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MeMoranduM 2006 Mehr Beschäftigung braucht eine andere ... · MeMoranduM 2006 Mehr Beschäftigung...

Date post: 14-Jun-2020
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3. Gegen Privatisierung und Ausgrenzung – Gute Bildung für alle Wenn das Thema „Bildung“ im Rahmen alternativer Wirtschaftspo- litik betrachtet werden soll, ist es unerlässlich, zunächst deren Grundpfeiler in Erinnerung zu rufen. Die wissenschaftliche Erarbeitung von Alternativen zum wirt- schaftsliberalen Mainstream ist wichtig, wenn es darum geht, Resigna- tion und Selbsttäuschung zu überwinden: Wer durchschaut, dass sie bzw. er von Wirtschaftspolitikerinnen und -politikern und der Main- stream-Wissenschaft getäuscht wird, und erkennt, dass es überzeugen- de Alternativen gibt, wird eher bereit sein, sich politisch gegen die vorherrschende Politik zu wenden und sich für die Durchsetzung von Reformen einsetzen. Das gilt analog für die von der Wirtschaftspolitik abhängigen Bereiche der Sozial- und Bildungspolitik. Es geht letztlich darum, gesellschaftliche Macht- und Kräfteverhältnisse zu verändern: Alter- native Wirtschaftspolitik steht für einen Typus von Politik, der einen Wechsel in den ökonomischen Denk- und Handlungsmustern (Para- digmenwechsel) einfordert und eine umfassende Reform der überhol- ten Wirtschafts- und Sozialpolitik betreibt. Vorstellungen über alter- native Wirtschaftspolitik sind dabei immer in konkrete ökonomische und politische Auseinandersetzungen integriert. Es widerspräche alternativer Wirtschaftspolitik, diese als ein umfassendes wissenschaft- liches Theoriesystem – etwa der Klassik oder Neoklassik vergleich- bar – zu begreifen. Deshalb werden auch nicht aus der abstrakten Konstruktion idealtypischer Wirtschaftszusammenhänge universell gültige wirtschaftspolitische Reformen abgeleitet. Das gilt analog für die Bildungspolitik. Analysen, die darauf abzielen, Alternativen zum vorherrschenden Bildungssystem zu erarbeiten, müssen die Verwicklung in das vor- herrschende Wirtschaftssystem und den wirtschaftsliberalen Mainst- ream berücksichtigen. Die konkrete inhaltliche Ausformulierung wie auch die Weiterentwicklung der Eckpunkte alternativer Bildungspo- Auszug aus: MEMORANDUM 2006 Mehr Beschäftigung braucht eine andere Verteilung ISBN 3-89438-343-7 PREIS 17,50 Euro BEZUG Im Buchhandel oder bei: PapyRossa Verlags GmbH & Co. KG, Köln Luxemburger Str. 202 D–50937 Köln ARBEITSGRUPPE ALTERNATIVE WIRTSCHAFTSPOLITIK Postfach 33 04 47, 28334 Bremen memorandum @ t-online.de
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104 KAPITEL 2

Statistical Yearbook of Norway 2005

The Heritage Foundation (2005): 2006 Index of Economic Freedom, Washington(http://www.heritage.org/research/features/index)

Transparency International (2005): International Corruption Perception Index2005, Berlin

World Economic Forum (2005): Women’s Empowerment: Measuring the GlobalGender Gap, Genf: http://www.weforum.org/pdf/Global_Competitiveness_Reports

Yale Center for Environmental Law and Policy, Yale University und

Center for International Earth Science Information Network, Columbia Univer-sity (Hg.) (2005): Environmental Sustainability Index. Benchmarking Natio-nal Environmental Stewardship (http://www.yale.edu/esi/ESI2005_Main_Report.pdf)

3. Gegen Privatisierung und Ausgrenzung –Gute Bildung für alle

Wenn das Thema „Bildung“ im Rahmen alternativer Wirtschaftspo-litik betrachtet werden soll, ist es unerlässlich, zunächst derenGrundpfeiler in Erinnerung zu rufen.

Die wissenschaftliche Erarbeitung von Alternativen zum wirt-schaftsliberalen Mainstream ist wichtig, wenn es darum geht, Resigna-tion und Selbsttäuschung zu überwinden: Wer durchschaut, dass siebzw. er von Wirtschaftspolitikerinnen und -politikern und der Main-stream-Wissenschaft getäuscht wird, und erkennt, dass es überzeugen-de Alternativen gibt, wird eher bereit sein, sich politisch gegen dievorherrschende Politik zu wenden und sich für die Durchsetzung vonReformen einsetzen.

Das gilt analog für die von der Wirtschaftspolitik abhängigenBereiche der Sozial- und Bildungspolitik. Es geht letztlich darum,gesellschaftliche Macht- und Kräfteverhältnisse zu verändern: Alter-native Wirtschaftspolitik steht für einen Typus von Politik, der einenWechsel in den ökonomischen Denk- und Handlungsmustern (Para-digmenwechsel) einfordert und eine umfassende Reform der überhol-ten Wirtschafts- und Sozialpolitik betreibt. Vorstellungen über alter-native Wirtschaftspolitik sind dabei immer in konkrete ökonomischeund politische Auseinandersetzungen integriert. Es widersprächealternativer Wirtschaftspolitik, diese als ein umfassendes wissenschaft-liches Theoriesystem – etwa der Klassik oder Neoklassik vergleich-bar – zu begreifen. Deshalb werden auch nicht aus der abstraktenKonstruktion idealtypischer Wirtschaftszusammenhänge universellgültige wirtschaftspolitische Reformen abgeleitet. Das gilt analog fürdie Bildungspolitik.

Analysen, die darauf abzielen, Alternativen zum vorherrschendenBildungssystem zu erarbeiten, müssen die Verwicklung in das vor-herrschende Wirtschaftssystem und den wirtschaftsliberalen Mainst-ream berücksichtigen. Die konkrete inhaltliche Ausformulierung wieauch die Weiterentwicklung der Eckpunkte alternativer Bildungspo-

Auszug aus:

MeMoranduM 2006Mehr Beschäftigung braucht eine andere Verteilung

ISBN 3-89438-343-7 PreIS 17,50 euro

BezugIm Buchhandel oder bei:Papyrossa Verlags GmbH & Co. KG, Köln Luxemburger Str. 202D–50937 Köln

ARBEITSGRUPPE ALTERNATIVE WIRTSCHAFTSPOLIT IKPostfach 33 04 47, 28334 Bremen m e m o r a n d u m @ t - o n l i n e . d e

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litik müssen in einem möglichst breiten öffentlichen Diskurs stattfin-den.

3.1 Ökonomische Einordnung

3.1.1 Zwei Begriffe von Bildung

Ein Problem der bildungspolitischen Debatte besteht darin, dass sievon zwei Bildungsbegriffen geprägt ist, die sich zwar teilweise er-gänzen, teils aber auch deutlich widersprechen. Der erste Begriff folgtHumboldt, demzufolge der „wahre Zweck des Menschen (…) diehöchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einemGanzen“ (Humboldt 1792: 106) ist. Bildung wird in diesem humani-stischen Sinne als Selbstbildung des Individuums verstanden, diesich nicht auf einzelne Lebensbereiche, sondern auf das Leben alsGanzes erstreckt und erstrecken soll. Diesem weiten humanistischenVerständnis gegenüber steht ein engerer Bildungsbegriff, der eherauf Qualifikation oder Fachkompetenz abstellt und die Verwertbar-keit der erlernten Fähigkeiten und Fertigkeiten ins Zentrum derDebatte rückt.

Für den an Humboldt angelehnten Begriff spricht dessen Breite,aber als problematisch erweist sich, dass in der bildungsbürgerlichenDebatte der sozio-ökonomische Kontext oftmals vernachlässigt wird(Schöller 2004: 516). Aufgabe fortschrittlicher Bildungspolitik wärees daher, einen umfassenden Bildungsbegriff zugrunde zu legen, derauf der Höhe der Zeit ist. Unserem Verständnis nach ist Bildung einevollständige individuelle Entfaltung der Menschen, infolge deren dieIndividuen befähigt werden, gesellschaftlichen und kulturellen Reich-tum produzieren und sich aneignen zu können. Auf diese Weise wirdauch dem Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft besserRechnung getragen: Ein hohes gesellschaftliches Reichtumsniveauund die Beteiligung der Einzelnen an der Produktion und Aneignungbedingen einander.

