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Ache Lhamo. Wie wird die tibetische Oper als politisches Mittel benutzt und wie beeinflusst dies die...

Date post: 16-Jan-2023
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Universität Leipzig Fakultät für Geschichte, Kunst- und Orientwissenschaften Institut für Indologie und Zentralasienwissenschaften Ache Lhamo Wie wird die tibetische Oper als politisches Mittel benutzt und wie beeinflusst dies die sozio-kulturellen Bereiche tibetischer Gesellschaften? Bachelorarbeit 1. Gutachter: Prof. Dr. Per Kjeld Sørensen 2. Gutachter: Dr. Klaus Koppe Vorgelegt von: Daniel Wojahn [email protected] am: 08.10.2013 Bearbeitungszeitraum: 30.04.2013 bis 08.10.2013
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Universität Leipzig

Fakultät für Geschichte, Kunst- und Orientwissenschaften

Institut für Indologie und Zentralasienwissenschaften

Ache Lhamo

Wie wird die tibetische Oper als politisches Mittel benutzt und wie

beeinflusst dies die sozio-kulturellen Bereiche tibetischer

Gesellschaften?

Bachelorarbeit

1. Gutachter: Prof. Dr. Per Kjeld Sørensen 2. Gutachter: Dr. Klaus Koppe

Vorgelegt von: Daniel Wojahn

[email protected]

am: 08.10.2013

Bearbeitungszeitraum: 30.04.2013 bis 08.10.2013

Inhaltsverzeichnis

1. Einführung ....................................................................................................................................... 1

2. Historischer Entstehungsprozess...................................................................................................... 3

2.1 Thang-stong rgyal-po als Vater der tibetischen Oper ........................................................... 3

2.2 Die Entwicklungen unter der Herrschaft des V. Dalai Lama ................................................ 4

2.3 Beginn der Propaganda. Das Zho-ston Festival ................................................................... 5

2.4 Die steigende Bedeutung der tibetischen Oper ..................................................................... 6

2.5 Tibets Exil in Indien ............................................................................................................. 9

3. Die tibetische Oper als Instrument politischer Propaganda ........................................................... 11

3.1 Akzeptanz. 1950-1966 ........................................................................................................ 11

3.1.1 Veränderung und Professionalisierung ................................................................... 17

3.1.2 Der Vorabend der Kulturrevolution ........................................................................ 19

3.2 Totalverbot. Die Kulturrevolution 1966-76 ........................................................................ 20

3.4 Die TIPA geht auf Welttournee. Reaktionen und Sanktionen ............................................. 21

3.5 „Das zweite goldene Zeitalter.“ Chinas Tibetpolitik ab 1980 ............................................ 22

3.6 Der Kampf um kulturelles Erbe .......................................................................................... 24

4. Schlussbetrachtung......................................................................................................................... 29

5. Anhang ........................................................................................................................................... 32

5.1 Abbildungen........................................................................................................................ 32

5.2 Literaturverzeichnis ............................................................................................................ 34

5.3 Eidesstattliche Erklärung .................................................................................................... 38

1

1. Einführung […] the form in which his [the Tibetan people; d.V.] 'natural artistic instincts' found most prodigious and wide-spread expression seems to have been in music, dance and theatre. Unlike the plastic arts, […] the performing arts found universal expression not only in the rituals of the church, or the ceremonies of the rulers, but in almost every aspect of the lives of the common Tibetan.1

Die vorliegende Arbeit soll einen historischen Überblick über die Geschichte der tibetischen

Oper geben und in die kulturpolitischen Strategien der Kommunistischen Partei China und der

tibetischen Exilregierung in Dharamsala, Indien, einführen.

Das Hauptinteresse der Tibetologie bestand von jeher in der Analyse theologischer und histo-

rischer Schriften und erst seit Anfang der 1990er Jahre wurde damit begonnen, die Situation

der Diaspora und die Errichtung der Autonomen Region Tibet unter chinesischer Autorität in

gebührendem Maße wahrzunehmen. In der Diskussion um Tradition und ihrer weiteren Pflege

im Exil wird vor allem die A-lce lha-mo2 zu einem integralen Bestandteil des tibetischen Kul-

turerbes und eröffnet somit die Möglichkeit, anhand von Aufführungen ein Weiterleben ihrer

inhärenten Werte und Normen an folgende Generationen weiterzugeben. Inwiefern diese auf

profunden Fakten und Traditionen beruhen, soll ebenso Gegenstand dieser Arbeit sein wie das

Nutzen der tibetischen Oper als Werkzeug politischer Propaganda im Kampf um kulturelle

Deutungsmacht. Propaganda im hier verwendeten Sinn orientiert sich an der Definition von

Nicolas Cull, Professor für Internationale Beziehungen an der University of Southern Califor-

nia:

Without purpose, propaganda can have no aim and direction, and therefore no distinctive function differentiating it from other social and political activities. […] Propaganda is best seen as the deliberate attempt to influence public opinion through the transmission of ideas and values for a specific purpose, not through violence or bribery.3

Der Begriff Ache Lhamo wird oft mit Theater, Oper oder, allgemeiner, mit darstellender Kunst

übersetzt. Für die Verwendung dieser (westlichen) wissenschaftlichen Terminologie soll eine

Definition aus der Formlehre der Musik Klarheit schaffen.

Die unentschiedene Terminologie spiegelt die Unentschiedenheit der Sache selbst. Nicht eine definierte Form war gemeint, sondern Funktion oder Art der Ausführung wurden be-nannt: Die Abgrenzung von der Vokalmusik war das vorrangige, elementare Ereignis.4

1 Norbu 1986: S.1. 2 Im Folgenden Ache Lhamo. Vgl. Punkt 2.1 zur Wortherkunft und Übersetzung. 3 Cull 2003: S.318. 4 Kühn 2007: S.99. Hervorhebung im Original.

2

Des Weiteren werden alle tibetischen Begriffe zunächst nach dem Wylie-Schema5 transliteriert.

Im Folgenden werden sie mit einer einfacheren und an die Aussprache angelehnte Umschrift

wiedergegeben.

Weitestgehend wird auf die Beschreibung der Elemente der Ache Lhamo, wie Musik, Requi-

siten, Masken und so weiter verzichtet und wird nur, wenn es der Argumentation dienlich ist,

veranschaulicht. Zum einen dient dies der Fokussierung auf die eigentliche Fragestellung und

wurde zum anderen ausführlich in früheren Arbeiten beschrieben.6

Die Gliederung erfolgt anhand der Quellenlage oder chronologisch anhand wichtiger histori-

scher Ereignisse und Zeiträume.

Vor allem die beiden Theaterwissenschaftler Prof. Antonio Attisani von der Universität Turin

und Venedig und Prof. Colin Mackerras von der Griffith-Universität in Brisbane, Australien,

haben große Teile ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit der tibetischen Oper gewidmet und werden

auch im Verlauf und Kontext zitiert. Colin Mackerras hat aufgrund seiner Feldforschung in

Tibet und angrenzenden Gebieten in den 1980er und 1990er Jahren mehrere Zeitschriftenartikel

verfasst und behandelt die Thematik der darstellenden Künste in Tibet seit der chinesischen

Besetzung im Jahr 1950.

Einen anderen Ansatz verfolgen die Werke Zlos-gar von Jamyang Norbu, ehemaliger Mitar-

beiter des Theaterinstituts im Exil, und die Winterausgabe 2001 der Zeitschrift Lungta. Beide

Schriften nähern sich dem Thema mittels Interviews, welche mit tibetischen Flüchtlingen in

Indien oder im westlichen Ausland geführt wurden, oder anhand von historischen Berichten

und Schriften.

Die theoretische Einbettung der Argumentation der vorliegenden Arbeit erfolgt anhand der

Enzyklopädie Propaganda and Mass Persuasion – 1500 to the Present von Nicolas Cull, The

Invention of tradition von Eric Hobsbawm, sowie Richard Handlers Theorie in Nationalism and

the Politics of Culture in Quebec. Hierdurch soll ein Interpretationsangebot gegeben werden,

durch welches sich die historischen Entwicklungen, die verschiedenen Formen politischer

Instrumentalisierung und Propaganda und der Kampf um kulturelles Erbe im Einzelnen

einordnen und interpretieren lassen.

Vgl. Mackerras 1990: S.8. I define it as “a branch of the performing arts in which each item has a story and in

formal performances one or more performers who impersonate and dress themselves as characters in such a way as to portray relatively complex interrelationships between or among these characters”.

5 Wylie, Turrell: A Standard System of Tibetan Transcription. In: Harvard Journal of Asiatic Studies 22 (1959): 261–267.

6 Snyder 2001; Attisani 2005, 2006; Schuh 2001; Ross 1995; Norbu 1986.

3

2. Historischer Entstehungsprozess

Die Vielfalt der darstellenden Künste in Tibet ist geprägt von den rituell religiösen 'Cham-

Tänzen7 und den säkularen Darbietungen, zu denen auch die tibetische Oper zu zählen ist. Als

Teil von geheimen tantrischen Ritualen wurden die Cham-Tänze schon zu Zeiten des 38.

Königs von Tibet, Khri-srong-lde-btsan (742-797), praktiziert. Sie waren allerdings der Öffent-

lichkeit nicht zugänglich, sondern nur den Mönchen der Klöster, in denen sie vorgeführt

wurden. Erst vor etwa 900 Jahren wurde es auch Laien gestattet, an diesen Veranstaltungen

teilzunehmen.8 Bei dieser Art von Tänzen steht nicht etwa die unterhaltende Funktion im

Vordergrund, sondern es war eine Art Meditation durch Bewegung, wobei die Tänzer ihre Kunst

als Opfergabe für die Götter verstanden.9

2.1 Thang-stong rgyal-po10 als Vater der tibetischen Oper

Thangtong Gyalpo wurde im Jahr 1381 geboren und ist vor allem als Baumeister von Eisen-

kettenbrücken und als „Schatzfinder“ (Gter-ma) in ganz Tibet bekannt. Wie er zur Gründerfigur

der tibetischen Oper11 wurde, erklärt der noch heute tradierte Mythos der sieben Schwestern.

Beim Bau einer der Eisenkettenbrücken waren die finanziellen Mittel ausgegangen und

Thangthong Gyalpo hatte für sieben Schwestern, die sich unter seinen Arbeitern befanden,

opernhafte Arien, basierend auf religiösen Sprichwörtern, verfasst. Während er auf Becken und

Trommel die Begleitmusik spielte, tanzten die sieben Schwestern und sangen die Arien. Bei

den Zuschauern kam dieses neue Spektakel sehr gut an und sie riefen vor Freude: „Die

Göttinnen selbst tanzen!“12

Auch heutzutage wird während der Darbietungen seine Urheberschaft geehrt. In Form eines

kleinen Schreins mit seinem Abbild, reichlich geschmückt mit verschiedenen Opfergaben, ist

er in der Mitte des Schauplatzes bei jeder Aufführung gegenwärtig.13

Die Authentizität dieser historischen Zuschreibung ist jedoch umstritten. In der umfangreichen

Arbeit von Tashi Tsering, der dieser Frage anhand von vier großen Biografien über Thangtong

7 Wangdu 2009: S.24. Im Folgenden Cham. 8 Vgl. Wangdu 2009: S.24. 9 Norbu 1986: S.4. 10 Im Folgenden als Thangtong Gyalpo verschriftlicht. 11 Vgl. Gyatso 1986: S.92-93. 12 Vgl. Ross 1995: S.12. Im Kontext dieser Legende kann der Titel A-lce Lha-mo denn als göttliche Schwestern

verstanden und übersetzt werden. 13 Vgl. Fromaget 1991: S.321. Fromaget notiert dazu, dass bei jedem Ritual oder Zeremonie ein Meister

anwesend sein muss. Der große Respekt der Tibeter für diese Tradition und ihrer Beibehaltung sei ein weit größerer Beweis für seine Urheberschaft als „a thousand volumes of historical texts.“

4

Gyalpo nachgeht, wird klar, dass keine einzige Erwähnung zu seinen Lebzeiten existiert.14 Er

vermutet, dass dies unter anderem mit den Schriftgelehrten in Zusammenhang steht. Sie waren

wohl der Meinung, dass es ungebührlich sei, sich mit dieser einfachen Kunstform zu

beschäftigen, weshalb seine Mitwirkung verschwiegen wurde.15 Eine schriftliche Erwähnung

wurde erst Anfang des 20. Jahrhunderts durch den Tibetologen Rolf Alfred Stein entdeckt, die

allerdings aus einer späteren Generation Thangthong Gyalpos stammt. Im Verlauf des Artikels

The Bodhisattva as Artist von Janet Gyatso werden seine umfangreichen Betätigungsfelder im

Detail beschrieben und sie resümiert, dass er den Unterhaltungswert der tibetischen Oper wohl

als Instrument zur Erziehung des Volkes hin zu kulturellen und religiösen Vorstellungen

wahrgenommen habe.16

Es wurde somit ein neuer Ansatz geschaffen, die buddhistische Lehre auch Laien zu vermitteln.

