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Begründen und Sich-Verständigen im Kontext der Auseinandersetzung zwischen Brandom und Habermas

Date post: 23-Jan-2023
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Universität Flensburg Master-Arbeit im Studiengang „Master of Education“ Fach: Philosophie Thema: Begründen und Sich-Verständigen im Kontext der Auseinandersetzung zwischen Brandom und Habermas Vorgelegt von: Katrin Stamm (Matr.-Nr. 53 53 23) Erstbetreuerin: Prof. Dr. Anne Reichold Zweitbetreuer: Dr. Pascal Delhom © Katrin Stamm 2011
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Universität Flensburg

Master-Arbeit im Studiengang „Master of Education“

Fach: Philosophie

Thema:

Begründen und Sich-Verständigen im Kontext der Auseinandersetzung

zwischen Brandom und Habermas

Vorgelegt von: Katrin Stamm (Matr.-Nr. 53 53 23)

Erstbetreuerin: Prof. Dr. Anne Reichold

Zweitbetreuer: Dr. Pascal Delhom

© Katrin Stamm 2011

  2

Inhalt

Seite

1. Einleitung

3

2. Die Begriffe der Kommunikation und des Verstehens bei Brandom 7

2.1. Kleine Vorbemerkung zum Vorgehen in diesem Kapitel 7

2.2. Definitionen 10

2.3. Vom Begrifflichen zur Kommunikation

11

3. Habermas Kritik an Brandom 50

3.1. Zusammenfassender Überblick über Habermas’ Modell des

kommunikativen Handelns als Einleitung zu seiner Brandom-Kritik

3.2. Rekonstruktion von Habermas Kritik an Brandoms

Kommunikationsbegriff und deren Bewertung mit Blick auf Habermas’ eigene

Theorie

55

4. Brandoms Erwiderung auf Habermas

81

5. Zusammenfassung und Bewertung der Auseinandersetzung zwischen Brandom

und Habermas

91

6. Abschluss und Ausblick

96

Literatur

102

Erklärung 108

  3

1. Einleitung

Gegenstand dieser Ausarbeitung ist eine kritische Untersuchung der Auseinandersetzung

zwischen Brandom und Habermas in Hinblick darauf, was Kommunikation bzw. Diskurs

jeweils für sie bedeuten. Der Titel beinhaltet eine Anspielung auf Brandoms Werk,

„Articulating Reasons“, das auf Deutsch als „Begründen und Begreifen“ veröffentlicht

wurde1. Der deutsche Titel suggeriert, indem er das „Begreifen“ hinzunimmt, dass Brandom

auch die Dimension des Verstehens in seinem Werk analysiert und dass ein ausreichend

genaues Begründen innerhalb zwischenmenschlicher Kommunikation zum Begreifen oder

Verstehen des Gehalts eines Begriffs führen würde: Begreifen/Verstehen durch Begründen.

Ist Begreifen aber gleichbedeutend mit Verstehen? Oder handelt es sich beim Begreifen des

Gehaltes eines Begriffs in der Kommunikation um eine Verständigung über den Gehalt dieses

Begriffes? Wie verhalten sich dann aber Verstehen und Verständigung zueinander? Oder ist

die Tätigkeit des Begründens eine Form des Begreifens/Verbegrifflichens (im Sinne eines

Explizitmachens des begrifflichen Gehaltes innerhalb linguistischer sozialer Praxis)? Auf

jeden Fall hat Habermas Brandom wohl so verstanden, dass er erklären möchte, wie

Verständigung zustandekommt, also im Sinne der Lesart „Sich-Verständigen durch

Begründen“. Denn er kritisiert an Brandom, dass dessen Theorie genau dies nicht leisten

könne: seine Kritik kulminiert in dem Urteil, dass Brandom die „Pointe sprachlicher

Verständigung“ verfehle, wenn er das Verstehen, das der Kommunikation innewohne, als

Ausdruck von Zuordnungsoperationen von Geltungsansprüchen und Berechtigungen eines

Sprechaktes durch einen Interpreten begreife.2 Dem gegenüber stellt Habermas ein Modell

des Verstehens, in dem „einen Ausdruck verstehen bedeutet, zu wissen wie man sich seiner

bedienen kann, um sich mit jemand über etwas zu verständigen.“ [WR, 175] Verstehen ist für

Habermas also Mittel zum Zweck der erfolgreichen Kommunikation in einer triadischen

Form (ich mit dir über etwas). Erfolgreiche Kommunikation ist für ihn gleichbedeutend mit

Verständigung, d.h. der Erzielung eines handlungsleitenden Konsenses durch einen

rationalen, sprachlichen Austausch von Menschen untereinander. Verstehen ist für ihn kein

                                                                                                               1 Brandom, Robert (2000): Articulating Reasons. An Introduction to Inferentialism. Cambridge. – Ders. (2001): Begründen und Begreifen. Eine Einführung in den Inferentialismus. Frankfurt/M. [BB] – Werke, die häufig zitiert werden, erhalten bei ihrer ersten Einführung eine Abkürzung. Alle Abkürzungen sind im Literaturverzeichnis bei den zugehörigen Publikationen vermerkt. 2 Habermas, Jürgen (1999): Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt am Main 1999. Abschnitt II: „Intersubjektivität und Objektivität“, 3. Kapitel: „Von Kant zu Hegel: Zu Robert Brandoms Sprachpragmatik“, S. 138-186. [WR] – Vgl. S. 175.

  4

intellektueller Selbstzweck und keine bloße „stille Zustimmung“ zum Wahrheitsgehalt der

Aussage eines anderen. Nicht erkenntnistheoretische Fagestellungen stehen bei ihm im

Vordergrund, sondern pragmatische Fragen im Rahmen einer kritischen Gesellschaftstheorie.

Schon in dieser kurzen Einleitung in die Debatte wird deutlich, dass Begriffe mit den

verschiedensten Bedeutungsschattierungen – Begreifen, Verstehen, Kommunikation,

Verständigung – nicht klar genug voneinander abgegrenzt sind. So muss man sich fragen, ob

„Begreifen“ für Brandom „Verstehen“ im Vollsinne meint. Oder ob „Begreifen“ sich z.B. auf

eine begriffliche Dimension des Verstehens beschränkt (wobei definiert sein muss, was oder

wie ein Begriff ist). Völlig ungeklärt ist auch, obwohl Habermas Formulierung dies nahelegt,

ob „Verstehen“, das sich ja auf den Gehalt einer Äußerung wie auch auf eine Person beziehen

kann, mit „Verständigung“, welche eine besondere Art der Kommunikation zwischen

Menschen beschreibt, identisch ist. Man verständigt sich ja nicht nur über etwas, sondern auch

miteinander.

Zuerst soll deshalb Brandoms Konzept von Kommunikation und gegenseitigem Verstehen im

Diskurs kritisch und ausführlich rekonstruiert werden. Diese Rekonsruktion dient dann als

Hintergrund für Habermas Kritik und Brandoms Erwiderung, vor dem abschließend beurteilt

werden soll, inwiefern die Kritik berechtigt ist oder nicht.

Die Auseinandersetzung zwischen Brandom und Habermas ist im Euopean Journal of

Philosophy 1999/20003 dokumentiert. In Reaktion auf die Veröffentlichung von Brandoms

„Making in Explicit“ (1994)4, beschäftigte sich Habermas in seinem Buch „Wahrheit und

Rechtfertigung“ (1999) im Kapitel „Von Kant zu Hegel. Robert Brandoms Sprachpragmatik“

kritisch mit den Konsequenzen eines (Brandom unterstellten) Begriffsrealismus für den

Begriff der Kommunikation, der Wahrheit und des Normativen. Im Verlauf seiner Analyse

wendet sich Habermas von Hegel, dessen entscheidenden Einfluss auf Brandom er

nachzuweisen versucht, zurück zu Kant, um den Begriff der Autonomie und die

                                                                                                               3 Habermas, Jürgen (1999): From Kant to Hegel and back again – the move towards detranscendentalization. European Journal of Philosophy 7/2, S. 129-157. Ders. (2000): From Kant to Hegel: On Robert Brandom’s Pragmatic Philosophy of Language. Review article. European Journal of Philosophy 8/3 (2000), S. 322–355. Beide Artikel ebenfalls erschienen in: Ders. (1999): Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt am Main 1999. Abschnitt II: „Intersubjektivität und Objektivität“, S. 138-230. – Brandom, Robert (2000): „Facts, Norms and normative Facts: A Reply to Habermas“. European Journal of Philosophy 8/3 (2000), 356-374. 4 Brandom, Robert B. (1994): Making it Explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Commitment. Cambridge. [ME]

  5

Verantwortlichkeit des Menschen, die er durch die Folgen von Brandoms angeblichen

Begriffsrealismus bedroht sieht, wieder stark zu machen. Im Jahr 2000 wurde dieser Artikel

dann ins Englische übertragen und erschien im European Journal of Philosophy unter dem

Titel: „From Kant to Hegel: On Robert Brandom’s Pragmatic Philosophy of Language.“

Brandom erwiderte die Kritik in derselben Ausgabe direkt im Anschluss unter dem Titel

„Facts, Norms and normative Facts: A Reply to Habermas“5.

Um zu prüfen, ob Habermas Kritik Brandom wirklich trifft, müssen folgende Dinge geklärt

werden: Zentral ist die Frage, ob Brandom und Habermas sich mit dem selben Gegenstand

befassen. Beschreibt Brandom in „Begründen und Begreifen“ überhaupt Kommunikation?

Kann man ihm etwas vorwerfen (die Pointe der Verständigung zu verfehlen), wenn es ihm

vielleicht gar nicht darum ging, Verständigung zu beschreiben und zu erklären? So fällt auf,

dass Brandom Kommunikation nur verteilt über sein gesamtes Werk – wenn auch immer

wieder – behandelt, aber vom Wesen des Begrifflichen ausgeht und auch immer wieder auf

dessen zentrale Bedeutung für seine Theorie hinweist.

Im selben Zusammenhang muss man sich fragen, worauf die Forschungsprojekte von

Habermas und Brandom jeweils abzielen. Schon im obigen Zitat wurde deutlich, dass

Habermas’ Erkenntnisinteresse auf Verstehen als Verständigung zielt. Geht es Brandom aber

darum, eine Theorie der Verständigung zu entwickeln, vergleichbar einer eine Theorie des

kommunikativen Handelns, die Habermas im Sinne hat? Was interessiert Brandom an

sprachlichem Handeln? Der gesellschaftliche Prozess der Konsensbildung oder ein Fortschritt

im Explizitmachen eines unbewussten Wissens-Wie, das beschreibt, wie man inferentielle

Netze knüpft und dadurch Geltungsansprüche erhebt und Berechtigungen erwirbt bzw.

anderen zuschreibt? Oder geht es ihm um eine Bestimmung dessen, was der Mensch als

sprechendes Wesen ist?

Im folgenden stehen deshalb Begriffsklärungen im Vordergrund: Was bedeuten Begreifen,

Verstehen, Verständigung, Kommunikation und Diskurs bei Habermas und Brandom? Im

Zentrum der Analyse stehen dabei Brandoms Begriffe. Habermas Theorie des

kommunikativen Handelns wird als bekannt vorausgesetzt, nur einleitend mit Blick auf die

Fragestellung dieser Arbeit zusammengefasst und dient weitgehend als Referenz, um                                                                                                                5 Ders. (2000): „Facts, Norms and normative Facts: A Reply to Habermas“. European Journal of Philosophy 8/3 (2000), 356-374.

  6

Habermas Kritik an Brandom verständlich zu machen. Als Schlüssel zum Erschließen dieser

Begriffe erweist sich seinerseits der Begriff vom „Begriff“ selbst. Dabei beziehe ich mich mit

Brandom auf Hegel und dessen Begriff vom Wesen des Begrifflichen, denn an dessen (links-

oder rechtshegelianischen) Deutung scheiden sich offenbar die Geister Habermas’ und

Brandoms. So weist Brandom explizit darauf hin, dass die Wurzel des Disputes zwischen

Habermas und ihm nicht wesentlich in einem unterschiedlichen Erkenntnisinteresse, sondern

in einer unterschiedlichen Hegeldeutung liege: „[…] it has come to seem to me that our

differences here turn more on differences in how we read Hegel than they do in what

philosophical ideas we think are worth pursuing or not.“ 6 Aber vielleicht spielt doch auch das

Erkenntnisinteresse eine wichtige Rolle? Und vielleicht misst gerade Habermas dem eine viel

größere Bedeutung zu als Brandom? So beschreibt Habermas in seiner Frankfurter

Antrittsvorlesung 1965 „Erkenntnis und Interesse“7 die Aufgabe einer kritischen

Wissenschaftstheorie als das Aufdecken von erkenntnisleitenden Interessen (im Rahmen der

Ideologiekritik). Dabei weist er den empirisch-analytischen Wissenschaften ein technisches,

den historisch-hermeneutischen ein praktisches und den kritisch orientierten Wissenschaften

ein emanzipatorisches Erkenntnisinteresse zu (vgl. ebd.) Hängt diese Einteilung (und

Bewertung) der Wissenschaften mit seiner Kritik an Brandoms Theorie zusammen?

Abschließend ist zu prüfen, ob Brandoms Erwiderung auf Habermas und seine Erklärung des

„Missverständnisses“ seiner Theorie durch Habermas dessen Kritik wirklich entkräftet. Kann

Habermas Kritik schon allein dadurch abgetan werden, dass er bestimmten methodischen

Entscheidungen Brandoms nicht folgt und stattdessen Brandoms Grundentscheidung, sich auf

die Erklärung begrifflicher Strukturen statt auf das Verstehen menschlicher Kommunikation

zu konzentrieren, angreift? In der Tat teile ich Habermas Kritik insofern, dass die

Reduzierung des Verstehensbegriffes auf das Explizitmachen logischer Strukturen und das

deontische Kontoführen im Kontext der Beantwortung der Frage, „was wir sind“, die

Brandom an den Anfang der „Expressiven Vernunft“ stellt, nicht zufriedenstellend von ihm

beantwortet werden kann.

 

                                                                                                               6 Brandom, Robert B. (2009): „Towards Reconciling Two Heroes: Habermas and Hegel“. Conference on the Philosophy of Jürgen Habermas, University of Pécs, Pécs, Ungarn, 18. - 19. Mai 2009. S. 6. 7 Habermas, Jürgen (1965): Erkenntnis und Interesse. Frankfurter Antrittsvorlesung. S.146-168 in: ders. (1968): Technik und Wissenschaft als Ideologie. Frankfurt/M. S. 155.

  7

2. Die Begriffe der Kommunikation und des Verstehens bei Brandom  

2.1. Kleine Vorbemerkung zum Vorgehen in diesem Kapitel

Kippbilder, Sprachspiele, Witze und die perspektivische Struktur begrifflicher Gehalte bei

Brandom

Im folgenden werde ich öfter Witze heranziehen, die das Spiel mit der Sprache und den

Konflikt verschiedener Sprachspiele zum Gegenstand haben, um bestimmte Konzepte von

Brandoms Theorie der Kommunikation zu veranschaulichen. Nach Wittgenstein ist das

Lachen über Wortwitze eine Art Erleben von deren Bedeutung: „Man lacht über solche

Witze: und insofern (z.B.) könnte man sagen, man erlebe die Bedeutung.“8 Lachen ist eine

spontane körperliche Reaktion auf ein implizites Gewahrwerden der Komik einer Situation –

bei sprachphilosophischen Witzen der Folgen der Verstrickung in verschiedene Sprachspiele

– die einen überwältigt. Es stellt eine „automatisch ablaufende Bewegung [dar], die ein jedes

der beteiligten Organe zu sonst nicht für sie üblichen Reaktionsweisen veranlasst.“ 9 Lachen

ist als nicht eine Handlung, zu der man sich entschließt, nachdem man den Witz analysiert,

d.h. die miteinander in Konflikt stehenden Sprachspiele explizit gemacht hat. Man „beschließt

nicht zu lachen, man muss lachen.“ (ebd. S. 14)

Wittgenstein Version nach Jastrows „duck-rabbit-illusion“ Jastrows Originalversion10

Wie dieses Erleben von Bedeutung konkret vorzustellen ist, erläutert Wittgenstein anhand

eines optischen Phänomens, anhand von Kippbildern. Wie bei einem Wortwitz zwei

Bedeutungen (und Folgefestlegungen) am selben Begriff „hängen“ können, so offenbart ein

und dasselbe Kippbild zwei Gestalten, je nachdem, welches Schema ich zugrunde lege: „Ich

sehe zwei Bilder. […] Folgt daraus, dass ich beide Male etwas andres sehe? […] Der Kopf, so                                                                                                                8 Wittgenstein, L. (1993): Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie. Das Innere und das Äußere (1949-1951), Frankfurt/ M. I. § 711 9 Jurzik, Renate (1985): Der Stoff des Lachens. Studien über Komik. Frankfurt/Main; New York 1985, S. 23. 10 Jastrow, J. (1899). The mind's eye. Popular Science Monthly, 54, 299-312. S. 312.

  8

gesehen, hat mit dem Kopf so gesehen auch nicht die leiseste Ähnlichkeit – obwohl sie

kongruent sind.“11 Dieselbe Linie bekommt als Element des Gesamtbildes in Abhängigkeit

von der vom Betrachtenden antizipierten Figur eine andere Bedeutung: „Die Linien hängen

anders zusammen. Was früher zusammengehörte, gehört jetzt nicht zusammen.“12 „Ich sehe,

dass es sich nicht geändert hat; und sehe es doch anders. Diese Erfahrung nenne ich ,das

Bemerken des Aspekts‘.“ (PU, 519) Bei Kippbildern leuchtet entweder der eine oder der

andere Aspekt auf; bei Wittgensteins Beispiel: die Ente oder der Hase. Wir „sehen sie, wie

wir sie deuten.“ (ebd.) Dieses Aspektsehen sei „halb Seherlebnis, halb Denken“. (PU, 525)13

Man beschreibt es zwar wie eine Wahrnehmung – „ganz als hätte sich der Gegenstand vor

meinen Augen geändert“ (PU, 521) – aber es ist dennoch nur zur Hälfte Wahrnehmung – und

zur anderen Hälfte Denken.

Worin besteht nun die Rolle des Denkens bei der Wahrnehmung? Je nachdem, welches

Schema wir zugrundelegen (nach Brandom: welche inferentielle Gliederung des Begriffes

sich aus einer bestimmten Perspektive ergibt), erhält das Gesehene (Brandom: das Gehörte)

einen anderen Kontext, erleben wir eine andere Bedeutung. Da objektiv gesehen nicht das

Bild selbst kippt und die sinnliche Wahrnehmung streng genommen dieselbe bleibt, muss es

das Denken sein, das das Umkippen bewirkt. Sehen oder wahrnehmen können wir nach

Wittgenstein nur den Aspekt – Ente oder Hase – nicht aber den Aspektwechsel. Um das

„Umschalten der Bedeutung“ erleben zu können, muss ich den Aspektwechsel denkend

praktisch vollziehen, muss ich mich – wie Wittgenstein betont – „mit dem Objekt

beschäftigen.“ Insofern sei das Erleben des Aspektwechsels ein Tun. (PPS, 422) Die Sorte

„Denken“, die beim absichtlichen Kippenlassen des Bildes wirksam ist, ist also ein implizites

oder praktisches Denken. Ebenso wie das Lachen als die Fähigkeit zum bewussten

Umschalten von einem Sprachspiel in ein anderes, Anzeichen für ein implizites praktisches

Verstehen der Differenz zwischen den betreffenden Sprachspielen ist. Der Tätigkeit der

Transformation von einer Figur in die andere im Kippbild entspricht im „Spiel des Gebens

und Forderns von Gründen“ bei Brandom die Interpretation als Übersetzung von einer

Perspektive in die andere. Dabei bleibt eines konstant, das Gesagte/das Gesehene, während

der repräsentationale Gehalt (der de re-Sinn) sich (zu Ente oder Hase) verändert: „Der

                                                                                                               11Wittgenstein, Ludwig (1984): Werkausgabe in 8 Bänden, Frankfurt a. M. Bd. I (Philosophische Untersuchungen), S. 521. [PU] 12 Wittgenstein (1984), B.7 (Philosophie der Psychologie [PPS]), S. 419. 13 Vgl. auch: „Kann ich beim Aufleuchten des Aspekts ein Seherlebnis von einem Denkerlebnis trennen? – Wenn du es trennst, dann scheint das Aufleuchten des Aspekts verloren zu gehen.“ (PPS, 423).