Bildung hat die Aufgabe, Menschen die Partizipation an gesell-

schaftlichen Prozessen zu ermöglichen, und ist für die Demokratisie-rung aller gesellschaftlichen Bereiche unerlässlich, da sie zu kritischerReflexion befähigt und für das Erkennen eigener, verallgemeinerba-rer Interessen notwendig ist. Bildung ist jedoch auch eine wichtigeProduktivkraft zur Steigerung des gesellschaftlichen Reichtums,weswegen ihre ökonomische Funktion in fortschrittlicher Perspekti-ve nicht zu vernachlässigen ist.

3.1.2 Bildung in der Wachstumstheorie

Lange spielte die Frage nach der Rolle von Bildung für ökonomischeProzesse nur eine untergeordnete Rolle. Weder die postkeynesiani-sche Wachstumstheorie, die die Bedingungen für ein gleichgewich-tiges Wachstum untersuchte, noch die ursprüngliche neoklassischeProduktionstheorie, die Wachstum aus der Menge des Einsatzes derFaktoren Arbeit und Kapital ableitete, gingen explizit auf den Ein-fluss von Bildung ein. Auch die Erweiterung der neoklassischenProduktionsfunktion um den technischen Fortschritt, wie sie Solowentwickelt hat (Solow 1957: 312 ff.), widmete sich nicht den bil-dungsbezogenen Ursachen von Wachstum, sondern integrierte einenals exogen angenommenen technischen Fortschritt lediglich in derspezifischen Form der produktivitätswirksamen Prozessinnovationin die Theorie. Der Einfluss von Bildung auf technischen Wandelhingegen wurde ausgeklammert, denn letztlich ging es nur um die„formale Erweiterung der Wachstumstheorie um den zusätzlichenProduktionsfaktor ‚technischer Fortschritt’“ (Zinn 2002: 252).

Daher konnte von einer Erklärung des Wirtschaftswachstums imengeren Sinne keine Rede sein. Erst mit Erklärungsansätzen überLearning by Doing-Prozesse im Rahmen der Neuen Wachstumstheo-rie wurde der technische Fortschritt endogenisiert. Angenommenwurde hierbei, dass wachstumsfördernde Innovationen nicht nur dieBildung von Sachkapital, sondern auch eine angemessene Ausstat-tung mit so genanntem „Humankapital“ voraussetzen. Die Modelleder Neuen Wachstumstheorie betrachten Bildung im Sinne eines

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Lernprozesses als Inputfaktor zur Steigerung der Produktivität. Mithinwird die Investition in Bildung (bezeichnet als Schaffung von „Hu-mankapital“) grundsätzlich mit der Investition in Sachkapital vergli-chen, da beide einen Verzicht auf den Gegenwartskonsum und dafüreinen höheren Konsum in der Zukunft darstellten.

Die Neue Wachstumstheorie vermag es eher als die neoklassischeWachstumstheorie, die Realität theoretisch angemessen zu fassen, dasie die Rolle von Bildung für Wachstum – etwa über die Bedeutungexterner Effekte durch Bildung – berücksichtigt. Sie baut jedoch wiedie neoklassische Wachstumstheorie auf der Gleichgewichtsannahmeauf (vgl. Zinn 2002: 267 f.), wonach ohne Berücksichtigung der ge-samtwirtschaftlichen Nachfrage bei freier Preisbildung eine Ausdeh-nung von Inputfaktoren gleichsam automatisch zu höherem Wachs-tum führen würde. Aus dieser Fehlannahme folgt die ebenfalls falscheVorstellung, der freie Zugang zu Bildung sei eine hinreichende Be-dingung für soziale Gerechtigkeit. Deshalb ist es dringend notwen-dig aufzuzeigen, was Bildung leisten kann – und was eben nicht.

3.1.3 Bildung als Ersatz für Nachfragepolitik zur Steigerungvon Wachstum?

Ökonomisch kann Bildung das Produktionspotenzial in einer Volks-wirtschaft durch eine erhöhte Faktorproduktivität der verausgabtenArbeit und der eingesetzten Produktionsmittel steigern. Dabei istwichtig, dass eine höhere Arbeitsproduktivität in der Regel auf dasZusammenspiel höher qualifizierter Arbeitskräfte und zugleich hö-herer Sachkapitalausstattung in Form neuer Maschinen angewiesenist. Bildung hat hierbei die Aufgabe, die Qualifikation beim Umgangmit Produktionsmitteln zu steigern wie auch durch Qualifikationneuere und bessere Produktionsmittel gesellschaftlich hervorzubrin-gen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt des Zusammenhangs von Bildungund Produktivitätswachstum besteht in den positiven externen Effek-ten, die von Ersterer ausgehen. Das durch Bildung entstehende neue

technologische Wissen befördert Produkt- und Prozessinnovationen.Die Transformation von Bildung in Innovation erfolgt jedoch nichtnur unmittelbar, sondern maßgeblich auch im Rahmen sozialer Lern-prozesse, bei denen verschiedene Grade von Nachahmung eine we-sentliche Rolle spielen. Solche Vorgänge der Nachahmung können alspositive externe Effekte der Tätigkeit von Erstinnovatoren interpre-tiert werden, da die gesamtwirtschaftliche Produktivitätserhöhungnicht nur durch die Innovation an sich, sondern auch erheblich durchdie Imitationen, also Synergieeffekte, ausgelöst wird. Gesamtwirt-schaftlich kann Bildung auf diese Weise zu steigenden Skalenerträgenauf der Seite der Produktionsmöglichkeiten beitragen (vgl. Zinn 2002:267). Bildung ist also ein öffentliches Gut, da Nichtrivalität vorliegt,d.h. es sollte allen unabhängig vom sozialen Status und Einkommenzu Verfügung stehen und nicht privatisiert werden können. Gebüh-renfreie Bildungsangebote und sogar öffentliche Subventionen fürinnovationstreibende Bildungsträger sind daher zur Steigerung derProduktionsmöglichkeiten notwendig.

Mit dieser Erhöhung des Produktionspotenzials korrespondiertjedoch eben kein automatisch nachziehendes Nachfragewachstum.Bildung beeinflusst allerdings auch dieses positiv. Höhere Bildungs-ausgaben könnten in den heutigen Zeiten der Unterbeschäftigungdurch ihren direkten und multiplikativen Effekt das Nachfragewachs-tum steigern. Insgesamt zieht Bildung somit positive Folgen nach sich,die es ermöglichen, einen höheren gesamtgesellschaftlichen Reich-tum zu produzieren.

Durch Bildungsanstrengungen induzierte Produktivitätssteigerun-gen können beispielsweise den Lebensstandard der Individuen erhö-hen und eine Grundlage zur Lösung der demografischen Alterungschaffen. Dies setzt jedoch voraus, dass die Bildungspolitik in einemakroökonomische Gesamtstrategie eingebettet wird, bei der dasWachstum der Binnennachfrage und gleicher verteilte Einkommens-und Vermögensverhältnisse zum Gegenstand der politischen Zielset-zung werden. Mit anderen Worten: Bildungspolitik ist für höheresWachstum relevant, reicht aber alleine nicht aus. Sie kann nur imZusammenhang mit Verteilungspolitik und makroökonomischer

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Steuerung die Potenziale einer höheren Produktivität für tatsächlichesWachstum nutzen.

