punktbrachte, sta mmte von seinem effektivsten M itstreiter , von Hieronymu s(t 419). D er gefahrliche M ann , gegen den die beiden sich wand ten, wa r Jovi­nian , ein rorni scher Asket. D ieser hatte die immer massivere Abwertung derEhe, das allgegenwa rtige Lob der jungfraulichkeit und der entha ltsa menWitwe als ein »neues D ogma gegen die Natur« gebra ndmarkt. J ovinian hatteseine Meinung schri ftlich verbrei tet und dadurch eine hektische Aktivita t aufd iszip linari scher wie auf pamphlet ischer Ebene ausgelost, In wenigen J ahrenhatten die Orthodoxen das Problem erled igt, die Part ei des romi schen Bi­schofs konnte einen vollko mmenen Sieg feiern. Jovinians Auft ritt auf der hi­storischen Biihne war denkbar kurz, seine Schriften sind nicht erha lten. Eswaren die seinerz eit besten Theoretiker der Orthodoxen, die jedes einzelneArg ument Jovinians »im Na hkarnpf- (Hieronymu s) zunichte gemacht haben :Hieronymu s, Ambrosius, Augustin."

Was diese Episode interessant macht fur eine D eutung der grolien Trans ­formationen des 15. und 16. Jahrhunderts, ist nicht die augenscheinlicheAhnlichkeit zwischen den Auffassun gen Jovinians und derjenigen der Den­ker vom Schlage Luthers mehr als tausend Jahre sparer. Wenn eine Deutung

7 Zit. Anm. 19.8 H ieronymus, Adversus Jovinianu m 1,4 1, ed. J.P. MIGNE, Pa tro logia Lat ina 23, S.2 82: no­

uum dogma contra naturam religio nostra prodiderit; H ieron ymus, Ep, 49,2, ed . ISlDOR H ILBERG(CSEL 54) Wien-Leipzig 1910, S. 352: dum contra l ouinianum presso gradu pugno .

der reli giosen Um walzungen des 16.Jahrhunderts sich auf die Vera nderungkulturell dominierender D enkformen kon zentriert, zieht sie nur einen ind i­rekten Nutze n aus der Such e nach den »Reformatoren vor der Reforma­tion«," nach dem »ersten Protestanten«, den manch einer in Jovinian gefun­den hat 10 ode r nach der »Geschichte der T hese, daG der Gl aub e allein,rechtfertige und selig mach e«.!! Es geht weniger urn eine Ge schichte solcherIdeen, als eher darum, wie solche Ideen in bestimmten Zeiten zu marginalen,in anderen zu zen tra len Elementen gesellschaftlicher Auseinanderse tzungenwurden. Und besonders geht es urn den Zusa mmenha ng von Ideen und derArt und Weise, sie ausz udriicken. Die Episode urn Jovinian ist fur die Frage­stellung dieses Buches interessant, weil die Gegner Jovinians im Kampf ge­gen seine Lehren einen Vorrat an Redefiguren und Bildern de s Sozi alen, anexempla und an assoziativen Verkniipfungen geschaffen haben, der sich mithohem Tempo verbreitet hat und fur fast ein Jahrtausend als Wortschatz dermoralischen Ordnung gehandelt wurde. D ie Wortfuhrer jener Gruppe, dieurn 400 ihre Position als rec htglaubig durchsetzen konnte, haben ins Zen­trum diese s neuen Wortschatzes die Formel von den >]ungfrauen - Witwen ­Verheirateten- gestellt. Diese Formel brachte wie keine andere im Mittelalterdie Kategorien moralischer Unterscheidung auf den Begriff. Natiirlich warsie nicht die einz ige, aber sie war eine beherrschend e Ausdrucksweise mora­lischer Di stin kti on (also: sozialer Achtung und MiGachtung). Die Dreitei­lung >Jungfrauen - Witwen - Verhe ira te te- reprasentier te in einer denkbarkurzen Form eine Gesellsch aftslehre, fUr deren Gebrauch man im Mittelalterbeliebig viele Beispiele zusammentragen konnte, Sie ist urn 400 entw orfenworden und war schon sehr bald rhetorischer Standard.

Jene Ereignisse, die wir als -Reformation- bezeichnen, bed eut eten zu ei­nem Gutteil d ie vollstand ige Beseiti gun g gerade jener Prinzipien soz ialerAchtung und MiGachtung, die im Schema der 'J ungfrauen - Witwen - Ver­heirateten- ihren stereotypen Ausdruck gefunden hatten. Doch wer die Ge­schichte des Schemas verfolgt, wird bem erken, daG diese Kurzformel mittel­alterl icher Gesellscha ftslehre langst ihren Sinn verioren hatte, als die promi­nenten Kirchenrebellen die Biihne betraten. Seit dem 12.Jahrhundert began­nen zunachst sehr wenige, dann immer mehr Autoren, sich aus ganz unter-

9 CARL ULLMANN, Reformatoren vor der Reformation, vornehmlich in Deutschland und denNieder landen, 2. Auflage Gotha 1866.

10 WILHELM HALLER, Iovinian us. D ie Fragmente seiner Schriften, die Qu ellen zu seiner Ge­schichte, sein Leben und seine Lehre (Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchris tli­chen Literatur 17.1) Leipzig 1897, Einle itung (ohne Paginierun g).

11 So ADOLFVON H ARNACK, Geschichte der Lehre von der Seligke it allein durch den Glaubenin der alten Kirche, in: Zeitschrift fUrTheologie und Kirc he 1, 1891, S. 82- 178, da s Zitat S. 127.

102 3. 'Jungfrauen<- ,Witwen<- -Verheiratete- Der Standard moralischer Rede 1(

schied liche n Motiven und mit sehr un terschi edli ch en Ko nsequenzen von d ie­sem sprachlichen Sta ndard abzuwenden - bis diese Argumenta tio nsfigurschlieli lich kein Standard mehr war und, wo sie denn och aufta uchte, einenvo llig neuen Sinn hatte. Scho n im 12.Jahrhund ert schwand hier und da dieSelbstve rs ta ndlichke it, mit der man bislang auf eine festge fiigte Sprache mo­ral ischer U nterscheidung zu riickg re ifen kon nte. Bisweilen , bei Bernhard vo nClairva ux etwa (Absc hnitt 4) oder M eister Eckhart (Absc hn itt 5), fehlt di ealte Rhetorik mo ralischer Ordnung vollig. Eine Wirkung di eser Abstinenzauf die Sprache ihrer Nachfolger ist Freilich nicht zu er ke nne n. W ichtiger istdie Beobachtung, daf zwar d ie weita us meisten Predi ger di e alte Red efigurvon den 'Jungfrauen - W itwe n - Verheirateten- wei terhin verwendeten, aberseit dem 13.Jah rhundert unm erklich - und wohl unwillentlich - umdeuteten ,so da6 der mittelalterli che Sinn nicht mehr tran sporti ert wu rde (Ab schnitt6). An solehen Pred igten la6t sich die D ekomposit ion eines begrifflichen Ap­parat es beob achten, der vom 5. bis etwa zum 13. J ahrhundert die moralischeO rdnung und ihre Prinzip ien ausgedriickt, legitimiert und perpetuiert hatte(Abschnitt 2). N atiirlich haben die Prediger in vielem immer noch kaum an­ders gesprochen, als wir es bei Hieronymus beob achten konnen (Abschnitt3). Aber sie hatten nicht meh r jene immer gleiche Sprach e, di e eine festge­filgte moralische We lt von Ge nera tion zu G eneration harte vermitteln kon­nen.

W ie also gera t eine sema ntische Anordn ung durchein ander, mit de r G ene­rat ionen von Predi gern gea rbeitet hatten und die iiber J ah rh underte bestensgee igne t war, urn d ie religiosen Praktiken und die pol itisch-sozi ale Ordnungbegriffl ich zu fassen und zu legitimieren? Man wird vielleicht zunachs t anPhanornene wie d ie H erau sforderung du rch die hofische Kultur im hoh enM ittelalte r denken , an jenen oft in den Blick gen ommenen Gegensatz zw i­schen dem christl iche n Keuschheit sideal und der Fr auenverehrung hofi sch ­ritterliche r D ichtung. V In der Tat diirfte der Blick auf so lehe T exte, die dasAufk ommen konkurrierender Di skurse markieren , einen Teil der Antwortbereit stellen. Doch subtile Einsichten in die Auflosung des mittelalt erli chenStandards mo ralischer Red e gewahren weni ger solehe konkurrierenden Di s­kurse als eher di e Predi gten und Sermones selb st.

12 Vgl. die Skizze bei J OACHIM BUMKE, Hofis che Kultur. Literat ur und Ge sellschaft im hoh en

M ittelalter 2, Miinchen 1986 S. 454 ff.

2. Der Standard mo ral isch er Rede im Mitte1alter:Zum Beispiel Caesarius von Arles

Ein besonders deutliches Beispiel hat Caesarius von Aries (t 543) in einP redi gt hinterl assen , in der er die moralischen U nterweisungen in einKlass ifikation seiner Zuhorer gipfe ln lie6:

»In der ka tholischen Kirche gibt es drei professiones , Es sind dies die der Jungfrauedie der Witwen und die der Verheiratete n. D ie Jungfrauen erarbeiten das 100faddie Witwen das 60fache, die Verheirateten das 30fache.«

D ann verba nd er seine Klassifikation mit demJenseits:

»Der [alius] eine schafft mehr, der andere weniger. Aber aile sind aufgehoben in dhimmlischen Scheune und geniellen die ewige Gliickseligkeit. D ie Jungfrauen solian Maria denken, die Witwen sollen Anna betrachten und die Verheirateten SusanrD ie Reinheit dieser Fra uen sollen sie in dieser Welt imitieren, damit sie in der Ewikeit verdienen, mit ihnen vereint zu werden.«13

Schlie61ich bildete er auch im J enseits Klasse n:

»Denn die guten Jungfrauen . . . sind vereint mit der heiligen Maria und dem ubrig.Heer der Ju ngfrauen. D ie guten Witwen .. . sind vereint mit der seeligen Anna UI

vielen tausenden Witwen. Die Ver heirateten aber . . . verdienen, mit dem heiligen Joder heiligen Sara h und der heiligen Susann a, den Patriarchen und Propheten gliickslig vereint zu werden . . 14

Was Caesarius pred igte, waren zu seiner Ze it bereits Sta ndardverkniiphngen von sozialen Klass ifika tio ne n mit Schriftz ita ten, von sozialen Klass:und historisch-mythisch en Exempla, von diesseitiger Lebensweise und je:seitige r Vergiitung (remuneratio), von einem aktuellen sta ndischen typus ur

seiner biblisch en praefiguratio. D as Schema der weiblichen Figuren solibeid e Geschlechter mo ralisch konzeptualisieren - aile pro/e ssiones der eccl

13 Caesarius von Arles, Sermo 6,7, hg. von M ARI E-JOSE DELAGE (Sources Chret icnne s 17Pa ris 1971, S. 332 : Tres enim professiones sunt in sancta ecclesia catholica : sunt v irgines, sunt v idu

sunt etiam coniugati . Virgines exhibent centesimum, v iduae sex agesimum, coniugati vera. trigesimuAlius quidem exhibet amplius, aliu s minus; sed omnes in caelesti horreo reconduntur, et aeterna bea

tudine/eliciter perfruuntur. Vi rgines ergo cogitantesMariam, v iduae considerantesAnnam, marita,vera. Susan nam, imitentur illarum casti tatem in hoc saeculo, ut illis coniungi vel sociari mereanturaeternum .

14 Ebd.: Bonae enim v irgines [. . .Jsanctae Mariae cum reliquo exercitu v irginum sociantur. Enae v iduae [. .. J cum ipsa sancta Anna sociantur multi s milibus u iduarum. Co niugati vera. [.sancto l ob, sanctae Sarrae v el sanctae Susannae cum patriarchis et prophetis merebuntur fe liciter !

ciari .

104 3. >] ungfrauen<- ,Witwen<- -Verheira tete- Der Standard moralischer Rede 105

sia. Caesarius redete iiber weibliche Figuren, Jungfrauen und Witwen, urn sieim nachsten Satz mit der maskulinen Form alius-alius zu unterscheiden. Under vollendete die Dreiteilung von v irgines und v iduae mit einer maskulinenForm coniugati . M anche Abschreiber der Predigt haben dies in die weiblicheForm verbessert.