Hierbei kann jedoch noch von keinerlei propagandistischen Absichten gesprochen werden,

denn „the spread of controversial attitudes is propaganda, the spread of accepted attitudes and

skills is education.“17

2.2 Die Entwicklungen unter der Herrschaft des V. Dalai Lama

Zur Zeit des fünften Dalai Lama (1617-1682) war Tibet in einem Zustand religiösen, sozialen

und politischen Aufruhrs. Die politische Macht war unter den verschiedenen klerikalen Schulen

aufgeteilt, welche versuchten, ihre respektiven Lehren zu verbreiten. Die religiöse und poli-

tische Kontrolle war seitdem eng miteinander verbunden.18 Auch das Fehlen eines umfassenden

Nachrichtensystems sowie der Zugang zu den Klöstern und Bildungseinrichtungen für

Bewohner abgelegener und schwer zugänglicher Gebiete war nicht gewährleistet.

Die Ache Lhamo-Truppen hatten jedoch die Möglichkeit in diese Regionen Tibets zu reisen,

dort ihre Aufführungen einem interessierten Publikum vorzuführen und damit zur Verbreitung

von Nachrichten aus der Hauptstadt Lhasa und der buddhistischen Lehren beizutragen.

Therefore, the performing traditions not only played the valuable role of entertaining a 14 Vgl. Tsering 2001: S.44 ff. Erste Erwähnungen findet er ab dem 18. Jahrhundert. Vgl. Fromaget a.a.O.: S.322. Weiterhin sind in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts 20 Bände der Werke von

Thangtong Gyalpo in Bhutan entdeckt worden. Die Analyse steht noch aus. 15 Tsering a.a.O.: S.43. 16 Vgl. Gyatso 1986: S.101. 17 Cull 2003: S.319. 18 Vgl. Karmay 2003: S.65.

5

people who generally led hard uneventful lives, but in many cases served as a medium for moral and spiritual instruction.19

Die Entwicklung der Ache Lhamo-Tradition wurde stark vom fünften Dalai Lama gefördert.20

Damit einhergehend hatte er sich um die Ästhetik der Aufführungen gekümmert. Im Traum war

ihm der Einfall zu neuen Masken und Kostümen gekommen, die daraufhin aus Seide gefertigt

und mit Edelsteinen und Ornamenten geschmückt und vom Schatzamt bezahlt wurden.

Doch waren mit der Förderung auch bestimmte Bedingungen verbunden. So wurde von den

unterstützten Gruppen einmal im Jahr eine Darbietung verlangt, die unter Aufsicht der

Schatzbeamten und der Regierung stattfand. Somit konnten sie die für alle Bürger ver-

pflichtenden Steuern statt in Form von Kornabgaben in unbezahlten Auftritten erbringen.

Ferner waren die Unterstützer und Gönner jetzt in der Lage, über Inhalt und Präsentation der

Aufführungen zu entscheiden. So wurden die Fähigkeiten und Begabungen der einzelnen

Darsteller genau beobachtet und, falls notwendig, neue Lehrer oder Schauspieler engagiert und

so die alten ersetzt.21 Diese jährlichen Auftritte in der Hauptstadt Lhasa brachten die

Etablierung einer Art Sommerfest mit sich, „welches ohne Zweifel zur Stärkung dieser Kunst-

form etabliert wurde.“22 Konkret bedeutete dies, dass es der Zweck des Festivals war, die ur-

sprünglich religiöse und rituelle Kunst der Ache Lhamo säkularer zu gestalten.23

2.3 Beginn der Propaganda. Das Zho-ston24 Festival Einer Legende nach entstand das Zhotön Festival durch die Mönche des 'Bras-spungs25 Klos-

ters. Dieses befindet sich in der Nähe von Lhasa am Fuße des Shun gyi bdud-ri (Dämonen-Berg

von Shun). Die Mönche dort waren sehr religiös, was der bdud (Dämon) leicht auszunutzen

wusste26 und großen Ärger unter ihnen verbreitete.

Die einzige Möglichkeit, um sicherzustellen, dass der Dämon sein Interesse an ihnen verliert,

war, ihn davon zu überzeugen, dass sie doch keine so frommen Mönche seien, wie er vermutete.

19 Vgl. Norbu 1986: S.2. 20 Vgl. Wang 1986: S.24. Wang schreibt, dass zur Zeit des fünften Dalai Lama Fresken von einer Ache Lhamo-

Aufführung angefertigt worden seien und noch heute an den Wänden des Potala Palastes zu sehen sind. 21 Vgl. Fromaget 1991: S.324. Vgl. auch Schuh 2001: S.97 ff. für eine ausführliche Darstellung dieses Prozesses. 22 Mackerras 1988: S.200. 23 Mackerras 2007: S.3. 24 Joghurt-Festmahl. Im Folgenden Zhotön. 25 Im Folgenden Drepung. 26 Vgl. Michaels 2011: S.38 f. Ein populäres Beispiel für eine Beeinflussung von Dämonen findet sich in der

Legende von Māra. Er war der Widersacher des historischen Buddhas Siddhārtha Gautama, der durch Visionen von auf ihn niedergehenden Armeen und Wirbelwinden geprüft wurde. Selbst die schöne Tochter des Māra konnte ihn nicht dazu verführen, die Welt zu genießen anstatt ihr abzuschwören.

6

Die Durchführung einer Feier, bei der alle wie wild durcheinander tanzten, sangen und schrien,

konnte den Dämon in seiner Meinung umstimmen. Das war der Moment, indem das Festival

begründet wurde.27

Seit dem 18. Jahrhundert wurde dann im Nor-bu gling-kha28, dem Sommerpalast des Dalai

Lama, das Fest jedes Jahr gefeiert. Der Dalai Lama und seine Beamten nahmen sich ein paar

Tage frei, um sich die Darbietungen anzusehen. Dabei gab es stets zur Mittagszeit ein Festessen,

das hauptsächlich aus Yak-Joghurt bestand.29

Aus allen Teilen Tibets pilgerten nun Menschen zum Zhotön, was neben anderen Dingen auch

den Austausch von Waren und Informationen förderte.30 Es wurde somit ein zentraler Ort ge-

schaffen, wo die sonst verstreut lebenden Bewohner der tibetischen Hochebene zusammen

kamen und die Veranstalter, welche ja auch gleichzeitig die Sponsoren der auftretenden Grup-

pen waren, gezielt Inhalte31 vermitteln konnten.

2.4 Die steigende Bedeutung der tibetischen Oper Nach der großen Hingabe des fünften Dalai Lama für Ache Lhamo im 17. Jahrhundert wird die

Quellenlage sehr dünn.32 Ab dem 19. Jahrhundert hingegen gibt es detaillierte Unterlagen des

tibetischen Schatzamts, da die subventionierten Truppen bei der tibetischen Verwaltung unter

Vertrag standen.33 Die für die darstellenden Künste erhobenen Steuern bezogen sich auf das

Spiel einer oder mehrerer Stücke zur Opernsaison, die im Gegensatz zu den sonst üblichen

Vermögens- und Einkommenssteuern erhoben wurden. All das wurde von der Verwaltung im

Lhasa-Bezirk besorgt und es wurde Buch darüber geführt. Außerdem wurden die Operngruppen

27 Vgl. Snyder 2001: S.13. Vgl. TIPA Informationsbroschüre (im Anhang). Das Fest wird im sechsten Monat des tibetischen

Mondkalenders abgehalten, also in der Zeit, wenn die Sommerzeit ausklingt und auch das Ende des spirituellen Rückzugs der Mönche aus der Meditation markiert. Die guten Verdienste der Meditation gelten für alle Menschen und aus diesem Grund kommen die Besucher des Festivals mit vielen Spenden, die meist aus Milchprodukten bestehen, um diese Leistung zu honorieren.

28 Im Folgenden Norbulinka. 29 Snyder a.a.O. S.13. 30 Goldstein 1998: S.117. 31 Vgl. Schuh 2001: S.115. Dieter Schuh berichtet, dass der Dalai Lama, nach einer Konsultation mit allen

beteiligten Truppen entschied, welche Gruppe welches Stück aufzuführen hatte. 32 Vgl. Henrion-Dourcy 2005: S.198 f. Sie vermutet, dass vor allem der Fokus des Klerus und der literaten Elite

auf der spirituellen Befreiung lag und dabei alles, was den Geist in jedweder Hinsicht vom Pfad der Erleuchtung ablenken würde, nicht gut geheißen wurde. Somit haben die Gelehrten den darstellenden Künsten kaum Beachtung geschenkt und es sich nicht zur Aufgabe gemacht, darüber zu schreiben oder gar aktiv daran teilzunehmen.

33 Vgl. Schuh a.a.O.: S.106. Das private Schatzamt des Dalai Lama, 'Phral-bde las-khungs, hatte hier die Aufsicht. Ferner war diese Institution für die Organisation und Durchführung des Zhotön verantwortlich.

7

bei dieser Gelegenheit aufmerksam beobachtet und man prüfte34 „die Qualität und den Wert der

Aufführungen.“35 Falls das Niveau der Darbietungen durch fehlende Schauspieler oder die

schlechte Qualität der Neuankömmlinge zu sinken drohte, wurden diese Gruppen mit

erfahrenen Schauspielern der angrenzenden Gebiete verstärkt. Der Schauspieler konnte diese

Berufung nicht ausschlagen, da er sonst mit Sanktionen vom Schatzamt rechnen musste.

Gleiches galt für das Mitglied einer Gruppe, das sich unerlaubt entfernte. Falls er nicht

zurückkehrte, suchte die Regierung nach ihm. Eine Liste mit den Namen aller Mitglieder wurde

ebenfalls im Schatzamt aufbewahrt.36

Die Popularität der Ache Lhamo wuchs stetig an und Ende des 19. Jahrhunderts sah man in

allen Teilen Tibets auch unabhängige Amateurensembles.37 Der Tibetologe Dieter Schuh be-

richtet aufgrund von Interviews mit verschiedenen Schauspielern, die in den 1970er Jahren

geführt wurden, dass auch der 13. Dalai Lama ein großes Interesse an dieser Kunstform besaß.

Zum einen berichtet er, dass die sKyor-mo lung-pa Truppe38 einst einer Epidemie zum Opfer

fiel und die Regierung den Befehl erteilte, dass jede Familie des Kyormo Lungpa-Tals, die einen

zweitgeborenen Sohn mit guter Stimme habe, ihn zur Operngruppe zu schicken habe. Doch

nicht nur um personelle, sondern auch um inhaltliche Fragen wurde sich gekümmert. Die rGyal-

mkhar-ba Gruppe39 wurde zum Beispiel damit beauftragt, ihre von ihnen entwickelte Oper

Chos-rgyal nor-bzang (Prinz Norsang) der vom 13. Dalai Lama begünstigten40 Truppe gCung-

pa beizubringen.41

Das tibetische Militär nutzte die Ache Lhamo ebenso für ihre Zwecke. Der Befehlshaber der

tibetischen Armee ließ zur Unterhaltung der Truppen und Bewohner nach der Befreiung von

Chamdo im Jahr 191842 die Oper gZugs kyi nyi-ma (Das Mädchen Sukyi Nyima) aufführen.