3.1.4 Bildung als Ersatz für makroökonomischeBeschäftigungspolitik?

Oftmals wird von konservativer Seite betont, Bildung reduziere dieNotwendigkeit staatlicher Beschäftigungspolitik und erhöhe dieMöglichkeit so genannten eigenverantwortlichen Handelns. Die Ei-genverantwortung solle darin bestehen, sich durch Bildung selbst„beschäftigungsfähig“ zu machen, womit impliziert wird, dass imFalle der Erhöhung der Produktivität des Einzelnen gleichsam auto-matisch ausreichend Arbeitsplätze bereit stünden, so dass eine ma-kroökonomische Steuerung unnötig und überflüssig würde. DerSozialstaat könne demnach auf die Bereitstellung von (Weiter-) Bil-dungsmöglichkeiten reduziert werden, wenn sichergestellt werde,dass den Menschen ein Existenzminimum zugestanden wird.

Eine Erhöhung der Bildungsausgaben über steigende Arbeitspro-duktivität bietet jedoch keineswegs eine hinreichende Problemlösungfür den Arbeitsmarkt. Denn das Grundproblem einer auseinanderklaf-fenden Entwicklung von Arbeitsproduktivitäts- und Nachfragewachs-tum wird durch mehr Bildungsausgaben nicht zwangsläufig aufgeho-ben. Die Arbeitslosigkeit würde in Bezug auf dieses Problem nur dannreduziert, wenn das durch höhere Bildungsausgaben erwirkte Nach-fragewachstum größer wäre als die via Bildung wachsende Arbeits-produktivität. Dies aber ist nicht zwingend vorauszusetzen, weswe-gen Arbeitszeitverkürzung zum Ausgleich der etwaigen Lücke vonArbeitsproduktivitäts- und Nachfragewachstum weiterhin notwendigbleibt.

Damit soll nicht dementiert werden, dass eine bessere Bildung dortwirksam sein kann, wo Arbeitslosigkeit aufgrund von Mismatchingvorliegt, denn es gibt in der Tat auch Arbeitsplätze, die infolge un-zureichender Qualifikation von zu wenigen Lohnabhängigen genutztwerden. Dies ist jedoch keineswegs die Kardinalursache für die

Massenarbeitslosigkeit, denn Arbeitslosigkeit lässt sich auch in denReihen von gut ausgebildeten Arbeitskräften feststellen.

Bildung alleine ist also auch kein unumstößlicher Garant zurBehebung von Arbeitslosigkeit. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeitsetzt neben Verbesserungen des Bildungssystems außerdem mehrBinnennachfrage, andere Verteilungsverhältnisse und eine Verkürzungder Arbeitszeit voraus.

3.1.5 Private und soziale Erträge von Bildung

Richtig ist, dass es wichtige soziale Erträge von Bildung gibt. Posi-tive externe Effekte, die Entwicklung neuer technischer und medizi-nischer Möglichkeiten, die Erforschung sozialer und ökonomischerFragen, die Befassung mit kulturellen Fragestellungen, eine geringe-re Kriminalität, eine höhere soziale Kohäsion (Weltbank 2000) undähnliche wünschenswerte Auswirkungen, die auf Bildungsanstren-gungen zurückzuführen sind, haben erhebliche gesellschaftlicheBedeutung. Überdies entstehen die für die gesellschaftliche Entwick-lung wichtigen Innovationen und Erfindungen in aller Regel erstdurch einen Rückgriff auf gesellschaftlich vorhandenes Wissen. Bil-dung produziert also gesellschaftliche Erträge, die keineswegs alleinin monetären Größen fassbar sind.

Daneben generiert sie auch individuellen Nutzen: In der kapita-listischen Wirtschaftsordnung lassen sich in vielen Fällen mit zerti-fizierter Bildung höhere Einkommen (und damit höhere Renten)erzielen (vgl. Dohmen/Ammermüller 2004). Hinzu kommen einebessere Gesundheit und eine höhere Lebenserwartung durch gesün-dere Ernährung, weniger körperlich belastende Berufe, Wohnen ingesünderer Umgebung, bessere medizinische Versorgung sowie oftdurch eine höhere persönliche Zufriedenheit. Dies macht die Forde-rung nach „Bildung für alle“ ebenso richtig wie der genannte eman-zipatorische Effekt, dass Bildung zur Selbstentfaltung der Individu-en beiträgt.

Allerdings darf auch hier nicht vergessen werden: Fragen wie ein

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höheres Erwerbseinkommen und die daran anknüpfenden Fragen dergesünderen Ernährung, der besseren Wohnungen und der intensive-ren medizinischen Versorgung sind in kapitalistischen Systemen andie Verwertbarkeit der jeweiligen Bildung geknüpft – und zwar imkapitalistischen Sinne. Der kapitalistische Verwertungsimperativ ansich ist jedoch blind für vernünftige gesellschaftliche Zwecke undverursacht Zustände, die das individuelle Wohlbefinden, die Gesund-heit, die Versorgungssicherheit und allgemein die Daseinsvorsorgegefährden können. Damit ist eine Beschränkung politischer Forderun-gen auf eine Ausdehnung und Verbesserung von Bildung allein keinprogressiver politischer Ansatz.

Bildung alleine kann nur den Rahmen oder die Voraussetzung füreine Verbesserung der Lebensbedingungen sein; sie kann jedoch keinemakroökonomische Steuerung ersetzen. Die These von der Bildungals dem Eingangstor für die Zukunftsfähigkeit von Individuen blen-det zudem die Frage nach der Verteilung von Gütern aus. Die Not-wendigkeit sozialstaatlicher Eingriffe und einer Umverteilung darfdaher nicht durch das Gebot der Zugangsmöglichkeiten („Chancen-gleichheit“) ausgetauscht werden (vgl. Butterwegge 2005). Dies mussangesichts zahlreicher Publikationen, die Bildung als Generalschlüs-sel zur Behebung der Probleme in Deutschland fehl deuten, entschie-den betont werden.

Selbstverständlich ist die mögliche Partizipation an Bildung einewichtige Voraussetzung für gesellschaftliche Entwicklung. Ohne dieThematisierung der Verteilung von Reichtum und Macht kann siegesellschaftliche Gleichheit jedoch nicht herstellen (vgl. Recht/Him-pele 2005). Ebenso kann Bildung für sich genommen keine Arbeits-plätze schaffen, da die Nachfrageseite nicht betrachtet wird. Ökono-mischer Wohlstand wird sich daher nie nur durch Bildung erreichenlassen – Bildung kann hier nur ein Baustein, wenngleich kein unwich-tiger, sein. Nur wenn eine bessere Bildungspolitik ergänzt wird durcheine andere Verteilung gesellschaftlichen Reichtums, eine anderegesellschaftlich-makroökonomische Steuerung, sozialstaatliche Inter-ventionen in den Marktmechanismus und mehr demokratische Mit-bestimmung, wird wahrhafter Fortschritt erzielt.

Wer Bildung in den Elfenbeinturm verlagert und sie von gesell-schaftlichen und ökonomischen Prozessen abschottet, löst sie vonihrer gesellschaftlichen Einbettung. Eine bessere Ausnutzung erwor-bener Qualifikationen für berufliche Zwecke ist nützlicher, und durchBildung hervorgebrachte Effizienzsteigerungen, Erfindungen undInnovationen als Voraussetzung von Produktivitätssteigerungen sindwünschenswert, da sie kürzere Arbeitszeiten, bessere Lebensbedin-gungen und einen höheren potenziellen gesellschaftlichen Reichtumermöglichen. Allerdings müssen diese Errungenschaften auf alleMenschen verteilt werden. Denn es geht um gerecht verteilte Arbeits-zeit anstelle der heutigen Kombination von Massenarbeitslosigkeitund Überarbeit und um Wohlstand für alle – und nicht um kapitali-stische Gewinne für einzelne. Fortschrittliche Bildungspolitik undprogressive Wirtschaftspolitik, bei der Reichtum, Macht und Arbeits-zeit gerecht umverteilt werden, stehen also in einem sich bedingen-den Ergänzungsverhältnis. Erst das Zusammenspiel beider Bereicheermöglicht es, den humanistischen Anspruch auf individuelle Bildungaller menschlichen Kräfte in Gänze einzulösen.

