Date post: | 23-Jan-2023 |
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Universität Flensburg
Master-Arbeit im Studiengang „Master of Education“
Fach: Philosophie
Thema:
Begründen und Sich-Verständigen im Kontext der Auseinandersetzung
zwischen Brandom und Habermas
Vorgelegt von: Katrin Stamm (Matr.-Nr. 53 53 23)
Erstbetreuerin: Prof. Dr. Anne Reichold
Zweitbetreuer: Dr. Pascal Delhom
© Katrin Stamm 2011
2
Inhalt
Seite
1. Einleitung
3
2. Die Begriffe der Kommunikation und des Verstehens bei Brandom 7
2.1. Kleine Vorbemerkung zum Vorgehen in diesem Kapitel 7
2.2. Definitionen 10
2.3. Vom Begrifflichen zur Kommunikation
11
3. Habermas Kritik an Brandom 50
3.1. Zusammenfassender Überblick über Habermas’ Modell des
kommunikativen Handelns als Einleitung zu seiner Brandom-Kritik
3.2. Rekonstruktion von Habermas Kritik an Brandoms
Kommunikationsbegriff und deren Bewertung mit Blick auf Habermas’ eigene
Theorie
55
4. Brandoms Erwiderung auf Habermas
81
5. Zusammenfassung und Bewertung der Auseinandersetzung zwischen Brandom
und Habermas
91
6. Abschluss und Ausblick
96
Literatur
102
Erklärung 108
3
1. Einleitung
Gegenstand dieser Ausarbeitung ist eine kritische Untersuchung der Auseinandersetzung
zwischen Brandom und Habermas in Hinblick darauf, was Kommunikation bzw. Diskurs
jeweils für sie bedeuten. Der Titel beinhaltet eine Anspielung auf Brandoms Werk,
„Articulating Reasons“, das auf Deutsch als „Begründen und Begreifen“ veröffentlicht
wurde1. Der deutsche Titel suggeriert, indem er das „Begreifen“ hinzunimmt, dass Brandom
auch die Dimension des Verstehens in seinem Werk analysiert und dass ein ausreichend
genaues Begründen innerhalb zwischenmenschlicher Kommunikation zum Begreifen oder
Verstehen des Gehalts eines Begriffs führen würde: Begreifen/Verstehen durch Begründen.
Ist Begreifen aber gleichbedeutend mit Verstehen? Oder handelt es sich beim Begreifen des
Gehaltes eines Begriffs in der Kommunikation um eine Verständigung über den Gehalt dieses
Begriffes? Wie verhalten sich dann aber Verstehen und Verständigung zueinander? Oder ist
die Tätigkeit des Begründens eine Form des Begreifens/Verbegrifflichens (im Sinne eines
Explizitmachens des begrifflichen Gehaltes innerhalb linguistischer sozialer Praxis)? Auf
jeden Fall hat Habermas Brandom wohl so verstanden, dass er erklären möchte, wie
Verständigung zustandekommt, also im Sinne der Lesart „Sich-Verständigen durch
Begründen“. Denn er kritisiert an Brandom, dass dessen Theorie genau dies nicht leisten
könne: seine Kritik kulminiert in dem Urteil, dass Brandom die „Pointe sprachlicher
Verständigung“ verfehle, wenn er das Verstehen, das der Kommunikation innewohne, als
Ausdruck von Zuordnungsoperationen von Geltungsansprüchen und Berechtigungen eines
Sprechaktes durch einen Interpreten begreife.2 Dem gegenüber stellt Habermas ein Modell
des Verstehens, in dem „einen Ausdruck verstehen bedeutet, zu wissen wie man sich seiner
bedienen kann, um sich mit jemand über etwas zu verständigen.“ [WR, 175] Verstehen ist für
Habermas also Mittel zum Zweck der erfolgreichen Kommunikation in einer triadischen
Form (ich mit dir über etwas). Erfolgreiche Kommunikation ist für ihn gleichbedeutend mit
Verständigung, d.h. der Erzielung eines handlungsleitenden Konsenses durch einen
rationalen, sprachlichen Austausch von Menschen untereinander. Verstehen ist für ihn kein
1 Brandom, Robert (2000): Articulating Reasons. An Introduction to Inferentialism. Cambridge. – Ders. (2001): Begründen und Begreifen. Eine Einführung in den Inferentialismus. Frankfurt/M. [BB] – Werke, die häufig zitiert werden, erhalten bei ihrer ersten Einführung eine Abkürzung. Alle Abkürzungen sind im Literaturverzeichnis bei den zugehörigen Publikationen vermerkt. 2 Habermas, Jürgen (1999): Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt am Main 1999. Abschnitt II: „Intersubjektivität und Objektivität“, 3. Kapitel: „Von Kant zu Hegel: Zu Robert Brandoms Sprachpragmatik“, S. 138-186. [WR] – Vgl. S. 175.
4
intellektueller Selbstzweck und keine bloße „stille Zustimmung“ zum Wahrheitsgehalt der
Aussage eines anderen. Nicht erkenntnistheoretische Fagestellungen stehen bei ihm im
Vordergrund, sondern pragmatische Fragen im Rahmen einer kritischen Gesellschaftstheorie.
Schon in dieser kurzen Einleitung in die Debatte wird deutlich, dass Begriffe mit den
verschiedensten Bedeutungsschattierungen – Begreifen, Verstehen, Kommunikation,
Verständigung – nicht klar genug voneinander abgegrenzt sind. So muss man sich fragen, ob
„Begreifen“ für Brandom „Verstehen“ im Vollsinne meint. Oder ob „Begreifen“ sich z.B. auf
eine begriffliche Dimension des Verstehens beschränkt (wobei definiert sein muss, was oder
wie ein Begriff ist). Völlig ungeklärt ist auch, obwohl Habermas Formulierung dies nahelegt,
ob „Verstehen“, das sich ja auf den Gehalt einer Äußerung wie auch auf eine Person beziehen
kann, mit „Verständigung“, welche eine besondere Art der Kommunikation zwischen
Menschen beschreibt, identisch ist. Man verständigt sich ja nicht nur über etwas, sondern auch
miteinander.
Zuerst soll deshalb Brandoms Konzept von Kommunikation und gegenseitigem Verstehen im
Diskurs kritisch und ausführlich rekonstruiert werden. Diese Rekonsruktion dient dann als
Hintergrund für Habermas Kritik und Brandoms Erwiderung, vor dem abschließend beurteilt
werden soll, inwiefern die Kritik berechtigt ist oder nicht.
Die Auseinandersetzung zwischen Brandom und Habermas ist im Euopean Journal of
Philosophy 1999/20003 dokumentiert. In Reaktion auf die Veröffentlichung von Brandoms
„Making in Explicit“ (1994)4, beschäftigte sich Habermas in seinem Buch „Wahrheit und
Rechtfertigung“ (1999) im Kapitel „Von Kant zu Hegel. Robert Brandoms Sprachpragmatik“
kritisch mit den Konsequenzen eines (Brandom unterstellten) Begriffsrealismus für den
Begriff der Kommunikation, der Wahrheit und des Normativen. Im Verlauf seiner Analyse
wendet sich Habermas von Hegel, dessen entscheidenden Einfluss auf Brandom er
nachzuweisen versucht, zurück zu Kant, um den Begriff der Autonomie und die
3 Habermas, Jürgen (1999): From Kant to Hegel and back again – the move towards detranscendentalization. European Journal of Philosophy 7/2, S. 129-157. Ders. (2000): From Kant to Hegel: On Robert Brandom’s Pragmatic Philosophy of Language. Review article. European Journal of Philosophy 8/3 (2000), S. 322–355. Beide Artikel ebenfalls erschienen in: Ders. (1999): Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt am Main 1999. Abschnitt II: „Intersubjektivität und Objektivität“, S. 138-230. – Brandom, Robert (2000): „Facts, Norms and normative Facts: A Reply to Habermas“. European Journal of Philosophy 8/3 (2000), 356-374. 4 Brandom, Robert B. (1994): Making it Explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Commitment. Cambridge. [ME]
5
Verantwortlichkeit des Menschen, die er durch die Folgen von Brandoms angeblichen
Begriffsrealismus bedroht sieht, wieder stark zu machen. Im Jahr 2000 wurde dieser Artikel
dann ins Englische übertragen und erschien im European Journal of Philosophy unter dem
Titel: „From Kant to Hegel: On Robert Brandom’s Pragmatic Philosophy of Language.“
Brandom erwiderte die Kritik in derselben Ausgabe direkt im Anschluss unter dem Titel
„Facts, Norms and normative Facts: A Reply to Habermas“5.
Um zu prüfen, ob Habermas Kritik Brandom wirklich trifft, müssen folgende Dinge geklärt
werden: Zentral ist die Frage, ob Brandom und Habermas sich mit dem selben Gegenstand
befassen. Beschreibt Brandom in „Begründen und Begreifen“ überhaupt Kommunikation?
Kann man ihm etwas vorwerfen (die Pointe der Verständigung zu verfehlen), wenn es ihm
vielleicht gar nicht darum ging, Verständigung zu beschreiben und zu erklären? So fällt auf,
dass Brandom Kommunikation nur verteilt über sein gesamtes Werk – wenn auch immer
wieder – behandelt, aber vom Wesen des Begrifflichen ausgeht und auch immer wieder auf
dessen zentrale Bedeutung für seine Theorie hinweist.
Im selben Zusammenhang muss man sich fragen, worauf die Forschungsprojekte von
Habermas und Brandom jeweils abzielen. Schon im obigen Zitat wurde deutlich, dass
Habermas’ Erkenntnisinteresse auf Verstehen als Verständigung zielt. Geht es Brandom aber
darum, eine Theorie der Verständigung zu entwickeln, vergleichbar einer eine Theorie des
kommunikativen Handelns, die Habermas im Sinne hat? Was interessiert Brandom an
sprachlichem Handeln? Der gesellschaftliche Prozess der Konsensbildung oder ein Fortschritt
im Explizitmachen eines unbewussten Wissens-Wie, das beschreibt, wie man inferentielle
Netze knüpft und dadurch Geltungsansprüche erhebt und Berechtigungen erwirbt bzw.
anderen zuschreibt? Oder geht es ihm um eine Bestimmung dessen, was der Mensch als
sprechendes Wesen ist?
Im folgenden stehen deshalb Begriffsklärungen im Vordergrund: Was bedeuten Begreifen,
Verstehen, Verständigung, Kommunikation und Diskurs bei Habermas und Brandom? Im
Zentrum der Analyse stehen dabei Brandoms Begriffe. Habermas Theorie des
kommunikativen Handelns wird als bekannt vorausgesetzt, nur einleitend mit Blick auf die
Fragestellung dieser Arbeit zusammengefasst und dient weitgehend als Referenz, um 5 Ders. (2000): „Facts, Norms and normative Facts: A Reply to Habermas“. European Journal of Philosophy 8/3 (2000), 356-374.
6
Habermas Kritik an Brandom verständlich zu machen. Als Schlüssel zum Erschließen dieser
Begriffe erweist sich seinerseits der Begriff vom „Begriff“ selbst. Dabei beziehe ich mich mit
Brandom auf Hegel und dessen Begriff vom Wesen des Begrifflichen, denn an dessen (links-
oder rechtshegelianischen) Deutung scheiden sich offenbar die Geister Habermas’ und
Brandoms. So weist Brandom explizit darauf hin, dass die Wurzel des Disputes zwischen
Habermas und ihm nicht wesentlich in einem unterschiedlichen Erkenntnisinteresse, sondern
in einer unterschiedlichen Hegeldeutung liege: „[…] it has come to seem to me that our
differences here turn more on differences in how we read Hegel than they do in what
philosophical ideas we think are worth pursuing or not.“ 6 Aber vielleicht spielt doch auch das
Erkenntnisinteresse eine wichtige Rolle? Und vielleicht misst gerade Habermas dem eine viel
größere Bedeutung zu als Brandom? So beschreibt Habermas in seiner Frankfurter
Antrittsvorlesung 1965 „Erkenntnis und Interesse“7 die Aufgabe einer kritischen
Wissenschaftstheorie als das Aufdecken von erkenntnisleitenden Interessen (im Rahmen der
Ideologiekritik). Dabei weist er den empirisch-analytischen Wissenschaften ein technisches,
den historisch-hermeneutischen ein praktisches und den kritisch orientierten Wissenschaften
ein emanzipatorisches Erkenntnisinteresse zu (vgl. ebd.) Hängt diese Einteilung (und
Bewertung) der Wissenschaften mit seiner Kritik an Brandoms Theorie zusammen?
Abschließend ist zu prüfen, ob Brandoms Erwiderung auf Habermas und seine Erklärung des
„Missverständnisses“ seiner Theorie durch Habermas dessen Kritik wirklich entkräftet. Kann
Habermas Kritik schon allein dadurch abgetan werden, dass er bestimmten methodischen
Entscheidungen Brandoms nicht folgt und stattdessen Brandoms Grundentscheidung, sich auf
die Erklärung begrifflicher Strukturen statt auf das Verstehen menschlicher Kommunikation
zu konzentrieren, angreift? In der Tat teile ich Habermas Kritik insofern, dass die
Reduzierung des Verstehensbegriffes auf das Explizitmachen logischer Strukturen und das
deontische Kontoführen im Kontext der Beantwortung der Frage, „was wir sind“, die
Brandom an den Anfang der „Expressiven Vernunft“ stellt, nicht zufriedenstellend von ihm
beantwortet werden kann.
6 Brandom, Robert B. (2009): „Towards Reconciling Two Heroes: Habermas and Hegel“. Conference on the Philosophy of Jürgen Habermas, University of Pécs, Pécs, Ungarn, 18. - 19. Mai 2009. S. 6. 7 Habermas, Jürgen (1965): Erkenntnis und Interesse. Frankfurter Antrittsvorlesung. S.146-168 in: ders. (1968): Technik und Wissenschaft als Ideologie. Frankfurt/M. S. 155.
7
2. Die Begriffe der Kommunikation und des Verstehens bei Brandom
2.1. Kleine Vorbemerkung zum Vorgehen in diesem Kapitel
Kippbilder, Sprachspiele, Witze und die perspektivische Struktur begrifflicher Gehalte bei
Brandom
Im folgenden werde ich öfter Witze heranziehen, die das Spiel mit der Sprache und den
Konflikt verschiedener Sprachspiele zum Gegenstand haben, um bestimmte Konzepte von
Brandoms Theorie der Kommunikation zu veranschaulichen. Nach Wittgenstein ist das
Lachen über Wortwitze eine Art Erleben von deren Bedeutung: „Man lacht über solche
Witze: und insofern (z.B.) könnte man sagen, man erlebe die Bedeutung.“8 Lachen ist eine
spontane körperliche Reaktion auf ein implizites Gewahrwerden der Komik einer Situation –
bei sprachphilosophischen Witzen der Folgen der Verstrickung in verschiedene Sprachspiele
– die einen überwältigt. Es stellt eine „automatisch ablaufende Bewegung [dar], die ein jedes
der beteiligten Organe zu sonst nicht für sie üblichen Reaktionsweisen veranlasst.“ 9 Lachen
ist als nicht eine Handlung, zu der man sich entschließt, nachdem man den Witz analysiert,
d.h. die miteinander in Konflikt stehenden Sprachspiele explizit gemacht hat. Man „beschließt
nicht zu lachen, man muss lachen.“ (ebd. S. 14)
Wittgenstein Version nach Jastrows „duck-rabbit-illusion“ Jastrows Originalversion10
Wie dieses Erleben von Bedeutung konkret vorzustellen ist, erläutert Wittgenstein anhand
eines optischen Phänomens, anhand von Kippbildern. Wie bei einem Wortwitz zwei
Bedeutungen (und Folgefestlegungen) am selben Begriff „hängen“ können, so offenbart ein
und dasselbe Kippbild zwei Gestalten, je nachdem, welches Schema ich zugrunde lege: „Ich
sehe zwei Bilder. […] Folgt daraus, dass ich beide Male etwas andres sehe? […] Der Kopf, so 8 Wittgenstein, L. (1993): Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie. Das Innere und das Äußere (1949-1951), Frankfurt/ M. I. § 711 9 Jurzik, Renate (1985): Der Stoff des Lachens. Studien über Komik. Frankfurt/Main; New York 1985, S. 23. 10 Jastrow, J. (1899). The mind's eye. Popular Science Monthly, 54, 299-312. S. 312.
8
gesehen, hat mit dem Kopf so gesehen auch nicht die leiseste Ähnlichkeit – obwohl sie
kongruent sind.“11 Dieselbe Linie bekommt als Element des Gesamtbildes in Abhängigkeit
von der vom Betrachtenden antizipierten Figur eine andere Bedeutung: „Die Linien hängen
anders zusammen. Was früher zusammengehörte, gehört jetzt nicht zusammen.“12 „Ich sehe,
dass es sich nicht geändert hat; und sehe es doch anders. Diese Erfahrung nenne ich ,das
Bemerken des Aspekts‘.“ (PU, 519) Bei Kippbildern leuchtet entweder der eine oder der
andere Aspekt auf; bei Wittgensteins Beispiel: die Ente oder der Hase. Wir „sehen sie, wie
wir sie deuten.“ (ebd.) Dieses Aspektsehen sei „halb Seherlebnis, halb Denken“. (PU, 525)13
Man beschreibt es zwar wie eine Wahrnehmung – „ganz als hätte sich der Gegenstand vor
meinen Augen geändert“ (PU, 521) – aber es ist dennoch nur zur Hälfte Wahrnehmung – und
zur anderen Hälfte Denken.
Worin besteht nun die Rolle des Denkens bei der Wahrnehmung? Je nachdem, welches
Schema wir zugrundelegen (nach Brandom: welche inferentielle Gliederung des Begriffes
sich aus einer bestimmten Perspektive ergibt), erhält das Gesehene (Brandom: das Gehörte)
einen anderen Kontext, erleben wir eine andere Bedeutung. Da objektiv gesehen nicht das
Bild selbst kippt und die sinnliche Wahrnehmung streng genommen dieselbe bleibt, muss es
das Denken sein, das das Umkippen bewirkt. Sehen oder wahrnehmen können wir nach
Wittgenstein nur den Aspekt – Ente oder Hase – nicht aber den Aspektwechsel. Um das
„Umschalten der Bedeutung“ erleben zu können, muss ich den Aspektwechsel denkend
praktisch vollziehen, muss ich mich – wie Wittgenstein betont – „mit dem Objekt
beschäftigen.“ Insofern sei das Erleben des Aspektwechsels ein Tun. (PPS, 422) Die Sorte
„Denken“, die beim absichtlichen Kippenlassen des Bildes wirksam ist, ist also ein implizites
oder praktisches Denken. Ebenso wie das Lachen als die Fähigkeit zum bewussten
Umschalten von einem Sprachspiel in ein anderes, Anzeichen für ein implizites praktisches
Verstehen der Differenz zwischen den betreffenden Sprachspielen ist. Der Tätigkeit der
Transformation von einer Figur in die andere im Kippbild entspricht im „Spiel des Gebens
und Forderns von Gründen“ bei Brandom die Interpretation als Übersetzung von einer
Perspektive in die andere. Dabei bleibt eines konstant, das Gesagte/das Gesehene, während
der repräsentationale Gehalt (der de re-Sinn) sich (zu Ente oder Hase) verändert: „Der
11Wittgenstein, Ludwig (1984): Werkausgabe in 8 Bänden, Frankfurt a. M. Bd. I (Philosophische Untersuchungen), S. 521. [PU] 12 Wittgenstein (1984), B.7 (Philosophie der Psychologie [PPS]), S. 419. 13 Vgl. auch: „Kann ich beim Aufleuchten des Aspekts ein Seherlebnis von einem Denkerlebnis trennen? – Wenn du es trennst, dann scheint das Aufleuchten des Aspekts verloren zu gehen.“ (PPS, 423).
9
Ausdruck des Aspektwechsels ist der Ausdruck einer neuen Wahrnehmung, zugleich mit dem
Ausdruck der unveränderten Wahrnehmung.“ (PU, 52114) Als rationale diskursive Wesen sind
wir in der Lage, die gleichzeitige Gleichheit und Verschiedenheit der Wahrnehmung als
produktive Differenz zu erkennen und in explizites Verstehen des Unterschiedenen und der
Unterscheidung umzuwandeln.
Das implizite Wissen der Kommunikationsteilnehmer um den geeigneten oder ungeeigneten
Gebrauch eines Begriffs in der Kommunikation aus beiden Perspektiven, der des Sprechers
und der des Hörers, explizit zu machen, ist Brandoms Grundanliegen sowohl in der
„Expressiven Vernunft“ wie auch in „Begründen und Begreifen“. Zugleich ist dieses „Know-
How“ die Vorbedingung dafür, dass wir einen Sprachwitz überhaupt als solchen erkennen
können. Deshalb sind Sprachwitze ein passendes Material, um Brandoms Konzept von
Kommunikation im praktischen Umgang mit ihnen zunächst in einer Form erlebbar zu
machen, in der Denken und Wahrnehmen im Lachen zusammenfallen, um anschließend das
Denken als „Erkenntnis durch Begriffe“ (Kant) explizit zu machen.
David Kellner15
[…] so liegt die Macht des denkenden Geistes darin, nicht etwa nur sich selbst in seiner
eigentümlichen Form als Denken zu fassen, sondern ebensosehr […], sich in seinem Anderen zu
begreifen, indem er das Entfremdete zu Gedanken verwandelt und so zu sich zurückführt.
14 Im Folgenden sind die Hervorhebungen der zitierten Autoren kursiv gedruckt und die von mir hinzugefügten Hervorhebungen als Unterstreichungen markiert. 15 http://socrates.berkeley.edu/~kihlstrm/images/Jastrow/DavidKellner.jpg. [Abruf: 12.08.11] Vgl.
10
Und der denkende Geist wird sich in dieser Beschäftigung mit dem Anderen seiner selbst nicht
etwa ungetreu, so dass er sich darin vergäße und aufgäbe, noch ist er so ohnmächtig, das von ihm
Unterschiedene nicht erfassen zu können, sondern er begreift sich und sein Gegenteil.
Denn der Begriff ist das Allgemeine, das in seinen Besonderungen sich erhält, über sich und sein
Anderes übergreift und so die Entfremdung, zu der er fortgeht, ebenso wieder aufzuheben die
Macht und Tätigkeit ist. […] Denn weil das Denken sein Wesen und Begriff ist, ist er letztlich nur
befriedigt, wenn er alle Produkte seiner Tätigkeit auch mit dem Gedanken durchdrungen und sie so
erst wahrhaft zu den seinigen gemacht hat.16
2.2. Definitionen
Kommunikation Ein wesentlicher Aspekt dieses Modells diskursiver Praxis ist daher Kommunikation: die zwischen
Personen [interpersonal] ablaufende, auf einen Gehalt [intracontent] bezogene Vererbung der
Berechtigung zu Festlegungen. (BB, 215)
Verstehen Die deontische Kontoführung ist die Form des Verstehens, die der Kommunikation innewohnt. Sie ist
eine Art des Interpretierens, aber es handelt sich um eine implizite praktische Interpretation und nicht um
eine theoretische Hypothesenbildung. (EV, 8.2.1., 707)
Diese beiden Definitionen sollen im Folgenden erhellt werden. Kommunikation und
Verstehen verhalten sich bei Brandom wie folgt zueinander: Kommunikation erscheint als
Verstehen in der Form deontischer Kontoführung. Begriffliches oder propositionales
Verstehen ist (neben der Sicherung von Kommunikation überhaupt) das „Ziel“ von
Kommunikation. Allerdings handelt es sich damit nicht um ein Ziel, das außerhalb der
Kommunikation selbst liegt oder auf sie folgt, nachdem sie endet. Verstehen und
Kommunizieren sind nur zwei Erscheinungsformen derselben Praxis: deontischem
Kontoführen.
16 Hegel, G.W.: Ästhetik. www.textlog.de/3422-4.html Abruf 02.02.11. – Hervorhebungen durch mich.
11
2.3. Vom Begrifflichen zur Kommunikation
Im folgenden soll Brandoms Konzept von Kommunikation vor dem Hintergrund seines
Begriffs vom Begriff analysiert werden. Dies ist angebracht, da Brandom selbst auf die
strukturelle Verbindung zwischen beiden Konzepten wiederholt hinweist. Der Grund für die
Struktur seiner Argumentation – auch hinsichtlich von Kommunikation – liegt darin „was
Behauptungen und Begriffe eigentlich sind.“ (EV 8.2.1 708)17 Begriffe und Behauptungen –
wovon letztere Züge im Spiel des Gebens und Forderns von Gründen darstellen – haben zwei
wesentliche Eigenschaften: sie sind inferentiell gegliedert und sie sind perspektivisch. Zudem
sind sie nur als Vollzug innerhalb einer zeitlichen Perspektive verstehbar. Alle drei
Eigenschaften finden sich in der Beschreibung von Kommunikation wieder und ebenso in der
Analyse erfolgreicher Kommunikation als gegenseitigem Verstehen. Diese
Strukturverwandtschaft führt zu einer wechselseitigen Verflechtung von Begrifflichkeit,
begrifflichem Verstehen (Begreifen), Begründungspraktiken, Kommunikation und rationalem
Diskurs: Einerseits gründet begriffliches Verstehen in diskursiver Praxis (von welcher
Kommunikation ein Aspekt ist), andererseits sind Begründungspraktiken (das „Spiel des
Gebens und Forderns von Gründen“), die die Fähigkeit begrifflichen Verstehens
voraussetzen, die Form menschlicher Kommunikation überhaupt. Als Menschen sind wir
nach Brandom wesentlich Begriffeverwender und unterscheiden uns dadurch von Wesen, die
keine Begriffe verwenden: „... dass sich spezifisch diskursive Praktiken deshalb von
Aktivitäten der Wesen, die keine Begriffe vewenden, unterscheiden, weil sie inferentiell
gegliedert sind. Über Begriffe zu reden heißt, über Rollen in Begründungszusammenhängen
reden.“ (BB, 21-23) Brandom legt in „Begründen und Begreifen“ und in der „Expressiven
Vernunft“ den Schwerpunkt auf die Analyse des Begrifflichen, um vor diesem Hintergrund
u.a. zu beschreiben, was Kommunikation ist. In den „Tales of the Mighty Dead“ entwickelt er
seinen historischen Ansatz der Rationalität in Anlehnung an Hegels Konzept vom „Begriff“,
der für die zeitliche Dimension der Kommunikation und des Verstehens wichtig ist. In der
Einleitung zu „Begründen und Begreifen“ erklärt er, wie sich diese Schwerpunktsetzung auf
das Wesen des Begrifflichen auf die Bereiche der Philosophie, die er im folgenden
17 „Die allgemeine Struktur, von der das Argument abhängt, ist die Tatsache, dass ein Satz gewöhnlich im Munde verschiedener Personen nicht dieselbe Signifikanz hat, auch wenn sie die Sprache noch so weitgehend teilen und sich wechselseitig noch so gut verstehen. Der eigentliche Grund hat damit zu tun, was Behauptungen und Begriffe eigentlich sind.“ (EV 8.2.1 708) – Im folgenden zitiere ich aus der „Expressiven Vernunft“ bzw. „Making it Explicit“ immer im Zusammenhang mit der Kapitelnummer, damit der Leser beim Vergleich von Original und Übersetzung sich schneller zwischen beiden Werken zurechtfinden kann.
12
untersuchen will, auswirkt: Im Rahmen der Philosophie des Geistes führe dies zu einer
Konzentration auf Bewusstsein als Verstandesfähigkeit anstatt auf bloße
Empfindungsfähigkeit, im Rahmen der Semantik auf spezifisch begriffliche Gehalte statt „auf
andere Arten des Gehaltvollseins“ und in der Pragmatik – und das ist für diese Arbeit von
Bedeutung – auf diskursive Praxis, d.h. die Verwendung von Begriffen (vor anderen Formen
des Handelns).
Ein Beispiel dafür, welche Fähigkeiten erfolgreiche Kommunikation voraussetzt, findet sich
im folgenden Abschnitt aus der „Expressiven Vernunft“, in welchem sowohl die
Notwendigkeit der Fähigkeit zum Perspektivenwechsel als auch das Verstehen durch
Schlussfolgern innerhalb dialogischer Kommunikation beschrieben wird.18
Auch bei reibungslos verlaufender Kommunikation [1] musst du also, wenn du das verstehen
willst, was ich sage, einen Satz damit in Verbindung bringen, der in deinem Mund die Behauptung
ausdrückt, den der von mit geäußerte Satz in meinem Mund ausdrückt [2]. Denn damit du ihn
verstehst (damit du weißt, worauf ich mich festgelegt habe), musst du die Inferenzen herausfinden,
in die jene Behauptung involviert ist [3], die augenscheinliche Signifikanz dessen, was ich gesagt
habe. Das heißt, du musst wissen, wie du und ich [WIR] sie als Begründung verwenden könnten
[4], zu welchen Behauptungen du und ich nicht berechtigt sein würden, wenn wir sie billigten, und
so weiter. Ohne diese Fähigkeit kannst du dem, was ich sage, nichts entnehmen – du verstehst es
nicht. (EV, 8.2.1., 709)
[1] ... bei reibungslos verlaufender Kommunikation ...
In dieser Beschreibung der Verstehensprozesse in einem Dialog zwischen zwei Menschen
wird „reibungslos verlaufende Kommunikation“ vorausgesetzt. Dies ist für Brandom der
Standardfall von Kommunikation. Er ist bei Brandom durch folgende Eigenschaften
charakterisiert: Es kommunizieren Menschen miteinander, d.h. verstandesfähige Wesen und
Begriffeverwender, die als deontische Wesen ausgezeichnet sind, d.h. als empfänglich für ein
rationales Sollen. Diese Wesen sind grundsätzlich an Kommunikation und ihrer
Aufrechterhaltung interessiert.19 Die grundlegende soziale Struktur, innerhalb derer
18 Die in eckigen Klammern eingefügten Zahlen verweisen auf die Gliedung des folgenden Kapitels, das die Analyse dessen, was Brandom unter Kommunikation versteht, entlang dieses Zitates vollziehen wird. 19 Vgl.: „Über Repräsentation zu reden, heißt, darüber zu reden, was es bedeutet, Kommunikation dadurch zu sichern, dass man in der Lage ist, die Urteile der anderen als Gründe zu verwenden, als Prämissen in unseren
13
Kommunikation stattfindet, ist bei Brandom – in Anlehnung an Davidson – die
perspektivische Ich-Du-Konstellation, in der ein Dialog zwischen zwei Personen jetzt
(synchron) stattfindet.
In der hier vorgelegten weitgehend davidsonianischen Darstellung wird dagegen die
Intersubjektivivtät im perspektivischen Ich-du-Stil verstanden, der sich auf die Relation zwischen
den von einem interpretierenden Kontoführer selbst eingegangenen und den von ihm an andere
zugewiesenen Festlegungen konzentriert. (EV 8.6.4., 831)
Dabei bedienen sie sich im Normalfall derselben Sprache, so dass eine explizite Übersetzung
von einer Sprache in die andere nicht notwendig ist. Explizite Interpretation ist nach Brandom
nur in einem weiteren Fall notwendig, nämlich wenn die „gewöhnliche Kommunikation
zusammengebrochen“ ist20. Im Normalfall, dem „gewöhnlichen innersprachlichen
Verstehen“, finde eine implizite praktische Interpretation statt, die Brandom „deontisches
Kontoführen“ nennt und die weiter unten näher erklärt werden soll.21
Natürlich gibt es zwischen reibungsloser Kommunikation, dem Idealfall, und dem totalen
Zusammenbruch der Kommunikation, dem „Ausfall“, verschiedene Zwischenstufen, auf
denen sich die Verhältnisse der Anteile von impliziter und expliziter Interpretation
zueinander in Richtung der Zunahme expliziter Interpretation schrittweise verschieben. Dabei
muss man wohl ausschließen, dass beim totalen Zusammenbruch gewöhnlicher
Kommunikation explizite Interpretation noch weiterhelfen könnte. Denn in diesem Fall gäbe
es nichts mehr zu übersetzen. Man stelle sich nur den Fall vor, in dem verbale Gewalt in
physische Gealt umschlägt oder wenn zwei Menschen aufeinandertreffen, die zwei Sprachen
aus verschiedenen Sprachfamilien sprechen, die grammatisch inkommensurabel sind und die
z.B. auch keine Wortstämme teilen. Der tatsächliche Standardfall der Kommunikation ist
deshalb eher eine Grauzone aus für das Aufrechterhalten der Kommunikation ausreichendem
eigenen Inferenzen, auch rein hypothetisch, um deren Signifikanz im Kontext unserer eigenen Begleitfestlegungen zu beurteilen.“ (BB, 218) 20 Vgl.: „Es lässt sich bestreiten, dass das gewöhnliche innersprachliche Verstehen wesentlich Interpretation einschließt, wenn Interpretation nach dem Modell der expliziten Hypothesenbildung aufgefasst wird. Sprachliches Verstehen hängt nur in außergewöhnlichen Situationen von einer so verstandenen Interpretation ab – wenn verschiedenen Sprachen im Spiel sind oder wenn die gewöhnliche Kommunikation zusammengebrochen ist.“ (EV 8.2.1., 707) 21 „Die deontische Kontoführung ist die Form des Verstehens, die der Kommunikation innerwohnt. Sie ist eine Art des Interpretierens, aber es handelt sich um eine implizite praktische Interpretation und nicht um eine theoretische Hypothesenbildung. Sie wird vorausgesetzt, selbst wenn es nur darum geht, Behauptungen in Betracht zu ziehen, die eine Hypothese oder Belege für die Hypothese oder Konklusionen aus ihr ausdrücken würden.“ (EV 8.2.1., 707)
14
Verstehen und gelegentlichem Missverstehen – aufgrund unterschiedlicher Erfahrungen,
Grundüberzeugungen und Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten – das seinerseits die
Kommunikation aufgrund des daraus entstehenden Klärungsbedarfs aufrechterhält. Aus den
unterschiedlichen Voraussetzungen unseres Denkens ergeben sich nach Brandom
verschiedene Perspektiven, die mit unterschiedlich strukturierten inferentiellen Begriffs-
Netzwerken einhergehen und dadurch unterschiedliche Wahrnehmungs- und
Handlungsperspektiven bedingen:
Auch wenn Menschen eine Sprache (und damit ihre Begriffe) teilen, was der Standardfall der
Kommunikation ist, gibt es immer noch einige Meinungsverschiedenheiten, einige Unterschiede in
den Festlegungen, die Leute eingegangen sind. Wir verkörpern jeweils unterschiedliche
Wahrnehmungs- und Handlungsperspektiven und werden deshalb niemals genau die gleichen
doxastischen und praktischen Festlegungen haben. (EV, 8.2.1., 709)
Darauf, wie sich diese unterschiedlichen Perspektiven auf die zur gelingenden
Kommunikation notwendigen Fähigkeiten der Kommunikationsteilnehmer auswirken,
erläutert Brandom im Folgenden. – Wenn du verstehen willst, was ich sage, dann musst du …
[2] ... einen Satz damit in Verbindung bringen, der in deinem Mund die Behauptung
ausdrückt, den der von mit geäußerte Satz in meinem Mund ausdrückt.
Eine Grundfähigkeit, die man mitbringen muss, um erfolgreich zu kommunizieren, ist die
Fähigkeit, sich in einen anderen hineinzuversetzen und eine Situation oder einen Sachverhalt
von seinem Standpunkt aus zu beurteilen. Dies scheint ein Allgemeinplatz zu sein. Doch für
Brandom bedeutet dies nicht, dass man sich in den andereren bloß „einzufühlen“ vermag.
Empfindungsfähigkeit (sentience) würden wir auch mit Tieren teilen.22 Was uns nach
Brandom aber als Menschen auszeichne, sei Verstandesfähigkeit (sapience). Entsprechend
geht es ihm um die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel auf der Ebene der
Begriffsverwendung.
22 Zwischen Empfindungsfähigkeit und Einfühlung oder Empathie besteht ein Unterschied, den Brandom nicht berücksichtigt. Dabei bin ich mir nicht sicher, ob er ihn bewusst ausblendet, da er sich auf die Analyse des Wesens des Begrifflichen konzentrieren will, oder ob er ihn übersehen hat. Wenn dies der Fall ist, ließe sich daran eine Kritik anknüpfen, die ich im abschließenden Kapitel versuchen möchte.
15
Das Besondere an Brandoms Modell der Kommunikation ist, dass erfolgreiche
Kommunikation nicht voraussetzt, dass man denselben Gedanken teilt. Es geht vielmehr um
ein „In-Verbindung-Bringen“, d.h. das Herstellen einer Korrespondenz zwischen zwei
Behauptungen aus verschiedenen Perspektiven, deiner und meiner, die sich auf denselben
Gegenstand beziehen, aber Verschiedenes ausdrücken können. Diese Korrespondenz muss
nur ausreichend [sufficient] sein, d.h. Ähnlichkeit der inferentiellen und praktischen
Festlegungen garantieren, nicht Identität.23 Was Brandom darunter versteht, erklärt er in den
„Tales of the Mighty Dead“:
What makes it right to map another’s noise onto this sentence of mine, and so to attribute to it the
content expressed by that sentence in my mouth, is just that its relations to other noises sufficiently
mirror the relations my sentence stands in to other sentences of mine.