  9

Ausdruck des Aspektwechsels ist der Ausdruck einer neuen Wahrnehmung, zugleich mit dem

Ausdruck der unveränderten Wahrnehmung.“ (PU, 52114) Als rationale diskursive Wesen sind

wir in der Lage, die gleichzeitige Gleichheit und Verschiedenheit der Wahrnehmung als

produktive Differenz zu erkennen und in explizites Verstehen des Unterschiedenen und der

Unterscheidung umzuwandeln.

Das implizite Wissen der Kommunikationsteilnehmer um den geeigneten oder ungeeigneten

Gebrauch eines Begriffs in der Kommunikation aus beiden Perspektiven, der des Sprechers

und der des Hörers, explizit zu machen, ist Brandoms Grundanliegen sowohl in der

„Expressiven Vernunft“ wie auch in „Begründen und Begreifen“. Zugleich ist dieses „Know-

How“ die Vorbedingung dafür, dass wir einen Sprachwitz überhaupt als solchen erkennen

können. Deshalb sind Sprachwitze ein passendes Material, um Brandoms Konzept von

Kommunikation im praktischen Umgang mit ihnen zunächst in einer Form erlebbar zu

machen, in der Denken und Wahrnehmen im Lachen zusammenfallen, um anschließend das

Denken als „Erkenntnis durch Begriffe“ (Kant) explizit zu machen.

David Kellner15

[…] so liegt die Macht des denkenden Geistes darin, nicht etwa nur sich selbst in seiner

eigentümlichen Form als Denken zu fassen, sondern ebensosehr […], sich in seinem Anderen zu

begreifen, indem er das Entfremdete zu Gedanken verwandelt und so zu sich zurückführt.

                                                                                                               14 Im Folgenden sind die Hervorhebungen der zitierten Autoren kursiv gedruckt und die von mir hinzugefügten Hervorhebungen als Unterstreichungen markiert. 15 http://socrates.berkeley.edu/~kihlstrm/images/Jastrow/DavidKellner.jpg. [Abruf: 12.08.11] Vgl.

  10

Und der denkende Geist wird sich in dieser Beschäftigung mit dem Anderen seiner selbst nicht

etwa ungetreu, so dass er sich darin vergäße und aufgäbe, noch ist er so ohnmächtig, das von ihm

Unterschiedene nicht erfassen zu können, sondern er begreift sich und sein Gegenteil.

Denn der Begriff ist das Allgemeine, das in seinen Besonderungen sich erhält, über sich und sein

Anderes übergreift und so die Entfremdung, zu der er fortgeht, ebenso wieder aufzuheben die

Macht und Tätigkeit ist. […] Denn weil das Denken sein Wesen und Begriff ist, ist er letztlich nur

befriedigt, wenn er alle Produkte seiner Tätigkeit auch mit dem Gedanken durchdrungen und sie so

erst wahrhaft zu den seinigen gemacht hat.16

2.2. Definitionen

Kommunikation Ein wesentlicher Aspekt dieses Modells diskursiver Praxis ist daher Kommunikation: die zwischen

Personen [interpersonal] ablaufende, auf einen Gehalt [intracontent] bezogene Vererbung der

Berechtigung zu Festlegungen. (BB, 215)

Verstehen Die deontische Kontoführung ist die Form des Verstehens, die der Kommunikation innewohnt. Sie ist

eine Art des Interpretierens, aber es handelt sich um eine implizite praktische Interpretation und nicht um

eine theoretische Hypothesenbildung. (EV, 8.2.1., 707)

Diese beiden Definitionen sollen im Folgenden erhellt werden. Kommunikation und

Verstehen verhalten sich bei Brandom wie folgt zueinander: Kommunikation erscheint als

Verstehen in der Form deontischer Kontoführung. Begriffliches oder propositionales

Verstehen ist (neben der Sicherung von Kommunikation überhaupt) das „Ziel“ von

Kommunikation. Allerdings handelt es sich damit nicht um ein Ziel, das außerhalb der

Kommunikation selbst liegt oder auf sie folgt, nachdem sie endet. Verstehen und

Kommunizieren sind nur zwei Erscheinungsformen derselben Praxis: deontischem

Kontoführen.

                                                                                                               16 Hegel, G.W.: Ästhetik. www.textlog.de/3422-4.html Abruf 02.02.11. – Hervorhebungen durch mich.

  11

2.3. Vom Begrifflichen zur Kommunikation

Im folgenden soll Brandoms Konzept von Kommunikation vor dem Hintergrund seines

Begriffs vom Begriff analysiert werden. Dies ist angebracht, da Brandom selbst auf die

strukturelle Verbindung zwischen beiden Konzepten wiederholt hinweist. Der Grund für die

Struktur seiner Argumentation – auch hinsichtlich von Kommunikation – liegt darin „was

Behauptungen und Begriffe eigentlich sind.“ (EV 8.2.1 708)17 Begriffe und Behauptungen –

wovon letztere Züge im Spiel des Gebens und Forderns von Gründen darstellen – haben zwei

wesentliche Eigenschaften: sie sind inferentiell gegliedert und sie sind perspektivisch. Zudem

sind sie nur als Vollzug innerhalb einer zeitlichen Perspektive verstehbar. Alle drei

Eigenschaften finden sich in der Beschreibung von Kommunikation wieder und ebenso in der

Analyse erfolgreicher Kommunikation als gegenseitigem Verstehen. Diese

Strukturverwandtschaft führt zu einer wechselseitigen Verflechtung von Begrifflichkeit,

begrifflichem Verstehen (Begreifen), Begründungspraktiken, Kommunikation und rationalem

Diskurs: Einerseits gründet begriffliches Verstehen in diskursiver Praxis (von welcher

Kommunikation ein Aspekt ist), andererseits sind Begründungspraktiken (das „Spiel des

Gebens und Forderns von Gründen“), die die Fähigkeit begrifflichen Verstehens

voraussetzen, die Form menschlicher Kommunikation überhaupt. Als Menschen sind wir

nach Brandom wesentlich Begriffeverwender und unterscheiden uns dadurch von Wesen, die

keine Begriffe verwenden: „... dass sich spezifisch diskursive Praktiken deshalb von

Aktivitäten der Wesen, die keine Begriffe vewenden, unterscheiden, weil sie inferentiell

gegliedert sind. Über Begriffe zu reden heißt, über Rollen in Begründungszusammenhängen

reden.“ (BB, 21-23) Brandom legt in „Begründen und Begreifen“ und in der „Expressiven

Vernunft“ den Schwerpunkt auf die Analyse des Begrifflichen, um vor diesem Hintergrund

u.a. zu beschreiben, was Kommunikation ist. In den „Tales of the Mighty Dead“ entwickelt er

seinen historischen Ansatz der Rationalität in Anlehnung an Hegels Konzept vom „Begriff“,

der für die zeitliche Dimension der Kommunikation und des Verstehens wichtig ist. In der

Einleitung zu „Begründen und Begreifen“ erklärt er, wie sich diese Schwerpunktsetzung auf

das Wesen des Begrifflichen auf die Bereiche der Philosophie, die er im folgenden

                                                                                                               17 „Die allgemeine Struktur, von der das Argument abhängt, ist die Tatsache, dass ein Satz gewöhnlich im Munde verschiedener Personen nicht dieselbe Signifikanz hat, auch wenn sie die Sprache noch so weitgehend teilen und sich wechselseitig noch so gut verstehen. Der eigentliche Grund hat damit zu tun, was Behauptungen und Begriffe eigentlich sind.“ (EV 8.2.1 708) – Im folgenden zitiere ich aus der „Expressiven Vernunft“ bzw. „Making it Explicit“ immer im Zusammenhang mit der Kapitelnummer, damit der Leser beim Vergleich von Original und Übersetzung sich schneller zwischen beiden Werken zurechtfinden kann.

  12

untersuchen will, auswirkt: Im Rahmen der Philosophie des Geistes führe dies zu einer

Konzentration auf Bewusstsein als Verstandesfähigkeit anstatt auf bloße

Empfindungsfähigkeit, im Rahmen der Semantik auf spezifisch begriffliche Gehalte statt „auf

andere Arten des Gehaltvollseins“ und in der Pragmatik – und das ist für diese Arbeit von

Bedeutung – auf diskursive Praxis, d.h. die Verwendung von Begriffen (vor anderen Formen

des Handelns).

Ein Beispiel dafür, welche Fähigkeiten erfolgreiche Kommunikation voraussetzt, findet sich

im folgenden Abschnitt aus der „Expressiven Vernunft“, in welchem sowohl die

Notwendigkeit der Fähigkeit zum Perspektivenwechsel als auch das Verstehen durch

Schlussfolgern innerhalb dialogischer Kommunikation beschrieben wird.18

Auch bei reibungslos verlaufender Kommunikation [1] musst du also, wenn du das verstehen

willst, was ich sage, einen Satz damit in Verbindung bringen, der in deinem Mund die Behauptung

ausdrückt, den der von mit geäußerte Satz in meinem Mund ausdrückt [2]. Denn damit du ihn

verstehst (damit du weißt, worauf ich mich festgelegt habe), musst du die Inferenzen herausfinden,

in die jene Behauptung involviert ist [3], die augenscheinliche Signifikanz dessen, was ich gesagt

habe. Das heißt, du musst wissen, wie du und ich [WIR] sie als Begründung verwenden könnten

[4], zu welchen Behauptungen du und ich nicht berechtigt sein würden, wenn wir sie billigten, und

so weiter. Ohne diese Fähigkeit kannst du dem, was ich sage, nichts entnehmen – du verstehst es

nicht. (EV, 8.2.1., 709)

[1] ... bei reibungslos verlaufender Kommunikation ...

In dieser Beschreibung der Verstehensprozesse in einem Dialog zwischen zwei Menschen

wird „reibungslos verlaufende Kommunikation“ vorausgesetzt. Dies ist für Brandom der

Standardfall von Kommunikation. Er ist bei Brandom durch folgende Eigenschaften

charakterisiert: Es kommunizieren Menschen miteinander, d.h. verstandesfähige Wesen und

Begriffeverwender, die als deontische Wesen ausgezeichnet sind, d.h. als empfänglich für ein

rationales Sollen. Diese Wesen sind grundsätzlich an Kommunikation und ihrer

Aufrechterhaltung interessiert.19 Die grundlegende soziale Struktur, innerhalb derer

                                                                                                               18 Die in eckigen Klammern eingefügten Zahlen verweisen auf die Gliedung des folgenden Kapitels, das die Analyse dessen, was Brandom unter Kommunikation versteht, entlang dieses Zitates vollziehen wird. 19 Vgl.: „Über Repräsentation zu reden, heißt, darüber zu reden, was es bedeutet, Kommunikation dadurch zu sichern, dass man in der Lage ist, die Urteile der anderen als Gründe zu verwenden, als Prämissen in unseren

  13

Kommunikation stattfindet, ist bei Brandom – in Anlehnung an Davidson – die

perspektivische Ich-Du-Konstellation, in der ein Dialog zwischen zwei Personen jetzt

(synchron) stattfindet.

In der hier vorgelegten weitgehend davidsonianischen Darstellung wird dagegen die

Intersubjektivivtät im perspektivischen Ich-du-Stil verstanden, der sich auf die Relation zwischen

den von einem interpretierenden Kontoführer selbst eingegangenen und den von ihm an andere

zugewiesenen Festlegungen konzentriert. (EV 8.6.4., 831)

Dabei bedienen sie sich im Normalfall derselben Sprache, so dass eine explizite Übersetzung

von einer Sprache in die andere nicht notwendig ist. Explizite Interpretation ist nach Brandom

nur in einem weiteren Fall notwendig, nämlich wenn die „gewöhnliche Kommunikation

zusammengebrochen“ ist20. Im Normalfall, dem „gewöhnlichen innersprachlichen

Verstehen“, finde eine implizite praktische Interpretation statt, die Brandom „deontisches

Kontoführen“ nennt und die weiter unten näher erklärt werden soll.21

Natürlich gibt es zwischen reibungsloser Kommunikation, dem Idealfall, und dem totalen

Zusammenbruch der Kommunikation, dem „Ausfall“, verschiedene Zwischenstufen, auf

denen sich die Verhältnisse der Anteile von impliziter und expliziter Interpretation

zueinander in Richtung der Zunahme expliziter Interpretation schrittweise verschieben. Dabei

muss man wohl ausschließen, dass beim totalen Zusammenbruch gewöhnlicher

Kommunikation explizite Interpretation noch weiterhelfen könnte. Denn in diesem Fall gäbe

es nichts mehr zu übersetzen. Man stelle sich nur den Fall vor, in dem verbale Gewalt in

physische Gealt umschlägt oder wenn zwei Menschen aufeinandertreffen, die zwei Sprachen

aus verschiedenen Sprachfamilien sprechen, die grammatisch inkommensurabel sind und die

z.B. auch keine Wortstämme teilen. Der tatsächliche Standardfall der Kommunikation ist

deshalb eher eine Grauzone aus für das Aufrechterhalten der Kommunikation ausreichendem

                                                                                                               eigenen Inferenzen, auch rein hypothetisch, um deren Signifikanz im Kontext unserer eigenen Begleitfestlegungen zu beurteilen.“ (BB, 218) 20 Vgl.: „Es lässt sich bestreiten, dass das gewöhnliche innersprachliche Verstehen wesentlich Interpretation einschließt, wenn Interpretation nach dem Modell der expliziten Hypothesenbildung aufgefasst wird. Sprachliches Verstehen hängt nur in außergewöhnlichen Situationen von einer so verstandenen Interpretation ab – wenn verschiedenen Sprachen im Spiel sind oder wenn die gewöhnliche Kommunikation zusammengebrochen ist.“ (EV 8.2.1., 707) 21 „Die deontische Kontoführung ist die Form des Verstehens, die der Kommunikation innerwohnt. Sie ist eine Art des Interpretierens, aber es handelt sich um eine implizite praktische Interpretation und nicht um eine theoretische Hypothesenbildung. Sie wird vorausgesetzt, selbst wenn es nur darum geht, Behauptungen in Betracht zu ziehen, die eine Hypothese oder Belege für die Hypothese oder Konklusionen aus ihr ausdrücken würden.“ (EV 8.2.1., 707)

  14

Verstehen und gelegentlichem Missverstehen – aufgrund unterschiedlicher Erfahrungen,

Grundüberzeugungen und Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten – das seinerseits die

Kommunikation aufgrund des daraus entstehenden Klärungsbedarfs aufrechterhält. Aus den

unterschiedlichen Voraussetzungen unseres Denkens ergeben sich nach Brandom

verschiedene Perspektiven, die mit unterschiedlich strukturierten inferentiellen Begriffs-

Netzwerken einhergehen und dadurch unterschiedliche Wahrnehmungs- und

Handlungsperspektiven bedingen:

Auch wenn Menschen eine Sprache (und damit ihre Begriffe) teilen, was der Standardfall der

Kommunikation ist, gibt es immer noch einige Meinungsverschiedenheiten, einige Unterschiede in

den Festlegungen, die Leute eingegangen sind. Wir verkörpern jeweils unterschiedliche

Wahrnehmungs- und Handlungsperspektiven und werden deshalb niemals genau die gleichen

doxastischen und praktischen Festlegungen haben. (EV, 8.2.1., 709)

Darauf, wie sich diese unterschiedlichen Perspektiven auf die zur gelingenden

Kommunikation notwendigen Fähigkeiten der Kommunikationsteilnehmer auswirken,

erläutert Brandom im Folgenden. – Wenn du verstehen willst, was ich sage, dann musst du …

[2] ... einen Satz damit in Verbindung bringen, der in deinem Mund die Behauptung

ausdrückt, den der von mit geäußerte Satz in meinem Mund ausdrückt.

Eine Grundfähigkeit, die man mitbringen muss, um erfolgreich zu kommunizieren, ist die

Fähigkeit, sich in einen anderen hineinzuversetzen und eine Situation oder einen Sachverhalt

von seinem Standpunkt aus zu beurteilen. Dies scheint ein Allgemeinplatz zu sein. Doch für

Brandom bedeutet dies nicht, dass man sich in den andereren bloß „einzufühlen“ vermag.

Empfindungsfähigkeit (sentience) würden wir auch mit Tieren teilen.22 Was uns nach

Brandom aber als Menschen auszeichne, sei Verstandesfähigkeit (sapience). Entsprechend

geht es ihm um die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel auf der Ebene der

Begriffsverwendung.

                                                                                                               22 Zwischen Empfindungsfähigkeit und Einfühlung oder Empathie besteht ein Unterschied, den Brandom nicht berücksichtigt. Dabei bin ich mir nicht sicher, ob er ihn bewusst ausblendet, da er sich auf die Analyse des Wesens des Begrifflichen konzentrieren will, oder ob er ihn übersehen hat. Wenn dies der Fall ist, ließe sich daran eine Kritik anknüpfen, die ich im abschließenden Kapitel versuchen möchte.

  15

Das Besondere an Brandoms Modell der Kommunikation ist, dass erfolgreiche

Kommunikation nicht voraussetzt, dass man denselben Gedanken teilt. Es geht vielmehr um

ein „In-Verbindung-Bringen“, d.h. das Herstellen einer Korrespondenz zwischen zwei

Behauptungen aus verschiedenen Perspektiven, deiner und meiner, die sich auf denselben

Gegenstand beziehen, aber Verschiedenes ausdrücken können. Diese Korrespondenz muss

nur ausreichend [sufficient] sein, d.h. Ähnlichkeit der inferentiellen und praktischen

Festlegungen garantieren, nicht Identität.23 Was Brandom darunter versteht, erklärt er in den

„Tales of the Mighty Dead“:

What makes it right to map another’s noise onto this sentence of mine, and so to attribute to it the

content expressed by that sentence in my mouth, is just that its relations to other noises sufficiently

mirror the relations my sentence stands in to other sentences of mine.

Das Spiegeln der Äußerung eines Anderen auf meine perspektivische inferentielle

Infrastruktur des Denkens ist kein Vorgang der Identifikation einer übersprachlichen Idee im

Kopf des Anderen mit derselben Idee in meinem Kopf (oder „über“ unser beider Köpfe),

sondern eine Übertragung oder Vererbung seiner Festlegungen auf die Festlegungen, auf die

ich mich verpflichten würde (auch nicht-sprachlich-praktische), wenn ich dasselbe behaupten

würde:

[…] what is evidence for and against it and what it is evidence for and against, as well as

what environing stimuli call forth my endoresement of it and what role it plays in practical

reasoning leading to non-linguistic action. Thoses consequential relations are of the essence

of interpretability, and so of rationality on this modell. (TMD, 5)

Diese Festlegungen stellen die inferentielle Gliederung der Behauptung dar. Diese garantiert

Übersetzbarkeit und ist die Form von Rationalität, die Brandom inferentielle Rationalität

nennt und welche eine der Grundstrukuren seines Kommunikationsmodells darstellt. Damit

verabschiedet sich Brandom von einem Modell der Kommunikaions als

Informationsvermittlungsprozess.

                                                                                                               23 Der Perspektivenwechsel bei Brandom beschreibt ein ähnliches Phänomen wie das in der Vorbemerkung erwähnte Aspektsehen bei Wittgenstein. – Vgl. Wittgenstein: „Ich betrachte ein Gesicht, auf einmal bemerke ich seine Ähnlichkeit mit einem anderen. Ich sehe, dass es sich nicht geändert hat; und sehe es doch anders. diese Erfahrung nenne ich ,das Bemerken des Aspekts‘“. Wittgenstein, Ludwig (1984): Werkausgabe in 8 Bänden, Frankfurt a. M. Bd. I (PU), 519.