Sucht man die Anfange dies es Standards, so fiihrt eine uniibersehbareFahrte zunick bis in die letzen Jahrzehnte des 4.Jahrhunderts, urn dann zuvers chwinden. Die Christen der ersten vier Jahrhunderte bis in die 380er Jah­re hinein kannten diesen Wortschatz nicht. E ine Gestalt wie T ertullian(t 202) hatte seine Fahigkeiten eingesetzt, urn von der Einheit der Kirche zureden, urn wortreich und bildreich die Sunder von den G erechten zu unter­scheiden, die Verachter von den Verehrern. Eine Sprache fur die moralischeUnterscheidung der G erechten untereinander war augenscheinlich nicht seindringlichstes Problem. Jiingere Zeitgenossen wie Origenes (t 254) und Cy­prian (t 258), aber auch altere wie Ireneus von Lyon (tea. 196/8) oder Cle­mens von Alexandrien rt ca. 215) operierten in ihren Texten deutlicher alsTertullian mit Redeweisen, die durchaus eine Sorge urn die inneren Unter­schiede der Gerechten erkennen lassen. Doch der Zitatenschatz, der sich ausihren Schriften zusammentragen laEt, ist klein , vage und unstrukturiert.Nicht in Ansatzen laEt er erahnen, was gegen 400 aus dies en Denkansatzenund Argumentationsweisen werden sollte. Die Sprache entstand erst in derAuseinandersetzung zwischen jenen, die ihre Auffassung urn 400 als ortho­doxe Lehre durchsetzen konnten, und einer weit verbreiteten H altung, dieheute nurmehr inwenigen Figuren wie dem Romer Helvidius und besondersJovinian greifbar ist. 15

Jovinian hatte sich dagegen gewehrt, die verschiedenen Lebensformen derChristen moralisch zu differenzieren. Statt des sen wollte er die Erlosung al­lein an die T aufe und den Glauben binden.l " Da er »ziernlich viele Asketin­nen « zur Heirat bewogen hat, war das Unruhepotential dieser Lehre nichtzu iibersehen.' ? Jovinian hatte an einer Reihe von Zeugnissen aus der he ili­gen Schrift gezeigt, daE »Christus ohne einen Unterschied in allen ist, und

15 Ausfi ihrli ch vgl. J USSEN (wie Anm. I ) Ka p. 2.

16 Vgl. oben bei Anm. 6. Hieronymus, Adve rsus Jovinianum 1,3, ed .]. P. MIGNE P L 23, S.224:

Dicit, uirgines, uiduas, et maritatas, quae semel in christo lotae sun t, si non discrepent caeteris operi­

bus, eiusdem esse meriti. N ititur approbare eos, qui plena fide in baptismate renati sunt, a diabolonon posse subuerti. Tertium proponit, inter abstinentia m ciborum et cum gratiarum actioneperceptio­nem eorum, nullam essedistantia m. Quartum quod et ex tremum, esse omnium qui suum baptisma se­ruauerint , unam in regno coelorum remunerationem .

17 Zita tAnm.2 1.

also wir auch ohne Unterschied in Christus sind.«18 Fur die Verteidiger derkirchlichen Ordnung war dies nicht wie die iibrigen, langst alltaglichen dog­matischen Streitereien einfach eine falsche Lehre, sondern schlechterdingsder Gedanke eines »M onstrums« (Augustin), »verderbliches« und »primiti­ves Gelalle« (Ambrosius), »Erbrochenes« (Hieronymus), »U msturz« der Bi­bel (nov i et v eteris testamenti continentiam pervertere). 19

Die -U mstilrz ler-, di e in Wirklichkeit Traditionalisten gegen eine zuneh­mende Hierarchisierung des Heils waren.j" hatten einfache und eingangigeArgumente gegen die Idealisierung der Konzepte >W itwe< und >Jungfrau< :»Bist du also besser als Sarah, besser als Susanna und Hannar-." DerartigeAngriffe gegen das Lob der Ehelosigkeit trafen das gesamte System sozialerund institutioneller Distinktionen der noch jungen Kirchenorganisation.Denn deren Legitimation war, wenn auch noch nicht systematisiert, stets urndie Konzepte -Askese- und -jenseitiger Lohn- gruppiert. Jovinians Argumentezielten auf die Verhinderung der sich soeben formierenden kirchlichen Ord­nung, und gerade dies wurde von seinen aufgeschreckten Gegnern gebrand­markt.

»Alles ohne Unterschied durcheinanderwerfen zu wollen, die Grad e des Verschie­denartigen zu leugnen ... « ,

dies war fur Ambrosius der Kern der Lehre.V Nichts anderes hatte Hierony­mus aufgeschreckt:

18 Vgl. Hieron ym us, Adv. Jovin ianum 2, 19, ed . MI GNE PL 23 S. 327 f., Zita t S. 327 : Sicut ergo

sine aliqua differentia graduum Christus in nobis est; ita et nos in Christo sine gradibus sumus.19 Augus tinus, Retr act ationes 2,22, ed. ALMUT M UTZENBECHER (C orp us C hris tiano ru m Series

Latin a 57) T urn hout 1984 , S. 108: Huic monstro sancta ecclesia quae ibi est fidelissime acfortissimeresti tit. Ambrosius von M ail and, Ep . ext ra co llectio ne m 15 Siricio c.2, ed. MI CHAELA ZELZER

S. 303: Agrestis enim ululatus est . . . promiscue omnia ve lle confundere, diverso rum gradus abrogare;ebd. S. 302: suae fe ralique ululatu . Siri cius, Ep . 41a,4 div ersis epi scop is, ebd. S. 29 9: Namque cum

alii haeretici singula sibi genera quaestionum male intellegendo proposuerint conoellere atqu e concer­

pere de divinis institut ionibus, isti /. . .] novi et ve teris testamenti ut dixi continentiam pervertentes,spiritu diabolico in terpretantes illecebroso atque fic to sermone aliqu antos Christianos coeperunt iam

uastare atque suae dementiae sociare. H ieronymu s, Adv . Jovini anum 1,4 , ed . MIGNE P L 23 S. 225 :

Nee molestum lectori sit, si nauseam ejus et vom itum legere compellatur .20 Vgl. ausfilhrlicher P ETER BROWN, The Body and Society. Men, W ome n an Sexu al Renun­

cia tion in Early C hristanity, N ew Yo rk 1988, S. 359ff (dt. 36 5ff) .

21 So istJovini an von Au gustin zitier t (Re tractationes 2,2 2, ed . M UTZENBECHER, wie Anm. 19,

S.1 07) : Iouiniani haeresis sacrarum uirginu m meritum aequando pudicit iae coniugali tantum ualuitin urbe roma, ut nonn ullas etiam sancti monlales, de quarum pudicitia suspicio nulla praecesserat,deiecisse in nuptias diceretur, hoc maxime argumento cum eas urgeret dicens: tu ergo melior quam

Sarra, melior quam Susanna siue Anna ; ebenso ar gumentierte wenige J ah re zuvor Helvidius; zi­

tiert bei Hieronymus, Adversus Helvidium c. 18, ed. MIGNE P L 23, Sp, 212: Dicis: N unquid me­liores sunt virgines Abraham, Isaac, et Jacob, qui habuere coni ugia?

22 Wie Anm . 19.

106 3. ,J ungfrauen< - ,Witwen< - -Verheiratete- Die Tei lung der Gerechte n 107

"Wenn du die O rdnung des T abernake ls, des Te mpels, der Kirche aufhebst, [. .. Jsind dann die Bischofe unnotig, die Priester fur nichts, die Diakone ohne Sinn? Wasmachen die Jungfrauen? Was erdulden die Witwen, warurn sind die Verheiratetenentha ltsam?«23

3. Die Teilung der Gerechten: H ieronymus ordnet das Jenseits

In seiner Kampfschrift -G egen jovinian- ist Hieronymus mit grolier Sorgfaltgegen jedes einzelne Argument und jedes BibelzitatJovinians zu Felde gezo­gen, urn diesen fun damentalen Angriff auf die eben entstehende Ordnungde r Kirche abzuwehren . In dieser Schrift hat H ieronymus einen Fundus vonArgumenten, M ustern, Vorbilde rn und Typolog isierungen zusammenge­stellt, der in der Folge sehr schnell zum Sta ndard moralischer Argumentati­on wurde. Irn Zentrum stand die Differenzierung der guten Christen - M an ­ner wie Frauen - in drei Klassen : >J ungfrauen< , >W itwen<un d -Verheiratete-.H ieronymus rnulite diese Dreite ilung und seine ganze Argumentation aus ­fiihrlich und mit grolier Sorgfalt erklaren, denn sie war den Adressaten indieser Form ungewohnt. In den folgenden Jahrhunderten brauchte man dieArgumente nicht mehr unbed ingt zu elaborieren. Die von Hieronymus kre ­ierte Sprachfigur mit seinem ganzen Apparat an Argumenten war zu einerallgemein verstandlichen Abbreviatur geworden. H ieronymus aber muljtenoch alles explizieren, und dies macht es heutigen Lesern einfacher, d ieP rinz ipien zu erkennnen, die mit der Formel von den >J ungfrauen - Witwen- Verheirateten- verteid igt werden sollten. Drei Aspekte seiner Argumentati­onsweise miisse n kurz beleuc htet werden, urn deutlich zu machen, was vom13. bis zum 15.J ahrhunder t mit seiner Argumentation geschehen ist.

(1) Hieronymus grenzte die Ehe aus den heilswirksamen Lebensformenaus . Zw ar verwahrte er sich gegen den Vorwurf, » d a~ wir jeden Koi tu s fUrschweinisch ha lten«.24 Aber d ies war eine nur no tdilrftige Verteid igung ge­gen den Verdacht, die Ehe wie der Haretiker Mani zu verdammen. Die Eheblieb weit entfernt von einer ehrenvo llen Lebensform. Sie blieb »Geringeres«und »M ind eresv.P sogar Schmach. Ein Ar gument aus dem 2. Timotheus­brief, das die guten von den irrigen Lehren unterschied, rniinzte Hieronymusnun gegen die Verheirateten urn :

23 Hieronymus, Adversus J ovinianum 2,34, ed. M IG NE PL 23, S.34M: Si tollis ordinem taber­naculi, templi, Ecclesiae [. . .J nequi dquam episcopi, frustra presbyteri, sine causa diaconi sunt . Q uidperseve rant v irgines?quid laborant v iduae? cur maritae se continent?

24 Ebd. 1,3 S. 223: nee [. . .Jerrore decepti, omnem coitu m spurcum putamus.25 Ebd.: Q uando enim minora majoribus coaequatur, in/erior is comparatio, superioris inj uria est.

»In einem grollen H aus gibt es nicht nur go ldene und silberne Gefa£e, sondern auchholzerne und tonerne. Die einen werden in Ehre gehalten, die anderen inSchmach.v/"

Uber Seiten re ihte Hieronymus Schriftbeleg an Schriftbeleg, urn d ie unter­schie dliche Wertschatzung der drei gradus zu bewe isen Y D ie Lebe nsformder Ehe, darauf kam es ihm an, so llte nicht heilswirksam sein . H ieronymuslie~ sie als eine Form des »nicht Sun digens- ge!ten , nicht aber als »gutesHandeln-s.i " »Wehe den Schwangeren und Stillenden- stand in der Uberlie­ferung (Mt 24 , 19, Parr.), un d H ieronymus wuiite es zu nutzen :

»N icht die H uren und Dirnen werden hier verdammt, an deren Verdammung keinZweifel besteht , sondern die anschwellenden Bauche, das Quaken der Kinder, dieFriichte und Werke der Eheleute- .F"

Dies war eine G renzziehung mitten durch jene Gerechten, die sich bislangwenig Gedanken dariiber gemacht hatten, ob das H immelreich ungeteiltoder gete ilt sei.