Das Spiegeln der Äußerung eines Anderen auf meine perspektivische inferentielle
Infrastruktur des Denkens ist kein Vorgang der Identifikation einer übersprachlichen Idee im
Kopf des Anderen mit derselben Idee in meinem Kopf (oder „über“ unser beider Köpfe),
sondern eine Übertragung oder Vererbung seiner Festlegungen auf die Festlegungen, auf die
ich mich verpflichten würde (auch nicht-sprachlich-praktische), wenn ich dasselbe behaupten
würde:
[…] what is evidence for and against it and what it is evidence for and against, as well as
what environing stimuli call forth my endoresement of it and what role it plays in practical
reasoning leading to non-linguistic action. Thoses consequential relations are of the essence
of interpretability, and so of rationality on this modell. (TMD, 5)
Diese Festlegungen stellen die inferentielle Gliederung der Behauptung dar. Diese garantiert
Übersetzbarkeit und ist die Form von Rationalität, die Brandom inferentielle Rationalität
nennt und welche eine der Grundstrukuren seines Kommunikationsmodells darstellt. Damit
verabschiedet sich Brandom von einem Modell der Kommunikaions als
Informationsvermittlungsprozess.
23 Der Perspektivenwechsel bei Brandom beschreibt ein ähnliches Phänomen wie das in der Vorbemerkung erwähnte Aspektsehen bei Wittgenstein. – Vgl. Wittgenstein: „Ich betrachte ein Gesicht, auf einmal bemerke ich seine Ähnlichkeit mit einem anderen. Ich sehe, dass es sich nicht geändert hat; und sehe es doch anders. diese Erfahrung nenne ich ,das Bemerken des Aspekts‘“. Wittgenstein, Ludwig (1984): Werkausgabe in 8 Bänden, Frankfurt a. M. Bd. I (PU), 519.
16
The paradigm of communication as joint possession of some common thing [grasping the same
meaning] ist relinquished in favor of […] a paradigm of communication as a kind of cooperation
in practice. What is shared by speaker and audience is […] a scorekeeping practice [coordinating
social perspectives by keeping deontic score according to common practice.] (ME 7.5.5./7.5.3.,
485,/479)
Kommunikation ist für Brandom weniger etwas, das zwischen Ich und Du stattfindet, sondern
was Ich und Du gemeinsam tun. Es ist kein Akt, der in erster Linie der
Informationsvermittlung zwischen zwei Parteien dienen würde, bei welcher der Sprechakt nur
das Vehikel der Übermittlung einer Idee, Proposition, Bedeutung oder Information zwischen
Sender und Empfänger darstellte. Brandom definiert Kommunikation vielmehr als
„cooperating in a joint activity“ (ME 7.5.3., 479). Diese „joint activity“ ist das Spiel des
Gebens und Forderns von Gründen. Bereit zu sein, sich auf dieses Spiel einzulassen, d.h. auf
Nachfrage die eigenen Behauptungen zu begründen und so zu rechtferigen und seinerseits,
Gründe für die Behauptungen anderer einzufordern, setzt eine Bereitschaft zum
Zusammenspiel, zur Kooperation voraus. Einerseits erzeugt Kommunikation in diesem
Zusammenspiel ein Wir der Kooperierenden oder Kommunizierenden, eine (zunächst
implizite) Kommunikations-Gemeinschaft, andererseits funktioniert die Kommunikation nur,
wenn es bereits eine Art „Wir“ gibt, das in Gestalt gemeinsamer „background commitments“
(ME 7.5.3., 479) den gemeinsamen Hintergrund konstituiert, vor dem die wechselseitigen
Äußerungen ihren Sinn und ihre normative Verbindlichkeit beziehen.
Was geteilt wird, ist also nicht der Sinn oder die Bedeutung einer Aussage, sondern das oben
erwähnte „deontische Kontoführen“, eine Tätigkeit. Was verstanden werden soll, ist nicht die
Bedeutung eines Begriffes oder einer Behauptung, sondern die inferentielle Rolle, die diese
Behauptung in der Praxis, dem Spiel des Gebens und Forderns von Gründen, das sich in
einem Netz von Begründungszusammenhängen vollzieht, spielt.24 Verstehen würde dann
erfolgen, wenn beide „Spieler“ eine gemeinsame doxastischen Festlegung oder Überzeugung
teilen, d.h. einer Festlegung darauf „wie eine Behauptung auf die andere festlegen oder zu ihr
berechtigen (also als Begründung dienen) kann“. (EV 3.1.1., 220) Der kommunikative Akt
wäre ein Akt des wechselseitigen Anerkennens der mit dem Behaupten einhergehenden
24 Das Begreifen des Begriffs, […] besteht im Beherrschen seines inferentiellen Gebrauchs: im Wissen (in dem praktischen Sinne, dass man unterscheiden kann, und das ist ein Wissen-wie), worauf man sich sonst noch festlegen würde, wenn man den Begriff anwendet, was einen dazu berechtigen würde und wodurch eine solche Berechtigung ausgeschlossen wäre. (BB 2001, 22f.)
17
doxastische Festlegungen und das Verstehen dieses kommunikativen Aktes bestünde darin,
dass dasjenige, worauf sich der Sprecher mit seiner Behauptung festlegt, korrekt auf dem
Konto der Zuhörerschaft als Verpflichtung/Berechtigung abgebildet würde:
The sort of understanding or uptake of such a performance required for successful communication
is for the audience to figure that performance correctly in its score: to attribute the right
commitment to the one making the claim. […] In the paradigmatic case of communicating by
claiming, the audience’s understanding of the claim must determine the inferential significance
that adopting or believing that claim would have (that is what one would be commiting oneself to
by endorsing it […]). (ME 7.5.3., 480).
Für Brandom ist der paradigmatische Fall des Kommunizierens das Behaupten. Erfolgreiche
Kommunikation, d.h. den Sprechakt (performance) des Behauptens zu verstehen, bedeutet
innerhalb seiner inferentialistischen Auffassung diskursiver Praxis, dass die Zuhörer die
normative Bedeutsamkeit (significance)25 der Behauptung als Prämisse in ihrem eigenen
Netzwerk von Überzeugungen (und logisch mit ihnen verknüpften Folgerungen) prüfen und
aus ihrer Sicht dann demjenigen, der die Behauptung äußert, die entsprechenden
Verpflichtungen/Berechtigungen zuschreiben. Das Verstehen der Bedeutung der Behauptung
besteht also im Verstehen der Bedeutsamkeit oder der Rolle dieser Behauptung in einem
inferntiellen Netz aus Folgebeziehungen zu anderen Behauptungen, die bestimmen „worauf
man sich also festlegen würde, wenn man sie billigt, welche anderen Festlegungen einen zu
dieser Billigung berechtigen könnten, welche damit unvereinbar sind (und somit die
Berechtigung zur Billigung auschließen) usw.“ (EV 7.5.3., 668) Dieses Verstehen richtet sich
mithin nicht auf etwas Vorgefundenes, ein Etwas, das der Sender zuerst besitzt und dann dem
Empfänger erfolgreich übermittelt hat (eine Idee, Bedeutung, Information etc.), es (re-
)konstruiert vielmehr das Gemeinte aus der eigenen Perspektive aber vor einem gemeinsamen
Hintergrund. Im Falle erfolgreicher Kommunikation einigt man sich darauf, dass die
Behauptung „wahr“, d.h. dass die Behauptung aus der Sicht beider
Kommunikationsteilnehmer berechtigt ist. Das bedeutet nicht, dass sie für beide Seiten die
gleiche „inferentielle Signifikanz“ besitzt, d.h. die gleiche Rolle im Netz der
Folgebeziehungen zu anderen Behauptungen spielen muss. Dies ist nicht der Fall, weil jeder
25 Significance hat im Englischen zwei Bedeutungsnuancen: einmal importance oder Bedeutsamkeit (oder Gewicht) in Hinblick auf Folgen (consequences) und einmal meaning oder implication, d.h. Bedeutung, Sinn. Wenn ich mit „Bedeutsamkeit“ übersetze, dann tue ich es, um den normativen Wert oder die normative Kraft des Begriffes zu betonen.
18
ein eigenes „belief-set“ oder eigene Überzeugungen hegt, die dem Verstehen prinzipiell
seinen perspektivischen Charakter aufprägen:
Inferential significance can be determined only relative to a total belief-set, so if what audiences
understand must determine such significances, it cannot be independant of the context of collateral
commitments. (ME 7.5.3., 480)
Der perspektivische Charakter des Verstehens wirkt sich sowohl auf die Ausgänge
(Handlungen) als auch auf die Eingänge (die Wahrnehmungen) des Diskurses aus.
Entsprechend ihrer Grundüberzeugung, dass die Welt aus Schnee und Eis besteht, können
z.B. die beiden Eisbären die folgende Situation gar nicht anders wahrnehmen, als sie es eben
tun:
Zwei Eisbären treffen sich in der Wüste.
Sagt der eine: „Wahnsinn, hier muss ja irrsinnig viel Eis gewesen sein!“
„Wieso?“, fragt der andere. – „Weil sie so viel gestreut haben!“
In diesem Fall stimmen die Grundüberzeugungen weitgehend überein, da es sich um Wesen
derselben Spezies mit vergleichbaren Erfahrungen und Hintergrundfestlegungen handelt. Die
Kommunikation ist erfolgreich in dem Sinne, dass beide Kommunikationsteilnehmer die
Schlussfolgerung, dass es dort viel Sand gibt, weil wegen Eises gestreut wurde, als wahr
anerkennen. Sie teilen sozusagen eine ganze „Theorie“ über die Berechtigung zu Aussagen
den Zusammenhang des Vorkommens von Eis und Sand betreffend:
Somit hängt die Signifikanz einer Überzeugung davon ab, wovon man sonst noch überzeugt ist,
so dass man davon ausgehen sollte, dass ganze Theorien, und nicht bloß einzelne Sätze, die
Bedeutungseinheiten bilden. (BB, 217)
Wenn die Kommunikationspartner unterschiedlichen Spezies angehören, so können die auf
den Gehalt einer Äußerung bezogenen Berechtigungen zu konträren inferentiellen und
praktischen Festlegungen und damit zum Scheitern der Kommunikation führen:
Ein Ufo landet auf einer Wiese, auf der ein Stier grast. Zwei Marsmännchen steigen aus. Sagt das
eine zum Stier: „Wir kommen in Frieden!“ Der Stier hebt den Kopf, dann grast er ruhig weiter.
„Ich glaube, der versteht uns nicht“, sagt das andere Marsmännchen. „Zeig ihm doch unsere rote
Friedensfahne!“
19
Das Zeigen einer roten Fahne ist ein nicht-sprachlicher Kommunikationsakt, der für die
Marsmännchen und den Stier mit entgegengesetzten Festlegungen verbunden ist. Der Stier
sieht sich zu der Handlung (die eine praktische Festlegung darstellt) berechtigt, anzugreifen.
Die Marsmännchen dagegen, verbinden mit dem Akt des Rote-Fahne-Zeigens die Festlegung
auf eine friedliche Begegnung. Auch in der zwischenmenschlichen Kommunikation über
Kulturgrenzen hinweg kommt es oft vor, dass die Körpersprache oder verwendeten Symbole
mit unterschiedlichen Bedeutungen verbunden werden und es so zu Missverständnissen
kommen kann.
Der perspektivische Charakter des Verstehens ist mit Blick auf die Kommunikation trotz
allem kein Mangel, da, wie Brandom zurecht bemerkt, Kommunikation sonst „in all jenen
Fällen unmöglich ist, in denen sie nicht zwecklos wäre“ (EV 7.5.3., 669). M.a.W: Wenn die
Pespektiven identisch wären und somit auch die inferentielle Bedeutung, die eine Behauptung
aus dieser Perspektive und in diesem inferentiellen Netzwerk hätte, dann wäre
Kommunikation überflüssig. Wenn die Perspektiven aber prinzipiell inkommensurabel wären,
bräuchte man erst gar nicht versuchen, zu kommunizieren.
Wie vollzieht sich das Interpretieren, das Herstellen einer ausreichenden Korrespondenz
zwischen zwei Behauptungen aus verschiedenen Perspektiven nun genau? Was bedeutet
„ausreichend“? Brandom erklärt dies anhand der Kritik von McDowell an Frege.
Aber es gibt keinen auf der Hand liegenden Grund, warum er [Frege] sich nicht auf den Standpunkt
hätte stellen können, beim sprachlichen Austausch erfordere das wechselseitige Verstehen – das,
worauf erfolgreiche Kommunikation hinausläuft – nicht geteilte Gedanken, sondern verschiedenen
Gedanken, die jedoch, wie alle wissen, in einer passenden Relation der Korrespondenz stehen.
(Anm. 57 zu EV 8.5.3., 780)
Brandom spezifiziert McDowells Formulierung „passende Relation der Korrespondenz“ wie
folgt: „Die erfolgreiche Kommunikation verlangt nur, dass die Zuhörer mit der Äußerung des
Sprechers einen angemessenen korrespondierenden de re-Sinn verbinden.“ (EV 8.5.3., 780)
Nach Brandom richtet sich das Verstehenwollen in Bezug auf das Denken und den Diskurs
anderer auf zwei Aspekte: Worüber sie sprechen (de re) und was sie sagen (de dicto).26 Er
nennt diese beiden Aspekt auch die repräsentationale Dimension und die propositionale
26 Hier ist zu bemerken, dass er nicht am Verstehen der Personen interessiert ist.
20
Dimension des Denkens und Redens. (vgl. BB, 206) Oben hatten wir von der Erfordernis
einer „ausreichenden Korrespondenz“ zwischen den Gehalten von zwei Äußerungen, die sich
auf denselben Gegenstand beziehen, für erfolgreiche Kommunikation gesprochen. Genauer
betrachtet geht es um eine angemessene Korrespondenz des de re-Sinns. Der unterschiedliche
de re-Sinn einer Äußerung lässt sich an dem Gebrauch des Wortes „ich“ gut verdeutlichen.
Wenn ich „ich“ sage, so ist der de re-Sinn „Katrin“. Wenn Robert Brandom „ich“ sagt, so ist
der de re-Sinn, die Referenz, eine andere, nämlich die Person „Robert“. Das Gesagte (de
dicto), „ich“, bleibt unverändert. Trotzdem können wir einen Gedanken oder eine
Empfindung verstehen, den/die ein Sprecher aus der Ich-Perspektive formuliert.
Niemand anderes kann den Gedanken haben, den Michelle mit „Ich werde von einem Bären
bedroht“ ausdrücken würde, doch das bedeutet nicht, dass niemand anderes verstehen kann, welchen
Gedanken sie durch diese Behauptung ausdrücken würde. (EV 8.5.3., 780)
Wir können zwar nicht denselben Gedanke haben, aber wir können die Äußerung in unsere
Perspektive übersetzen. Wie sind in der Lage, trotz unterschiedlicher Perspektiven, einen
korrespondieren de re-Sinn als solchen zu identifizieren. Dazu muss man einmal etwas
unterscheiden und dann miteinander verbinden können – „was meinem Gebrauch von ,ich‘
[=Katrin] und deinem von ,du‘ [=Robert] entspricht“ – und einmal etwas als einander
entsprechend erkennen können, „d.h. mit ,ich‘ drücken du und ich Sinne der gleichen Art aus
[Selbstbezug].“ (EV, 780; 8.5.3.) „Ich“ steht für die subjektive Perspektive, in deren Rahmen
das Netz meiner praktischen und inferentiellen Festlegungen aufgespannt ist. Sie ist
determiniert durch meine Hintergrundfestlegungen, individuelle Überzeugungen (doxastische
Festlegungen), Erfahrungen und Gewohnheiten und eröffnet mir entsprechend determinierte
Wahrnehmungs- und Handlungsfenster. Das Wort „ich“, von mir gesprochen, kann deshalb
nie dieselbe Bedeutsamkeit (significance/Folgefestlegungen) für dich haben, wenn du „ich“
sagst, da du nicht ich bist. Trotzdem weiß ich, dass du nicht mich meinst, wenn du „ich“ sagst.
Dass diese „Navigation zwischen den Perspektiven“ für gewöhnlich gelingt, wird einem klar,
wenn man über den folgenden Witz schmunzelt, in dem sie nicht gelingt (bzw. der Ober mit
dem Perspektivenwechsel spielt):
Gast: „Herr Ober, bitte zahlen!“
Ober: „Wieso ich?“
21
Dass wir im Falle von Michelle die Bedeutung ihrer Äußerung verstehen, obwohl sie vor dem
Hintergrund unserer Festlegungen einen ganz anderen Sinn hat, liegt nach Brandom daran,
dass Verstehen nicht in einer „Horizontverschmelzung“ besteht, sondern in der
Wahrnehmung der Differenz zwischen zwei Perspektiven. Erst dann kann man bewusst
versuchen, sich in die Perspektive der Begriffsverwendung des anderen hineinzuversetzen,
d.h. in diesem Fall: indem ich mich in die Perspektive von Michelle versetze, erkenne ich,
dass sie mit „ich“ sich, Michelle, meint, dass sie es ist, die sich von einem Bären bedroht
fühlt.
Dass das Wort „ich“ in meinem Munde nie dieselbe Signifikanz haben kann wie in deinem […]
schließt ganz und gar nicht aus, dass ich verstehe, was du damit ausdrückst. Kommunikation ist
möglich, doch zu ihr gehört wesentlich die intralinguistische Interpretation – die Fähigkeit, mit
verschiedenen diskursiven Perspektiven zurechtzukommen, zwischen ihnen hin- und
herzunavigieren (EV 8.6.2., 815 f.) [… the capacity to accomodate differences in discursive
pespective, to navigate across them. (ME 8.6.2., 588)]
„Accomodate“ heißt „unterbringen“, „Raum haben für“ aber auch „jemandem
entgegenkommen/helfen“. Das ist mehr als ein „Zurechtkommen“ (wie es in der deutschen
Übersetzung heißt). Es nimmt bezug auf die Metapher des Raumes und die grundlegende
Bereitschaft in einer kooperativen Unternehmung, in der einer dem anderen hilft,
mitzuwirken. Diesen „Raum der Gründe“, den wir „bewohnen“, gilt es so einzurichten, dass
Platz für andere Sichtweisen bleibt. Bereit zu sein, diese Sichweisen einzunehmen, ist ein Akt
des Entgegenkommens, der dem Erfolg unserer gemeinsamen, kooperativen Unternehmung
dient: der Kommunikation. An anderer Stelle nennt Brandom das Hin- und Hernavigieren
auch die Fähigkeit, „zwischen den verschiedenen Perspektiven derjenigen, die Festlegungen
zuweisen, und derjenigen, die sie eingehen umschalten“ zu können (vgl. EV 8.2.1., 709), was
nichts anderes meint, als in der Rolle des Sprechers in die des Hörers und umgekehrt
schlüpfen zu können. Der Sprecher ist derjenige, der Festlegungen eingeht, indem er sich mit
einer bestimmten Behauptung inferentiell auf Folgebehauptungen verpflichtet. Wenn ich
behaupte, dass Sokrates ein Mensch sei, dann muss ich, als rationales Wesen, auch zugeben,
dass er sterblich ist (weil alle Menschen sterblich sind). Dies ist – noch – ein monologischer
Prozess. Der Dialog wird in dem Moment initiiert, in dem ich diese Behauptung als wahr und
öffentlich vorbringe. Durch die Form der Behauptung verleihe ich dieser Aussage eine
Autorität, für die ich mich, weil ich sie öffentlich vorgebracht habe, gegebenenfalls vor den
Zuhörern rechtfertigen muss. Wenn die Zuhörer das, was ich als wahr behaupte, nach
22
eingehender Prüfung auch aus ihrer Sicht als wahr (behauptbar) anerkannt haben – d.h. erst in
meine Perspektive „umgeschaltet“ und dann in ihre Perspektive zurückgeschaltet“ haben –
dann nennt Brandom dies „erfolgreiche Kommunikation“ oder „Vererbung von
Festlegungen“:
Eine kommunikativ erfolgreiche Behauptung in dem Sinne, dass das, was der Sprecher als wahr
vorbringt, von Zuhörern als wahr betrachtet wird, besteht in der interpersonalen Vererbung der
Festlegung. (EV 3.3.2, 257)
Wenn die Zuhörer die Behauptung, dass Sokrates ein Mensch ist, teilen, dann sind sie auf
dieselben Folgerungen (die Sterblichkeit von Sokrates) und Prämissen (hier: der Sterblichkeit
von Menschen) – festgelegt wie ich: ich habe „meine“ Festlegungen an sie „vererbt“.
Genaugenommen sind es aber nicht „meine“ Festlegungen. Denn es sind für uns beide
dieselben öffentlichen sprachlichen und begrifflichen Normen im Umfeld des Begriffs
„Mensch“, die uns binden. Sie sind unabhängig von unseren Wahrnehmungs- und
Handlungsperspektiven.
Jene Normen, denen ich mich unterwerfe, indem ich den Begriff ‚Molybdän’ verwende – das, was
tatsächlich aus dessen Verwendung folgt und damit unvereinbar ist – müssen sich nicht ändern,
wenn sich meine Ansichten über Molybdän und seine inferentielle Umgebung ändern. Und du und
ich können durch genau die gleichen öffentlichen sprachlichen und begrifflichen Normen im
Umfeld des Begriffs gebunden sein, ungeachtet dessen, dass wir geneigt sind, unterschiedliche
Behauptungen aufzustellen und unterschiedliche inferentielle Züge zu absolvieren. (BB, 46)
Einen Zug im Spiel des Gebens und Forderns von Gründen zu machen, d.h. die Behauptung
vorzubringen, dass Sokrates ein Mensch sei, ist ein Akt aus freiem Willen, für den ich deshalb
Verantwortung trage. Er trifft jedoch, da er im Raum der Gründe, der inferentiell und
sozialperspektivisch strukturiert ist, auf gegebene begriffliche inferentielle Strukturen.
Es ist meine Sache, ob ich ein Token des Typs ‚Molybdän’ im Spiel des Gebens und Verlangens
von Gründen ausspiele. Es ist dann allerdings nicht mehr meine Sache, die Signifikanz dieses
Zuges zu bestimmen. (BB, 46)
Dabei sind diese Festlegungen nicht nur rein logischer, d.h. theoretischer Art. Sie sind
zugleich normativ, weil ich den Satz als Behauptung vorbringe. Damit lege ich mich auch auf
ein Netz praktischer Inferenzen fest: Was ich noch behaupten darf, was ich voraussetzen darf
23
und was damit inkompatibel ist (denn Behaupten ist eine Sprechhandlung). Diese Normen
sind wiederum rationale Normen: „[…] all of these ,oughts‘ […] are in the most basic sense
rational oughts. For they codify commitments to patterns of practical reasoning.“ (TMD, 11).
Verstehen kann in diesem Kontext nicht mehr als rein kognitiver Akt beschrieben werden, das
„Anknipsen eines cartesischen Lichts“ (EV 2.5.2., 193), sondern erscheint als Praxis: die
„praktische Beherrschung einer bestimmten Art inferentiell gegliederten Tuns“, nämlich
„unterscheidendes Reagieren auf die Umstände der richtigen Anwendung eines Begriffs“ und
„Erkennen der richtigen inferentielle Folgen einer solchen Anwendung.“ (ebd.) Vor diesem
Hintergrund wird die oben angeführte Definition von „Verstehen“ klarer:
Die deontische Kontoführung ist die Form des Verstehens, die der Kommunikation
innewohnt. Sie ist eine Art des Interpretierens, aber es handelt sich um eine implizite
praktische Interpretation und nicht um eine theoretische Hypothesenbildung. (EV 8.2.1.,
707)
Das deontisches Kontoführen ist ein doppeltes Kontoführen: jeder muss sowohl sein eigenes
Konto wie auch das Konto des Anderen im Blick haben. Nur diejenigen können nach
Brandom als kompetente sprachliche Akteure gelten, die „ihren eigenen Festlegungen und
Berechtigungen und denen der anderen auf den Fersen” bleiben. (EV 3.1.1., 220) Dieser
Kontostand verändert sich mit jedem Zug im Spiel des Gebens und Forderns von Gründen,
mit jedem Sprechakt. „Sprechakte, insbesondere Behauptungen, verändern den Kontostand“
(ebd.). Dabei verändert sich nicht nur Kontostand des anderen, sondern auch mein eigener.
Wenn ich im Diskurs z.B. behaupte, dass das Verstehen sich nicht auf deontisches
Kontoführen reduzieren lässt und du dieser Äußerung Wahrhaftigkeit zuerkennst, so siehst du
auch dich selbst als berechtigt an, im weiteren Gespräch diese Behauptung als wahr zu
behandeln. Durch das Anerkennen meiner Festlegungen hast du die Behauptung gutgeheißen,
d.h. meine normative Einstellung übernommen (vgl. EV 5.5.1., 464). Es fand eine
„Vererbung“ von mit dieser Behauptung verbundenen inferentiellen und praktischen
Festlegungen von mir auf dich statt.
24
[3] Denn damit du ihn verstehst (damit du weißt, worauf ich mich festgelegt habe), musst du
die Inferenzen herausfinden, in die jene Behauptung involviert ist.
Übersetzbarkeit aufgrund von inferentieller Rationalität ist die grundlegende Voraussetzung
dafür, dass eine Behauptung verstanden werden kann. Übersetzen im Sinne der Fähigkeit, die
Festlegungen, die aus der Behauptung aus der Perspektive eines anderen folgen, herausfinden
zu können und sie mit den eigenen zu vergleichen. d.h. zwischen beiden Perspektiven hin-
und und her wechseln zu können und dabei doppelt Buch zu führen. Einmal darüber, wie die
Behauptungen des anderen als Prämissen in meinen Behauptungen dienen könnten und zum
anderen darüber, wie meine Behauptungen als Prämissen in den Behauptungen des anderen
dienen können. Dieser Prozess des wechselseitigen Interpretierens wird von Brandom
„deontische Buchführung“ genannt:
This is a matter of being able to map another’s utterances onto one’s own, so as to navigate
conversationally between the two doxastic perspectives: to be able to use the other’s
remarks as premises for one’s own reasoning and to know what she would make of one’s
own. […] deontic scorekeeping is recognizably a version of the sort of interpretive process
Davidson is talking about. (TMD, 6f.)
Deontisch ist die Buchführung, weil man registriert, worauf sich ein Sprecher durch eine
Behauptung selbst verpflichtet. Doppelt ist sie, weil man dies sowohl bei sich selbst wie auch
beim anderen registriert (nämlich worauf man sich praktisch und inferentiell durch die eigene
Behauptung bzw. durch die Anerkennung der Behauptung des anderen festlegt). Um
Buchführung oder Kontoführung handelt es sich, weil der durch den Kontostand erlangte
normative Status sozusagen ein normatives „Kapital“ oder „Produktionsmittel“ darstellt, das
zur weiteren Produktion von Gründen und Handlungen berechtigt.
Zur Verdeutlichung ein Beispiel, das Sebastian Knell in seiner Rezension zu Brandoms
„Expressiver Vernunft“ in der „Zeit“27 vorgebracht hat und das so anschaulich ist, dass ich es
an dieser Stelle komplett zitieren möchte:
27 Knell, Sebastien: Navigation im Raum der Gründe. DIE ZEIT, 27/2000 http://www.zeit.de/2000/27/Navigation_im_Raum_der_Gruende
25
In Alfred Hitchcocks Psychothriller Spellbound führt ein bemerkenswerter Dialog am Ende zur
Entdeckung des Mörders. Wir hören den Leiter einer psychiatrischen Klinik beiläufig sagen: „Ich
kannte Dr. Edwards nur flüchtig.“ Die innere Stimme seines Gegenübers, einer jungen Ärztin,
verwandelt die Aussage des Vorgesetzten nun in einem Crescendo von Wiederholungen in den
Satz „Ich kannte Dr. Edwards“. Fast schon modellhaft zeigt Hitchcock, wie im Kopf der verstört
blickenden Ingrid Bergman ein Prozess abläuft, der den normativen Gehalt des Satzes untersucht –
bis ihr ins Bewusstsein dringt, wie sehr die Bemerkung mit früheren Äußerungen ihres
Vorgesetzten über den ermordeten Kollegen kollidiert. Am Ende des Filmes richtet der Klinikchef
den Revolver gegen sich selbst. Seine Bemerkung war eine Unachtsamkeit, von der er ahnte, dass
sie zu seiner Entdeckung führen musste. Und warum? Weil der Mörder ein „diskursiver
Kontoführer“ ist und weiß, dass seine Zuhörerin ebenfalls eine „diskursive Kontoführerin“ ist.
Dass der Klinikchef sich am Schluss selbst richtet, ist das Ergebnis einer diskursiven
Festlegung, die auf Seiten der „Ausgänge“ diskursiver Praxis, nämlich der Handlungen,
Konsequenzen hat. Die diskursive Festlegung bestand in von „Ich kannte Dr. Edwards nur
flüchtig“ auf „Ich kannte Dr. Edwards.“ Diese Verpflichtung auf die Wahrheit von „Ich
kannte Dr. Edwards“ steht im Widerspruch zu seiner früheren Behauptung, dass er ihn nicht
gekannt habe. Der Zug im Spiel des Gebens und Forderns von Gründen, den er mit dem
Vorbringen der Behauptung, dass er ihn nur flüchtig gekannt habe, vollzieht, geht damit
einher, dass er nun nicht mehr berechtigt ist zu behaupten, dass er ihn nicht gekannt habe.
Sein „Kontostand“ hat sich durch diesen Zug entscheidend verändert – und dies hat sowohl er
selbst als auch die junge Ärztin (implizit) bemerkt. Jeder Zug im Sprachspiel erzeuge, so
Knell, „dominoartige Verschiebungen der Kontostände“ (ebd.). Über diese praktisch und
implizit einen Überblick behalten zu können, zeichne Menschen als rationale Wesen aus.
Gleichzeitig ist sie die Voraussetzung für erfolgreiche Kommunikation.
Was Kommunikation als deontisches Kontoführen meint, wird auch deutlich, wenn man sich
ein Beispiel vor Augen führt, bei dem sie scheitern muss, weil diese Voraussetzung nicht
erfüllt ist, d.h. wenn Wesen miteinander kommunizieren, die diese Fähigkeit nicht teilen.
Verstehen zwischen Tier und Mensch geht dann fehl – zumindest aus der Sicht des Menschen
– wenn der Mensch das Tier wie einen Menschen, wie ein rationales Wesen behandelt, das
zur deontischen Kontoführung in der Lage wäre – was es eben nicht ist. Dies zeigt der
folgende Witz:
26
Herr Meyer erzählt von der Erziehung seines neuen Hundes: „Hasso sollte bellen, wenn er fressen
wollte. Ich habe es ihm sogar vorgemacht.“ – „Und?“, fragt sein Nachbar. „Bellt er jetzt, wenn er
fressen will?“ – „Nein, er frisst nur, wenn ich vorher belle.“
Der Hund lernt oder „versteht“ durch Konditionierung: Wenn Herrchen bellt, dann gibt es
Futter. Herrchen unterstellt dem Hund ein weitaus komplexeres Verstehen, nämlich: Hasso
versetzt sich in die Perspektive von Herrrchen, der sich in die Perspektive von Hasso versetzt
und überträgt dessen Festlegungen („wenn ich belle, dann bekomme ich Futter“) auf seine
eigenen. Insofern kann man strenggenommen, nach Brandom, nur bei der Kommunikation
zwischen Menschen von Verstehen sprechen, nicht bei der Kommunikation zwischen Mensch
und Tier (oder Mensch und Computer etc.).
Der Prozess des Interpretierens oder Übersetzens findet jedoch nicht nur in der Gestalt statt,
dass wir, wenn der Wortlaut identisch ist, sich der Bezug aber unterscheidet, verstehen
können, was eine Person ausdrücken will, weil wir zwischen der Perspektive des Sprechers
und unserer eigenen hin- und her übersetzen und so einen entsprechenden de re-Sinn mit dem
Gesagten verbinden können. Umgekehrt kann auch das Gesagte (de dicto) differieren und wir
können trotzdem denselben Gegenstand (de re), auf den es sich bezieht, identifizieren. Hierzu
ein Beispiel, bei dem nicht die personale, sondern die temporale Perspektive sich verändert.
Brandom bringt das Beispiel von „‚heute’ heute geäußert und ‚gestern’, morgen geäußert.“
(EV 8.5.3., 780) „Heute“ heute geäußert ist in meinem Fall, meinem Jetzt, „Sonntag“. Dem
entspricht – und da würdest auch du mir zustimmen – „gestern“, morgen geäußert: d.h. der de
re-Sinn „entspricht in der richtigen Weise“ (vgl. ebd.) Diese Leistung des Wiedererkennens
ist das Ergebnis erfolgreichen Verstehens durch Substitution eines Ausdrucks durch einen
anderen mit einem entsprechenden de re-Sinn:
Das Wiedererkennen begrifflicher Gehalte nach Wechsel des doxastischen und praktischen
Standpunkts verlangt Interpretation im Wittgensteinschen Sinne sie Substitution eines Ausdrucks
einer Behauptung (bei ihm heißt es ‚Regel’) durch einen anderen. (EV, 8.2.1., 709)
Dieser Substitutionsprozess besteht in der korrekten Anwendung von Allgemeinbegriffen
oder Universalien. Rational zu sein, bedeutet, gemäß dem oben vorgestellten Modell der
geschichtlich verstandenen Vernunft, in der Lage zu sein, Allgemeinbegriffe richtig, d.h.
berechtigterweise und im Einklang mit der rekonstruierten Tradition der Begriffsverwendung
auf Einzelbegriffe anzuwenden, d.h.
27
classifying the particulars as they ought to be classified, characterizing them in judgement by the
universals they really fall under, according to the norms that implicitly govern the application of
those universals (TMD, 12)
und zwar aufgrund der Fähigkeit, im rekonstruierten „Gang der Vernunft durch die
Geschichte“ dem Zufälligen die Gestalt der Notwendigkeit zu verleihen (TMD, 14).28 Es
handelt sich beim Verstehen eines Begriffes also um ein „Wissen-Wie“, ein Wissen um die
Folgefestlegungen und damit um den richtigen und rechtmäßigen Gebrauch innerhalb der
üblichen sozialen Praxis von Kommunikation.29
Wichtig ist, dass das Beherschen des inferentiellen Gebrauchs nicht gleichzusetzen ist mit
dem Beherrschen des logischen Gebrauchs. Die Abhängigkeiten zwischen Begriffen sind
nicht rein formal-logisch, sondern auch semantisch. Hier kommen sog. „materiale
Inferenzen“ ins Spiel. Ihre Richtigkeit hängt von den Inhalten der Prämissen und
Konklusionen ab. Brandom führt als Beispiele das Schließen von „Pittsburgh liegt westlich
von Philadelphia“ auf „Philadelphia liegt östlich von Pittsburgh“ oder von „heute ist
Mittwoch“ auf „morgen wird Donnerstag sein“ an. (vgl. EV 2.4.2., 163) Die Inferenzen seien
aufgrund des Inhalts der Begriffe „östlich“ und „westlich“, „Mittwoch“, „Donnerstag“,
„heute“ und „morgen“ richtig. „Östlich“ und „westlich“ sind zwei Begriffe, die sich
wechselseitig definieren, d.h. sie spielen füreinander eine inferentielle Rolle, die darin besteht,
dass der inferentielle Gehalt des einen Begriffs durch den inferentiellen Bezug auf den
anderen Gehalt als begrifflicher Gehalt gestiftet wird. Aufgrund dessen, kann man einen
Begriff nicht isoliert, sondern nur in seiner Rolle in einem Netzwerk von Begriffen verstehen,
die gleichursprünglich mit ihm sind. Man muss „viele Begriffe haben […], um überhaupt
welche zu haben“. (vgl. EV 2.3.3., 152) Brandom nennt dies einen „Begriffsholismus“. (ebd.
153) Die Fähigkeit, in diesem Netzwerk sich praktisch zurechtzufinden, d.h. „sich in den 28 In „Reconciling two Heroes“ nennt er den Menschen deshalb einen „Agenten“ oder Ausführenden eben dieser Vernunft: „Coming to realize this, and so explicitly to acknowledge the commitment to being an agent of reason's march through history, is achieving the distinctive sort of self-consciousness Hegel calls ‘Absolute knowing’.“ (RH, 12). 29 „Das Begreifen des Begriffs, der in einem solchen Vorgang des Explizitmachens verwendet wird, besteht im Beherrschen seines inferentiellen Gebrauchs: im Wissen (in dem praktischen Sinne, dass man unterscheiden kann, und das ist ein Wissen-wie), worauf man sich sonst noch festlegen würde, wenn man den Begriff anwendet, was einen dazu berechtigen würde und wodurch eine solche Berechtigung ausgeschlossen wäre.“ (BB 2001, 22f.) – Vgl. auch: „ […] coordinating social perspectives by keeping deontic score according to common practice.“ (ME 7.5.3., 479)
28
Fäden zurechtzufinden, die einen begrifflichen Gehalt umgeben, so dass man praktisch weiß,
welche Züge zu ihm oder weg von ihm gefordert oder erlaubt und welche verboten sind“ (EV
2.3.3, 153), beschreibt die Fähigkeit, einen Begriff zu verstehen.