  16

The paradigm of communication as joint possession of some common thing [grasping the same

meaning] ist relinquished in favor of […] a paradigm of communication as a kind of cooperation

in practice. What is shared by speaker and audience is […] a scorekeeping practice [coordinating

social perspectives by keeping deontic score according to common practice.] (ME 7.5.5./7.5.3.,

485,/479)

Kommunikation ist für Brandom weniger etwas, das zwischen Ich und Du stattfindet, sondern

was Ich und Du gemeinsam tun. Es ist kein Akt, der in erster Linie der

Informationsvermittlung zwischen zwei Parteien dienen würde, bei welcher der Sprechakt nur

das Vehikel der Übermittlung einer Idee, Proposition, Bedeutung oder Information zwischen

Sender und Empfänger darstellte. Brandom definiert Kommunikation vielmehr als

„cooperating in a joint activity“ (ME 7.5.3., 479). Diese „joint activity“ ist das Spiel des

Gebens und Forderns von Gründen. Bereit zu sein, sich auf dieses Spiel einzulassen, d.h. auf

Nachfrage die eigenen Behauptungen zu begründen und so zu rechtferigen und seinerseits,

Gründe für die Behauptungen anderer einzufordern, setzt eine Bereitschaft zum

Zusammenspiel, zur Kooperation voraus. Einerseits erzeugt Kommunikation in diesem

Zusammenspiel ein Wir der Kooperierenden oder Kommunizierenden, eine (zunächst

implizite) Kommunikations-Gemeinschaft, andererseits funktioniert die Kommunikation nur,

wenn es bereits eine Art „Wir“ gibt, das in Gestalt gemeinsamer „background commitments“

(ME 7.5.3., 479) den gemeinsamen Hintergrund konstituiert, vor dem die wechselseitigen

Äußerungen ihren Sinn und ihre normative Verbindlichkeit beziehen.

Was geteilt wird, ist also nicht der Sinn oder die Bedeutung einer Aussage, sondern das oben

erwähnte „deontische Kontoführen“, eine Tätigkeit. Was verstanden werden soll, ist nicht die

Bedeutung eines Begriffes oder einer Behauptung, sondern die inferentielle Rolle, die diese

Behauptung in der Praxis, dem Spiel des Gebens und Forderns von Gründen, das sich in

einem Netz von Begründungszusammenhängen vollzieht, spielt.24 Verstehen würde dann

erfolgen, wenn beide „Spieler“ eine gemeinsame doxastischen Festlegung oder Überzeugung

teilen, d.h. einer Festlegung darauf „wie eine Behauptung auf die andere festlegen oder zu ihr

berechtigen (also als Begründung dienen) kann“. (EV 3.1.1., 220) Der kommunikative Akt

wäre ein Akt des wechselseitigen Anerkennens der mit dem Behaupten einhergehenden

                                                                                                               24 Das Begreifen des Begriffs, […] besteht im Beherrschen seines inferentiellen Gebrauchs: im Wissen (in dem praktischen Sinne, dass man unterscheiden kann, und das ist ein Wissen-wie), worauf man sich sonst noch festlegen würde, wenn man den Begriff anwendet, was einen dazu berechtigen würde und wodurch eine solche Berechtigung ausgeschlossen wäre. (BB 2001, 22f.)

  17

doxastische Festlegungen und das Verstehen dieses kommunikativen Aktes bestünde darin,

dass dasjenige, worauf sich der Sprecher mit seiner Behauptung festlegt, korrekt auf dem

Konto der Zuhörerschaft als Verpflichtung/Berechtigung abgebildet würde:

The sort of understanding or uptake of such a performance required for successful communication

is for the audience to figure that performance correctly in its score: to attribute the right

commitment to the one making the claim. […] In the paradigmatic case of communicating by

claiming, the audience’s understanding of the claim must determine the inferential significance

that adopting or believing that claim would have (that is what one would be commiting oneself to

by endorsing it […]). (ME 7.5.3., 480).

Für Brandom ist der paradigmatische Fall des Kommunizierens das Behaupten. Erfolgreiche

Kommunikation, d.h. den Sprechakt (performance) des Behauptens zu verstehen, bedeutet

innerhalb seiner inferentialistischen Auffassung diskursiver Praxis, dass die Zuhörer die

normative Bedeutsamkeit (significance)25 der Behauptung als Prämisse in ihrem eigenen

Netzwerk von Überzeugungen (und logisch mit ihnen verknüpften Folgerungen) prüfen und

aus ihrer Sicht dann demjenigen, der die Behauptung äußert, die entsprechenden

Verpflichtungen/Berechtigungen zuschreiben. Das Verstehen der Bedeutung der Behauptung

besteht also im Verstehen der Bedeutsamkeit oder der Rolle dieser Behauptung in einem

inferntiellen Netz aus Folgebeziehungen zu anderen Behauptungen, die bestimmen „worauf

man sich also festlegen würde, wenn man sie billigt, welche anderen Festlegungen einen zu

dieser Billigung berechtigen könnten, welche damit unvereinbar sind (und somit die

Berechtigung zur Billigung auschließen) usw.“ (EV 7.5.3., 668) Dieses Verstehen richtet sich

mithin nicht auf etwas Vorgefundenes, ein Etwas, das der Sender zuerst besitzt und dann dem

Empfänger erfolgreich übermittelt hat (eine Idee, Bedeutung, Information etc.), es (re-

)konstruiert vielmehr das Gemeinte aus der eigenen Perspektive aber vor einem gemeinsamen

Hintergrund. Im Falle erfolgreicher Kommunikation einigt man sich darauf, dass die

Behauptung „wahr“, d.h. dass die Behauptung aus der Sicht beider

Kommunikationsteilnehmer berechtigt ist. Das bedeutet nicht, dass sie für beide Seiten die

gleiche „inferentielle Signifikanz“ besitzt, d.h. die gleiche Rolle im Netz der

Folgebeziehungen zu anderen Behauptungen spielen muss. Dies ist nicht der Fall, weil jeder

                                                                                                               25 Significance hat im Englischen zwei Bedeutungsnuancen: einmal importance oder Bedeutsamkeit (oder Gewicht) in Hinblick auf Folgen (consequences) und einmal meaning oder implication, d.h. Bedeutung, Sinn. Wenn ich mit „Bedeutsamkeit“ übersetze, dann tue ich es, um den normativen Wert oder die normative Kraft des Begriffes zu betonen.

  18

ein eigenes „belief-set“ oder eigene Überzeugungen hegt, die dem Verstehen prinzipiell

seinen perspektivischen Charakter aufprägen:

Inferential significance can be determined only relative to a total belief-set, so if what audiences

understand must determine such significances, it cannot be independant of the context of collateral

commitments. (ME 7.5.3., 480)

Der perspektivische Charakter des Verstehens wirkt sich sowohl auf die Ausgänge

(Handlungen) als auch auf die Eingänge (die Wahrnehmungen) des Diskurses aus.

Entsprechend ihrer Grundüberzeugung, dass die Welt aus Schnee und Eis besteht, können

z.B. die beiden Eisbären die folgende Situation gar nicht anders wahrnehmen, als sie es eben

tun:

Zwei Eisbären treffen sich in der Wüste.

Sagt der eine: „Wahnsinn, hier muss ja irrsinnig viel Eis gewesen sein!“

„Wieso?“, fragt der andere. – „Weil sie so viel gestreut haben!“

In diesem Fall stimmen die Grundüberzeugungen weitgehend überein, da es sich um Wesen

derselben Spezies mit vergleichbaren Erfahrungen und Hintergrundfestlegungen handelt. Die

Kommunikation ist erfolgreich in dem Sinne, dass beide Kommunikationsteilnehmer die

Schlussfolgerung, dass es dort viel Sand gibt, weil wegen Eises gestreut wurde, als wahr

anerkennen. Sie teilen sozusagen eine ganze „Theorie“ über die Berechtigung zu Aussagen

den Zusammenhang des Vorkommens von Eis und Sand betreffend:

Somit hängt die Signifikanz einer Überzeugung davon ab, wovon man sonst noch überzeugt ist,

so dass man davon ausgehen sollte, dass ganze Theorien, und nicht bloß einzelne Sätze, die

Bedeutungseinheiten bilden. (BB, 217)

Wenn die Kommunikationspartner unterschiedlichen Spezies angehören, so können die auf

den Gehalt einer Äußerung bezogenen Berechtigungen zu konträren inferentiellen und

praktischen Festlegungen und damit zum Scheitern der Kommunikation führen:

Ein Ufo landet auf einer Wiese, auf der ein Stier grast. Zwei Marsmännchen steigen aus. Sagt das

eine zum Stier: „Wir kommen in Frieden!“ Der Stier hebt den Kopf, dann grast er ruhig weiter.

„Ich glaube, der versteht uns nicht“, sagt das andere Marsmännchen. „Zeig ihm doch unsere rote

Friedensfahne!“

  19

Das Zeigen einer roten Fahne ist ein nicht-sprachlicher Kommunikationsakt, der für die

Marsmännchen und den Stier mit entgegengesetzten Festlegungen verbunden ist. Der Stier

sieht sich zu der Handlung (die eine praktische Festlegung darstellt) berechtigt, anzugreifen.

Die Marsmännchen dagegen, verbinden mit dem Akt des Rote-Fahne-Zeigens die Festlegung

auf eine friedliche Begegnung. Auch in der zwischenmenschlichen Kommunikation über

Kulturgrenzen hinweg kommt es oft vor, dass die Körpersprache oder verwendeten Symbole

mit unterschiedlichen Bedeutungen verbunden werden und es so zu Missverständnissen

kommen kann.

Der perspektivische Charakter des Verstehens ist mit Blick auf die Kommunikation trotz

allem kein Mangel, da, wie Brandom zurecht bemerkt, Kommunikation sonst „in all jenen

Fällen unmöglich ist, in denen sie nicht zwecklos wäre“ (EV 7.5.3., 669). M.a.W: Wenn die

Pespektiven identisch wären und somit auch die inferentielle Bedeutung, die eine Behauptung

aus dieser Perspektive und in diesem inferentiellen Netzwerk hätte, dann wäre

Kommunikation überflüssig. Wenn die Perspektiven aber prinzipiell inkommensurabel wären,

bräuchte man erst gar nicht versuchen, zu kommunizieren.

Wie vollzieht sich das Interpretieren, das Herstellen einer ausreichenden Korrespondenz

zwischen zwei Behauptungen aus verschiedenen Perspektiven nun genau? Was bedeutet

„ausreichend“? Brandom erklärt dies anhand der Kritik von McDowell an Frege.

Aber es gibt keinen auf der Hand liegenden Grund, warum er [Frege] sich nicht auf den Standpunkt

hätte stellen können, beim sprachlichen Austausch erfordere das wechselseitige Verstehen – das,

worauf erfolgreiche Kommunikation hinausläuft – nicht geteilte Gedanken, sondern verschiedenen

Gedanken, die jedoch, wie alle wissen, in einer passenden Relation der Korrespondenz stehen.

(Anm. 57 zu EV 8.5.3., 780)

Brandom spezifiziert McDowells Formulierung „passende Relation der Korrespondenz“ wie

folgt: „Die erfolgreiche Kommunikation verlangt nur, dass die Zuhörer mit der Äußerung des

Sprechers einen angemessenen korrespondierenden de re-Sinn verbinden.“ (EV 8.5.3., 780)

Nach Brandom richtet sich das Verstehenwollen in Bezug auf das Denken und den Diskurs

anderer auf zwei Aspekte: Worüber sie sprechen (de re) und was sie sagen (de dicto).26 Er

nennt diese beiden Aspekt auch die repräsentationale Dimension und die propositionale

                                                                                                               26 Hier ist zu bemerken, dass er nicht am Verstehen der Personen interessiert ist.

  20

Dimension des Denkens und Redens. (vgl. BB, 206) Oben hatten wir von der Erfordernis

einer „ausreichenden Korrespondenz“ zwischen den Gehalten von zwei Äußerungen, die sich

auf denselben Gegenstand beziehen, für erfolgreiche Kommunikation gesprochen. Genauer

betrachtet geht es um eine angemessene Korrespondenz des de re-Sinns. Der unterschiedliche

de re-Sinn einer Äußerung lässt sich an dem Gebrauch des Wortes „ich“ gut verdeutlichen.

Wenn ich „ich“ sage, so ist der de re-Sinn „Katrin“. Wenn Robert Brandom „ich“ sagt, so ist

der de re-Sinn, die Referenz, eine andere, nämlich die Person „Robert“. Das Gesagte (de

dicto), „ich“, bleibt unverändert. Trotzdem können wir einen Gedanken oder eine

Empfindung verstehen, den/die ein Sprecher aus der Ich-Perspektive formuliert.

Niemand anderes kann den Gedanken haben, den Michelle mit „Ich werde von einem Bären

bedroht“ ausdrücken würde, doch das bedeutet nicht, dass niemand anderes verstehen kann, welchen

Gedanken sie durch diese Behauptung ausdrücken würde. (EV 8.5.3., 780)

Wir können zwar nicht denselben Gedanke haben, aber wir können die Äußerung in unsere

Perspektive übersetzen. Wie sind in der Lage, trotz unterschiedlicher Perspektiven, einen

korrespondieren de re-Sinn als solchen zu identifizieren. Dazu muss man einmal etwas

unterscheiden und dann miteinander verbinden können – „was meinem Gebrauch von ,ich‘

[=Katrin] und deinem von ,du‘ [=Robert] entspricht“ – und einmal etwas als einander

entsprechend erkennen können, „d.h. mit ,ich‘ drücken du und ich Sinne der gleichen Art aus

[Selbstbezug].“ (EV, 780; 8.5.3.) „Ich“ steht für die subjektive Perspektive, in deren Rahmen

das Netz meiner praktischen und inferentiellen Festlegungen aufgespannt ist. Sie ist

determiniert durch meine Hintergrundfestlegungen, individuelle Überzeugungen (doxastische

Festlegungen), Erfahrungen und Gewohnheiten und eröffnet mir entsprechend determinierte

Wahrnehmungs- und Handlungsfenster. Das Wort „ich“, von mir gesprochen, kann deshalb

nie dieselbe Bedeutsamkeit (significance/Folgefestlegungen) für dich haben, wenn du „ich“

sagst, da du nicht ich bist. Trotzdem weiß ich, dass du nicht mich meinst, wenn du „ich“ sagst.

Dass diese „Navigation zwischen den Perspektiven“ für gewöhnlich gelingt, wird einem klar,

wenn man über den folgenden Witz schmunzelt, in dem sie nicht gelingt (bzw. der Ober mit

dem Perspektivenwechsel spielt):

Gast: „Herr Ober, bitte zahlen!“

Ober: „Wieso ich?“

  21

Dass wir im Falle von Michelle die Bedeutung ihrer Äußerung verstehen, obwohl sie vor dem

Hintergrund unserer Festlegungen einen ganz anderen Sinn hat, liegt nach Brandom daran,

dass Verstehen nicht in einer „Horizontverschmelzung“ besteht, sondern in der

Wahrnehmung der Differenz zwischen zwei Perspektiven. Erst dann kann man bewusst

versuchen, sich in die Perspektive der Begriffsverwendung des anderen hineinzuversetzen,

d.h. in diesem Fall: indem ich mich in die Perspektive von Michelle versetze, erkenne ich,

dass sie mit „ich“ sich, Michelle, meint, dass sie es ist, die sich von einem Bären bedroht

fühlt.

Dass das Wort „ich“ in meinem Munde nie dieselbe Signifikanz haben kann wie in deinem […]

schließt ganz und gar nicht aus, dass ich verstehe, was du damit ausdrückst. Kommunikation ist

möglich, doch zu ihr gehört wesentlich die intralinguistische Interpretation – die Fähigkeit, mit

verschiedenen diskursiven Perspektiven zurechtzukommen, zwischen ihnen hin- und

herzunavigieren (EV 8.6.2., 815 f.) [… the capacity to accomodate differences in discursive

pespective, to navigate across them. (ME 8.6.2., 588)]

„Accomodate“ heißt „unterbringen“, „Raum haben für“ aber auch „jemandem

entgegenkommen/helfen“. Das ist mehr als ein „Zurechtkommen“ (wie es in der deutschen

Übersetzung heißt). Es nimmt bezug auf die Metapher des Raumes und die grundlegende

Bereitschaft in einer kooperativen Unternehmung, in der einer dem anderen hilft,

mitzuwirken. Diesen „Raum der Gründe“, den wir „bewohnen“, gilt es so einzurichten, dass

Platz für andere Sichtweisen bleibt. Bereit zu sein, diese Sichweisen einzunehmen, ist ein Akt

des Entgegenkommens, der dem Erfolg unserer gemeinsamen, kooperativen Unternehmung

dient: der Kommunikation. An anderer Stelle nennt Brandom das Hin- und Hernavigieren

auch die Fähigkeit, „zwischen den verschiedenen Perspektiven derjenigen, die Festlegungen

zuweisen, und derjenigen, die sie eingehen umschalten“ zu können (vgl. EV 8.2.1., 709), was

nichts anderes meint, als in der Rolle des Sprechers in die des Hörers und umgekehrt

schlüpfen zu können. Der Sprecher ist derjenige, der Festlegungen eingeht, indem er sich mit

einer bestimmten Behauptung inferentiell auf Folgebehauptungen verpflichtet. Wenn ich

behaupte, dass Sokrates ein Mensch sei, dann muss ich, als rationales Wesen, auch zugeben,

dass er sterblich ist (weil alle Menschen sterblich sind). Dies ist – noch – ein monologischer

Prozess. Der Dialog wird in dem Moment initiiert, in dem ich diese Behauptung als wahr und

öffentlich vorbringe. Durch die Form der Behauptung verleihe ich dieser Aussage eine

Autorität, für die ich mich, weil ich sie öffentlich vorgebracht habe, gegebenenfalls vor den

Zuhörern rechtfertigen muss. Wenn die Zuhörer das, was ich als wahr behaupte, nach

  22

eingehender Prüfung auch aus ihrer Sicht als wahr (behauptbar) anerkannt haben – d.h. erst in

meine Perspektive „umgeschaltet“ und dann in ihre Perspektive zurückgeschaltet“ haben –

dann nennt Brandom dies „erfolgreiche Kommunikation“ oder „Vererbung von

Festlegungen“:

Eine kommunikativ erfolgreiche Behauptung in dem Sinne, dass das, was der Sprecher als wahr

vorbringt, von Zuhörern als wahr betrachtet wird, besteht in der interpersonalen Vererbung der

Festlegung. (EV 3.3.2, 257)

Wenn die Zuhörer die Behauptung, dass Sokrates ein Mensch ist, teilen, dann sind sie auf

dieselben Folgerungen (die Sterblichkeit von Sokrates) und Prämissen (hier: der Sterblichkeit

von Menschen) – festgelegt wie ich: ich habe „meine“ Festlegungen an sie „vererbt“.

Genaugenommen sind es aber nicht „meine“ Festlegungen. Denn es sind für uns beide

dieselben öffentlichen sprachlichen und begrifflichen Normen im Umfeld des Begriffs

„Mensch“, die uns binden. Sie sind unabhängig von unseren Wahrnehmungs- und

Handlungsperspektiven.

Jene Normen, denen ich mich unterwerfe, indem ich den Begriff ‚Molybdän’ verwende – das, was

tatsächlich aus dessen Verwendung folgt und damit unvereinbar ist – müssen sich nicht ändern,

wenn sich meine Ansichten über Molybdän und seine inferentielle Umgebung ändern. Und du und

ich können durch genau die gleichen öffentlichen sprachlichen und begrifflichen Normen im

Umfeld des Begriffs gebunden sein, ungeachtet dessen, dass wir geneigt sind, unterschiedliche

Behauptungen aufzustellen und unterschiedliche inferentielle Züge zu absolvieren. (BB, 46)

Einen Zug im Spiel des Gebens und Forderns von Gründen zu machen, d.h. die Behauptung

vorzubringen, dass Sokrates ein Mensch sei, ist ein Akt aus freiem Willen, für den ich deshalb

Verantwortung trage. Er trifft jedoch, da er im Raum der Gründe, der inferentiell und

sozialperspektivisch strukturiert ist, auf gegebene begriffliche inferentielle Strukturen.

Es ist meine Sache, ob ich ein Token des Typs ‚Molybdän’ im Spiel des Gebens und Verlangens

von Gründen ausspiele. Es ist dann allerdings nicht mehr meine Sache, die Signifikanz dieses

Zuges zu bestimmen. (BB, 46)

Dabei sind diese Festlegungen nicht nur rein logischer, d.h. theoretischer Art. Sie sind

zugleich normativ, weil ich den Satz als Behauptung vorbringe. Damit lege ich mich auch auf

ein Netz praktischer Inferenzen fest: Was ich noch behaupten darf, was ich voraussetzen darf

  23

und was damit inkompatibel ist (denn Behaupten ist eine Sprechhandlung). Diese Normen

sind wiederum rationale Normen: „[…] all of these ,oughts‘ […] are in the most basic sense

rational oughts. For they codify commitments to patterns of practical reasoning.“ (TMD, 11).