3.2 Bildung und Gesellschaft

3.2.1 Bildung und Herrschaft

Bildung ist ein ebenso mächtiges Instrument der Veränderung wie sieInstrument von Stabilisierung ist (Heydorn 1973). Zur Bildung ge-hört deshalb das Bewusstsein über ihre Verstrickung in die herr-schaftliche Verfasstheit der Wirklichkeit. Eine Schlüsselrolle spielendabei die Universitäten und hier besonders die ökonomischen Fakul-täten, in denen fast ausschließlich wirtschaftsliberaler Mainstreamgelehrt wird. Wer Definitionsmacht besitzt, kann auch definieren,welche Begriffe „wahr“ und welche „falsch“ sind und welche Diskur-se (als Verbindungen zwischen Begriffen) „Wahrheit“ beanspruchenkönnen. Das erklärte Ziel bundesdeutscher Hochschulpolitik, dieUniversitäten letztlich zu stromlinienförmigen Produktionsstätten

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von ökonomisch verwertbarem Wissen zu machen, hat auch wegender relativistischen und affirmativen Haltung vieler Akademikerin-nen und Akademiker Erfolg (vgl. Maischak/Euskirchen 1999).

Kritik an neoliberaler Bildungspolitik muss deshalb mit der Kri-tik an den theoretischen Rechtfertigungen der wirtschaftsliberalengesellschaftlichen Umgestaltung insgesamt einhergehen. Diejenigen,die positivistisch die neoliberale Globalisierung als quasi-natürlicheGrundlage hinnehmen, bleiben dazu verdammt, Herrschaftswissenbereitzustellen.

3.2.2 Bildung und Ungleichheit

Bildungseinrichtungen können soziale Ungleichheit reproduzierenoder ihre Auswirkungen mildern. Das zeigt der internationale Ver-gleich. Bildung beginnt nicht erst mit der Einschulung, sondern mitder Geburt. Die seit PISA viel beklagte Chancenungleichheit zwi-schen Kindern hat wesentlich mit der ökonomisch-familiären Situa-tion zu tun. Schichtspezifisch geprägtes Wissen wird als „kulturellesKapital“ (Bourdieu) von den Eltern und dem schichtspezifischenUmfeld in alltäglichen Situationen meist unbemerkt an die Kinderweitergegeben. Bildungschancen werden also „sozial vererbt“. Diesführt zu ungleich schlechteren Bedingungen für benachteiligte Kin-der in der Schule, vor allem für Kinder von Migrantinnen und Mi-granten. Die enge Verknüpfung von sozialer Herkunft und Bildungs-erfolg ist von der empirischen Bildungsforschung seit 50 Jahrenimmer wieder statistisch belegt worden. Das deutsche Bildungssys-tem ist dabei unter allen OECD-Ländern immer wieder als eines dersozial selektivsten identifiziert worden.

1.) Soziale Ungleichheit und Bildungsergebnisse:Die Studien PISA 2000 und PISA 2003 haben jeweils einen enor-men Kompetenzvorsprung der Jugendlichen aus der Oberschichtgegenüber denen der unteren sozialen Schichten in verschiedenengemessenen Kompetenzformen (Mathematik-, Lese- und Naturwis-

senschaftskompetenz) festgestellt. Diese sind in den vier überzeitlichvergleichbaren Untersuchungsbereichen bis zum Jahr 2003 auf je-weils über 100 PISA-Punkte angewachsen, was einem Lernvor-sprung von deutlich mehr als zwei Schuljahren entspricht. Damit hatsich die soziale Ungerechtigkeit in den Bildungsergebnissen seit demJahr 2000 noch einmal deutlich gesteigert. Die in den Medien ver-breiteten Meldungen über die leichten Verbesserungen der deutschenBildungsergebnisse sind außer im Bereich der Lesekompetenz sozi-al selektiv. Es haben sich also nur die Ergebnisse der Oberschicht-kinder leicht verbessert.

Kompetenzmittelwerte und sozioökonomischer Status der Familie– Vergleich zwischen 2000 und 2003

2000 2003

Obere Untere Diff. Obere Untere Diff.Sozial- Sozial- Sozial- Sozial-schicht schicht schicht schicht

MathematischeKompetenz: 521 444 77 552 450 102Raum und Form

MathematischeKompetenz:Veränderung &

524 441 83 563 450 113

Beziehungen

Lesen 538 421 117 539 434 105

Naturwissen-schaften

535 431 104 561 441 120

Quelle: PISA-Konsortium, PISA 2003 – Der Bildungsstand der Jugendli-chen in Deutschland – Ergebnisse des zweiten internationalen Vergleichs.2004, S. 364

Tabelle 6: Der Leistungsvorsprung von Kindern aus der oberen Sozialschichthat sich – verglichen mit 2000 – mit Ausnahme der Lesekompetenz vergrö-ßert

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2.) Ungleiche Teilhabe- und Bildungschancen:Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung verweistauf folgende Fakten: „Die Chancen eines Kindes aus einem Eltern-haus mit hohem sozialen Status, eine Gymnasialempfehlung zu be-kommen, sind rund 2,7-mal so hoch, wie die eines Facharbeiterkin-des, und das bei [...] Kontrolle der kognitiven Fähigkeiten und derLesekompetenz.“ (Bundesministerium für Gesundheit und sozialeSicherung, 2005: 140) Bei 15-Jährigen aus der Oberschicht steigt lautPISA 2003 die Chance, das Gymnasium zu besuchen, gegenübereinem Facharbeiterkind auf das Vierfache, in Bayern sogar auf das6,7-fache (Loewe 2005: 7). Die Chancen eines Kindes ohne Migrati-onshintergrund, auf eine Gymnasialempfehlung sind unter Kontrol-le der Schichtzugehörigkeit und der Leseleistung 1,7 Mal höher alsbei einem Kind mit Migrationshintergrund. Sind beide Eltern desKindes im Ausland geboren, ist dessen Chance auf einen Gymnasi-albesuch sogar nur rund ein Viertel so hoch ist wie bei einem Kind,dessen Eltern beide in Deutschland zur Welt gekommen sind. Bis zurHochschule steigert sich die soziale Ungerechtigkeit des deutschenBildungssystems zu einer 7,4 Mal so hohen Chance eines Kindes auseinem Elternhaus mit hohem sozialen Status gegenüber einem mitniedrigem sozialen Status, ein Studium aufzunehmen. Dies soll inForm eines „Bildungstrichters“ dargestellt werden (S. 117).

Für diese außerordentliche soziale Schieflage ist vor allem dasdeutsche Bildungssystem verantwortlich, das im internationalenVergleich die zivilgesellschaftliche Dimension von Bildung vernach-lässigt. Seit der Französischen Revolution wird die Aufgabe staatli-cher Bildungssysteme generell in der Erziehung, Ausbildung undQualifizierung einer jeden Staatsbürgerin und eines jeden Staatsbür-gers (Citoyen) gesehen. Um diese Aufgabe nicht dem Verwertungs-interesse der Einzelkapitale zu unterwerfen, wurde sie einem staatli-chen, durch Steuern finanzierten Bildungssystem übertragen. Staat-liche Investitionen ins Bildungssystem wurden als eine öffentlicheDaseinsvorsorge betrachtet, deren Nutzung auf allen Stufen jederStaatsbürgerin und jedem Staatsbürger zustand (Égalité). Dies bedeu-tete meist einen (formal) freien Zugang und zumindest eine grund-

legende Bildung für alle, und die war fast ausschließlich gebühren-frei zu haben.

In der Bundesrepublik Deutschland wurde das Bildungssystembisher öffentlich-gesamtgesellschaftlich, auf Länderebene und in denKommunen gesteuert, kontrolliert und als eine staatliche Aufgabeüber ein progressives Steuersystem finanziert. Durch die Verankerungder deutschen Bildungsstaatlichkeit im westdeutschen Wohlfahrts-staatsmodell (konservatives Wohlfahrtsstaatsmodell nach Esping-Andersen) haben sich infolge ihrer Interaktion mit der Familie und

Quelle: Bundesministerium für Bildung und Forschung 2004: 119

Schaubild 1

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dem Arbeitsmarkt laut Gottschall fünf spezifische Strukturmerkma-le des heutigen deutschen Bildungssystems herausgebildet, die ganzentscheidend die soziale Selektivität des deutschen Bildungssystemsbefördern. Sie entstanden zumeist schon im Kaiserreich insbesonde-re aus einer „erwerbssystemorientierten Standardisierung und Stra-tifizierung des deutschen Bildungssystems“ (Gottschall 2002: 6)analog zu den Bedürfnissen einer industriellen Gesellschaft. DieseStrukturmerkmale könnte man mit den Schlagworten „ständisch underziehungsfern“ charakterisieren (Gottschall 2002: 2).