(2) Die Abwertung der Ehe wa r Teil einer vie! umfassenderen Umdeutungder ecclesia. Zwar hatte auch zuvor schon der eine oder andere Christ in denKa tegorien >J ungfrauen<, >W itwen< und -Verheiratete- gedacht. Aber erstHieronymus verband diese Eintei lung mit de r Schriftstelle vom 100-, 60­und 30fache n Lohn im Jenseits. D ies war neu, und es war die Geburt desLohnschemas. Von nun an wurden d ie verschie de nen Lebensformen un ter­sch iedl ich belo hnt, von nun an wu rde soziale Achtung durch d ie Hohe dergo ttlichen »G egengabe- (remuneratio) ausge driickt, Es ging urn die Recht­fertigun g der Prinz.ipien kirc hlicher H ierarchie. H ieronymus verteidigte »dieOrdnung der Kirche- in Bischofe, Priester, D iakone, J ungfrauen, W itwenund so Forr' ", indem er eine Ordnung des J enseits einfiihrte. In dieser Weisewurde von nun an iiber J ahrhunderte ganz selbstverstandlich argumentiert.

(3) H inter all diesen Argumenten stand eine Vo rstellung, die Hieronymuseinmal, im zwei ten Buch gegen J ovinian , ausdriicklich in Worte gefa~t hat.Es ist die Vorstellung vom gerecht richtende n Gott. Der rich tende Gott wa r

26 Ebd . 1,40 S. 282: in domo magna non solum esse vasa aurea et argentea, sed et lignea et fict ilia;

et alia esse in honorem, alia in contum eliam ; nach 2 T im 2,20.27 Vgl. bes. ebd . 1, 16ff S. 245ff; hier das Zitat 1,40 S.2 82: in domo magna non solum esse vasa

aurea et argentea, sed et lignea et fic tilia; et alia esse in honorem, alia in contumeliam ; vgl. 2 Tim.2,20 .

28 Ebd . 1,13 Sp. 240: Aliud est non peccare, aliud benefacere.29 Ebd. 1,12 S.239: N on hie scoria, non hie lupanaria condem nan tur, de quo rum damnatione

nulla dub itatio est : sed uteri tum escentes, et infantum vagitus, et fruc tus atque atqu e opera nuptia­rum .

30 Vgl. oben Anm. 23.

108 3. 'Jungfrauen< - ,Witwen<- -Verheiratete- Die Teilung der Gerechten 109

das entsche ide nde Kri teri um fur d ieses Konzept gese llschaftliche r Ordnung,so wie es tiber J ahrhunderte die religiose Praxis im Abendland determin ierenso llte . »G ott«, schrieb Hieron ymu s, »ist nicht so ungerecht, daG er die We r­ke vergilit und ungleich e Verdienste mit gleichem Lohn vergilt.«31 Eben des­halb waren ihm G att enli ebe und Fas ten nicht dasselb e, desh alb muf ten P au­lus und Ka iphas versch ieden entlo hnt werde n. Mitte der 390er J ah re vertei­digte er gege nuber dem Freund Pammachius seine Polemik gege n Jovini anmit diesem Kon zept von Gerechtigke it :

»Soll es etwa nur ein und denselben Lohn geben fur Hunger und GefraBigkeit, furSchmutz und Reinheit, fur Sack und Seide?«32

Di e Vo rstellung vom gerechten G ott wa r zwar nicht mehr ganz neu. Seitdem Ende des zwe iten J ahrhunderts durchzog sie das D enken der christli­chen Autoren. Aber mit der Vorstellung vom gerechten Gott hatte man bis ­lang die Gemeinschaft der Christen definiert, hatte di e Verfolger VOn denGerechten getrennt. Nun ande rten sich die Bedingun gen, di e Organis at ionwuchs, die Gefahr von AuGen vers chwa nd . »H ierarchie und nicht Gemein­scha ft«, urn es mit Peter Brown zu sagen, »stand auf der T agesordnung.e?

Der gerec hte G ott de s Hieronymus hat nicht die Ge meinsc ha ft, sonde rn dieHierarchi e der Chris ten definiert. Hieronymus interessierte sich weniger furG ut und Bose als fur Gut und Besser. Seine Argumente sollten von nun anend los wiede rhol t werde n.

Es ist nic ht wic htig, ob Hieronymus seinem Gegner eine stimmige Kon­zep tion gebo ten hat. Man brau cht nicht zu fr agen , wie Eheleute den 30fa­chen Ertrag einfa hren ko nnten, obwohl ihre Leben sform als »Schrnach« ga ltund als alles an dere als »G utes t un «, W ichtig ist weniger d ie Stimmigkei t derkonkurrierenden D enkfigu ren als d ie Frage, welche kulture ll margina lisier tund welche zu zentralen M ustern wurde n. Und dies ist offensichtlich. Zwarzwangen dogmati sch e und sicher auch pragm ati sche N otwend igke iten dazu,die Ehe in man chen Auseina ndersetzu nge n als ein Gut zu bet rachten. Diesanderte abe r nichts daran , daG die gesa mte Energ ie der P redi gttatigkeit, diegesa mte Beschreibung der Leben sformen erstens eine immer deutlichereTrennlinie zw ischen den Arten der Gerechten zog und zwe itens sich immer

31 Adv. J ov. 2,23 S.333: non est injustus Deus, ut obliuiscatur operis ej us, et dispar mentum ae­quali mercede compenset .

J2 Hi eronym us, Ep. 49, 21, ed. H ILBERG (wie Anm . 8) S. 387: idem ergo praemium habebit fameset ingluui es, sordes et munditiae, saccus et sericum i Vgl. Adv. J ov. 2,20 S.2 14: Idem tu puta s essediebus et noctibus vacare orationi, oacare j ej un iis et ad aduentum maritum expolire faciem , Ahn lichEp. 84,7, ed. HI LBERG S. 129.

JJ BROWN, Body (wie Anm. 20) S. 36 1 (dt, 368).

starke r auf d ie BuGe konzentrierte. Di e bei we item prominenteste Red efo rmfur die se Vorstellunge n war tibe r J ah rhunderte das Lohnschema der >J ung­Frauen - W itwe n - Verhe ira teten-, Di es konnen d ie Bemerkungen zu H iero­nymus und Caesari us von Aries zwar nicht ausreichend belegen, immerhinaber furs ers te hinreichend plausibel machen.

U rn dem Beob achtungszeitraum dieses Buch es naher zu kommen , sei ausden Beispielen fur den Eins atz des Lohnsc he mas, die sich in beliebiger Men­ge an einanderreih en lieGen, der >J ungfrauensp iegel< (speculum v irginu m)herausgegriffen , eine Lehrschrift fur we ibliche Religiosen aus dem 12.Jah r­hundert. D ie in Dialogform verfallte Schrift sta mmt wohl au s der Fede r einesRegularkanonikers und diirfte zur Anleitung der Seelsorger in Frauenkon­venten geda ch t gewesen sein. Obgleich in die sem Lehrtext aktuelle P redi gt­inhalte durchau s zu erkennen sind, ist der Di alog durch traditionelle Argu­mentationsformen und das ganze patristische Ar senal zur Verteidigun g derEhelosigkeit stru kturiert. Es ist symptoma tisch , wenn der fiktive LehrerPeregrinus seiner Schiilerin einmal folgende Aufgabe stellt:

»Sage mir, ob etwa verschiedene Arbeit gleich belohnt wird.«

U nd die eins ichtige Schiil erin antworte t:

»Dies ware in der Ta t der Ungerechtigkeit sehr nahe. Zweifellos gibt Gott, der Rich­ter (deus iudex), jedem nach seinem Werk gerecht zuriick.«

Wora uf der Lehrer es in die gewohnte Formel bringt :

»Verdienterrnallen also werden die Witwen den Verheirateten, die jungfrauen denWitwen vorgezogen, daB jedem einzelnen der Lohn zukommt nach dem MaB derWerke.«34

Dennoch ist der >J ungfrauenspiegel< ein gute r Beginn, urn zu beob achten,wie ein Stand ard moralischer Arg umenta tion unscharf wird . Schon in derAnlage gehorte zum >J ungfrauenspiegel< ein Bildprogramm, das in vieleH andschriften des 12. und 13.Jahrhunderts ilbernornmen worde n ist. Inneun H andsch riften ist die Illumination des Lohnschemas >J ungfrauen ­Witwen - Verheirat ete- erhalten. Obgleich aile ahnlich im prinzipiellen Auf­bau, sind sie im D et ail signifikant ver schi ed en . Insgesamt kombinieren dieIlluminationen das Argument des gestaffelten himmlischen Lohns mit denneuen Predigtinhalten vom Aufsteigen der SeeIe im G ebet. Der Bildraum ist

34 Speculum virg inum 7,799, ed. J UTIA SEYFARTH (Corpus Chr istianorum Continuatio Medi­evalis 5) Tumhout 1990, S. 218: P. : Sed dic mihi. Numqu id labor diuersus pari stabit corona. T.:H oc iniu sticie quidem proximum. Equidem deus iudex iustus redit unicuique secundum suum labor­em. P: M erito igitur uidue uel cont inentes coniugatis, uirgin espreferuntur uiduis, ut iuxta mensuram

laborum merces singulorum proficiat.

110 3. ,J ungfrauen<- ,Witwen<- -Verheiratete- D as Lohnschema fehlt: Bernhard 111

stets in drei iibereinanderliegende Segmente gete ilt, jed es Segment ist fur ei­nen der d rei Staude bestimmt. D och in acht der neun erhaltene n Ve rsione nsin d die Segmente durchbrochen von einem Baum, der im ers ten Mensc he n­paar wurzelt und in C hristus gipfe lt. D en Baum nutzte man nicht anders alsdie Leiter (Iakobsleiter}, urn den mys tischen Aufstieg der Seele zu Gott aus ­zudriicke n. Im Astwerk di eses Baumes sind - jeweils in ihren Segmenten ­d ie wei bliche n Figuratione n moralisch er U ntersche idung plaziert. D ie Sym­bolik des mys tische n Aufs t iegs wird zum Sta ndemcde ll.

Sehr unterschiedlich allerd ings setzen di e Illumin atoren di e Akzente . EineG ru ppe von H andschriften betonte di e Segmentierung und filgte in d ie Seg­mente Ahren ein. D er ges ta ffe lte Lohn wurde zur zentralen Bildaussa ge(Abb.8a). E ine andere G ru ppe nahm die Segme ntieru ngen optisch zunickzugunsten der Aufstiegssymbolik. Am we itesten ging der Illuminator eines inder Zisterz iensera btei Zwettl gefer tigten Exemplars (Abb. 8b ). Er vermieddie bildliche Inszenierung der stand ischen Klassifik ationen , so weit es ging.Vollst andig wird der Bildraum vom Aufstiegsmotiv beherrscht. Die von denAsten umfan genen Figuration en der Sta nde sind optisch nicht mehr in dreiG ru ppe n gete ilt . Die Balken zwische n den Segmenten sind verschwunden,und nu r we r die Schriftzilge und Kleidungs details entz iffert, findet no ch dassta nd ische Arg ume nt.

Hier hab en sich - ehe r in den Illuminationen als im Text - neue Argu­mente in die Standardformu lierungen geschoben, d ie wie bei dem ZwettlerIlluminato r unmerklich zu den dominierenden werden ko nnten. D en Be­trachtern seiner Ve rs ion spring t der Standard morali sch er Argumenta t ionnich t mehr ins Auge .35

Es vers teh t sich, d aB nur eine Handvoll von Ze itge nossen d iese optischeSinnverschiebung zu sehen bekam en . U rn d as Ve rschwinden eines J ahrhun­derte alten Sprachs ta ndards zu erklaren, ist d ieses Beispi el zwar nicht un ­niitz. D och wird man nach breitenwirksameren Phan ornen en zu suche n ha­ben , urn d as Schicksal der Sinnfo rm ation >J ungfrauen - W itwen - Verheira ­tete- in den J ahrhunde rten vor der re ligios en Spaltung zu vers tehe n.

35 Ausfiihrlicher, mit einer Di skussion des Textes und aller neun Ver sionen der Illu mination,

vgl. J USSEN (wie Anm. 1) Kap. 3.1. Zu Datierungen und Lokalisierun gen vgl. d ie Einleitu ng vonSEYFARTH in der Edi tion (wie Anm . 34), zu m kosmologi schen Baum ausHihrlich E LEANOR SIM­MO NSG REENHILL, T he Chi ld in the Tree. A Stud y of the Cosmo logical Tree in Christian Traditi­on, in: Trad itio 10 (1954) S. 323-37 1.

~...•.