Verstehen kann in diesem Kontext nicht mehr als rein kognitiver Akt beschrieben werden, das

„Anknipsen eines cartesischen Lichts“ (EV 2.5.2., 193), sondern erscheint als Praxis: die

„praktische Beherrschung einer bestimmten Art inferentiell gegliederten Tuns“, nämlich

„unterscheidendes Reagieren auf die Umstände der richtigen Anwendung eines Begriffs“ und

„Erkennen der richtigen inferentielle Folgen einer solchen Anwendung.“ (ebd.) Vor diesem

Hintergrund wird die oben angeführte Definition von „Verstehen“ klarer:

Die deontische Kontoführung ist die Form des Verstehens, die der Kommunikation

innewohnt. Sie ist eine Art des Interpretierens, aber es handelt sich um eine implizite

praktische Interpretation und nicht um eine theoretische Hypothesenbildung. (EV 8.2.1.,

707)

Das deontisches Kontoführen ist ein doppeltes Kontoführen: jeder muss sowohl sein eigenes

Konto wie auch das Konto des Anderen im Blick haben. Nur diejenigen können nach

Brandom als kompetente sprachliche Akteure gelten, die „ihren eigenen Festlegungen und

Berechtigungen und denen der anderen auf den Fersen” bleiben. (EV 3.1.1., 220) Dieser

Kontostand verändert sich mit jedem Zug im Spiel des Gebens und Forderns von Gründen,

mit jedem Sprechakt. „Sprechakte, insbesondere Behauptungen, verändern den Kontostand“

(ebd.). Dabei verändert sich nicht nur Kontostand des anderen, sondern auch mein eigener.

Wenn ich im Diskurs z.B. behaupte, dass das Verstehen sich nicht auf deontisches

Kontoführen reduzieren lässt und du dieser Äußerung Wahrhaftigkeit zuerkennst, so siehst du

auch dich selbst als berechtigt an, im weiteren Gespräch diese Behauptung als wahr zu

behandeln. Durch das Anerkennen meiner Festlegungen hast du die Behauptung gutgeheißen,

d.h. meine normative Einstellung übernommen (vgl. EV 5.5.1., 464). Es fand eine

„Vererbung“ von mit dieser Behauptung verbundenen inferentiellen und praktischen

Festlegungen von mir auf dich statt.

  24

[3] Denn damit du ihn verstehst (damit du weißt, worauf ich mich festgelegt habe), musst du

die Inferenzen herausfinden, in die jene Behauptung involviert ist.

Übersetzbarkeit aufgrund von inferentieller Rationalität ist die grundlegende Voraussetzung

dafür, dass eine Behauptung verstanden werden kann. Übersetzen im Sinne der Fähigkeit, die

Festlegungen, die aus der Behauptung aus der Perspektive eines anderen folgen, herausfinden

zu können und sie mit den eigenen zu vergleichen. d.h. zwischen beiden Perspektiven hin-

und und her wechseln zu können und dabei doppelt Buch zu führen. Einmal darüber, wie die

Behauptungen des anderen als Prämissen in meinen Behauptungen dienen könnten und zum

anderen darüber, wie meine Behauptungen als Prämissen in den Behauptungen des anderen

dienen können. Dieser Prozess des wechselseitigen Interpretierens wird von Brandom

„deontische Buchführung“ genannt:

This is a matter of being able to map another’s utterances onto one’s own, so as to navigate

conversationally between the two doxastic perspectives: to be able to use the other’s

remarks as premises for one’s own reasoning and to know what she would make of one’s

own. […] deontic scorekeeping is recognizably a version of the sort of interpretive process

Davidson is talking about. (TMD, 6f.)

Deontisch ist die Buchführung, weil man registriert, worauf sich ein Sprecher durch eine

Behauptung selbst verpflichtet. Doppelt ist sie, weil man dies sowohl bei sich selbst wie auch

beim anderen registriert (nämlich worauf man sich praktisch und inferentiell durch die eigene

Behauptung bzw. durch die Anerkennung der Behauptung des anderen festlegt). Um

Buchführung oder Kontoführung handelt es sich, weil der durch den Kontostand erlangte

normative Status sozusagen ein normatives „Kapital“ oder „Produktionsmittel“ darstellt, das

zur weiteren Produktion von Gründen und Handlungen berechtigt.

Zur Verdeutlichung ein Beispiel, das Sebastian Knell in seiner Rezension zu Brandoms

„Expressiver Vernunft“ in der „Zeit“27 vorgebracht hat und das so anschaulich ist, dass ich es

an dieser Stelle komplett zitieren möchte:

                                                                                                               27 Knell, Sebastien: Navigation im Raum der Gründe. DIE ZEIT, 27/2000 http://www.zeit.de/2000/27/Navigation_im_Raum_der_Gruende

  25

In Alfred Hitchcocks Psychothriller Spellbound führt ein bemerkenswerter Dialog am Ende zur

Entdeckung des Mörders. Wir hören den Leiter einer psychiatrischen Klinik beiläufig sagen: „Ich

kannte Dr. Edwards nur flüchtig.“ Die innere Stimme seines Gegenübers, einer jungen Ärztin,

verwandelt die Aussage des Vorgesetzten nun in einem Crescendo von Wiederholungen in den

Satz „Ich kannte Dr. Edwards“. Fast schon modellhaft zeigt Hitchcock, wie im Kopf der verstört

blickenden Ingrid Bergman ein Prozess abläuft, der den normativen Gehalt des Satzes untersucht –

bis ihr ins Bewusstsein dringt, wie sehr die Bemerkung mit früheren Äußerungen ihres

Vorgesetzten über den ermordeten Kollegen kollidiert. Am Ende des Filmes richtet der Klinikchef

den Revolver gegen sich selbst. Seine Bemerkung war eine Unachtsamkeit, von der er ahnte, dass

sie zu seiner Entdeckung führen musste. Und warum? Weil der Mörder ein „diskursiver

Kontoführer“ ist und weiß, dass seine Zuhörerin ebenfalls eine „diskursive Kontoführerin“ ist.

Dass der Klinikchef sich am Schluss selbst richtet, ist das Ergebnis einer diskursiven

Festlegung, die auf Seiten der „Ausgänge“ diskursiver Praxis, nämlich der Handlungen,

Konsequenzen hat. Die diskursive Festlegung bestand in von „Ich kannte Dr. Edwards nur

flüchtig“ auf „Ich kannte Dr. Edwards.“ Diese Verpflichtung auf die Wahrheit von „Ich

kannte Dr. Edwards“ steht im Widerspruch zu seiner früheren Behauptung, dass er ihn nicht

gekannt habe. Der Zug im Spiel des Gebens und Forderns von Gründen, den er mit dem

Vorbringen der Behauptung, dass er ihn nur flüchtig gekannt habe, vollzieht, geht damit

einher, dass er nun nicht mehr berechtigt ist zu behaupten, dass er ihn nicht gekannt habe.

Sein „Kontostand“ hat sich durch diesen Zug entscheidend verändert – und dies hat sowohl er

selbst als auch die junge Ärztin (implizit) bemerkt. Jeder Zug im Sprachspiel erzeuge, so

Knell, „dominoartige Verschiebungen der Kontostände“ (ebd.). Über diese praktisch und

implizit einen Überblick behalten zu können, zeichne Menschen als rationale Wesen aus.

Gleichzeitig ist sie die Voraussetzung für erfolgreiche Kommunikation.

Was Kommunikation als deontisches Kontoführen meint, wird auch deutlich, wenn man sich

ein Beispiel vor Augen führt, bei dem sie scheitern muss, weil diese Voraussetzung nicht

erfüllt ist, d.h. wenn Wesen miteinander kommunizieren, die diese Fähigkeit nicht teilen.

Verstehen zwischen Tier und Mensch geht dann fehl – zumindest aus der Sicht des Menschen

– wenn der Mensch das Tier wie einen Menschen, wie ein rationales Wesen behandelt, das

zur deontischen Kontoführung in der Lage wäre – was es eben nicht ist. Dies zeigt der

folgende Witz:

  26

Herr Meyer erzählt von der Erziehung seines neuen Hundes: „Hasso sollte bellen, wenn er fressen

wollte. Ich habe es ihm sogar vorgemacht.“ – „Und?“, fragt sein Nachbar. „Bellt er jetzt, wenn er

fressen will?“ – „Nein, er frisst nur, wenn ich vorher belle.“

Der Hund lernt oder „versteht“ durch Konditionierung: Wenn Herrchen bellt, dann gibt es

Futter. Herrchen unterstellt dem Hund ein weitaus komplexeres Verstehen, nämlich: Hasso

versetzt sich in die Perspektive von Herrrchen, der sich in die Perspektive von Hasso versetzt

und überträgt dessen Festlegungen („wenn ich belle, dann bekomme ich Futter“) auf seine

eigenen. Insofern kann man strenggenommen, nach Brandom, nur bei der Kommunikation

zwischen Menschen von Verstehen sprechen, nicht bei der Kommunikation zwischen Mensch

und Tier (oder Mensch und Computer etc.).

Der Prozess des Interpretierens oder Übersetzens findet jedoch nicht nur in der Gestalt statt,

dass wir, wenn der Wortlaut identisch ist, sich der Bezug aber unterscheidet, verstehen

können, was eine Person ausdrücken will, weil wir zwischen der Perspektive des Sprechers

und unserer eigenen hin- und her übersetzen und so einen entsprechenden de re-Sinn mit dem

Gesagten verbinden können. Umgekehrt kann auch das Gesagte (de dicto) differieren und wir

können trotzdem denselben Gegenstand (de re), auf den es sich bezieht, identifizieren. Hierzu

ein Beispiel, bei dem nicht die personale, sondern die temporale Perspektive sich verändert.

Brandom bringt das Beispiel von „‚heute’ heute geäußert und ‚gestern’, morgen geäußert.“

(EV 8.5.3., 780) „Heute“ heute geäußert ist in meinem Fall, meinem Jetzt, „Sonntag“. Dem

entspricht – und da würdest auch du mir zustimmen – „gestern“, morgen geäußert: d.h. der de

re-Sinn „entspricht in der richtigen Weise“ (vgl. ebd.) Diese Leistung des Wiedererkennens

ist das Ergebnis erfolgreichen Verstehens durch Substitution eines Ausdrucks durch einen

anderen mit einem entsprechenden de re-Sinn:

Das Wiedererkennen begrifflicher Gehalte nach Wechsel des doxastischen und praktischen

Standpunkts verlangt Interpretation im Wittgensteinschen Sinne sie Substitution eines Ausdrucks

einer Behauptung (bei ihm heißt es ‚Regel’) durch einen anderen. (EV, 8.2.1., 709)

Dieser Substitutionsprozess besteht in der korrekten Anwendung von Allgemeinbegriffen

oder Universalien. Rational zu sein, bedeutet, gemäß dem oben vorgestellten Modell der

geschichtlich verstandenen Vernunft, in der Lage zu sein, Allgemeinbegriffe richtig, d.h.

berechtigterweise und im Einklang mit der rekonstruierten Tradition der Begriffsverwendung

auf Einzelbegriffe anzuwenden, d.h.

  27

classifying the particulars as they ought to be classified, characterizing them in judgement by the

universals they really fall under, according to the norms that implicitly govern the application of

those universals (TMD, 12)

und zwar aufgrund der Fähigkeit, im rekonstruierten „Gang der Vernunft durch die

Geschichte“ dem Zufälligen die Gestalt der Notwendigkeit zu verleihen (TMD, 14).28 Es

handelt sich beim Verstehen eines Begriffes also um ein „Wissen-Wie“, ein Wissen um die

Folgefestlegungen und damit um den richtigen und rechtmäßigen Gebrauch innerhalb der

üblichen sozialen Praxis von Kommunikation.29

Wichtig ist, dass das Beherschen des inferentiellen Gebrauchs nicht gleichzusetzen ist mit

dem Beherrschen des logischen Gebrauchs. Die Abhängigkeiten zwischen Begriffen sind

nicht rein formal-logisch, sondern auch semantisch. Hier kommen sog. „materiale

Inferenzen“ ins Spiel. Ihre Richtigkeit hängt von den Inhalten der Prämissen und

Konklusionen ab. Brandom führt als Beispiele das Schließen von „Pittsburgh liegt westlich

von Philadelphia“ auf „Philadelphia liegt östlich von Pittsburgh“ oder von „heute ist

Mittwoch“ auf „morgen wird Donnerstag sein“ an. (vgl. EV 2.4.2., 163) Die Inferenzen seien

aufgrund des Inhalts der Begriffe „östlich“ und „westlich“, „Mittwoch“, „Donnerstag“,

„heute“ und „morgen“ richtig. „Östlich“ und „westlich“ sind zwei Begriffe, die sich

wechselseitig definieren, d.h. sie spielen füreinander eine inferentielle Rolle, die darin besteht,

dass der inferentielle Gehalt des einen Begriffs durch den inferentiellen Bezug auf den

anderen Gehalt als begrifflicher Gehalt gestiftet wird. Aufgrund dessen, kann man einen

Begriff nicht isoliert, sondern nur in seiner Rolle in einem Netzwerk von Begriffen verstehen,

die gleichursprünglich mit ihm sind. Man muss „viele Begriffe haben […], um überhaupt

welche zu haben“. (vgl. EV 2.3.3., 152) Brandom nennt dies einen „Begriffsholismus“. (ebd.

153) Die Fähigkeit, in diesem Netzwerk sich praktisch zurechtzufinden, d.h. „sich in den                                                                                                                28 In „Reconciling two Heroes“ nennt er den Menschen deshalb einen „Agenten“ oder Ausführenden eben dieser Vernunft: „Coming to realize this, and so explicitly to acknowledge the commitment to being an agent of reason's march through history, is achieving the distinctive sort of self-consciousness Hegel calls ‘Absolute knowing’.“ (RH, 12). 29 „Das Begreifen des Begriffs, der in einem solchen Vorgang des Explizitmachens verwendet wird, besteht im Beherrschen seines inferentiellen Gebrauchs: im Wissen (in dem praktischen Sinne, dass man unterscheiden kann, und das ist ein Wissen-wie), worauf man sich sonst noch festlegen würde, wenn man den Begriff anwendet, was einen dazu berechtigen würde und wodurch eine solche Berechtigung ausgeschlossen wäre.“ (BB 2001, 22f.) – Vgl. auch: „ […] coordinating social perspectives by keeping deontic score according to common practice.“ (ME 7.5.3., 479)

  28

Fäden zurechtzufinden, die einen begrifflichen Gehalt umgeben, so dass man praktisch weiß,

welche Züge zu ihm oder weg von ihm gefordert oder erlaubt und welche verboten sind“ (EV

2.3.3, 153), beschreibt die Fähigkeit, einen Begriff zu verstehen.

Man kann sich in diesen „Fäden“ leicht verstricken, wenn Begriffe mehrdeutig sind, d.h.

wenn von einem dem Wortlaut nach gleichen Begriff verschiedenen Fäden oder

Folgefestlegungen je der einen oder anderen Verwendungsweise entsprechend ausgehen. Dies

trifft besonders auf Eigennamen zu. Zu welchen Konsequenzen Missverständnisse dieser Art

führen können, zeigt der folgende Witz:

Einbruch im Haus der Meiers. Es ist stockdunkel. Da hört der Einbrecher eine Stimme: „Ich sehe

dich, und Jesus sieht dich auch.“ Der Einbrecher erschrickt und macht die Taschenlampe an.

Erleichtert entdeckt er einen Papagei. „Na, wie heißt du denn?“, fragt er. „Petrus“, krächzt der

Papagei. Der Einbrecher hält sich den Bauch vor Lachen. „Was für ein saublöder Name für einen

Papagei!“ – „Ja, und Jesus ist auch ein saublöder Name für einen Kampfhund“, krächzt der

Papagei.

[4]... du musst wissen, wie du und ich sie als Begründung verwenden könnten

Das gemeinsame oder geteilte Wissen darum, wie eine Behauptung korrekt als Begründung

verwendet werden kann, verbindet du und ich zu einem impliziten Wir. Ein Wir, dass ein

Know-How teilt, die praktische, implizite Beherrschung des korrekten Begriffsgebrauchs in

Begründungspraktiken. Es ist damit kein ontologisch bestimmtes Wir, sondern ein

pragmatisch bestimmtes, ein prozessuales Wir. Das Wissen um das Wir ist zunächst nur ein

implizites Wissen, das sich im sozial anerkannten Begriffsgebrauch äußert, ohne selbst zum

Gegenstand des Diskurses zu werden. Wenn es jedoch explizit gemacht wird mithilfe

expressiven logischen Vokabulars30, dann erzeugt Kommunikation ein Wir höherer Ordnung,

das Brandom als soziales Selbstbewusstsein bezeichnet. (Vgl. EV 9.3.2., 891) Wie Brandom

dies erreichen will, soll im folgenden untersucht werden.

                                                                                                               30 Dazu zählt Brandom sententiales logisches Vokabular (insbes. das Konditional, das es ermöglicht die Anerkennung inferentieller Festlegungen zuzuweisen), normatives Vokabular (um eine Form praktischen Begründens zuweisen zu können), subsentetiales logisches Vokabular (Quantoren und Identitätsausdrücke; zur Zuweisung und Billigung substitutionaler Festlegungen). – Vgl. EV 9.3.1., 888.

  29

Das Beispiel der Kommunikation zwischen einem Du und einem Ich, dem wir bis jetzt

gefolgt sind, werden wir nun schrittweise verlassen. Oben hatten wir festgestellt, dass für

Brandom die grundlegende soziale Einheit der Kommunikation die Ich-Du-Dyade ist.

Wesentlich öfter als von Sprecher und Hörer spricht Brandom in seinen Texten aber von

„speaker“ und „audience“, Sprecher und Zuhörerschaft. Diese Zuhörerschaft ist weniger ein

„Du“ als ein plural verstandenes „Sie“ (3. Pers. Sing./ die Zuhörerschaft) bzw. ein „Es“: das

Publikum. Zu Beginn der „Expressiven Vernunft“ untersucht Brandom verschiedene Arten

des Wir-Sagens, um das spezifische Wir-Sagen, das er anstrebt, herauszuarbeiten: „Wir, das

können du und ich sein. Wir kann alles sein, was spricht oder was sich bewegt, alles, was

Geist hat, oder alles, was Materie ist.“ (EV 1.1.1., 35). Aufgrund des von Brandom

postulierten Bedürfnisses zur Abgrenzung zu „den Anderen“, sieht er die Notwendigkeit der

Entwicklung einer Theorie gegeben, die uns zu einem expliziten semantischen sozialen

Selbstbewusstsein verhilft: d.h. eine Theorie, die erklärt, warum wir uns nicht nur als Wir

fühlen können, sondern Wir sagen können, d.h. uns wechselseitig und explizit als diskursive

Kontoführer behandeln. Der Beantwortung dieser Frage widmet Brandom die folgenden 900

Seiten. Seine Theorie soll erklären, „was es in der Praxis heißt, jemanden als einen von uns zu

behandeln“, um „uns selbst explizit zu machen, wer wir sind“ (EV 1.1.1., 37). Die

Bestimmung des Wir ist also nicht ontologisch, sondern pragmatisch und findet unter einem

phänomenologischen Blickwinkel statt: Wann behandeln wir jemand/etwas als einen von uns.

Es geht Brandom um die Frage, was wir tun, wenn wir „Wir“ sagen. Es genügt ihm nicht,

sich einem Wir zugehörig zu wissen; entscheidend ist, dass man den anderen auch sagen

kann, dass und wie man es weiß; dass man „das Tun explizit diskutieren“ kann, „das die

Grundlage […] [des eigenen] Sagens bildet“ und „die interpretative Haltung, die […] [man]

zueinander […] [einnimmt].“ (EV 9.3.2., 891) Ziel des ganzen Unterfangens ist die

Beantwortung der Frage „wer wir sind“. Für Brandom bedeutet dies wieder nicht eine

anthropologische oder ontologische Bestimmung, sondern die Antwort auf die Frage, „in

welchem Sinne wir Geschöpfe unserer Begriffe (der Gründe, die wir produzieren und

Konsumieren) sind und in welchem Sinne sie unsere Geschöpfe sind.“ (EV 9.3.2., 889) Wie

zu Anfang bereits festgestellt, steht im Zentrum von Brandoms Projekt die Erforschung des

Wesens des Begrifflichen; und Kommunikation, Verstehen und das Wesen des Menschen

sind mit dem Wesen des Begrifflichen strukturverwandt und nicht getrennt von diesem zu

begreifen.