3.2.2.1 Die Trennung von Bildung und Erziehung im deutschen BildungssystemNach 1945 wurde in Westdeutschland die bereits in der WeimarerRepublik gültige Maxime beibehalten, Erziehung sei „oberste Pflicht“und „natürliches Recht“ der Eltern. Für die Jugendfürsorge wurde dasSubsidiaritätsprinzip verankert. Dies geschah auch in Abgrenzungzum DDR-Bildungssystem. So gibt es heute noch (vor allem in West-deutschland) eine chronische Unterversorgung mit Kinderbetreuungs-einrichtungen. Die Trennung führte außerdem zu einer Hierarchisie-rung zwischen dem Lehrpersonal und den Erzieherinnen und Erzie-hern, die sich in der Akademisierung/Nicht-Akademisierung, denVerdienst- und Aufstiegsmöglichkeiten und dem „Frauenberuf Erzie-herin“ widerspiegelt. Des Weiteren fehlt im internationalen Vergleicheine entwickelte fachwissenschaftliche Frühpädagogik in Deutschland.Es besteht, vor allem im Westen, eine gesellschaftliche Geringschät-zung öffentlicher Erziehung, die in die familiäre, „weibliche“ Sphä-re mit all ihren sozialen Ungleichheiten gedrängt wird. VorschulischeEinrichtungen gehören daher in Deutschland auch nicht zum Schul-wesen und gelten zumeist als bildungsfreie Veranstaltungen. Erst seitden PISA-Ergebnissen wurde hier ansatzweise ein Reformbedarferkannt, aber noch keinesfalls ausreichend angegangen.

3.2.2.2 Die Dreigliedrigkeit des deutschen SchulsystemsUrsprünglich aus dem Kaiserreich stammend (Trennung zwischenVolks- und höherer Bildung als Rekrutierungsfeld für Verwaltungs-laufbahnen in der staatlichen Bürokratie), wurde das zunächst noch

einigermaßen durchlässige Schulsystem bis zum Ende der WeimarerRepublik in ein „ständisch strukturiertes dreigliedriges System über-führt“ (Gottschall 2002: 3): Hauptschule, Realschule und Gymnasi-um. Hier entstanden verbindliche Schulabschlüsse und somit spezi-fische, voneinander getrennte und hierarchisierte Zugangsberechti-gungen für verschiedene Ausbildungszweige und Tätigkeiten auf demArbeitsmarkt (so z.B. handwerkliche oder akademische Laufbahnen).

3.2.2.3 Die Organisation von Schule als HalbtagsschuleZu Beginn des 20. Jahrhunderts führten England und Frankreich, umnur zwei Beispiele zu nennen, moderne Ganztagsschulsysteme ein, dieüber den reinen Unterricht hinausgehende soziale und sozialpoliti-sche Leistungen wie Mittagessen und Freizeitgestaltung boten (Gott-schall 2002: 4). In Westdeutschland wurde die Organisation der Schu-le in ihrer Halbtagsform durch drei pädagogisch-soziale Leitvorstel-lungen unterstützt und begleitet, die auch heute noch wirken:a) Bildung wird als eine rein kognitive Wissensvermittlung verstan-

den, da Erziehung im Privaten stattfindet.b) Die Halbtagsschule setzt die nicht-erwerbsfähige Hausfrau und

Mutter voraus, die zu Hause ist, nicht arbeitet und für ein Mittag-essen sorgt.

c) Ebenso vorausgesetzt wird ein Vater, der diese Idealfamilie durchein ausreichendes Einkommen versorgen kann.

3.2.2.4 Finanzverteilung innerhalb des BildungssystemsDiese vergangenheitsverhaftete Reproduktion von Standesunterschie-den lässt sich auch bei einem international vergleichenden Blick aufdie Ausgabenverteilung innerhalb des heutigen deutschen Bildungs-systems feststellen: Die ohnehin schon unter dem OECD-Durch-schnitt liegenden öffentlichen Bildungsausgaben in Deutschlandwerden schwerpunktmäßig zur „Ausbildung von mittleren bis höhe-ren Berufspositionen einer klassischen Industriegesellschaft“ (Schmidt2002: 9) verwendet. Vergleicht man z.B. die öffentlichen Ausgabenfür eine typische Gymnasial-Hochschul-Bildungskarriere mit deneneiner klassischen Ausbildungskarriere, die über das duale System

121120 GUTE BILDUNG FÜR ALLEKAPITEL 3

verläuft, so werden für die letztgenannte Laufbahn gerade einmal halbso viele öffentliche Ausgaben aufgewendet wie für erstere (Klemm2003: 240 ff). Des Weiteren ergibt sich im Bildungsverlauf (vomKindergartenbesuch bis zum Studium) eine Zunahme der Ausgabenpro Bildungsteilnehmerin bzw. -teilnehmer. Dies darf jedoch nichtdarüber hinwegtäuschen, dass das gesamte öffentliche Bildungssystemim internationalen Vergleich strukturell unterfinanziert ist. Demwiderspricht nicht, dass sich die wenigen Mittel auf den typischenBildungsweg der Mittelschichten konzentrieren und etwa Primarstu-fen (fehlende Ganztagsangebote etc.) und die Hauptschule besondersbenachteiligt werden. Zudem ist der Anteil der privaten Bildungsaus-gaben an den gesamten Ausgaben für Bildung im internationalenVergleich sehr hoch, bedingt vor allem durch die Ausgaben für dasduale System und durch die Gebühren für die vorschulischen Einrich-tungen.

Diese Strukturmerkmale, die in der westdeutschen Nachkriegsge-sellschaft als Stützen des ökonomisch so erfolgreichen „ModellsDeutschland“ galten, wurden zum ersten Mal mit weitreichendemEcho von Georg Picht 1964 kritisch dokumentiert. Die Benachteili-gungsprofile bei den Bildungsergebnissen haben sich gewandelt:Während der 1960er Jahre wurden schlechte Bildungschancen mitdem Beispiel des „katholischen Arbeitermädchens vom Lande“ be-schrieben. Heute wäre dies mit dem „schon einmal sitzen gebliebe-nen männlichen Hauptschüler mit Migrationshintergrund aus sozi-al prekären regionalen Lebenskontexten“ zu illustrieren (Baumert/Carstensen/Siegle 2005: 358 – 361). An der grundlegenden Chancen-ungleichheit hat sich jedoch so gut wie nichts geändert. Das heißt: DieBildungsexpansion der 1960er und 1970er Jahre konnte beim Abbauschichtspezifischer Ungleichheit keine nachhaltigen Erfolge erzielen.Besonders problematisch sind die Verlierer der Bildungsexpansion,„nämlich jene ca. 10 Prozent Jugendliche, die das Bildungssystem ohneSchul- und Ausbildungsabschluss verlassen, die man als Bildungsar-me bezeichnen kann“ (Gottschall 2002: 7). Zusätzlich belastet dieKrise des dualen Systems die Perspektiven von „Bildungsarmen“durch einen Finanzierungsrückzug der deutschen Wirtschaft und

damit einen konstanten Abbau von Lehrstellen. Und wie bereitsdargelegt, reproduziert sich die Armut auch über die mit ihr einher-gehende systemisch produzierte Bildungsarmut.