34 Vgl. Schuh a.a.O.: S.117. Abweichungen vom Text oder andere Fehler wurden nach der Aufführung mit

Beschimpfungen oder Schlägen seitens der Aufsichtspersonen des Schatzamts bestraft. 35 Snyder 2001: S.8. 36 Schuh a.a.O.: S.107 f. 37 Fromaget 1991: S.322. 38 Vgl. Schuh 2001: S.105 f. Der Name bezieht sich auf die ursprüngliche Herkunft der Truppe aus einem

gleichnamigen Tal nahe Lhasa. Im Folgenden Kyormo Lungpa. 39 Im Folgenden Gyangara. 40 Norbu 2001: S.144. 41 Ebd. Für eine detaillierte Übersicht über die verschiedenen Gruppen vgl. Snyder 2001: S.14 f. 42 Goldstein 1989: S.65 ff. Nachdem der letzte Q'ing-Kaiser 1911 abdankte, erhob die Republik China Anspruch

u.a. auf Tibet. Die Konsequenz war das Massaker von Lhasa und die Besetzung von Chamdo, das dann 1917-18 von tibetischen Truppen befreit wurde.

8

Der britische Handelsreisende David Macdonald beschreibt die Unterzeichnung des Abkom-

mens zwischen den Tibetern und den Briten im September 1904, wonach am Ende der Zere-

monien die Oper Khye'i padma 'od-'bar (Der Reichtum des strahlenden Lotos) für die britischen

Offiziere aufgeführt wurde.43

Die weitreichende Beliebtheit findet sich auch in weiteren Reiseberichten bestätigt. Ein Bei-

spiel dafür ist der evangelische Missionar Marion Herbert Duncan, der von 1921 bis 1936 in

Osttibet lebte. Vier seiner Bücher44 sind der darstellenden Kunst und dem Alltag der Tibeter

gewidmet und Attisani schlussfolgert, dass dies die Tragweite der Lhamo im täglichen Leben

der Tibeter bestätige.45

Auch Fosco Maraini hat während seiner Zeit als Fotograf für die Expeditionen des italienischen

Tibetologen Guiseppe Tucci im Jahr 1948 eine Aufführung in der Region Yatung miterlebt und

schildert die soziale Relevanz46 der Darbietung wie folgt:

Nicht nur alle Bewohner von Yatung haben sich eingefunden, auch von den Bergen und Tälern ringsum sind sie herbeigeströmt, Durchreisende […] sind ebenfalls unter den An-wesenden.47

Des Weiteren bestätigen die von Maraini aufgeschnappten Anmerkungen der Zuschauer, wie

zum Beispiel: „Wenn du erst voriges Jahr die Schauspieler in Shigatse gesehen hättest!“ oder:

„Hier muß [sic] ich über die Darsteller lachen, aber in Lhasa...!“,48 die weit reichende49 Be-

kanntheit der tibetischen Oper.

Auch bei Duncan finden sich Argumente zur Bedeutung der Ache Lhamo für die tibetische

Gesellschaft. So beschreibt er, dass das jährlich stattfindende Erntefest der zerstreut wohnenden

Gemeinschaften genutzt wurde, um Pläne für das gesamte Jahr zu schmieden.

Hochzeiten wurden arrangiert50 und Verteidigungsallianzen gegenüber Räubern oder anderen

Clans beschlossen. Diese Zusammenkünfte mit anschließender Vorstellung eines Opernstückes

43 Vgl. Norbu a.a.O.: S.146. 44 Duncan, Marion H.: The Tibetan Drama. In: The China Journal (1932): S.105-110. _______________ Harvest Festival Dramas of Tibet. Hong Kong: Orient Publishing Co., 1955. _______________ Customs and Superstitions of Tibetans. London: The Mitre Press, 1964. _______________ More Harvest Festival Dramas of Tibet. London: The Mitre Press, 1967. 45 Attisani 2005: S.12. 46 Vgl. Attisani 2006: S.42. 47 Maraini 1953: S.173. 48 Ebd. S.179. 49 Von Yatung bis Shigatse sind es 300km, bis Lhasa über 400km. 50 Auch die Inhalte der Opern an sich sprechen für die weitreichende Beliebtheit und Signifikanz im Leben der

Tibeter. In dem Stück Nangsa fällt einem Prinzen die gleichnamige Hauptperson bei einer Performance (in diesem Fall ein Cham-Tanz) auf und er verliebt sich in sie.

Vgl. Punkt 2.1. dieser Arbeit und Vgl. Norbu 1984: S.4.

9

der örtlichen Laiengruppe waren auch eine Gelegenheit für die sozial schlecht Gestellten,51 ihr

Können zu beweisen. So notiert er, dass „the extremely poor butcher, an outcast for all the year

[…] almost becomes a star for the harvest festival.“52

2.5 Tibets Exil in Indien „1950 wurde die kommunistische Bedrohung Tibets direkter. Chinesische Truppen griffen die

Ostgrenzen Tibets an.“53 Im weiteren Verlauf der Invasion Tibets durch die Volksbefreiungs-

armee54 kam es nach vielen Gesprächen und der Unterzeichnung des Siebzehn-Punkte-

Abkommens mit der Regierung in Peking zum Aufstand vom 10. März 1959. Diese Rebellion

gegen die chinesischen Besatzer und deren Einführung des Kommunismus in Tibet wurde be-

reits zehn Tage später niedergeschlagen; dies resultierte in der Auflösung der Bka'-shag, der

tibetischen Regierung, durch den damaligen Premierminister der Volksrepublik China, Zhou

Enlai, am 28. März 1959. Die politische Macht wurde von da an vom „Vorbereitungskomitee

der Autonomen Region Tibet“ ausgeübt und in den Wirren der Revolte von unten flüchtete am

17. März 1959 der 14. Dalai Lama aus der Hauptstadt Lhasa nach Indien.55

In der indischen Grenzstadt Kalimpong im Länderdreieck Nepal, Tibet, Indien wurde im Jahr

1959 von einer Gruppe Tibeter eine Theatergruppe gebildet, um einerseits das Bewusstsein für

das Tibetproblem in der indischen Öffentlichkeit zu schärfen und andererseits, um Geldmittel

für die vielen Flüchtlinge zu sammeln. Diese noch in den Kinderschuhen steckende Truppe

wurde von der Exilregierung nach Dharamsala gerufen56 und zum offiziellen Institut für

darstellende Künste unter dem Namen Bod kyi rgyal-rabs rig-gzhung zlos-gar tshogs-pa (Tibets

historische Akademie der darstellenden Künste [d.V.]) ernannt.57

Dieser anfängliche Zusammenschluss entwickelte sich zum heute noch aktiven Tibetan Institute

of Performing Arts58. Einer der künstlerischen Leiter der TIPA, Jamyang Norbu, beschreibt die

51 Vgl. Attisani 2006: S.42. Also diejenigen, die durch das Töten von Lebewesen eine lange Zeit in der Hölle

abzusitzen haben und deren Gesellschaft man das restliche Jahr über hinweg meidet, um nicht vom schlechten Karma dieser Gruppe berührt zu werden.

52 Ebd. 53 Staiger 2003: S.763. 54 Im Folgenden VBA. 55 Vgl. Shakabpa 2010: S.433ff. und Jian 2006: S.54. 56 Vgl. Basu 2009: S.419. Das Hauptanliegen des 14. Dalai Lama und der tibetischen Flüchtlingsgemeinschaft

war es das reiche kulturelle Erbe Tibets zu bewahren. Neben der TIPA wurde im Jahr 1965 das Norbulingka Institute, 1969 das Central Institute for Higher Tibetan Studies und 1971 die Library of Tibetan Works and Archives gegründet.

57 Vgl. Norbu 2001: S.142 f. Auch unter dem Namen Tibetan Historical and Cultural Drama Party, später dann als Tibetan Music, Dance and Drama Society bekannt.

58 Im Folgenden TIPA.

10

Anfangsjahre wie folgt:

When I joined, the Society was then only performing propaganda plays, folk dances and so-called 'historical plays' (rgyal-rabs) which were rather wooden dramatizations of Ti-betan history, interspersed with song and dance routines that seemed jointly inspired both by Chinese opera and by the musical routines of Hindi Films. […] But in all fairness it must be said that the Tibetan public hugely enjoyed these colorful shows, which also served as an effective morale booster to the refugee population and as an elementary history lesson on Tibet's glorious imperial past.59

Nachdem unter dem Protest von Jamyang Norbu die von ihm beschriebenen „historischen

Stücke“ eingestellt wurden und die im technischen Sinne traditionellen Werke wieder Einzug

in das Repertoire fanden, wurden diese mit Hilfe von vielen Tibetern, denen die Melodien

vereinzelter Arien oder Texte im Gedächtnis geblieben waren, rekonstruiert. Da die Schau-

spieler ohne Ausnahme illiterat waren, mussten sie die Verse und Tonfolgen ganzer Opern aus

dem Kopf beherrschen. Die historischen Grundtexte waren zwar bereits im 18. Jahrhundert ins

Tibetische übersetzt worden, doch handelte es sich hierbei um Romane, von denen sich die

Skripte, 'Khrab-gzhung, mit den Regieanweisungen und ausformulierten Arien stark unter-

schieden.60 Diese wurden im Schatzamt in Lhasa aufbewahrt. Es war jedoch nicht möglich, sie

ins Exil zu retten.61

Einer der wenigen Schauspieler, die es ins Exil schafften, war Norbu Tsering. 1961 gelang es

ihm, aus einem chinesischen Arbeitslager nahe Lhasa nach Kalimpong zu fliehen. Er wurde

bald nach seiner Ankunft zum künstlerischen Leiter ernannt, eine Stelle, die er vor seinem

Entkommen bereits bei der Kyormo Lungpa innehatte. Vom Gyangara-Ensemble erreichte kein

Mitglied das Exil.62

59 Ebd. 60 Vgl. Norbu 2001: S.145. Vgl. auch Schuh 2001: S.101 f. für eine Analyse der Unterschiede. 61 Ebd. 62 Wie bereits bei Punkt 2.4. beschrieben, war die Gyangara-Truppe gesamtverantwortlich für die Oper Prinz

Norsang. Ohne die Hilfe eines der Mitglieder konnte nur die zweite Hälfte der ursprünglichen Oper rekonstruiert werden.

11

3. Die tibetische Oper als Instrument politischer Propaganda

3.1 Akzeptanz. 1950-1966

All minorities shall have freedom to develop their dialects and languages, to preserve or reform their traditions, customs and religious beliefs. The People's Government shall assist the masses of the people of all minorities to develop their political, economic, cultural and educational construction work.63

Die Freiheit, die noch 1949 auf der Parteikonferenz ausgelobt wurde, sollte in den folgenden

Jahren zugunsten der Propagierung kommunistischer Ideen stark eingeschränkt werden. Wie in

der Präambel der Verfassung der Volksrepublik China von 1954 nachzulesen ist,

[wird; d.V.] beim Aufbau von Wirtschaft und Kultur […] der Staat die Bedürfnisse aller Nationalitäten und in Fragen der sozialistischen Umgestaltung die Besonderheiten ihrer Entwicklung in vollem Masse [sic!] berücksichtigen.64

Wie im weiteren Verlauf aufgezeigt wird, bedeutete das vielmehr die Einigkeit aller Minder-

heiten im Nationalstaat, statt der Entwicklung eigenständiger kultureller Identitäten. Alle

Maßnahmen sollten nationalen Charakter bekommen, für chinesische Ziele nach chinesischen

Regeln.65 Die komplette Assimilation der Minoritäten, zu denen auch Tibet zu zählen ist, konnte

nur durch Bildungsarbeit und Propaganda geschehen; denn nach der gewalttätigen Übernahme

der Minderheitsgebiete in China durch die VBA musste jetzt eine längerfristige Lösung

gefunden werden, die Bewohner mit der neuen Politik und Herrschaft vertraut zu machen.

Aufgrund der zahlreichen Sprachen, Religionen und Bräuche musste ein verständliches und

leicht zugängliches Mittel benutzt werden, welches die Kommunistische Partei China66 im

Theater sah. Vor allem die ständig umherziehenden Schauspieler konnten die äußersten und

abgelegensten Gebiete erreichen und würden nach den Erwartungen der KPCh so als Kon-

trollnetzwerk dienen, das ständig Peking über die örtlichen Bedingungen und Gegebenheiten

Bericht informieren könne.67

In former times, the state did not care much what the minorities did, provided that they did not plot against the government or rebel. […] Along with taking the dances and musics of the minorities seriously came ideological control.68

Ab diesem Zeitpunkt nahm das Theater für die chinesische Regierung eine Schlüsselrolle im

63 Meserve und Meserve 1979: S.104. Zit.n. „Common Program of the Chinese People's Political Consultative

Conference, September 1949“ 64 Die Verfassung der VR China 1954: S.5. 65 Meserve und Meserve a.a.O.: S.105. 66 Im Folgenden KPCh. 67 Meserve und Meserve 1979: S.106. 68 Mackerras 1999: S.64.