  30

Die Frage, ob jemand als einer „von uns“ behandelt wird, geht Brandom in der Weise an, als

ob es sich um die Prüfung unseres Handelns in Bezug auf Einzelpersonen handeln würde,

aber er fragt nicht: „Behandeln wir dich als einen von uns?“, sondern er fragt: Wann gehört

etwas zu uns? Nach Brandom „sollte es lediglich die grundlegenden Fähigkeiten besitzen, die

die Teilnahme an jenen ausschlaggebenden Tätigkeiten ermöglichen, über die wir uns selbst

definieren“ (EV 1.1.1., 36).31 Die Frage verändert sich dadurch. Wie wir etwas behandeln, ist

uns überlassen. Es hat etwas mit unserer „Natur“, nicht der „Natur“ des so behandelten

Objektes zu tun. Ich kann meinen Computer als einen diskursiven Kontoführer behandeln und

mit ihm argumentieren, wenn er nicht tut, worauf er m.E. nach einer bestimmten Eingabe

verpflichtet ist. Die Frage, ob jemand oder etwas zu uns gehört, ist aber doch wieder eine

Frage nach dem Sein, eine Frage nach dem Besitz von bestimmten Eigenschaften oder

Fähigkeiten, eine ontologische Bestimmung. Man fragt: Bist du einer von uns? – nachdem

man schon definiert hat, was die notwendigen Eigenschaften sind und behandelt ihn dann als

einen von sich oder nicht. Handelt es sich hier nur um eine sprachliche Ungenauigkeit? Oder

hält Brandom die pragmatisch-phänomenologische Perspektive durch? Schon der Wechsel

vom Du zum Es macht deutlich, dass obwohl Brandom die Ich-Du-Dyade als grundlegende

soziale Struktur der Kommunikation ansieht, er diese im Rahmen seiner Theorie nicht in den

Mittelpunkt stellt. Das Du als Anderer ist für ihn nicht interessant. Und die Kommunikation

als Mittel zur Verständigung mit diesem Du ebenfalls nicht. Es geht ihm um eine

phänomenologisch-pragmatische Selbstbestimmung eines begriffliche strukturierten Wir32, bei

der der Andere/die Anderen nur Mittel zum Zweck ist/sind.

Die Ich-Du-Struktur ist für Brandom der Ausgangspunkt, sozusagen ein Mikrokosmos des

Raums der Gründe, an dem die Berechtigung zu Festlegungen ausgehandelt wird:

„Beurteilen, Billigen u.s.w. sind alles Dinge, die wir als Einzelne tun und einander

zuerkennen.“ (EV 1.4.4., 84) Aus dieser Praxis innerhalb des Mikrokosmos entsteht durch die

                                                                                                               31 Dieses Vorgehen ist natürlich zirkulär: jemand gehört zu uns, der per Definition zu uns gehört. Es ist ein geschlossenes System, das nicht wirklich erklärt, warum jemand „zu uns“ gehört. – Diese Formulierung erinnert an Aristoteles Bestimmung des Menschen (und dessen höchsten Gutes) in der Nikomachischen Ethik: Die „arete“ oder besondere Tauglichkeit des Menschen bestehe in der der „besten und vollkommensten Tugend gemäßen Tätigkeit der Seele“ – und diese Tätigkeit sei vernunftgemäße Tätigkeit. Das spezifisch menschliche Werk oder ergon ist deshalb bei Aristoteles die Tätigkeit des (betrachtenden) Denkens, der theoria. Bei Aristoteles ist dies eine „private“ Tätigkeit. Bei Brandom vollzieht sich diese Tätigkeit im öffentlichen Raum des Sozialen im rationalen Diskurs. 32 Also auch nicht um die Beantwortung der Frage: Wer bin ich?

  31

Vererbung von Festlegungen mit bezug auf ähnliche de re-Gehalte33 erst das Wir einer

Gemeinschaft diskursiver Kontoführer, sozusagen der Makrokosmos des Raums der Gründe

(vgl. ebd.):

Normative Status der Sorte, deren Paradigma die inferentiell gegliederten, für Rationalität

konstitutiven Festlegungen darstellen, werden durch Konstellationen sozialperspektivischer

normativer Einstellungen des Zuweisens und Eingehens solcher Festlegungen etabliert. Das ist die

Ich-du-Struktur der normen-instituierenden Praktiken, die der von vielen Theoretikern bevorzugte

Ich-wir-Sozialität gegenübergestellt wurde, welche in dieser Arbeit so verstanden wird, dass sie

aus der elementaren perspektivischen Spielart hevorgeht. (EV 1.6.2., 115)

                                                                                                               33 Vgl.: „Die erfolgreiche Kommunikation verlangt nur, dass die Zuhörer mit der Äußerung des Sprechers einen angemessenen korrespondierenden de re-Sinn verbinden.“ (EV 8.5.3., 780)

  32

Exkurs

Den makrokosmischen „Raum der Gründe“ kann man sich visuell vielleicht als eine

dreidimensionale Realisierungen der Mandelbrotmenge vorstellen. Kommunikation verhält

sich in gewisser Weise ähnlich wie nichtlineare Fraktale34, d.h. wie ein dynamisches

deterministisches chaotisches System. Determiniert ist sie durch Strukturprinzipien wie das

deontische Kontoführen, bei dem die generierten Festlegungen sich innerhalb des Systems

weitervererben und – wenn man so will – durch diese Anwendung einer rekursiven Regel

selbstähnliche Strukturen/„Familienähnlichkeiten“ erzeugen. Chaotisch und „natürlich“35 ist

sie aufgrund des potentiellen zufälligen Auftretens von „Fehlern“ oder Nicht-Verstehen.36

Holistisch sind beide Modelle, da so wie bei Mandelbrot-Sets in jedem ihrer Teile die

Beschreibung des Ganzen codiert ist und somit vergrößerte Ausschnitte immer wieder

ähnliche, nie jedoch gleiche Strukturen zeigen, auch Begriffe alle nach den gleichen Gesetzen

der Logik inferentiell gegliedert sind und je nach sozialer Perspektive unterschiedliche

ähnliche, aber nie gleiche Strukturen aufweisen.

Christmas-coral-bed by Daniel White37

                                                                                                               34 „Fraktale werden durch nichtlineare Gleichungen, d. h. durch dynamische Prozesse generiert und entstehen aus rekursiven Formeln. Rekursion bedeutet, dass eine Formel immer wieder auf sich selbst angewendet wird. Ist eine solche Formel nichtlinear, können unerwartete Eigenschaften zu Tage treten. Rekursion ist ein Bereich, in dem ,Gleichheit in der Verschiedenheit‘ eine zentrale Rolle spielt, wobei das ,gleiche‘ Ereignis auf verschiedenen Ebenen zugleich auftritt.“ – Vgl. Hofstadter, D. R. (1991): Gödel Escher Bach. München, S.161, in: Schmidt, Arthur P. (1999): Endo-Management. Entrepreneurship im Interface des World Wide Web. Bern. – http://www.wissensnavigator.com/interface4/management/endo-management/buch/hab4331.pdf. S. 6 f. [Abruf: 15.08.11] 35 J. Briggs erklärt in „Chaos - Neue Expeditionen in fraktale Welten“, dass wenn man bei den iterativen Berechnungen von Fraktalen ein Zufallselement integriert Unregelmäßigkeiten imitieren kann, die die Darstellung von natürlichen Gebilden wie Gebirgszügen, Wolken oder Wellen erlauben. – Vgl. Briggs, J. (1993): Chaos - Neue Expeditionen in fraktale Welten; München, S. 69. In: Schmidt (1999), S. 6. 36 Ich will hier keiner mathematischen Theorie des Geistes das Wort reden. McDowell hat vollkommen Recht zu behaupten, dass „mechanische Rationalität […] nicht in der Lage [ist], semantische Rationalität zu sichern; aber es ist die semantische Rationalität, die den Raum der Gründe sichert.“ – Vgl. McDowell, John (2001): Moderne Auffassungen von Wissenschaft und die Philosophie des Geistes, in: Johannes Fried, Johannes Süssmann (Hg.): Revolutionen des Wissens. München, S. 116-135, hier: S. 132. 37 http://www.skytopia.com/project/fractal/new/q85/christmas-coral-bed-small.jpg [Abruf: 15.08.11]

  33

Da man nicht umhinkommt, auch im privaten Zweiergespräch sich öffentlich zu äußern – und

das hat nichts damit zu tun, dass das Telefongespräch vielleicht abgehört wird, dass die

Sitznachbarn im Café mithören – ist das Publikum immer schon präsent. Dies hängt mit der

auf einen Gehalt bezogenen Vererbung der Berechtigung zu Festlegungen zusammen, die

stattfand, als der Dialogpartner einen in dem Sinne „verstanden“ hat, dass er die eigenen

Berechtigungen zu Festlegungen anerkannt hat. Dieser Dialogpartner verlässt die

Kommunikations-Dyade und geht mit diesen Festlegungen „in die Welt hinaus“ und stellt sie

unzähligen anderen Personen – sozusagen einem Pubklikum – als Prämisse oder Konklusion

in deren Begründungspraktiken zur Verfügung. Das Äußern einer Behauptung hat soziale

Folgen:

Einen Satz in der Öffentlichkeit als wahr vorbringen ist etwas, was ein Sprecher tun kann, um ihn

anderen zu weiteren Behauptungen zur Verfügung zu stellen. Das Eingehen einer assertionalen

Feststellung anzuerkennen, hat die soziale Folge, anderen zu gestatten oder andere zu berechtigen,

diese Festlegung zuzuweisen. Und wenn das Publikum diese Einstellung annimmt, wirkt sich das

wiederum darauf aus, zu welchen Festlegungen es berechtigt ist. Eine Behauptung als wahr

vorbringen heißt sie als eine vorbringen, die andere angemessenerweise als wahr betrachten, also

selbst vertreten können. Eine kommunikativ erfolgreiche Behauptung in dem Sinne, dass das, was

der Sprecher als wahr vorbringt, von Zuhörern als wahr betrachtet wird, besteht in der

interpersonalen Vererbung der Festlegung. (EV 3.3.2, 257)

Mit dem öffentlichen Äußern einer Behauptung wird das Publikum als Gruppe derjenigen, die

die Rolle der Beurteilenden und Billigenden meiner Behauptung spielen, gestiftet. In

„Facebook-Sprache“ bewirkt die Anerkennung einer Meldung – z.B. von Michelles

Statusmeldung „Ich fühle mich von einem Bären bedroht“ – durch die Betätigung des

„Gefällt mir“-Buttons, dass die Anerkennenden auf ihrer eigenen Pinnwand öffentlich

machen, dass sie Michelles Meldung als auch aus ihrer Perspektive berechtigt anerkennen

(weil sie wissen, dass Michelle gerade Urlaub in den Rocky Mountains macht und die

Meldung deshalb wahrscheinlich wahr ist) und sie anderen Lesern ihrer Pinnwand auf diese

Weise zum Anerkennen zur Verfügung stellen. Das Wir der diskursiven Gemeinschaft der

Facebook-Mitglieder setzt sich aus den durch deontische Kontoführung kommunizierenden

Bestandteilen oder „Ich-du-Sozialitäten“, der „Relation zwischen Zuhörern38, die

                                                                                                               38 Der Plural verwirrt hier. Warum spricht Brandom in Verbindung mit der Ich-du-Sozialität von Zuhörern und nicht vom Zuhörer? Dies liegt daran, dass für Brandom ein Zuhörer und die Zuhörerschaft gleichzeitig mit dem öffentlichen Äußern einer Behhauptung eingesetzt werden. Die Wahl der Ich-Du-Dyade als Grundstruktur und

  34

Festlegungen zuerkennen und dabei Konto führen, und einem Sprecher, der Festlegungen

eingeht und über den Konto geführt wird“ zusammen. (Vgl. EV 8.2.1., 707). Dieses

Facebook-Wir würde Brandom allerdings noch kein im höchsten Sinne menschliches Wir

nennen, da es ein nicht begrifflich artikuliertes Wir, kein explizites Wir-Sagen ist.39

Objektivität erlangt die Statusmeldung „Ich fühle mich durch einen Bären bedroht“ in diesem

Sprachspiel allein durch die „Symmetrie von Zustand und Einstellung zwischen dem

Zuschreiber und demjenigen, dem eine Festlegung zugeschrieben wird,“ m.a.W. einer

erfolgreichen Vererbung von Festlegungen zwischen Michelle und ihren „Freunden“ (vgl. EV

8.6.4, 833) – nicht dadurch, dass Michelle z.B. ein Live-Streaming der Bedrohung durch den

Bären postet.

Der Autor einer de re-Zuschreibung geht davon aus, dass sie den objektiven repräsentationalen

Gehalt der zugewiesenen Festlegung spezifiziert (den betreffenden Status und wovon er

tatsächlich handelt) [das sich bedroht Fühlen durch einen Bären], während er die damit

korrelierenden de dicto-Zuschreibungen als Spezifizierungen jener subjektiven Einstellung

behandelt, die die Zielperson der Zuweisung [Michelle] gegenüber jenem Zustand hat – was die

Statusinhaberin glaubt, wovon ihr Status handelt. (ebd.)

Objektivität erscheine innerhalb dieser Theorie, so Brandom, als Merkmal diskursiver

Intersubjektivität, nicht als als Ergebnis der Billigung der Richtigkeit von Behauptungen oder

Begriffsanwendungen durch das Wir einer Gemeinschaft (vgl. EV 8.6.4., 831). Aus diesem

Grund ist die Ich-Du-Kommunikation notwendiger Ausgangspunkt seiner Theorie. Die

Vererbung von Festlegungen erfolgt immer von Person zu Person – aber auf diesem Wege

entsteht ein Netzwerk-Wir, das durch die „Fäden“ dieser interpersonalen Vererbungen

miteinander verbunden ist. Dieses Wir kann seinerseits als eine Art Pluralsubjekt anderen

möglichen Pluralsubjekten, z.B. einer Gruppe Schimpansen, gegenüber treten und sich fragen,

ob sie inkludierbar sind. Mögliche diskursive Konstellationen sind in entwicklungslogischer

Reihenfolge:

1. Ich – Du

2. Ich – (Du-Er/Sie1, Du-Er/Sie2, Du-Er/Sien) = Publikum

3. [Ich – (Du-Er/Sie1, Du-Er/Sie2, Du-Er/Sien)] = Wir – „Die Anderen“                                                                                                                Ausgangspunkt hängt damit zusammen, dass man vom Spiel des Gebens und Forderns von Gründen nur sinnvoll als einem Geschehen zwischen zwei Personen sprechen kann. 39 Bei Facebook ist auch die Frage, ob es dazu taugt, da die meisten Statusmeldungen Befindlichkeitmeldungen sind und die meisten Kommentare in Zeichensprache abgegeben werden. ;-)

  35

Auf welchen Wege gelangt Brandom nun vom impliziten Wir-Tun zum expliziten Wir-

Sagen? Brandom beschreibt das Wir-Sagen in vier Intensitätsstufen der Annäherung an ein

interpretatorisches Gleichgewicht zwischen „ich“/„uns“ und „denen“, von denen wir

ermitteln wollen, „was es in der Praxis heißt, […] [sie] als […] [welche] von uns zu

behandeln“. Die soziale Grundstruktur der Kommunikation, von der wir zuerst ausgegangen

ware, bestand aus zwei diskursiven kontoführenden Individuen. Dieses Modell wurde

aufgrund des öffentlichen Charakters jeder Äußerung erweitert auf einen diskursiven

Kontoführer und ein Publikum, das vom diskursiven Kontoführer implizit als Summe oder

Netzwerk von diskursiven Kontoführern betrachtet und behandelt wurde. In einem dritten

Schritt geht es jetzt um die Konstellation eines diskursiven Wirs von deontischen

Kontoführern (das Brandom wie ein Subjekt, einen externen Interpreten behandelt), das/der

Anderen gegenüber verschiedene diskursive Kontoführungseinstellungen (von einfach über

implizit bis explizit) einnehmen kann. Wir können die Anderen behandeln, als ob sie einfache

intentionale Systeme wären, die für sich absichtsvoll und nach inferentiell gegliederten

Überzeugungen handeln; dann, als ob sie implizit rationale kontoführende Wesen wären, d.h.

solche, die zum Perspektivenwechsel in der Lage sind; oder, als ob sie rationale

sprachbegabte, also logische Wesen wären, d.h. „sie so zu behandeln, als ob sie sich

untereinander oder wenigsten potentiell auch uns gegenüber genau die Einstellung zueigen

machen, die wir ihnen gegenüber einnehmen.“ (EV 9.3.3., 892) Interpretatorische

Gleichgewicht ist dann erreicht, wenn „wir“ „ihnen“ explizite ursprüngliche Intentionalität,

d.h. symmetrische diskursive Kontoführungseinstellungen zuweisen, d.h. wenn wir sie so

behandeln, als ob sie uns gleichermaßen deontische Status anerkennen und zuweisen würden

wie wir ihnen. (Vgl. EV 9.3.1., 886)

Interessant ist, dass die ursprüngliche Einzelperson, deren Zugehörigkeit zum Wir geprüft

werden sollte (vgl. EV 1.1.1., 37) jetzt zu einem pluralen „sie“ (3. Per. Pl./„denen da“)

geworden ist. Die Anderen, von denen ermittelt werden soll, ob sie „zu uns“ gehören, treten

bei Brandom nun als unpersönliche Masse auf, der ein Beobachter bestimmte Eigenschaften

zuschreibt und dann prüft, ob die Zuschreibung das Verhalten der Gruppe erfolgreich erklären

und vorhersagen kann. Brandoms grundlegendes Verhältnis zu seinem Forschungsgegenstand

ist naturwissenschaftlicher Art: er ist der „Theoretiker“, der einer Gemeinschaft Praktiken

zuweist (vgl. EV. 1.6.2., 114). Er ist nicht Teilnehmer – oder zumindest ist es sein Ziel, die

Teilnehmerperspektive (immer wieder) zu verlassen, um über die

  36

„Kontoführungseinstellungen der anderen theoretisieren“ zu können (EV 9.3.2., 889). Er will

ihr Verhalten erklären und voraussagen können – er will sie nicht als Personen verstehen.40

Im folgenden sollen die vier Schritte hin zum interpretativen Gleichgewicht im Detail

betrachtet werden, um das Erkenntnisinteresse Brandoms klarer herauszuarbeiten. Im

schwächsten Sinne behandeln wir nach Brandom andere als zu uns gehörig („as among us“)

wenn wir ihnen „propositional gehaltvolle praktische und doxastische [behauptende]

Festlegungen41 zuweisen und ihre Performanzen in Begriffen dieser Festlegungen

interpretieren“ (EV 9.3.3., 891). Mit Bezug auf Dennett42 nennt Brandom dies das Einnehmen

der einfachen intentionalen Einstellung („intentional stance“), d.h. einer Interpretionstrategie

in Bezug auf das (hier nichtsprachlichen) Verhalten [performances/eigentlich Darstellungen]

anderer Wesen, die unterstellt, dass es sich insofern um vernünftige Wesen handelt, als

intentionale Zustände wie Wünsche oder Überzeugungen Gründe für ihr Verhalten darstellen

– und auf Basis dieser Unterstellung Voraussagen zu ihrem Verhalten macht (d.h. bzgl. ihrer

praktischen und doxastischen Festlegungen aus unserer Sicht). In diesem schwächsten Sinne

behandeln viele Hundebsitzer ihren Hund als „einen von ihnen“. Sie unterstellen ihrem

Hund, der ihnen z.B. immer wieder einen gerade weggeworfenen Stock vor die Füße legt,

absichtsvolles Verhalten. Sie unterstellen ihm zumindest, dass er praktische Inferenzen ziehen

kann, d.h. dass er weiß, wie er das, was er will – mit uns zu spielen/unsere Aufmerksamkeit –

bekommen kann. Damit unterstellen wir ihm eine Absicht, die wir als Grund für sein

Verhalten annehmen. Ob er auch theoretische Inferenzen ziehen kann, d.h. dass er weiß, was

aus was folgt, können wir nicht feststellen, da er diese uns gegenüber sprachlich nicht explizit

machen kann. Wenn er, wie Brandom dies für Papageien annimmt, kein Bewusstsein von

Begriffen als inferentiell gegliederten Gebilden hat, dann verpflichtet er sich durch eine

Äußerung auch auf nichts, macht keinen Zug im Sprachspiel und kann nicht nach impliziten                                                                                                                40 Dass Brandom in dem Artikel „Der Mensch, das normative Wesen“ im Feuilleton der ZEIT behauptet, dass er mit dem von im entwickelten Vokabular letztlich die Möglichkeit zur Kritik der „bestehenden Verhältnisse“ bereitstellen wolle, erscheint merkwürdig aufgesetzt: „Wir sprechen und denken dann über das Sprechen und Denken nach, darüber, wer zu was verpflichtet ist und was daraus wiederum folgt. Darüber hinaus können wir, anstatt das Implizite immer nur explizit zu machen, von vornherein darüber diskutieren: als ein explizites Geben und Fordern von Gründen für unsere normativen Zuschreibungen und Schlüsse. Indem wir ein solches Vokabular verwenden, versetzen wir uns schließlich in die Lage, Kritik an den bestehenden, uns umgebenden Verhältnissen zu üben − sie uns ,bewusst‘ zu machen.“ – Brandom, Robert B. (2001): Der Mensch, das normative Wesen. Über die Grundlagen unseres Sprechens. Eine Einführung. Aus dem Englischen von Christian Schlüter. DIE ZEIT 29/2001. http://www.zeit.de/2001/29/200129_brandom_xml [Abruf 15.08.11] S. 5. [DIE ZEIT] 41 „Doxastische Festlegungen sind normative, genauer deontische Status. Solche Status sind Geschöpfe der praktischen Einstellungen der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft: sie werden durch Praktiken etabliert, die das Betrachten und Behandeln von Individuen als festgelegte leiten“. (EV.3.1.1., 220) 42 Dennett, Daniel C. (1989): The intentional stance. MIT.