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Abb. 8 a und 8b: Zwei Vers ionen der Illumi nat ion zu m siebten Ka pitel des »j ungfrau­enspiegels«: Das um 1155 im pfa lzischen Fra nkenta l entstande ne Exemplar (8a) be­ton t d ie Un terschiedl ichkeit der drei Klassen. Balken tre nne n die Segme nte, auf deners ten Blick verschieden ist der Lohn. Man erkennt sofort die zentrale Bildaussage,"da~ jedem einzel nen der Lohn zukommt nach dem Maf der Werke". Rom, Biblio­theca Vaticana, Vat. Pal. Lat. 565/01. 71r.Das Anfang des 13.J ah rhu nd ert s in Zwettl entstandene Exe mplar (Bb) hingegenmac ht gerade diese Aussage wie insgesamt die standische Dreiteilung in der Bildkom­pos ition un sich tbar zugunsten einer bild fiillend ausgefiihrten Argumenta tio n des Auf­stiegs. Nu r in Schriftziigen und Kleidungsdetails ist das standische Argument zu fin­den. Zwettl, Bib!. der Zisterzienserabtei Cod. 180, 53v .

4. Das Lohnsche ma fehlt: Bernhard von Clairvaux

Bernhard von Clairvaux hat nicht ein einziges M al die Redefigur der >J ung­Frauen - Witwen - Verheiratete- benutzt, und eini ge wenige sein er Zeitge­nossen , etwa Gottfried von Admont, taten es ihm gleich. Ganz fol gerichtigfehlt auch we itge he nd die Formel vom 100-, 60- und 30fachen Lohn. W ennd as Lohnsch em a als zentrale Red efigur moral ischer Ordnung im Mittelaltergelten kann und we nn so lehe Redefiguren kul turelle Ordnung kodieren undwesentlich sta bi lisieren, d ann d arf man den vollstan d igen Ve rzicht Bern-

112 3. >] ungfrauen<- >Witwen< - -Verheiratete- Das Lohnschema fehlt: Bernhard 113

hards auf diese Red efigur wo hl als einen ers ten Fingerzeig auf jene gewaltigekulturelle Transformation deut en, mit der man geme inhin jene Kultur furbeend et halt, die -M ittelalter- heilk

Wie aber ist Bernhard s Abkehr von der ilbl ichen Sprechwe ise zu deuten ?Gl aub en wir den Kennern, so hatte Bernhard nicht etwa ein e bessere Mei­nun g von der Ehe od er von den Laien als seine Vorganger, »Bernhard« , urnYves Congar zu zitieren, »hat sich nicht eben viel urn die La ien gekummert.... Fur ihn ist das, wa s im Grunde den H eilsweg erschlielit, das Monchsge­liibd e.«36 Bernhards Texte machten Con gar zu folge ga nz wie d ie T ra d ition»die Moglichkeiten fur einen wa hrhaft christl ichen La ienstand weitge he ndzunichte«, De r prominen te Abt beurteilte di e Lebensfo rm en in der Kirchenicht anders als d ie ande ren Auto ren seiner Zeit, er hatte auch nicht mehrAchtung fur d ie Laien iibrig. U nd doch hatte er kein en Bed arf an einer Rede­figur, die einen gestaffelten Lohn im ]enseits beh auptete, urn im Diesseitseine moralische Hierarchi e zu rechtferti gen . In seinen Texten fehlt nicht nurdas Lohnschema. Auch die einzelnen Figuren des Schemas, >W itwe< od er>] ungfrau<, hat er nicht mit der Vorstellung eines unter schiedlich en Lohns imj enseits verbun den.

Eine erste Erklarung find et man dort, wo Bernhard s sp iritue ller Ruhmgriin de t. Bernhard s auge nfallige Neigung zu m H ohelied , d ie er mit seinenZeitgenossen teilt e, gab der Me tapher von der -Braut Christi- einen prorni­nenten Platz in seinen Schriften. Von der -Braut Christi- hat Bernhard gere­det , urn zweierle i metaphorisch zu fassen: zum einen die ecclesia als Ganzesund zum anderen die Seele des ein zelnen Glaubigen. Eine Sprach e fur die in­nere Ordnung der Kirch e, wie sie etwa Hieronymus dringend benotigt hatte,sta nd nicht im Zentrum von Bernhard s Interesse. Er fa6te vielmehr den indi­viduellen »Vorgang der H eiligun g« (Yves Congar ) in eine Bildsprache.V Di einnere Erba uung wa r einem Autor, der diese Bilderwelt benutzte, wichtigerals selbst di e sakra menta len M ittel der H eiligun g.I" We nn in diesen Zusarn­menhan gen das Schema der 100- , 60 - und 30fachen Entlohnung fehl t, so istdies nur der sta tistische Ausdruck dafiir , da6 -Verd ienst- ein margina ler Ge ­danke wa r. In Bernhards Predigten und Schriften fur ein monastisches Pu­blikum hatt e das ] ah rhunderte alte Konzept des Verd ienstes ausge d ient zu-

36 YVES CONGAR, Di e Ekklesiolog ie de s heiligen Bern hard , in: Bern hard von Clairvaux,Me nch und Mystik er, hg. V.JOSEPH LORTZ, Wiesbaden 1955, S. 76- 119, hier S. 89.

37 Ebd. 77; ahnlich FRIEDRICH OHLY, H oh elied studien : Grundzilge einer Geschichte der Ho­helied auslegun g de s Abendland es bis urn 1200, Wies baden 1958, S.147.

38 YVES CONGAR, Di e Lehre von der Kirche von Augus tinus bis zurn Abendland ischen Schi s­rna (Handbuch der Dogrnengeschichte III ,3c), hg. V. MICHAEL SCHMAUS - ALDIS G RILLMEIER ­LEO SCHEFFCZYK, Freiburg-Bas el-Wien 1971 , S. 78.

guns ten jener Bilderw elt der Liebe, die sich urn d as Hohelied und die Braut­metapher sp inne n lieK U nd mit dem Kon zept -Verd ienst- hatten die Figura­tionen dieses Konzepts ausgedient, di e >] ungfrau<und die >W itwe<.

D as will aber nicht sagen, di e Hoheliedfrornmigk eit habe zum Verschwin­den des Lohnschemas gefiihrt, D as, was die G eschichtswissenschaft -H ohe­liedfrornmigkeit- nennt, war ein e im 12.]ahrhundert iiberaus weit verbreiteteH altung. Bernhards Abstinenz von der Leitidee -Verd ienst- und ihren Figu­rationen >] ungfrau< und >W itwe< aber war eine auliergewohnliche Ko nse­quen z. Di e meisten Auto ren hatten keine Miihe, d ie alten Figurationen desVerdie nstes mit dem H ohelied in Eink lang zu brin genr' "

Auc h bei Bernhard war -Verdienst- keineswegs durch gangig ein margina­les Konzept. Ni cht iiberall hat er di e Vorstellungswelt aufgege ben, die urnde n Begriff -Verdiens t- kreist. N ur als Abt, nicht aber als Kirchenlenker hater das G ewicht von der Heilsgeschi chte auf die einze lne Seele verlager t."?Wo es niitzlich wa r, da hat Bernhard den himmlischen Ertrag am jiingstenTag in Aussicht geste llt , besonders dann, wenn er Konigen die T aten desUnrechts au streib en ode r Laien den Kreuzzug schmackha ft machen wollte."!So finde t man in ga ng igen Darstellungen zur G eschichte der Kre uzzilge dieEinschatzung, Bernhard stelle »wie kei n anderer den Lohngedanken scharfherau s-.V Bernhard hat also die Laien und die Monche nich t mit denselbenmo ralisch en Mustern ko nzip iert, und desh alb ko nnte ihm das Lohnschemader >] ungfrauen - W itwe n - Verheirate ten- auch dann nicht hilfreich sein,wenn er mit dem Verdienst argumentierte . Das Lohnschema rechtfertigte dieprivilegierte Stellung der Enthaltsamen. Wenn Bernhard die Laien mit demHinweis auf den himmlischen Lohn zum Kreuzzu g motivieren wollte, dannsich er nicht gerade mit jenem Schem a, das die notorische G eri ngsch atzungder Laien iiber ] ahrhunderte zementiert hatte. Hinzu kam , daf die neue so­zi ale Kategorie der Ritt ero rd en ohnehin das alte M uster verwirrt hat. Ku rz,obgleich Bernhard wei terhin die Stande ause ina ndergeha lten hat und dieLaien gering gesc ha tz t hab en mag, hat er d iese U ntersc hiede nicht mehr ins

39 Vgl. etwa Wo lbero von St. Pan tha leon, Super Ca nticurn Canticoru rn, ed. MIGNE PL 195,Sp. 1006B- 1007C : Tria qu ippe sunt genera professionum, unum conjugatorum, alterum v iduarum,tertium v irginum. Legimus autem quia est Canticum laudis, canticum laetitiae, canticum novum. Po­namus ergo quasi quibusdam gradibus canticum laudis conjugatis, canticum laetitiae v iduis, canticumnovum v irginibus, quod nemo potest dicere, nisi qui sequuntur Ag num quocunque ierit; es folgt dasG leichis des ungleichen Ertrags .

40 Mit OHLY, H oheliedstud ien (wie Anrn. 37) S. 147.41 Ausge fuhrt bei MICHAELA DIERS, Bernhard von Clairvaux. Elitare Frommigkeit und begna­

detes Wirken (Beitrage zur Ge sch ichte der Philosop hie und Theologie des Mittelalters 34) Mu n­ster 1991, S. 241-243 u. 366.

42 H ANS EBERHARD MAYER, Geschichte der Kreuzzilge, Stuttgart u. a. 19856, S. 90.

114 3. 'J ungfrauen< - ,Witwen< - .Verheiratete- D as Lohnschema fehlt: Bernhard 115

J enseits projiziert. Di e Wege erschienen ihm verschiede n. D a6 aber das Ziel

verschiede n sei, hat er zumindes t nicht gesagt.43

Mit dem Konz ept -Verd ienst- versc hwand natiirlich auch der · richtendeGott. W ie d ie Eta blierung des Lohnschemas urn 400 eine Durch setzung de sgerecht richtende n Gottes war, so war die Abwendung vo m Lohnsch emaeine Abwendung vom richten den Gott. Bernhard ist nicht miide geworde n,gege n den richtenden Gott di e Forme l von G ott als Liebe zu setze n - jed en­falls vor Monchen. l " D a galten ihm jene als di e args ten Sunder , di e G ott,den G nadigen, zum Richter erklarten.l " D a6 Luther dies alles dankbar auf­geg riffen hat , ist seit lan gem ein beliebter G ege ns ta nd der Luther- wie der

Bernhard exegese.l ''D iese Beob achtungen an den Texten Bernhards erla uben es, rund 800 J ah­

re nach der Etablierung eines christl iche n Sta ndards mo ralische r und poli­tisch -sozialer Red e den er sten fundam entalen Bru ch zu konstatieren . BeiBernhard und einigen anderen Autoren seines J ah rhunderts gerieten reli gioseVorste llunge n in den Vo rde rg ru nd, die zu einer einsc hne ide nden Verande­rung der Sprechformen sozialer Ordnung ftihrten. Bernhard wa r der P rota ­gonist d ieses ers ten sema ntischen Ei nbruchs seit den Ze iten eines Hierony­mus. D ies ist ein wichtiger Befund, zuma l di e Gesta lt Bernhard wie kein ezweite in den J ahrhunde rten bis zur Reformation in aller Munde wa r.