12

Kampf um die Kontrolle über jedweden Glauben, also vornehmlich den Buddhismus, ein. Re-

ligion war seit Jahrhunderten so wichtig und verwurzelt in der größtenteils illiteraten tibetischen

Bevölkerung, dass sie „gegen andere Kommunikationsformen unempfindlich waren“.69

Einzig die darstellenden Künste, allen voran Ache Lhamo, stellten eine realisierbare Alternative

dar, durch einen Prozess der Modernisierung als Verbindungsglied zwischen der KPCh und

Tibet zu fungieren.70 Die Ache Lhamo war weit genug von der „Sphäre des Klerus“ und somit

der der „feudalen Unterdrücker“ entfernt, um somit das „kreative Talent“ der tibetischen

Massen zu demonstrieren.71

„ […] lhamo has been seen in a favourable light by the government. In its mind-boggling search for entirely secular elements within Tibetan Culture, it saw in Tibetan Opera the instrumental token it was looking for, probably because it appeared as the most established 'lay' performing tradition, with […] the largest scope of popularity in Central Tibet.“72

Die KPCh begann nun systematisch mit der Organisation von Kunst, Literatur und dem Thea-

ter.73 Somit wurde den Tibetern das Recht zur und die Autorität über eigenständige kulturelle

Produktionen entzogen. Das Leitmotiv, dass Kultur entwickelt werden müsse und Tibet Hilfe

bei der Entwicklung benötige, gab somit Anlass zur Reformierung.74

Der erste Schritt sollte die verschiedenen Formen darstellender Kunst in den Gebieten der

Minderheiten wiederherstellen. Hiermit konnte China aufzeigen, dass es sich für den Schutz

der Traditionen seiner Einwohner einsetze und auch die Glaubwürdigkeit ihrer Absichten und

ihrer Verfassung demonstrieren. Allerdings galt die Bezeichnung „traditionell“ lediglich für

jene Theaterstücke und Literatur, die vom Kampf der Armen und Unterdrückten handelten.

Oftmals basierten die vor der Zerstörung bewahrten und gesammelten Werke der Minoritäten

auf keinen traditionellen Themen, sondern waren vereinzelte Paradebeispiele, die für einen

politischen Einsatz gerettet wurden.75

Propaganda in the broadest sense is the technique of influencing human action by the ma-nipulation of representations. These representations may take spoken, written, pictorial or

69 Powers 2004: S.147. Im Versuch patriotische Gefühle unter Tibetern zu erzeugen, griffen die chinesischen

Behörden sehr oft ihre Religion und im Besonderen den Dalai Lama an. Solche Angriffe gegen ihren Glauben und seines obersten Symbols hätten aber nur ein stärkeres Verlangen nach Unabhängigkeit und bewirkt.

70 Vgl. Attisani 2005: S.29. 71 Ahmed 2006: S. 167. 72 Henrion-Dourcy 2001: S.4. 73 Vgl Norbu 2001: S.152. Of course, operas world over [sic!], with the exception, perhaps, of The Marriage of

Figaro, are not vehicles for egalitarian or revolutionary sentiments. 74 Tibetan Information Network (Im Folgenden TIN) 2004: S.21 ff. Die Ansicht der KPCh über die ethnischen

Minderheiten war, dass sie in ihrer Entwicklung zwar zurückgeblieben seien, aber zivilisiert werden können durch die richtige Erziehung und das Eintauchen in die chinesische Kultur.

75 Attisani 2005: S.29.

13

musical form.76

Für Tibet gibt es zwei Beispiele, wie diese Umsetzung praktisch aussah. Das Stück rGya-bza'

bal-bza' erzählt die Geschichte des schlauen Mgar-srong-rtsan77, der im Auftrag des tibetischen

Königs Srong-brtsan-sgam-po78 im 7. Jahrhundert unserer Zeit nach China und Nepal reiste,

um die Prinzessinnen der respektiven Königreiche für seinen König zu gewinnen. Im Wettstreit

mit weiteren Abgesandten zentralasiatischer Königtümer konnte sich der Minister Gar

durchsetzen, nicht zuletzt, weil er auf alle Fragen, die im Verlauf der vielen Prüfungen

aufkamen, mit einer dafür bereits verfassten und versiegelten Schriftrolle des Songtsen Gampo

antworten konnte. In diesen Schriftrollen betonte der tibetische König seinen Wunsch, den

Buddhismus in Tibet zu verbreiten und dafür Tempel und Klöster errichten zu lassen. Überzeugt

vom Geschick der Tibeter, willigte der chinesische Herrscher ein und entließ seine Tochter nach

Tibet, ausgestattet mit einer großen Buddha-Statue, Seidenstoffen, Heilmitteln für Krankheiten

und Edelsteinen.79 In der von Chinesen umgeschriebenen und umbenannten Version „Princess

Wencheng“ wurde die nepalesische Prinzessin komplett entfernt und Strophen wie „There is

not much difference between Tibet and our Tang Kingdom.“80 eingefügt. Auch das

Abschiedswort des chinesischen Herrschers „If my darling praises and spreads Buddhism in

Tibet, you'll perform boundless beneficence. This will be your religious merit.“81 soll nach Syed

Jamil Ahmed die damalige Strategie der KPCh widerspiegeln. Nämlich das Kenntlichmachen,

dass die Etablierung jedweder Kultur durch China geschehen sei und Tibet lediglich Empfänger

all dieser Güter war. Indem sie behaupten, den Buddhismus, das Lesen und Schreiben, sowie

administrative Organisation dem tibetischen Staat geschenkt zu haben, so das Kalkül der KPCh,

würde der historische Einfluss Chinas deutlicher.82

John Powers schildert in seinem Buch History as Propaganda die politische Lage zwischen

China und dem annektierten Tibet wie folgt: für ein Regime, dass offiziell die Religion an-

prangere und darauf hinarbeite, sie gänzlich zu beseitigen, sei es keine Option, den Buddhismus,

der einen wichtigen Teil der gemeinsamen Identität ausmache und tief im Leben der Tibeter

verwurzelt sei, zu benutzen, um neue kollektive Kulturparadigmen zu konstruieren.

76 Cull 2003: S.321. 77 Im Folgenden Minister Gar. 78 Im Folgenden Songtsen Gampo. 79 Vgl. Josayma 1991. 80 Yao 1986: S.38. 81 Yao a.a.O.: S.40 f. 82 Vgl. Ahmed 2006: S.165

14

Geschichtsschreibung hingegen (wie im Fall von „Princess Wencheng“) sei für einen Staats-

apparat ein gutes Werkzeug zur Kontrolle und Manipulation, wenn man die Medien und sämt-

liche anderen Informationsstellen unter seiner Leitung habe.83

Ein weiteres Beispiel findet sich in dem Stück sNang-sa 'od-'bum84. Das Mädchen Nangsa,

Tochter einer Bauernfamilie, wird vom Sohn des regionalen Feudalherren bei einem Ausritt

entdeckt und soll mit ihm verheiratet werden. Sie will jedoch im Kloster den Dharma lernen

und sich ihm ganz verpflichten. Die Familie drängt sie hingegen, in die Heirat einzuwilligen

und Nangsa stimmt zu. Die Schwester des Prinzen allerdings ist mit ihrer Frömmigkeit und

Religiosität nicht einverstanden und plant, sie loszuwerden. Indem die Schwester sie der Un-

treue und des Diebstahls bezichtigt, wird der Prinz vor die Wahl gestellt, wem er sein Vertrauen

schenkt. Das Urteil fällt zu Gunsten der Schwester aus und Nangsa wird geprügelt. Kurze Zeit

später kommt sie durch weitere Schläge des Oberhaupts der angeheirateten Familie um. Doch

wegen ihrer tiefen Religiosität wird sie alsbald aus der Totenstarre erweckt und vom Herr des

Todes wieder auf die Erde geschickt, um eine weitere Chance zu bekommen, den Dharma zu

lernen und zu verbreiten. Aber weitere Hindernisse stören ihren religiösen Pfad, und ungläubig

und verängstigt entschuldigen sich ihr Mann und seine Schwester bei ihr und können sie dazu

überreden, wieder in das Haus zurückzukehren, nicht zuletzt, um ihren kleinen Sohn

aufzuziehen. Durch die Bitten aller ist sie abermals an weltliche Dinge gekettet und sie flieht

nach kurzer Zeit in das Se-ra Kloster, wo sie schließlich ihre wahre Bestimmung findet. Doch

ihre Familie reitet daraufhin mit einer Armee zu dem Kloster, um es zu zerstören und sie zu

entführen. Doch kann Nangsa mit Hilfe ihres Lehrers die Soldaten und Befehlshaber durch

magische Kräfte zur Vernunft bringen und alle Neider und vom Weg Abgekommenen daraufhin

wieder von der Kraft des Buddhismus überzeugen.85

Die Geschichte steht symbolisch für all die Hürden und Irrwege, die das weltliche Leben einem

Gläubigen in den Weg stellt. Doch mit genug Kraft und Glaube kann auch die auswegloseste

Situation bewältigt werden.86

In der chinesischen Variante Glang-sha87 wird das Mädchen zur Tochter von versklavten Eltern

stilisiert, welche in eine Aristokratenfamilie verheiratet wird und den Klassenkampf im

marxistischen Sinne symbolisiert. Ihre Geschichte galt nun als ein Beispiel für das Leben vor

83 Powers 2004: S.157. 84 Die Erscheinung vollendeten Lichts auf Erden (d.V.). Im Folgenden Nangsa. 85 Vgl. Fromaget 1991: S.36 ff. 86 Ebd. 87 Calkowski 1997: S.53. Die chinesische Version Glang-sha bedeutet im Tibetischen Rindfleisch.

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der großen Befreiung Tibets durch das Mutterland.88 In der reformierten Version kehrt sie dann

nach ihrem Tod zurück, um in zugelassener Klassenkampfmanier89 ihren Ehemann und

angeheirateten Verwandten zu denunzieren und mit einem flammenden Schwert einen nach

dem anderen für deren Verbrechen an der Arbeiterklasse umzubringen.90

Erklären lässt sich diese Umdeutung der klassischen Librettos nach Ahmed:

Immediately after the unsuccessful uprising of 1959, the Chinese authorities attempted to dearticulate [sic] the feudal-Buddhist „inverted consciousness of the world“ inscribed in the lhamo performances.91

Im Zuge dessen wurde vor allem die Propaganda und das Loblied auf den Vorsitzenden der

KPCh Mao Tse-tung sehr wichtig in der Ache Lhamo.92 So wurde unter anderem die Figur des

Thangtong Gyalpo in der Mitte des Schauplatzes gegen ein Mao-Portrait getauscht.93

Im September bis Dezember 1959 wurden auch Armeetruppen nach Tibet entsandt, die als

Theatereinheit aktuelle Parolen und Kampagnen der chinesischen Regierung als Dramen auf-

bereiteten und insgesamt etwa 700 Aufführungen gaben. Obwohl kaum Publikum dafür zu

begeistern war, hatte man dennoch militärisches Personal im tibetischen Siedlungsgebiet und

zeigte damit Stärke und Präsenz.94

Themen wie die Glorifizierung der VBA oder der aktuellen politischen Ansichten fanden in der

Bevölkerung keinen Zuspruch. Die Meinung weiter Teile der Bevölkerung war, dass dies

Geschichten und Symbole einer fremden Macht seien, die ihr Land überfallen habe und nun

versuche, ihre Kultur und Religion auszulöschen. Darin lag eine der Schwierigkeiten der KPCh,

die Tibeter davon zu überzeugen, dass der chinesische Nationalismus auch ihr Nationalismus

sei. Denn für Tibeter seien diese revolutionären Geschichten und die einhergehenden Helden

nur Spiegelbilder chinesischer Geschichte und nicht ihrer eigenen.95

Die Minderheiten mussten dazu gebracht werden, die von der KPCh entwickelte Linientreue

zu akzeptieren und „von sich aus“ Themen wie Patriotismus und Loyalität zur Partei in populär

akzeptierten Darbietungen zu zeigen.