Neoliberale Politik, die immer mehr Menschen in prekäre Be-schäftigungs- und damit Lebensverhältnisse zwingt, hat immensenachteilige Auswirkungen auf die Lebenschancen von Kindern. Daskonservative Element der frühzeitigen Selektion im deutschen Bil-dungssystem sorgt zusätzlich für eine im internationalen Vergleichbesonders hohe Rate an schlecht Ausgebildeten. Hinzu kommenverborgene gesellschaftliche Mechanismen der „internen Ausgren-zung“, die es beispielsweise Kindern aus Arbeiterfamilien trotz erfolg-reicher Schulbildung erschweren, einen gesellschaftlichen Aufstiegzu erreichen (Hartmann 2002). Sie können allenfalls Bildungstitelerlangen, die sie berechtigen, bei einem Spiel mitzumachen, in demschon alle Plätze besetzt sind.

Es ist darüber hinaus zu befürchten, dass die zukünftig so gut wieausschließliche Zuständigkeit der Bundesländer für das deutscheBildungssystem die allgemeinen sowie regionalen sozialen Ungleich-heiten weiter vertiefen wird. Nicht die Qualität des Bildungswesensstand bei der Föderalismusreform im Vordergrund, sondern die Ent-schädigung der Bundesländer für ihren Machtverzicht im Bundesrat.Die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse ist schon jetzt durch einenFlickenteppich an unterschiedlichen rechtlichen Regelungen im Bil-dungssystem eingeschränkt. Auch die Mobilität der Wissenschaftle-rinnen und Wissenschaftler wird wegen unterschiedlicher Dienstrech-te weiter erschwert bis unmöglich werden.

3.2.3 Bildung und Bildungspolitik im Neoliberalismus

Der Widerspruch in der Bildung bewegt sich, wie eingangs erwähnt,zwischen den Polen Emanzipation (d.h. Bildung als Selbstzweck) und„Ausbildung“ zur ökonomischen Verwertung (Förderung des „Hu-mankapitals“). Im Bildungssystem unter neoliberalen Vorzeichenwerden emanzipatorische Fähigkeiten wie Teamfähigkeit und Urteils-

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fähigkeit der Einzelnen durchaus gefördert. In der neoliberalen Ideo-logie und Logik dienen diese Fähigkeiten jedoch nicht der individu-ellen Emanzipation, sondern der effektiveren Verwertung von Ar-beitskraft für die abstrakten, übergeordneten Ziele der internationa-len Wettbewerbsfähigkeit und des Wachstums, die wiederum übereinen Drop-down-Effekt den Wohlstand aller sichern sollen.

Anhängerinnen und Anhänger des Wirtschaftsliberalismus be-trachten den Staat als Institution, der das Schulwesen „in ein Korsettvon Gesetzen und Verordnungen presst, in dem Freiräume und Eigen-verantwortung für Lehrer, Eltern und Schüler unerwünscht sind“(Rodenstock 2000: 162). Dagegen helfe Wettbewerb als „Lebenseli-xier des Fortschritts“. Bildung wird unter neoklassischen Marktge-sichtspunkten betrachtet. Sie diene dem Wirtschaftssystem, da sieWachstum, Innovationen und Arbeitsplätze sichere.

3.2.3.1 Neoliberaler „Bildungs-Lobbyismus“ in DeutschlandNeoliberale bzw. wirtschaftsliberale Bildungspolitik in Deutschlandzielt darauf ab, alle Möglichkeiten der Deregulierung auszuschöpfenund den Staat in seine Aufsichtsfunktion zurückzudrängen. Ein Aus-druck dieser Politik ist z.B. der auf Initiative der Vereinigung derBayerischen Wirtschaft gegründete bundesweite Aktionsrat Bildung,der den „Reformdruck auf politische Entscheider“ erhöhen soll. Injährlichen Berichten sollen konkrete Reformvorschläge formuliertwerden. Deregulierung wird als Schlüssel für mehr Freiheit, Gerech-tigkeit und Qualität in der Bildung gesehen. Ausgangspunkt desAktionsrats Bildung ist die dreiteilige Studie „Bildung neu denken!“,die einen umfassenden Weg zur Umgestaltung des deutschen Bil-dungssystems vom Vorschul- bis ins späte Erwachsenenalter aufzeigt.

Daneben engagieren sich weitere neoliberale Lobbygruppen undThink-Tanks für eine zunehmende Ökonomisierung der Bildung,darunter das Cato Institut, die Mont Pelerin Society, Carnegie, dieBertelsmann-Stiftung (direkt an Schulen und Hochschulen, über dasCentrum für Hochschulentwicklung CHE oder durch Projekte wieSchulen ans Netz und BertelsmannSchulen), McKinsey, Merryll-Lynch und Sylvan Learning Systems. Diese Think-Tanks sind bzw.

werden teilweise direkt durch transnationale Konzerne gefördert, wieetwa im Falle Bertelsmann/CHE (Bennhold 2005). Sie haben großesInteresse an Bildungsmärkten. Neben ideologischen Gründen spielenhier vor allem reale Profitinteressen eine erhebliche Rolle:1. Der Bildungsmarkt wächst antizyklisch. Je größer die Krise im

ökonomischen System, umso größer ist der Ruf nach geistigerUmorientierung, nach veränderten Ausbildungsprofilen und neu-en Bildungsinhalten.

2. Neue Absatzmöglichkeiten für Produkte und Dienstleistungenscheint hier der bisher staatliche Bereich der Daseinsvorsorge zubieten. Was früher als Folge von Grundrechten über den Staat oft-mals kostenlos angeboten wurde, soll jetzt durch Konzerne ver-wertet werden.

3. In der Sichtweise der Humankapitaltheorie bietet sich ein riesi-ger Markt für Dienstleistungen und Produkte, da jede und jederEinzelne in ihr bzw. sein „Humankapital investieren“ soll, um ihrebzw. seine Arbeitskraft besser zu vermarkten. Dann kann sie bzw.er laut Humankapitaltheorie – so argumentiert z.B. die OECD –bei guter Investition alsbald einen „Bildungsertrag“ realisieren,der um einiges höher als die persönlichen Investitionen sein soll.

Neben den Konzernen, Wirtschaftsverbänden und nationalen Regie-rungen sind es vor allem internationale Institutionen, die durch star-ke Lobbyarbeit auf der Grundlage des neoklassischen/neoliberalenParadigmas in der Wirtschaftswissenschaft die Ökonomisierung na-tionaler Bildungssysteme vorantreiben. Zu nennen sind hier vor al-lem die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklung (OECD), die Welthandelsorganisation (WTO), der Euro-pean Round Table of Industrialists (ERT), die Weltbank, der Interna-tionale Währungsfonds (IWF) sowie die EU-Kommission.

3.2.3.2 Die Internationale Ebene der Bildungs-LiberalisierungFür den Bildungsbereich von Bedeutung sind auf internationalerEbene vor allem die WTO und das „General Agreement on Tradesand Services“ (GATS) sowie darüber hinaus das Abkommen zu „Traderelated Aspects of Intellectual Property Rights“ (TRIPS) von 1995.

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Für europäische Bildungssysteme besteht durch GATS auf nationa-ler Ebene die Gefahr, dass durch so genannte Paketlösungen in denkommenden Verhandlungsrunden die EU den Schutz der staatlichenBildungssysteme gegen andere Vorteile (z.B. Protektionen im land-wirtschaftlichen Bereich) eintauschen wird (Scherrer/Yalcin 2002).Andere Länder (z.B. die USA im Bereich der Hochschulen) treten hieran die EU mit Anfragen und Forderungen zu weiteren Liberalisierun-gen heran und unterbreiten Angebote. Die EU ist allerdings jetzt schonin den einzelnen Bildungssektoren bei sämtlichen Erbringungsartenweitreichende Verpflichtungen eingegangen und dadurch „das WTO-Mitglied, das den Bildungssektor im GATS bisher am stärksten libe-ralisiert hat“ (Hachfeld o.J.). Bisher besteht die EU noch auf so ge-nannten „horizontalen Ausnahmen“, durch die sie sich das Rechtvorbehält, sowohl „den Marktzugang für Bildungsanbieter als auchderen Zugang zu staatlichen Subventionen selbstständig zu regulie-ren“ – selbst wenn dies im Widerspruch zu GATS steht (Hachfeld o.J.).Es wächst die Gefahr, dass durch die immer weitergehende Kommer-zialisierung staatlicher Bildungsangebote diese ebenfalls in den Gel-tungsbereich des GATS hineingeraten sollen und nicht mehr alshoheitliche Staatsaufgaben ausgenommen werden können.