Doch wie sta nd es mit der Wirkung seiner von Relikten der Verdien st ­Rh etorik we itge hend gereinigten Sprache? Es la6t sich, urn es kurz zu rna­chen, kaum erkennen, daf di e Sprache Bernhard s dort von grollem Einflu6wa r, wo ma n gemeinhi n seinen Einflu6 vermutet. Dies ist nicht ers ta unlich .Insgesamt weic ht die Gewi6heit, da6 Bernhard s Schriften »auf d ie Genera-

43 Sermo ad abbates (= senn a d iv. 35) 1,2 (Bern ha rd von Clairvaux, Opera O mnia Bd. 5, hg.v. J EAN LECLERCQ u. H ENRI MARIE ROCIIAIS, Rom 1968, S.2 89: Tertium igitur, coniugatorum vi­delicet ordinem [. . .] laboriosum prorsus et periculosum, etiam et longum habens iter [. . .] 2. A t con­

tinentium quidem ordo et ponte pertransit, quod iter breuius et facilius, etiam et securius esse nemo

qui nesctat,44 DIERS, Bern hard (wie Anm. 41) S. 244-248, zeigt, daB er in Briefen an Laien , zuweilen

auch an Bischofe, oft mit Drohun gen gea rbeitet hat . Auch hier ware es inde s lohnend , die seDrohungen zu vergleichen mit denen fruherer J ah rhund erte; auf Anhieb erwec ken sie den Ein­d ruck, erheblich unsch arfer zu sein, nich t wir klich mit einem vors tellbare n Szenario der Vergel­

tung zu spie1en.45 Vgl. etwa Bernhard , Sententi ae Il I,124 ed. LECLERCQ - ROCHAIS 6,2 (wie Anm. 43) S.237:

Est et aliud genw malorum qui peiores v ocantur [. . .]. Isti siqu idem sunt qui trahunt peccata sua sicutrestem longam [. .. ] ut iudicio suo de Dei misericordia desperant ; ebd. S. 238: M ali remissum, peiores

crudelem sentiunt,46 Einen Forschungsiiberb lick iiber Luthers Bernhard-Rezeption bei THEO BELL, Divu s Bern­

hardu s, Bemhard von Clairvaux in Martin Lut hers Schriften (Veroffen tlichu ngen des Inst ituts

fUr Europaische Gesch ichte Mai nz 148) Ma inz 1993, S. 1- 26.

tionen de s Hoch- und Spatmittelalters fa st magische Wirkung ausge iibt ha ­ben«, 47 stets der Ern iichte ru ng, wenn man den Einfluf konkreter nachwei­sen will. So sche int es ein kaum zu verifiziere nder Gemeinplatz zu sein, da6Bernhard grolien Einfluf auf die Frauenmystik geha bt habe/" Zu einemahnliche n Befu nd komm t, wer Bernhard in spatmitte lalterlichen deutsch­sprachigen G ebetbuchem sucht: Obgleich sein Name in fast allen die ser Ge ­betbucher meh rm als erscheint, sta mmt keiner der ihm zugew iesenen Textewirklich von ihrn.t" Wer diesen M an gel an authentischen Texten Bernhardsin Frauenklostem und G ebetbiichern bemerkt, sollte sich nicht mit der Ver­mutung zu retten versuche n, Bernhard hab e »durch d ie von ihm gescha ffe­nen Bild er und D eutungsschemata und iiberh aupt du rch die von ihm ge­pragte Sprache« gewirk t.50 W ie eine »von ihm gepragte Sprache« hatte aus­sehe n ko nnen, d as mach t sein U rngang mit so ze ntra len Konzepten wie>J ungfrau<und >W itwe< (mithin -Verdienst-, -Lohn- usw.) durchaus vorstell­bar. Aber wie soli sie gewirkt haben ? Der Verweis auf die Rezeption derSprechweise macht das wissenscha ftl iche D ilemma mit Bernhards W irkungnoch gro6e r und verspricht zu dem ka um Erfolg. W ie sollten seine Bilderund D eutungssch em at a vermittelt worde n sein, wenn nicht einma l seineTexte ang ekom men sin d ? An welche D eutungssch em at a sollte man denken,welche (neue ode r alte) Wirklichke it sollten sie (um )de uten, und welch eDeutungsschemat a haben sie verdran gt?

In der Tat ware es allerdings nicht uninteressant, hier zumind est Richt­werte zu erlange n. So konnte man etwa di e Probe machen , wie die beriihm­ten mysti schen Frauengesta lten mit Ko nzepten wie -Verdienst-, -Lohn-,-Strafe- und -G ericht- um gegan gen sind, ob sie etwa eine sta nd ische Hier ar­chie der Moralitat auf Erde n unterstellten un d ob sie die himmlischen Platzenach Leistung verte ilten. E instweilen aber muf man wohl annehmen, daf invielen sozialen Feldern eher der Mythos de s Heiligen als sein e rhetorischen(und d amit gedanklichen) Eigena rten trad iert wu rde n.

Mit den Stichworten -Frauenmystik- und -G ebetbiicher- sind nu r zwe i vonsicher mehr Felde rn bezeichnet, in denen der Name Bernhard s, sei es aus

47 Di e allgemeine Auffassung hier mit den Wo rten von KURT RUH, Bonaventura deu tsch. EinBeitrag zur deut schen Franziskane r- Mys tik und -Scholastik (Bibliotheca germanica 7) Bern1956, S. 29.

48 Di es zeigt ULRICH KOPF, Bemhard von Clairvaux in der Frauenmystik, in: Frauenm ystikim Mittelalt er, hg. v. P ETER DINZELBACH ER - DIETER R.BAUER, Ostfi ldem 1985, S.4 8- 77, bes.S.6 0f.

49 Vgl. d ie Untersuchung von PETER O CHSENBEIN, Bernhard von Clairvaux in spatmittelalter­lichen Gebetbiic hern , in: Bern hard von Clairv aux . Rezeption un d Wirkung im Mittelalter und inder Neuzeit, hg. v. KAS PAR ELM, Wiesba den 1994, S. 213-232 , Zitat ebd. S.220.

50 So KOPF, Bernhard (wie Anm. 48) S. 71f.

116 3. >J ungfrauen<- >Witwen<- -Verheiratete- D as Lohnschema wird angeg riffen: Eckha rt 117

der Fede r der Zeitgenossen od er der heutigen Forscher, sta ndig aufta ucht,ohne da6 Bernhard tat sachli ch mit seinen T exten anwesend gewesen ware.Gleichwohl trifft diese Di skrepan z zw ischen der Prasenz de s Mythos -Bern­hard- und der Absenz seiner T exte nur bestimmte spatmittela lterliche Le­bensbereiche, vornehmlich solehe, in denen Latein keine Rolle spielte. InM ann erklostern war die Prasenz de r T exte massiv, und entsprechend leich ­ter ist di e Wirkung der Schrifte n zu sehen.i" So geraten Personen wie M ei­ster Eckhart, Seuse und T auler in den Blick. Sie seien hier als Beispiele her­ausgegriffen fur eine Spra che mo ralischer Ordnung, di e jener Bernhards auf­falli g nah e ist.

M an vergesse dab ei nicht, daf in Bernhards sta ndis ch definierter U mweltMorallehre, Erkenntnislehre und G esellsch aftsleh re nicht zu sche iden wa­ren. We nn eine so prominente und einflu6reiche Figur wie Bernhard denRichtergott zu zerstoren suchte, so bedrohte er das Fundament der gesamtensozialen Konstruktion. Man sollte ein Aufhorchen all jener erwarten , die d iesoziale Ordnung hiiteten, Doch die zusta ndigen In stanzen zei gten sich nichtalarmier t. M an wird dies wohl auf Bernhards G ewohnheit schi eben diirfen,unter schi edli ch zu predi gen. Bernhards sozial gefa hrliche Pred igten wa renwei tge hend fur M on che gedacht, den La ien predi gte er we iter in den Bahnender herrschenden Verdienst- und G erichtsdoktrin. Di es haben spa tere Predi­ger , die wie Bernhard den richtenden G ott verbannten , Eckha rt etwa od erLuther, ande rs geha lte n. D ann erka nnten die Ordnungshuter leicht die Be­drohung durch jene D enkweisen, di e auf Red ekonventionen wie das Lohn­schema 'J ungfrauen - Witwen - Verheirat ete - verzichteten. Denn so lehe For­meln kodierten die offi ziellen moralischen Maximen - und zu guten Teilendie soziale Ordnung.

5. D as Lohnschema wird angeg riffen: Meister Eckha rt

Rund zwe ihunder t j ahre nach Bernhards T od, gege n 1355, hat im niederlan ­di schen Sprachraum ein wenig bek annter Autor, J an van Leeuwen , seineStimme erhoben gegen einen »teuflischen Mensch en« (du velyc mensche), derschon seit einer G ene ration tot war. Es ging urn den M eister Eckhart(t 1328).52 W as den Schreiber ernporte, war die Tatsa che, da6 Eckhart in

51 Zur Uberlieferun g etwa im deutschen Raum vgl. WERNERH OVER, Art. Bern hard von Clair­vaux, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserle xikon, hg. v. KURT RUH, Bd. 1, Ber­lin 2 1978, S. 754-762; Ub erb lick auch bei bei Kor-r, Bernhard (wie Anm. 48) S. 58-60.

52 Vgl. J an van Leeuwen, Dat neghenden boexken van Mee ster Eckaerts leere, ed .T H.B.W. KOK (jan van Leeuwen en zijn werkje tegen Eck hart, in: Ons Geeste lijk Er f 47, 1973,

seine n Predigten nie iiber die Strafen Gottes gerede t hat. In einem eigenenKapitel dariiber, »was man dem gemeinen Vo lk lehren soll«, wa nd te er sichgegen diese schadliche Art der Predi gt. Der gute Predi ger, so hielt van Leeu­wen dagegen, soli e dem Volk zu erst »d ie Gerechtigk eit Gottes vor Augenfilhren und auch die vielfachen Qualen in der Holle«, erst dann die Barm ­herzigkeit.v' Kurz, van Leeuwen verteid igte, urn die Laien moralisch zu nor­mieren, den richtenden Gott, den alten deus iudex.

Der zornige Schreiber au s dem Ni ederlandischen kann als exemplarischgelten fur die offi zielle Kirche, d ie im J ahr 1329 in der Veru rteilung von 28Satzen Eckharts ihre H altung manifestierte.v' Auch den offi ziellen Ankla­gern ging es weniger urn theologische Wahrheiten als darum, die Regeln undPraktiken der herrsch enden moralisch en Ordnung zu vert eidigen.P Eckhartund die hefti gen Reaktionen auf seine Predigten sind hier besonders auf­schlu6reich, da Eckhart genau das in Frage gestellt hat , was in der Rhetorikder 'J ungfrauen - Witwen - Verheirateten- perman ent bestatigt und stabili­siert wurde. Seine Ge gner haben dies au genscheinlich schnell versta nden. Estrieb sie zum Zorn, da6 er »haup tsachlich vor dem gemeinen Volke in seinenPredigten lehrte«.56 M an sorgte sich urn d ie normative Wirkung auf die Lai­en , als man etw a die folgenden Satze verurte ilte:

»( 17 ) D as auBere Werk ist nicht eigentlich gut und gottlich, und Gott wirkt und ge­biert es nicht eigentlich . ( 18) Lali t uns nicht d ie Frucht auBerer Werke bringen, die

S. 129-1 72; hier S. 152-1 67 Abdruck des Textes, Zitat S. 153,1 ); eine Deutung bei FRANZ-JOSEFSCHWEITZER, Die ethi sche Wirkung Meister Eck harts zwischen Laien frommigkeit und H aresie,besonders in de n N iederlanden, Abe ndlandische Mystik im Mit telalter, in: Germanistische Sym­posien, Berichtsbd. 7 (Symp osium Klo ster Engelberg 1984), hg. v. KURT RUH, Stuttgart 1987,S. 80-93, hier S. 82 ff.

53 Ebd . S.163,16: W at men den ghemeynen vo lke sal leeren ; 164,8ff: Dander es dat men hem

v oer oghen wo rpen sal die gherechticheit gods ende oec dat menichfuldeghe torment datse daer inderhellen ontfa en selen ...

54 Vgl. zum Prozef WINFRIED TRUSEN, Der Pro zef gegen Meister Eckhart . Vorgeschichte,Verlauf und Folgen (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veroffentlichungen der Gorres-Gese ll­schaft, N. F. 54, Pad erborn u. a. 1988, bes. S. 113-1 33.

55 Eine pr azise Interp retat ion jeden Artikels bietet TI ZIANA SUAREZ-NANI, Phil osophie- undtheologiehistorische Int erp retationen der in der Bulle von Avigno n zens urierten Satze, in: Eck­ard us Theutonicus. H omo do ctus et sanctus, hg. v , H EINRICH STIRNIMANN- RUEDl IMBAcH (Do ­kimion 11), S. 31-96; sie betont bei vielen Artikeln die Sorge der Anklager vor den praktischenKonsequenzen , etwa S. SO, 54, 56, 59 und ofter, Ferner S. 93 fE.