Man kann sich in diesen „Fäden“ leicht verstricken, wenn Begriffe mehrdeutig sind, d.h.
wenn von einem dem Wortlaut nach gleichen Begriff verschiedenen Fäden oder
Folgefestlegungen je der einen oder anderen Verwendungsweise entsprechend ausgehen. Dies
trifft besonders auf Eigennamen zu. Zu welchen Konsequenzen Missverständnisse dieser Art
führen können, zeigt der folgende Witz:
Einbruch im Haus der Meiers. Es ist stockdunkel. Da hört der Einbrecher eine Stimme: „Ich sehe
dich, und Jesus sieht dich auch.“ Der Einbrecher erschrickt und macht die Taschenlampe an.
Erleichtert entdeckt er einen Papagei. „Na, wie heißt du denn?“, fragt er. „Petrus“, krächzt der
Papagei. Der Einbrecher hält sich den Bauch vor Lachen. „Was für ein saublöder Name für einen
Papagei!“ – „Ja, und Jesus ist auch ein saublöder Name für einen Kampfhund“, krächzt der
Papagei.
[4]... du musst wissen, wie du und ich sie als Begründung verwenden könnten
Das gemeinsame oder geteilte Wissen darum, wie eine Behauptung korrekt als Begründung
verwendet werden kann, verbindet du und ich zu einem impliziten Wir. Ein Wir, dass ein
Know-How teilt, die praktische, implizite Beherrschung des korrekten Begriffsgebrauchs in
Begründungspraktiken. Es ist damit kein ontologisch bestimmtes Wir, sondern ein
pragmatisch bestimmtes, ein prozessuales Wir. Das Wissen um das Wir ist zunächst nur ein
implizites Wissen, das sich im sozial anerkannten Begriffsgebrauch äußert, ohne selbst zum
Gegenstand des Diskurses zu werden. Wenn es jedoch explizit gemacht wird mithilfe
expressiven logischen Vokabulars30, dann erzeugt Kommunikation ein Wir höherer Ordnung,
das Brandom als soziales Selbstbewusstsein bezeichnet. (Vgl. EV 9.3.2., 891) Wie Brandom
dies erreichen will, soll im folgenden untersucht werden.
30 Dazu zählt Brandom sententiales logisches Vokabular (insbes. das Konditional, das es ermöglicht die Anerkennung inferentieller Festlegungen zuzuweisen), normatives Vokabular (um eine Form praktischen Begründens zuweisen zu können), subsentetiales logisches Vokabular (Quantoren und Identitätsausdrücke; zur Zuweisung und Billigung substitutionaler Festlegungen). – Vgl. EV 9.3.1., 888.
29
Das Beispiel der Kommunikation zwischen einem Du und einem Ich, dem wir bis jetzt
gefolgt sind, werden wir nun schrittweise verlassen. Oben hatten wir festgestellt, dass für
Brandom die grundlegende soziale Einheit der Kommunikation die Ich-Du-Dyade ist.
Wesentlich öfter als von Sprecher und Hörer spricht Brandom in seinen Texten aber von
„speaker“ und „audience“, Sprecher und Zuhörerschaft. Diese Zuhörerschaft ist weniger ein
„Du“ als ein plural verstandenes „Sie“ (3. Pers. Sing./ die Zuhörerschaft) bzw. ein „Es“: das
Publikum. Zu Beginn der „Expressiven Vernunft“ untersucht Brandom verschiedene Arten
des Wir-Sagens, um das spezifische Wir-Sagen, das er anstrebt, herauszuarbeiten: „Wir, das
können du und ich sein. Wir kann alles sein, was spricht oder was sich bewegt, alles, was
Geist hat, oder alles, was Materie ist.“ (EV 1.1.1., 35). Aufgrund des von Brandom
postulierten Bedürfnisses zur Abgrenzung zu „den Anderen“, sieht er die Notwendigkeit der
Entwicklung einer Theorie gegeben, die uns zu einem expliziten semantischen sozialen
Selbstbewusstsein verhilft: d.h. eine Theorie, die erklärt, warum wir uns nicht nur als Wir
fühlen können, sondern Wir sagen können, d.h. uns wechselseitig und explizit als diskursive
Kontoführer behandeln. Der Beantwortung dieser Frage widmet Brandom die folgenden 900
Seiten. Seine Theorie soll erklären, „was es in der Praxis heißt, jemanden als einen von uns zu
behandeln“, um „uns selbst explizit zu machen, wer wir sind“ (EV 1.1.1., 37). Die
Bestimmung des Wir ist also nicht ontologisch, sondern pragmatisch und findet unter einem
phänomenologischen Blickwinkel statt: Wann behandeln wir jemand/etwas als einen von uns.
Es geht Brandom um die Frage, was wir tun, wenn wir „Wir“ sagen. Es genügt ihm nicht,
sich einem Wir zugehörig zu wissen; entscheidend ist, dass man den anderen auch sagen
kann, dass und wie man es weiß; dass man „das Tun explizit diskutieren“ kann, „das die
Grundlage […] [des eigenen] Sagens bildet“ und „die interpretative Haltung, die […] [man]
zueinander […] [einnimmt].“ (EV 9.3.2., 891) Ziel des ganzen Unterfangens ist die
Beantwortung der Frage „wer wir sind“. Für Brandom bedeutet dies wieder nicht eine
anthropologische oder ontologische Bestimmung, sondern die Antwort auf die Frage, „in
welchem Sinne wir Geschöpfe unserer Begriffe (der Gründe, die wir produzieren und
Konsumieren) sind und in welchem Sinne sie unsere Geschöpfe sind.“ (EV 9.3.2., 889) Wie
zu Anfang bereits festgestellt, steht im Zentrum von Brandoms Projekt die Erforschung des
Wesens des Begrifflichen; und Kommunikation, Verstehen und das Wesen des Menschen
sind mit dem Wesen des Begrifflichen strukturverwandt und nicht getrennt von diesem zu
begreifen.
30
Die Frage, ob jemand als einer „von uns“ behandelt wird, geht Brandom in der Weise an, als
ob es sich um die Prüfung unseres Handelns in Bezug auf Einzelpersonen handeln würde,
aber er fragt nicht: „Behandeln wir dich als einen von uns?“, sondern er fragt: Wann gehört
etwas zu uns? Nach Brandom „sollte es lediglich die grundlegenden Fähigkeiten besitzen, die
die Teilnahme an jenen ausschlaggebenden Tätigkeiten ermöglichen, über die wir uns selbst
definieren“ (EV 1.1.1., 36).31 Die Frage verändert sich dadurch. Wie wir etwas behandeln, ist
uns überlassen. Es hat etwas mit unserer „Natur“, nicht der „Natur“ des so behandelten
Objektes zu tun. Ich kann meinen Computer als einen diskursiven Kontoführer behandeln und
mit ihm argumentieren, wenn er nicht tut, worauf er m.E. nach einer bestimmten Eingabe
verpflichtet ist. Die Frage, ob jemand oder etwas zu uns gehört, ist aber doch wieder eine
Frage nach dem Sein, eine Frage nach dem Besitz von bestimmten Eigenschaften oder
Fähigkeiten, eine ontologische Bestimmung. Man fragt: Bist du einer von uns? – nachdem
man schon definiert hat, was die notwendigen Eigenschaften sind und behandelt ihn dann als
einen von sich oder nicht. Handelt es sich hier nur um eine sprachliche Ungenauigkeit? Oder
hält Brandom die pragmatisch-phänomenologische Perspektive durch? Schon der Wechsel
vom Du zum Es macht deutlich, dass obwohl Brandom die Ich-Du-Dyade als grundlegende
soziale Struktur der Kommunikation ansieht, er diese im Rahmen seiner Theorie nicht in den
Mittelpunkt stellt. Das Du als Anderer ist für ihn nicht interessant. Und die Kommunikation
als Mittel zur Verständigung mit diesem Du ebenfalls nicht. Es geht ihm um eine
phänomenologisch-pragmatische Selbstbestimmung eines begriffliche strukturierten Wir32, bei
der der Andere/die Anderen nur Mittel zum Zweck ist/sind.
Die Ich-Du-Struktur ist für Brandom der Ausgangspunkt, sozusagen ein Mikrokosmos des
Raums der Gründe, an dem die Berechtigung zu Festlegungen ausgehandelt wird:
„Beurteilen, Billigen u.s.w. sind alles Dinge, die wir als Einzelne tun und einander
zuerkennen.“ (EV 1.4.4., 84) Aus dieser Praxis innerhalb des Mikrokosmos entsteht durch die
31 Dieses Vorgehen ist natürlich zirkulär: jemand gehört zu uns, der per Definition zu uns gehört. Es ist ein geschlossenes System, das nicht wirklich erklärt, warum jemand „zu uns“ gehört. – Diese Formulierung erinnert an Aristoteles Bestimmung des Menschen (und dessen höchsten Gutes) in der Nikomachischen Ethik: Die „arete“ oder besondere Tauglichkeit des Menschen bestehe in der der „besten und vollkommensten Tugend gemäßen Tätigkeit der Seele“ – und diese Tätigkeit sei vernunftgemäße Tätigkeit. Das spezifisch menschliche Werk oder ergon ist deshalb bei Aristoteles die Tätigkeit des (betrachtenden) Denkens, der theoria. Bei Aristoteles ist dies eine „private“ Tätigkeit. Bei Brandom vollzieht sich diese Tätigkeit im öffentlichen Raum des Sozialen im rationalen Diskurs. 32 Also auch nicht um die Beantwortung der Frage: Wer bin ich?
31
Vererbung von Festlegungen mit bezug auf ähnliche de re-Gehalte33 erst das Wir einer
Gemeinschaft diskursiver Kontoführer, sozusagen der Makrokosmos des Raums der Gründe
(vgl. ebd.):
Normative Status der Sorte, deren Paradigma die inferentiell gegliederten, für Rationalität
konstitutiven Festlegungen darstellen, werden durch Konstellationen sozialperspektivischer
normativer Einstellungen des Zuweisens und Eingehens solcher Festlegungen etabliert. Das ist die
Ich-du-Struktur der normen-instituierenden Praktiken, die der von vielen Theoretikern bevorzugte
Ich-wir-Sozialität gegenübergestellt wurde, welche in dieser Arbeit so verstanden wird, dass sie
aus der elementaren perspektivischen Spielart hevorgeht. (EV 1.6.2., 115)
33 Vgl.: „Die erfolgreiche Kommunikation verlangt nur, dass die Zuhörer mit der Äußerung des Sprechers einen angemessenen korrespondierenden de re-Sinn verbinden.“ (EV 8.5.3., 780)
32
Exkurs
Den makrokosmischen „Raum der Gründe“ kann man sich visuell vielleicht als eine
dreidimensionale Realisierungen der Mandelbrotmenge vorstellen. Kommunikation verhält
sich in gewisser Weise ähnlich wie nichtlineare Fraktale34, d.h. wie ein dynamisches
deterministisches chaotisches System. Determiniert ist sie durch Strukturprinzipien wie das
deontische Kontoführen, bei dem die generierten Festlegungen sich innerhalb des Systems
weitervererben und – wenn man so will – durch diese Anwendung einer rekursiven Regel
selbstähnliche Strukturen/„Familienähnlichkeiten“ erzeugen. Chaotisch und „natürlich“35 ist
sie aufgrund des potentiellen zufälligen Auftretens von „Fehlern“ oder Nicht-Verstehen.36
Holistisch sind beide Modelle, da so wie bei Mandelbrot-Sets in jedem ihrer Teile die
Beschreibung des Ganzen codiert ist und somit vergrößerte Ausschnitte immer wieder
ähnliche, nie jedoch gleiche Strukturen zeigen, auch Begriffe alle nach den gleichen Gesetzen
der Logik inferentiell gegliedert sind und je nach sozialer Perspektive unterschiedliche
ähnliche, aber nie gleiche Strukturen aufweisen.
Christmas-coral-bed by Daniel White37
34 „Fraktale werden durch nichtlineare Gleichungen, d. h. durch dynamische Prozesse generiert und entstehen aus rekursiven Formeln. Rekursion bedeutet, dass eine Formel immer wieder auf sich selbst angewendet wird. Ist eine solche Formel nichtlinear, können unerwartete Eigenschaften zu Tage treten. Rekursion ist ein Bereich, in dem ,Gleichheit in der Verschiedenheit‘ eine zentrale Rolle spielt, wobei das ,gleiche‘ Ereignis auf verschiedenen Ebenen zugleich auftritt.“ – Vgl. Hofstadter, D. R. (1991): Gödel Escher Bach. München, S.161, in: Schmidt, Arthur P. (1999): Endo-Management. Entrepreneurship im Interface des World Wide Web. Bern. – http://www.wissensnavigator.com/interface4/management/endo-management/buch/hab4331.pdf. S. 6 f. [Abruf: 15.08.11] 35 J. Briggs erklärt in „Chaos - Neue Expeditionen in fraktale Welten“, dass wenn man bei den iterativen Berechnungen von Fraktalen ein Zufallselement integriert Unregelmäßigkeiten imitieren kann, die die Darstellung von natürlichen Gebilden wie Gebirgszügen, Wolken oder Wellen erlauben. – Vgl. Briggs, J. (1993): Chaos - Neue Expeditionen in fraktale Welten; München, S. 69. In: Schmidt (1999), S. 6. 36 Ich will hier keiner mathematischen Theorie des Geistes das Wort reden. McDowell hat vollkommen Recht zu behaupten, dass „mechanische Rationalität […] nicht in der Lage [ist], semantische Rationalität zu sichern; aber es ist die semantische Rationalität, die den Raum der Gründe sichert.“ – Vgl. McDowell, John (2001): Moderne Auffassungen von Wissenschaft und die Philosophie des Geistes, in: Johannes Fried, Johannes Süssmann (Hg.): Revolutionen des Wissens. München, S. 116-135, hier: S. 132. 37 http://www.skytopia.com/project/fractal/new/q85/christmas-coral-bed-small.jpg [Abruf: 15.08.11]
33
Da man nicht umhinkommt, auch im privaten Zweiergespräch sich öffentlich zu äußern – und
das hat nichts damit zu tun, dass das Telefongespräch vielleicht abgehört wird, dass die
Sitznachbarn im Café mithören – ist das Publikum immer schon präsent. Dies hängt mit der
auf einen Gehalt bezogenen Vererbung der Berechtigung zu Festlegungen zusammen, die
stattfand, als der Dialogpartner einen in dem Sinne „verstanden“ hat, dass er die eigenen
Berechtigungen zu Festlegungen anerkannt hat. Dieser Dialogpartner verlässt die
Kommunikations-Dyade und geht mit diesen Festlegungen „in die Welt hinaus“ und stellt sie
unzähligen anderen Personen – sozusagen einem Pubklikum – als Prämisse oder Konklusion
in deren Begründungspraktiken zur Verfügung. Das Äußern einer Behauptung hat soziale
Folgen:
Einen Satz in der Öffentlichkeit als wahr vorbringen ist etwas, was ein Sprecher tun kann, um ihn
anderen zu weiteren Behauptungen zur Verfügung zu stellen. Das Eingehen einer assertionalen
Feststellung anzuerkennen, hat die soziale Folge, anderen zu gestatten oder andere zu berechtigen,
diese Festlegung zuzuweisen. Und wenn das Publikum diese Einstellung annimmt, wirkt sich das
wiederum darauf aus, zu welchen Festlegungen es berechtigt ist. Eine Behauptung als wahr
vorbringen heißt sie als eine vorbringen, die andere angemessenerweise als wahr betrachten, also
selbst vertreten können. Eine kommunikativ erfolgreiche Behauptung in dem Sinne, dass das, was
der Sprecher als wahr vorbringt, von Zuhörern als wahr betrachtet wird, besteht in der
interpersonalen Vererbung der Festlegung. (EV 3.3.2, 257)
Mit dem öffentlichen Äußern einer Behauptung wird das Publikum als Gruppe derjenigen, die
die Rolle der Beurteilenden und Billigenden meiner Behauptung spielen, gestiftet. In
„Facebook-Sprache“ bewirkt die Anerkennung einer Meldung – z.B. von Michelles
Statusmeldung „Ich fühle mich von einem Bären bedroht“ – durch die Betätigung des
„Gefällt mir“-Buttons, dass die Anerkennenden auf ihrer eigenen Pinnwand öffentlich
machen, dass sie Michelles Meldung als auch aus ihrer Perspektive berechtigt anerkennen
(weil sie wissen, dass Michelle gerade Urlaub in den Rocky Mountains macht und die
Meldung deshalb wahrscheinlich wahr ist) und sie anderen Lesern ihrer Pinnwand auf diese
Weise zum Anerkennen zur Verfügung stellen. Das Wir der diskursiven Gemeinschaft der
Facebook-Mitglieder setzt sich aus den durch deontische Kontoführung kommunizierenden
Bestandteilen oder „Ich-du-Sozialitäten“, der „Relation zwischen Zuhörern38, die
38 Der Plural verwirrt hier. Warum spricht Brandom in Verbindung mit der Ich-du-Sozialität von Zuhörern und nicht vom Zuhörer? Dies liegt daran, dass für Brandom ein Zuhörer und die Zuhörerschaft gleichzeitig mit dem öffentlichen Äußern einer Behhauptung eingesetzt werden. Die Wahl der Ich-Du-Dyade als Grundstruktur und
34
Festlegungen zuerkennen und dabei Konto führen, und einem Sprecher, der Festlegungen
eingeht und über den Konto geführt wird“ zusammen. (Vgl. EV 8.2.1., 707). Dieses
Facebook-Wir würde Brandom allerdings noch kein im höchsten Sinne menschliches Wir
nennen, da es ein nicht begrifflich artikuliertes Wir, kein explizites Wir-Sagen ist.39
Objektivität erlangt die Statusmeldung „Ich fühle mich durch einen Bären bedroht“ in diesem
Sprachspiel allein durch die „Symmetrie von Zustand und Einstellung zwischen dem
Zuschreiber und demjenigen, dem eine Festlegung zugeschrieben wird,“ m.a.W. einer
erfolgreichen Vererbung von Festlegungen zwischen Michelle und ihren „Freunden“ (vgl. EV
8.6.4, 833) – nicht dadurch, dass Michelle z.B. ein Live-Streaming der Bedrohung durch den
Bären postet.
Der Autor einer de re-Zuschreibung geht davon aus, dass sie den objektiven repräsentationalen
Gehalt der zugewiesenen Festlegung spezifiziert (den betreffenden Status und wovon er
tatsächlich handelt) [das sich bedroht Fühlen durch einen Bären], während er die damit
korrelierenden de dicto-Zuschreibungen als Spezifizierungen jener subjektiven Einstellung
behandelt, die die Zielperson der Zuweisung [Michelle] gegenüber jenem Zustand hat – was die
Statusinhaberin glaubt, wovon ihr Status handelt. (ebd.)
Objektivität erscheine innerhalb dieser Theorie, so Brandom, als Merkmal diskursiver
Intersubjektivität, nicht als als Ergebnis der Billigung der Richtigkeit von Behauptungen oder
Begriffsanwendungen durch das Wir einer Gemeinschaft (vgl. EV 8.6.4., 831). Aus diesem
Grund ist die Ich-Du-Kommunikation notwendiger Ausgangspunkt seiner Theorie. Die
Vererbung von Festlegungen erfolgt immer von Person zu Person – aber auf diesem Wege
entsteht ein Netzwerk-Wir, das durch die „Fäden“ dieser interpersonalen Vererbungen
miteinander verbunden ist. Dieses Wir kann seinerseits als eine Art Pluralsubjekt anderen
möglichen Pluralsubjekten, z.B. einer Gruppe Schimpansen, gegenüber treten und sich fragen,
ob sie inkludierbar sind. Mögliche diskursive Konstellationen sind in entwicklungslogischer
Reihenfolge:
1. Ich – Du
2. Ich – (Du-Er/Sie1, Du-Er/Sie2, Du-Er/Sien) = Publikum
3. [Ich – (Du-Er/Sie1, Du-Er/Sie2, Du-Er/Sien)] = Wir – „Die Anderen“ Ausgangspunkt hängt damit zusammen, dass man vom Spiel des Gebens und Forderns von Gründen nur sinnvoll als einem Geschehen zwischen zwei Personen sprechen kann. 39 Bei Facebook ist auch die Frage, ob es dazu taugt, da die meisten Statusmeldungen Befindlichkeitmeldungen sind und die meisten Kommentare in Zeichensprache abgegeben werden. ;-)
35
Auf welchen Wege gelangt Brandom nun vom impliziten Wir-Tun zum expliziten Wir-
Sagen? Brandom beschreibt das Wir-Sagen in vier Intensitätsstufen der Annäherung an ein
interpretatorisches Gleichgewicht zwischen „ich“/„uns“ und „denen“, von denen wir
ermitteln wollen, „was es in der Praxis heißt, […] [sie] als […] [welche] von uns zu
behandeln“. Die soziale Grundstruktur der Kommunikation, von der wir zuerst ausgegangen
ware, bestand aus zwei diskursiven kontoführenden Individuen. Dieses Modell wurde
aufgrund des öffentlichen Charakters jeder Äußerung erweitert auf einen diskursiven
Kontoführer und ein Publikum, das vom diskursiven Kontoführer implizit als Summe oder
Netzwerk von diskursiven Kontoführern betrachtet und behandelt wurde. In einem dritten
Schritt geht es jetzt um die Konstellation eines diskursiven Wirs von deontischen
Kontoführern (das Brandom wie ein Subjekt, einen externen Interpreten behandelt), das/der
Anderen gegenüber verschiedene diskursive Kontoführungseinstellungen (von einfach über
implizit bis explizit) einnehmen kann. Wir können die Anderen behandeln, als ob sie einfache
intentionale Systeme wären, die für sich absichtsvoll und nach inferentiell gegliederten
Überzeugungen handeln; dann, als ob sie implizit rationale kontoführende Wesen wären, d.h.
solche, die zum Perspektivenwechsel in der Lage sind; oder, als ob sie rationale
sprachbegabte, also logische Wesen wären, d.h. „sie so zu behandeln, als ob sie sich
untereinander oder wenigsten potentiell auch uns gegenüber genau die Einstellung zueigen
machen, die wir ihnen gegenüber einnehmen.“ (EV 9.3.3., 892) Interpretatorische
Gleichgewicht ist dann erreicht, wenn „wir“ „ihnen“ explizite ursprüngliche Intentionalität,
d.h. symmetrische diskursive Kontoführungseinstellungen zuweisen, d.h. wenn wir sie so
behandeln, als ob sie uns gleichermaßen deontische Status anerkennen und zuweisen würden
wie wir ihnen. (Vgl. EV 9.3.1., 886)
Interessant ist, dass die ursprüngliche Einzelperson, deren Zugehörigkeit zum Wir geprüft
werden sollte (vgl. EV 1.1.1., 37) jetzt zu einem pluralen „sie“ (3. Per. Pl./„denen da“)
geworden ist. Die Anderen, von denen ermittelt werden soll, ob sie „zu uns“ gehören, treten
bei Brandom nun als unpersönliche Masse auf, der ein Beobachter bestimmte Eigenschaften
zuschreibt und dann prüft, ob die Zuschreibung das Verhalten der Gruppe erfolgreich erklären
und vorhersagen kann. Brandoms grundlegendes Verhältnis zu seinem Forschungsgegenstand
ist naturwissenschaftlicher Art: er ist der „Theoretiker“, der einer Gemeinschaft Praktiken
zuweist (vgl. EV. 1.6.2., 114). Er ist nicht Teilnehmer – oder zumindest ist es sein Ziel, die
Teilnehmerperspektive (immer wieder) zu verlassen, um über die
36
„Kontoführungseinstellungen der anderen theoretisieren“ zu können (EV 9.3.2., 889). Er will
ihr Verhalten erklären und voraussagen können – er will sie nicht als Personen verstehen.40
Im folgenden sollen die vier Schritte hin zum interpretativen Gleichgewicht im Detail
betrachtet werden, um das Erkenntnisinteresse Brandoms klarer herauszuarbeiten. Im
schwächsten Sinne behandeln wir nach Brandom andere als zu uns gehörig („as among us“)
wenn wir ihnen „propositional gehaltvolle praktische und doxastische [behauptende]
Festlegungen41 zuweisen und ihre Performanzen in Begriffen dieser Festlegungen
interpretieren“ (EV 9.3.3., 891). Mit Bezug auf Dennett42 nennt Brandom dies das Einnehmen
der einfachen intentionalen Einstellung („intentional stance“), d.h. einer Interpretionstrategie
in Bezug auf das (hier nichtsprachlichen) Verhalten [performances/eigentlich Darstellungen]
anderer Wesen, die unterstellt, dass es sich insofern um vernünftige Wesen handelt, als
intentionale Zustände wie Wünsche oder Überzeugungen Gründe für ihr Verhalten darstellen
– und auf Basis dieser Unterstellung Voraussagen zu ihrem Verhalten macht (d.h. bzgl. ihrer
praktischen und doxastischen Festlegungen aus unserer Sicht). In diesem schwächsten Sinne
behandeln viele Hundebsitzer ihren Hund als „einen von ihnen“. Sie unterstellen ihrem
Hund, der ihnen z.B. immer wieder einen gerade weggeworfenen Stock vor die Füße legt,
absichtsvolles Verhalten. Sie unterstellen ihm zumindest, dass er praktische Inferenzen ziehen
kann, d.h. dass er weiß, wie er das, was er will – mit uns zu spielen/unsere Aufmerksamkeit –
bekommen kann. Damit unterstellen wir ihm eine Absicht, die wir als Grund für sein
Verhalten annehmen. Ob er auch theoretische Inferenzen ziehen kann, d.h. dass er weiß, was
aus was folgt, können wir nicht feststellen, da er diese uns gegenüber sprachlich nicht explizit
machen kann. Wenn er, wie Brandom dies für Papageien annimmt, kein Bewusstsein von
Begriffen als inferentiell gegliederten Gebilden hat, dann verpflichtet er sich durch eine
Äußerung auch auf nichts, macht keinen Zug im Sprachspiel und kann nicht nach impliziten 40 Dass Brandom in dem Artikel „Der Mensch, das normative Wesen“ im Feuilleton der ZEIT behauptet, dass er mit dem von im entwickelten Vokabular letztlich die Möglichkeit zur Kritik der „bestehenden Verhältnisse“ bereitstellen wolle, erscheint merkwürdig aufgesetzt: „Wir sprechen und denken dann über das Sprechen und Denken nach, darüber, wer zu was verpflichtet ist und was daraus wiederum folgt. Darüber hinaus können wir, anstatt das Implizite immer nur explizit zu machen, von vornherein darüber diskutieren: als ein explizites Geben und Fordern von Gründen für unsere normativen Zuschreibungen und Schlüsse. Indem wir ein solches Vokabular verwenden, versetzen wir uns schließlich in die Lage, Kritik an den bestehenden, uns umgebenden Verhältnissen zu üben − sie uns ,bewusst‘ zu machen.“ – Brandom, Robert B. (2001): Der Mensch, das normative Wesen. Über die Grundlagen unseres Sprechens. Eine Einführung. Aus dem Englischen von Christian Schlüter. DIE ZEIT 29/2001. http://www.zeit.de/2001/29/200129_brandom_xml [Abruf 15.08.11] S. 5. [DIE ZEIT] 41 „Doxastische Festlegungen sind normative, genauer deontische Status. Solche Status sind Geschöpfe der praktischen Einstellungen der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft: sie werden durch Praktiken etabliert, die das Betrachten und Behandeln von Individuen als festgelegte leiten“. (EV.3.1.1., 220) 42 Dennett, Daniel C. (1989): The intentional stance. MIT.
37
Gründen für seine „Behauptung“ gefragt werden: „Er nimmt in einem inferenzialistischen
Sinne nicht Teil an dem Sprachspiel“.43 Aus diesem Grunde zählt Brandom Tiere nicht zu den
verstandesfähigen Wesen, auch wenn viele Menschen ihre Hunde so behandeln, als ob sie
verstandesfähig wären, d.h. als ob „Gründe [wie Überzeugungen oder Wünsche] für […] sie
von Bedeutung seien.“ (BB, 205). Tiere sind nach Brandom sog. einfache intentionale
Systeme, Systeme, denen gegenüber eine intentionale Einstellung eingenommen werden kann.
Nur weil wir den Hund in dieser Weise als zu uns gehörig behandeln, antworten wir auf sein
Verhalten mit einer Handlung, die wir als von ihm aufgrund praktischer Inferenzen erwartet,
auslegen. In gewisser Weise projezieren wir unsere Fähigkeit, theoretische und praktische
Schlüsse ziehen zu können, auf ihn, ohne uns sicher sein zu können, ob diese Projektion
berechtigt ist:
Unser Verstehen, unsere Interpretationspraktiten etablieren diese Bedeutung, die sich aus ihnen
[den Interpretationspraktiken] ableitet. […] Die einfache Intetentionalität, die hiernach im Auge
des Betrachters liegt, ist aus diesem Grund abhängig und in einem wichtigen Sinn abgeleitet von
der Intentionalität, die dem Interpreten zukommt. (EV 1.6.2., 113, 112)
Während wir also ursprüngliche Intentionalität besitzen, haben einfache intentionale Systeme
wie Hunde nur eine derivative Intentionalität. Ich kann dem Hund Intentionalität unterstellen,
aber der Hund kann sie weder sprachlich explizit machen, noch kann er sie mir unterstellen
bzw. zuweisen, da das Zuweisen nur sprachlich geschehen kann.44 Die vermuteten
Überzeugungen des Hundes können wir nur aus seinem (aus unserer Sicht) „intelligentem“
Verhalten ableiten. (vgl. EV 9.3.1., 886) Zwischen einfachen und ursprünglichen
intentionalen Systemen besteht deshalb noch kein interpretatives Gleichgewicht. Trotzdem ist
Kooperation möglich, weil in einem basalen Sinn wechselseitig Intentionalität angenommen
wird. Diese Annahme ist nach Searle die Grundbedingung dafür, dass man sich überhaupt auf
eine Interaktion einlässt:
43 „Man frage den Papagei einmal nach den Gründen, die ihn bewogen haben, so und nicht anders zu krächzen, man fordere ihn also auf, implizite Gründe auch explizit zu machen [...] Solange die Geräusche des Papageien für ihn selbst nicht in einem inferenziellen Netzwerk verortet sind, ist er anderen gegenüber zu nichts verpflichtet.“ – DIE ZEIT, S. 4 44 „Und Zuweisungen könne nur zugewiesen werden, indem sie zugeschrieben werden, denn nur wenn sie in Form eines propositionalen Gehalts explizit gemacht werden, können sie ineinander eingebettet und somit iteriert werden. Nur wer etwas in Form von ,S ist auf die Behauptung festgelegt, dass S´ auf die Behauptung festgelegt ist, dass p’ sagen kann, nur der kann sich die dadurch explizit gemachte Einstellung zueigen machen.“ [d.h. nur der kann im Sinne der auf einen Gehalt bezogenen Vererbung der Berechtigung zu Folgefestlegungen verstehen.] (EV 9.3.1., 887)
38
[Geteilte] Intentionalität setzt eine stillschweigende Auffassung des Anderen als Kandidat für
kooperatives Handeln voraus […], [was] eine notwendige Bedingung […] für jede Unterhaltung
darstellt.“ (Searle 1990, 414-415.)
Eine Steigerung des Etwas-für-uns-zugehörig-Haltens besteht darin, dass wir anderen nicht
nur unterstellen, dass ihr nichtsprachliches Verhalten begründet ist, sondern dass wir diese
Interpretationsstrategie auch auf ihre Sprechakte ausdehnen, d.h. dass wir sie als diskursive
Kontoführer identifizieren, die in Form von Behauptungen Züge im Spiel des Gebens und
Forderns von Gründen machen können. Allen nicht-(menschen-) sprachlichen Wesen
gegenüber können wir diese Haltung nicht einnehmen, weshalb sie als potentiell zu uns
gehörend ausscheiden. Die Möglichkeit, dass wir deren Sprache erlernen könnten, zieht
Brandom nicht in Betracht. Auf dieser zweiten Stufe verfolgen beide Parteien implizit die
Verschiebungen der Kontostände, die durch das Äußern von Behauptungen ausgelöst werden.
(Vgl. EV 9.3.2., 890) Ihnen steht jedoch kein logisches Vokabular zur Verfügung, um das,
was sie tun, explizit zu machen. Auf diese Art und Weise kommunizieren die meisten
Menschen. Welcher Nicht-Logiker, der beim Schwarzfahren erwischt wird, könnte schon die
Behauptung des Schaffners: „Schwarzfahren ist unsozial, weil es auf Kosten der zahlenden
Fahrgäste geschieht“ spontan als petitio principii entlarven, bei der die Prämisse deshalb nicht
zur Unterstützung der Konklusion taugt, weil sie lediglich eine andere Formulierung der
Konklusion ist. Nichtsdestotrotz ist die interpretative Haltung, die beide
Kommunikationspartner auf dieser Stufe zueinander einnehmen, anders als auf der
vorhergehenden, eine symmetrische. Tritt jedoch der Theoretiker Robert Brandom hinzu und
beobachtet ihre Kommunikation, so entsteht wieder eine Asymmetrie, denn nur Brandom
kann die inferentiellen Folgefestlegungen explizit machen, die implizit in deren
Kontoführungspraktiken enthalten sind. Erst dann trifft der Theoretiker auf Wesen, mit denen
er gemeinsam Wir sagen kann, wenn sie, dank z.B. des logischen Vokabulars, das Brandom
in Begriffen der Kontoführung für sie rekonstruiert hat, in der Lage sind,
sagen zu können, was man ihnen als Tätigkeit unterstellt hat: sie können die impliziten praktischen
Richtigkeiten explizit machen, kraft derer sie überhaupt etwas explizit machen können. (EV 9.3.2.,
889)
Das Modell der diskursiven Praxis erreicht in diesem Moment expressive Vollständigkeit (EV
9.3.2., 888), d.h. dass es ein Vokabular entwickelt hat, mit dem es sich selbst beschreiben
kann. Dieses Vokabular ist, entsprechend der Doppelnatur diskursiver Praxis als Einsetzen
39
begrifflicher Gehalte und als Vererbung der Berechtigung dazu, sich auf diese Gehalte
festzulegen, also entsprechend ihrer semantischen und pragmatischen Dimension, ebenfalls
zweifach: normativ und logisch:
Zum einen artikuliert sich die pragmatische Dimension − was wir tun, indem wir etwas sagen − in
der normativ wirksamen Annahme und Zuschreibung des sozialen Status; zum anderen artikuliert
sich die semantische Dimension − der Gehalt dessen, was wir gedacht oder gesagt wird − in
inferenzialistischen Relationen (Verkettungen). Beide Dimensionen zusammengenommen,
ermöglichen es uns, überhaupt zu reden und zu denken. [DIE ZEIT, 5]
Dieses Vokabular steht dann den Diskursteilnehmern zur Verfügung, die es benutzen können,
um sich selbst gegenseitig und explizit in ihrer Praxis reflektieren zu können und so zu einem
pragmatisch-semantischem und sozialen Selbstbewusstsein zu gelangen:
Dabei helfen unser normatives Vokabular (Begriffe wie „sollte“ oder „müsste“ et cetera) und unser
logisches Vokabular (Formulierungen wie „wenn ..., dann ...“), die pragmatische und die
semantische Dimension in eine explizite Form zu übersetzen. […] Die Begriffe, die wir in
unserem normativen und logischen Vokabular verwenden, ermöglichen unser
pragmatisch−semantisches Selbst−Bewusstsein. (ebd.)
Der Unterschied zwischen nur implizit kontoführenden und explizit kontoführenden
Diskursteilnehmern besteht darin, dass letztere Behauptungen aufstellen können darüber,
worauf sich die anderen festgelegt haben, indem sie deren Äußerungen in die propositionale
Form einer Behauptung bringen, für die der andere sich dann, wenn sie seinem Diskurspartner
zweifelhaft erscheint, rechtfertigen muss. Angenommen ich frage jemanden am Telefon, der
gerade an seiner Mastearbeit schreibt, ob es ihm gut gehe und er antwortet: „Es geht so“, dann
könnte ich nachfragen: „Meinst du damit, dass es dir schlecht geht?“ Wenn er dann
entgegnet: „Ach, eigentlich läuft alles bestens“, so kann ich ihn darauf hinweisen, dass in dem
Fall die vorherige Behauptung, dass es nur „so gehe“, nicht berechtigt war. Ich kann meine
Kritik in der logischen Form eines Konditionals explizit machen und ihm mitteilen: „Wenn du
mit der Arbeit gut vorankommst, dann kannst du nicht zugeich behaupten, dass es nur ,so
geht‘.“ Das Vokabular, in dem explizit kontoführende Diskursteilnehmer die Äußerungen
implizit kontoführender Diskursteilnehmer zum Gegenstand einer öffentlichen Diskussion
machen können, ist das logische Vokabular. Wenn dann auch der andere die explitie
Einstellung einnimmt und auf meine Kritik erwidert: „Dass ,es so geht‘, bezog sich auf meine
Ohrenschmerzen. Deshalb stand mene Äußerung nicht im Widerspruch dazu, dass es mit der
40
Masterarbeit gut vorangeht“ und noch hinzufügt: „Wenn du behauptest, ich würde mir selbst
widersprechen, willst du damit sagen, dass ich nicht logisch denken kann?“, so ist
interpretatives Gleichgewicht hergestellt. Beide stehen sich gleichermaßen Rede und Antwort
im Spiel des Gebens und Forderns von Gründen. Gleichzeitig werden sie sich, da sie
gezwungen sind, diese mit logischem Vokabular explizit zu machen, ihrer eigenen
diskursiven Festlegungen im Gespräch bewusst. Die Logik erfüllt deshalb in diesen
Begründungsprozessen die Aufgabe eines „Organs des Selbstbewussteins“:
Das vollständige und explizite Interpretationsgleichgewicht in einer Gemeinschaft, deren
Mitglieder die explizite diskursive Einstellung zueinander einnehmen, ist das soziale
Selbstbewusstsein. Eine solche Gemeinschaft ist nicht nur ein Wir, ihre Mitglieder können auch im
vollsten Sinne „wir“ sagen. (EV 9.3.2., 891)
Das solcherart gewonnene Selbstbewusstsein ist kein individuelles, sondern ein kollektives.