3.2.3.3 Schrittweise Ökonomisierung des Bildungssystems hin zum Bil-dungsmarktEs findet also ein schrittweises Herauslösen des nationalen Bildungs-systems aus der staatlichen Verantwortlichkeit statt. Diesen Prozesskann man als Ökonomisierung bezeichnen, da er das Bildungssystemmehr und mehr den Marktkräften aussetzt. Um dies zu beschleuni-gen, werden weitere Veränderungen in der Organisation von Bildungs-systemen angestrebt. Bildung wird dabei zur Ware erklärt. Man möchteBildungsmärkte etablieren, auf denen Anbieter im Wettbewerb mit-einander konkurrieren. Dabei wird Bildung als Investition für einenzukünftigen persönlichen wirtschaftlichen Profit gesehen. Dies ist derBildungsertrag.

Um Bildungsmärkte zu realisieren, müssen in der neoliberalenLogik folgende strukturelle Änderungen durchgeführt werden:

1. Modularisierung und Zertifizierung: Bildungsabschnitte werden nuneingeteilt in Module, die zertifiziert werden. Dort werden beiBestehen „skill-cards“ – also Zertifikate – ausgegeben. JedesModul kann auf dem Bildungsmarkt angeboten werden.

2. Bepreisung und Budgetierung: Die Ware Bildung muss nun bepreistwerden. Sie darf nicht umsonst bleiben, sonst kann man nicht mitBildung handeln. Deshalb werden Gebühren oder äquivalenteSysteme wie Bildungssparen und -konten oder eine begrenzte An-zahl öffentlich finanzierter Bildungsgutscheine eingeführt. DerBund bzw. die Länder gewähren den Hochschulen (und Schulen)eine Budgetautonomie.

3. Bereitstellung von Marktinformationen: Für einen Bildungsmarktwerden Informationssysteme benötigt: Diese sind zum einen derPreis für Bildung (Gebührenhöhe) und zum anderen ein Systemnormsetzender Vergleiche (z.B. Uni-Rankings) bzw. Akkreditie-rungsagenturen, durch deren Informationen sich verschiedenePreissegmente ausbilden können.

4. Privatisierung: Die staatliche Bildung wird reduziert auf kleineBereiche der „staatlichen Grundbildung“. Die restlichen Bildungs-bereiche werden (teil)privatisiert und in so genannte „Private-Pu-blic-Partnerships“ umgewandelt. Bildungseinrichtungen werdenzu marktfähigen Bildungsanbietern bzw. Bildungsproduzentenumgewandelt.

3.2.3.4 Veränderte Zielsetzung von Bildung in der marktmäßigen Organi-sationWas in der öffentlichen Diskussion kaum zur Sprache kommt, ist diemit einem Bildungsmarkt einhergehende veränderte Zielsetzung vonBildung. Galt in der Vergangenheit noch, dass Bildung auch eineMöglichkeit bot, soziale Barrieren zu überwinden – man denke an dieDiskussion in den 1970er Jahren –, so spielt diese Option inzwischenkeine Rolle mehr. Der Markt reproduziert zwangsläufig Ungleichhei-ten, „indem er die Verteilung von Gütern und Dienstleistungenmaßgeblich auf Basis bestehender Ungleichheiten der Einkommens-und Vermögensverteilung vornimmt“ (Recht/Himpele 2005: 74).

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Neue Ziele von Bildung sind dann vor allem eine möglichst umfas-sende Verwertbarkeit des Einzelnen und eine erfolgreiche Erwerbs-biografie. Dem Individuum wird im Marktsystem dadurch auch dieganze Verantwortung für seine Bildungsbiografie auferlegt.

3.3 Eckpunkte alternativer Bildungspolitik

Um unter den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen die Idee vonBildung neu zu umreißen, ist eine doppelte Aufgabe zu bewältigen:Die Geschichte des Widerspruchs von Bildung und Herrschaft mussfür die Gegenwart analysiert und gleichzeitig eine hinreichendeDiagnose geleistet werden. „Denn was Bildung heute heißen kann,bestimmt sich nicht zuletzt aus der Kenntnis der gesellschaftlichenProduktions- und Verwertungsprozesse, aus der Höhe des erreichtenNiveaus gesellschaftlicher Rationalität, aus den objektiv entwickel-ten und vorenthaltenen Möglichkeiten menschlicher Lebensführung,aus den Widerstandspotenzialen im sozialen System. Von hier ausmuss die Aufgabe der Bildung heute umrissen werden.“ (Pongratz1995: 25)

Bildung muss prinzipiell demokratisch-emanzipatives Bewusst-sein und den Respekt vor den Mitmenschen fördern.

3.3.1 Grundgedanken einer sozial-emanzipatorischenBildungsreform

Bildungspolitische Programme und politische Sonntagsreden kreisenaktuell vor allem um die Begriffe des „Lebenslangen Lernens“ undder „Wissensgesellschaft“. Diese werden im Regelfall ideologisch alsindividuelle Anforderung „eigenverantwortlicher Wettbewerbs- undBeschäftigungsfähigkeit“ interpretiert. Jenseits dieser neoliberalenInstrumentalisierungen und politischer Phrasendrescherei hat dieVorstellungswelt einer „Wissensgesellschaft“ jedoch auch einen rea-len gesellschaftlichen Kern. Wir befinden uns im Übergang zu einer

sich globalisierenden, hochtechnologischen Produktionsweise, inwelcher die Zugänge zu Wissen und wissenschaftlicher Bildung im-mer wichtiger werden: als individuelle und sozial-kooperative Res-source für gesellschaftliche Handlungsfähigkeit. Dabei ergeben sichfolgende Leitgedanken für einen Umbau des extrem konservativenund sozial selektiven deutschen Bildungssystems:

� Verschiedene Bildungsangebote müssen in allen biografischenPhasen grundsätzlich zugänglich, gegenseitig durchlässig und mit-einander kombinierbar sein. Dies ist gleichbedeutend mit demAbbau finanzieller, sozialer, alters- oder geschlechtsspezifischerAusschlussgründe.

� Eine Bildungsreform muss sich besonders auf jene Bildungsstufenkonzentrieren, bei denen solche sozialen Ausschlüsse besondersstark ins Gewicht fallen: Zu fordern wären beispielsweise dieErweiterung des Zugangs zur vorschulischen Erziehung (u.a.durch Abschaffung des privaten Gebührenanteils), die Überfüh-rung des dreigliedrigen Schulsystems in einen durchgängigenintegrierten Unterricht (mindestens bis zur 10. Jahrgangsstufe), dereine Kooperation in Vielfalt mit dem Gedanken der individuel-len Förderung verbindet; schließlich eine deutliche soziale Öff-nung der Hochschulen, sowohl durch Bildungsfördermaßnahmenals auch durch eine Ausweitung der Möglichkeiten zum Hoch-schulzugang, sowie das Verbot von Studiengebühren jeder Art.

� Eine entscheidende soziale Schlüsselqualifikation ist die selbststän-dige wissenschaftliche Urteilsfähigkeit. Die soziale Öffnung zuwissenschaftlichen Aneignungsmöglichkeiten muss daher ein in-tegrierender Leitgedanke der Bildungsreform sein. Dies ist nichtauf eine Vermehrung der Zahl der Abiturientinnen und Abituri-enten zu beschränken, sondern kann ebenso eine wissenschaftli-che Niveauanhebung der – traditionell nicht-akademischen –beruflichen Bildung bedeuten und/oder deren Anerkennung alsZugang zu Hochschulangeboten.

Die strategische gesellschaftliche Vision hinter diesen einzelnen

129128 GUTE BILDUNG FÜR ALLEKAPITEL 3

Reformschritten ist eine horizontal gegliederte Struktur gleichwer-tiger und gegenseitig durchlässiger Bildungsangebote – allgemein-bildend, berufspraktisch, wissenschaftlich – im Rahmen eines öffent-lich verfassten und über Rechtsansprüche der Individuen reguliertenSystems „Lebensbegleitenden Lernens“. Um dieses System sozialgerecht zu gestalten, muss Bildung umsonst sein und über ein pro-gressives Steuersystem als eine der wichtigsten gesamtstaatlichenAufgaben finanziert werden.