56 Mit den Worten der Bulle Johanns XXII., Einleitun gstext (MARIA H YAClNTH US LAURENT,Autour du proces de Maitre Eckhart. Les documents des archives vaticane s, in : Divus Thomas.Commentarium de Ph ilosophia et Theologia 39, Piacenza 1936, S. 436) : docuit quammaxime co­ram vu lgo simpli ci in suispredicationibus .

118 3. ,J ungfrauen<- ,Witwen<- -Verheiratete- D as Lohnschema wird angegriffen: Eckhart 119

uns nicht gut machen, sondern innere Werke, die der Vater, in uns ble ibend , tut undwirkt. (19) Go tt liebt die Seelen, nicht da s auBere Werk.«57

D aB jemand gegen di e M acht der W erke predi gte , konnte man nicht dulden,d a mit den W erken auch die Hierarchie der Stande ihren Sinn verlor. 58 Soverdammte man auch alles, was man als Fro nta lang riff gegen die Lo gik der

kirchlichen Stan de auffa ssen mulite:

»(22) .. . Was immer Go tt wirkt, das ist Eines; darum zeugt er mich als seinen Sohnohne Unterschied . (23) Gott ist auf aile We ise nur Einer, so d aB in ihm selbst ke iner­lei Vielheit zu find en ist , weder in der Vernunft noch auBerh alb der Vemunft; wernarnlich Zwei heit ode r Unte rschiede nheit sieht, der sieht Gott nicht (24) JederUn terschied ist Gott fremd , sowohl in der Natur wie in den Personen (25) . . . Wonarnlich ein -Erstes- und ein -Zweites- ist, da ist ein -Mehr- und ein ,Weniger<, istGradunterschied und Ran gordnung. In Einem aber gibt es wede r Grad noch Ra ng.Wer demnach Gott mehr liebt als den N achsten , liebt ihn zwa r auf gute, nicht aberauf vollkommene Wei se.«59

DaB hinter solchen Satzen eine diffizile Theologie ste hen mag, kann manverna chlassigen, wenn es d arum geht, wie diese Satze die soziale OrdnungbeeinfluGten. Inwieweit mobilisierten sie die Zuhorer entwe de r zur Verande­run g oder abe r zur Stabilisierung der Ordnung? G erad e auf dieser Ebe newa ren die inkriminierten Sa tze Eckharts fur Verteid iger der bestehendenkirchlichen O rdnung hochgefahrlich. Sie griffe n genau jen e mittelalterlicheLogik urn As kese, BuGe und jenseitige G erechtigkeit frontal an, di e ihre pa­radi gmatische Formulieru ng in der Rede von den ,] ung frauen - Witwen ­Verheirateten- hatte. Anders als Bernhard predigte Eckhart seine Botschaft»dem gemeinen Volk«, und in diesem Moment sehen wir di e Autoritaten inAufregung . In der T at lassen sich kurz nach Eckharts Tod genau die be­fiirchteten Ausw irkungen der Predigten im »gemeinen Volk- finden.

57 Bulle Joh anns XXII, ebd . S.4 40: 17. Actus ex terior non est proprie bon us nee diuinus, nee

operatur ipsum Deus proprie nequ e parit. 18. Affiramus fru ctum actuum non ex teriorum, qui nos bo­nos non[aciunt, sed aetuum interiorum, quos pater in nobis manens[acit et operatur. 19. Deus animas

amat, non opus extra.58 Di e Ko rnp lexi ta t von Ec kharts Auffass ung von de n inneren und aulleren W erken ist hier

im einzelnen nicht releva nt ; d azu SCHWEITZER, Wirkung (wie Anm . 52) S. 88-9 1.

59 Bulle J ohan ns X II, ed . LAURENT (wie Anm . 56) S. 44 1f: 22. [. . .] Q uiequid Deus operatur, hocest unum; propter hoc generat ipse me suum filium sine omni disti nctione. 23. Deus est unus omnibusmodis et secundum omnem rationem, ita ut in ipso non sit inv enire aliquam multitudinem in intellec­

tu vel ex tra intellectum; qui enim duo v idet ve l distinctionem v idet, Deum non v idet. [. . ./ 24. Om­nis distineti o est a Deo aliena, neque in natura nequ e in personis [. . .j 25. [. . .] In prim a enim et se­

cundo et plus et minus et gradus est et ordo, in unum autem neegradus est nee ordo.

N atiirli ch ka nnten di e Inquisitoren di e katholische T rad ition gut genug,urn Eckharts provozierende Sa tze zwar zu verbieten, abe r nicht als hareti schzu veru rte ilen. Diese (man mochte sagen : an ti-gra d ua listischen ) Satze ver­st iellen nicht geg en die th eologische T rad ition, sondern gegen das politischund sozial Gewiinschte. D enn Eckhart formulierte seine moralischen Impe­rative ganz ohne die Hilfe der himmlischen Lohngruppen >] ungfrauen< ,>Witwen< und -Verheiratete-, wie er insgesamt weitgehend auf die klassi­sche n E in te ilungen der Leb en swei sen verzich tete. Er griff auch nicht auf diega ng igen Stufen der Vollko mme nheit zuriick und ze igte ein auffa lliges Des­interesse an den verbreite ten T ugendklass ifikationen. Was di e in der Bulleveru rt eilten Satze auf ihren sprod en th eologischen Kern reduzierte n, d askonnte Eckhart vor »dern gemeinen Volk« viel blumiger predigen:

»Denn wahrlich, wenn einer wahnt, in Inn erli chkeit, Andacht, suBer Verziic ktheitund in besonderer Begnadung Gotte s meh r zu bekommen als beim H erdfeuer oderim Stalle, so tust du nicht ande rs, als ob du Gott nahmest, wa ndest ihm einen Mantelurn das H aupt und schobest ihn unter eine Bank. Denn wer Gott in einer [bestimm­ten ] Wei se such t, der nimm t die Weise und verfehlt Gott, der in der Weise verborgenist. Wer aber Go tt ohne Weise sucht, der erfall t ihn, wie er in sich selbst ist.«60

Dies war das Ende der >] ungfrau<, d as E nde der >W itw e<. So kompliziertd iese Theologie fur den Spezi al isten sein mo chte, sie hatte ein e simple Kon­sequenz fur di e affirmative Repetition der sta nd ische n O rdnung: Di e Rep eti­tion fand nicht sta tt ." ! D er Zu gang zu Gott ohne spezielle Leb ensform,»ohne Weise« (ane w ise ),62 der fiir aile gleich war, w ar der Kern von Eck­harts Predigt en. So riickte Eckhart au ch jenem Konzept zu Leibe, d as im

60 Mei ster Eckha rd , Predi gt 5b, ed . D eutsch e Pred igte n un d Trakta te, ed . J OSEPH Q UINT,

Miinchen 1955, S. 91: Wan tuaerliche, stuer gotes me tuaenet bekomen in innerkeit, in anddht, insiiezicheit und in sunderlicher zuouiiegunge dan bl dem v iure oder in dem stal/e, so tuost di niht an­

del'S dan ob di got naemest lind wiindest im einen mant el umbe daz houbet lind stiezest in under ei­nen bank. Wan swer got suochet in Wise, del' nimet die w ise und lat got, del' in del' w ise uerborgenist. Abel' surer got suochet ane Wise, del' nimet in, als er in im selber ist; Ubersetz ung aus Mei ste r

Eckhart , Werke 1, ed . NICKLAUS LARGI ER (Bibliothek des Mi ttela lters 2 1. Bibliothek D eu tscher

Klass iker 92) Frankfurt am M ain 1993, S.71.

61 STEFAN ZEKORN (Gelassenhe it und Einkehr. Zur G rund lage und Ges ta lt geistliche n Lebens

bei Johannes Tauler [Studien zu r sys tema tische n und spir ituellen T heo logie 10] W iirzburg 1993

S. 171 Anm. 54) hat bei Tauler ein vo lliges D esinteresse am Konzept d el' Virgin ita t festgeste llt;

G EORG STEER hat bemerkt , d all d ie d rei D omini kaner den Ausdruck -La ie- meiden ; vgl. DERS.,

D ie Ste llung d es -Laien- im Schrifttum des StraBburger Gottesfreundes Ru lman Merswin und

del' deutschen Dominikanermystik de s 14.Jah rhunderts, in : Literatu r und Laienbi ldung im Spa t­

mittelalter in del' Reformationszei t. Symposion Wolfenbiittel 1981, hg. v. LUDGER GRENZMANN­

KARL STACKMANN (G erma nistische Symposien. Berichtsb d. 5) Stuttgart 1984, S. 64 3- 658, hier

S. 650.62 Vgl. Anm. 60.

120 3. >Jungfrauen<- >Witwen<- -Verheiratete- Vom Gese llschaftsmodell zur Einteilung der Fra uen 121

Zentrum der mittelalterli chen Moralordnung sta nd und du rch die Figur dertra uern den Witwe parad igmatisch figurier t wa r - der BuBe:63

»Solche Bulle ist ein von allen Din gen fort ganz in Gott erhobenes Gem iit. Un d inwelchen Werken du dies am meisten haben kannst, .. . die tue ganz freimii tig. H indertdich aber ein auBeres Werk daran, sei es Fasten, Wachen, Lesen oder was es auch sei,so laB einfach davon ab, ohn e Sorge, daB du damit etwas an BuBwerken versaumst,Denn Gott sieht nicht an, welches d ie Wege seien, sondern einz ig, welches die Liebeund die Gesinnung und die Andacht in den Werken ist.«64

Vollko mmenhe it hatte nichts mehr mit der Lebensweise zu tun, Fasten undWachen gerie ten gar in Verdacht, den Weg zu Gott zu verhinde rn . Auch inden Predigten seiner beriih mten Schiiler H einrich Seuse rt 1366) und J oh an ­nes Tauler rt 1361) find en sich jene altged ienten professiones der Witwen,Jungfrauen und Verheiratete n nicht, mit denen man tiber J ahrhunderte diemoralische Ordnung stab ilisiert hatte. N icht das Voka bukar der kirchl ichenStaude stru ktur ier te die se Predi gten, sondern einfach das gottgefalligerMenschen, gotformiger mensche.65

Was eine solehe neue Redeweise anrichten konnte, laBt sich leicht ablesenan einigen weit verbre iteten, ano nymen deut schsprachigen Erzahlungen des14. und 15.Jahr hunderts, die gemeinhin unmittelbar auf den Einfluf Eck­harts zunickgefuhr t werde n. H atte Eckha rt sich nicht urn die sozialen Kon­sequenzen seiner Lehre gekiimmert, so setz ten die Erzahlunge n diese Lehresofort wieder in die Standemuster zuriick, verwe nde ten sie als Invektive ge­gen die Staude der Ehelosen. All diese Geschich ten haben die gleiche Pointe:D ie Laien sind den ehelosen Sta nden moralisch ebenso iiberlegen, wie sie furihr Wissen iiber die gottlichen D inge nicht auf die Ehelosen angewiesensind.66 So sah sich Tauler bernuliigt, seinen Me ister vor derart sozial gefahr-

63 Zur Figur der Witwe als Paradi gma der mittel alterlichen Buakultur vgl. ausfuhrlich j ussev(wie Anm. I ) Kap. 4-6.

64 Meister Eckhart , Trak tat 2, in: Deut sche Werke 5, ed . JOSEPH Q UI NT, Stuttgart 1963,S. 247; Ub ersetzung LARGIER 2 (wie Anm. 60) S.383 : Disiu penitencie ist ein zemiile erhaben ge­miiete vo n allen dingen in got, lind in w elchen w erken dii diz allermeist gehaben maht [. .. ] diu tuoaller v rllichest; und hindert dich des dehein iizerlich werk, ez 51 vasten, wachen, lesen oder swaz ez sf,daz laz oriliche iine alle sorge, daz dii hie mite iht uersiimest deheine penitence; wan got ensihet nihtane, waz diu w erk Sin, dan aleine, waz diu minne und diu andiiht und daz gemiiete in den werk en51.

65 Mit Tauler, Pre digt 65 (D ie Predi gten T aulers aus der Engelberge r und der FreiburgerHandschrift sowie aus Schmids Abschr iften der ehemaligen Straliburger Handschriften, ed.FERDINANDVETTER [Deutsche T exte des Mittelalters II ] Berlin 1910, S. 357).