Allerdings setzt sich dieses Kollektiv, das nun Wir sagen kann, aus kommunizierenden Ich-
Du-Dyaden zusammen, die wechselseitig den richtigen Gebrauch von Begriffen anerkennen
(oder infragestellen). Diese Anerkennungspraxis ist das „Herz“ und der Motor dieses Modells
diskursiver Praxis.
Gemeinschaften, die aus normativen Wesen bestehen, setzen sich aus Formen wechselseitiger
Anerkennung zusammen. Ebendies beschreibt die Art und Weise, in der aus einer Gruppe
konkreter, leibhaftiger Wesen ein gemeinschaftlicher Zusammenhang wird − von Hegel „geistig“
genannt. (DIE ZEIT, 2)
Zu Beginn dieses Kapitels hatten wir darauf hingewiesen, dass wir Brandoms Konzept von
Kommunikation und Verstehen vor dem Hintergrund seines Begriffs vom Begriff analysieren
wollten, da Brandom selbst auf die strukturelle Verbindung zwischen beiden Konzepten
wiederholt hinweist. Wenn die Begriffe einerseits unsere Geschöpfe, aber wir, als diskursive
Wesen, auch Geschöpfe unserer Begriffe sind (vgl. EV 9.3.2., 889), so muss die Antwort
darauf, wer wir sind, mit der Antwort darauf, was Begriffe sind, zusammenhängen. Indem
Brandom das, wer wir sind, durch eine Praxis, eine besondere Art des Wir-Sagens bestimmt,
offenbart sich die Brücke zwischen Begriffen und Begriffsverwendern: die Art des Gebrauchs
der Begriffe durch die Begriffeverwender. Die Art des Gebrauches bestimmt gleichermaßen
die semantischen Gehalte der Begriffe wie die normativen Status der Verwender.
41
Zwei wesentliche Eigenschaften von Begriffen und Behauptungen, ihre inferentiell
Gliederung und ihre perspektivische Natur, wurden bis zu diesem Punkt kritisch rekonstruiert.
Was noch aussteht, ist zu zeigen, dass sie auch die Eigenschaft der Geschichtlichkeit teilen.
Dass dies wahrscheinlich ist, kann man schon deshalb vermuten, da ein pragmatisches Modell
das Tun und damit den Prozess immer schon mitdenken muss. Dieses Tun besteht in
Brandoms Modell in der wechselseitige Anerkennungspraxis mit Bezug auf Berechtigungen
zu Festlegungen, welche die Kommunikation normativ strukturieren. Diese dynamische
Anerkennungstruktur soll im folgenden, mit besonderer Rücksicht auf Brandoms Referenzen
zu Hegel, untersucht werden.
Der zentrale Begriff bei Hegel, der Brandom insbesondere zu faszinieren scheint, ist der des
„Absoluten Wissens“. Diesen verbindet er mit dem Zustand des expliziten interpretativen
Gleichgewichts, bzw. der expressiven Vollständigkeit einer Theorie diskursiver Praxis:
In Begriffen von Hegels Phänomenologie haben sich die phänomenalen Einstellungen, deren
Entwicklung betrachtet wird, so weit entwickelt, dass sie mit der phänomenologischen Sicht
zusammenfallen, aus der wir sie die ganze Zeit betrachtet haben. Hegels aufregende Bezeichnung
für diese Art expliziten interpretativen Geichgewichts lautet „Absolutes Wissen“. (EV,
Anmerkung 35, 973)
In anderen Worten: Die phänomenalen Einstellungen, die vom Forscher beobachtet werden,
sind die Einstellungen, die die diskursiven deontischen Kontoführer zueinander einnehmen.
Diese bestehen zunächst nur in einem impliziten Wissen um den angemessenen
Begriffsgebrauch innerhalb von normativ strukturierten Begründungspraktiken. Wenn diese
Kontoführungspraktiken als solche zum Gegenstand des Diskurses werden, d.h. durch
logisches und normatives Vokabular explizit gemacht werden können, dann fallen die
Einstellungen der Diskursteilnehmer innerhalb der beobachteten Diskursgemeinschaft mit der
Einstellung des Forschers, der die explizite intentionale Einstellung zu ihnen einnahm (indem
er ihnen ursprüngliche Intentionalität zuschrieb), zusammen – denn auch sie sind nun in der
Lage, die explizite intentionale Einstellung dem Beobachter gegenüber einzunehmen.
Außenperspektive und Innenperspektive fallen in eins, der Beobachter ist inkludiert, ein Wir
ist im Wir-Sagen „geboren“:
Endlich kommt jene Kontoführung, die – in den Augen des externen Interpreten – die interne und
konstitutive der interpretierten Gemeinschaft ist, mit der Kontoführung des Interpreten zur
42
Deckung, der den Mitgliedern dieser Gemeinschaft diskursive Praktiken zuweist. Die externe
Interpretation fällt mit der internen Kontoführung zusammen. Anderen diskursive Praktiken
zuzuweisen, ist also eine oder eine andere Form des „Wir“-Sagens. Es bedeutet, sie als
unseresgleichen anzuerkennen. (EV 9.3.3., 892)
Hegel drückt das Zusammenfallen der internen und externen Perspektive im Prozess der
Selbsterkenntnis des Geistes – „[des] sich in Geistesgestalt wissende[n] Geist[es]“ – in seiner
Redeweise in der „Phänomenologie des Geistes“ wie folgt aus:
Diese letzte Gestalt des Geistes, der Geist, der seinem vollständigen und wahren Inhalte zugleich
die Form des Selbsts gibt und dadurch seinen Begriff ebenso realisiert, als er in dieser Realisierung
in seinem Begriffe bleibt, ist das absolute Wissen;45
Das absolute Wissen ist ein „begreifendes Wissen“ (ebd.), insofern es darin besteht, das
implizite praktische Wissen (um den angemessenen Begriffsgebrauch in
Begründungspraktiken) in ein nicht nur explizites, sondern explizit-machendes Wissen um die
eigene diskursive Tätigkeit zu verwandeln. Der Buchtitel „Begründen und Begreifen“ fasst
genau diese Einsicht in sich. Dem Inhalt des Geistes eine entsprechende Form zu geben,
bedeutet in Brandoms Modell, den perspektivisch-inferentiell gegliederten Gehalt von
Begriffen in der Begrifflichkeit deontischer Kontoführung eine explizite Form zu geben, in
der die Kontoführer ihre eigenen Praktiken, durch die sie sich konstituieren, zum Gegenstand
ihrer Reflexion machen und so semantisches Selbstbewusstsein erlangen können. Der Geist
realisiert sich in seinen Begriffen, wie die Begriffe die Seinsweise des Geistes sind. Dies
meint Brandom, wenn er davon spricht, dass wir gleichermaßen Geschöpfe unserer Begriffe
sind, wie die Begriffe Geschöpfe unserer diskursiven Praktiken sind.
Wichtig ist, dass weder in der hegelschen Selbsterkenntnis des Geistes im Anderen, noch in
Brandoms explizitem vollständigen interpretativen Gleichgewicht, Subjekt und Objekt
miteinander verschmelzen, sondern dass zwischen deren Perspektiven in einer gemeinsamen
Praxis vermittelt wird, die die Unterscheidung zwischen Ich und Anderem benötigt, um nicht
zum Stillstand zu kommen. Hegel betont, dass die „reine Sich-Selbst-Gleichheit im
Anderssein“ (PhdG, 41) kein Zur-Ruhe-Kommen der Bewegung des Begriffes oder des
Geistes darstellt. 45 Hegel, G.W.F. (1988): Phänomenologie des Geistes. Hamburg. S. 523. [PhdG]
43
Indem der Begriff das eigene Selbst des Gegenstandes ist, das sich als sein Werden darstellt, ist es
nicht ein ruhendes Subjekt, das unbewegt die Akzidenzen trägt, sondern der sich bewegende und
seine Bestimmungen in sich zurücknehmende Begriff. (PhdG, 45)
Nur als deontische Kontoführung Praktizierende, unserem Selbstsein als diskursive Wesen in
unserem Werden oder Vollzug diskursiver Praxis, können wir ein soziales semantisches
Selbstbewusstsein erlangen. Diese Denkfigur erinnert an Aristoteles Begriff der Seele des
Menschen als entelechie, die sich nur im „Stoff“ als Im-Werk-Sein, als energeia, verwirklicht
– und auf die Hegel direkt verweist.46 Er nimmt diese Denkfigur in der Metapher des
Kreisziehens auf, die ein implizites Wissen um die Gestalt des Kreises voraussetzt: „Es [das
Wahre, das Subjekt] ist das Werden seiner selbst, der Kreis, der sein Ende als seinen Zweck
voraussetzt und zum Anfang hat, und nur durch die Ausführung und sein Ende wirklich ist.“
(PhdG, 14) Die Sich-selbst-Gleichheit des Geistes im Anderssein ist das Ergebnis einer
„Kreisbewegung“, die von der unvermittelten Sich-selbst-Gleichheit des Geistes für sich über
seine Negation auf eine höhere Ebene der Sich-selbst-Gleichheit an und für sich führt – also
einer Spirale ähnelt.
Denn der sich selbst wissende Geist, eben darum, dass er seinen Begriff erfasst, ist er die
unmittelbare Gleichheit mit sich selbst, welche in ihrem Unterschiede die Gewissheit vom
Unmittelbaren ist, oder das sinnliche Bewusstsein, – der Anfang von dem wir ausgegangen; dieses
Entlassen seiner aus der Form seines Selbsts ist die höchste Freiheit und Sicherheit seines Wissens
von sich. (PhdG, 529)
Die höchste Sicherheit des Wissens des Geistes von sich selbst ist eben jenes „absolute
Wissen“, in dem der Geist sich selbst im Anderen zum Gegenstand oder Begriff und damit
explizit wird. „Absolutes Wissen“ ist deshalb kein Wissen, über das hinaus nichts mehr
gewusst werden kann, denn wäre dies der Fall, so käme die Bewegung des Geistes zum
Stillstand. Stillstand aber ist für Hegel gleichbedeutend mit dem Tod des Bewusstseins und
deshalb für seine Analyse uninteressant.47
Der Kreis, der in sich geschlossen ruht und als Substanz die Momente hält, ist das unmittelbare,
46 Aristoteles habe die Natur als zweckmäßiges Tun bestimmt. Hegel bestimmt das Subjekt/den Geist oder die Vernunft als zweckmäßiges Tun: „Der Zweck ist das Unmittelbare, das Ruhende, welches selbst bewegend, oder Subjekt ist.“ (PhdG 16) 47 Für Brandom würde dies bedeuten, dass die Perspektiven des Interpretierenden und des Interpretierten zu einer verschmelzen würden, so dass Kommunikation nicht mehr nötig wäre.
44
nicht verwundersame Verhältnis. […] Die Tätigkeit des Scheidens ist die Kraft und Arbeit des
Verstandes, der verwundersamsten und größten oder vielmehr absoluten Macht. […] (PhdG, 25)
Das unmittelbare unvermittelte Bewusstsein, das keiner Interpretation bedarf, ist wie starr.
Erst durch die Setzung des Anderen entsteht der Bedarf zur Vermittlung und Übersetzung, die
die Fähigkeit des Verstandes zur Unterscheidung der Perspektiven „aktiviert“. Es ist
naheliegend, dass absolutes Wissen nur durch eine absolute Macht erlangt werden kann, die
Hegel die „Macht des Negativen“ nennt (ebd.). Beim „Absoluten Wissen“ handelt es sich um
ein „Know-How“ oder Tätigkeitswissen, ein Wissen um den produktiven (dialektischen)
Umgang mit dem Negativen, dem Nicht-Ich, dem Anderen – oder der Perspektivendifferenz
im Kontext von Brandoms Modell diskursiver Praxis.
Das Subjekt, welches darin besteht, dass es der Bestimmtheit in seinem Elemente Dasein gibt, die
abstrakte, d.h. nur überhaupt seiende Unmittelbarkeit aufhebt und dadurch die wahrhafte Substanz
ist, das Sein oder die Unmittelbarkeit, welche nicht die Vermittlung außer ihr hat, sondern diese
selbst ist. (PhdG, 26)
Das Subjekt/Begriff ist Vermittlung, ist Tätigkeit der Reflexion und nur als solches/r objektiv
wirklich. „Ich ist in ihm [dem Inhalt, den das Ich von sich selbst unterschieden hat, der
zugleich die Bewegung des Sich-selbst-Aufhebens ist] als unterschiedenem in sich reflektiert;
der Inhalt ist allein dadurch begriffen, dass Ich in seinem Anderssein bei sich selbst ist.“
(PhdG, 523) Hegel fasst in diesen Worten, was Brandom als alltägliche Kommunikation aus
der internen Perspektive beschreibt, bei der wir zueinander die implizite
Kontoführungseinstellung einnehmen. Trotzdem gilt dies auch für den Fall des
Fremdverstehens unter der externen Perspektive, d.h. wenn ein Interpret zu einer
Gemeinschaft mit uns fremden Praktiken die explizite Kontoführungseinstellung einnimmt.
Hierauf weist auch Werner Vogd in seinem Kapitel zu Brandoms Expressiver Vernunft in
seinem Buch „Systemtheorie und rekonstruktive Sozialforschung: eine empirische
Versöhnung“ hin48:
Die Interpretation des Fremden stellt hier strukturell nichts anderes dar als die Interpretationsleistungen, die in jeder Kommunikation vollzogen werden, nämlich die perspektivische Konstitution einer Differenz zu sich selber in der Praxis der deontischen Kontoführung. Der Modus hierzu ist der indizierende Vergleich. Der Interpretierte wird hier sozusagen sozialperspektivisch in den eigenen Sinnzusammenhang integriert. Verschiedene,
48 Vogd, Werner (2005): „Exkurs. Brandoms Expressive Vernunft“. In: Systemtheorie und rekonstruktive Sozialforschung: eine empirische Versöhnung. Opladen. S. 151-163. S. 160.
45
jeweils in sich schlüssige, inferentielle Netzwerke können und dürfen nebeneinander bestehen, werden gleichzeitig ineinander eingeführt ohne dass die Differenz zwischen selbst and anderem hierdurch getilgt wird (Vogd, 2005, 160)
Auch wenn sich starke Parallelen in Bezug auf begriffliche Strukturen zwischen Brandom und
Hegel ziehen lassen und diesen auch dem Verständnis von Brandoms Theorie sehr dienlich
sind, bin ich mit Thomas Auinger der Ansicht, dass Brandoms Theorie nicht auf einen Neo-
Hegelianismus reduzierbar ist, sondern dass es sich, aus Brandoms Sicht, vielmehr um eine
„produktive Rückbesinnung“ handelt, treu dem Brandomschen Motto: „Traditions are lived
forward but understood backward.“ (TMD, 45)49 In einem Interview mit Susanne
Schellenberg fasst Brandom zusammen, inwiefern er Hegels Vorstellung vom absoluten
Wissen für seine Theorie und damit die Weiterentwicklung der analytischen Philosophie
fruchtbar gemacht hat:
Meines Erachtens ist das absolute Wissen für Hegel die Stufe, auf der wir unsere logischen Mittel
vollkommen entwickelt haben, d.h. indem wir die begrifflichen Mittel haben, um jeden Aspekt
unserer diskursiven Praxis explizieren zu können. Aber auch für Hegel folgt daraus nicht, dass die
Gehalte unserer gewöhnlichen empirischen Begriffe uns jemals vollständig transparent werden.
Nach meiner Interpretation von Hegel macht gerade der Umgang mit deren empirischem und
praktischem Gehalt diese Begriffe unerschöpflich – wobei sich keiner ihrer Teile grundsätzlich
einer logischen Explizierung verschließt. Der Gedanke, sie vollkommen zu explizieren, ist selbst
für Hegel inkohärent, so wie ich ihn verstehe. Lediglich die logischen Begriffe (in meinem und ich
denke auch in Hegels Sinn) können wir vollständig explizieren.50
Was das System diskursiver Praxis in Bewegung hält, ist die prinzipiell „unerschöpfliche und
unabschließbare phänomenale Begriffs-Entwicklung“ (Auinger, 2005, 6). Dass begriffliche
Gehalte mit jeder Äußerung eine neue Bedeutungsnuance erhalten, hatte Brandom damit
erklärt, dass „ein Satz gewöhnlich im Munde verschiedener Personen nicht dieselbe
Signifikanz hat, auch wenn sie die Sprache noch so weitgehend teilen und sich wechselseitig
noch so gut verstehen.“ (EV 8.2.1 708). Der Grund bestehe in der Natur des Begrifflichen als
inferentiell und perspektivisch strukturiert. Je nach Perspektive – als was man etwas ansieht
oder gebraucht – und der mit ihr verbundenen empirischen Gegegebenheiten und
49 Auinger, Thomas (2005): Praxis und Objektivität. Anmerkungen zu Robert Brandoms postanalytischer Hegel-Interpretation. In: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus, Bd. 3, Deutscher Idealismus und die analytische Philosophie der Gegenwart, Hrsg. von Karl Ameriks und Jürgen Stolzenberg, Berlin/New York. S. 162-179. – Online unter: http://univie.academia.edu/ThomasAuinger/Papers/423436/Praxis_und_Objektivitat [Abruf 18.08.11] S. 1. 50 Brandom, Robert, B. (1999): Von der Begriffsanalyse zu einer systematischen Metaphysik. Interview mit Susanna Schellenberg. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Berlin 47/6 (1999) S. 1005-1020. S. 1012.
46
Hintergrundfestlegungen, verändert sich der de re-Sinn des Gesagten. Vollständigkeit oder
Totalität lässt sich deshalb nur mit Blick auf die Explizierung der Praxis, des Wie des
Begriffsgebrauchs herstellen, das Wissen um das „Was“ (was wir sind) kann „nur“ absolut,
nicht total sein. Aus dieser Tatsache ergibt sich auch die zeitliche und historische Dimension, die in den
reziproken Anerkennungsprozessen diskursiver Praktiken implizit enthalten ist. Wenn ich zu
etwas Gesagtem Stellung beziehe, zu beziehe ich mich prinzipiell auf etwas Vergangenes.
Sowohl, wenn ich extern prüfe, ob das, was ein anderer gesagt hat, mit zuvor von ihm
Geäußerten vereinbar ist oder nicht, als auch wenn ich intern prüfe, ob meine gegenwärtige
Behauptung, vor dem Hintergrund dessen, was ich zuvor gesagt habe und worauf ich mich
damit festgelegt habe, begründet und berechtigt ist. Auch im Fall der internen Prüfung gehe
ich in der Zeit zurück und vergleiche meinen gegenwärtigen Begriffsgebrauch mit meinem
vergangenen Begriffsgebrauch, aber auch mit der Erinnerung daran, wie ihn andere, deren
Begriffsgebrauch ich anerkannt habe, gebraucht haben und worauf diese sich damit festgelegt
haben etc. Mit Bezug auf Hegels Modell des Geistes, der durch seine geschichtlichen
Gestalten hindurch zum Bewusstsein seiner selbst gelangt, erklärt Brandom in den „Tales“,
inwiefern die normative Struktur des Entwicklungsprozesses, in der Begriffe ihre Gehalte im
Gebrauch erlangen, als „Anerkennungsstruktur der Tradition“, d.h. als historischer Prozess
verstanden werden kann:
Die Struktur der reziproken Anerkennung, innerhalb welcher der Geist als ganzer zu
Selbstbewusstsein kommt, ist geschichtlicher Art. Es handelt sich um eine Beziehung zwischen
Zeitebenen des Geistes, in welchem die Gegenwart die Autorität der Vergangenheit anerkennt und
umgekehrt Autorität über sie ausübt, wobei ihre Konflikte von der Zukunft ausgehandelt werden.
Das ist die Anerkennungsstruktur der Tradition, die die normative Struktur des
Entwicklungsprozesses artikuliert, in welchem Begriffe ihre Gehalte durch Anwendung in der
Erfahrung erwerben […] Indem man diese Struktur explizit macht, gelangt man zu jener Art von
Selbstbewusstsein, die Hegel „Absolutes Wissen“ nennt, und von dem ich hier einige Umrisse
nachzeichnen wollte.51
Wieder bei Hegel, findet sich diese Denkfigur mit Bezug auf die Bestimmung des Wesens des
Begrifflichen als Tätigkeit des Geistes:
51 Brandom, Robert B. (1999): Pragmatistische Themen in Hegels Idealismus. Unterhandlung und Verwaltung der Struktur und des Gehalts in Hegels Erklärung begrifflicher Normen. Aus dem Amerikanischen von Reiner Ansén. DZPhil, Berlin 47 (1999), 3, S. 355-381. S. 381.
47
Denn der Begriff ist das Allgemeine, das in seinen Besonderungen sich erhält, über sich und sein
Anderes übergreift und so die Entfremdung, zu der er fortgeht, ebenso wieder aufzuheben die
Macht und Tätigkeit ist. […] Denn weil das Denken sein Wesen und Begriff ist, ist er letztlich nur
befriedigt, wenn er alle Produkte seiner Tätigkeit auch mit dem Gedanken durchdrungen und sie so
erst wahrhaft zu den seinigen gemacht hat.52
Wenn man beides, Hegel und Brandom, zusammenliest, so ergibt sich folgendes: „Denn der
Begriff [die Anerkennungsstruktur der Tradition] ist das Allgemeine, das in seinen
Besonderungen [den jeweiligen, geschichtlichen Gehalten des Begriffs] sich erhält, über sich
und sein Anderes übergreift und so die Entfremdung, zu der er [in der Auseinandersetzung
mit ehemaligen Gehalten] fortgeht, ebenso wieder aufzuheben die Macht und Tätigkeit ist
[indem er den vergangenen Begriffsgebrauch als seine Geschichte rekonstruiert]“. Das
Selbstbewusstsein, das durch diese Tätigkeit gewonnen werden kann, ist nach Hegel ein
„absolutes“ oder begreifendes/begriffliches/explizitmachendes Wissens um die Einheit vom
Ich und dem/den Anderen als ein Wir-Sagen, das als Allgemeines „in seinen Besonderungen“
oder Individuen „sich [im diskursiven Kontoführen] erhält“. Dieses Wir-Sagen ereignet sich
im wechselseitigen Einnehmen der expliziten Kontoführungseinstellung zueinander, innerhalb
des Rahmens des vollständigen und expliziten Interpretationsgleichgewichts. In dieser Einheit
sind Ich und Anderer in produktiver Unterscheidung aufgehoben. In der Einleitung zur
„Ästhetik“ beschreibt Hegel diese Praxis wie folgt.
[…] so liegt die Macht des denkenden Geistes darin, nicht etwa nur sich selbst in seiner
eigentümlichen Form als Denken zu fassen, sondern ebensosehr […], sich in seinem Anderen zu
begreifen, indem er das Entfremdete zu Gedanken verwandelt und so zu sich zurückführt.
Und der denkende Geist wird sich in dieser Beschäftigung mit dem Anderen seiner selbst nicht
etwa ungetreu, so dass er sich darin vergäße und aufgäbe, noch ist er so ohnmächtig, das von ihm
Unterschiedene nicht erfassen zu können, sondern er begreift sich und sein Gegenteil. […]
Denn weil das Denken sein Wesen und Begriff ist, ist er letztlich nur befriedigt, wenn er alle
Produkte seiner Tätigkeit auch mit dem Gedanken durchdrungen und sie so erst wahrhaft zu den
seinigen gemacht hat.53
Der Andere ist „sein“ Anderer, sie bilden ein „Wir“, weil der denkende Geist den Anderen
selbst durch Setzung (oder Zuschreibung) als Anderen „erschaffen“ hat. Brandom erklärt 52 Hegel, G.W.: Ästhetik. www.textlog.de/3422-4.html [Abruf 02.02.11.] 53 Ebd.
48
deshalb, dass „etwas von jemandem als intentionales System betrachtet oder behandelt wird, […] in
der Reihenfolge der Erklärung vor der Tatsache, dass es ein intentionales System ist [rangiert]. “ (EV
1.6.2., 109) Denn
[…] jedes Sein, das der Verstand produziert, ist ein Bestimmtes, und das Bestimmte hat ein
Unbestimmtes vor sich und hinter sich, und die Mannigfaltigkeit des Seins liegt zwischen zwei
Nächten, haltungslos; sie ruht auf dem Nichts, denn das Unbestimmte ist Nichts für den Verstand
und endet im Nichts.54 55
Indem der Geist dadurch, dass er das Entfremdete, das als den „Anderen“ nach außen
Gesetzte „in Gedanken verwandelt“ und so zu sich zurückführt (es sozusagen „explizit
macht“) setzt er sich zum „Herrn über das Verhältnis“ und „begreift sich und sein Gegenteil“.
Die kommt auch im Schlusssatz von Brandoms „Making it Explicit“ zum Ausdruck, wo es
heißt, dass wir, indem wir „es explizit machen, uns selbst explizit machen“. Die Leistung, die
wir als rationale sprachbegabte Wesen vollbringen können besteht darin, dass wir uns als
dasselbe im Entgegengesetzten erkennen können – oder, mit Brandom, dass wir im „Wir-
Sagen“ „sie als uns anerkennen“(„recognizing them as us“ (ME 9.3.3., 644). Dieses
Entgegengesetzte ist nach Hegel kein fester Gegensatz, sondern eine „notwendige
Entzweiung“, die Lebendigkeit erst ermöglicht:
[… ] die notwendige Entzweiung ist ein Faktor des Lebens, das ewig entgegensetzend sich bildet,
und die Totalität ist in der höchsten Lebendigkeit nur durch Wiederherstellung aus der höchsten
Trennung möglich.56
Festgewordene Gegensätze – wie Geist und Materie, Freiheit und Notwendigkeit, absolute
Subjektivität und Objektivität etc. – aufzuheben, das sei nach Hegel das einzige Interesse der
Vernunft (ebd.). In derselben Weise wendet sich Brandom gegen einen „Dualismus“, den er
von der Unterscheidung abgrenzt, in welcher die aufeinander bezogenen Elemente sich
gegenseitig als in Beziehung Stehende verständlich machen können: „Eine Unterscheidung
wird zum Dualismus, wenn ihre Bestandteile so unterschieden werden, dass ihre
charakteristische Beziehung zueinander letztlich unverständlich wird.“ (EV 9.1.1., 852) Die 54 Das bedeutet auch, dass es für den Verstand keine Welt gibt, die nicht begrifflich strukturiert wäre – denn wäre sie es, wäre sie für ihn ein Nichts! 55 Hegel, G.W.F.: Werke in 20 Bänden mit Registerband, Bd. 2: Jenaer Schriften 1801-1807. Frankfurt a. Main 1986 (6. Auflage.). S. 26. 56Hegel, G.W.F. (61986): Werke in 20 Bänden mit Registerband, Bd. 2: Jenaer Schriften 1801-1807. Frankfurt/M., S. 21-22. Hervorhebungen durch mich.
49
Unterscheidung in Interpretierten/Interpretierte und Interpretierenden ist in der expliziten
Kontoführungseinstellung nur eine Unterscheidung in Bezug auf die Rollen, die beständig
getauscht werden. Diese Unterscheidung ist für den Diskurs und die Generierung und
Tradierung/Vererbung begrifflicher Gehalte produktiv. Diskursive Praktiken im Vokabular
deontischer Kontoführung explizit zu machen, ermöglicht es, eine „Geschichte zu erzählen“,
die erklären soll, „warum wir uns von dem Nicht-wir, das uns umgibt, sowohl unterscheiden
als auch zu ihm in Beziehung stehen.“ (EV 9.2.2., 867).
Die Methode, um festgewordene Gegensätze aufzuheben, besteht nach Hegel darin „das
Gewordensein der intellektuellen und reellen Welt als ein Werden, ihr Sein als Produkte als
ein Produzieren zu begreifen“57 – m.a.W.: im begreifenden Nachvollzug der
Entstehungsgeschichte von Begriffen in sozialen Praktiken, geht es Brandom darum, sie als
etwas Geschichtliches zu begreifen, das auch in der Gegenwart als Werden in die Zukunft
wirkt. Auf diese Weise pflanzt sich die Eigenschaft des Begriffes, auf verschiedenen
Zeitebenen gleichzeitig zu agieren, in den diskursiven Praktiken fort. Die Struktur der
Bewegung des Begriffs ist das Geben und Nehmen von Gründen in der Gestalt
wechselseitiger Interpretation oder deontischer Kontoführung.
Zusammenfassung
Ausgangspunkt der Untersuchung des Konzepts der Kommunikation und des Verstehens bei
Brandom war die These, dass diese Konzepte wesentlich und strukturell mit Brandoms
Begriff vom Wesen des Begrifflichen zusammenhängen. Es wurde angenommen, dass sich
die Eigenschaften des Begrifflichen, seine inferentielle Gliederung, die Perspektivität seiner
Gehalte und das Sein als Tätigkeit oder geschichtlicher Vollzug, sich in der diskursiven Praxis
als deontisches Kontoführen wiederfinden. Alle drei Aspekte fanden in der diskursiven Praxis
ihre Entsprechung. Wenn im Folgenden die Kritik an Brandoms Modell durch Habermas
untersucht wird, muss dies im Hintergrund behalten werden. Wenn es so ist, wie Brandom
sagt, dass sich seine Meinungsverschiedenheit mit Habermas auf einem unterschiedlichen
Verständnis des Begrifflichen bei Hegel gründet, so muss Habermas Kritik daran gemessen
werden, inwiefern sie Brandoms Verständnis von Hegel gerecht wird.
57 Ebd. S. 22.
50
3. Habermas Kritik an Brandom
3.1. Zusammenfassender Überblick über Habermas’ Modell des
kommunikativen Handelns als Einleitung zu seiner Brandom-Kritik
Das Projekt, das Habermas in seiner Theorie des kommunikativen Handelns verfolgt, ist ein
aufklärerisch-kritisches. Er will eine „Theorie des kommunikativen Handelns einführen, die
die normativen Grundlagen einer kritischen Gesellschaftstheorie aufklärt“ (TKH II, 583; vgl.
I, 8). Als durchgehender Bezugspunkt dient ihm die Frage „ob und gegebenenfalls wie die
kapitalistische Modernisierung als ein Vorgang vereinseitigter [d.h. funktionalistischer]
Rationalisierung begriffen werden kann.“ (TKH I, 202) Habermas selbst nennt drei
Themenkomplexe, die miteinander verschränkt seien und die sich durch den Begriff des
kommunikativen Handelns erschließen würden (TKH I, 8): den Begriff der kommunikativen
Rationalität, das zweistufige Konzept der Gesellschaft, das die Paradigmen Handlung und
System verknüpft und eine Theorie der Moderne, die deren Paradoxien als „Kolonialisierung“
der kommunikativ strukturierten Lebenswelt durch die Zwänge formal organisierter
Handlungssysteme wie das System des Marktes oder der Verwaltung, die sich
verselbstständigt hätten, erklärt. (ebd.)
Er beginnt mit einer theoriegeschichtlichen Untersuchung, in deren Rahmen er – als
Erweiterung des seiner Ansicht nach zu eng gefassten Begriffs der Zweckrationalität (vgl.
Weber) – den Begriff der kommunikativen Rationalität als Mechanismus zur
Handlungskoordinierung entwickelt. (vgl. TKH I, 370) Es folgen systematische
Untersuchungen, die in einem zweistufigen Konzept der Gesellschaft münden, „welches die
Paradigmen Lebenswelt und System auf eine nicht nur rhetorische Weise verknüpft.“ (TKH I,
8; Anspielung auf Luhmann). Abschließend beschreibt er eine Theorie der Moderne, „die den
Typus der immer sichtbarer werdenden Sozialpathologien mit der Annahme zu erklären
versucht, dass die kommunikativ strukturierten Lebensbereiche den Imperativen
verselbstständigter, formal organisierter Handlungssysteme unterworfen werden.“ (ebd.) Was
er damit sagen will, ist, dass die systemimmanenten Mechanismen der Ökonomie und des
Staates in Form einer fortschreitenden Monetarisierung und Bürokratisierung der sozialen
Lebenswelt Gefahr laufen, eine Eigendynamik zu entwickeln und dadurch die
kommunikativen Grundlagen derjenigen Lebenswelt untergraben würden, aus der sie
51
hervorgegangen sind und der sie ursprünglich dienen sollten. In dieser abschließend
formulierten Theorie der Moderne führt er nun seine theoriegeschichtlichen und
systematischen Untersuchungen zusammen, um die von ihm diagnostizierte Krise der
Moderne, die unter den krankhaften Auswüchsen einer funktionalistischen Rationalität leide,
zu überprüfen und die Aufgaben zu formulieren, die einer kritische Gesellschaftstheorie unter
diesen Voraussetzungen zukämen. (Vgl. TKH I, 202f.) Was er durch die Bereitstellung seiner
kritische Analyse erreichen will, ist die Möglichkeit einer Immunisierung der
kommunikativen Autonomie der sozialen Akteure gegen die Übergriffe der
Technokratisierung durch erfolgreiche rationale diskursive Verständigung. Die
kommunikative „Vernunft der Verständigung“, deren kritische Macht von der Kompetenz der
Diskursteilnehmer in Bezug auf die Beherrschung diskursiven Begründungspraktiken
abhängt, ist sozusagen das „Antidot“ gegen die funktionalistische Vernunft. Denn „dieselben
Strukturen, die Verständigung ermöglichen, sorgen auch für die Möglichkeiten einer
reflexiven Selbstkontrolle des Verständigungsvorgangs.“ (TKH, I, 176) M.a.W.: Aus der
kommunikativen Rationalität, die im Alltagshandeln verkörpert ist, kann eine reflexive
Diskursrationalität erwachsen, die in einer reflektierten Argumentations- und
Begründungskultur zum Ausdruck kommt. Diese wiederum schützt die Autonomie der
Diskursteilnehmer gegen Übergriffe der funktionalistischen Rationalität. Eine Theorie des
kommunikativen Handelns muss deshalb auch eine Theorie der kommunikativen Kompetenz
enthalten, welche die „Leistungen […] [erklärt], die Sprecher oder Hörer mithilfe
pragmatischer Universalien vornehmen, wenn sie Sätze in Äußerungen transformieren“.58
Anders, als bei Brandom, steht bei Habermas also die Kommunikation – nicht nur im Titel
seines Hauptwerkes – im Zentrum. Kommunikation definiert Habermas als „die Interaktionen,
in denen Beteiligte ihre Handlungspläne koordinieren“. Dabei bemesse sich das jeweils
erzielte Einverständnis an der wechselseitigen Anerkennung von Geltungsansprüchen.59
Kommunikation ist aber noch nicht gleich kommunikatives Handeln. Letzteres hat eine
besondere, eine kooperative Qualität, die zum bloßen Kommunizieren hinzukomme:
Hingegen spreche ich von kommunikativen Handlungen, wenn die Handlungspläne der beteiligten
Aktoren nicht über die egozentrischen Erfolgskalküle, sondern über Akte der Verständigung
58 Habermas, Jürgen (1971): „Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz“. – In: Maciejewski, Frank (Hg.) (1971): Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt a. M. S. 101-142. S. 103. [TGS] 59 Habermas, J. (1983): Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt am Main. S. 68. [MK]
52
koordiniert werden. Im kommunikativen Handeln sind die Beteiligten nicht primär am eigenen
Erfolg orientiert; sie verfolgen ihre individuellen Ziele unter der Bedingung, dass sie ihre
Handlungspläne auf der Grundlage gemeinsamer Situationsdefinitionen aufeinander abstimmen
können. (TKH, 385)
Hiermit ist ein klarer Zweck des kommunikativen Handelns formuliert: Verständigung.
Voraussetzung für Verständigung ist die grundsätzliche Bereitschaft der Diskursteilnehmer,
ihre individuellen Ziele zum Zweck des Gelingens der gemeinsamen „Unternehmung“ des
gesellschaftlichen Diskurses zurückzustellen oder zumindest anzupassen. Was die
Verständigung mit jemand über etwas ermöglicht, ist sie wechselseitige Anerkennung von
Geltungsansprüchen. Diese Geltungsansprüche sind, analog zur objektiven, sozialen oder
subjektiven Welt, auf die sich die Äußerungen eines Sprechers beziehen können, dreifach:
Die Aktoren erheben mit ihren Sprechhandlungen, indem sie sich miteinander verständigen
Geltungsansprüche, und zwar Wahrheitsansprüche, Richtigkeitsansprüche und Wahrhaftigkeits-
ansprüche je nachdem, ob sie sich auf etwas in der objektiven Welt (als der Gesamtheit
existierender Sachverhalte), auf etwas in der gemeinsamen sozialen Welt (als der Gesamtheit
legitim geregelter interpersonaler Beziehungen einer sozialen Gruppe) oder auf etwas in der
eigenen subjektiven Welt (als der Gesamtheit privilegiert zugänglicher Erlebnisse) Bezug nehmen.