88 Tsering, Becker 2001: S.32. 89 Vgl. Ahmed 2006: S.165f. und Norbu 2001: S.155. 90 Calkowski a.a.O.: S.53 91 Ahmed 2006: S.164. Hervorhebung im Original. 92 Vgl. Mackerras 1999: S.64. 93 Ahmed a.a.O.: S.164. Er vermutet, dass die Tibeter die Auswechslung wohl als chinesische Umformulierung

Maos hin zu einer buddhistischen Gottheit interpretiert haben müssen. 94 Meserve und Meserve 1979: S.111. 95 Vgl. Powers 2004: S.146 f.

16

A more concentrated effort was demanded by stage two – education and propaganda – the most important stage as far as the Chinese government was concerned. Through the so-cialist education campaign concepts of Marxism-Leninism, unanimity and political alle-giance as well as methods of modern drama and theatre would be introduced, developed and then, hopefully, preferred by each minority over its traditional heritage.96

Die Geschichte der „Primadonna der Ache Lhamo“, Ama Lhagpa, ist ein Exempel für diese

Bestrebungen. Sie wurde 1909 in Lhatse geboren und starb 1997 in Lhasa. Sie war einst Mit-

glied der Kyormo Lungpa-Truppe und wurde bereits im Alter von vier Jahren in die Gruppe

aufgenommen.97 Weithin bekannt in Tibet, wurde sie selbst von chinesischen Beobachtern in

den 1950er Jahren als „tibetische Mei Lanfang“98 gefeiert. Im Jahr 1960 wurden sie und ein

weiterer Schauspieler der Kyormo Lungpa nach Shanghai an das Performing Department of the

Shanghai Theatrical Institute99 geschickt, um eine musikalische Umerziehung zu erhalten. Die

chinesische Art zu singen bedarf eines speziellen Trainings, im Verlauf dessen die Kehle täglich

trainiert und massiert wird. Diese Übungen führten bei Ama Lhagpa allerdings zu Blutungen

im Kehlkopf und bewirkten ein permanentes Versagen ihrer Stimme, von dem sie sich niemals

richtig erholte.

In Folge dessen wurde sie nun von den Behörden der KPCh als Lehrerin eingesetzt und in den

Rang eines obersten Darstellers auf nationaler Ebene erhoben. Nachdem die alte Garde der

Kyormo Lungpa nach und nach verschwunden war, wurde sie zur Inhaberin der alten Tradition

und erfüllte somit auch die Notwendigkeit eines öffentlichen Bildes der „tibetischen

Entwicklung aus den unterdrückten Massen heraus“: Frau, Berühmtheit, Künstlerin.100

Durch dieses Theaterinstitut in Shanghai wurden andere tibetische Studenten101 ebenfalls inner-

halb von gut zwei Jahren mit der Großen Sprung nach vorne-Kampagne102 vertraut gemacht

und in Gesang, Tanz und Theatertheorie unterrichtet. Als Abschlussarbeit im Jahr 1962 führten

sie „Princess Wencheng“ auf.

Als erste tibetische Absolventen wurden sie zum vorzeigbaren Beweis der Integration in den

96 Meserve und Meserve a.a.O.: S.107. 97 Henrion-Dourcy 2005: S.210. Sie wurde von zwei Kyormo Lungpa Schauspielern zum Preis von einer

Silberkrone (rdo-tshad) adoptiert. Vgl. auch Schuh 2001: S.109. Es war ein gewöhnlicher Prozess nach Kindern mit guten Stimmen während der

Auftrittsreisen zu suchen, um die Reihen der Schauspieler zu füllen. 98 Vgl. Zuguang 1984. Mei Lanfang war einer der größten Darsteller der Peking-Oper. Dieser Vergleich scheint

nicht ganz uneigennützig, denn Mei Lanfang verstarb 1961 und mit dem Aufbau einer neuen Ikone, nicht zuletzt aus einer Minderheit, könnte man die Tradition fortführen und das Wohlwollen der Tibeter sichern.

99 Im Folgenden Theaterinstitut Shanghai. 100 Vgl. Henrion-Dourcy 2001: S. 212 f. 101 Mackerras 1988: S.202. 102 Staiger 2003: S.274. „Damals, auf dem Höhepunkt der landwirtschaftlichen Kollektivierung, glaubten Mao

und andere Führer, dass der Ansatz der Massenmobilisierung auf die wirtschaftliche Entwicklung übertragen werden könne. Dies führte zum Schlagwort mehr, besser, schneller, sparsamer.“

17

chinesischen Staat. Bei einer privaten Vorstellung sollten kritische Stimmen gegen den Auf-

stand von 1959 beschwichtigt werden. Organisiert und finanziert103 vom Kultusministerium

und dem Ausschuss für kulturelle Beziehungen mit dem Ausland, wurde die Oper simultan in

mehrere Sprachen für das aus Diplomaten und ausländischen Besuchern bestehendem Publi-

kum übersetzt.

Diese Truppe namens Tibetan Opera Company war somit das erste professionelle moderne

tibetische Dramaensemble, ausgebildet und ausgestattet durch die KPCh.104

Die Anzahl der neu gebauten Theater, die Bildung von Zweigstellen der Union des chinesischen

Schriftstellerverbandes105 und die Einrichtung von Theaterinstituten in allen relevanten Teilen

Chinas, um die nächste Generation von Schauspielern auszubilden, waren weitere Elemente der

Entwicklungskampagne.106 Wie Mackerras erwähnt, schickte die KPCh nun regelmäßig Söhne

und Töchter der „patriotischen Oberklasse und befreiter Leibeigener mit musikalischem Talent

und starken Gefühlen für die Sache“107 nach Peking, Shanghai, Xi'an und andere Städte zur

künstlerischen Erziehung. Durch diese enthusiastische Förderung der Künste der

Minderheiten108 war die KPCh jetzt in der Lage, zu kontrollieren, welche Arten von Kunst

wiederbelebt und aufgeführt werden sollten. Sie bestimmte die Künstler und Schauspieler und

prüften die ideologische Eignung von allem, was auf der Bühne gezeigt werden sollte.109

3.1.1 Veränderung und Professionalisierung

Im Zuge der Modernisierung und Professionalisierung wurde auch der Stil einer klassischen

Ache Lhamo-Aufführung verändert.

Die offensichtlichste und wichtigste Reform war, dass die Vorführungen jetzt in einem Theater

und nicht mehr unter freiem Himmel110 veranstaltet wurden. Des Weiteren wurde das klas-

sische, aus Trommel und Becken bestehende Ensemble um ein Vielfaches durch andere

103 Vgl. Mackerras 2007: S.791. Die Finanzierung und Neugestaltung der Dramen und der professionellen

Truppen hatte zur Absicht, den religiösen Inhalt zu verringern. Indem sie den positiven Charakteren eine Herkunft aus dem Bereich der Bauern, Sklaven und Proletariern und den negativen Figuren aristokratische Merkmale zusprachen, würde der sozialistische Klassenkampf somit leicht verständlich.

104 Vgl. Meserve und Meserve S.109. 105 Ebd. 106 Vgl. Mackerras 1992: S.28. Die KPCh bestand darauf, dass neben Gesangs-, Tanz- und Instrumentenunterricht

auch Allgemeinbildung im marxistisch-leninistischen Sinn Teil der Ausbildung sein soll. Analphabetentum, Ignoranz und feudale Denkmuster sollten beseitigt werden.

107 Mackerras 1984: S.216. 108 Mackerras a.a.O.: S.215. 109 Ebd. 110 Mackerras 1992: S.4. Jacques Bacot berichtet bereits Anfang des 20. Jahrhunderts, dass tibetisches Theater im

Freien aufgeführt wurde: „In the monasteries, in the court in front of the temples, or on the adjacent prairie.“

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tibetische Instrumente vergrößert.111

Diese wurden ebenfalls modernisiert. Für gewöhnlich waren die Instrumente von den Spielern

selbst hergestellt worden. Im Zuge der Reformierung und Entwicklung wurden diese nun in

Fabriken hergestellt. Dies bedeutete auch ein Prozess der Einförmigkeit. Zum Beispiel waren

die Saiten der Zupfinstrumente nicht mehr aus Pferdehaar oder Seide, sondern aus Metall und

Nylon gefertigt.112 Gar tibetische Instrumente per se waren suspekt und Chiang Ch'ing, die

Ehefrau von Mao Tse-tung und treibende Kraft hinter der Kulturrevolution, bestand auf der

Verwendung von chinesischen. Ebenfalls wurden die Aufführungen drastisch gekürzt. Einst

dauerten sie meist mehrere Tage und wurden nun auf einige Stunden reduziert.113

Eine vierte Auswirkung betraf den Status der Schauspieler. Üblicherweise wurden die meisten

Rollen von Männern gesungen und gespielt. Im Folgenden wurde jetzt nach Geschlecht unter-

schieden und auch Frauen in den Instituten unterrichtet. Darüber hinaus änderte sich auch der

soziale Status der Darsteller. Sie waren nun im Staatsdienst angestellt und im Sinne der Pro-

fessionalisierung traten sie nun berufsmäßig auf und waren in Arbeitseinheiten eingeteilt. Sie

hatten ein geregeltes Einkommen und Anspruch auf Sozialleistungen.114

Diese Maßnahmen hatten eine völlig neue Herangehensweise an die Kunst der Minderheiten

geschaffen. Insbesondere wurde das, was einst als Volkskunst für das Spiel unter freiem

Himmel und für die Unterhaltung prädestiniert war, jetzt zu einer sehr verfeinerten Kunstform,

mit besseren und sorgfältig gestalteten Kostümen, stärker strukturiert und geeignet für

Darbietungen in einem Theater oder Kino.115

Diese Bindung an einen gut kontrollierbaren Ort eröffnete die Möglichkeit, bereits vor Beginn

der eigentlichen Darbietung die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf die aktuelle politische

Agenda zu verweisen.

Die Professionalisierung war sehr wichtig in den Künsten der Volksrepublik116 und wurde im

Besonderen zu einem integralen Teil in der künstlerischen Arbeit der Minderheiten. Dies hatte

zur Folge, dass die Unterschiede zwischen den verschiedenen Nationalitäten der VR China zu

verschwinden drohten. Vor allem die ähnlichen Methoden, mit denen in den staatlich geführten

Schulen unterrichtet wurde117 sowie die Etablierung Han-chinesischer Musikinstrumente,

111 Vgl. Mackerras 1988: S.204 für eine Auflistung der verschiedenen Instrumente. 112 Mackerras 1992: S.13. 113 Ebd. 114 Vgl. Mackerras 1999: S.68 f. und Mackerras 1984: S.214. und Henrion-Dourcy 2005: S.200. Freie medizinische Versorgung, 65 Tage Mutterschaftsurlaub und ein monatliches Einkommen von 65 Yuan,

was dem eines durchschnittlichen Arbeiters entsprach. 115 Vgl. Mackerras a.a.O.: S.69. 116 Im Folgenden VR. 117 Mackerras 1992: S.30 f.