66 Vgl. die Geschichten -Eckhart und der Laie-, die beiden als -Meister Ekhart und der armeMensch- bek annten Exempelgeschichten, -Meister Eckharts Tochter-, d ie verschiede nen Versio­nen des dialogischen Exempel s -Das Fra uchen von 22 j ahren- oder die Gesch ichte -D ie Fromme

lichen Ane ignungen zu retten: »Er sprach aus dem Blickwinkel der Ewigke it,ihr aber fa6 t es der Zeitlichkeit nach auf.«67

6. D as Lohnschema wird umgedeutet:Vom Gesellschaftsmodell zur O rdnung der Frauen

Bernhard und Eckhart sind rare Beispiele fiir Auto ren, die mit der etablier­ten moralischen Ordnung brachen, ind em sie ihre Argumente nichtIangerauf den Figuren >W itwe<, >J ungfrau< und -Verheiratete- aufbauten und damitzugleich Konzepte wie -Verdienst- und den richtenden Gott aus dem Den­ken und Sprechen austrieben. So prominent beide auch gewesen sein rnogen,gerade ihre moralische Rh etorik war wed er reprasenta tiv noch traditionsbil­dend. Wie also, so bleibt zu fra gen , verhielt es sich mit der ilberwaltigend enMehrheit der Pred igten und Sermones im 13. bis 15.Jahrhundert? Wie pre­digten all jene chari smati schen Ge stalten von Bernhardin von Siena bis JeanGerson, von Humbert von Rom ans bis Berthold von Regensburg die Ord ­nun g der Moral? Jeder noch so fliichtige Blick in diese T exte zeigt, daB kei­ner VOn ihnen auf d ie rh etorische Kraft der >J ungfrauen - Witwen - Verhei­rateten - verzichtet hat. Und dennoch bringt ein naherer Blick Uberraschun­gen.

Wer nach Vera nderungen in der Sprache moralischer Normierung suchtund nur die Verweigerer des etablierten Stand ard s in den Blick nimmt, er­fa6 t nur eine n kleinen Teil der Veranderungen. Ein gena uerer Blick auf jenePredi ger , die weiterhin unb eeindruck t VOn Ges ta lten wie Bernhard oderEckha rt iiber >Witwen, Jungfrauen und Verheiratete- predi gten, macht auchhier beachtliche semantische Verschiebungen offe nbar. Eine neue, eher so­ziologische Wa hrne hmung der Gesellschaft hat seit dem 13.Jahrhundert deralten Formel einen neuen Sinn gegeben. G anz unspektakular, sozusage n un­ter de r Hand, wurde das Modell der moralisch geordneten Gese llscha ft zueiner Einteilung der weiblichen Objekte der Seelsorge.

Wenn sich erste Anz eichen fiir ein Zerfallen des Standa rds moralischerRede bei Bernhard VOn Clairvaux aufspiiren lassen, dann gera t man gena u injene Zeit, die schon lange im Blick derer ist , die sich fur mittelalterliche Deu­tungsmu ster der Gese llscha ft interessieren. Viele Historiker haben sich mit

Mii llerin -; vgl. zu allen die entsprechenden Ar tikel von KURT RUH, in: Verfa sserlexikon (wieAnm.51 ).

67 Johannes Tauler, Pred igt IS, ed . VETTER (wie Anm. 65) S. 69: er sp rach /ISS der Ewikei t, lindir v ernement es noch der z it ; Ubersetzung mit G EO RG H OFMANN (johannes T auler, Predigten,Freibu rg 1961, S.1 03).

122 3. ,] ungfrauen< - ,Witwen< - -Verheira tete- Vom Gese llschaftsmode ll zur Einteilung der Frauen 123

der fund amentalen W ah rn ehmungsanderung im 11.Jahrhundert befa6t, diein der funktion alen D reiteilung der Gesellscha ft in -Beter - Arbei ter - Krie­ger< mani fest wird. Kri teriu m dieser neuen Klassifikati on war die Funktionder jeweiligen Tatigkeit, ein Krit ieri um, d as die bis dahin getrennten Kleri­ker und Monche in einer Klasse zusammensc hmelzen lie6. Bislan g wa ren sieals 'J ungfrauen< und ,W itwen< (oder quieti - rectores; monachi - clerici ) un ­terschieden, nun reagierte die neue funktiona le Einteilung darauf, daf sichdie Tatigkeiten der Monch e und We ltklerike r kaum un terschi ed en. t "

Di ese neue M anier der gesellschaftliche n Klass ifika tion lieferte das intel­lektuelle Riistzeug, urn jene neuen Tatigkeitsprofile als je eigene soziale Ka­tegori en wa hrz unehmen, d ie sich im 12.Jahrhundert in den Stadten zuG ruppen formierten: H andwerker , Ka ufleute, Gelehrte, Studie rende und sofort. Einschne ide nd hat sie auch die Seelsorge verandert, die Predigten etwaund die Beichtanweisungen . So sehr die Kategorien 'J ungfrau< , ,W itwe< und-Verhei ra tete- ilberall weiterhin »gangige Miinze- de r Predi gt blieb en , inItalien und Frankreich nicht anders als in Deutschl and. f" so ist doch dasEindringe n des neu en Ordnungsp rin zip s deutlich zu erkennen. Durchwegford erten die beriihmte n und we it verbreiteten Bu6summen den Seelsorgerauf, bei der Beichte auf den Beru f der Siinderinnen und Sunder einzuge­hen.70 Zur selben Zeit entsta nde n einige Sammlunge n mit M usterp redigten,deren Einteilunge n die neue Ar t gese llschaftlicher Klassifikati on sehr deut­lich sp iege ln. Waren Pred igtsammlungen bis dah in nach dem Kirchenjahrund nach Heiligenfeste n (de tempore, de sanctis) gegliedert, so sortierten nuneinige ein flu6reiche Autoren auch nach ein er sozialen Klassi fika tion (ad sta-

68 Orro G ERII ARD O EXLE, T ria gene ra hominum. Zur Ge schichte eines Deutungsschemas der

soz ialen Wirklichkeit in Antike und Mittelalter, in: Institutionen, Kultur und Gesellschaft imMittelalter . Fest schrift fiir Josef Fleckenstein , hg. v. LUTZ FENSKE- W ERNER ROESENER- THOMAS

ZOTZ, Sigmar ingen 1984, S. 483-500, bes. S. 498 f.69 Zu franzii sischen und italienis chen Pred igten des spaten Mitte lalters vgl. HASENOH R, La

vie quotidienne de la femme (wie Anm. 5) S. 26 (hier das Zita t ).70 Vgl. den in ganz Europa ver breiteten Text des Pierre de Sampson fiir seine Diozese Nirne s:

Synodal de N imes § 31-37 (1252) ed. ODETTE PONTAL (Les statuts synodea ux francais du 13e

siecle 2 [Collect ion des tex tes indedi ts sur l'h istoire de France 8.15, Paris 1983, S. 295-299): 31.De regulanbus , 32. De clerieis, 33. De principibus et militibus, 34. De mercatonbus, 35. De agri­

cultoribus , 36/37. De mercenariis; auch Synod al de l'Ou est a. 1216/ 9 c. 110, ed . ebd . Bd. 1, Paris197 1, S.216£: Diligente r attendat sacerdos cujus officii sit peniten s; nam si mercator ve ndens velemens prohibendus est ne habeat pondus, mensuram et mensuram et si habuerit falsam mensuram vel

[also mensurauit f...]. Et sic aliis officiis suo modo; Anto nin von Floren z (t 1459) hat in seinemConfe ssionale den Te il mit den Fragen an die Beichtenden eingeteilt in Fragen an aile G laubigen

und Fra gen ad status; vgl. ausfuhrlich Zll den Bulisummen nach Autore n geord net PIERRE MI­CIIAUD-Q UANTIN, Sommes de casuistique et manu els de confess ion au Mo yen -Age (Analecta Me­

d iaevalia Na murcensia 13) Lou vain 196 2, hier Zll Antonin S. 73-75.

tus, sermones v ulgares, ad omne hominum genus).71 Mit die ser neuen Ord­nungsweise zoge n d ie Autoren offenbar die Konsequenz aus der neuen Ar t,di e G esellsch aft zu ordne n. Der T rend, Menschen nach ihren T ati gkeit en zusortieren, fand hier seinen seelsorge risc hen Niede rschlag . We nn die altenKa tegorien >J ungfrau< , ,W itwe<und -Verheiratete- auch in die sen neuen Li­sten aufta uchten, dann sag ten sie nicht meh r dasselbe wie etwa im 5. od er12.Jah rhundert .

Die Sammlung Guibe rts von Tournai ze igt exemplarisch, wie die alte Re­defigur der 'J ungfrauen - Wi twen - Verhei ra te ten- zug leich weiterlebte unddoch begrab en wu rd e. Seinem H auptwerk R udim entum Doctrinae hat er eineSammlung von Musterpredi gten »an aile Stande- ein gefiigt, die er auf einefur jene Zeit signifikante Weise zu ordnen suchte. Sie macht deutlich, wieun gelenk die Autoren ihre Welt zu gleich mit den alten und den neuen Mu­stern zu betrachten suchten. Verglichen mit den immer gleichen Anordnun­gen des Sozialen in friiheren J ahrhunderten wirkt jene Gebrauchsanweisun geigentumlich desorientiert, mit der Guibert sein en Leser das Ordnungsprin­zip der Predigten erklaren wollte:

»Es gibt einige Pred igten, die gehoren zu Mann ern , einige zu Frauen, einige - wennes urn Frauen und urn Ma nner geht - gehoren zu beiden Geschlechtern. .

Guibert stellte an den Anfa ng der Sammlung die Predi gten fur Manner, dieer no chmals in d rei Gruppen teilte:

"Von denen, die sich auf Manner beziehen, sind manc he an Pralaten, manc he anKontemplative und manche an Akt ive gerich tet. [oo .J Die aber, die zu den Ko ntem­plativen gehoren oder den Philoso phen, brauchen eigene Predig ten, die in neunGruppen eingetei lt sind [. . .J. Die aber zu den Aktive n gehoren, werden in zwolfGruppen erfaBt, wie in den folgend en T iteln aufgelistet ist. .

Dann listete Guibert di e »aktiven- Manner auf: Richter und Advoka ten,Diener, Arme und Kranke, Leprosen und Ausges toliene, Kreuzfahrer ,Fremde, Machtige und Soldaten, Burger und Ritter, Handler, Bauern,schlie6 lich H andwerker. D ann kommen die Predi gten fur Frauen, undplotzlich wird es einfach :

"D ie aber zu den Frauen gehoren, werden nach vier Kategorien getrennt: Predi gtenan verh eiratete Frauen, an Witwen, an ]ungfrauen und junge Madchen, an Nonnenund Religiose. .

7 1 Vgl. J EAN LONGERE, La predi cation medieva le, Paris 1983, etwa zu J acques de Vitry S. 88f,

zu Humbert von Romans S. 199f, zu Gui bert von Tournai S. 101 , zu den O rd nungen der Sarnm­lungen S. 142-149, dort S. 147 zu den Predi gten ad status.

124 3. >J ungfrauen< - >W itwen<- -Verheira te te- Vom GeseIlschaftsmocleIl zur Einteilung der Frauen 125

Schlielllich fol gen die Predigten fur beide Geschlechter (ad sexum promiscu­um), namlich an T rauernde, an Magde und Knechte, an Heranwachsendeund Knaben, an die Lehrer, an Frauen und M anner in Prozessionen.V

Uniibersehbar, hier ist dem Autor einiges durche inandergeraten, doch im­merhin ist der Grund seiner Verwirrung gut erkennbar. Guibert wollte au­genscheinlich verschiedene Unterscheidungen miteinander versohnen, diesich nicht versohnen lid~en. So hat er zunachst mit dem neuen soziologi­schen Blick seine Gesellschaft in Berufsgruppen eingeteilt. Doch zu gleichhat er versucht, diese mit mehreren alten Mustern zu verbinden, so mit derEinteilung -Aktive - Kontemplative-, der Einteilung -Pralaten - Kontempla­tive - Laien-, der nach >Jung frauen - Witwen - Verheirateten- und nicht zu­letzt mit der ansonsten eher verschwiegenen Kategorie -M ann - Frau-.