[MK, 68]
Bei jeder Äußerung erhebe ich in der Regel den Anspruch, dass sie wahr ist, dass sie in Bezug
auf den geltenden normativen Kontext richtig bzw. angemessen ist und dass ich das, was ich
sage, auch so meine (d.h. wahrhaftig bin). Diese Geltungsansprüche kann ich durch
pragmatische Universalien – Konstativa, Regulativa und Repräsentativa (s.u.) – in
Sprechakten zum Ausdruck bringen. Kommunikative Kompetenz besteht, wie wir oben bereits
hingewiesen hatten, in den Leistungen von Sprechern und Hörern, wenn sie Sätze in
Äußerungen transformieren. (vgl. TGS, 103) Im Anschluss an Searle unterscheidet Habermas
Sätze und Ausagen: „Sätze sind linguistische Einheiten, sie bestehen aus sprachlichen
Ausdrücken. Äußerungen sind situierte Sätze, pragmatische Einheiten der Rede.“ (ebd.) Die
Situierung der Sätze erfolgt durch obengenannte. „pragmatische Universalien“. Bei diesen
handelt es sich um Sprechakte, die aufgrund ihrer impliziten Tiefenstruktur, die sich als
performativer Satz in der Rede zeigen, Strukturen der Redesituation erzeugen, – den Modus
der Kommunikation –, in welchem der vom performativen Satz abhängige propositionale
Satz erst seinen „pragmatischen Verwendungssinn“ erhält. (vgl. TGS, 105)
53
Mit Hilfe von Sprechakten erzeugen wir allgemeine Bedingungen der Situierung von Sätzen, also
Struktren der Redesituation; zugleich sind diese Strukturen aber auch in der Rede selbst vertreten –
eben als die sprachlichen Ausrücke, die wir pragmatische Universalien nennen. (TGS, 104)
Habermas gliedert diese Universalien, wie oben bereits erwähnt, in Kommunikativa,
Konstativa, Repräsentativa und Regulativa: Kommunikativa würden dazu dienen, den
pragmatischen Sinn der Rede überhaupt auszusprechen (sagen, fragen, antworten, einwenden,
wiedergeben etc.), Konstativa oder Formen des Behauptens (in assertorischer Verwendung
aber auch mit Bezug auf den Wahrheitsanspruch einer Aussage) dazu, den Sinn der kognitiven
Verwendung von Sätzen auszudrücken, zur Selbstdarstellung des Sprechers vor einem Hörer
dienten Repräsentativa (wissen, denken, meinen, hoffen, wünschen etc.) und Regulativa
hätten die Funktion, den Sinn der praktischen Verwendung von Sätzen auszudrücken
(befehlen, auffordern, bitten, versprechen, ermuntern etc.). (Vgl. TGS, 111 ff.)
Kommunikativa nehmen dabei eine Sonderstellung ein, denn das kommunikative Handeln als
solches, in dem alle Sprechakte vollzogen werden, hat ganz grundlegend den
Geltungsanspruch, der Verständigung zu dienen und kann sich auf alle „drei Welten“, die
objektive, die soziale und die subjektive Innenwelt, in reflexiver Weise beziehen. Insofern
übernimmt es eine integrierende Funktion:
[D]ie Diskursstruktur [der Begründungspraxis] [stiftet] unter den verzweigten
Rationalitätsstrukturen des Wissens, des Handelns und der Rede einen Zusammenhang, indem
sie die propositionalen [Wurzeln des Wissens], teleologischen [Wurzeln des Handelns] und
kommunikativen Wurzeln [der Rede] gewissermaßen zusammenführt. In einem solchen Modell
der verzahnten Kernstrukturen verdankt die Diskursrationalität ihre ausgezeichnete Stellung
nicht einer fundierenden, sondern einer integrativen Leistung. (WR, 104)
Aus der performative-propositionalen Doppelstruktur jedes Sprechaktes – der elementaren
Einheit der Rede oder Äußerung – leitet Habermas zwei Ebenen der Kommnikation ab: die
Ebene der Intersubjektivität, auf welcher Sprecher und Hörer miteinander sprechen (eine
performative Einstellung zueinander einnehmen), und die Ebene der Gegenstände (Objekte
oder Sachverhalte), über die sich Sprecher und Hörer verständigen. Diese zwei Ebenen finden
sich auch in der Aufsatzsammlung „Wahrheit und Rechtfertigung“ nicht zufällig unter dem
Abschnitt „Intersubjektivität und Objektivität“, in dem Habermas auch Brandom kritisiert. Es
ist ihm wichtig, diese zwei Kommunikationsebenen, die sich auf zwei Welten beziehen (die
54
soziale und die objektive) und die in der Praxis ineinander verschränkt sind, theoretisch zu
trennen. Auf der ersten Kommunikationsebene, der Ich-Du-Ebene, werden Äußerungen
aneinander addressiert und Stellungsnahmen voneinander erwartet. Beide
Kommunikationsteilnehmer handeln/sprechen miteinander. Auf der zweiten
Kommunikationsebene ist dieses Gespräch Gegenstand der Interpretation aus der Perspektive
eines Dritten, der beobachtet und die vorgetragenen Positionen im Stillen auf ihren jeweiligen
Geltungsanspruch hin bewertet. Dies „objektivistische“ Verständnis von menschlichen
Kommunikation, das er bei Brandom feststellt nd dem er vorwirft „die Poninte der
sprachlichen Verständigung zu vefehlen“ sei Ausdruck einer rein epistemischen, nicht einer
echten hermeneutischen Beziehung zwischen Sprechern. (Vgl. WR 175) Als Bild verwendet
Habermas in dem Abschnitt zu Brandom in „Wahrheit und Rechtfertigung“ eine
Gerichtsverhandlung. (Vgl. WR, 174) Der Richter, der aktiv im Verhandlungsgespräch
involviert ist, hört die Zeugen etc. an (und antwortet auch) – die Geschworenen, die sich aus
dem unmittelbaren Gespräch heraushalten, aber im Stillen Buch führen über den Wert der
vorgebrachten Beweise und Argumente, hören zu. Hörer und Zuhörer spielten damit in der
Kommunikation verschiedene Rollen: Hörer sind aktiv, Zuhörer passiv. Die Zuhörer werden
über bestimmte Sachverhalte und Argumente informiert, während der Hörer kommuniziert.
Der Hauptvorwurf von Habermas an Brandom konzentriert sich darauf, dass, weil dessen
Begriff von Kommunikation diese beiden Kommuniktionsebenen (und die objektive Welt der
Fakten mit der sozialen Welt der Normen) vermische, er der spezifischen Rolle der zweiten
Person in der intersubjektiven Verständigung nicht gerecht werde. (WR, 173). Was Brandom
als „Ich-Du-Beziehung“ bezeichne, sei in Wirklichkeit eine Ich-Er-Beziehung, d.h. eine
Beziehung „zwischen einer ersten Person, die Geltungsansprüche erhebt, und einer dritten
Person, die dem anderen Geltungsansprüche zuschreibt“. (WR, 173) Genauer betrachtet sei
dieser „Er“ sogar nur ein Es; ein unpersönliches Publikum, das die Äußerung des Sprechers
beurteile, kein Adressat einer Äußerung, der antworte. Habermas unterstellt Brandom damit
ein monologisches Konzept der (indirekten) Kommunikation, dem er ein dia- oder
polylogisches der unmittelbaren Kommunikation der Beteiligten entgegenstellt (WR, 174).
55
3.2. Rekonstruktion von Habermas Kritik an Brandoms Kommunikationsbegriff
und deren Bewertung mit Blick auf Habermas’ eigene Theorie
Die Kritik, die Habermas im Kapitel „Von Kant zu Hegel: Zu Robert Brandoms
Sprachpragmatik“ in seinem Werk „Wahrheit und Rechtfertigung“60 an Brandom richtet,
wendet sich auch gegen sein Modell von Kommunikation, geht aber von einer Kritik von
Brandoms Begriff vom Begriff aus. Wie in der Einleitung bereits erwähnt, kritisiert Habermas
Brandoms angeblichen Begriffsrealismus, aus dem er nicht nur – durch die infolgedessen
vollzogene Vermischung von objektiver und sozialer Welt und der Angleichung von
Tatsachen und Normen – „missliche Konsequenzen“ in „moraltheoretischer Hinsicht“ (WR,
154) ableitet, sondern – und das ist für diese Ausarbeitung von eigentlichem Interesse – auch
„missliche“ Folgen für das Verständnis davon, was Kommunikation ist – oder nach
Habermas: sein sollte. Dieses Vorgehen von Habermas unterstützt die These, die Brandom
geäußert hat und die ich stark machen möchte, dass die Wurzel seiner Differenz mit
Habermas in der Deutung des Wesens des Begrifflichen – und damit letztlich Hegels – liegt.
Worin die Kritik gipfelt, haben wir eben schon vorweggenommen. Um zu verstehen, wie
Habermas dorthin gekommen ist, soll seine Kritik nun schrittweise rekonstruiert werden.
Habermas gliedert seine Kritik in zwei Teile zu je drei Abschnitten: Im ersten Teil will er
mithilfe einer kritischen Rekonstruktion einen Überblick über den Ansatz als Ganzem geben,
wobei er einen besonderen Schwerpunkt auf die Verschränkung von Pragmatik und Semantik
legt (1.). Im Anschluss geht er der Frage nach, warum wir für Inhalte unserer Äußerungen
objektive Geltung beanspruchen dürfen. Die Antwort Brandoms darauf liest er als eine Form
des Begriffsrealismus, den er u.a. als nicht mehr zeitgemäß kritisiert. (2. u. 3.). Im zweiten
Teil (4.-6.) stellt er bei Brandom zunächst eine Bewegung von Kant zu Hegel fest und setzt
sich dann mit den Konsequenzen dieses diagnostizierten Begriffsrealismus für den Begriff der
Kommunikation (5.) und die Moraltheorie (6.) auseinander. (Vgl. WR, 139) Im Rahmen
dieser Arbeit interessiert zunächst die Rekonstruktion (1.-2.), die zeigt, wie Habermas
Brandom liest, um daraus die Diagnose eines Begriffsrealismus (3.-4.) verständlich zu
60 Auf Englisch veröffentlicht im European Journal of Philosophy, in welchem Brandom dann auch Stellung zu dieser Kritik bezogen hat: Habermas, J. (2000): From Kant to Hegel: On Robert Brandom’s Pragmatic Philosophy of Language. Review article. European Journal of Philosophy 8/3, S. 322–355. – Brandom, Robert (2000): Facts, Norms and normative Facts: A Reply to Habermas. European Journal of Philosophy 8/3 (2000), 356-374.
56
machen, ohne welche man Habermas Kritik an Brandoms Kommunikationsbegriff nicht
verstehen kann.
Habermas beginnt also mit einer kritischen Rekonstruktion von Brandoms Gedankengang und
schließt daran seine Kritik an, die er aus der Frage nach dem Objektivitätsgehalt sprachlicher
Äußerungen heraus entwickelt. Nach Habermas untersucht Brandom „diskursive Praktiken
aus der Sicht einer zweiten Person, die Wahrheitsansprüche zuschreibt und beurteilt“ (WR,
170), was zu einem „merkwürdig objektivistischen Verständnis diskursiven Verhaltens“ führe
(ebd.). Das Hauptproblem in Bezug auf die Objektivitätsfrage, laute: Wie kann ein fehlbarer
Interpret das vermeintliche vom berechtigten „Für-wahr-Halten“ unterscheiden, wenn er
selbst Diskursteilnehmer ist, also keinen objektiven Standpunkt außerhalb des Diskurses,
keinen „Gottestandpunkt“, einnehmen kann? (ebd.) Wie lassen sich dann Wahrheit und
objektiver Gehalt einer Äußerung feststellen? Die Beantwortung dieser Frage ist deshalb für
Habermas so wichtig, da Kommunikation für ihn in der Anerkennung von
Geltungsansprüchen, die ein Specher mit seinem Sprechakt erhebt und zu denen auch der
Wahrheitsanspruch zählt, der sich auf die „objektive“ Welt bezieht (die Habermas getrennt
sieht von der sozialen und der subjektiven). Die Strategien, die Brandom zur Lösung dieses
Problems vorschlägt, sind für Habermas, wie wir im folgenden zeigen werden, aus seiner
Sicht nicht befriedigend. Die Frage, die sich einem Betrachter dieser Auseinandersetzung
aufdrängt, bertrifft die Erwägung, wie wichtig es ist, ob etwas in dem Sinne objektiv wahr ist,
dass es unabhängig vom Diskurs in einer „objektiven Welt“ existiert, damit man sich über
seine Wahrheit verständigen kann.
In der Einleitung lobt Habermas Brandoms Ansatz als „innovative Verschränkung von
formaler Pragmatik und inferentieller Semantik“ (WR, 139). Er sieht darin eine
Weiterentwicklung des kantischen Ansatzes, der insofern pragmatisch sei, als er „den Geist“
als einen „mit Begriffen hantierenden“ begreift, „der unter den Beschränkungen einer von
ihm unabhängigen Welt rational sowie in den Grenzen der sozialen Umgebung selbständig
operiert“ (WR, 138). Dieser Satz beinhaltet eine Reihe von Prämissen: die Voraussetzung
einer von der Sprache unabhängigen und diese begrenzende Welt, die Begrenzung des
sprachlich-intellektuellen Horizonts durch den sozialen Kontext, das Postulat der Möglichkeit
autonomen Denkens und das Primat der Vernunft. Ob Brandom tatsächlich alle diese
Prämissen teilt, bleibt zu prüfen.
57
Brandom würde nun, so Habermas, durch das Modell des „Gebens und Nehmens von
Gründen“ für die Beschreibung des Vorgangs der Verständigung als ein Argumentationsspiel,
das Vokabular bereitstellen, mit dem sich die impliziten Praktiken, „in denen sich die
Vernunft und Autonomie sprach- und handlungsfähiger Subjekte äußert“, explizit machen
ließen (ebd.). Das Projekt der formalen Pragmatik, das Habermas mit Brandom verbindet,
besteht darin, ein formales Vokabular für das zu finden, was wir mit Sprache tun. Dieses
Vokabular ist bei Habermas das Vokabular der Formal- oder Universalpragmatik, bei
Brandom ist es das logische Vokabular: „Denn nun beginnen wir zu sagen, was wir tun, wenn
wir sagen, dass Leo ein Löwe ist.“ (BB, 34).
Indem ich solche Dinge sage, indem ich also logisches Vokabular gebrauche, kann ich die
impliziten inferentiellen Festlegungen explizit machen, die den Gehalt der Begriffe gliedern, welche
ich beim Aufstellen ganz gewöhnlicher expliziter Behauptungen verwende. (BB, 33f.)
Mit „explizit machen“ meint Brandom, dass das logisches Vokabular dazu in der Lage ist, die
implizite Folgerungsbeziehungen eines Begriffes zu anderen Begriffen seinerseits in eine
begriffliche Form zu bringen und sie durch dieses Verbegrifflichen begreifbar zu machen:
Dort, wo Explizitheit mit einer spezifischen begrifflichen Gliederung identifiziert wird […] läuft
das Ausdrücken [making it explicit] von etwas darauf hinaus, es zu verbegrifflichen: es also in
eine begriffliche Form zu bringen. (BB, 29)
Doch es bestehen nach Habermas nicht nur Anknüpfungspunkte zu Kant, wenn es um die
Pragmatik geht. Ebenso finden sich Anschlüsse an Wittgenstein und den Vorrang des
„Wissens-Wie“ (vor dem „Wissen-Dass“) sowie den Vorrang des Sozialen (vor der
Repräsentation) hinsichtlich der Beschreibung dessen, was wir mit Sprache tun. Das Wissen-
Wie beziehe sich auf das Wissen, wie man Sprache kommunikativ verwende, der Vorrang des
Sozialen beziehe sich auf das Primat der intersubjektiven Verständigung. Mit der
linguistischen Wende hätte nach Habermas nicht nur eine Abkehr vom Repräsentationsmodell
der Erkenntnis stattgefunden, sondern ein Übergang zu einem Kommunikationsmodell der
Verständigung (vgl. WR, 141). Darüber hinaus werde die gesellschaftsbildende Funktion von
Kommunikation offenbar.
Auf dem Wege kommunikativer Vergesellschaftung verstricken sie [die Mitglieder einer
Sprachgemeinschaft] sich in ein Netz intersubjektiver Beziehungen, in denen sie sich voreinander
58
verantworten müssen. Weil diese Verantwortung in der Münze von Gründen eingelöst werden muss,
bildet die diskursive Praxis des Gebens und Forderns von Gründen auch die Infrastruktur der
Alltagskommunikation. (WR, 141)
Habermas sieht in Brandoms Modell diskursiver Praxis als „Geben und Fordern von
Gründen“ die Möglichkeit einer Strukturbeschreibung der Alltagskommunikation. Ein
ähnliches Projekt hat er selbst mit der Formulierung seiner Formalpragmatik verfolgt, welche
die Aufgabe hat, die Tiefenstruktur unserer Alltagskommunikation, die durch verschiedene
Sprechakttypen bedingt wird, explizit zu machen. Wichtig ist, dass Habermas’ Projekt im
Rahmen seiner kritischen Gesellschaftheorie angesiedelt ist und letztlich ihren Zwecken
dienen soll. Interessanterweise sieht Brandom selbst den Gewinn seiner Theorie eher darin,
die „normative Feinstruktur der Rationalität“ (BB, 264) explizit machen zu können, d.h.
einen in die Lage zu versetzen, nicht nur etwas mit Begriffen zu tun, sondern auch zu sagen,
was man tut. Er sieht seine Theorie also eher im Rahmen einer Theorie vom Begriff als im
Rahmen einer Gesellschaftstheorie – auch wenn das explizite Wir-Sagen einen
gemeinschaftskonstituierende und damit vergesellschaftende Funktion hat. Dies ist aber im
Rahmen seines Projektes eher ein Nebeneffekt. So betont er in der Einleitung zu „Begründen
und Begreifen“, dass das „alles überragende Thema“ in diesem Werk das „Wesen des
Begrifflichen als solches“ sei (BB, 9). Und auch im Schluss der „Expressiven Vernunft“
(EV)61 betont er, dass der semantische Kern der von ihm vorgelegten Analyse der diskursiven
Praxis die in ihr enthaltene Theorie des begrifflichen Gehalts bilde (vgl. EV 9.1.1., 851) –
auch wenn er diesen Gehalt im expressiv-pragmatischen Vokabular der deontischen
Kontoführung formuliert. Ist Brandoms postulierte „normative Feinstruktur der Rationalität“,
die er mit der inferentiellen Gliederung begrifflicher Gehalte, ihrer perspektivischen Struktur
und der normeneinsetzenden Praxis der deontischen Kontoführung der Diskursteilnehmer
begründet, vergleichbar mit der Alltagsstruktur der Kommunikation, die Habermas im Blick
hat? – auch wenn diese ebenfalls Ausdruck einer Form von Rationalität ist, der
kommunikativen Rationalität? Sind die Begriffe von Rationalität bei Brandom und Habermas
vergleichbar?
Habermas fährt in seiner Rekonstruktion von Brandom damit fort, dass sich durch die
Betonung des Sozialen eine bestimmte Perspektive der Betrachtung ergebe, die sich
methodisch darin niederschlage, dass die Äußerungen eines Sprechers aus der
61 Ders. (2000): Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung. Frankfurt/M.
59
Rezeptionsperspektive, der Perspektive einer zweiten Person analysiert würden. Die Frage
laute nicht, unter welchen Bedingungen eine Aussage wahr sei, sondern, was wir tun würden,
wenn wir die Äußerung eines anderen als wahr behandelten. Dieses Verfahren nennt
Habermas „antiobjektivistisch“ (WR, 142), was nicht heißt, dass sie deshalb subjektivistisch
sei; vielmehr sei sie intersubjektivistisch. Dies wird deutlich, wenn man mit Habermas
Brandoms Modell des „deontic score-keeping“ untersucht: Im Spiel des Gebens und Forderns
von Gründen nähmen beide Kommunikationspartner zueinander die Rezeptionsperspektive
ein. In einem ersten Schritt würde einem Sprecher durch einen Interpreten ein
Wahrheitsanspruch (claim) und eine entsprechende Festlegung (commitment) auf die
Voraussetzungen und Konsequenzen seiner Behauptung zugeschrieben. Damit sei der
Sprecher darauf verpflichtet, für seine Behauptung einzustehen und sie im Zweifelsfall weiter
zu begründen. In einem zweiten Schritt nehme der Interpret zu der Äußerung selbst Stellung
und frage sich, ob ‚p’ auch aus seiner Perspektive zutreffen würde. Entsprechend laute seine
Stellungnahme zu dem Wahrheitsanspruch, welchen er dem Sprecher zugeschrieben hatte,
„ich stimme zu“/„Ja“ oder „ich stimme (noch) nicht zu“/„Nein“. Stimme er zu, so anerkenne
er die Berechtigung (entitlement) des Sprechers, ‚p’ zu behaupten. Im Verlauf dieses Spieles
ermittelten beide Interaktionspartner über die aufmerksame Verfolgung des „Spielstands“
oder „Punktestands der Verpflichtungen“, ob sie den anderen jeweils für berechtigt zu einer
oder verpflichtet auf eine bestimmte Überzeugung oder Handlung hielten. Dabei beantworte
der Punktestand die Frage, wie die Rechte und Pflichten zu einem gegebenen Zeitpunkt auf
die Teilnehmer der sozialen Interaktion de facto verteilt seien. Dieser Spielstand bestimme
seinerseits auch, welcher nächste Zug, z.B. welche sprachliche Äußerung, als gültig oder
richtig angesehen werde. Das Ergebnis dieses Zuges sei dann wiederum ein neuer Spielstand
u.s.w. (vgl. WR. 142 ff.)
Entscheidend ist, dass dieses Modell der Buchführung über Verpflichtungen, wie es
Habermas rekonstruiert, von privat und „im Stillen“ durchgeführt wird. Sprecher und
Interpret reagieren aufeinander, aber nur mittelbar. Zwischen den Akten der Behauptung (des
Sprechers), der Infragestellung (durch den Interpreten), der Antwort (des Sprechers) und der
Anerkennung/Nichtanerkennung der Geltung der Behauptung (durch den Interpreten) liegt
sozusagen jeweils eine minimale „Verrechnungsphase“ der „Punkte“ im Argumentationsspiel.
Das Bild, das sich einem nach dieser Beschreibung des Modells aufdrängt, ist das der
„Kommunikation“ von zwei gegeneinander spielenden Schach-Computern, die nie persönlich,
spontan und unmittelbar aufeinander reagieren, sondern immer unpersönlich, sachbezogen
60
und strategisch-„berechnend“. In Bezug auf das Baseball-Spiel fasst Habermas seine Kritik
wie folgt zusammen:
Aber bei einem strategischen Mannschaftsspiel wie diesem geht es um die kalkulierte Anpassung
an die Reaktionen anderer, nicht um eine konsensuelle Kooperation, die Anforderungen der
sozialen Integration genügen kann. (WR, 176)
Es stellt sich die berechtigte Frage, ob man so etwas noch Kommunikation nennen könne.
Diese mechanistische Darstellung des deontischen Punkteführens aus Habermas Sicht
erweckt den Anschein, als ob Brandom genau bei dem gescheitert wäre, was er zeigen wollte:
den Unterschied zwischen einem „Messinstrument wie einem Thermometer oder
Spektrophotometer und einem Beobachter, der nichtinferentiell zu Überzeugungen gelangt
oder Behauptungen über Temperaturen und Farben aufstellt.“ (EV, 151). Im Anschluss an
Sellars hatte er den Unterschied wie folgt formuliert:
Das Entscheidende, das dem Papagei und dem Messinstrument fehlt – der Unterschied zwischen
bloß responsiver und begrifflicher Klassifikation – , seien Praktiken des Lieferns und Forderns von
Gründen, in deren Rahmen die responsiven Reaktionen [wie „das ist rot“] die Rolle spielen
können, Überzeugungen und Behauptungen zu rechtfertigen. Einen Begriff begreifen oder
verstehen heißt nach Sellars, die Inferenzen praktisch zu beherrschen, in denen er vorkommt –
heißt wissen (in dem praktischen Sinn von fähig sein, zu unterscheiden), was aus der
Anwendbarkeit eines Begriffs folgt und woraus sie folgt. Der Papagei behandelt weder „Das ist
rot“ als inkompatibel mit „Das ist grün“ noch als aus „Das ist purpurrot“ folgend, noch als dessen
Folgerung „Das ist farbig“. (EV, 152)
Was den Menschen als begriffliches und deontisches Wesen vom Computer als bloß
reponsiver Maschine unterscheidet, ist nicht die Fähigkeit, logische Ketten erzeugen zu
können, sondern empfindlich auf die normative Signifikanz der mit einer Behauptung
verbundenen Festlegungen zu reagieren. Wenn man deontische Kontoführung als bloßen
Verrechnungsakt darstellt, geht dieser Aspekt spezifisch menschlicher Kommunikation
verloren und ein verzerrtes Bild von Brandoms Modell entsteht. Stekel-Weithofer weist auch
in Bezug auf Schnädelbachs Verriss von Brandoms „Expressive Vernunft“ darauf hin, dass es
ein Fehler sei, die analytische Metapher des „score-keepings“ überzustrapazieren und zum
61
Ausgangspunkt der Kritik zu machen.62 Schnädelbach empfindet diese Metapher als
„grauenhaftes Bild unserer Verständigungsverhältnisse“, dem er (vermutlich weil Brandom
Amerikaner ist und als Amerikaner im Stammland des Kapitalismus lebt?) eine
Monetarisierung der Begrifflichkeit zur Beschreibung menschlicher Kommunikation vorwirft:
Als böser Marxist könnte man fragen: Kommunikation als score-keeping – wo ist da der
Unterschied zum Schacher zwischen lauter kleinen shop-keepern, die unablässig gegenseitig ihre
Konten aufrechenen? Ist es ein Zufall dass sich in der kapitalistischen Welt niemand wundert,
wenn jemand menschliche Verständigung überhaupt als Börsenveranstaltung unter kleinen
Privatkapitalisten vorstellt?63
Er berücksichtige dabei nicht, so Stekel-Weithofer, dass es zur Methode der Struktur- oder
Formanalyse gehöre, mit projektiven Vergleichen zwischen unterschiedlichen Bereichen zu
arbeiten, die analoge Strukturen aufwiesen. (Stekeler-Weithofer 2004, 178) Die von Brandom
gewählten Vergleichsgegenstände zur Formanalyse von Sprechhandlungen bzw.
kommunikativen Handlungen seien Spiele, die sich dadurch auszeichneten, dass es für sie
„eine Kontrollpraxis der Erfüllung ,normativer‘ Bedingungen für die zugelassenen Folgen
von Spielzügen“ gebe, wie z.B. beim Baseball oder beim Schach. Deontische Kontoführung
sei in diesem Zusammenhang als „Format zur Notation für Spielstände“ zu verstehen, dass
dazu diene „metastufige Kontrollreflexionen […] über den Stand etwa einer Debatte oder
über noch offene Versprechungen oder über schon erfüllte Verpflichtungen explizit“ zu
machen. (ebd.)
Die methodische Entscheidung – die Privilegierung der Perspektive der 2. Person, d.h. des
Rezepienten – im Rahmen einer formalen Pragmatik habe nach Habermas nun Folgen für die
Semantik, in welcher den Ja-/Nein-Stellungnahmen eines Interpreten zu einer Behauptung, die
ein Sprecher äußere, ein Vorrang gegenüber dem Status von dessen Äußerungen (wahr oder
falsch) mit Bezug auf die objektive Welt eingeräumt werde. Entscheidend sei, ob die
Sprechhandlung dem Interpreten als wahr erscheine, d.h., ob er sie als solche betrachte und
behandle.
62 Vgl.: Stekeler-Weithofer, Pirmin (2004): Wir halten das Banner der Wahrheit. Zu Herbert Schnädelbachs Lektüre von Brandom, Hegel und anderen ,Idealisten’. – In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 29/2004. S. 177-188. S. 177 f. 63 Schnädelbach, Herbert (2001): Sozialpragmatischer Idealismus. Bemerkungen zu Robert B. Brandoms „Expressive Vernnft“. Berlin. – In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 29/2004. S. 163-175. S. 163 f.
62
Die Grundfrage der Bedeutungstheorie, was es heißt, eine Behauptung, bzw. Aussage zu verstehen,
wird durch die Frage ersetzt, was ein Interpret tut, wenn er einen Sprecher ‚in der richtigen Weise’
als jemanden ‚nimmt und behandelt’, der mit seinem Sprechakt einen Wahrheitsanspruch erhebt.
(WR, 142)
Damit wird, nach Habermas Modell, dem Geltungsanspruch auf Richtigkeit in der sozialen
Welt der Vorrang von dem Geltungsanspruch auf Wahrheit in Bezug auf die objektive Welt
eingeräumt, bzw. soziale und objektive Geltung werden vermischt. Doch gerade in „Wahrheit
und Rechtfertigung“ verabschiedet sich Habermas von seiner vorher selbst vertretenen These,
dass Wahrheit mit Rechtfertigbarkeit (unter den Bedingungen einer idealen Sprechsituation)
zusammenfallen würden. Indem er jenen Kritikern zustimmt, die den Sinn einer Annahme
idealer Bedingungen bezweifelten, weil sie in der tatsächlichen Praxis nie vorkämen, steht er
nun vor dem Problem, woraus der unbedingte Sinn von Wahrheit noch abgeleitet werden
könnte. Aber was bleibt dann noch anderes als die letzte Instanz der Bewährung von
Wahrheitsansprüchen, wenn nicht die objektive Welt, d.h. die „Welt“ aus der
Wahrnehmungen in die Welt des Diskurses als Erfahrungsgründe eintreten und in die sie als
Handlungen austreten? Die Vermutung drängt sich auf, dass er an Brandom sozusagen sich
selbst bzw. seine eigene ehemalige Theorie kritisiert – ohne dass er dies explizit macht. Sollte
es ihm selbst nicht klar sein, könnte er Gefahr laufen, Brandom durch die Brille seiner
eigenen Prämissen zu lesen, was Brandoms Theorie verfälschen und Habermas Kritik in
Bezug auf Brandom entkräften würde.
Die Verschränkung von formaler Pragmatik und Semantik bewirke bei Brandom also eine
Verschiebung des Fokus des Interesses von der Beschreibung dessen, was Wahrheit sei zur
performativen Frage, was wir tun würden, wenn wir etwas als wahr behandelten. Aus der
semantischen Perspektive frage man sich, was Sprecher meinen (und versuche es zu
verstehen) – aus der pragmatischen Perspektive frage man sich, was sie tun. Meinen und Tun,
Bedeutung und (Sprech-)handeln, seien aber insofern ineinander verwoben, als der Gehalt
einer Aussage nach Brandom und im Anschluss an Wittgenstein nicht abgelöst von den
Praktiken der Begründung und Rechtfertigung zu verstehen sei. Vielmehr werde der Gehalt
eines Begriffes durch die Rolle, die er im Spiel des Gebens und Forderns von Gründen spiele,
bestimmt. Umgekehrt regle der Begriff als ein Knotenpunkt semantischer Fäden oder Bündel
von Bedeutungen, die in ihn einmünden und aus ihm folgen, das Spiel des Gebens und
Aufnehmens von Gründen. Er stelle sozusagen das semantische „Schienennetz“ inferentieller
63
Bezüge von Aussagen untereinander zu Verfügung, auf dem sich die Spielteilnehmer
bewegten und das sie auf diese Weise „in Betrieb“ nähmen.
Die Diskurspraxis nimmt das Netzwerk der im Vokabular einer Sprache angelegten inferentiellen
Beziehungen gleichsam in Betrieb. Die Stellungnahme der Diskursteilnehmer zu den wechselseitig
zugeschriebenen Geltungsansprüchen verlaufen in Bahnen, die durch die semantischen
Implikationen des jeweiligen Inhalts einer Äußerung vorgezeichnet sind. Die Semantik schießt die
Begriffe vor, die diskursiv entfaltet werden. (WR, 145)
Aus der Sicht der Semantik gehen also dem Hantieren mit den Begriffen die (inferentiell
gegliederten) Bedeutungen voraus, aus der Sicht der Pragmatik erhalten die Begriffe ihre
Bedeutung im Hantieren.64 Für Brandom sind diese Perspektiven gleichberechtigt und die
Entscheidung für die eine oder die andere folgt allein methodischen Erwägungen. Aus der
einseitig semantischen Perspektive ließe sich die Erzeugung neuer Begriffsgehalte nicht
erklären. Die pragmatische Perspektive dagegen offenbart das produktive Potential
diskursiver Praxis.
Andererseits ist Brandom zu sehr Pragmatist, als dass ihn ein Bild von der Sprache als ein „Haus des
Diskurses“ überzeugen könnte. Jedenfalls setzt er dem Idealismus einer sprachlichen
Welterschließung, aus dem es für die Mitglieder der jeweiligen Sprachen kein Entrinnen gibt, eine
andere Konzeption entgegen. Er begreift die Diskurspraxis eher als Erzeuger von Begriffen denn als
Geisel eines a priori ererbten Bedeutungswissens. (WR, 145)65
Obwohl es so scheint, dass Pragmatik und Semantik zu gleichen Teilen das Sprachspiel
64 Zur Veranschaulichung des von Habermas dargestellten Zuammenhangs von Semantik und Pragmatik kann man sich das Gehirn vorstellen. Das neuronale Netz, das die Schaltstellen des Gehirns miteinander verbindet, ist die materiale Voraussetzung dafür, dass wir denken können. Andererseits ist es die Erfordernis des Denkens, dass diese Vernetzung in den ersten Lebensmonaten überhaupt erst entstehen lässt, im weiteren Leben am Wieder-Veröden hindert und es uns weiter ausbauen lässt. In ähnlicher Weise ist die Erfordernis des Sprechhandelns in einer menschliche Gesellschaft die logisch notwendige Bedingung dafür, dass Begriffe Bedeutung erlangen können, während die Begriffe selbst und die in ihnen konvergierenden Bedeutungsketten im aktuellen Fall genealogisch dem Handeln vorausgehen. Brandom betrachtet den Prozess, wie Begriffe in der Praxis des Gebens und Aufnehmens von Gründen Bedeutung erlangen, nicht von einem naturalistischen Standpunkt, sondern einem logisch-begrifflichen Standpunkt. Aus seiner Perspektive begründet die Pragmatik deshalb die Semantik. Er „zäumt das Pferd“ sozusagen „von hinten auf“, indem er vom Ergebnis her – was die Leute mit Begriffen tun – die Voraussetzungen – den Bedeutungsgehalt – bestimmt. 65 Habermas gibt dazu kein Beispiel. Man kann sich aber folgendes vorstellen: In anderen Handlungskontexten und unter veränderten historischen Bedingungen kann derselbe Begriffe durch neue und sogar gegensätzliche Bedeutungen aufgeladen werden. Dies geschieht z.B. wenn diskriminierte Minderheiten die abwertenden Bezeichnungen durch die sie unterdrückende Majorität positiv umkonnotieren und damit den Unterdrückern als Instrument der Erniedrigung entziehen. Aktuell z.B. die „Slut-Walk“-Bewegung junger Frauen, die für ihr Recht eintreten, sich freizügig – wie „Schlampen“/sluts – zu kleiden.
64
bestimmen würden, ergibt sich, je nachdem für welche Perspektive man sich entscheidet, ein
interpretatorischer Schwerpunkt. Brandom legt seinen Schwerpunkt auf die pragmatische
Perspektive. Der Vorgängigkeit der Pragmatik in logischer Hinsicht wird aus methodischen
Gründen bei Brandom ein Vorrang gegenüber der Semantik eingeräumt, die der diskursiven
Praxis genealogisch vorausgeht. Er plädiert sozusagen für eine Betrachtungsweise, bei der
zuerst die Henne (Praxis) erscheint, die dann das Ei (den begrifflichen Gehalt) legt. Das
Hennen (Praktiken) genealogisch aus Eiern (semantischen Gehalten, mit denen hantiert wird)
schlüpfen und deshalb das Ei vor der Henne hätte existieren müssen, ist ein Aspekt, der ihn
deshalb weniger interessiert, weil er die phänomenologische Perspektive einnimmt. Er will
wissen wie, unter welchen Bedingungen, uns etwas als „Ei“/bedeutungsvoll erscheint – und
welches theoretische Vokabular nötig ist, um die Praktiken, die dieses Erscheinen
begrifflicher Gehalte bewirken (die Praktiken des „Eierlegens“), angemessen zu beschreiben.
Habermas dagegen, der Brandom die Annahme unterstellt, dass aus dem „Amalgam einer
vorprädikativen Weltauslegung […] die diskursive Praxis erst hervor[gehe]“ (WR, 150),
überträgt seine „naturalistische“ Perspektive, die mit einem linearen Zeitbewusstsein
einhergeht, auf Brandom, der diese gar nicht teilt und stattdessen in der geschichtlich-
dialektischen Denkfigur des hegelschen Begriffs denkt, der rückgreifend
(interpretierend/anerkennend) voranschreitet. Diese „vorprädikative Weltauslegung“ oder die
„vorgebahnten Wege zur Realität“ (s.u.) findet Habermas bei Tomasello als „gemeinsamen
begrifflichen Hintergrund“ wieder (der gemeinsame Aufmerksamkeit, geteilte Erfahrung, und
gemeinsames kulturelles Wissen umfasse)66 – in den er Hegels objektiven Geist hineinliest.