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Darstellungstechniken und Bühnentechnik brachten diese Konformität mit sich.118

In their performance, music, dance, and artistic design, quite a few drama styles have begun undergoing the processes of developing from crude to complicated, from simple to rich.119

3.1.2 Der Vorabend der Kulturrevolution

Am 26. November 1964 wurde in Peking das Amateur Festival of the National Minorities

eröffnet. Etwa 700 Schauspieler120 fast aller Minderheiten Chinas versammelten sich, um die

chinesische Führung mit Tänzen, Liedern und Theater zu unterhalten. Aber Unterhaltung war

nicht das Hauptanliegen dieses Festivals, welches am Abend des Dritten Nationalen Volks-

kongresses abgehalten wurde. Vielmehr war es eine inszenierte Propagandaveranstaltung der

chinesischen Regierung mit dem Ziel, die Minderheiten mit dem Konzept der Kulturrevolution

vertraut zu machen. So wurde von Parteisprecher Lu Dingyi zwar eingangs das kulturelle

Schaffen der versammelten Minoritäten seit 1949 gelobt, allerdings erwähnte er auch, dass es

einen reaktionären Einfluss (in) ihrer Kultur gebe. Deutlich werde dies in der reaktionären

Kunst und Lebensweise, welche die Feinde Chinas benutzten, um eine Feudal- oder sogar

Sklavengesellschaft wieder herzustellen. Im Kampf gegen solche Strömungen solle die

Kulturrevolution in den Minderheitsgebieten durchgesetzt werden.121

The revolutionary culture and art of the national minorities should pay attention to using national forms, so that they can be more easily accepted by the minority peoples. The cul-ture and the arts of all the nationalities must be revolutionary in content and conform to the interests of socialism. There must be unity and only unity is allowed in this matter.122

Die KPCh drängte auf Konformität und Assimilation der Kulturen, verwoben in den stereo-

typen Gewändern der jeweiligen Nationalität. Diese Politik sollte den Minderheiten jedoch

eigentlich ihre individuelle Identität nehmen, denn mit ihrer Aufhebung würde auch der Wider-

stand gegen die Chinesen und deren Kommunismus verschwinden. Deutlich wird dies am

Kommentar von Chiang Ch'ing, die im Rahmen des Festivals sagte: „Euer kleines Xinjiang hat

nichts, worauf es stolz sein könnte. Ich verachte euch!“123

118 Ebd. 119 Qu Liuyi 1964: Zit. n. Mackerras 1992: S.12. 120 Meserve und Meserve 1979: S.113. 121 Meserve und Meserve a.a.O.: S.114. 122 Ebd. Zit. n. Lu Dingyi, „Cultural Revolution of China's National Minorities“. 123 Ebd.

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3.2 Totalverbot. Die Kulturrevolution 1966-76 1966 läutete Mao Tse-tung die Kulturrevolution ein, die „dafür sorgen sollte, dass China auf

immer rot bleibt.“124 Chiang Ch'ing schrieb daraufhin „eine kritische Bewertung der kulturellen

Entwicklungen in China seit 1949.“125

Die Konsequenz war, dass traditionelle Themen in allen kulturellen Bereichen verboten wur-

den.126 Im Besonderen betraf es die Völker mit besonders religiösem Engagement, wie die

Tibeter,127 denn während der Kulturrevolution waren nur propagandistische, auf revolutionären

Han-chinesischen Geschichten basierende Themen erlaubt.128

An vielen Orten mussten Operngruppen ihren Betrieb einstellen, da sie nicht genau wussten,

was nun von ihnen erwartet wurde. Andererseits konnten nun Ensembles, wie die Tibetan

Opera Company von ihrer Ausbildung profitieren, denn sie hatten Erfahrung darin, welche

Elemente von der KPCh gewünscht waren.129

Von Chiang Ch'ing wurden acht revolutionäre Modell-Opern ausgesucht, die den Kampf Chinas

gegen innere und äußere Feinde darstellten und dabei die gute Zusammenarbeit der VBA mit

der Bevölkerung betonten. Die Kulturrevolution hatte, so sagte man, „acht Bühnenwerke für

800 Millionen Menschen“130 auf Lager und nichts weiter. Diese Opern erzählten Geschichten

aus Chinas Vergangenheit. Sie stellten den entschlossenen Kampf des chinesischen Volkes

gegen äußere und innere Feinde dar, verherrlichten die enge Zusammenarbeit zwischen der

VBA und den Menschen und betonten die entscheidende Rolle von Mao Tse-tung für den

Einzug des Sozialismus in China. Alle himmlischen Gestalten, Könige und Eroberer wichen

den „wahren Helden der Geschichte, nämlich die glorreichen Arbeiter, Bauern und

Soldaten.“131

Die Tibetan Opera Company führte eines dieser Opernstücke namens Hongdeng ji (Die Ge-

schichte der roten Laterne) auf. Hierbei geht es um ein junges Mädchen, das von seiner Adoptiv-

Großmutter großgezogen wird und eines Tages von ihr erfährt, dass seine Eltern durch die Hand

der Japaner132 ums Leben gekommen sind. Durch die daraus resultierende Wut angespornt,

beschließt es, sich der revolutionären Truppe anzuschließen. Diese Opern demonstrierten vor

124 Staiger 2003: S.410. 125 Ebd. 126 Vgl. auch Gainor 1995: S.XIV. Die Auswirkungen einer Theateraufführung auf das Publikum sollten nicht

unterschätzt werden, zumal sie als integrales Mittel zur öffentlichen und persönlichen Meinungsbildung verstanden werden können.

127 Vgl. Mackerras 1999: S.64. 128 Mackerras 2005: S.601f. 129 Vgl. Mackerras 1999: S.69. 130 Mittler 2010: S.390. 131 Mittler a.a.O.: S.377. 132 Vgl. Staiger 2003: S.137. Chinesisch-Japanischer Krieg 1937-45.

21

allem, dass die Entschlossenheit, sich für die Revolution aufzuopfern nur durch Hass auf alle

Klassenfeinde und gleichzeitige Liebe für die kommunistische Partei hervorgebracht werden

kann.133 Mackerras nennt diese Aufführung ein besonders absurdes Experiment und führt den

ausbleibenden Erfolg darauf zurück, dass es fernab des Alltags und des besonderen

Theatergeschmacks der Tibeter gewesen sei.134

Diese Form der Bekämpfung aller feudalen und rückwärts gewandten Traditionen fand in den

späten 1960ern seinen Höhepunkt, als auf dem Hauptplatz hinter dem Jo-khang,135 wo traditi-

onell der Neujahrsgottesdienst des Dalai Lama und anschließend eine Darbietung eines tibeti-

schen Opernstückes stattfand, anstelle derer eine der acht revolutionären Opern, nämlich

Baimao nü (Das weißhaarige Mädchen), aufgeführt wurde.136

3.4 Die TIPA geht auf Welttournee. Reaktionen und Sanktionen

Tibetan refugees, followed by the Chinese, launched international tours of their respective troupes. This provided an unprecedented opportunity for Westerners and their governments to participate in Tibetan cultural politics. The first international tour of the Tibetan Institute of Performing Arts in 1974-75 was fraught with international political resistance.137

Wenngleich die TIPA bereits im Voraus viele Buchungen für Auftritte hatte, wurden dennoch

einige Visa-Anträge in letzter Minute gestrichen. Jamyang Norbu, der damals die TIPA als

Manager und Sprecher begleitete, berichtet von einigen dieser Vorfälle.

Die erste Absage kam von Deutschland. Obwohl die TIPA Zusagen für Gastvorstellungen samt

Werbung in acht Städten, einen Garantiebrief und weitere Referenzen hatte, wurde ihnen die

Einreise verweigert. Die zuständige Botschaft in den Niederlanden erklärte ihre Entscheidung

mit Vorbehalten bezüglich der Aufenthaltsabsichten der tibetischen Gäste. Der wahre Grund

war jedoch politischer Druck von chinesischer Seite, dem mit Rücksicht auf neue Absatzmärkte

in China von deutscher Seite aus stattgegeben wurde.

Die zweite Absage kam aus Australien. Erst durch die Beharrlichkeit der Australian-Tibetan

Friendship Society war es möglich, dass die TIPA doch ins Land einreisen durfte. Am Flughafen

jedoch wurde Jamyang Norbu von einem Mitarbeiter des Außenministeriums beiseite

genommen und ermahnt, kein Wort über die Chinesen zu verlieren, sonst werde man ihn

133 Lu 2004: S.117. 134 Mackerras 1999: S.69. 135 Kollmar-Paulenz 2006: S.32 f. Der Tempel wurde einst von König Songtsen Gampo in Auftrag gegeben, um

die Buddha-Statue, welche die chinesische Prinzessin als Aussteuer mit nach Lhasa brachte, zu beherbergen. 136 Norbu 2001: S.155. 137 Calkowski 1995: S.53.

22

deportieren.138 Obwohl die Auftritte gut besucht waren, gab es dennoch regen Protest vor den

Auftrittsorten, wo Flugblätter von Studenten verteilt wurden, in denen der Dalai Lama und Tibet

verunglimpft wurden; außerdem wurden Lesungen Jamyang Norbus gestört. Auch in den USA

gab es bei einigen Auftritten Proteste gegen die Veranstaltungen, die von Mitarbeitern der

chinesischen Botschaft unterstützt wurden.139

3.5 „Das zweite goldene Zeitalter.“ Chinas Tibetpolitik ab 1980 Die Kulturrevolution endete mit dem Tod von Mao Tse-tung 1976 und der baldigen Verhaftung

von Chiang Ch'ing und ihren Mitstreitern, besser bekannt als die „Viererbande“. Diese

„Viererbande“ wurde für all den Schaden während dieser Periode verantwortlich gemacht.140

Ab 1978 verfolgte die KPCh unter der Führung von Deng Xiaoping eine Politik der Moderni-

sierung und der Öffnung zur Außenwelt. Obwohl diese Modernisierung nicht klar definiert

wurde, bezog sie sich auf die Verbesserung der Produktivität von Industrie, Landwirtschaft,

Verteidigung, Wissenschaft und Technologie.141 Die neue Parole lautete nun „Freiheit und

wirtschaftlicher Wohlstand“.142 In der Begrüßungsrede zum Vierten Kongress Chinesischer

Autoren und Künstler am 30. Oktober 1979 kündigte Deng Xiaoping eine Rückkehr zur Zeit

vor der Kulturrevolution an und erwähnte ausdrücklich den Schaden, den die

„Viererbande“ Kunst und Literatur während dieser Periode zugefügt hatten. Außerdem feierte

er die kulturelle Vielfalt in der Volksrepublik China und erläuterte die neue Minderheitenpolitik:

All creative works […] should have their place in our garden of literature and art, so long as they help to educate and enlighten the people while providing them with entertainment and aesthetic pleasure.143

Diese neue Politik, die über alle Maßen auf die Förderung eines weitreichenden Kunstbetriebs

insistiert, ist jedoch nur die Umformulierung der vorangegangenen Devise.

Ebenso sprach sich der Generalsekretär der KPCh Hu Yaobang für eine neue Tibetpolitik aus.

Bei einem Treffen mit dem regionalen politischen Kader in der Autonomen Region Tibet am

138 Calkowski a.a.O.: S.54. Norbus Antwort war, dass er lieber jetzt gleich deportiert werden möchte, in ein

wirklich demokratisches Land wie Indien, aus dem er auch komme. Auch sei er nicht auf der Suche nach Arbeit, sondern um asiatische Kunst zu repräsentieren.

139 Ebd. 140 TIN 2004: S.47. 141 Mackerras 1999: S.59. 142 Ahmed 2006: S.166. 143 TIN a.a.O.: S.47 f.

23

29. Mai 1980 sprach er von einer „Katastrophe“, welche die Kulturrevolution zur Folge gehabt

habe; er fühle sich sehr schlecht, dass die Partei das tibetische Volk im Stich gelassen habe.

Die 1980er Jahre brachten daraufhin einige Veränderungen mit sich. Neben dem wirtschaft-

lichen Aufschwung in der Region, sollte auch die „traditionelle tibetische Kultur“ eine

Renaissance erleben. 1986 wurde in Lhasa erstmals das Zhotön-Festival seit dem Verbot 1966

begangen und wird seitdem jedes Jahr veranstaltet.

Viele Reglementierungen, die für „unreformierte“ Musik und Theater galten, wurden aufge-

hoben. Es bestanden jedoch weiterhin klare Einschränkungen bezüglich des politischen Inhalts,

vor allem des der Liedtexte.144

Für die professionellen, in Tibet agierenden Ache Lhamo-Truppen ist die jeweilige Außenstelle

des chinesischen Kultusministeriums für die Durchführung der Reglementierungen zuständig.