  37

Gründen für seine „Behauptung“ gefragt werden: „Er nimmt in einem inferenzialistischen

Sinne nicht Teil an dem Sprachspiel“.43 Aus diesem Grunde zählt Brandom Tiere nicht zu den

verstandesfähigen Wesen, auch wenn viele Menschen ihre Hunde so behandeln, als ob sie

verstandesfähig wären, d.h. als ob „Gründe [wie Überzeugungen oder Wünsche] für […] sie

von Bedeutung seien.“ (BB, 205). Tiere sind nach Brandom sog. einfache intentionale

Systeme, Systeme, denen gegenüber eine intentionale Einstellung eingenommen werden kann.

Nur weil wir den Hund in dieser Weise als zu uns gehörig behandeln, antworten wir auf sein

Verhalten mit einer Handlung, die wir als von ihm aufgrund praktischer Inferenzen erwartet,

auslegen. In gewisser Weise projezieren wir unsere Fähigkeit, theoretische und praktische

Schlüsse ziehen zu können, auf ihn, ohne uns sicher sein zu können, ob diese Projektion

berechtigt ist:

Unser Verstehen, unsere Interpretationspraktiten etablieren diese Bedeutung, die sich aus ihnen

[den Interpretationspraktiken] ableitet. […] Die einfache Intetentionalität, die hiernach im Auge

des Betrachters liegt, ist aus diesem Grund abhängig und in einem wichtigen Sinn abgeleitet von

der Intentionalität, die dem Interpreten zukommt. (EV 1.6.2., 113, 112)

Während wir also ursprüngliche Intentionalität besitzen, haben einfache intentionale Systeme

wie Hunde nur eine derivative Intentionalität. Ich kann dem Hund Intentionalität unterstellen,

aber der Hund kann sie weder sprachlich explizit machen, noch kann er sie mir unterstellen

bzw. zuweisen, da das Zuweisen nur sprachlich geschehen kann.44 Die vermuteten

Überzeugungen des Hundes können wir nur aus seinem (aus unserer Sicht) „intelligentem“

Verhalten ableiten. (vgl. EV 9.3.1., 886) Zwischen einfachen und ursprünglichen

intentionalen Systemen besteht deshalb noch kein interpretatives Gleichgewicht. Trotzdem ist

Kooperation möglich, weil in einem basalen Sinn wechselseitig Intentionalität angenommen

wird. Diese Annahme ist nach Searle die Grundbedingung dafür, dass man sich überhaupt auf

eine Interaktion einlässt:

                                                                                                               43 „Man frage den Papagei einmal nach den Gründen, die ihn bewogen haben, so und nicht anders zu krächzen, man fordere ihn also auf, implizite Gründe auch explizit zu machen [...] Solange die Geräusche des Papageien für ihn selbst nicht in einem inferenziellen Netzwerk verortet sind, ist er anderen gegenüber zu nichts verpflichtet.“ – DIE ZEIT, S. 4 44 „Und Zuweisungen könne nur zugewiesen werden, indem sie zugeschrieben werden, denn nur wenn sie in Form eines propositionalen Gehalts explizit gemacht werden, können sie ineinander eingebettet und somit iteriert werden. Nur wer etwas in Form von ,S ist auf die Behauptung festgelegt, dass S´ auf die Behauptung festgelegt ist, dass p’ sagen kann, nur der kann sich die dadurch explizit gemachte Einstellung zueigen machen.“ [d.h. nur der kann im Sinne der auf einen Gehalt bezogenen Vererbung der Berechtigung zu Folgefestlegungen verstehen.] (EV 9.3.1., 887)

  38

[Geteilte] Intentionalität setzt eine stillschweigende Auffassung des Anderen als Kandidat für

kooperatives Handeln voraus […], [was] eine notwendige Bedingung […] für jede Unterhaltung

darstellt.“ (Searle 1990, 414-415.)

Eine Steigerung des Etwas-für-uns-zugehörig-Haltens besteht darin, dass wir anderen nicht

nur unterstellen, dass ihr nichtsprachliches Verhalten begründet ist, sondern dass wir diese

Interpretationsstrategie auch auf ihre Sprechakte ausdehnen, d.h. dass wir sie als diskursive

Kontoführer identifizieren, die in Form von Behauptungen Züge im Spiel des Gebens und

Forderns von Gründen machen können. Allen nicht-(menschen-) sprachlichen Wesen

gegenüber können wir diese Haltung nicht einnehmen, weshalb sie als potentiell zu uns

gehörend ausscheiden. Die Möglichkeit, dass wir deren Sprache erlernen könnten, zieht

Brandom nicht in Betracht. Auf dieser zweiten Stufe verfolgen beide Parteien implizit die

Verschiebungen der Kontostände, die durch das Äußern von Behauptungen ausgelöst werden.

(Vgl. EV 9.3.2., 890) Ihnen steht jedoch kein logisches Vokabular zur Verfügung, um das,

was sie tun, explizit zu machen. Auf diese Art und Weise kommunizieren die meisten

Menschen. Welcher Nicht-Logiker, der beim Schwarzfahren erwischt wird, könnte schon die

Behauptung des Schaffners: „Schwarzfahren ist unsozial, weil es auf Kosten der zahlenden

Fahrgäste geschieht“ spontan als petitio principii entlarven, bei der die Prämisse deshalb nicht

zur Unterstützung der Konklusion taugt, weil sie lediglich eine andere Formulierung der

Konklusion ist. Nichtsdestotrotz ist die interpretative Haltung, die beide

Kommunikationspartner auf dieser Stufe zueinander einnehmen, anders als auf der

vorhergehenden, eine symmetrische. Tritt jedoch der Theoretiker Robert Brandom hinzu und

beobachtet ihre Kommunikation, so entsteht wieder eine Asymmetrie, denn nur Brandom

kann die inferentiellen Folgefestlegungen explizit machen, die implizit in deren

Kontoführungspraktiken enthalten sind. Erst dann trifft der Theoretiker auf Wesen, mit denen

er gemeinsam Wir sagen kann, wenn sie, dank z.B. des logischen Vokabulars, das Brandom

in Begriffen der Kontoführung für sie rekonstruiert hat, in der Lage sind,

sagen zu können, was man ihnen als Tätigkeit unterstellt hat: sie können die impliziten praktischen

Richtigkeiten explizit machen, kraft derer sie überhaupt etwas explizit machen können. (EV 9.3.2.,

889)

Das Modell der diskursiven Praxis erreicht in diesem Moment expressive Vollständigkeit (EV

9.3.2., 888), d.h. dass es ein Vokabular entwickelt hat, mit dem es sich selbst beschreiben

kann. Dieses Vokabular ist, entsprechend der Doppelnatur diskursiver Praxis als Einsetzen

  39

begrifflicher Gehalte und als Vererbung der Berechtigung dazu, sich auf diese Gehalte

festzulegen, also entsprechend ihrer semantischen und pragmatischen Dimension, ebenfalls

zweifach: normativ und logisch:

Zum einen artikuliert sich die pragmatische Dimension − was wir tun, indem wir etwas sagen − in

der normativ wirksamen Annahme und Zuschreibung des sozialen Status; zum anderen artikuliert

sich die semantische Dimension − der Gehalt dessen, was wir gedacht oder gesagt wird − in

inferenzialistischen Relationen (Verkettungen). Beide Dimensionen zusammengenommen,

ermöglichen es uns, überhaupt zu reden und zu denken. [DIE ZEIT, 5]

Dieses Vokabular steht dann den Diskursteilnehmern zur Verfügung, die es benutzen können,

um sich selbst gegenseitig und explizit in ihrer Praxis reflektieren zu können und so zu einem

pragmatisch-semantischem und sozialen Selbstbewusstsein zu gelangen:

Dabei helfen unser normatives Vokabular (Begriffe wie „sollte“ oder „müsste“ et cetera) und unser

logisches Vokabular (Formulierungen wie „wenn ..., dann ...“), die pragmatische und die

semantische Dimension in eine explizite Form zu übersetzen. […] Die Begriffe, die wir in

unserem normativen und logischen Vokabular verwenden, ermöglichen unser

pragmatisch−semantisches Selbst−Bewusstsein. (ebd.)

Der Unterschied zwischen nur implizit kontoführenden und explizit kontoführenden

Diskursteilnehmern besteht darin, dass letztere Behauptungen aufstellen können darüber,

worauf sich die anderen festgelegt haben, indem sie deren Äußerungen in die propositionale

Form einer Behauptung bringen, für die der andere sich dann, wenn sie seinem Diskurspartner

zweifelhaft erscheint, rechtfertigen muss. Angenommen ich frage jemanden am Telefon, der

gerade an seiner Mastearbeit schreibt, ob es ihm gut gehe und er antwortet: „Es geht so“, dann

könnte ich nachfragen: „Meinst du damit, dass es dir schlecht geht?“ Wenn er dann

entgegnet: „Ach, eigentlich läuft alles bestens“, so kann ich ihn darauf hinweisen, dass in dem

Fall die vorherige Behauptung, dass es nur „so gehe“, nicht berechtigt war. Ich kann meine

Kritik in der logischen Form eines Konditionals explizit machen und ihm mitteilen: „Wenn du

mit der Arbeit gut vorankommst, dann kannst du nicht zugeich behaupten, dass es nur ,so

geht‘.“ Das Vokabular, in dem explizit kontoführende Diskursteilnehmer die Äußerungen

implizit kontoführender Diskursteilnehmer zum Gegenstand einer öffentlichen Diskussion

machen können, ist das logische Vokabular. Wenn dann auch der andere die explitie

Einstellung einnimmt und auf meine Kritik erwidert: „Dass ,es so geht‘, bezog sich auf meine

Ohrenschmerzen. Deshalb stand mene Äußerung nicht im Widerspruch dazu, dass es mit der

  40

Masterarbeit gut vorangeht“ und noch hinzufügt: „Wenn du behauptest, ich würde mir selbst

widersprechen, willst du damit sagen, dass ich nicht logisch denken kann?“, so ist

interpretatives Gleichgewicht hergestellt. Beide stehen sich gleichermaßen Rede und Antwort

im Spiel des Gebens und Forderns von Gründen. Gleichzeitig werden sie sich, da sie

gezwungen sind, diese mit logischem Vokabular explizit zu machen, ihrer eigenen

diskursiven Festlegungen im Gespräch bewusst. Die Logik erfüllt deshalb in diesen

Begründungsprozessen die Aufgabe eines „Organs des Selbstbewussteins“:

Das vollständige und explizite Interpretationsgleichgewicht in einer Gemeinschaft, deren

Mitglieder die explizite diskursive Einstellung zueinander einnehmen, ist das soziale

Selbstbewusstsein. Eine solche Gemeinschaft ist nicht nur ein Wir, ihre Mitglieder können auch im

vollsten Sinne „wir“ sagen. (EV 9.3.2., 891)

Das solcherart gewonnene Selbstbewusstsein ist kein individuelles, sondern ein kollektives.

Allerdings setzt sich dieses Kollektiv, das nun Wir sagen kann, aus kommunizierenden Ich-

Du-Dyaden zusammen, die wechselseitig den richtigen Gebrauch von Begriffen anerkennen

(oder infragestellen). Diese Anerkennungspraxis ist das „Herz“ und der Motor dieses Modells

diskursiver Praxis.

Gemeinschaften, die aus normativen Wesen bestehen, setzen sich aus Formen wechselseitiger

Anerkennung zusammen. Ebendies beschreibt die Art und Weise, in der aus einer Gruppe

konkreter, leibhaftiger Wesen ein gemeinschaftlicher Zusammenhang wird − von Hegel „geistig“

genannt. (DIE ZEIT, 2)

Zu Beginn dieses Kapitels hatten wir darauf hingewiesen, dass wir Brandoms Konzept von

Kommunikation und Verstehen vor dem Hintergrund seines Begriffs vom Begriff analysieren

wollten, da Brandom selbst auf die strukturelle Verbindung zwischen beiden Konzepten

wiederholt hinweist. Wenn die Begriffe einerseits unsere Geschöpfe, aber wir, als diskursive

Wesen, auch Geschöpfe unserer Begriffe sind (vgl. EV 9.3.2., 889), so muss die Antwort

darauf, wer wir sind, mit der Antwort darauf, was Begriffe sind, zusammenhängen. Indem

Brandom das, wer wir sind, durch eine Praxis, eine besondere Art des Wir-Sagens bestimmt,

offenbart sich die Brücke zwischen Begriffen und Begriffsverwendern: die Art des Gebrauchs

der Begriffe durch die Begriffeverwender. Die Art des Gebrauches bestimmt gleichermaßen

die semantischen Gehalte der Begriffe wie die normativen Status der Verwender.

  41

Zwei wesentliche Eigenschaften von Begriffen und Behauptungen, ihre inferentiell

Gliederung und ihre perspektivische Natur, wurden bis zu diesem Punkt kritisch rekonstruiert.

Was noch aussteht, ist zu zeigen, dass sie auch die Eigenschaft der Geschichtlichkeit teilen.

Dass dies wahrscheinlich ist, kann man schon deshalb vermuten, da ein pragmatisches Modell

das Tun und damit den Prozess immer schon mitdenken muss. Dieses Tun besteht in

Brandoms Modell in der wechselseitige Anerkennungspraxis mit Bezug auf Berechtigungen

zu Festlegungen, welche die Kommunikation normativ strukturieren. Diese dynamische

Anerkennungstruktur soll im folgenden, mit besonderer Rücksicht auf Brandoms Referenzen

zu Hegel, untersucht werden.

Der zentrale Begriff bei Hegel, der Brandom insbesondere zu faszinieren scheint, ist der des

„Absoluten Wissens“. Diesen verbindet er mit dem Zustand des expliziten interpretativen

Gleichgewichts, bzw. der expressiven Vollständigkeit einer Theorie diskursiver Praxis:

In Begriffen von Hegels Phänomenologie haben sich die phänomenalen Einstellungen, deren

Entwicklung betrachtet wird, so weit entwickelt, dass sie mit der phänomenologischen Sicht

zusammenfallen, aus der wir sie die ganze Zeit betrachtet haben. Hegels aufregende Bezeichnung

für diese Art expliziten interpretativen Geichgewichts lautet „Absolutes Wissen“. (EV,

Anmerkung 35, 973)

In anderen Worten: Die phänomenalen Einstellungen, die vom Forscher beobachtet werden,

sind die Einstellungen, die die diskursiven deontischen Kontoführer zueinander einnehmen.

Diese bestehen zunächst nur in einem impliziten Wissen um den angemessenen

Begriffsgebrauch innerhalb von normativ strukturierten Begründungspraktiken. Wenn diese

Kontoführungspraktiken als solche zum Gegenstand des Diskurses werden, d.h. durch

logisches und normatives Vokabular explizit gemacht werden können, dann fallen die

Einstellungen der Diskursteilnehmer innerhalb der beobachteten Diskursgemeinschaft mit der

Einstellung des Forschers, der die explizite intentionale Einstellung zu ihnen einnahm (indem

er ihnen ursprüngliche Intentionalität zuschrieb), zusammen – denn auch sie sind nun in der

Lage, die explizite intentionale Einstellung dem Beobachter gegenüber einzunehmen.

Außenperspektive und Innenperspektive fallen in eins, der Beobachter ist inkludiert, ein Wir

ist im Wir-Sagen „geboren“:

Endlich kommt jene Kontoführung, die – in den Augen des externen Interpreten – die interne und

konstitutive der interpretierten Gemeinschaft ist, mit der Kontoführung des Interpreten zur

  42

Deckung, der den Mitgliedern dieser Gemeinschaft diskursive Praktiken zuweist. Die externe

Interpretation fällt mit der internen Kontoführung zusammen. Anderen diskursive Praktiken

zuzuweisen, ist also eine oder eine andere Form des „Wir“-Sagens. Es bedeutet, sie als

unseresgleichen anzuerkennen. (EV 9.3.3., 892)

Hegel drückt das Zusammenfallen der internen und externen Perspektive im Prozess der

Selbsterkenntnis des Geistes – „[des] sich in Geistesgestalt wissende[n] Geist[es]“ – in seiner

Redeweise in der „Phänomenologie des Geistes“ wie folgt aus:

Diese letzte Gestalt des Geistes, der Geist, der seinem vollständigen und wahren Inhalte zugleich

die Form des Selbsts gibt und dadurch seinen Begriff ebenso realisiert, als er in dieser Realisierung

in seinem Begriffe bleibt, ist das absolute Wissen;45

Das absolute Wissen ist ein „begreifendes Wissen“ (ebd.), insofern es darin besteht, das

implizite praktische Wissen (um den angemessenen Begriffsgebrauch in

Begründungspraktiken) in ein nicht nur explizites, sondern explizit-machendes Wissen um die

eigene diskursive Tätigkeit zu verwandeln. Der Buchtitel „Begründen und Begreifen“ fasst

genau diese Einsicht in sich. Dem Inhalt des Geistes eine entsprechende Form zu geben,

bedeutet in Brandoms Modell, den perspektivisch-inferentiell gegliederten Gehalt von

Begriffen in der Begrifflichkeit deontischer Kontoführung eine explizite Form zu geben, in

der die Kontoführer ihre eigenen Praktiken, durch die sie sich konstituieren, zum Gegenstand

ihrer Reflexion machen und so semantisches Selbstbewusstsein erlangen können. Der Geist

realisiert sich in seinen Begriffen, wie die Begriffe die Seinsweise des Geistes sind. Dies

meint Brandom, wenn er davon spricht, dass wir gleichermaßen Geschöpfe unserer Begriffe

sind, wie die Begriffe Geschöpfe unserer diskursiven Praktiken sind.