Die strukturalistische Lesart Hegels durch Habermas, die der dialektischen Bewegung des
Begriffs nicht Rechnung trägt und rein kausallogisch in der Zeit vorwärts denkt (erst „werden
die Schienen gelegt“/Semantik, dann „kann man auf ihnen fahren“/Pragmatik) ist im Rahmen
meiner Überlegungen zu den Ursachen des Missverständinisss von Brandoms Theorie durch
Habermas wichtig, weil es zeigt, wie Habermas bereits Hegel missversteht und infolgedessen
Brandoms Theorie gar nicht mehr ohne die Brille, durch die er Hegel liest,
unvoreingenommen analysieren kann. Dies macht der folgende Auszug aus seiner Laudatio
für Tomasello anlässlich der Verleihung des Hegel-Preises 2009 sehr deutlich:
In den Jenaer Vorlesungen bringt Hegel die „Medien“ von Werkzeug, Sprache und Familie ins
Spiel, um das falsche Bild einer Kluft zurückzuweisen, die das erkennende, seinen Objekten fremd
und egozentrisch gegenüberstehende Subjekt angeblich erst überbrücken muss. Hegel entwirft
66 Tomasello, Michael (2011): Die Ursprünge menschlicher Kommunikation. Frankfurt a. Main. S. 15 f.
65
stattdessen das sozialpragmatische Bild von einem subjektiven Geist, der sich auf symbolisch
vorgebahnten Wegen zur Realität bereits vorfindet. Er bewegt sich immer schon in
Funktionszusammenhängen, die in Werkzeugen objektive Gestalt angenommen haben, immer
schon im Horizont eines sprachlich artikulierten Hintergrundwissens und im eingewöhnten
sozialen Netzwerk gemeinsamer Praktiken. Vorgeprägt durch diesen objektiven Geist eines
kulturellen Milieus, befindet sich der erkennende subjektive Geist von vornherein bei seinem
Anderen. Dieses „Sein beim Anderen“ meint den kognitiven Vorschuss symbolisch verkörperter
Sinnzusammenhänge, von denen die jeweils aktuellen Wahrnehmungen, Urteile, Äußerungen und
Handlungen zehren. (Unterstreichungen durch mich).67
Sprache und diskursive Praktiken seien als Symbolsysteme Formen verobjektivierten
impliziten semantischen Gehalts. Als soziale Praktiken erzeugen sie ein „kulturelles Milieu“ ,
bestehend aus sozialen Institutionen und Praktiken und einer systematische Tradierung
kulturellen Wissens, das Habemas mit dem „objektiven Geist“ Hegels und dem
„gemeinsamen Hintergrund“ bei Tomasello identifiziert. Was Tomasello den „gemeinsamen
Hintergrund“ oder – in Anlehnung an die Arbeiten von Handlungsphilosophen wie Michael
Bratman, Margaret Gilbert, Searle und Raimo Tuomela –„geteilte Intentionalität“ nennt und
was Habermas in Anlehnung an Hegel als das „Sein beim Anderen“ bezeichnet, sei das
Medium in und der Hintergrund vor dem sich Kommunikation vollziehe. Geteilte
Intentionalität umfasse nach Tomasello die Fähigkeit, „mit anderen in kooperativen
Unternehmungen gemeinsame Absichten zu verfolgen und Verpflichtungen einzugehen“.
Diese gemeinsamen Absichten und Verpflichtungen würden durch gemeinsame
Aufmerksamkeit und wechselseitiges Wissen geformt und basierten auf den kooperativen
Motiven, anderen zu helfen und Dinge mit ihnen zu teilen.68 Dies ist sehr im Einklang mit
dem „Telos der Verständigung“ das Habermas als der Sprache – und uns als sprachlichen
Wesen – innewohnend annimmt. Die Dynamik zwischen den Zeitebenen der Gegenwart, der
Vergangenheit und der Zukunft, die in der dialektischen Anerkennungsstruktur der Tradition
bei Brandom zum Ausdruck kommt, geht sowohl Tomasello als auch Habermas ab.
Die Struktur der reziproken Anerkennung, innerhalb welcher der Geist als ganzer zu
Selbstbewusstsein kommt, ist geschichtlicher Art. Es handelt sich um eine Beziehung zwischen
Zeitebenen des Geistes, in welchem die Gegenwart die Autorität der Vergangenheit anerkennt und
umgekehrt Autorität über sie ausübt, wobei ihre Konflikte von der Zukunft ausgehandelt werden.
67 Habermas, Jürgen (2009): Laudatio für Michael Tomasello, gehalten anlässlich der Verleihung des Hegel-Preises am 16. Dezember 2009 in Stuttgart. S. 5. www.stuttgart.de/img/mdb/item/383875/51478.pdf [25.07.2011] 68 Vgl. Tomasello, Michael (2010): Warum wir kooperieren. Berlin. S. 11
66
Das ist die Anerkennungsstruktur der Tradition, die die normative Struktur des
Entwicklungsprozesses artikuliert, in welchem Begriffe ihre Gehalte durch Anwendung in der
Erfahrung erwerben […]69
Anerkennung ist mehr als ein „Inbetriebnehmen“ vorgefundener Bedeutungen.
Was Habermas nun nicht ausreichend von Brandom geklärt sieht, ist eben jene „Praxis“
selbst, die bei Brandom als Instanz der Bewährung von Wahrheitsansprüche fungieren solle.
Brandom erkläre nur, wie die Begriffe Bedeutung erlangen würden, so Habermas Kritik, aber
nicht, warum sie deshalb zu Recht für wahr gehalten werden könnten – kurz: warum der
Anspruch auf Wahrheitsgeltung erhoben werden dürfe. (Vgl. WR, 146) Habermas dagegen
sucht nach einer Begründung der Möglichkeit eines Konsenses über den Wahrheitsgehalt
einer Aussage im materialen, nicht-epistemischen und begriffstranszendenten Sinn. Ihm fehlt
bei Brandom eine Bewährungsinstanz für die Wahrheitsgeltung, die für Habermas nur in
einem Bereich liegen kann, der jenseits des „Spielfeldes“ der Sprache ist – in einer objektiven,
vom „Spiel“ unabhängigen Wirklichkeit. Die erfolgreiche Rechtfertigung der
Wahrheitsgeltung mit Bezug auf die objektive Welt geht für Habermas nicht in der
intersubjektiven Rechtfertigung des Richtigkeitsanspruchs auf. Brandom scheint diesem
Problem aus Habermas Sicht Rechnung zu tragen, wenn er den „realistischen Einwand“ (WR,
146) äußert, dass objektiv korrekte Schlüsse sich nur darauf gründen könnten, wie die Dinge
wirklich seien, nicht wie sie uns erschienen:
A semantically adequate notion of correct inference must generate an acceptable notion of
conceptual content. But such a notion must fund the idea of objektive truth conditions and so of
objectively correct inferences. Such proprieties of judgement and inference outrun actual attitudes
of taking or treating judgements as correct. They are determined how things actually are,
independently of how they are taken to be. (ME 2.6.3., 137)
Habermas macht in dieser Äußerung eine Unverträglichkeit von zwei Perspektiven aus: der
phänomenalistischen und der naturalistisch-realistischen. Entweder man beschränke sich
darauf, Kommunikation aus der Innenperspektive zu beschreiben, konzentriere sich ganz auf
das dialogische Geschehen und klammere eine von der Sprache unabhängige objektive Welt
69 Brandom, Robert B. (1999): Pragmatistische Themen in Hegels Idealismus. Unterhandlung und Verwaltung der Struktur und des Gehalts in Hegels Erklärung begrifflicher Normen. Aus dem Amerikanischen von Reiner Ansén. DZPhil, Berlin 47 (1999), 3, S. 355-381. S. 381.
67
aus, oder man setze die Prämisse einer objektiven Welt (wie Habermas) und ziehe diese dann
aber auch als Bewährungsinstanz für die Wahrheitsgeltung von Aussagen in die Theorie mit
ein. Unter der ersten Perspektive müsste man sich allerdings davon enthalten (woran
Brandom sich nicht halte), von Wahrheit zu sprechen, denn diese ist für Habermas unbedingt
und muss deshalb einstellungstranszendent sein.
Dieses an die Teilnehmerperspektive gebundene, die Sprachpraxis von innen rekonstruierende
Vorgehen verpflichtet den Analytiker, nicht von Wahrheit und Referenz zu reden, sondern davon,
wie einem Interpreten, der seinen Mitspielen Wahrheitsansprüche und Bezugnahmen zuschreibt,
Wahrheit und Referenz erscheinen. (WR, 146)
In „Wahrheit und Rechtfertigung“ geht es Habermas genau darum, festzustellen, inwiefern
ein Realismus nach der sprachpragmatitischen Wende möglich sein kann, ohne dafür einen
Gottesstandpunkt zu reklamieren, bzw. „einen Blick hinter die Kulissen des menschlichen
Geistes“ zu werfen (WR, 32), von dem aus allein sich beurteilen ließe, ob man das „Ding an
sich“ oder die „Welt an sich“, „wie sie wirklich ist“, nun ausgemacht hätte. Die Lösung
besteht für Habermas darin, die „objektive Welt“ ex negativo zu bestimmen, d.h. als
dasjenige, woran unsere Hypothesen über die Welt in der Praxis scheitern können.
Erkenntnisse seien demnach „Folgen einer intelligenten Verarbeitung performativ erfahrener
Enttäuschungen.“ (WR, 21) So ließen sich Hypothesen an der Welt bewähren, führten aus
dem „Haus der Sprache“ heraus und verbänden uns mit der Welt, ohne dass Sprache deshalb
in Anspruch nehmen müsste, Wirklichkeit abzubilden. Auf diesem Wege kann Habermas
einen schwachen Naturalismus und die realistischen Intuitionen retten. Doch kann Brandom
den realistischen Intuitionen mit seinem Modell auch Rechnung tragen? Dies bezweifelt
Habermas.
Im Folgenden stellt Habermas dar, wie Brandom das von Habermas festgestellten Dilemma
der sich widersprechenden Perspektiven, der phänomenalistischen und der „naturalistischen“,
zu lösen sucht. Zu diesem Zweck vollzieht Habermas nach, wie Brandom von den normativen
Einstellungen der Diskursteilnehmer über die normativen Status ihrer Äußerungen (worauf sie
sich verpflichtet haben und wozu sie berechtigt sind) zur Objektivität des Gehalts ihrer
Äußerungen gelangt. Diesen Prozess fasst er wie folgt zusammen:
68
Indem einer [ein Diskursteilnehmer] dem anderen eine Behauptung zuschreibt und als korrekt
anerkennt, belehnt er diese Äußerung gleichsam mit einem (als objektiv vermeinten) Gehalt und
richtet für sie den Status einer wahren Behauptung ein. (WR, 147)
Daraufhin fragt sich Habermas, wie Brandom von dem „objektiv vermeinten“ Gehalt zu
einem objektiv wahren Gehalt kommt. Nur dadurch, dass ein Diskursteilnehmer diesen Staus
„einrichtet“? Was ist, wenn dieser sich irrt? Oder wenn sich gar eine ganze
Diskursgemeinschaft irrt? Kann man da noch von einer Wahrheitsgeltung im Sinne von
Objektivität sprechen? – Auf welche Weise Normen bei Brandom zu (wahren) Tatsachen
„werden“ (die für alle bindend sind, die sich auf sie verpflichtet haben, weil sie rational sind)
erklärt Habermas mit Kants Modell der Selbstgesetzgebung: „Der Gesetzgeber handelt
autonom, wenn er sich genau den Normen unterwirft, die er aus Einsicht wählt. Der freie
Wille ist der rationale Wille, der sich durch gute Gründe bestimmen lässt.“ (WR, 148).70
Willensfreiheit bedeute für Kant nicht Gesetzlosigkeit. Vielmehr bestehe die Autonomie des
Menschen in seiner Fähigkeit, seine Freiheit selbst einzuschränken. Diese Selbstbindung fasse
Kant in der Formel des kategorischen Imperativs zusammen. Brandom beziehe sich auf Kant,
indem er erkläre, dass „Our dignity as rational beings consists precisely in being bound only
by rules we endorse, rules we have freely chosen (like Odysseus facing the sirens) to bind
ourselves with.“ (ME 1.5.2., 50) Autonomie und Heteronomie fielen in diesem Akt der
kantischen Selbstgesetzgebung zusammen.
Das Problem, das Habermas hierbei ausmacht, besteht darin, dass genau die vernünftigen
Normen, die durch die Selbstgesetzgebung gestiftet werden (sollen), nur als vernünftig
bestimmt werden können, wenn es bereits einen Maßstab des Vernünftigen gibt. M.a.W.:
„Bevor Diskursteilnehmer als ‚Gesetzgeber’ auftreten, zehren sie ‚immer schon’ von der
normativen Binnenstruktur der Rede.“ (WR, 148). Habermas nimmt die Rede und die
(kommunikative) Rationalität – mit den Griechen gesprochen: den Logos – als gegeben und
vorgängig an. Der Maßstab müsse dem Gemessenen vorausgehen.71 Damit geht er, anders als
70 Vgl. Kant: „Da der Begriff einer Kausalität den von Gesetzen bei sich führt, […] so ist die Freiheit […] darum doch nicht gar gesetzlos, sondern muss vielmehr eine Kausalität nach unwandelbaren Gesetzen, aber von besonderer Art sein, denn sonst wäre ein freier Wille ein Unding. […] Der Satz aber: der Wille ist in allen Handlungen sich selbst ein Gesetz […] ist aber gerade die Formel des kategorischen Imperativs.“ – Kant, Immanuel (1998): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Frankfurt am Main. S. 81. 71 Andererseits: wenn die Erfordernis des Messens nicht bestünde, gäbe es dann einen Maßstab? Mir scheint, dass es sich bei den Vernunftnormen, die den Maßstab darstellen, und der vernünftigen Normsetzung, die sich an den Vernunftnormen orientiert, es sich wie bei der Henne und dem Ei verhält: solange man kausal fragt, dreht man sich im Kreis. Nur dann, wenn man sich aus methodischen Erwägungen, für eine Perspektive der
69
Brandom, von der Semantik aus und begründet mit dieser die Pragmatik. Gleichzeitig hält er
beide Perspektien nicht für prinzipiell austauschbar, je nach Fragestellung und methodischer
Erfordernis, sondern weist ihnen unterschiedene Bereiche zu, die er nicht vermischt sehen
will. Während die Semantik kognitive Regeln und deren Einhaltung betreffe (und die Frage
nach der Wahrheitsgeltung), fielen die soziokulturelle Regeln, die das Handeln leiteten, unter
die Pragmatik (und die Frage nach der Richtigkeitsgeltung).
Eine empirische Erklärung, bei der Normen nur durch eine Gemeinschaft, also heteronom,
eingesetzt würden, indem sie korrektes Verhalten belohnt und abweichendes Verhalten
bestraft, sieht Habermas als nicht ausreichend an, um zu erklären, dass wir uns nicht (nur) aus
Angst vor Strafe oder in Erwartung von Lohn Normen unterwerfen, sondern, wie Brandom es
nennt, weil wir von guten Gründen affiziert werden können, d.h. mit Habermas: den
„zwanglosen Zwang“ des besseren Arguments verspüren und ihm auch (sprach-)handelnd
folgen. Wie kommt es aber, dass das, was uns als vernünftig einleuchtet, uns auch als
verpflichtend erscheint? Wie überbrückt Brandom die Kluft zwischen etwas „als richtig
erkennen“ und etwas als „handlungsleitend empfinden und umsetzen“? Habermas hält diese
Kluft für unüberbrückbar, da es sich aus seiner Sicht um zwei getrennte Bereiche handle:
Die Affektion durch Gründe ist aber etwas anderes als eine Verpflichtung durch Normen.
Während Handlungsnormen den Willen von Aktoren binden, lenken Rationalitätsnormen ihren
Geist.“ (WR, 149)
Der Unterschied zwischen beiden Bereichen (mit Kant gesprochen: praktischer und
theoretischer Vernunft) bestehe einmal darin, welchen „Teil“ (?) des Menschen sie affizierten
– Wille oder Geist – und in welchem Maße sie bindend seien. Während Handlungsnormen
nach Habermas Verhaltenserwartungen darstellten, denen man sich nicht entziehen könne,
wenn man ihrer Gültigkeit im rationalen Diskurs zugestimmt habe,72 ist das, was als
Betrachtung entscheidet, ergibt sich eine Richtung: entweder begründet die Pragmatik die Semantik oder umgekehrt. Brandom blickt von der Pragmatik her, bleibt aber flexibel in seiner Perspektive, da seine Theorie eine funktionalistische ist. Habermas, weil er einen schwachen Naturalismus vertritt, legt sich jedoch auf die Pespektive der Semantik fest. 72 „Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten. […] ,Handlungsnormen’ verstehe ich als zeitlich, sozial und sachlich generalisierte Verhaltenserwartungen. ,Betroffen’ nenne ich jeden, der von den voraussichtlich eintretenden Folgen einer durch Normen geregelten allgemeinen Praxis in seinen Interessen berührt wird. Und ,rationaler Diskurs’ soll jeder Versuch der Verständigung über problematische Geltungsansprüche heißen, solange er unter Kommunikationsbedingungen stattfindet, die innerhalb eines durch illokutionäre Verpflichtungen konstituierten öffentlichen Raums das freie Prozessieren von Themen und Beiträgen, Informationen und, Gründen
70
vernünftig gelte, nur ein „zwangloses Angebot“ an den Geist des Menschen – das er jedoch
nicht ablehnen kann, wenn er sich selbst als rational verstehen will. Insofern wirken
Rationalitätsnormen regulierend.
Habermas wirft Brandom vor, beide Bereiche zu vermischen, indem er durch einen
„überinklusiven Begriff“ von Normativität Rationalitätsnormen an Handlungsnormen
angleiche. Den Ursprung dieser Neigung, die Bereiche zu vermischen, sieht Habermas in
Brandoms Praxisbegriff, den er von Wittgenstein und Heidegger herleitet. Mit Wittgenstein
teile Brandom die pragmatistische These, dass, weil der Gebrauch eines Wortes seinen
Gehalt bestimme, diejenigen grammatischen Regeln, die die Sprachspiele regelten mit den
Regeln identisch seien, die die Diskurspraktiken der Sprachgemeinschaft regelten. Damit
setzten Brandom und Wittgenstein nach Habermas kognitive und soziokulturelle Regeln in
eins. Mit Heidegger teile Brandom mit Bezug auf die Zeug-Analyse den Vorrang des
Gebrauchs der Dinge, ihre Zuhandenheit, vor dem theoretischen Zugang zu ihnen, ihrer
Vorhandenheit. Zugleich teile er Heideggers holistischen Ansatz, nach welchem die Dinge
innerhalb einer und mit Bezug auf eine Praxisstruktur benannt würden. Demnach erschließe
sich das, was etwas sei, aus seinem Wozu. Auf die Frage, wie uns die Welt erscheine, gäben
Wittgenstein und Heidegger je eine sprachphilosophische bzw. eine ontologische Antwort.
Gemeinsam sei beiden der pragmatische Ansatz. Brandom teile mit beiden diesen Ansatz,
grenze sich aber auch von beiden ab: einmal von Wittgensteins Kontextualismus, indem er–
so Habermas – die Idee einer objektiven Welt als Bestandteil diskursiver Praktiken
voraussetze und von Heidegeger, insofern er das Vorhandene als das Explizitgemachte
aufwerte73 und der sozialen Praxis und ihren internen Funktionszusammenhängen einen
Vorrang vor den Bewandniszusammenhängen der zuhandenen Dinge oder des „Zeugs“ in der
geteilten Lebenswelt gewähre. Dies habe Auswirkungen darauf, wie die Teilnehmer an der
sozialen Praxis geneigt seien, auf ähnliche Reize gleich zu „antworten“:
Beim Einzelnen schlägt sich dieses vorprädikative Weltverständnis in Dispositionen nieder, auf
ähnliche Stimuli in der gleiche Weise zu „antworten“ wie die anderen. Die Mitglieder einer
Sprachgemeinschaft „instituieren“ also Bedeutungen dadurch, dass sie ihre typisierten Antworten
ermöglichen.“– Habermas, Jürgen (1992): Faktizität und Geltung. Frankfurt a.M. S.138.f. 73 Habermas weist hier auf eine Aufsatz von Brandom zu Heidegger hin, in welchem er erklärt: „Die Aussage und die sie ermöglichende Praxis des Gebens und Forderns von Gründen sind selbst eine besondere Art praktischer Aktivität. Auf etwas mit einer Aussage über es zu antworten bedeutet, es als Vorhandenes zu behandeln.“ – Brandom, Robert B. (1997): „Heideggers Kategorien in ’Sein und Zeit‘“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie , Bd. 45/4 , Berlin. S. 546.
71
wechselseitig als „geeignet und angemessen“ anerkennen. Damit verbindet sich die epistemische
Autorität der Mitglieder mit der sozialen Autorität der Gemeinschaft.“ (WR, 150)
Die Wechselwirkung der Einstellungen der einzelnen Mitgieder einer Sprachgemeinschaft
untereinander erzeuge durch gegenseitige exponentielle Verstärkung eine
Gruppeneinstellung, die sich in Regeln der kommunikativen Interaktion niederschlage, die
„von außen“ wieder auf die Einzelnen zurückwirke und damit schrittweise eine sprachliche
Vergesellschaftung erzeuge. Während, wie oben erwähnt, eine empirische Erklärung wie das
Lohn-Strafe-Modell nicht ausreiche, um die Wirkungsmacht von Normen auf unser Handeln
zu erklären, überbrücke das Modell von Brandom die Kluft zwischen etwas „als richtig
erkennen“ und etwas als „handlungsleitend empfinden und umsetzen“, indem es die
individuelle epistemische mit der kollektiven sozialen Autorität miteinander verschränke.
Wichtig ist Habermas Wortwahl bzgl. akzeptierter „Antworten“ in solch einem
gesellschaftlichen Diskurs, denn „geeignet und angemessen“ bedeutet richtig oder der
Konvention entsprechend – aber nicht notwendig wahr, d.h. mit Referenz zu einer objektiven
Wirklichkeit; soziale und rationale Geltung sind nicht dasselbe. Was wahr im Sinne von
„wirklich“ ist, das ist für Brandom das Explizitgemachte oder Vorhandene innerhalb des
Diskurses – ein fact oder eine Tatsache: „Auf etwas mit einer Aussage zu antworten bedeutet,
es als Vorhandenes zu behandeln“.74 In diesem Sinne seien Tatsachen für Brandom „wahre
Behauptungen“ (true claims), d.h. Aussagen, auf die wir mit der Stellungsnahme antworten:
„Das ist (auch aus meiner Perspektive) wahr“. Habermas beschreibt diesen Prozess wie folgt:
„Die konstative Rede [ein Behauptungssatz] entzieht zuhandene Dinge dem
Interessenzusammenhang praktischer Vorhaben [in der sozialen Welt] und holt sie als
vorhandene [objektive] Gegenstände, von denen Tatsachen ausgesagt werden können [die
wahr oder falsch sind], in den diskursiven Zusammenhang des schlussfolgernden Denkens
ein.“ (WR, 151)
Nun kehre ich nocheinmal zur Verschränkung von epistemischer individueller und kollektiver
sozialer Autorität zurück. Hier stellt Habermas ein Problem fest: Selbst wenn sich alle
Mitglieder über die Richtigkeit einer Feststellung seien sind, könnten sie sich doch irren. Die
Frage nach der Wahrheit einer Aussage wird deshalb an den Einzelnen zurückverwiesen.
Auch Brandom formuliert dies Problem: 74 Ebd.
72
This means that although the inferentialist order of explanation may start with inferences that are
correct in the sense hat they are accepted in the practice of a community, it cannot end there. It
must somehow move beyond this sense of correctness if it is to reach a notion of propositional
conceptual content recognizable as that expressed by our ordinary empirical claims and possessed
by our ordinary empirical beliefs. (ME 2.3.6., 137)
Unsere starken realistischen Intuitionen stehen im Kontrast zu dem vergleichsweise
schwachen Konsens über die Richtigkeit der Verwendung eines Begriffs.
How can normative attitudes of taking or treating applications of concepts as correct or incorrect
institute normative statuses that transcend those attitudes in the sense that the instituting attitudes
can be assessed according to those instituted norms and found wanting? (ebd.)
Brandom fragt sich, von welchem Standpunkt aus die Richtigkeit der Einstellung, die ein
Interaktionspartner zu einer Äußerung eines anderen einnimmt (Zustimmung =
wahr/Ablehnung = falsch), beurteilt werden könnte. Oder, mit Habermas:
Wie [kann] einer Äußerung, deren Status von der Zuschreibung und Beurteilung einer Interpeten
abhängt, ein objektiver Gehalt zukommen […], der gegebenenfalls über das hinausreicht, was
Interpreten jeweils wissen und tun? (WR, 151)
Mit Bezug auf Brandoms eigene Frage, stellt Habermas nun fest, dass Brandom offenbar trotz
seines phänomenalistischen Vorgehens realistischen Intuitionen Genüge tun wolle. Mit dieser
Unterstellung verortet er Brandom in einem von Habermas diagnostizierten typischen
Dilemma nach dem linguistic turn. Demnach seien Sprache und Realität derart ineinander
verschlungen, dass das, was wirklich sei nur mit Rekurs auf das, was wahr sei zu erklären
wäre und andererseits aber die Wahrheit eines Satzes nur durch andere Sätze begründet oder
widerlegt werden könne, so dass ein objektives Urteil über die Wahrheit einer Aussage nicht
mehr getroffen werden könne. Dies sei eine „Not“, ein Mangel, auch, wenn der Pragmatismus
aus dieser Not eine Tugend gemacht hätte. Sich in die phänomenalistische Perspektive zu
„flüchten“, aus der wahr ist, was einem als wahr erscheint, ist für Habermas keine Löung des
Dilemmas.
Habermas spricht dabei vom Verhältnis von „Sprache“ und „Realität“ als ob es sich um zwei
Welten handle: eine intersubjektive und objektive Welt, die sich aneinander reiben würden
und die die Philosophen, die ein Außerhalb der Sprache ausschlössen, in Widersprüche
73
verstricken würden. Habermas dagegen will den „Bannkreis der Sprache“ (WR, 152)
durchbrechen. Er sucht einen „Ausgang“ zur Welt und einen Anker für die Ansprüche auf
Wahrheitsgeltung. Stößt man aber schon auf „Welt“, wenn man auf Widerspruch im Diskurs
stößt, oder erst, wenn man auf Widerstand im Handeln oder auf eine widersprechenden
Wahrnehmung stößt? Habermas favorisiert eindeutig das zweite Modell. Durch
Wahrnehmung gerechtfertige Aussagen, z.B. „alle Schwäne sind weiß“, sind nur solange
„wahr“, bis ein empirischer Gegenbeweis (ein schwarzer Schwan) erbracht wird.
Gerechtfertigte Aussagen können deshalb nur Richtigkeitsgeltung, nicht Wahrheitsgeltung
beanspruchen. Dass empirische Beweise überhaupt als Vetomacht oder Regressstopper (auch
von Brandom) zugelassen werden, zeige, so Habermas, dass wir de facto die realistische
Intuition teilten, dass es eine objektive Welt gebe, die unabhängig von uns existiere und die
für alle ein und dieselbe Welt sei, insofern sie den gemeinsamen Bezugspunkt darstelle, auf
den hin wir Ansprüche auf Wahrheitsgeltung bzgl. der Tatsachen, die wir über sie aussagen,
erhöben. (Vgl. WR, 153)
Wir unterstellen also sowohl die Existenz möglicher Gegenstände, von denen wir Tatsachen aussagen
können, wie auch die Kommensurabilität unserer Bezugssysteme, die uns erlaubt, unter verschiedenen
Beschreibungen dieselben Objekte wiederzuerkennen. (WR, 153)
Brandom teile nur scheinbar, so Habermas, die Prämisse einer für alle identischen Welt,
welche die objektive Grundlage unserer normativen Einstellungen sei, um so einem
Relativismus zu vermeiden, sehe aber andererseits den Widerstand der Welt, die sie uns im
Handeln entgegensetze, nicht als Anlass, um aus dem Scheitern von Handlungen an den
kontingenten Gegebenheiten der Welt zu lernen, indem man sich darüber verständigt. Dies
liegt daran, dass seine Form des „Realismus“ eigentlich ein metaphysischer Begriffsrealismus
sei.
Brandom rettet die realistischen Intuitionen nicht durch eine Rekurs auf die kontingenten
Beschränkungen einer als unabhängig und identisch unterstellten Welt, die die Diskursteilnehmer
verarbeiten, indem sie ihre konstruktiv entworfenen Interpretationen von Zuständen und
Ereignissen mit der praktisch erfahrenen Kontingenz entäuschter Konfrontationen in Einklang
bringen. Er begreift die Welt […] überhaupt nicht nominalisitisch, sondern […] „realistisch“,
wenn man den Ausdruck anders als im modernen Erkenntnisrealismus im Sinne eines
metaphysischen Begriffsrealismus verwendet. Brandom sieht nämlich die Objektivivtät unserer
74
Begriffe und materialen Schlussregeln in einer an sich begrifflich strukturierten Welt verankert.
(WR, 165 f.)
Diese Haltung erscheint Habermas, als Vertreter des nachmetaphysischen Denkens,
inkonsistent. Im Folgenden versucht er sie sich deshalb zu erklären.
In der Tat hat Habermas an diesem Punkt Brandom aber bereits verlassen, denn bei Brandom
impliziert das Zulassen von Erfahrungsgründen als Regressstopper nicht die Annahme einer
objektiven Welt im Sinne von Habermas (einer Welt, die unabhängig von den Aussagen über
sie existiert, für alle gleich ist und damit dem Universalismusanspruch der Wahrheitgeltung
gerecht werden würde. Dass die „Dinge“ Autorität über die Begriffe ausüben könnten,
bedeutet für Brandom nicht, dass sinnliche Wahrnehmungen eine „Vetogewalt gegenüber
ungeeigneten semantischen Regeln“ (WR, 160) hätten:
Begriffe, verstanden als inferentielle Rollen von Ausdrücken, fungieren nicht als epistemologische
Vermittlungsinstanzen zwischen uns und dem, was sie unter Begriffe bringen. Nicht, weil es keine
Kausalordnung aus Einzeldingen gäbe, die den Inhalt des Denkens liefern, sondern weil diese
selbst durch und durch begrifflich aufgefasst werden und nicht im Gegensatz zum Begrifflichen.
(EV 9.1.2., 862)
Brandom leugnet in der Tat keine Welt der „Einzeldinge“, die in kausalen Verhältnissen
zueinander stehen würden, aber diese „Dinge“ sind nicht ontologisch definiert, sondern als
etwas, „auf das Begriffe angewendet werden“ (im Gegensatz zu Menschen, die Begriffe
anwenden). Diese „Dinge“ sind damit durch ihre Rolle im Spiel des Gebens und Nehmens
von Gründen, innerhalb der Sprache, definiert. Die „objektive Welt“, die sie konstituieren, ist
deshalb nichts anderes als diese Praxis selbst. Diese „Dinge“ liefern wohl den Gehalt der
Begriffe und man ist geneigt, in einem Stoff-Form-Dualismus zu denken. Damit liegt man
aber falsch, da der Gehalt der Begriffe selbst schon begrifflich gegliedert in dem Sinne ist,
dass er Regeln unterliegt. Das Unterworfensein unter Notwendigkeiten verbindet die „Wesen,
die Begriffe anwenden“ und die „Dinge“ auf die Begriffe angewendet werden: bei den
Menschen nennt man es Geschichte oder Normen, bei den „Dingen“ Natur oder
Regelhaftigkeit. (Vgl. BB, 42; EV 9.1.2., 864). Der Begriff als geregelte Praxis steht im
Zentrum und bestimmt sowohl die Akteure als auch das, womit sie hantieren. So wie es für
Kant, für den Begriffe und Normen identisch sind, kein Reich außerhalb des Normativen gibt,
da Regeln überall gelten, so gibt es für Brandom keine andere Welt als eine begrifflich
75
gegliederte, „denn das Unbestimmte ist Nichts für den Verstand und endet im Nichts.“
(Hegel).75 So muss man Brandoms Zitat von Hegel verstehen, dass demjenigen, der die Welt
rational betrachte, d.h. Begriffe auf sie anwende, diese Welt auch als begrifflich gegliederte
erscheine („On he who looks rationally on the world, the world looks rationally back“). Nur
unter diesem Blickwinkel erscheinen „Denken und Welt als gleichermaßen und in den
bevorzugten Fällen als identisch begrifflich gegliedert […]“ (EV 9.1.2., 862). Die Perspektive
des Begrifflichen erzeugt eine Strukturverwandtschaft zwischen „Subjekt“ und „Objekt“, die
Brandom, in Anlehnung an Hegel, zu der scheinbar objektiv-idealistischen These führt, „dass
die Struktur und Einheit des Begriffs die gleichen sind wie Struktur und Einheit des Selbst.“
Entsprechend seien Begriffe am besten „nach dem Modell des Selbst zu verstehen.“76
Wenn Habermas aus diesen Aussagen, die lediglich von einer Strukturanalogie im Rahmen
eines bestimmten methodischen Vorgehens sprechen, schließt, dass Brandom damit sagen
wolle, dass „sowohl unsere diskursiv gewonnenen Gedanken wie die in Gedanken gefasste
Welt, von Haus aus begrifflicher Natur, also aus demselben Stoff gemacht seien“ (WR, 166),
so zeigt das nur, dass er Brandom nicht verstanden hat. Es ist geradezu paradox, mit dem
Begriffsdualismus von Stoff und Form an Brandoms Konzept heranzugehen, der sich so sehr
Hegel verpflichtet fühlt (und diese Verpflichtung auch einlöst), dessen Anliegen es war, die
zu Gegensätzen erstarrten Dualismen von Stoff und Form zu überwinden! Denken und Welt
stehen bei Hegel und Brandom einander nicht getrennt durch eine Kluft gegenüber, sondern
sind als „notwendige Entzweiung“ ein Faktor des Lebens, das ewig entgegensetzend sich
bildet, und die Totalität ist in der höchsten Lebendigkeit nur durch Wiederherstellung aus der
höchsten Trennung möglich.77 Eine Unterscheidung werde dann zum Dualismus, so Brandom,
wenn ihre Bestandteile so unterschieden würden, dass ihre charakteristische Beziehung
zueinander letztlich unverständlich werde. (Vgl. EV 2000, 852) Brandom dagegen möchte
eine „Geschichte zu erzählen“, die erklären soll, „warum wir uns von dem Nicht-Wir, das uns
umgibt, sowohl unterscheiden als auch zu ihm in Beziehung stehen.“ (EV 9.1.1., 867). Diese
gleichzeitige Einheit und Geschiedenheit erleben wir jedesmal, wenn wir die grundlegende
Frage stellen, die Brandom an Anfang und Ende der „Expressiven Vernunft“ gesetzt hat:
Wann behandeln wir etwas als zu uns gehörig? – Wir sind umgeben von einer Welt aus Nicht- 75 Hegel, G.W.F. (61986). S. 26. 76 Brandom, Robert B. (1999): Pragmatistische Themen in Hegels Idealismus. Unterhandlung und Verwaltung der Struktur und des Gehalts in Hegels Erklärung begrifflicher Normen. Aus em Amerikanischen von Reiner Ansén. DZPhil, Berlin 47 (1999), 3, S. 355-381. S. 355. [PT] 77 Hegel, G.W.F. (61986): Werke in 20 Bänden mit Registerband, Bd. 2: Jenaer Schriften 1801-1807. Frankfurt/M., S. 21-22.