„In Absprache mit den Theatern und Gruppen legt es Auftritte fest. Es schreibt eine Art

Dienstplan vor, der angibt, welche Truppe welches Stück spielt, und wann, und wo sie dies tun

werden“.145

Der Anspruch dieser berufsmäßigen Schauspieler hatte sich geändert. Denn um Status und

Prestige beim Publikum zu erlangen, mussten die Gruppen bei dem jährlich stattfindenden

Wettbewerb des China's National Center for the Performing Arts in Peking gewinnen. Doch

mit einer Performance nach traditioneller tibetischer Manier wäre man dabei nur auf großes

Unverständnis gestoßen. Farbenfroh, artistisch anspruchsvoll und folkloristisch mussten die

Darstellungen sein, um das Publikum zu überzeugen.146

Selbiges galt auch für internationale Aufführungen. Im Jahr 1987 wurde eine staatliche Gruppe

aus der Volksrepublik China in die USA auf Tournee geschickt, mit dem Ziel, die neue poli-

tische Linie der KPCh zu propagieren. Ebenso sollten Vorwürfe beseitigt werden, dass die

darstellenden Künste in Tibet unterdrückt würden.147

In offiziellen Verlautbarungen ist die Bedeutung der Kulturrevolution Schritt für Schritt redu-

ziert worden: von einer „geistigen Atombombe“ zu einer „so genannten Revolution“ und

schließlich zu einem „schweren Fehler des Genossen Mao Tse-tung in seinen letzten Jahren“.148

Ab den 1990er Jahren wurde nun eine subtilere Propaganda erdacht.

Zeng Jian-Hui, der damalige Vizeminister des Propagandaministeriums der KPCh betonte bei

seiner Ansprache auf der „Konferenz zur Arbeit externer Propaganda in Bezug auf die

144 TIN a.a.O.: S.48 ff. 145 Vgl. Mackerras 1988: S.211 f. 146 Calkowski 1995: S.55. 147 Ahmed 2006: S.172. 148 Staiger 2003: S.410.

24

Tibetfrage“ im März 1993:

With regard to the attacks by the West and the Dalai Clique and their frequent activities, our external propaganda should launch offensives. We should expand our spheres of in-fluence; in particular, we should infiltrate our propaganda into the mainstream life of the west. Firstly, we should continue to send Tibetan scholars and Tibetan singing and dancing troupes abroad to lecture and perform.149

Bei einer Rede vor KPCh-Mitgliedern zum Auftakt einer weiteren Tournee sprach der damalige

Gruppenleiter der betreffenden Chinese Tibet Art Troupe Gyaltsen Norbu im Jahr 1994 davon,

dass diese nun eine Schlüsselrolle für das „Propagandaprojekt Tibet“ einnehmen würden.150

Ebenso zieht der Bericht des leitenden Ministers des Informationsbüros des Staatsrates der

Volksrepublik China, beim „Treffen zum Forschungsstand der Tibetologie und der externen

Propaganda“ am 12. Juni 2000, Zhao Qizheng, die folgende ruhmreiche Bilanz:

We have sent 23 groups of artistes to give performances at international cultural and experience-sharing forums in over 80 cities in over 40 countries. They have given over 400 performances to over 800,000 people.151

Die chinesischen Behörden beschlagnahmten die Tanztruppen als ideales Medium, um ein Bild

der blühenden tibetischen Kultur gegenüber Ausländern und Tibetern außerhalb Tibets zu

präsentieren. Diese sollten davon überzeugt werden, dass die tibetische Kultur lebendig sei.152

3.6 Der Kampf um kulturelles Erbe Richard Handler, Professor für Anthropologie an der Universität Virginia, stellt in seinem Buch

Nationalism and the Politics of Culture in Quebec die These auf, dass die Grundlage einer

nationalistischen Ideologie die behauptete Existenz einer geografisch, historisch und kulturell

einzigartigen Nation sei. Sie sei untrennbar mit einem begrenzten Gebiet und einer bestimmten

Geschichte verbunden und diese Verbindungen müssten natürlich erscheinen und nicht

willkürlich. Diese Annahmen würden aus nationalistischer Perspektive nicht in Frage gestellt.

Wenn diese Konstruktion jedoch von außerhalb des begrenzten Territoriums verleugnet werde,

so werde es zu einer Herausforderung für den Nationalstaat, diese Zweifel durch Behauptung

und Beschreibung von gemeinsamer Kultur und Geschichte zu zerstreuen. Das führe

unweigerlich zum Streit über den Besitz von Kulturgütern.153

149 TIN 2004: S.125. 150 TIN a.a.O.: S.126. 151 TIN 2004: S.125. 152 Ebd. 153 Vgl. Handler 1985: S.154 f.

25

Im Falle der darstellenden Künste und insbesondere in der Ache Lhamo findet dieser Streit

zwischen der tibetischen Exilregierung in Dharamsala und den chinesischen Behörden statt. In

der sich daraus entwickelnden Authentizitätsdebatte werden die jeweiligen Standpunkte der

beiden Parteien durch Anna Morcom, Musik-Anthropologin der SOAS in London, in ihrer

Studie Drawing and Redrawing the musical cultural map of Tibet veranschaulicht.

Die Kritik an der Arbeit der TIPA ist, dass sie ihre Form der Ache Lhamo erfunden habe, mit

der Absicht, eine tibetische Tradition zu homogenisieren, kanonisieren und zu konservieren.

Jedoch habe es niemals eine einheitliche Ache Lhamo-Tradition, die man hätte bewahren kön-

nen.154Vielmehr sei dies ein folkloristisches Konzept, dass von der Exilregierung und deren

Kulturpolitik erschaffen wurde, das der Gegenwart dienen solle.155

Morcom berichtet von einem Tanz aus A-mdo,156 der von TIPA als für die Region typisch in-

szeniert wurde. Wie ihr ein Darsteller aus dem Bla-brang bkra-shis 'khyil157 erzählte, war dieser

1959 erdacht worden, um Mao Tse-tung zu huldigen. Obwohl dieser Tanz einst mit der

Befreiung Tibets assoziiert wurde, sei er jetzt alt und charakteristisch genug, um als zeitlos und

traditionell zu gelten.158

The entire project of preserving a culture and civilization is theoretically problematic since it considers culture as something that can be identified, mapped, practised and preserved. Such a conceptualisation of culture essentialises and naturalises what is socially and politically constructed and contested. [...] Tibetan culture is as much a process as it is a product of particular historical processes.159

Die historischen Prozesse, die hier von Dibyesh Anand beschrieben werden, fußen auf der

Theorie von Eric Hobsbawm. In seiner Abhandlung zu The Invention of Tradition beschreibt er

die Konstruktion von Traditionen. Dies bedeute eine Reihe von Praktiken, insbesondere weithin

bekannte, aber nicht weiter nachgefragte Rituale oder Regeln, die durch Wiederholung

eingeprägt werden sollen und somit einen Zusammenhang und Kontinuität mit der

Vergangenheit insinuieren.

Diese Konstanz wird, wenn möglich, mit einer dafür geeigneten historischen Vergangenheit

begründet.160 Inventing traditions ist ein Prozess der Formalisierung und Ritualisierung, der

durch Referenzen auf eine gemeinsame Vergangenheit charakterisiert ist oder zumindest durch

154 Ahmed 2006: S.168. 155 Ebd. 156 Im Folgenden Amdo. 157 Kloster in der Provinz Gansu. 158 Vgl. Morcom 2006: S.411 ff. 159 Anand 2000: S.278. 160 Vgl. Hobsbawm 1983: S.1.

26

eine eindrucksvolle Wiederholung dieser.161

Für alle invented traditions gilt, dass Geschichte als Legitimation von Handlungen und für den

Zusammenhalt einer Gruppe benutzt wird. Häufig wird das Erfundene zum eigentlichen

Symbol des (Kultur-) Kampfes.162

Die Exilregierung hat sich seit ihrer Errichtung um die Einheit und Kohärenz aller Tibeter in

einer Art „Pan-Tibetanismus“ bemüht. Aus gemeinsamen kulturellen Motiven, wie Bräuchen,

Gewohnheiten und Praktiken, die man für die Zeit vor 1959 als selbstverständlich und traditio-

nell erachtet und weiteren, seitdem erfundenen, wird nun ein „stimmiges“ kulturelles

Gesamtpaket erstellt. Dieses Bündel kann nun je nach Notwendigkeit für den einheimischen

Genuss oder als Exportgut verwendet werden. Im Besonderen ist die Abteilung für Information

und Internationale Beziehungen der Exilregierung in Dharamsala dafür gesamt-

verantwortlich.163

Anna Morcom zeichnet ein historisches Bild der darstellenden Künste in Tibet, das verdeut-

liche, dass es in allen Teilen Tibets eine Ache Lhamo-Tradition gab. Diese Tatsache stehe jedoch

zu der kulturpolitischen Auseinandersetzung innerhalb der Institutionen im Exil in Wider-

spruch, weil man im Inland versuche, in diesem Propagandakampf Tibet als einen Nationalstaat,

zentriert um das Machtzentrum Lhasa, darzustellen und somit auch die darstellenden Künste

nur auf Lhasa beschränkt und den weiteren Gebieten andere typische Tänze zuweist.164 Zum

Beispiel werden alle Hauptcharaktere bei der TIPA ausschließlich in Kostümen der Aristokratie

Lhasas dargestellt. Witzbolde und Dämonen werden dagegen mit Gewändern aus anderen

Regionen Tibets bekleidet.165

Diese konstruierte Tradition und Geschichte ist nicht zuletzt ein Teil des Kampfes in der

Tibetfrage und wird auch offiziell vom 14. Dalai Lama vertreten, um Unterstützung von

außerhalb zu gewinnen.

Today we are going through a critical period of time. We are a nation with an ancient culture, which is now facing the threat of extinction. We need your help, the international community’s help, to protect our culture. Our culture is one of the heritages of the world. Protecting an ancient culture like this is the responsibility not only of the concerned nation,

161 Vgl. Hobsbawm a.a.O.: S.4. 162 Hobsbawm a.a.O.: S.12. 163 Powers 2004: S.145. 164 Vgl. Morcom 2006: S.409. 165 Norbu 2001: S.151.

27

but also of the world community as a whole. (14. Dalai Lama)166

Der Erfolg dieser Strategie ist unter anderem am Beispiel des Revival of Ache Lhamo Project

der Heinrich-Böll-Stiftung zu sehen. Seit 1997 besteht diese Förderung mit dem Ziel der Kul-

turbewahrung. Die tibetische Kultur drohe auszusterben und mit der Unterstützung der Arbeit

der TIPA soll eine Wiederbelebung dieser aus alter Zeit stammenden Kunstform in tibetischen

Siedlungen und Schulen begünstigt werden.167

Auf chinesischer Seite wurden auch Traditionen erfunden. Die Mitarbeiter der KPCh sam-

melten „raw material“, also Melodien, Themen und Leitmotive der Minderheiten und erstellten

daraus dann eigenen neuen Kulturbesitz, um diesen dann als tibetisch zu deklarieren. Da die

meisten Tänze und Lieder in oraler Tradition vermittelt wurden, und, durch den Umstand

begünstigt, dass die meisten Unterlagen zur tibetischen Oper wohl der Kulturrevolution zum

Opfer gefallen sind, sei es relativ einfach in der Moderne, wo die Welt der Schrift die ultimative

Autorität habe, die Geschichte zum Einsturz zu bringen und einen Mythos zu kreieren.168

Dies geschah mit einigem Erfolg. Durch neu ankommende Immigranten in Dharamsala werden

diese unvermeidlich sinisierten Versionen der tibetischen Lieder als „etwas Neues“ und vor

allem als „etwas aus Tibet“169 sehr gut angenommen. Diese von einigen Tibetern als

„chinesisches Virus“ bezeichnete Entwicklung könnte mithin als Kulturassimilation fungieren

und dazu führen, dass tibetische Kinder bald nicht mehr zwischen traditioneller und sinisierter

tibetischer Musik unterscheiden können.170

Ebenso beschreibt Jamyang Norbu eine Opernvorführung, die von einem in China ausgebil-

deten Neuankömmling im Exil inszeniert wurde. In die Ache Lhamo fanden theatralische

Gesten Einzug, die der chinesischen Theatertradition zugehörig sind, der tibetischen jedoch

nicht. Dazu sind beispielsweise das Rollen der Augen und das starke Anheben der Augenbrauen

zu rechnen.171

Kulturelle Assimilation, so folgert Calkowski, sei ein althergebrachtes koloniales Instrument,

das auch die langjährige Tibetpolitik Chinas bestimme und grenzüberschreitend fortbestehe.172

166 Funk 2008: S.33. Hervorhebungen im Original. 167 Funk a.a.O.: S.67. 168 Vgl. Morcom a.a.O.: S.411 ff. 169 Vgl. Mackerras 1992: S.15. Die jüngere Generation von Tibeter, obwohl sie den Inhalt meist nicht gut

verstehen, lieben die Ache Lhamo aufgrund des gesellschaftlichen Anlasses und wegen ihrer Anziehungskraft als nationale tibetische Kunst.