Wichtig ist, dass weder in der hegelschen Selbsterkenntnis des Geistes im Anderen, noch in

Brandoms explizitem vollständigen interpretativen Gleichgewicht, Subjekt und Objekt

miteinander verschmelzen, sondern dass zwischen deren Perspektiven in einer gemeinsamen

Praxis vermittelt wird, die die Unterscheidung zwischen Ich und Anderem benötigt, um nicht

zum Stillstand zu kommen. Hegel betont, dass die „reine Sich-Selbst-Gleichheit im

Anderssein“ (PhdG, 41) kein Zur-Ruhe-Kommen der Bewegung des Begriffes oder des

Geistes darstellt.                                                                                                                45 Hegel, G.W.F. (1988): Phänomenologie des Geistes. Hamburg. S. 523. [PhdG]

 

  43

Indem der Begriff das eigene Selbst des Gegenstandes ist, das sich als sein Werden darstellt, ist es

nicht ein ruhendes Subjekt, das unbewegt die Akzidenzen trägt, sondern der sich bewegende und

seine Bestimmungen in sich zurücknehmende Begriff. (PhdG, 45)

Nur als deontische Kontoführung Praktizierende, unserem Selbstsein als diskursive Wesen in

unserem Werden oder Vollzug diskursiver Praxis, können wir ein soziales semantisches

Selbstbewusstsein erlangen. Diese Denkfigur erinnert an Aristoteles Begriff der Seele des

Menschen als entelechie, die sich nur im „Stoff“ als Im-Werk-Sein, als energeia, verwirklicht

– und auf die Hegel direkt verweist.46 Er nimmt diese Denkfigur in der Metapher des

Kreisziehens auf, die ein implizites Wissen um die Gestalt des Kreises voraussetzt: „Es [das

Wahre, das Subjekt] ist das Werden seiner selbst, der Kreis, der sein Ende als seinen Zweck

voraussetzt und zum Anfang hat, und nur durch die Ausführung und sein Ende wirklich ist.“

(PhdG, 14) Die Sich-selbst-Gleichheit des Geistes im Anderssein ist das Ergebnis einer

„Kreisbewegung“, die von der unvermittelten Sich-selbst-Gleichheit des Geistes für sich über

seine Negation auf eine höhere Ebene der Sich-selbst-Gleichheit an und für sich führt – also

einer Spirale ähnelt.

Denn der sich selbst wissende Geist, eben darum, dass er seinen Begriff erfasst, ist er die

unmittelbare Gleichheit mit sich selbst, welche in ihrem Unterschiede die Gewissheit vom

Unmittelbaren ist, oder das sinnliche Bewusstsein, – der Anfang von dem wir ausgegangen; dieses

Entlassen seiner aus der Form seines Selbsts ist die höchste Freiheit und Sicherheit seines Wissens

von sich. (PhdG, 529)

Die höchste Sicherheit des Wissens des Geistes von sich selbst ist eben jenes „absolute

Wissen“, in dem der Geist sich selbst im Anderen zum Gegenstand oder Begriff und damit

explizit wird. „Absolutes Wissen“ ist deshalb kein Wissen, über das hinaus nichts mehr

gewusst werden kann, denn wäre dies der Fall, so käme die Bewegung des Geistes zum

Stillstand. Stillstand aber ist für Hegel gleichbedeutend mit dem Tod des Bewusstseins und

deshalb für seine Analyse uninteressant.47

Der Kreis, der in sich geschlossen ruht und als Substanz die Momente hält, ist das unmittelbare,

                                                                                                               46 Aristoteles habe die Natur als zweckmäßiges Tun bestimmt. Hegel bestimmt das Subjekt/den Geist oder die Vernunft als zweckmäßiges Tun: „Der Zweck ist das Unmittelbare, das Ruhende, welches selbst bewegend, oder Subjekt ist.“ (PhdG 16) 47 Für Brandom würde dies bedeuten, dass die Perspektiven des Interpretierenden und des Interpretierten zu einer verschmelzen würden, so dass Kommunikation nicht mehr nötig wäre.

  44

nicht verwundersame Verhältnis. […] Die Tätigkeit des Scheidens ist die Kraft und Arbeit des

Verstandes, der verwundersamsten und größten oder vielmehr absoluten Macht. […] (PhdG, 25)

Das unmittelbare unvermittelte Bewusstsein, das keiner Interpretation bedarf, ist wie starr.

Erst durch die Setzung des Anderen entsteht der Bedarf zur Vermittlung und Übersetzung, die

die Fähigkeit des Verstandes zur Unterscheidung der Perspektiven „aktiviert“. Es ist

naheliegend, dass absolutes Wissen nur durch eine absolute Macht erlangt werden kann, die

Hegel die „Macht des Negativen“ nennt (ebd.). Beim „Absoluten Wissen“ handelt es sich um

ein „Know-How“ oder Tätigkeitswissen, ein Wissen um den produktiven (dialektischen)

Umgang mit dem Negativen, dem Nicht-Ich, dem Anderen – oder der Perspektivendifferenz

im Kontext von Brandoms Modell diskursiver Praxis.

Das Subjekt, welches darin besteht, dass es der Bestimmtheit in seinem Elemente Dasein gibt, die

abstrakte, d.h. nur überhaupt seiende Unmittelbarkeit aufhebt und dadurch die wahrhafte Substanz

ist, das Sein oder die Unmittelbarkeit, welche nicht die Vermittlung außer ihr hat, sondern diese

selbst ist. (PhdG, 26)

Das Subjekt/Begriff ist Vermittlung, ist Tätigkeit der Reflexion und nur als solches/r objektiv

wirklich. „Ich ist in ihm [dem Inhalt, den das Ich von sich selbst unterschieden hat, der

zugleich die Bewegung des Sich-selbst-Aufhebens ist] als unterschiedenem in sich reflektiert;

der Inhalt ist allein dadurch begriffen, dass Ich in seinem Anderssein bei sich selbst ist.“

(PhdG, 523) Hegel fasst in diesen Worten, was Brandom als alltägliche Kommunikation aus

der internen Perspektive beschreibt, bei der wir zueinander die implizite

Kontoführungseinstellung einnehmen. Trotzdem gilt dies auch für den Fall des

Fremdverstehens unter der externen Perspektive, d.h. wenn ein Interpret zu einer

Gemeinschaft mit uns fremden Praktiken die explizite Kontoführungseinstellung einnimmt.

Hierauf weist auch Werner Vogd in seinem Kapitel zu Brandoms Expressiver Vernunft in

seinem Buch „Systemtheorie und rekonstruktive Sozialforschung: eine empirische

Versöhnung“ hin48:

Die Interpretation des Fremden stellt hier strukturell nichts anderes dar als die Interpretationsleistungen, die in jeder Kommunikation vollzogen werden, nämlich die perspektivische Konstitution einer Differenz zu sich selber in der Praxis der deontischen Kontoführung. Der Modus hierzu ist der indizierende Vergleich. Der Interpretierte wird hier sozusagen sozialperspektivisch in den eigenen Sinnzusammenhang integriert. Verschiedene,

                                                                                                               48 Vogd, Werner (2005): „Exkurs. Brandoms Expressive Vernunft“. In: Systemtheorie und rekonstruktive Sozialforschung: eine empirische Versöhnung. Opladen. S. 151-163. S. 160.

  45

jeweils in sich schlüssige, inferentielle Netzwerke können und dürfen nebeneinander bestehen, werden gleichzeitig ineinander eingeführt ohne dass die Differenz zwischen selbst and anderem hierdurch getilgt wird (Vogd, 2005, 160)

Auch wenn sich starke Parallelen in Bezug auf begriffliche Strukturen zwischen Brandom und

Hegel ziehen lassen und diesen auch dem Verständnis von Brandoms Theorie sehr dienlich

sind, bin ich mit Thomas Auinger der Ansicht, dass Brandoms Theorie nicht auf einen Neo-

Hegelianismus reduzierbar ist, sondern dass es sich, aus Brandoms Sicht, vielmehr um eine

„produktive Rückbesinnung“ handelt, treu dem Brandomschen Motto: „Traditions are lived

forward but understood backward.“ (TMD, 45)49 In einem Interview mit Susanne

Schellenberg fasst Brandom zusammen, inwiefern er Hegels Vorstellung vom absoluten

Wissen für seine Theorie und damit die Weiterentwicklung der analytischen Philosophie

fruchtbar gemacht hat:

Meines Erachtens ist das absolute Wissen für Hegel die Stufe, auf der wir unsere logischen Mittel

vollkommen entwickelt haben, d.h. indem wir die begrifflichen Mittel haben, um jeden Aspekt

unserer diskursiven Praxis explizieren zu können. Aber auch für Hegel folgt daraus nicht, dass die

Gehalte unserer gewöhnlichen empirischen Begriffe uns jemals vollständig transparent werden.

Nach meiner Interpretation von Hegel macht gerade der Umgang mit deren empirischem und

praktischem Gehalt diese Begriffe unerschöpflich – wobei sich keiner ihrer Teile grundsätzlich

einer logischen Explizierung verschließt. Der Gedanke, sie vollkommen zu explizieren, ist selbst

für Hegel inkohärent, so wie ich ihn verstehe. Lediglich die logischen Begriffe (in meinem und ich

denke auch in Hegels Sinn) können wir vollständig explizieren.50

Was das System diskursiver Praxis in Bewegung hält, ist die prinzipiell „unerschöpfliche und

unabschließbare phänomenale Begriffs-Entwicklung“ (Auinger, 2005, 6). Dass begriffliche

Gehalte mit jeder Äußerung eine neue Bedeutungsnuance erhalten, hatte Brandom damit

erklärt, dass „ein Satz gewöhnlich im Munde verschiedener Personen nicht dieselbe

Signifikanz hat, auch wenn sie die Sprache noch so weitgehend teilen und sich wechselseitig

noch so gut verstehen.“ (EV 8.2.1 708). Der Grund bestehe in der Natur des Begrifflichen als

inferentiell und perspektivisch strukturiert. Je nach Perspektive – als was man etwas ansieht

oder gebraucht – und der mit ihr verbundenen empirischen Gegegebenheiten und

                                                                                                               49 Auinger, Thomas (2005): Praxis und Objektivität. Anmerkungen zu Robert Brandoms postanalytischer Hegel-Interpretation. In: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus, Bd. 3, Deutscher Idealismus und die analytische Philosophie der Gegenwart, Hrsg. von Karl Ameriks und Jürgen Stolzenberg, Berlin/New York. S. 162-179. – Online unter: http://univie.academia.edu/ThomasAuinger/Papers/423436/Praxis_und_Objektivitat [Abruf 18.08.11] S. 1. 50 Brandom, Robert, B. (1999): Von der Begriffsanalyse zu einer systematischen Metaphysik. Interview mit Susanna Schellenberg. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Berlin 47/6 (1999) S. 1005-1020. S. 1012.

  46

Hintergrundfestlegungen, verändert sich der de re-Sinn des Gesagten. Vollständigkeit oder

Totalität lässt sich deshalb nur mit Blick auf die Explizierung der Praxis, des Wie des

Begriffsgebrauchs herstellen, das Wissen um das „Was“ (was wir sind) kann „nur“ absolut,

nicht total sein. Aus dieser Tatsache ergibt sich auch die zeitliche und historische Dimension, die in den

reziproken Anerkennungsprozessen diskursiver Praktiken implizit enthalten ist. Wenn ich zu

etwas Gesagtem Stellung beziehe, zu beziehe ich mich prinzipiell auf etwas Vergangenes.

Sowohl, wenn ich extern prüfe, ob das, was ein anderer gesagt hat, mit zuvor von ihm

Geäußerten vereinbar ist oder nicht, als auch wenn ich intern prüfe, ob meine gegenwärtige

Behauptung, vor dem Hintergrund dessen, was ich zuvor gesagt habe und worauf ich mich

damit festgelegt habe, begründet und berechtigt ist. Auch im Fall der internen Prüfung gehe

ich in der Zeit zurück und vergleiche meinen gegenwärtigen Begriffsgebrauch mit meinem

vergangenen Begriffsgebrauch, aber auch mit der Erinnerung daran, wie ihn andere, deren

Begriffsgebrauch ich anerkannt habe, gebraucht haben und worauf diese sich damit festgelegt

haben etc. Mit Bezug auf Hegels Modell des Geistes, der durch seine geschichtlichen

Gestalten hindurch zum Bewusstsein seiner selbst gelangt, erklärt Brandom in den „Tales“,

inwiefern die normative Struktur des Entwicklungsprozesses, in der Begriffe ihre Gehalte im

Gebrauch erlangen, als „Anerkennungsstruktur der Tradition“, d.h. als historischer Prozess

verstanden werden kann:

Die Struktur der reziproken Anerkennung, innerhalb welcher der Geist als ganzer zu

Selbstbewusstsein kommt, ist geschichtlicher Art. Es handelt sich um eine Beziehung zwischen

Zeitebenen des Geistes, in welchem die Gegenwart die Autorität der Vergangenheit anerkennt und

umgekehrt Autorität über sie ausübt, wobei ihre Konflikte von der Zukunft ausgehandelt werden.

Das ist die Anerkennungsstruktur der Tradition, die die normative Struktur des

Entwicklungsprozesses artikuliert, in welchem Begriffe ihre Gehalte durch Anwendung in der

Erfahrung erwerben […] Indem man diese Struktur explizit macht, gelangt man zu jener Art von

Selbstbewusstsein, die Hegel „Absolutes Wissen“ nennt, und von dem ich hier einige Umrisse

nachzeichnen wollte.51

Wieder bei Hegel, findet sich diese Denkfigur mit Bezug auf die Bestimmung des Wesens des

Begrifflichen als Tätigkeit des Geistes:

                                                                                                               51 Brandom, Robert B. (1999): Pragmatistische Themen in Hegels Idealismus. Unterhandlung und Verwaltung der Struktur und des Gehalts in Hegels Erklärung begrifflicher Normen. Aus dem Amerikanischen von Reiner Ansén. DZPhil, Berlin 47 (1999), 3, S. 355-381. S. 381.

  47

Denn der Begriff ist das Allgemeine, das in seinen Besonderungen sich erhält, über sich und sein

Anderes übergreift und so die Entfremdung, zu der er fortgeht, ebenso wieder aufzuheben die

Macht und Tätigkeit ist. […] Denn weil das Denken sein Wesen und Begriff ist, ist er letztlich nur

befriedigt, wenn er alle Produkte seiner Tätigkeit auch mit dem Gedanken durchdrungen und sie so

erst wahrhaft zu den seinigen gemacht hat.52

Wenn man beides, Hegel und Brandom, zusammenliest, so ergibt sich folgendes: „Denn der

Begriff [die Anerkennungsstruktur der Tradition] ist das Allgemeine, das in seinen

Besonderungen [den jeweiligen, geschichtlichen Gehalten des Begriffs] sich erhält, über sich

und sein Anderes übergreift und so die Entfremdung, zu der er [in der Auseinandersetzung

mit ehemaligen Gehalten] fortgeht, ebenso wieder aufzuheben die Macht und Tätigkeit ist

[indem er den vergangenen Begriffsgebrauch als seine Geschichte rekonstruiert]“. Das

Selbstbewusstsein, das durch diese Tätigkeit gewonnen werden kann, ist nach Hegel ein

„absolutes“ oder begreifendes/begriffliches/explizitmachendes Wissens um die Einheit vom

Ich und dem/den Anderen als ein Wir-Sagen, das als Allgemeines „in seinen Besonderungen“

oder Individuen „sich [im diskursiven Kontoführen] erhält“. Dieses Wir-Sagen ereignet sich

im wechselseitigen Einnehmen der expliziten Kontoführungseinstellung zueinander, innerhalb

des Rahmens des vollständigen und expliziten Interpretationsgleichgewichts. In dieser Einheit

sind Ich und Anderer in produktiver Unterscheidung aufgehoben. In der Einleitung zur

„Ästhetik“ beschreibt Hegel diese Praxis wie folgt.

[…] so liegt die Macht des denkenden Geistes darin, nicht etwa nur sich selbst in seiner

eigentümlichen Form als Denken zu fassen, sondern ebensosehr […], sich in seinem Anderen zu

begreifen, indem er das Entfremdete zu Gedanken verwandelt und so zu sich zurückführt.

Und der denkende Geist wird sich in dieser Beschäftigung mit dem Anderen seiner selbst nicht

etwa ungetreu, so dass er sich darin vergäße und aufgäbe, noch ist er so ohnmächtig, das von ihm

Unterschiedene nicht erfassen zu können, sondern er begreift sich und sein Gegenteil. […]

Denn weil das Denken sein Wesen und Begriff ist, ist er letztlich nur befriedigt, wenn er alle

Produkte seiner Tätigkeit auch mit dem Gedanken durchdrungen und sie so erst wahrhaft zu den

seinigen gemacht hat.53

Der Andere ist „sein“ Anderer, sie bilden ein „Wir“, weil der denkende Geist den Anderen

selbst durch Setzung (oder Zuschreibung) als Anderen „erschaffen“ hat. Brandom erklärt                                                                                                                52 Hegel, G.W.: Ästhetik. www.textlog.de/3422-4.html [Abruf 02.02.11.] 53 Ebd.

  48

deshalb, dass „etwas von jemandem als intentionales System betrachtet oder behandelt wird, […] in

der Reihenfolge der Erklärung vor der Tatsache, dass es ein intentionales System ist [rangiert]. “ (EV

1.6.2., 109) Denn

[…] jedes Sein, das der Verstand produziert, ist ein Bestimmtes, und das Bestimmte hat ein

Unbestimmtes vor sich und hinter sich, und die Mannigfaltigkeit des Seins liegt zwischen zwei

Nächten, haltungslos; sie ruht auf dem Nichts, denn das Unbestimmte ist Nichts für den Verstand

und endet im Nichts.54 55

Indem der Geist dadurch, dass er das Entfremdete, das als den „Anderen“ nach außen

Gesetzte „in Gedanken verwandelt“ und so zu sich zurückführt (es sozusagen „explizit

macht“) setzt er sich zum „Herrn über das Verhältnis“ und „begreift sich und sein Gegenteil“.

Die kommt auch im Schlusssatz von Brandoms „Making it Explicit“ zum Ausdruck, wo es

heißt, dass wir, indem wir „es explizit machen, uns selbst explizit machen“. Die Leistung, die

wir als rationale sprachbegabte Wesen vollbringen können besteht darin, dass wir uns als

dasselbe im Entgegengesetzten erkennen können – oder, mit Brandom, dass wir im „Wir-

Sagen“ „sie als uns anerkennen“(„recognizing them as us“ (ME 9.3.3., 644). Dieses

Entgegengesetzte ist nach Hegel kein fester Gegensatz, sondern eine „notwendige

Entzweiung“, die Lebendigkeit erst ermöglicht:

[… ] die notwendige Entzweiung ist ein Faktor des Lebens, das ewig entgegensetzend sich bildet,

und die Totalität ist in der höchsten Lebendigkeit nur durch Wiederherstellung aus der höchsten

Trennung möglich.56

Festgewordene Gegensätze – wie Geist und Materie, Freiheit und Notwendigkeit, absolute

Subjektivität und Objektivität etc. – aufzuheben, das sei nach Hegel das einzige Interesse der

Vernunft (ebd.). In derselben Weise wendet sich Brandom gegen einen „Dualismus“, den er

von der Unterscheidung abgrenzt, in welcher die aufeinander bezogenen Elemente sich

gegenseitig als in Beziehung Stehende verständlich machen können: „Eine Unterscheidung

wird zum Dualismus, wenn ihre Bestandteile so unterschieden werden, dass ihre

charakteristische Beziehung zueinander letztlich unverständlich wird.“ (EV 9.1.1., 852) Die                                                                                                                54 Das bedeutet auch, dass es für den Verstand keine Welt gibt, die nicht begrifflich strukturiert wäre – denn wäre sie es, wäre sie für ihn ein Nichts! 55 Hegel, G.W.F.: Werke in 20 Bänden mit Registerband, Bd. 2: Jenaer Schriften 1801-1807. Frankfurt a. Main 1986 (6. Auflage.). S. 26. 56Hegel, G.W.F. (61986): Werke in 20 Bänden mit Registerband, Bd. 2: Jenaer Schriften 1801-1807. Frankfurt/M., S. 21-22. Hervorhebungen durch mich.

  49

Unterscheidung in Interpretierten/Interpretierte und Interpretierenden ist in der expliziten

Kontoführungseinstellung nur eine Unterscheidung in Bezug auf die Rollen, die beständig

getauscht werden. Diese Unterscheidung ist für den Diskurs und die Generierung und

Tradierung/Vererbung begrifflicher Gehalte produktiv. Diskursive Praktiken im Vokabular

deontischer Kontoführung explizit zu machen, ermöglicht es, eine „Geschichte zu erzählen“,

die erklären soll, „warum wir uns von dem Nicht-wir, das uns umgibt, sowohl unterscheiden

als auch zu ihm in Beziehung stehen.“ (EV 9.2.2., 867).