76
Wir, von dem wir herausfinden wollen, ob und wie es zu uns Begriffeverwendern dazugehört,
an unserer Praxis teilhat. Als intentionale Wesen nehmen wir immer schon eine intentionale
Einstellung zu allem ein, was uns begegnet. Selbst einfachen intentionalen Systemen wie
Messgeräten oder Computern gegenüber. Die Methode, um den „Graben“ zwischen Wir und
Nicht-Wir zu überwinden ist die dialektische Methode. Sie besteht nach Hegel darin „das
Gewordensein der intellektuellen und reellen Welt als ein Werden, ihr Sein als Produkte als
ein Produzieren zu begreifen“:
Es ist insofern eine Zufälligkeit, aber unter der gegebenen Entzweiung der notwendige Versuch,
die Entgegensetzung der festgewordenen Subjektivität und Objektivität aufzuheben und das
Gewordensein der intellektuellen und reellen Welt als ein Werden, ihr Sein als Produkte als ein
Produzieren zu begreifen. In der unendlichen Tätigkeit des Werdens und Produzierens hat die
Vernunft das, was getrennt war, vereinigt.78
„Sie als uns anzuerkennen“ („recognizing them as us“ (ME 9.3.3., 644), das gemeinsame Wir-
Sagen im interpretativen Gleichgewicht zwischen Interpretierenden und Interpretierten stellt
bei Brandom genau diese rationale Tätigkeit des Produzierens begrifflicher Gehalte dar, die
die produktive Entgegensetzung von Subjekt und Objekt bewahrt aber sie weder in einen
Begriffsrealismus noch einen Idealismus überführt, die beide Formen eines statischen
Monismus sind. Brandom solches zu unterstellen bedeutet, dass man die von ihm verwendete
dialektische Methode ontologisch liest. Wenn bei Hegel oder Brandom von der „Einheit von
sinnlicher und intellektueller Welt“ die Rede ist, so handelt es sich um eine Einheit, die über
eine Praxis vermittelt ist, keine ontologische Einheit. Hier kommt wieder der Begriff des
„Absoluten Wissens“ ins Spiel, der bei der Analyse von Brandoms Kommunikationsbegriff so
wichtig war. Mit den Worten Hegels:
Diese bewusste Identität des Endlichen und der Unendlichkeit, die Vereinigung beider Welten, der
sinnlichen und der intellektuellen, der notwendigen und der freien, im Bewusstsein ist Wissen. Die
Reflexion als Vermögen des Endlichen und das ihr entgegengesetzte Unendliche sind in der
Vernunft synthetisiert, deren Unendlichkeit das Endliche in sich fasst.79
Das Wissen oder soziale Selbstbewusstsein ist ein explizites Wissen um das Wie der
gemeinsamen Praxis der Begriffsverwendung. Da diese Praxis als Anerkennungspraxis
78 Ebd. 79 Hegel, G.W.F. (61986). S. 27-28. Hervorhebungen durch mich.
77
sowohl synchron als auch diachron, über die Generationen hinweg, stattfindet und als solche
geschichtlich ist, scheitert jedes Modell, dass diese Prozesse beschreiben will, wenn es das
zeitliche Moment nicht berücksichtigt. Die dialektische Figur beschreibt ein Zurückgehen, um
fortzuschreiten.
Indem der Begriff das eigene Selbst des Gegenstands ist, das sich als sein Werden darstellt, ist es
nicht ein ruhendes Subjekt, das unbewegt die Akzidenzien trägt, sondern der sich bewegende und
seine Bestimmungen in sich zurücknehmende Begriff. (PhdG)80
Die Struktur der reziproken Anerkennung, innerhalb welcher der Geist als ganzer zu
Selbstbewusstsein kommt, ist geschichtlicher Art. Es handelt sich um eine Beziehung zwischen
Zeitebenen des Geistes, in welchem die Gegenwart die Autorität der Vergangenheit anerkennt und
umgekehrt Autorität über sie ausübt, wobei ihre Konflikte von der Zukunft ausgehandelt werden.
Das ist die Anerkennungsstruktur der Tradition, die die normative Struktur des
Entwicklungsprozesses artikuliert, in welchem Begriffe ihre Gehalte durch Anwendung in der
Erfahrung erwerben […] Indem man diese Struktur explizit macht, gelangt man zu jener Art von
Selbstbewusstsein, die Hegel „Absolutes Wissen“ nennt, und von dem ich hier einige Umrisse
nachzeichnen wollte.81
Was Brandom beschreibt ist die Struktur dieser Bewegung des Begriffs als ein Geben und
Nehmen von Gründen in der Gestalt wechselseitiger Interpretation oder deontischer
Kontoführung. Habermas „Diagnose“ eines metaphysischen Begriffsrealismus, dass Brandom
die Objektivität unserer Begriffe und materialen Schlussregeln in einer an sich begrifflich
strukturierten Welt verankert sehe (vgl. WR, 165 f.), ist an sich nicht falsch. Nur beschreibt
sie eine Strukturanalogie als ein Verhältnis von zwei Welten: einer Welt der Begriffe und
einer „an-sich-seienden“ Welt, von Brandom behaupten würde, sie wäre begrifflich
gegliedert. diese „an-sich-seiende“ Welt existiert aber weder bei Hegel noch bei Brandom je
unabhängig von dem sie setzenden Subjekt. Das Ziel bei Brandom und Hegel ist
[d]ie Vereinigung beider Seiten […] welche diese Reihe der Gestaltungen des Geistes beschließt;
denn in ihr kommt der Geist dazu, sich zu wissen nicht nur wie er an sich , oder nach seinem
absoluten Inhalte, noch wie er für sich nach seiner inhaltslosen Form oder nach der Seite des
Selbstbewusstseins, sondern wie er an und für sich ist. (PhdG, 520)
80 Hegel, G.W.F. (1988): Phänomenologie des Geistes. Hamburg. S. 45. 81 Brandom, Robert B. (1999): Pragmatistische Themen in Hegels Idealismus. Unterhandlung und Verwaltung der Struktur und des Gehalts in Hegels Erklärung begrifflicher Normen. Aus dem Amerikanischen von Reiner Ansén. DZPhil, Berlin 47 (1999), 3, S. 355-381. S. 381.
78
Doch zurück zu Habermas Kritik an Brandom Kommunikationsbegriff – auch wenn wir nun
festgestellt haben, dass diese Kritik Brandom eigentlich gar nicht mehr treffen kann, weil er
gar keinen Begriffsrealismus vertritt. Wie nehmen also an, das Habermas recht hätte und
untersuchen die möglichen Folgen eines Begriffsrealismus für das Verständnis menschlicher
Kommunikation. Das zentrale Problem des angenommenen Begriffsrealismus besteht darin,
dass er eine Form des Mentalismus darstellt, der eine objektive Welt und die Anderen als
Gesprächspartner für das Verstehen irrelevant macht. Ein solches Konzept hat deshalb kein
gesellschaftskritisches und damit progressives Potential mehr. Deshalb muss Habermas, als
kritischer Soziologe, es ablehnen. Ein solches Modell erscheint geradezu „langweilig“: weder
für den Einzelnen noch die Diskursgemeinschaft gibt es etwas Neues zu erkennen oder zu
erarbeiten und keiner ist wirklich verantwortlich, denn alle sind nur Ausführende oder
„Besonderungen“ der Selbstbewegung des Begriffs oder des „Allgemeinen“.
Die Annahme einer im ganzen begrifflich strukturierte Welt entlastet die endlichen und falliblen
menschliche Geist in gewisser Weise von der konstruktiven Anstrengung, in eigenen Begriffen
Interpretationen vom Geschehen in der Welt zu erzeugen. […] An die Stelle der „Anstrengung des
Begriffs“, die sonst eine Sache des kooperativen Lernens einer konsruktiv verfahrenden
Kommunikationsgemeinschaft wäre, tritt die „Bewegung des Begriffs“, die sich durch
erfahrungsvermittelte Diskurse hindurch, aber über die Köpfe der meisten Diskursteilnehmer
hinweg vollzieht. Dieser Objektivismus entkleidet die Diskursgemeinschaft der epistemischen
Autorität (wie auch der moralische Autonomie) […] (WR, 172)
Diese rechtshegelianische Lesart Hegels deutet den Begriff oder das Absolute als
Bewusstsein, als quasi transzendentales absolutes „Subjekt“, nicht als Vernunfttätigkeit, die
sich intersubjektiv in kommunikationsimmanenten Anerkennungsprozessen vollzieht. Gegen
diese Lesart grenzt sich Brandom in „Reconciling Two Heroes“ explizit ab.82 Wer Hegel so
lese, verkenne, dass der hegelsche „Geist“ nicht durch mentale Reflexion, sondern durch
soziale Anerkennungsprozesse – die in Ich-Du-Dyaden sich ereigneten und von dort aus
vergesellschaftend nach außen wirkten – zum Bewusstsein als an und für sich Seiendes
gelange. Da Habermas aus seiner Lesart Hegels aber nicht herauskann, erscheint ihm die
Gründung des deontischen Kontoführens auf die Interpretationspraktiken zwischen einer
ersten und zweiten Person bei Brandom unglaubwürdig. „Was er „Ich-Du-Beziehungen‘
82 Vgl.: Brandom, Robert B. (2009): Towards Reconciling Two Heroes: Habermas and Hegel. Conference on the Philosophy of Jürgen Habermas, University of Pécs, Pécs, Ungarn, 18. - 19. Mai 2009. [RH] S. 10.
79
nennt, konsruiert er nämlich tatsächlich als die Beziehung zwische einer ersten Person, die
Geltungsansprüche erhebt, n deiner dritte Person, die dem anderen Geltungsansprüche
zuschreibt.“ (WR, 173) Wie Habermas die deontische Kontoführung liest, gehe es einem
Sprecher nur darum einem Interpreten „zu verstehen zu geben“, dass er ,p‘ für wahr halte.
Dem hält Habermas entgegen, dass dies nicht der alleinige Grund für das Eintreten des
Sprechers in die Kommunikation mit einem Anderen gewesen sein könne. Ein Sprecher wolle
„nicht nur richtig verstanden werden, sondern sich mit jemandem über ,p‘ verständigen.“
(WR, 176) M.a.W.: Er will, dass der andere den Wahrheitsanspruch, den er mit der
Behauptung „das p“ erhoben hat, vom anderen anerkannt wird. Das bedeutet auch, dass er
von ihm eine Antwort erwartet und nicht nur die Zuschreibung eines Geltungsanspruchs.
Wahrheitsansprüche seien deshalb, so Habermas, grundsätzlich auf intersubjektive
Anerkennung angelegt und Verständigung würde als Ziel jeder Kommunikation innewohnen.
Diese „Pointe sprachlicher Verständigung“ (WR, 175) würde Brandoms Modell der
Kommunikation als deontischem Kontoführen deshalb entgehen.
Zusammenfassung
Habermas begreift Brandoms Ansatz zur Sprachpragmatik im Ganzen als einen Weg von
Kant zu Hegel, d.h. einen Weg, der bei Kants Autonomiebegriff und der Selbstbindung des
eigenen Wollens durch rationale Gründe beginnt, dann die Praktiken beschreibt, „in denen
sich die Vernunft und Autonomie sprach- und handlungsfähiger Subjekte äußern“ (WR, 138),
um über die Angleichung von Tatsachen und Normen, theoretischer und praktischer Vernunft,
im Medium des Rationalen – das Brandom als per se normativ verstehe – zu einem
hegelianischen rationalen Monismus zu gelangen (vgl. WR, 182). Diese Entwicklung ist für
Habermas, der selbst einen kantischen Pragmatismus vertritt, in sich widersprüchlich. Kant
und Hegel, pragmatischer Kantianismus und objektiver Idealismus, sind für ihn unvereinbar.
Und dass Brandom, dessen Ansatz er als „Meilenstein in der theoretischen Philosophie“
ansonsten hoch schätzt, sich in diesen Widerspruch verstrickt hat, lastet er einem
Missverständnis von Kants Pragmatismus und der methodischen Entscheidung Brandoms
zugunsten einer phänomenologischen Herangehensweise an.
Das unterstellte Missverständnis betrifft – um es mit den habermas’schen Schlagwörtern zu
benennen – die Vermischung von Wahrheit und Rechtfertigung: d.h. dem, was
Kommunikationsteilnehmer behaupten dürfen, weil es wahr ist und dem, was sie tun sollen
80
und wofür sie sich rechtfertigen müssen, wenn sie es nicht tun. Denn was wir tun sollen, ließe
sich nach Habermas nicht mit Tatsachen, sondern nur mit Werten „begründen“, d.h.
rechtfertigen.83 Die methodische Entscheidung für einen „Individualismus“, nach welchem
„die Diskurspraxis auf der Grundlage wechselseitiger Beobachtungen aus Schlussfolgerungen
hervor[gehe], die individuelle Teilnehmer, ein jeder für sich“ vornähmen (vgl. WR, 177),
führe Brandom deshalb notwendig zu einem Begriffsrealismus, weil er sowohl die
naturalistische als auch die pragmatistische Alternative, um Lernprozesse an den
Schnittstellen von Sprache und Welt im Wahrnehmen und Handeln zu erklären, ausschlage
(WR 162). Weder erkläre er die „realistischen Intuitionen“ mit Bezug auf eine objektiv
existierende Welt, noch könne er Lernen als Auseinandersetzung mit der Vetomacht der
Wahrnehmungen beschreiben.
Habermas seinerseits möchte mit seiner Kritik sozusagen einen Ausweg aus der Sackgasse
weisen, in die sich Brandom angeblich aufgrund seiner methodischen Entscheidungen
manövriert hätte, und zwar durch eine „Rückwendung“ von Hegel zu Kant, die aus Habermas
Sicht allein zukunftsweisend sei. Brandoms Neohegelianismus dagegen verurteilt Habermas
als nicht mehr zeitgemäß: im Zeitalter des nachmetaphysischen Denkens sei es unmöglich
geworden, einen Standpunkt außerhalb unserer Sprache einzunehmen „um gegebenenfalls
erkennen zu können, dass sich in den Strukturen unseres Weltverständnisses Strukturen der
Welt widerspiegeln, die aus demselben Stoff gemacht sind wie unsere Begriffe“ (WR, 171,
167). Metaphysik und Hegel, der einen letzten quasi-metaphysischen Ansatz mit seinem
„Geistmonismus“ (?) vertrat, sind für Habermas gleichermaßen anachronistisch.
83„Eine Rechtfertigung der normativen Erwartung, dass Bankangestellte einen Schlips tragen sollen, wird sich […] weniger auf Tatsachenargumente als auf ‚starke Wertungen’ stützen, besispielsweise auf den Zusammenhang zwishen bestimmten Kleidungsvorschriften und jenen Wertorienierungen, die Mitglieder einer bürgerlichen Kultur aus ihrer Perspektive mit der vetrauenswürdigen Handhabung von Geldgeschäften verbinden“ (WR, 184).
81
4. Brandoms Erwiderung auf Habermas
Brandom nimmt in seinem Artikel „Facts, Norms, and Normative Facts: A Reply to
Habermas“ [FN] zu Habermas Einwänden Stellung, die dieser im European Journal of
Philosophy gegen ihn vorgebracht hatte.84 Der Hauptvorwurf betraf, wie das letzte Kapitel
gezeigt hat, die fehlende Berücksichtigung der Rolle der zweiten Person in der
Kommunikation. Insbesondere nimmt Brandom Bezug auf die Passage, in der Habermas von
dessen Modell von Kommunikation behauptet, dass es
den Interpreten vorzugsweise mit einem Publikum gleichsetzt, das die Äußerung eines Sprechers
beurteilt – und nicht mit einem Adressaten, von dem erwartet wird, dass er dem Sprecher eine
Antwort gibt. Jede Runde eine neuen Diskurses wird mit einer Zuschreibung eröffnet, die der
Interpret aus der Beobachterperspektive einer dritten Person vornimmt. (WR, 174)
Im ganzen findet er diese Beurteilung zutreffend, wendet aber ein, dass sein Modell als ein
handlungstheoretisches Modell von Kommunikation doch über bloß passive Beobachtung aus
der Perspektive einer dritten Person hinausgehe. Schließlich fordere die Infragestellung einer
Behauptung durch einen anderen den Sprecher heraus, diese zu rechtfertigen. Mithin stellt
Kommunikation in der Tat bei Brandom mehr dar, als ein „selbstgenügsames Spiel, womit
sich die Partner gegenseitig über ihre Meinungen und Absichten informieren.“ (WR, 175). Es
handelt sich um ein Spiel, bei dem sich die Partner nicht nur gegenseitig „Gründe geben“,
sondern eben auch voneinander einfordern können.
Auf der semantischen Seite gehe sein Modell, so Brandom, über das bloße asymmetrische
Beobachten insofern hinaus, als die Beziehung zwischen demjenigen, der eine (insbesondere
doxastische) Festlegung zuweist – „Er behauptet, dass (zuerst das Ei da war)“ – und
demjenigen, der sie eingeht, indem er sie anerkennt – „Ich stehe dazu, dass das Ei zuerst da
war, (weil sonst kein Huhn hätte schlüpfen können)“ – symmetrisch ist, d.h. dass keine
Perspektive privilegiert ist. Wessen Behauptungen oder Begriffsanwendungen autoritativ
seien, müsse in „mühsamer Kleinarbeit“ ausgehandelt werden: „Es gibt nur die tatsächliche
Praxis des Prüfens, wer im Einzelfall die besseren Gründe hat.“ (vgl. EV/8.6.4, 834)
84 Brandom, Robert B. (2000): Facts, Norms and normative Facts: A Reply to Habermas. European Journal of Philosophy 8/3 (2000), 356-374. [FN]
82
(Aus der Comis-Serie „Touché“, vom Zeichner Thomas Körner alias ©TOM)85
Das Wesen von Kommunikation sieht Brandom in der Fähigkeit, über die Differenz zwischen
den sozialen Perspektiven der Kommunikationspartner hin- und her zu navigieren, die durch
ihre Überzeugungen und Hintergrundfestlegungen jeweils doxastisch und inferentiell
determiniert sind. Dabei bestehe das Ziel nicht nur darin, wie Habermas unterstellt,
Informationen vom anderen zu bekommen, indem man ermittelt, worüber der andere spricht,
sondern auch, indem man versucht, die Welt aus desssen Perspektive zu sehen – um ermitteln
zu können, was er sagt. Denn der gleiche Satz (das Gesagte) bedeutet nach Brandom eben
„im Mund verschiedener Personen Verschiedenes.“ (vgl. EV/8.2.1, 709)
Allerdings wendet Brandom sich deutlich gegen ein Kommnikationsmodell wie es auch
Habermas vertritt, das erfolgreiche Kommuniaktion, d.h. wechselseitiges Verstehen, als ein
Teilen von Gedanken begreift:
But nothing is made of the notion of face to face, reciprocal communicative interaction aimed at the
sort of understanding that consists in convergence of the contents of commitments as specified de re,
from one participant’s perspective, and de dicto, from that of the other. (FN, 362)
85 Ein Musterbeispiel gescheiterter wissenschaftlicher Kommunikation: In beiden Köpfen werden zwar logische Wenn-Dann-Ketten durchlaufen (die sich leider im Kreis drehen) doch keiner ist bereit, die Perspektive zu wechseln und die Inferenzketten aus der Sicht des Anderen zu beurteilen (was hier natürlich trotzdem das Henne-Ei-Dilemma nicht lösen würde). Sehr deutlich wird an diesem Beispiel die Irrelevanz eines Bezugs des Diskurses zu einer „objektiven Wirklichkeit“ außerhalb des Diskurses („am Anfang war die Socke“), die eben transzendent zu der menschlich-begrifflichen Denk-Kategorie „Kausalität“ ist und sich ihm deshalb nur durch die Offenbarung durch eine höheren Gewalt erschließt (hier: durch den Comiczeichner). Die Lösung der Aporie durch Gewalt kann sowohl als Scheitern des rationalen Diskurses am unnachgiebigen Festhalten an der eigenen Machtposition gedeutet werden, aber auch als erfolgreichen Durchbrechen des rationalen Paradigmas durch eine befreiende, nichtsprachliche Handlung.
83
Der Inhalt der doxastischen und praktischen Festlegungen, d.h. die an eine Behauptung
gebundenen theoretischen und praktischen Konsequenzen auf die sich der Sprecher
verpflichtet, kann gar nicht mit dem des Hörers identisch sein, da sie jeweils verschiedene
Hintergrundfestlegungen mit dem verbinden, worüber sie etwas behaupten (d.h. mit Bezug
auf die Sache/de re), bzw. mit dem, was der Hörer dem Sprecher zuschreibt, dass jener glaubt
(seinen Glauben an das Gesagte/de dicto).
Solange Unterschiede bei den Begleitfestlegungen bestehen, mit Blick auf die der Gehalt der durch
einen Satz ausgedrückten Behauptung zu ermitteln ist, bedeutet der gleiche Satz im Mund
verschiedener Personen Verschiedenens. (EV,/8.2.1, 709)
Der Grund dafür besteht in der inferentiellen Gliederung begrifflicher Gehalte. Worauf sich
jemand durch eine Behauptung festlegt, kann nur, so Brandom „vor einem Hintergrund
kollateraler Festlegungen entschieden werden, die als Hilfshypothesen verfügbar sind und als
weitere Prämissen beim Folgern eingebracht werden können.“ (ebd.). In Anlehnung an
McDowells Kritik an Frege erklärt er dies in der „Expressiven Vernunft“ noch genauer.
Erfolgreiche Kommunikation verlange nicht geteilte Gedanken, sondern verschiedenen
Gedanken, die jedoch „in einer passenden Relation der Korrespondenz stehen“ müssten, d.h.
„dass die Zuhörer mit der Äußerung des Sprechers einen angemessenen korrespondierenden
de re-Sinn verbinden.“ (EV/8.5.3, 780) Wenn ich z.B. sage: „Sieh mal, der Abendstern ist
aufgegangen!“ und du antwortest, „Ja, da ist ja die Venus!“, dann hast du, durch eine
passende Substitution meines Ausdrucks, einen mit dem Sinn meiner Äußerung
korrespondierenden de-re-Sinn verbunden, d.h., dir ist klar, dass wir über dasselbe sprechen,
obwohl wir Verschiedenes sagen. Du hast mich verstanden – und auch ich weiß, dass du mich
verstanden hast, weil ich umgekehrt in der Lage bin, den Oberbegriff Venus wieder mit
meinem Unterbegriff „Abendstern“ zu ersetzen.
Brandom wehrt sich gegen den Vorwurf durch Habermas, dass seine Theorie wechselseitiges
Verstehen nicht angemessen beschreiben könnte, weil er nicht ausreichend zwischen der
Rolle des Hörers (der angesprochen wird und von dem erwartet wird, dass er antwortet) und
der des Zuhörers (der nur beobachtet und Zuschreibungen macht) unterscheide. Brandom
stellt den Dialog nur nicht an den Anfang seiner Argumentation – und sein Ziel ist nicht das
Erklären von Verständigung. Brandom stellt stattdessen den Begriff und dessen Eigenschaften
84
an den Anfang und leitet aus dessen Struktur alles andere – den Begriff von Objektivität,
Normativität, monologisches Begründen und dialogische Kommunikation – ab.
From his [Habermas] point of view the achievement of this sort of mutual understanding is the
central communicative phenomeneon. A theory of linguistic practice that starts elsewhere and
treats accounting for this sort of I-thou interaction as peripheral, as something of an afterthought,
has missed something crucial. (FN 2000, 363)
Brandom sieht den Grund dafür, dass Habermas sein Modell als defizitär bezeichnet, in der
Grundauffassung Habermas’ vom Ziel und Zweck von Kommunikation. Für ihn sei eben
genau das „Teilen von Gedanken“ für erfolgreiche Kommunikation wesentlich. Erfolgreiche
Kommunikation besteht für Habermas in der Tat in Verständigung, d.h. dem „begründeten
Einverständnis“, zwischen zwei Interaktionspartnern „über etwas in der Welt“ (d.h. über die
Geltung eines Wahrheitsanspruchs mit Bezug auf etwas in der objektiven Welt).86 Menschen
bedienen sich der Sprache, so Habermas in „Wahrheit und Rechtfertigung“, nicht um
jemandem zu verstehen zu geben, dass man eine Behauptung „p“ für wahr hält und um vom
anderen bloß richtig verstanden zu werden, sondern um sich mit ihm über „p“ zu verständigen
– so dass am Ende „beide gemeinsam glauben, ,dass p‘.“ (WR, 176) Er steht damit
beispielsweise dem Kooperationsmodell menschlicher Kommunikation nach Michael
Tomasello87, in dem – neben der grundsätzlichen Intention miteinander zu kooperieren – auf
der Ebene der Wahrnehmung ein Wissen um einen Gegenstand innerhalb des Rahmens
gemeinsamer Aufmerksamkeit in der objektiven Welt geteilt wird,88 wesentlich näher als dem
86 Vgl. WR, 176 und: „Verständigung hat das Ziel, eine Situation zu überwinden, die durch Problematisierung der in kommunikativem Handeln naiv vorausgesetzten Geltungsansprüchen entsteht: Verständigung führt zu einem diskursiv herbeigeführten, begründeten Einverständnis […].“ Habermas, Jürgen (1971): Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, 1963, 4. erw. Auflage, Frankfurt a. M., 115. – Zu den drei Geltungsansprüchen vgl.: „Die Aktoren erheben mit ihren Sprechhandlungen, indem sie sich miteinander verständigen Geltungsansprüche, und zwar Wahrheitsansprüche, Richtigkeitsansprüche und Wahrhaftigkeits-ansprüche je nachdem, ob sie sich auf etwas in der objektiven Welt (als der Gesamtheit existierender Sachverhalte), auf etwas in der gemeinsamen sozialen Welt (als der Gesamtheit legitim geregelter interpersonaler Beziehungen einer sozialen Gruppe) oder auf etwas in der eigenen subjektiven Welt (als der Gesamtheit privilegiert zugänglicher Erlebnisse) Bezug nehmen.“ – Habermas, Jürgen (1983): Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. M. S. 68. 87 Vgl. Tomasello, Michael (2010): Warum wir kooperieren. Berlin. – Ders. (2011): Die Ursprünge menschlicher Kommunikation. Frankfurt a. Main. 88 In seiner Laudatio für Tomasello, anlässlich der Verleihung des Hegel-Preises 2009, fasst Habermas Tomasellos Kommunikationsmodell wie folgt zusammen: „Auf der horizontalen Ebene übernimmt der eine die Wahrnehmungsperspektive des anderen, so dass eine soziale Perspektive entsteht, aus der die Beteiligten gleichzeitig in vertikaler Richtung ihre Aufmerksamkeit auf das angezeigte Objekt richten; und so gewinnen sie von dem gemeinsam identifizierten und wahrgenommenen Objekt ein geteiltes Wissen.“ – Habermas, J.(2009): Laudatio für Michael Tomasello, gehalten anlässlich der Verleihung des Hegel-Preises am 16. Dezember 2009 in Stuttgart. www.stuttgart.de/img/mdb/item/383875/51478.pdf [25.07.2011].
85
von Brandom, bei dem nicht propositionale Gehalte oder Dinge in einer vom sprachlichen
Diskurs unabhängigen „objektiven Welt“, sondern eine begrifflich-normativ strukturierte
Praxis geteilt wird. Für Brandom besteht die Leistung, die in erfolgreicher Kommunikation
vollbracht wird, in der Koordination verschiedener Perspektiven auf einen Gegenstand.
Understanding, – whether one-sided understanding of another or mutual understanding of each
other – is a product of discursive co-ordination in which the distinctness of perspectives is
maintained and managed. (NF, 363)
In diesem Sinne ist das Modell des Verstehens bei Brandom z.B. Gadamers Modell der
Horizontverschmelzung diametral entgegengesetzt. Die verschiedenen Perspektiven bleiben
erhalten. Es wird zwischen ihnen lediglich übersetzt oder „über-ge-setzt“ (hin- und her
navigiert):
The fact that the word ‚I’ can never have the significance in my mouth that it does in yours […] in
no way precludes my understanding what you express by using it. Communiction is possible, but it
essentially involves intralinguistic interpretation – the capacity to accomodate differences in
discursive pespective, to navigate across them. (ME 1998, 588)
Was dabei geteilt wird ist nicht „etwas in der Welt“ – und dieses Etwas ist auch gar nicht
nötig, um miteinander zu kommunizieren. Erfolgreiche Kooperation bei einer gemeinsamen
Unternehmung, sei es Kommunikation oder Paartanz, bedeutet für Brandom nicht, dass beide
dasselbe tun (b.z.w. denken), sondern dass ihr gemeinsames Tun geteilten (hier: begrifflichen)
Normen oder Spielregeln unterliegt:
Und du und ich können durch genau die gleichen öffentlichen sprachlichen und begrifflichen
Normen im Umfeld des Begriffs gebunden sein, ungeachtet dessen, dass wir geneigt sind,
unterschiedliche Behauptungen aufzustellen und unterschiedliche inferentielle Züge zu absolvieren.
Es ist meine Sache, ob ich ein Token des Typs ‚Molybdän’ im Spiel des Gebens und Verlangens von
Gründen ausspiele. Es ist dann allerdings nicht mehr meine Sache, die Signifikanz dieses Zuges zu
bestimmen. (BB, 46)
„The participants do not need at all to be doing the same thing (sharing) in a narrow sense, in
order to be engaged in a joint enterprise, and in that broader sense to be doing the same thing
(sharing). (FN, 363) In ähnlicher Weise würden auch Paartänzer, obwohl sie unterschiedliche
86
Schrittfolgen und Figuren absolvieren, zusammen tanzen. Was beim Paartanz das öffentlich
anerkannte Repertoire an passenden Figuren und Schrittfolgen darstellt, ist, übertragen auf die
diskursive Praxis, die durch deontisches Kontoführen erzeugte „normative Feinstruktur der
Rationalität“ oder „die öffentlichen sprachlichen und begrifflichen Normen im Umfeld des
Begriffes“, die uns beide gleichermaßen binden.
Die zentrale Kritik von Habermas, dass Brandom die „Pointe sprachlicher Verständigung“
verfehle, sei, so vermutet Brandom, damit aus Sicht von Habermas aber wohl noch nicht
entkräftet. Allerdings sei dies auch nicht nötig (oder möglich), da seine, Brandoms, und
Habermas Sicht, was den Zweck von Kommunikation angehe, grundsätzlich
auseinandergingen. Für Habermas besteht die „Pointe sprachlicher Verständigung“ – im
Rahmen seiner „Theorie des kommunikativen Handelns […], die die normativen Grundlagen
einer kritischen Gesellschaftstheorie“ aufklären soll (TKH II, 583, vgl. I, 8) – im „Imperativ
gesellschaftlicher Integration und Nötigung zur Koordination der Handlungspläne unabhängig
entscheidender Interaktionsteilnehmer“ (WR, 176). Sprachliche Verständigung ist für ihn ein
Instrument zur Handlungskoordination und Vergesellschaftung. Brandom dagegen lehnt nicht
nur die wechselseitige Verständigung als Zweck und Ziel diskursiver Praktiken ab – er lehnt
es ganz grundsätzlich ab, sprachlichen Praktiken irgendein Ziel außerhalb ihrer selbst
zuzuordnen.
But I deny this – not because I think that linguistic practice has some other point, but because I
think that it is a mistake to think of it as having a point at all. Linguistic practice is not for
something. […] Mutual understanding, the pursuit of co-operative undertakings, are made
possible by linguistic practtice. But I do not see that they can intelligibly be taken to be its point,
aim or end. It makes us the kind of being we are in such a fundamental sense that it makes no
sense to ask after the point of our being like that. (FN, 363/364)
Für Brandom sind wir „diskursive Wesen“, die sich immer schon im Raum der Gründe und
damit im Spiel des Gebens und Forderns von Gründen vorfinden. In diskursiver Praxis
verwirklichen wir unser Wesen. Was ein „Ziel“ ist, wird im Rahmen von Brandoms Theorie
diskursiver Praktiken völlig neu definiert. Ein Ziel im „praktisch-rationalen Sinn“ (vgl. FN,
364) ist, aristotelisch gesprochen, für Brandom soetwas wie eine Entelechie oder eine
Energeia, d.h. „Form“, die sich im „Stoff“ verwirklicht (wobei Stoff und Form nicht wie bei
Platon unabhängig voneinander existieren). Der Formbegriff bei Aristoteles umschließt Wirk-
und Zweckursache: Insofern die Form (eidos) die Wirkursache in sich schließt, ist sie
87
Energeia, ist „Im-Werk-Sein“ oder Prozess; insofern die Form auch den Zweck eines
Prozesses einschließt, ist sie Entelechie, „Was-sein Ziel-in-sich selbst-Trägt“. In beiden Fällen
ist das Ziel aber nicht außerhalb, sondern (wie bei Brandom) innewohnend und vorwärts (zur
Vollendung) treibend. Brandom nennt dieses Formprinzip in Anlehnung an Hegel den
„Begriff“, was für ihn nichts anderes als rationale diskursive Praxis ist. Und diese sei
produktiv: „[…] a mighty engine for the envisaging and engendering of new ends […].“ (FN,
363)
Sprachliche Praxis als ganze (d.h. nicht die einzelnen Sprechakte) habe nach Brandom
verschiedene Funktionen, aber keine dieser Funktionen – sei es Ausdruck und Übermittlung
von Gedanken, Verstehen, Verständigung, Kooperation oder Arterhaltung – sei deshalb der
Zweck dieser Praxis. Ohne diskursive Praktiken würden diese Funktionen gar nicht
realisierbar sein, d.h. „existieren“. In der Reihenfolge der Erklärung im Rahmen von
Brandoms funktionaler Theorie der Begriffe, die deren Rolle beim Begründen untersucht,
muss deshalb immer mit der Praxis angefangen werden. Brandom räumt der Pragmatik einen
Vorrang vor der Semantik ein, weil er mit Wittgenstein davon ausgeht, dass die Bedeutung
oder der begriffliche Gehalt oder der Gedanke von etwas nicht zuerst existiert und dann durch
diskursive Praxis von einem Sender zu einem Empänger transportiert wird: „Language is
certainly not a tool for the expression of thoughts intelligible as such apart from their relation
to such means of expression […] “ (FN, 363) Die Vorstellung von einer Geistsubstanz oder
Idee, die in der Lautgestalt der sprachlichen Äußerung materielle Form annimmt, verwirft
Brandom als „mythologisch“ (ebd.). Die Bedeutung, der semantische Gehalt eines Ausdrucks,
werde vielmehr durch seine Rolle in Begründungspraktiken, d.h. im Gebrauch dieses
Ausdrucks, konstituiert.
Das Begreifen eines Begriffs, der in einem solchen Vorgang des Explizitmachens [die Umformung
in eine Behauptung, in deren Form ein Begriff sowohl als Prämisse als Begründung dienen wie als
Konklusuion der Begründung bedürfen kann] verwendet wird, besteht im Beherrschen des
inferentiellen Gebrauchs: im Wissen (in dem praktische Wissen, dass man unterscheiden kann,
und das ist ein Wissen–wie) worauf man sich sonst noch festlegen würde wenn man den Begriff
anwendet, was einen dazu berechtigen würde und wodurch eine solche Berechtigung
ausgeschlossen wäre. (BB, 21-23)
Das einseitige (asymmetrische) „Verstehen“ eines anderen aus der Beobachterperspektive der
dritten Person (indem man die richtigen Zuschreibungen zuweist) – „one-sided understanding
88
of another“ – und das wechselseitige Verstehen, die Verständigung im Dialog zwischen 1.
und 2. Person (indem man zwische der eigenen und der fremden Perspektive hin- und her
navigiert) – „mutual understanding of each other“ – unterliegen nach Brandom denselben
öffentlichen sprachlichen und begrifflichen Regeln oder Normen. Sie unterscheiden sich nicht
prinzipiell, wie Habermas dagegenhält. Habermas sieht das Hauptproblem bei Brandom in
eben dieser sog. „Vermischung von zwei Kommunikationsebenen“ (vgl. WR, 175), die er
streng getrennt sehen will: die Ebene der Intersubjektivität, auf welcher Sprecher und Hörer
miteinander sprechen (eine performative Einstellung zueinander einnehmen), und die Ebene
der Gegenstände (den propositionalen Gehalt), über die sich Sprecher und Hörer
verständigen. Nur in der Einheit von Rede und Äußerung erhalte der propositionale Gehalt
nach Habermas seinen „pragmatischen Verwendungssinn“.89 Brandom dagegen fühlt sich in
seiner Theorie verpflichtet, darauf zu verzichten, den propositionalen Gehalt eines Äußerung
mithilfe der propositionalen Einstellungen zu erklären, d.h. wie z.B. Habermas eine Liste
pragmatischer Universalien aufzustellen, die die propositionalen Gehalte der Äußerungen als
Kommnikativa, Konstativa, Repräsentativa oder Regulativa qualifizieren: „But it is an
essential methodological commitment of Making It Explicit not to appeal to propositional
attitudes such as intention and expectation in explaining speech acts.“ (FN, 364) Die Passage
aus Habermas Kritik, die Brandom abschließend zitiert, macht den Gegensatz der
Herangehensweisen sehr deutlich. Darin unterstellt Habermas dem Sprecher eine doppelte
Intention (bei der er den zweiten Aspekt der Kommunikationsabsicht für den Wesentlichen
hält): 1. dass ein Interpret dem Sprecher eine entsprechende Meinung zuschreibt und 2. dass
der Adressat (öffentlich) der Behauptung zustimmt (oder sie in Frage stellt). Letzteres sei
entscheidend, da diese Stellungnahme mit „ja“ oder „nein“ für beide Seiten
„interaktionsfolgerelevante Verbindlichkeiten“ herstelle. Ziel sei bei Habermas aber ganz
eindeutig, schlussendlich, die Übereinstimmung. Nur eine positive Stellungnahme, d.h.
Zustimmung, etabliere die Basis, nämlich „geteilte Hintergrundannahmen“, für weitere
Kommunikation. Wann immer dieser „Einklang“ gestört sei, entstehe Kommunikationsbedarf.
(Vgl. WR, 175) Im Anschluss an den von Brandom zitierten Abschnitt macht Habermas dies
nocheinmal ganz explizit, weshalb ich ihn in voller Länge wiedergeben möchte:
89 Vgl. Habermas, Jürgen (1971): Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz. In: Maciejewski, Frank (Hg.)(1971): Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt a. M. S. 101-142. S.105.
89
Alltägliche Kommunikationen werden vom Kontext geteilter Hintergrundannahmen getragen. Und
Kommunikationsbedarf entsteht wiederum aus der Notwendigkeit, die handlungsrelevanten
Meinungen und Absichten unabhängig entscheidender Subjekte in Einklang zu halten.