3.3.2 Konkrete Forderungen

3.3.2.1 Vorschulischer Bereich – Mehr als Verwahranstalten� Bildungsprozesse von Kindern beginnen nicht erst mit dem Ein-

tritt in die Grundschule. Gerade im vorschulischen Bereich wer-den oftmals entscheidende Grundlagen für weitere Teilhabemög-lichkeiten am sozialen und kulturellen Leben geschaffen. Dahermüssen bereits in diesem Lebensabschnitt Nachteilsausgleiche mitdem Ziel einer Integration aller Kinder in die Gesellschaft unab-hängig von Geschlecht und Herkunft Prinzipien der Bildungspo-litik sein. Das deutsche vorschulische System genügt diesen An-sprüchen nicht. Deshalb bedarf es eines bundesweiten Konzeptszur Definition von Bildungszielen im vorschulischen Bereich. DaKindergärten und Kindertagesstätten auch einen Bildungsauftraghaben, muss das Bundesministerium für Bildung und Forschungzumindest mit zuständig für diesen Bereich sein.

� Zwar besteht bereits seit 1996 ein Rechtsanspruch auf einen Kin-dergartenplatz, in der Realität sind aber in den westlichen Bundes-ländern gerade einmal für ein Viertel aller Kinder Ganztagesplätzevorhanden.

� Durch private Beiträge und formale Einengung des Zugangs nurfür Kinder mit berufstätigen Eltern werden Kinder aus ohnehinschon benachteiligten gesellschaftlichen Schichten zusätzlich be-nachteiligt.

� Eine Neuausrichtung der Ausbildung der Erzieherinnen und Er-

zieher im Sinne einer Qualifikation für eine Tätigkeit in Einrich-tungen mit einem Bildungs- und einem Erziehungsauftrag ist drin-gend erforderlich. Denn momentan beinhaltet diese Qualifikati-on eher eine Breitbandausbildung für verschiedenste Altersgrup-pen und ohne relevanten Praxisanteil. Deshalb muss zum eineneine Spezialisierung des Ausbildungsprofils erfolgen und zudemder Anteil an Praktika und Praxistagen während der Ausbildungerhöht werden. In diesem Zusammenhang sollte auch eine Verla-gerung der Ausbildung in die Hochschulen vollzogen werden.

3.3.2.2 Schule: Unterschiede akzeptieren – Begabungen fördern – Chan-cen erhöhen� Der schulpolitische Leitgedanke der Leistungshomogenität hat

sich als Fehlgriff erwiesen. Während vermeintlich schwächerenSchülerinnen und Schülern durch vorwiegend soziale Selektions-mechanismen bereits im frühen Alter die lebenslange Perspektiv-losigkeit verordnet wird, erben Kinder aus Akademikerfamiliendas Privileg einer weitgehend selbstbestimmten Lebensgestaltung.Diese Wirklichkeit steht dem Anspruch einer sozial-emanzipato-rischen Bildungspolitik mit dem Ziel der Verbesserung der Le-benschancen aller jungen Menschen diametral entgegen. Es ist ander Zeit, endlich Abstand vom rückwärts gewandten, pseudo-eli-tären Leitbild der Klassengesellschaft zu nehmen und diesem auchkonkrete Maßnahmen entgegenzustellen, die mit der notwendigenEntschlossenheit durchgesetzt werden.

� Der integrierte Unterricht bis mindestens zur 10. Klasse mussflächendeckend Realität werden. Die „Schule für Alle“ ist nichtkonzeptionell gescheitert, sondern an der konkreten Ausgestal-tung. Es ist nicht förderlich, den progressiven Ansatz des gemein-samen Lernens in Konkurrenz zu den verkrusteten Strukturen desmehrgliedrigen Schulsystems zu stellen.

� Der Anspruch individueller Förderung jedes Kindes steht dieserForderung nicht entgegen. Im Gegenteil haben Kinder nur inheterogenen Gruppen die Möglichkeit, ihre tatsächlichen Neigun-gen zu entdecken, losgelöst von den an sie – durch ihre Leistungs-

131130 GUTE BILDUNG FÜR ALLEKAPITEL 3

klassenzugehörigkeit determinierten – gestellten Ansprüchen.Denn Lernprozesse finden nicht nur auf fachlich-akademischerEbene statt. Es geht nicht nur um die Förderung sozialer Kompe-tenzen; vielmehr muss die Übernahme gegenseitiger Verantwor-tung integrales Ziel einer Gesellschaft sein, die ihre Kinder zumündigen Mitgliedern einer solidarischen Gemeinschaft erziehenwill.

3.3.2.3 Berufliche Bildung� Das Angebot an Ausbildungsplätzen muss erhöht werden. Hier-

zu ist eine bundesweite Ausbildungsplatzumlage nötig, die sicher-stellt, dass ausbildende Betriebe nicht von nicht ausbildendenausgenutzt werden.

� Allen (jugendlichen) Arbeitslosen, besonders denen ohne Schul-abschluss, müssen Möglichkeiten aufgezeigt und gegeben werden,wie sie weitere Qualifikationen erlangen können, um ihre Situa-tion zu verbessern. Hierzu müssen öffentliche Hilfs- und Bera-tungsstellen geschaffen werden.

3.3.2.4 Hochschulpolitik� Der Hochschulzugang muss geöffnet werden. Auch Menschen

ohne traditionelle Hochschulzugangsberechtigung müssen grund-sätzlich die Möglichkeit bekommen, an den Hochschulen zu stu-dieren.

� Während des Studiums dürfen keine weiteren Hürden entstehen.So müssen nach der Umstellung der Studiengänge auf die Ab-schlüsse Bachelor und Master alle Bachelorabsolventinnen und -absolventen das Recht haben, im Masterstudium weiter zu studie-ren.

� Alle Arten von Studiengebühren, auch Langzeitgebühren, festigendie soziale Selektion des Bildungssystems massiv und sind aussozialpolitischen Gründen abzulehnen. Vor allem potenzielleStudierende aus finanziell schwächeren Familien werden sich einStudium nicht mehr leisten können. Studiengebühren sind auchaus wirtschaftlichen Gründen abzulehnen, da sie dem Ziel entge-

genwirken, die Studierquote zu erhöhen. Auch bildungspolitischsind die negativen Steuerungsmechanismen, die Studiengebührenmit sich bringen, nicht zu unterschätzen. Die Studienfachwahl unddie Studiengänge werden sich zunehmend an der wirtschaftlichenVerwertbarkeit orientieren und nicht am gesellschaftlich Wün-schenswerten.

� Bereits bestehende Studiengebühren müssen abgeschafft werden.Auch Masterstudiengänge müssen gebührenfrei bleiben.

� Schon heute belaufen sich die Lebenshaltungs- und Studienkostenim Durchschnitt auf 700 Euro im Monat (Dohmen/Hoi 2004). DasBAföG ermöglicht vielen Menschen überhaupt erst die Finanzie-rung eines Studiums. Doch besteht hier dringender Reformbedarf.So muss der Kreis der Bezieherinnen und Bezieher erweitertwerden, um mehr Studierende fördern zu können. Besonders bei„Mittelschichtenfamilien“ entstehen zunehmend Probleme, daEltern aus dieser Gruppe ihren Kindern oft kein Studium mehrfinanzieren können, die Kinder aber dennoch nicht gefördertwerden.

� Die Verfassten Studierendenschaften müssen erhalten und auch inBayern und Baden-Württemberg legitimiert werden. Ihre Kompe-tenzen müssen auf ein allgemeinpolitisches Mandat ausgeweitetwerden. Zudem sind die akademischen Gremien der Hochschu-len durch paritätische Besetzungen zu demokratisieren.

� Hochschulen stehen in öffentlicher Verantwortung und müssenausreichend finanziert werden.

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