Wer die Geschichte des Lohnschemas seit Hieronymus im Kopf hat, er­kennt auf den ersten Blick, d a6 Guibert das alte Schema der >J ungfrauen ­Witwen - Verheirateten- griindlich umgedeutet hat. Uber Jahrhunderte wardieses Schema ein Schema fur die ganze Gesellschaft, Manner wie Frauen,sofern sie gerettet werden. »Keiner« , urn es mit Gerhoch von Reichersberg(t 1169) zu sagen, »kann aulserhalb dieser drei Stande gerettet werden«.73Zwar hatte man d as Schema, dies sei nicht unterschlagen, immer schon be­sonders fur die Normierung de r Frauen eingesetzt. Doch stets war zugleichdeutlich d ag man den Frauen ein Modell vorhielt, das die ganze Gesell­schaft moralisch konzipierte und das man eben oft genug auch Mannernvorhielt. Es hatte die gesamte gerettete Gesellschaft erfailt, all jene Guten,die als Lohn das Himmelreich erwartete. Nun aber erfalite es einfach dieAdressatinnen der Predigt, gute wie schlechte. Mit >]ungfrauen<meinte Gui­bert anscheinend nurmehr die jungen, unverheirateten Fra uen . D amit war

72 D en T ext druckt CARLA CASAGRANDE (Pred iche aile donne del seco lo XIII, M ailand 1978,

S. 147) im Anh ang an die T eiledi t ion : Sun t igitu r quaeda m pertin entia ad viros, quaedam ad mulie­

res, quaedam ad sexum promiscuum in quo sunt v iri et mulieres. Quae vero pertinent ad v iros, quae­dam ad praelatos, quaedam ad contemplatiuos, qaedam ad activos. Quae pertinent ad praelatos sunt

haec: [. .. ] Q uae vero pertinent ad con templatiuos, sicut et ph ilosophica, requirun t sermones proprios,quorum divis io patet sub nouenario: [. .. ] Quae vera pertinent ad activ os in duodenario nu mero

comprehendun tur, sicut in subiectis titulis demonstra tur: [... ] Q uae vero pertinen t ad mulieres div i­duntur in quatuor difJerentia s annotatas : ad contugatas, ad v iduas, ad v irgines et pue llas, ad moniales

et religiosas. Quae vera pertine nt ad sexum promiscuum suum haben t quinna rium .

7J Gerh och , Exposi tio in Ps. 64, ed . MIGNE PL 194, S. 106C- l07A: Vera siquide m grana ex di­stinctione fruc tuum suorum cognoscuntur, dum aliud tricesimum, aliud sexagestmu m, aliud affirtfructum centesimum . Quod multi doctorum in Dominica messe laborantium sic exp onun t, ut in con­j ugum conuersatio ne recta, et in viduarum seu continentium, sed non virg inum castimo nia, et v irgi­

num perfecta sanct imonla has fruc tus intelligendos insinuen t; eo quod nem o penitu s ex tra haec triagenera sobrie,juste acpie v iventium salvari poterit .

der argumentative Nutzen der alten Redefigur weitgehend verloren. >W itwe<oder >J ungfrau<waren nicht mehr Begriffe fur ein am Verdienst orientiertesmoralisches Konzept, ganz unabhangig vom Geschlecht. Es waren jetzt Be­zeichnungen fur die Lebensabschnitte von Frauen, ganz unabhangig von de­ren moralischer Qualitat. >Witwe< oder >J ungfrau< brachte eine Einteilungder weiblichen Adressatinnen auf den Begriff. Diese Einteilung war, wennschon nicht wie bei den Mannern am Beruf, am Lebensabschnitt orientiert.

Was die Prediger einer Frau allerdings je nach Lebensabschnitt zu sagenhatten, unterschied sich zumeist kaum von dem, was man fruher den drei ge­nera der guten Lebensformen zu sagen hatte. So sehr sich auch volksnaheitalienische Prediger im Stile Bernardins von akademischen franzosischenGelehrten im Stile Gersons unterscheiden mochten, sie aile verwendeten nunzumeist diese modifizierte Version der alten Redefigur. Wo die Trias >J ung­Frauen - Witwen - Verheiratete- auftauchte, da sprach man zumeist Frauenan, wenngleich in der Regel mit denselben Appellen und Vaterzitaten, mitdenen man seitJahrhunderten das Lohnschema umsponnen hatte.74

Bisweilen wird heute die Rede von den >Jungfrauen - Witwen - Verheira­teten- ins Licht der Frauenforschung getaucht und ganz selbstverstandlichals »P rediche aile donne« gedeutet, als Klassifikation »fiir das weibliche Pu­blikum«, als Zeugnis flir »die Frauenseelsorge im ganzen Mittelaltere." Diesmag durchaus richtig sein, aber eben erst ab etwa dem 13.Jahrhundert. Ersturn diese Zeit, und in dieser Beobachtung liegt ein erheblicher Erkenntnis­wert, wurde aus einem moralischen Gesellschaftsmodell eine Einteilung derFrauen.

Mit Blick auf die Dekomposition der ged anklichen Ordnung des Mittelal­ters, sozusagen die semantische Moglichkeit der Reformation, gewinnt maneinen brauchbaren Hinweis: Seit man mit >Wi twe<kaum noch etwas anderesmeinte als -hinterbliebene Frau- und mit >J ungfrau< prirnar -junge Madchen-,funktionierte jene einst ornniprasente Redefigur nicht mehr, mit der man im­mer wieder die ganze Gesellschaft auf die Superioritat der Ehelosigkeit ein­schworen konnte, immer wieder die quantifizierbare Bulie als zentralen Pa­rameter sozialer Ordung predigen konnte, immer wieder die Szenarien des

74 Ein Beispiel dafiir sind auch manche Fiirstensp iegel ; vgl. etwa Vincenz von Beauvais, Deerud itione filiorum nob ilium , hier zu Fra uen c. 47-51, ed . A. STEINER, Cambridge 1938, S.1 94­

219 (eine Versammlung der allbeka nnten Vate rstellen ); ausfuhrlicher Wilhelm Per aldus, De eru­ditione pricipu m, hier 5,49-59 de erudi tion e filiarum, einge teilt in Verheirat ete, W itwen, Ju ng­Frauen, ed . ROBERT BUSA, S.Thomae Aquinati s opera omnia. Aliorum med ii aevi aucto ru m scrip­ta 61,7, Stuttgar t Bad-Cannst att 1980, S. 89- 121, S. 114- 118.

75 Vgl. CASAGRAN DE, Predi che (wie Anm .72); HASENO HR, Vie quotid ienne (wie Anm .5 )S. 22 f.

126 3. >J ungfra uen< - >W itwen< - -Verheiratete- Eine Sinnfigur verschwindet 127

jiingsten Gerichts und des unabwendbar gerechten Gottes ausmalen konnte.Natiirlich predigte man dies nicht selten auch weiterhin. Aber der festesprachliche Kode, der all dies iiber Jahrhunderte zusammengehalten hatte,existierte schon seit einigen Jahrhunderten nicht mehr, als der Streit urn Lu­ther begann.

7. Eine Sinnfigur verschwindet

Wissenschaftlichen Deutungen, die in der Reformation einen »Systernbru ch«mit dem »gradualistischen« Mittelalter sehen, tut man gewi6 nicht Unrecht,wenn man ihre Prarnissen und Erklarungskraft anhand der Formel von den>J ungfrauen - Witwen - Verheirateten- diskutiert. Die Konzentration aufdiese Formel mag als Anschauungsmaterial dienen, urn sich tiber jene Fragenzu verstandigen, die in der Einleitung dieses Buches skizziert worden sind.

Urn dieses dritte Kapitel auf der phanomenologischen Ebene zu resiimie­ren: Seit dem spaten 4.Jahrhundert war die Semantik gesellschaftlicher Mo­ral im wesentlichen urn die weiblichen Figuren der >J ungfrau< , >W itwe< und-Verheirateten- gruppiert. In diesen Figuren waren durch ein Heer von im­mer gleichen historischen und mythischen Vorbildern, von Tugenden, Alle­gorien und biblischen Gle ichnissen die Reizthemen fiir Figuren wie Lutherkodiert: die Uberlegenheit der Enthaltsamkeit, die quantifizierbare Bulie,der gerecht richtende Gott, das verdienstliche Werk, der jenseitige Lohn.Aber dieser sprachliche Standard hat sich nicht annahernd bis ins 16.Jahr­hundert gehalten.

Es ist beachtlich, da6 gerade Bernhard von Clairvaux als einer der erstendie standardisierte Sprache mo ralischer Ordnung verl assen hat. Andere Au­toren, etwa Meister Eckhart, haben konsequent das ganze rhetorische Ran­kenwerk der am jenseitigen Lohn orientierten sozialen Ordnung abgelegt,die >W itwe< und die >J ungfrau< ebenso wie die Rede vom Ertrag, die Tugend­schemata oder die Rede vom -Laien-. In der Aneignung durch die popularenvolkssprachlichen Legenden geriet diese Fromrnigkeit »ohne Weise« zur In­vektive gegen die standische Differenzierung der Heiligkeit. Besonderswichtig ist, da6 keineswegs nur solehe seit langem als »Vor laufer« der Refor­mation gehandelten Figuren wie Bernhard und Eckhart die Sprache morali­scher Kodifikation durcheinander brachten. Denn gerade auf der Ebene derSprache dilfte ein Bernhard kaum eine Wirkung gehabt haben. Wichtigerdiirfte eine Entwicklung gewesen sein, die man auf den Pfaden der tradiertenGeistes- oder Ideengeschichte nicht bemerken konnte. Seit dem 13.Jahrhun­dert hat das Gros der Prediger jene Sprechweise moralischer Ordnung nicht

mehr perpetuiert, die am Ende des 4.Jahrhunderts formiert worden war.Zwar hat man den ganzen Apparat an moralischen Imperativen - bisweilenerweitert und modifiziert - weitergeschleppt, doch im Rahmen der soziolo­gisierenden Denkformen der Gesellschaft waren die drei Figuren der >J ung­frauen-, >W itwen< und -Verheirateten- nicht mehr die Teile eines geschlosse­nen, hierarchischen Gesellschaftsmodells moralischer Ordnung. Sie bezeich­neten nun zumeist die Lebensalter von Frauen in einer Gesellschaft, die inoffenen Standelisten ohne Hierarchisierung erfa6t wurde. Vidua etwa war indiesen Listen nicht mehr die Figuration jener verdienstlichen Lebensformzwischen Kloster und ehelichem Bett, mit der man Hinterbliebene ebensonormativ erfalit hatte wie Kleriker. Die vidua war hier die verwitwete Adres­satin der Predigt.

Systematisch gesagt: Seit etwa dem 13.Jahrhundert ist jener feste Kodeverschwunden, mit dem bis dahin das Ineinander von moralischen Vorstel­lungen und sozialer Ordnung immer wieder repetiert und bestatigt wurde.Ein soziologischer Blick, der seit dem I1.Jahrhundert langsam erkennbarwird, hat die einzelnen Figurationen der alten Redeformel moralischer Ord­nung unmerklich eingebunden in Sichtweisen, die nicht mehr systematischMoral hierarchisierten, sondern systematisch gesellschaftliche Funktionenabgrenzten. Es ware interessant zu wissen, wie die damaligen Professionellenin Sachen Moral - die Prediger und Beichtvater - seit dem 13.Jahrhundertihre moralischen Imperative gruppierten, als sie nicht mehr die bislang domi­nante Redefigur als gedankliches Zentrum benutzten. Eine Forschung, diesich auf die kulturelle Sinnproduktion konzentriert, konnte hier ansetzen,konnte danach suchen, wann neue Denkciperationen, neue Formeln, neueassoziative Geflechte aus Argumenten und Vorbildern, Metaphern und Bi­belreferenzen langsam beherrschend geworden sind. Als Signal kann aus die­ser Sicht gelten, wenn sich im 14. und 15.Jahrhundert eine zunehmendeHaufung von Formulierungen urn das Adjektiv solus/ sola finden la6t. Diesevertraute Beobachtung ware ein guter Ansatz, urn das konflikttrachtige ge­sellschaftliche Aushandeln neuer begrifflicher Standardisierungen nachzu­zeichnen und zu sehen, wie und durch welehe Krafte eine immer schon anden Randern prasente Argumentationsfigur als dominante Formel durchge­setzt wurde. Wie lange dauert es, bis eine neue semantische Standardisierungerkennbar ist?