Kommunikation ist kein selbstgenügsames Spiel, womit sich Partner gegenseitig über ihre
Meinungen und Absichten informieren. Erst der Imperativ gesellschaftlicher Integration und
Nötigung zur Koordination der Handlungspläne unabhängig entscheidender Interaktionsteilnehmer
– erklärt die Pointe sprachlicher Verständigung. (WR, 175/176)
Brandom möchte bei der Erklärung dessen, was Behauptungen sind, ohne performative
Hilfsvorstellungen wie „glauben/beabsichtigen/erwarten, dass ...“ auskommen. Jedenfalls will
er nicht wie Grice so tun, als ob kommunikative Absichten Behauptungen vorangehen
würden, sozusagen unabhängig von der Behauptungspraxis selbst. Michael Tomasello, der auf
dem Modell von Grice aufbaut, fasst die „kommunikative Absicht“ in einer einfach
verständlichen Formel zusammen: „Ich will, dass du weißt, dass ich etwas von dir will.“90
Brandom stellt infrage, ob so eine Erwartungshaltung unabhängig von kommunikativer Praxis
überhaupt gedacht werden kann. In der Erklärung von diskursiver Praxis sei es sogar
unmöglich mit irgendetwas zu beginnen, das als verstehbar unabhängig von seiner Rolle in
diskursiven Begründungspraktiken sei, wie er in Anmerkung 6 (FN, 373) seine Behauptung
noch zuspitzt. Das Projekt von Making It Explicit sei wesentlich grundlegender als das von
Habermas oder Grice. Indem Brandom die Behauptung als die paradigmatische Gestalt einer
Äußerung etabliert, erscheinen alle anderen propositionalen Einstellungen neben den
Konstativa, auch die von Habermas ins Zentrum gerückte Behauptung, die pragmatisch durch
die Erwartung einer Antwort bzw. Zustimmung qualifiziert ist, als Sonderfälle diskursiver
Praxis.
Das Vorgehen des semantischen „Behauptungstheoretikers“ (wie Brandom sich selbst in
„Begründen und Begreifen“ nennt), bestehe zunächst darin, den Begriff der Behauptbarkeit zu
erklären und dann, was es heiße, dass eine Behauptung „richtig“ sei. Beide Aufgaben würden
laut Brandom durch seine Theorie bewältigt: Die Frage, wann eine Äußerung die
Bedeutsamkeit einer Behauptung hat, lässt sich im Bild der Spielzüge im Spiel des Gebens
und Forderns von Gründen erklären. Wann welcher Spielzug erlaubt, angemessen oder
„richtig“ ist, falle damit zusammen, wann ein Sprecher dazu berechtigt sei, diesen Zug zu tun.
Die Berechtigung beruhe ihrerseits auf den „Regeln des Spiels“ die „als Vorbedingungen für
das Ausführen eines derarigen Spielzuges angegeben werden. Hierbei handelt es sich um den 90 Tomasello, Michael (2011): Die Ursprünge menschlicher Kommunikation. Frankfurt a. Main. S. 100.
90
normativen Aspekt des Gebrauchs, von dem der Behauptungstheoretiker ausgeht.“ (vgl. BB,
240/41) In solchen Begriffen der „Richtigkeit“ innerhalb der Praxis deontischer Kontoführung
ließe sich auch über Sprechakte, die Absichten oder Erwartungen ausdrückten, sprechen.
In those terms it is possible […] to make sense of speech act kinds such as assertion, and of
propositional attitudes corresponding to belief and intention. At that point the notion becomes
intelligible of a species of assertion that is asserting with the intent or expectation of receiving an
answer or reaching agreement. The strong claim to which this approach is committed, however, is
that practices can be intelligible as making claims and inferences, and so as discursive practices,
even if they lack that species […] (FN, 364)
Habermas will den Begriff der Kommunikation nicht in diesem weiten Sinn, sondern nur für
den zielführenden Prozess der Verständigung verwenden. Brandom schränkt ein, dass
Verständigung nur ein Sonderfall des Verstehens sei. Dieses Verstehen, das sich auf
begriffliche Gehalte bezieht, ist dabei nicht rein kognitiv, sondern besteht im Beherrschen des
Gebrauchs dieses Begriffs. (Vgl. BB, 33) Dieser Gebrauch ist sowohl inferentiell als auch
normativ geregelt.
91
5. Zusammenfassung und Bewertung der Auseinandersetzung
zwischen Brandom und Habermas
Aus Brandoms Sicht ist also Habermas Diskursbegriff nicht grundlegend genug, während aus
Habermas Sicht der Kommunikationsbegriff bei Brandom als „verkürzt“ erscheint, nämlich
um die Dimension der zweiten Person. Damit fehlt Brandom aus Sicht von Habermas die
angemessene methodische Erfassung der Dimension des kommunikativen Handelns, das
wesentlich kooperativ sei. Er wirft Brandom „methodischen Individualismus“ vor, den er auf
Brandoms angeblichen Begriffsrealismus zurückführt. Was Brandom „Diskurs“ nenne, sei
nur ein Produkt aus Schlussfolgerungen auf der Grundlage wechselseitiger Beobachtung, „die
individuelle Teilnehmer, ein jeder für sich, vornehmen.“ (WR 177) Dies schließe aus, dass
sich die Interaktionspartner je im gemeinsamen Konsens mit Blick auf einen
Geltungsanspruch träfen oder ein Wissen wirklich teilen könnten. (ebd.) Für Habermas ist
Diskurs grundsätzlich ein an Verständigung orientiertes Unterfangen: „In Diskursen suchen
wir ein ein problematisiertes Einverständnis, das im kommunikativen Handeln bestanden hat,
durch Begründung wiederherzustellen: in diesem Sinne spreche ich fortan von (diskursiver)
Verständigung.“91 Ein weiterer Aspekt von Habermas Diskursbegriff, nämlich die Ablösung
von egozentrischen Motiven92, fehle ebenfalls bei Brandom. Wenn „jeder für sich“ nur Buch
über den Punktestand im Spiel des Gebens und Forderns von Gründen führe, um so zu
berechnen, ob der eigene nächste Spielzug berechtigt sei oder der des anderen, so erscheine
dies als ziemlich egoistisches Unterfangen, bei dem jeder nur daran interessiert sei – wie beim
Baseball – mit dem höchsten Punktestand aus dem Spiel zu gehen, d.h. zu gewinnen/Recht zu
haben. Man kann verstehen, dass Habermas dies ablehnen muss, da er das kommunikative
Handeln im Kontrast zum strategischen oder instrumentellen Handeln konzipiert, als welches
bei BrandomVerständigung aus Habermas Sicht erscheint. Gerade in der Abgrenzung vom
Bild des strategischen Spieles hat Habermas in der TKH (I, 131 f.) den Unterschied von
objektiver Welt und sozialer Welt, Fakten und Normen, eigennütziger Kooperation und an
91 TKH Bd. I, Habermas 1971, 115. 92 „Hingegen spreche ich von kommunikativen Handlungen, wenn die Handlungspläne der beteiligten Aktoren nicht über die egozentrischen Erfolgskalküle, sondern über Akte der Verständigung koordiniert werden. Im kommunikativen Handeln sind die Beteiligten nicht primär am eigenen Erfolg orientiert; sie verfolgen ihre individuellen Ziele unter der Bedingung, dass sie ihre Handlungspläne auf der Grundlage gemeinsamer Situationsdefinitionen aufeinander abstimmen können.“ – Habermas, Jürgen (1997): Theorie des kommunikativen Handelns. Band 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. 2. Auflage. Frankfurt a. M. S. 385.
92
Verständigung orientierter Kooperation deutlich zu machen versucht. Kommunikation,
begriffen als bloß strategisches Handeln, braucht keine soziale Dimension:
Strategisch handelnde Subjekte müssen daher kognitiv so ausgestattet sein, dass für sie in der Welt
nicht nur physische Gegenstände, sondern auch Enscheidungen fällende Systeme [intentionale
Systeme] auftreten können […] Mit der Komplexität der innerweltlichen Entitäten wird der
Begriff der objektiven Welt selbst nicht komplexer. Auch die zum strategischen Handeln
ausdifferenzierte Zwecktätigkeit bleibt, nach ihren ontologische Voraussetzungen, ein Ein-Welt-
Begriff. (TKH, 132)
Genausowenig scheint Brandom aus Habermas Sicht die Perspektive der zweiten Person
wirklich zu benötigen, was deren scheinbare Vernachlässigung erkläre. Als angeblicher
Vertreter eines bjektiven Idealismus hat auch Brandom nur einen „Ein-Welt-Begriff“:
Der objektive Idealismu verschiebt die Erklärungslasten von koperativen Anstrengungen in einer
intersubjektiv konstiuierten Lebenswelt auf die Verfassung des Seienden als Ganzen […] Dieser
Objektivismus entkleidet die Diskursgemeinschaft der spistemischen Autorität (wie auch der
moralische Autonomie) […].“ (WR, 172)
Vor dem Hintergrund seiner Kritik des spieltheoretischen Ansatzes zur Interpretaion sozialer
Praktiken wird verständlich, warum Habermas so empfindlich auf die analytische Metapher
(!) des deontichen Kontoführens reagiert.93
Diese spieltheoretisch-strategische Lesart seiner Theorie der Kommunikation weist Brandom
zurecht als verkürzend zurück. Sie ignoriert, dass Brandom nicht beschreiben will, wie
diskursive Praxis aussehen sollte. Ihm ist es gleichgültig, aus welchen Motiven –
egoistischen, altruistischen oder utilitaristischen oder biologistischen etc. – wir mit anderen
Menschen kommunizieren, solange diese Kommunikation rational im Sinne von begrifflich
geregelt ist. Der Gegenstand von Brandoms Theorie und damit das Erkenntnisinteresse sind
einfach andere als die von Habermas. Weder in „Begründen und Begreifen“ noch in der
„Expressiven Vernunft“ geht es Brandom darum, ein Erklärungsmodell für Kommunikation 93 Habermas zitiert Höffe, nach welchem ein strategisches Spiel sich aus vier Bestandteilen zusammensetze: Spielern, Regeln Auszahlungen (vgl. Brandoms Punkte auf dem deontische Konto!) und Strategien. Nicht Diskursrationalität, sodern Zweckrationalität ist das leitende Prinzip in diesem Spiel. Die Grundmaxime könne lauten: „Wähle die Strategie, die im Rahmen der Spielregeln und angeseichts der Opponenenten den günstigsten Erfolg verspricht.“ Kommunikation wäre dann nichts anders als ein rhetorischer Wettkampf. Habermas lehnt diese spieltheoretische Interpretation der sozialen Wirklichkeit für den Bereich der Kommunikation ab. – Vgl. Höffe, O. (1975): Strategien der Humanität. München. S. 77f. In: TKH I, Anm. 145, S. 131.
93
oder kommunikatives Handeln zu geben, das zusätzlich auch noch Grundlage einer kritischen
Gesellschaftstheorie und Basis einer Diskursethik sein sollte. Zwar beschäftigt ihn der
vergesellschaftende Effekt von rationalen sprachlichen Diskursen in Gestalt der Bildung eines
expliziten Wir-Bewusstseins. Aber er will darauf weder eine kritische Gesellschaftstheorie
aufbauen, noch die soziologische Forschung vorantreiben. Er beschreibt vielmehr, wie
begriffliche Normen in der Sprache erscheinen. Was Brandom am sprachlichen Handeln
interessiert, ist nicht, wie Handlungen koordiniert werden und diskursiv ein Konsens über
Geltungsansprüche erzielt wird, sondern ein progressives Explizitmachen eines impliziten
Wissens-Wie, das sagbar macht, wie man inferentielle Netze knüpft, dadurch
Geltungsansprüche erhebt und Berechtigungen erwirbt bzw. anderen zuschreibt. Brandom
geht über Habermas Konzept kommunikativer Rationalität durch seinen hegelianisch
motivierten Ansatz einer geschichtlichen Rationalität, die sich analog zur Bewegung des
hegelianischen Begriffs entfaltet, hinaus.
Zugespitzt formuliert, erscheint Habermas Projekt auf den ersten Blick als ein kritisches,
während Brandoms nur ein deskriptiv-analytisches zu sein scheint. Dieser Eindruckt täuscht
jedoch. Das Explizitmachen ist auch ein emanzipatorischer Akt, nicht nur ein theoretisch-
analytischer. Er ist eingebettet in einen fortschreitenen Prozess der dialektischen Entwicklung
eines immer expliziter werdenden Bewusstseins dessen, was man als Begriffe verwendendes
Wesen ist. Das Explizitwerden der Regeln impliziter sprachlicher Praktiken generiert für den
einzelnen ein semantisches Selbstbewusstsein und für eine Sprachgemeinschaft die Fähigkeit
zum Wir-Sagen.
Nachdem wir bisher implizit normative Wesen waren, können wir auf dieser Stufe der expressiven
Entwicklung für uns selbst als normative Wesen explizit werden – wohl bewusst, in welchem
Sinne wir Geschöpfe der Normen sind und in welchem die Normen unsee Geschöpfe sind.
Nachdem wir bisher implizit diskursive Wesen waren, können wir auf diesr Stufe der expressiven
Entwicklung für uns selbst als diskursive Wesen explizit werden – wohl bewusst, in welche Sinne
wir Geschöpfe unserer Begriffe (die Gründe, die wir prozudiseren und konsumieren) sind und in
welchem Sinne sie unsere Geschöpfe sind. (EV 9.3.2., 889)
Zusätzlich ist die diskursive Praxis wie ein Motor, der, die Vergangenheit deutend und aus ihr
Normen rekonstruierend, die „Gleise“ für die „Fahrt in die Zukunft legt“. Vor diesem Modell
erscheint Habermas Ansatz eher unbeweglich und starr. Auch Habermas verwendet die
Methode der Rekonstruktion, d.h. er untersucht ebenso wie Brandom die Tiefenstrukturen und
94
immanenten Regeln sprachlichen Handelns. Aber bei ihm hat diese Rekonstruktion kein
progressives Potential, denn die Struktur, die er beschreibt, ist statisch, weil sie letztlich
naturalistisch begründet ist; er bewegt sich sozusagen im Kreis. So heißt es in „Faktizität und
Geltung“:
Es ist vielmehr das sprachliche Medium, durch das sich Interaktionen vernetzen und
Lebensformen strukturieren, welches kommunikative Vernunft ermöglicht. Diese Rationalität ist
dem sprachlichen Telos der Verständigung eingeschrieben und bildet ein Ensemble zugleich
ermöglichender und beschränkender Bedingungen. .94
Sprache ermögliche kommunikative Rationalität, weil sie Ausdruck dieser Rationalität sei.
Dass Sprache auf Verständigung ziele, ist nach Habermas also keine von (s)einer Theorie von
außen der Sprache angetragene Eigenschaft, sondern wohne der Sprache als
Rationalitätspotential bereits inne. Dieses Rationalitätspotential nennt Habermas
kommunikative Rationalität. Damit ist die Normativität menschlichen Sprechhandelns quasi
naturalistisch begründet. Dass Kommunikation der Verständigung dienen soll, sei in der
Geltungsbasis der Rede bereits als „regulative Idee“ angelegt und teile sich in der diskursiven
Praxis, die der Soziologe untersucht und deren immanente Regeln er explizit macht (z.B. in
Gestalt einer Universalpragmatik), nur mit:
Was derart in die Geltungsbasis der Rede eingelassen ist, teilt sich auch den übers kommunikative
Handeln reproduzierten Lebensformen mit. Die kommunikative Rationalität äußert sich in einem
dezentrierten Zusammenhang transzendental ermöglichender, strukturbildender und
imprägnierender Bedingungen, aber sie ist kein subjektives Vermögen, das den Aktoren sagen
würde, was sie tun sollen. (ebd.)
Dies drückt nichts anderes aus als das, was Brandom immer wieder in methodischer Hinsicht
betont: keine Erklärung diskursiven Handelns kann vor den Diskurs als Praxis zurückgehen,
und: „On he who looks rationally onto the world, the world looks rationally back.“ Das
bedeutet nicht, dass es keine Welt außerhalb unseres Denkens und unserer Sprache gäbe, nur,
dass wir sie nicht mit Sprache und Denken begreifen oder bestimmen können. Eine nicht
begrifflich geregelte Welt existiert für den Verstand nicht. Dies gilt sowohl aus der Sicht von
Kant, für den der Verstand als das Vermögen des Regelfolgens definiert ist, als auch aus der
94 Habermas, J. (1992): Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt a.M. S. 17f. [FUG]
95
Sicht von Hegel:
[…] jedes Sein, das der Verstand produziert, ist ein Bestimmtes, und das Bestimmte hat ein
Unbestimmtes vor sich und hinter sich, und die Mannigfaltigkeit des Seins liegt zwischen zwei
Nächten, haltungslos; sie ruht auf dem Nichts, denn das Unbestimmte ist Nichts für den Verstand
und endet im Nichts.95
Das hat bei Brandom nicht (und auch nicht bei Habermas) etwas mit einem
rechtshegelianischen Begriffsrealismus zu tun. Beide anerkennen, dass es „Dinge“ außerhalb
des Diskurses gibt, die wir wahrnehmen, für die wir als Erfahrungsgründe Wahrheitsgeltung
beanspruchen können und mit denen wir hantieren. So verschieden sind beide Modelle nicht.
Nur ist einerseits die Erklärungsrichtung entgegengesetzt und andererseits das
Erkenntnisinteresse verschieden.
95 Hegel, G.W.F.: Werke in 20 Bänden mit Registerband, Bd. 2: Jenaer Schriften 1801-1807. Frankfurt a. Main 1986 (6. Auflage.). S. 26. Hervorhebungen durch mich.
96
6. Abschluss und Ausblick
Seeing Is Forgetting the Name of the Thing One Sees (Koan)
In der Einleitung hatte ich mich gefragt, ob man Habermas Kritik schon allein deshalb abtun
könne, weil er bestimmten methodischen Entscheidungen Brandoms nicht folge und
stattdessen seine Grundentscheidung, sich auf die Erklärung begrifflicher Strukturen statt auf
das Verstehen menschlicher Kommunikation zu konzentrieren, angreife. Ist die Basis der
Verständigung aber tatsächlich ein Beherrschen des richtige Begriffsgebrauchs? Ist die durch
Argumentation herbeigeführte Übereinstimmung in der Beurteilung der Wahrheitsgeltung
einer Behauptung nur ein Sonderfall dieses „Know-How“?
In diese Fragen spielt auch mit hinein, ob man den Menschen mit Aristoteles wesentlich als
„zoon logikon“ begreift und damit die Verwirklichung seines Wesens in der rational-
sprachlichen Praxis. Können wir einen Begriff verstehen, ohne die Person zu verstehen, die
ihn äußert? Aber wie verstehen wir Personen?96 Nutzen wir dazu nicht alle Sinne? Welche
Fähigkeit versetzt uns eigentlich in die Lage, die Perspektiven zu wechseln und so aus der
Perspektive dessen, den wir interpretieren, seine inferentiellen Festlegungen zu
rekonstruieren? Und was motiviert uns, überhaupt zu versuchen, die Perspektive zu wechseln,
wenn wir doch auch einen überlegenen sozialen Status ausnutzen könnten, um den anderen
dazu zu zwingen, uns zuzustimmen? Diese Fragen gehen natürlich weit über die Projekte von
Brandom oder Habermas hinaus und sind insofern nicht dazu gedacht, diese Modelle zu
kritisieren. Es sind nur Fragen, die nocheinmal an die Basis gehen, um Ausblicke auf
alternative Beschreibungsmodelle von Kommunikation und Verstehen zu eröffnen, die noch
entwickelt werden könnten.
96 Zu dieser Frage hat Anne Reichold einen interessanten Artikel mit dem Titel „Wie verstehen wir andere Menschen?“ geschrieben. Sie unterscheidet zwischen zweitpersonalem und drittpersonalenm Verstehen. Ersteres finde innerhalb von symmetrischen Beziehungen, letzteres in asymmetrischen Beziehungen statt. Begründungspraktiken innerhalb zweitpersonalen Verstehens beruhten auf interpersonalen Beziehungen, während sie in drittpersonalen Verstehen auf Fakten über die Welt beruhten. Handlungserklärungen seien dabei aus der Perspektive der zweiten Person erfolgreicher, während theoretische Erklärungen der Perspektive der dritten Person einen Vorrahng einräumten. – Vgl.: Reichold, Anne (2011): „ Wie verstehen wir andere Menschen? Zur Perspektive der zweiten Person in Handlungserklärungen “ – In: Wissenschaft und Natur. Studien zur Aktualität der Philosophiegeschichte. Festschrift für Wolfgang Neuser zum 60. Geburtstag; herausgegeben und eingeleitet von Klaus Wiegerling und Wolfgang Lenski. Nordhausen. S. 377-395.
97
Platons Begriff des Verstehens im „Siebten Brief“97 ist insofern interessant, als er auf dem
Weg des Diskurses zu einer nicht-diskursiven Erkenntnis des Gehalts eines Begriffes gelangt.
Die grundlegende Erkenntnis, die seinem Ansatz zugrundeliegt, ist, dass man sich dem, was
etwas wesenhaft ist, diskursiv nur annähern kann, dass es letztlich aber nicht begrifflich
erfasst werden kann, sondern sich zeigt. Sprachliche Bezeichnungen versetzten uns in die
Lage, Dinge entsprechend ihrer Natur mehr oder weniger gut und mithilfe von Verabredung
zu unterscheiden und uns gegenseitig über sie zu belehren. Mit ihrer Hilfe könne man lernen,
„zu fragen und zu antworten“ (Politeia 285d), um dadurch „dialektischer“ zu werden (ebd.
285d, 287a). Sie offenbarten ihren Erkenntniswert aber erst im Prozess, im „dynamischen
Logos“, im Dialog – nicht durch Vermittlungen propositionalen Wissens darüber, was etwas
sei. Der „dynamische Logos“ oder Dialog vollziehe sich, so Platon im „Siebten Brief“ (341c-
d; 342a-344b) im Durchlaufen von fünf Stufen, die jede für sich nicht genüge, um zu
offenbaren, was ein Ding sei. Das unablässige Herauf- und Hinabsteigen dieser Stufen im
Gespräch könne den Geist aber in eine Verfassung bringen, in welcher die Dinge selbst sich
zu zeigen vermögen. Es sei wichtig, dass diese Stufen keinen simplen Aufstieg von der
sinnlichen Wahrnehmung über die innere Vorstellung zum Begriff darstellten. Der Begriff sei
nicht das Ziel, sondern das Wesen. Und dieses zeige sich. Die Tür des Begriffes öffnet sich
sozusagen nach innen. Man kann die Stufen bis zur Tür heraufsteigen, aber man kann die Tür
nicht aufstoßen. Deshalb muss man u. U. die Stufen eine ganze Weile herauf- und
hinabsteigen. Die Erkenntnismittel, welche Kenntnis über das Wesen eines Sachverhalts
geben könnten, sind nach Platon: Sprachliche Bezeichnung (onoma), Definition (logos) und
Bild (eidolon) (342a). Hinzukomme die Erkenntnis selbst und das zu Erkennende als Fünftes
(ebd. 342b). Durch die Untersuchung, das methodische Studium von sprachlichen
Bezeichnungen, Definitionen und dem, was sich der Sinneswahrnehmung zeigt (343e), durch
Vergleich, Abgrenzung gegeneinander, durch Fragen und Antworten, unter Aufbietung aller
intellektuellen Kräfte, aber „ohne Neid“, d.h. mit alleinigem Interesse an der Sache, breche
jenes „Licht“ hervor, durch welches sich das Wesen des untersuchten Gegenstandes offenbare
(344b). Das „Ding an sich“ ist und bleibt auch für Platon in diesem Prozess nicht zu
begreifen, wohl aber kann man es, nach Platon, im dialektischen Dialog berühren.
97 Bury, R. G. (Transl.): Plato. Plato in Twelve Volumes, Vol. 7. Translated by R.G. Bury. Cambridge, MA. London 1966. Auf: www.perseus.tufts.edu.; Crane, Gregory R. (Ed.): Perseus Digital Library. Tufts Universität Medfort, Massachusetts.
98
Wie dies Berühren vorzustellen ist, definiert Platons Sokrates im Kratylos:
Denn weil die Dinge in Bewegung (pheromena) sind, so mag Weisheit (sophia) sein, was sie
anhält, betastet und ihnen folgen kann. Pherepapha also wäre der rechte Name der Göttin, wegen
ihrer Weisheit und der Betastung des Bewegten (epaphê tou pheromenou). (Krat. D 404c-d)98
Zum Begriff des „Betastens“ oder Berührens bei Platon im Gegensatz zum Er- oder
„Begreifen“ erklärt Rainer Marten:
Das dialektische Vorgehen zielt auf ein Berühren des zu Denkenden. Meinte Erkennen das
Umgreifen einer Sache oder das Eindringen in sie, dann wäre Berühren kein glücklich gewähltes
Bild. […] Wer berührt langt an; er ist weit genug und zielgerecht gegangen. Das Berühren als ein
Name des Einsehens (s. auch Tim 90c) ist zugleich ein Indiz dafür , dass es sich bei dem
Einzusehenden um etwas Einfaches ohne Innen und Außen […] handelt. Im denkenden Einsehen
als Berühren stößt nicht Verschiedenartiges aufeinander. Das Einsehen des Einzusehenden ist für
die philosophische Seele eine syngenetische Erfahrung.99
Hier kommt zum nur diskursiv gewonnenen Verstehen das Element der Begegnung als
„denkenden Einsehens“ hinzu. Verstehen ist mithin nicht notwendig das Ergebnis einer
sprachlichen Interaktion. Adam und Eva „erkannten“ sich nicht, nachdem sie ein langes
Gespräch geführt hatten.100 Es gibt ein Erkennen oder Verstehen, dass sich aus dem sich
miteinander Verbinden ergibt, dass sich nicht nur rein physisch im Geschlechtsakt, sondern
zuerst und vornehmlich „seelisch“ vollzieht. In Bezug auf die Bibelstelle, die im Deutschen
analog zum Griechischen korrekt mit „erkannte“ übersetzt ist, erklärt der Kirchenvater
Origenes, was „erkennen“ hier bedeutet und wie es sich vom „Begreifen“ durch Begriffe
unterscheidet:
Beachte aber, dass die Schrift noch anders vom Erkennen einer Sache spricht. Wenn sich nämlich
jemand mit etwas verbindet und vereint, nennt sie das ein Erkennen dessen, womit man sich
verbindet und vereint. Selbst wenn man vor einer solchen Einigung und Gemeinschaft Worte über
etwas begreift, so erkennt man es doch nicht. So hat auch Adam die Frau nicht erkannt, als er von
Eva sagte: „Das ist jetzt Bein von meinem Bein [...] Fleisch von meinem Fleisch“ (Gen 2,23). Als
98 Loewenthal, Erich (Hg.) (1982): Platon, Sämtliche Werke, mit bio-bibliographischem Bericht von Bernd Henninger und editorischem Nachwort von Michael Assmann, Bd. 1, übersetzt von Julius Deuschle [Berlin 1940], Heidelberg. S. 570. 99 Marten, Rainer (1968): Die Methodologie der platonischen Dialektik. Studium Generale 21. S. 222. Hervorhebungen durch mich. 100 Moses 1.4.1. Αδαμ δὲ ἔγνω Ευαν. Von γιγνώσκω, erkennen, kennen.
99
er sich aber dann mit ihr vereinigte, heißt es: „Adam erkannte Eva seine Frau“ (Gen 4,1)101
Das „Verstehen mit dem Herzen“ wird im Lateinischen concipere102 ausgedrückt, das etwas in
die Seele, in die Gedanken oder in das Gefühl aufnehmen bedeutet und voraussetzt, das man
etwas in sich Raum gibt, ihm Eingang gewährt, um es in sich wachsen zu lassen. Diese Art
des Verstehens von Etwas/Jemand in der Begegnung hat besonders Martin Buber beschäftigt.
Jemand (oder etwas) in diesem Sinne verstehen bedeutet für Buber: Ihn als ihn selbst (Du) –
nicht als etwas (Es) – zu verstehen. Das bedeutet, die Perspektive des Beobachters – z.B. des
Soziologen oder Sprachanalytikers – zu verlassen. Am Beispiel der möglichen Verhältnisses
zu einem Baum, erst aus der Perspektive des Ich-Es, dann aus der Perspektive des Ich-Du,
erklärt Buber, wie sich die Art und Weise des Verstehens verändert.
Ich betrachte einen Baum.
Ich kann ihn als Bild aufnehmen […]. Ich kann ihn als Bewegung verspüren […]. Ich kann ihn
einer Gattung einreihen und als Exemplar beobachten […]. Ich kann seine Diesmaligkeit und
Geformtheit so hart überwinden, dass ich ihn nur noch als Ausdruck des Gesetzes erkenne […].
Ich kann ihn zur Zahl, zum reinen Zahelnverhältnis verflüchtigen und verewigen.
In all dem bleibt der Baum mein Gegenstand und hat seinen Platz und seine Frist, seine Art und
Beschaffenheit.103
An all diesen Tätigkeiten ändert sich nichts, wenn einem z.B. ein Baum begegnet und man in
die Beziehung zum Baum hineintritt. Es handelt sich bei der Beziehung eben nicht um eine
Auslöschung allen Wahrnehmens, Empfindens, Vorstellens und Erkennens, sondern um das
Einbetten all dieser Tätigkeiten in den Horizont des Verstehens des Baumes als Ganzheit (DP,
12): „Es gibt nichts, wovon ich absehen müsste, um zu sehen, und kein Wissen, dass ich zu
vergessen hätte. Vielmehr ist alles, Bild und Bewegung, Gattung und Exemplar, Gesetz und
Zahl, mit darin, ununterscheidbar vereinigt.“ (DP, 11) Genausowenig erlischt das Ich im Du
oder umgekehrt. Beide haben teil aneinander. Das Verstehen das zunächst nur partikular war,
wird zu einem ganzheitlichen Verstehen.
101 Origenes Kommentar zum Johannesevangelium 19.3. In: Origenes (1959): Das Evangelium nach Johannes. Übersetzt und eingeführt v. R. Gögler. Einsiedeln. – Hervorhebungen durch mich. 102 Georges, Karl Ernst (1998): Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. Hannover 81913 (Nachdruck Darmstadt 1998), Band 1, Sp. 1395-1398. 103 Buber, Martin (1992): „Ich und Du“. In: Das dialogische Prinzip. Gerlingen. S. 10 f. [DP]
100
Was Verstehen jeweils bedeutet, ist bei Buber also abhängig vom Standpunkt des Verstehens,
der wiederum bestimmt wird durch die beiden Grundworte Ich-Du und Ich-Es, welche die
zwiefältige Haltung zum Ausdruck bringen, welche der Mensch zur Welt einnehmen könne.
(DP, 7) Grundworte sagen nach Buber nichts aus, sondern sie „stiften einen Bestand“, d.h.:
„Wer ein Grundwort spricht, tritt in das Wort ein und steht darin.“ (DP, 8) Wer also „Du“
spreche, stehe in der Beziehung. Das Ich, welches das eine oder andere Grundwort spreche,
sei je ein anderes, denn es sei kein Ich, das etwas sage – nämlich „Du“ oder „Es“ – sondern es
werde erst Ich oder Person am Du, es spreche „Ich werdend Du“. (DP, 15) Das so gewordene
Ich, könne sich in der Folge seiner selbst als Eigenwesen neben anderen Eigenwesen, als
Subjekt, bewusst werden und werde dann zur ersten Gestalt des Grundwortes Ich-Es. (DP,
26f.)
Die beiden Welten, die durch die jeweiligen Grundworte gestiftet würden, seien die „Welt der
Beziehung“ und die „Welt der Erfahrung“. In der Erfahrung habe der Erfahrende keinen
Anteil an der Welt, da die Erfahrung in ihm, nicht zwischen ihm und der Welt ist. In der
Beziehung dagegen „begegnet mir“ z.B. ein Baum „als er selbst“: „Er leibt mir gegenüber und
hat mit mir zu schaffen, so wie ich mit ihm.“ (DB, 11) Beziehung beruht auf Gegenseitigkeit
und sie ist unmittelbar – unvermittelt durch Begriffe, Sprache, Sinne oder Gefühle. Ihr Zweck
ist das Berühren des Du. (DB, 65) „Was erfährt man also vom Du? – Eben nichts. Denn man
erfährt es nicht. – Was weiß man also vom Du? – Nur alles. Denn man weiß von ihm nichts
Einzelnes mehr.“ (DB, 15) Was in der „Welt der Erfahrung“ verlorengehe sei das Element der
Wechselseitigkeit, welches in der Beziehung wirksam war: „Du nimmst sie [die Es-Welt]
wahr, nimmst sie dir zur ‚Wahrheit‘, sie lässt sich von dir nehmen, aber sie gibt sich dir
nicht.“ (DP, 35) In der Du-Welt herrsche dagegen zwischen der Welt und dem Ich eine
Gegenseitgkeit des Gebens: „du sagst Du zu ihr und gibst dich ihr, sie sagt Du zu dir und gibt
sich dir.“ (DP, 36f.)
Beide Haltungen zur Welt, die in den Grundworten Ich-Du und Ich-Es sich aussprächen,
gingen nach Buber beständig ineinander über. (DP, 21) Am Beispiel der Liebe erklärt er, dass
niemand in der unmittelbaren Beziehung verharren könne. Die Dauer der Liebe liege nicht in
der Ausdehnung der Gegenwart der Begegnung in der Zeit (was auch wenig Sinn machen
würde, da die Gegenwart ohne Dauer ist), sondern im Wechsel von Aktualität und Latenz der
Liebe. (ebd.) Denn in der Liebe werde das Du zwar berührt, aber es könne nicht erfahren
werden. Diese Liebe sei zwischen Ich und Du. Sie sei „wie die Luft, in der du atmest.“ (DP,
101
41) Auch ein Erkennen des Du ist nicht möglich. In der Begegnung haben Ich und Du Anteil
aneinander, sie schauen wechselseitig ihr Wesen. Aus der Gegenwart des Schauens
heraustretend, wird das solcherart Geschaute zum Gegenstand der Erfahrung, einem Es, der
mit anderen Gegenständen der Erfahrung verglichen werden kann, das eingeordnet,
gegenständlich beschrieben und zergliedert werden kann: „nur als Es kann es in den Bestand
der Erkenntnis übergehen“, d.h. in das Gewesensein und damit in den Besitz des Subjektes.
(DP, 42)
Auf Gegenstände der Erfahrung wird der Intellekt angewendet: sie werden analysiert,
kategorisiert, evaluiert, besessen und benutzt. Einem Du in der Begegnung wird man
„gewahr“ oder „inne“ – nicht, indem man das Du wird in einem Akt der Verschmelzung,
sondern durch wechselseitige Teilhabe aneinander. Statt sich das Andere wie in der Es-Welt
anzueignen, eignen sich die Wesen in der Begegnung einander zu.
Die oben gestellten Fragen an den Begriff des Verstehens in der zwischenmenschlichen
Kommunikation lassen sich m.E. produktiv weiterbearbeiten, wenn man mit einem
erweiterten Verstehensberiff operiert, der nicht auf das diskursive Verstehen begrenzt ist und
von der Begegnung als Basis der Verständigung ausgeht; d.h. das Innewerden des Anderen
und das sich dem anderen Zueignen an den Anfang setzt, um von dort ausgehend den
Anderen, seine diskursiven Praktiken und Behauptungen zum Gegenstand der Erfahrung,
Beobachtung und Bewertung zu machen. Wenn wir zur Begegnung nicht prinzipiell in der
Lage wären, hätten wir gar keinen Begriff von unterschiedlichen Perspektiven. Wenn wir die
Perspektiven nicht wechseln könnten – nicht zur begrifflich, sondern auch empathisch –
würden wir nicht einsehen, warum eine Begründung unserer Position notwendig wäre. Ohne
die Fähigkeit, Gründe zu geben und zu fordern, könnten wir uns nicht über etwas
verständigen. Verstehen als Überbegriff all dieser Einzel-Fähigkeiten schließt deshalb – in
einem Kontinuum von der Ich-Du- zur Ich-Es-Beziehung – empfangen (concipere),
innewerden/einsehen (intellegere), anerkennen (recognoscere), erkennen (cognoscere),
begreifen (comprehendere), deuten/erklären (interpretari) und beobachten (notare) ein. Von
Verstehen im Vollsinne würde ich nur sprechen, wenn alle Fähigkeiten zum Ausdruck
kommen – d.h. dass man letztlich nur das wirklich verstehen kann, was man auch liebt.
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108
Erklärung
Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig angefertigt und keine
anderen als die angegebenen Hilfsmittel und Quellen benutzt habe. Wörtlich oder dem Sinne
nach aus gedruckten, elektronisch oder aus anderen Quellen entnommene oder entlehnte
Textstellen sind von mir eindeutig als solche gekennzeichnet worden. Mir ist bekannt, dass
Verstöße gegen diese Versicherung nicht nur zur Bewertung dieser Master-Arbeit als „nicht
ausreichend“, sondern in schwer wiegenden Fällen zu weiteren Maßnahmen der Universität
Flensburg bis hin zur Exmatrikulation führen können.
Mit einer Ausleihe meiner Arbeit bin ich einverstanden / nicht einverstanden.
Flensburg, Datum
Unterschrift
______________________________
Vorname, Name