170 Vgl. Calkowski 1995: S. 56. 171 Norbu 2001: S. 157. 172 Calkowski a.a.O.: S. 56.

28

Ein weiteres Beispiel dafür ist eine Tour einer chinesischen Tanzgruppe durch Thailand im

August 2004. Das Programm beinhaltete unter anderem für die Ache Lhamo typische Tänze.

Den Vorführungen vorangehend wurden Videos gezeigt, welche die soziale und wirtschaftliche

Entwicklung in Tibet seit 1959 loben und betonen, dass Tibet seit jeher ein untrennbarer Teil

Chinas sei. Dass die Wahl auf ein stark buddhistisches Land wie Thailand fiel, um die

ruhmreiche Unterstützung Tibets durch die Volksrepublik China zu zeigen, bestätige die Stra-

tegie der KPCh, mit der Taktik der TIPA gleichzuziehen und die kulturpolitische Auseinander-

setzung auf internationaler Ebene auszutragen.173

Das Theater in der Diaspora dient als Ort kultureller Selbstreflexion und -bewusstein und vor

allem der kulturellen Deutungsmacht und wird somit zu einem Surrogat für die verlorene

Heimat und Kultur. Diese Ersatzleistung erarbeitet sich einen autonomen Status weniger durch

ihre Repräsentativität als durch die Gestaltung eines kollektiv fantasierten Originals.174

Das Erfordernis, eine originäre und autochthone Kultur zu erschaffen und sie dann bewahren

zu wollen, sei eine effektive hegemoniale Strategie in der Kulturpolitik der tibetischen Exil-

regierung.175 Offensichtlich wird dies an den folgenden zwei Beispielen, die eine Vorstellung

dessen geben sollen, welche Folgen sich aus dem Willen nach Erhaltung und Schutz von kon-

struierter Kultur und Tradition im Exil ergeben.

1981 schrieb Jamyang Norbu eine gänzlich neue Oper mit dem Namen Chaksam, die Eisen-

brücke, und wollte damit die legendäre Geschichte des Thangtong Gyalpo erzählen und wie er

die Ache Lhamo kreierte. Kritik kam von lokalen Politikern, denen die Darstellungsweise eines

armen, von einem Esel begleiteten Mannes aus Amdo missfiel.

Jamyang Norbu schuf im Jahr 1985, kurz nach seiner Entlassung als Direktor der TIPA, eine

weitere Produktion zu Ehren des Geburtstags des Dalai Lama, wo die Requisite des Esels erneut

zum Einsatz kam. Obwohl das Resultat ein großer Erfolg war, wurden Wochen später erneut

einige Stimmen der Regierung laut und verurteilten das Austraben eines Esels während der

Feierlichkeiten als absichtliche Beleidigung gegen den Dalai Lama anstatt auf die künstlerische

Freiheit Rücksicht zu nehmen.176

Diese beiden Berichte zeigen die durch kulturpolitische Interventionen der Exilregierung

beförderte Konstruktion von Tradition auf.

Allerdings war die Popularität der Ache Lhamo auch dadurch motiviert, dass sie ein Ort der

173 Ahmed 2006: S.172. 174 Kennedy 2003: S.368. 175 Ahmed a.a.O.: S. 171. 176 Vgl. Norbu 2001: S.155.

29

politischen Satire war. Stellen für Improvisation und Anpassungen, die in der Aufführung ein-

geräumt wurden, konnten für Verweise auf aktuelle gesellschaftliche oder politische Ereignisse

verwendet werden.177 Für solche Kritik scheint es aber in dem neuem „Kulturpaket

Tibet“ keinerlei Raum zu geben und es wird die Vergangenheit zu einer homogenen Geschichte

des alten Tibets stilisiert, in der es für Innovation oder Satire keinen Platz gibt. Diese Kon-

formität erzeugt ein unrealistisches Tibetbild, welches zum einen die eigene Vergangenheit

verklärt und beschönigt und zum anderen die Sympathie der Weltöffentlichkeit für den Kampf

gegen die chinesische Tibetpolitik gewinnen will. Eva Funk spricht davon, dass eine Konse-

quenz daraus ist, dass die „[…] tibetische Kultur zu einem Produkt [wird], welches zu be-

stimmten Zwecken und Gelegenheiten ausgestellt wird und das für den Großteil der Menschen

in der Diaspora nur noch geringe Bedeutung im alltäglichen Leben besitzt.“178

4. Schlussbetrachtung

Wie in der vorliegenden Arbeit aufgezeigt wurde, ist der Verwendung der Kunstform Ache

Lhamo bereits seit ihrer Entwicklung im 14. Jahrhundert Gegenstand weitreichender Beein-

flussung. Einerseits wurde sie mit womöglich bescheidenen Absichten und nach bestem Wissen

für die Propagierung des Buddhismus entwickelt und andererseits zur Verbreitung der

kommunistischen Idee nach chinesischem Vorbild und zur Stützung der Theokratie der Dalai

Lamas benutzt.

Seit den 1960er Jahren hingegen wird die tibetische Oper zum Spielball hegemonialer und

kulturpolitischer Interessen. In dieser kulturpolitischen Auseinandersetzung stehen sich zwei

Pole gegenüber. Einerseits die tibetische Exilregierung, der es um die Geltendmachung einer

tibetischen Identität und Widerstand gegen den Prozess der Sinisierung durch die Interessen der

KPCh gehe. Auf der anderen Seite versucht die KPCh zu vermitteln, dass die Volksrepublik

China Tibet als gleichberechtigt ansehe.179

Auch der Einfluss der westlichen Welt mit ihrer Musik und Anziehungskraft wirkt ebenso auf

kommende Generationen von Tibeter ein, welche das Interesse an Traditionen zu verlieren

drohen.

Laut Eva Funk könne man die Akteure dieser Institutionen mit Kuratoren eines Museums ver-

gleichen. Die „kulturellen Artefakte“, welche als „authentisch und rein“ gelten, werden in einer

Art „nationalem Museum“ bewahrt. Doch gebe es dabei weder Platz für Jugendkultur oder

177 Vgl. Attisani 2005 und 2009. 178 Funk 2008: S.78. 179 Vgl. Ahmed 2006: 162.

30

weitere „moderne Formen“.180

Marcia Calkowski war Ende der 1980er bei einer Aufführung Zeuge eines Prozesses der Weiter-

entwicklung und Adaption neuer unmittelbarer Einflüsse, vor allem durch die indische Kultur,

die sich mehr Raum im täglichen Leben der Exilanten verschafft. Am Vortag der Veranstaltung

gab es einen heftigen Streit über inhaltliche Fragen und diese Auseinandersetzung war

gekennzeichnet durch die Einmischung der Religion in künstlerische Angelegenheiten und das

Bewahrenwollen aller Interessen und Artefakte der tibetischen Kultur durch die Exilregierung.

Diese Verklärung künstlerischer Freiheit und political correctness führten dazu, dass die

betreffende Stelle, in der das traditionelle Mantra der Bka' brgyud pa rezitiert werden sollte,

während der Aufführung zensiert und gegen ein populäres Hindi-TV-Lied ersetzt wurde und

alle Kritik verebben ließ.181 Hier wird exemplarisch aufzeigt, dass die Strategie der Kon-

struktion einer starren Kultur nur noch mehr zu einem realen Verschwinden beiträgt.

Hence, what serves as a tool of resistance today may have been one of domination at an earlier point. These shifting positions of lhamo in the social field foreground the potential of cultural politics as subversive, yet transient, „well-intentioned“ strategies are actually camouflaged articulations that conceal hegemonic strategies.182

Antonio Attisani spricht davon, dass die heutige Ache Lhamo ein baldiges Aussterben riskiere,

wenn sie weiterhin nur als einfache staatliche Institution verstanden werde. Diese politische

Frage drohe die Gemeinschaft zu entzweien, sodass sich die tibetische Oper in diesem Kontext

mehr in integralistischen Bestrebungen verliere, in denen das politische Leben als Gehorsam

und nicht als aktive Teilnahme wahrgenommen werde.183

Die von chinesischer Seite ausgehenden Maßnahmen der 1950er bis 1970er Jahre zur Verän-

derung der tibetischen Oper scheinen einen nachhaltig negativen Einfluss auf die tibetische

Perzeption ursprünglich indigener Kulturformen gehabt zu haben.

With social progress and the development of production in Tibet, economic prosperity and cultural efflorescence will inevitably affect Tibetan opera, which reflects social life and is bound to respond to the new cultural development in Tibet.184

Ein Wissenschaftler aus Tibet, der Ende der 1980er Jahre in Dharamsala gefragt wurde, ob er

irgendwelche Truppen der Autonomen Region Tibet empfehlen könne, antwortete, dass es

180 Funk 2008: S.111. Hervorhebungen im Original. 181 Vgl. Calkowski 1991. 182 Ahmed 2006: S.163. 183 Attisani 2009: S.14. 184 Yao 1986: S.13.

31

lediglich einen Schauspieler gebe, den er aufzählen könne. Eine große Vermischung von ver-

schiedensten Stilen würde der Ache Lhamo in der Autonomen Region Tibet den Anschein

geben, „weder einen Anfang noch ein Ende“ zu haben.185

Ähnliche Erfahrungen machte auch Ellen Bangsbo, die von der „Show O² – Himalaya“ in Lhasa

berichtet. Dieses Programm, welches eine Verschmelzung der Ache Lhamo und weiterer Stile

beinhalte, sei ein attraktiver Platz für Touristen, um „traditionelle“ tibetische Kunst zu

erleben.186

The Show O² – Himalaya will lead you to go through the splendid world of Tibetan people, to enter the glorious Guge Kingdom, to join the colorful festivals of the snow land, and finally gathering in Lhasa and sharing the hope of Beijing 2008 Olympic: One World, One Dream.187

Dieser mehr als 700 Jahre umfassende Abschnitt der Geschichte Tibets, gerafft auf zwei

Stunden mit dem Ausblick auf „eine Welt mit einem Traum“ scheint die Kritik des vorange-

henden Beispiels zu bestätigen.

Der aktuelle Trend der jungen Generation Tibeter im Exil und in der Autonomen Region Tibet

geht jedoch dahin, dass sie lieber in Karaoke-Bars gehen,188 um tibetische Musik zu erleben

oder mit westlich geprägter Musik ihre Probleme und Sehnsüchte nach Identität besingen, wie

der Autor bei einem Besuch in Dharamsala 2011 erlebt hat.

Diese Transformation im 21. Jahrhundert könnte die Möglichkeit bieten, die Kunstform Ache

Lhamo zu benutzen, um die Tibetfrage spielerisch und kritisch zugleich zu verarbeiten und dem

Umgang mit fast 55 Jahren Exil öffentlich neues Leben einzuhauchen. Somit könnte man dem

Anspruch der Tradition, aber auch der Anerkennung des neuen und modernen Umfeldes und

daraus resultierender Probleme der im Exil geborenen Tibeter gerecht werden.

185 Vgl. Calkowski 1995: S.57. 186 Bangbso 2013: S.12. 187 Ebd. Aus dem Programmheft der Show entnommen. 188 Vgl. Diehl 2002 und Bangsbo 2013 für einen umfangreichen Überblick.

32

5. Anhang

5.1 Abbildungen

Abbildung 1: TIPA Informationsbroschüre. Vorderseite. Dharamsala 2012.

33

Abbildung 2: TIPA Informationsbroschüre. Rückseite. Dharamsala 2012.

34

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5.3 Eidesstattliche Erklärung

Ich, Daniel Wojahn, versichere hiermit an Eides statt, dass ich die hier vorliegende Arbeit

selbständig verfasst habe. Jede Stelle, an der wörtlich oder inhaltlich auf das Gedankengut

anderer zurückgegriffen wurde, habe ich kenntlich gemacht.

Weder die gesamte Arbeit noch Teile der Arbeit lagen jemals einer Prüfungsbehörde vor.


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