Die Methode, um festgewordene Gegensätze aufzuheben, besteht nach Hegel darin „das

Gewordensein der intellektuellen und reellen Welt als ein Werden, ihr Sein als Produkte als

ein Produzieren zu begreifen“57 – m.a.W.: im begreifenden Nachvollzug der

Entstehungsgeschichte von Begriffen in sozialen Praktiken, geht es Brandom darum, sie als

etwas Geschichtliches zu begreifen, das auch in der Gegenwart als Werden in die Zukunft

wirkt. Auf diese Weise pflanzt sich die Eigenschaft des Begriffes, auf verschiedenen

Zeitebenen gleichzeitig zu agieren, in den diskursiven Praktiken fort. Die Struktur der

Bewegung des Begriffs ist das Geben und Nehmen von Gründen in der Gestalt

wechselseitiger Interpretation oder deontischer Kontoführung.

Zusammenfassung

Ausgangspunkt der Untersuchung des Konzepts der Kommunikation und des Verstehens bei

Brandom war die These, dass diese Konzepte wesentlich und strukturell mit Brandoms

Begriff vom Wesen des Begrifflichen zusammenhängen. Es wurde angenommen, dass sich

die Eigenschaften des Begrifflichen, seine inferentielle Gliederung, die Perspektivität seiner

Gehalte und das Sein als Tätigkeit oder geschichtlicher Vollzug, sich in der diskursiven Praxis

als deontisches Kontoführen wiederfinden. Alle drei Aspekte fanden in der diskursiven Praxis

ihre Entsprechung. Wenn im Folgenden die Kritik an Brandoms Modell durch Habermas

untersucht wird, muss dies im Hintergrund behalten werden. Wenn es so ist, wie Brandom

sagt, dass sich seine Meinungsverschiedenheit mit Habermas auf einem unterschiedlichen

Verständnis des Begrifflichen bei Hegel gründet, so muss Habermas Kritik daran gemessen

werden, inwiefern sie Brandoms Verständnis von Hegel gerecht wird.

                                                                                                               57 Ebd. S. 22.

  50

3. Habermas Kritik an Brandom

3.1. Zusammenfassender Überblick über Habermas’ Modell des

kommunikativen Handelns als Einleitung zu seiner Brandom-Kritik

Das Projekt, das Habermas in seiner Theorie des kommunikativen Handelns verfolgt, ist ein

aufklärerisch-kritisches. Er will eine „Theorie des kommunikativen Handelns einführen, die

die normativen Grundlagen einer kritischen Gesellschaftstheorie aufklärt“ (TKH II, 583; vgl.

I, 8). Als durchgehender Bezugspunkt dient ihm die Frage „ob und gegebenenfalls wie die

kapitalistische Modernisierung als ein Vorgang vereinseitigter [d.h. funktionalistischer]

Rationalisierung begriffen werden kann.“ (TKH I, 202) Habermas selbst nennt drei

Themenkomplexe, die miteinander verschränkt seien und die sich durch den Begriff des

kommunikativen Handelns erschließen würden (TKH I, 8): den Begriff der kommunikativen

Rationalität, das zweistufige Konzept der Gesellschaft, das die Paradigmen Handlung und

System verknüpft und eine Theorie der Moderne, die deren Paradoxien als „Kolonialisierung“

der kommunikativ strukturierten Lebenswelt durch die Zwänge formal organisierter

Handlungssysteme wie das System des Marktes oder der Verwaltung, die sich

verselbstständigt hätten, erklärt. (ebd.)

Er beginnt mit einer theoriegeschichtlichen Untersuchung, in deren Rahmen er – als

Erweiterung des seiner Ansicht nach zu eng gefassten Begriffs der Zweckrationalität (vgl.

Weber) – den Begriff der kommunikativen Rationalität als Mechanismus zur

Handlungskoordinierung entwickelt. (vgl. TKH I, 370) Es folgen systematische

Untersuchungen, die in einem zweistufigen Konzept der Gesellschaft münden, „welches die

Paradigmen Lebenswelt und System auf eine nicht nur rhetorische Weise verknüpft.“ (TKH I,

8; Anspielung auf Luhmann). Abschließend beschreibt er eine Theorie der Moderne, „die den

Typus der immer sichtbarer werdenden Sozialpathologien mit der Annahme zu erklären

versucht, dass die kommunikativ strukturierten Lebensbereiche den Imperativen

verselbstständigter, formal organisierter Handlungssysteme unterworfen werden.“ (ebd.) Was

er damit sagen will, ist, dass die systemimmanenten Mechanismen der Ökonomie und des

Staates in Form einer fortschreitenden Monetarisierung und Bürokratisierung der sozialen

Lebenswelt Gefahr laufen, eine Eigendynamik zu entwickeln und dadurch die

kommunikativen Grundlagen derjenigen Lebenswelt untergraben würden, aus der sie

  51

hervorgegangen sind und der sie ursprünglich dienen sollten. In dieser abschließend

formulierten Theorie der Moderne führt er nun seine theoriegeschichtlichen und

systematischen Untersuchungen zusammen, um die von ihm diagnostizierte Krise der

Moderne, die unter den krankhaften Auswüchsen einer funktionalistischen Rationalität leide,

zu überprüfen und die Aufgaben zu formulieren, die einer kritische Gesellschaftstheorie unter

diesen Voraussetzungen zukämen. (Vgl. TKH I, 202f.) Was er durch die Bereitstellung seiner

kritische Analyse erreichen will, ist die Möglichkeit einer Immunisierung der

kommunikativen Autonomie der sozialen Akteure gegen die Übergriffe der

Technokratisierung durch erfolgreiche rationale diskursive Verständigung. Die

kommunikative „Vernunft der Verständigung“, deren kritische Macht von der Kompetenz der

Diskursteilnehmer in Bezug auf die Beherrschung diskursiven Begründungspraktiken

abhängt, ist sozusagen das „Antidot“ gegen die funktionalistische Vernunft. Denn „dieselben

Strukturen, die Verständigung ermöglichen, sorgen auch für die Möglichkeiten einer

reflexiven Selbstkontrolle des Verständigungsvorgangs.“ (TKH, I, 176) M.a.W.: Aus der

kommunikativen Rationalität, die im Alltagshandeln verkörpert ist, kann eine reflexive

Diskursrationalität erwachsen, die in einer reflektierten Argumentations- und

Begründungskultur zum Ausdruck kommt. Diese wiederum schützt die Autonomie der

Diskursteilnehmer gegen Übergriffe der funktionalistischen Rationalität. Eine Theorie des

kommunikativen Handelns muss deshalb auch eine Theorie der kommunikativen Kompetenz

enthalten, welche die „Leistungen […] [erklärt], die Sprecher oder Hörer mithilfe

pragmatischer Universalien vornehmen, wenn sie Sätze in Äußerungen transformieren“.58

Anders, als bei Brandom, steht bei Habermas also die Kommunikation – nicht nur im Titel

seines Hauptwerkes – im Zentrum. Kommunikation definiert Habermas als „die Interaktionen,

in denen Beteiligte ihre Handlungspläne koordinieren“. Dabei bemesse sich das jeweils

erzielte Einverständnis an der wechselseitigen Anerkennung von Geltungsansprüchen.59

Kommunikation ist aber noch nicht gleich kommunikatives Handeln. Letzteres hat eine

besondere, eine kooperative Qualität, die zum bloßen Kommunizieren hinzukomme:

Hingegen spreche ich von kommunikativen Handlungen, wenn die Handlungspläne der beteiligten

Aktoren nicht über die egozentrischen Erfolgskalküle, sondern über Akte der Verständigung

                                                                                                               58 Habermas, Jürgen (1971): „Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz“. – In: Maciejewski, Frank (Hg.) (1971): Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt a. M. S. 101-142. S. 103. [TGS] 59 Habermas, J. (1983): Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt am Main. S. 68. [MK]

  52

koordiniert werden. Im kommunikativen Handeln sind die Beteiligten nicht primär am eigenen

Erfolg orientiert; sie verfolgen ihre individuellen Ziele unter der Bedingung, dass sie ihre

Handlungspläne auf der Grundlage gemeinsamer Situationsdefinitionen aufeinander abstimmen

können. (TKH, 385)

Hiermit ist ein klarer Zweck des kommunikativen Handelns formuliert: Verständigung.

Voraussetzung für Verständigung ist die grundsätzliche Bereitschaft der Diskursteilnehmer,

ihre individuellen Ziele zum Zweck des Gelingens der gemeinsamen „Unternehmung“ des

gesellschaftlichen Diskurses zurückzustellen oder zumindest anzupassen. Was die

Verständigung mit jemand über etwas ermöglicht, ist sie wechselseitige Anerkennung von

Geltungsansprüchen. Diese Geltungsansprüche sind, analog zur objektiven, sozialen oder

subjektiven Welt, auf die sich die Äußerungen eines Sprechers beziehen können, dreifach:

Die Aktoren erheben mit ihren Sprechhandlungen, indem sie sich miteinander verständigen

Geltungsansprüche, und zwar Wahrheitsansprüche, Richtigkeitsansprüche und Wahrhaftigkeits-

ansprüche je nachdem, ob sie sich auf etwas in der objektiven Welt (als der Gesamtheit

existierender Sachverhalte), auf etwas in der gemeinsamen sozialen Welt (als der Gesamtheit

legitim geregelter interpersonaler Beziehungen einer sozialen Gruppe) oder auf etwas in der

eigenen subjektiven Welt (als der Gesamtheit privilegiert zugänglicher Erlebnisse) Bezug nehmen.

[MK, 68]

Bei jeder Äußerung erhebe ich in der Regel den Anspruch, dass sie wahr ist, dass sie in Bezug

auf den geltenden normativen Kontext richtig bzw. angemessen ist und dass ich das, was ich

sage, auch so meine (d.h. wahrhaftig bin). Diese Geltungsansprüche kann ich durch

pragmatische Universalien – Konstativa, Regulativa und Repräsentativa (s.u.) – in

Sprechakten zum Ausdruck bringen. Kommunikative Kompetenz besteht, wie wir oben bereits

hingewiesen hatten, in den Leistungen von Sprechern und Hörern, wenn sie Sätze in

Äußerungen transformieren. (vgl. TGS, 103) Im Anschluss an Searle unterscheidet Habermas

Sätze und Ausagen: „Sätze sind linguistische Einheiten, sie bestehen aus sprachlichen

Ausdrücken. Äußerungen sind situierte Sätze, pragmatische Einheiten der Rede.“ (ebd.) Die

Situierung der Sätze erfolgt durch obengenannte. „pragmatische Universalien“. Bei diesen

handelt es sich um Sprechakte, die aufgrund ihrer impliziten Tiefenstruktur, die sich als

performativer Satz in der Rede zeigen, Strukturen der Redesituation erzeugen, – den Modus

der Kommunikation –, in welchem der vom performativen Satz abhängige propositionale

Satz erst seinen „pragmatischen Verwendungssinn“ erhält. (vgl. TGS, 105)

  53

Mit Hilfe von Sprechakten erzeugen wir allgemeine Bedingungen der Situierung von Sätzen, also

Struktren der Redesituation; zugleich sind diese Strukturen aber auch in der Rede selbst vertreten –

eben als die sprachlichen Ausrücke, die wir pragmatische Universalien nennen. (TGS, 104)

Habermas gliedert diese Universalien, wie oben bereits erwähnt, in Kommunikativa,

Konstativa, Repräsentativa und Regulativa: Kommunikativa würden dazu dienen, den

pragmatischen Sinn der Rede überhaupt auszusprechen (sagen, fragen, antworten, einwenden,

wiedergeben etc.), Konstativa oder Formen des Behauptens (in assertorischer Verwendung

aber auch mit Bezug auf den Wahrheitsanspruch einer Aussage) dazu, den Sinn der kognitiven

Verwendung von Sätzen auszudrücken, zur Selbstdarstellung des Sprechers vor einem Hörer

dienten Repräsentativa (wissen, denken, meinen, hoffen, wünschen etc.) und Regulativa

hätten die Funktion, den Sinn der praktischen Verwendung von Sätzen auszudrücken

(befehlen, auffordern, bitten, versprechen, ermuntern etc.). (Vgl. TGS, 111 ff.)

Kommunikativa nehmen dabei eine Sonderstellung ein, denn das kommunikative Handeln als

solches, in dem alle Sprechakte vollzogen werden, hat ganz grundlegend den

Geltungsanspruch, der Verständigung zu dienen und kann sich auf alle „drei Welten“, die

objektive, die soziale und die subjektive Innenwelt, in reflexiver Weise beziehen. Insofern

übernimmt es eine integrierende Funktion:

[D]ie Diskursstruktur [der Begründungspraxis] [stiftet] unter den verzweigten

Rationalitätsstrukturen des Wissens, des Handelns und der Rede einen Zusammenhang, indem

sie die propositionalen [Wurzeln des Wissens], teleologischen [Wurzeln des Handelns] und

kommunikativen Wurzeln [der Rede] gewissermaßen zusammenführt. In einem solchen Modell

der verzahnten Kernstrukturen verdankt die Diskursrationalität ihre ausgezeichnete Stellung

nicht einer fundierenden, sondern einer integrativen Leistung. (WR, 104)

Aus der performative-propositionalen Doppelstruktur jedes Sprechaktes – der elementaren

Einheit der Rede oder Äußerung – leitet Habermas zwei Ebenen der Kommnikation ab: die

Ebene der Intersubjektivität, auf welcher Sprecher und Hörer miteinander sprechen (eine

performative Einstellung zueinander einnehmen), und die Ebene der Gegenstände (Objekte

oder Sachverhalte), über die sich Sprecher und Hörer verständigen. Diese zwei Ebenen finden

sich auch in der Aufsatzsammlung „Wahrheit und Rechtfertigung“ nicht zufällig unter dem

Abschnitt „Intersubjektivität und Objektivität“, in dem Habermas auch Brandom kritisiert. Es

ist ihm wichtig, diese zwei Kommunikationsebenen, die sich auf zwei Welten beziehen (die

  54

soziale und die objektive) und die in der Praxis ineinander verschränkt sind, theoretisch zu

trennen. Auf der ersten Kommunikationsebene, der Ich-Du-Ebene, werden Äußerungen

aneinander addressiert und Stellungsnahmen voneinander erwartet. Beide

Kommunikationsteilnehmer handeln/sprechen miteinander. Auf der zweiten

Kommunikationsebene ist dieses Gespräch Gegenstand der Interpretation aus der Perspektive

eines Dritten, der beobachtet und die vorgetragenen Positionen im Stillen auf ihren jeweiligen

Geltungsanspruch hin bewertet. Dies „objektivistische“ Verständnis von menschlichen

Kommunikation, das er bei Brandom feststellt nd dem er vorwirft „die Poninte der

sprachlichen Verständigung zu vefehlen“ sei Ausdruck einer rein epistemischen, nicht einer

echten hermeneutischen Beziehung zwischen Sprechern. (Vgl. WR 175) Als Bild verwendet

Habermas in dem Abschnitt zu Brandom in „Wahrheit und Rechtfertigung“ eine

Gerichtsverhandlung. (Vgl. WR, 174) Der Richter, der aktiv im Verhandlungsgespräch

involviert ist, hört die Zeugen etc. an (und antwortet auch) – die Geschworenen, die sich aus

dem unmittelbaren Gespräch heraushalten, aber im Stillen Buch führen über den Wert der

vorgebrachten Beweise und Argumente, hören zu. Hörer und Zuhörer spielten damit in der

Kommunikation verschiedene Rollen: Hörer sind aktiv, Zuhörer passiv. Die Zuhörer werden

über bestimmte Sachverhalte und Argumente informiert, während der Hörer kommuniziert.

Der Hauptvorwurf von Habermas an Brandom konzentriert sich darauf, dass, weil dessen

Begriff von Kommunikation diese beiden Kommuniktionsebenen (und die objektive Welt der

Fakten mit der sozialen Welt der Normen) vermische, er der spezifischen Rolle der zweiten

Person in der intersubjektiven Verständigung nicht gerecht werde. (WR, 173). Was Brandom

als „Ich-Du-Beziehung“ bezeichne, sei in Wirklichkeit eine Ich-Er-Beziehung, d.h. eine

Beziehung „zwischen einer ersten Person, die Geltungsansprüche erhebt, und einer dritten

Person, die dem anderen Geltungsansprüche zuschreibt“. (WR, 173) Genauer betrachtet sei

dieser „Er“ sogar nur ein Es; ein unpersönliches Publikum, das die Äußerung des Sprechers

beurteile, kein Adressat einer Äußerung, der antworte. Habermas unterstellt Brandom damit

ein monologisches Konzept der (indirekten) Kommunikation, dem er ein dia- oder

polylogisches der unmittelbaren Kommunikation der Beteiligten entgegenstellt (WR, 174).

  55

3.2. Rekonstruktion von Habermas Kritik an Brandoms Kommunikationsbegriff

und deren Bewertung mit Blick auf Habermas’ eigene Theorie

Die Kritik, die Habermas im Kapitel „Von Kant zu Hegel: Zu Robert Brandoms

Sprachpragmatik“ in seinem Werk „Wahrheit und Rechtfertigung“60 an Brandom richtet,

wendet sich auch gegen sein Modell von Kommunikation, geht aber von einer Kritik von

Brandoms Begriff vom Begriff aus. Wie in der Einleitung bereits erwähnt, kritisiert Habermas

Brandoms angeblichen Begriffsrealismus, aus dem er nicht nur – durch die infolgedessen

vollzogene Vermischung von objektiver und sozialer Welt und der Angleichung von

Tatsachen und Normen – „missliche Konsequenzen“ in „moraltheoretischer Hinsicht“ (WR,

154) ableitet, sondern – und das ist für diese Ausarbeitung von eigentlichem Interesse – auch

„missliche“ Folgen für das Verständnis davon, was Kommunikation ist – oder nach

Habermas: sein sollte. Dieses Vorgehen von Habermas unterstützt die These, die Brandom

geäußert hat und die ich stark machen möchte, dass die Wurzel seiner Differenz mit

Habermas in der Deutung des Wesens des Begrifflichen – und damit letztlich Hegels – liegt.

Worin die Kritik gipfelt, haben wir eben schon vorweggenommen. Um zu verstehen, wie

Habermas dorthin gekommen ist, soll seine Kritik nun schrittweise rekonstruiert werden.

Habermas gliedert seine Kritik in zwei Teile zu je drei Abschnitten: Im ersten Teil will er

mithilfe einer kritischen Rekonstruktion einen Überblick über den Ansatz als Ganzem geben,

wobei er einen besonderen Schwerpunkt auf die Verschränkung von Pragmatik und Semantik

legt (1.). Im Anschluss geht er der Frage nach, warum wir für Inhalte unserer Äußerungen

objektive Geltung beanspruchen dürfen. Die Antwort Brandoms darauf liest er als eine Form

des Begriffsrealismus, den er u.a. als nicht mehr zeitgemäß kritisiert. (2. u. 3.). Im zweiten

Teil (4.-6.) stellt er bei Brandom zunächst eine Bewegung von Kant zu Hegel fest und setzt

sich dann mit den Konsequenzen dieses diagnostizierten Begriffsrealismus für den Begriff der

Kommunikation (5.) und die Moraltheorie (6.) auseinander. (Vgl. WR, 139) Im Rahmen

dieser Arbeit interessiert zunächst die Rekonstruktion (1.-2.), die zeigt, wie Habermas

Brandom liest, um daraus die Diagnose eines Begriffsrealismus (3.-4.) verständlich zu

                                                                                                               60 Auf Englisch veröffentlicht im European Journal of Philosophy, in welchem Brandom dann auch Stellung zu dieser Kritik bezogen hat: Habermas, J. (2000): From Kant to Hegel: On Robert Brandom’s Pragmatic Philosophy of Language. Review article. European Journal of Philosophy 8/3, S. 322–355. – Brandom, Robert (2000): Facts, Norms and normative Facts: A Reply to Habermas. European Journal of Philosophy 8/3 (2000), 356-374.

  56

machen, ohne welche man Habermas Kritik an Brandoms Kommunikationsbegriff nicht

verstehen kann.

Habermas beginnt also mit einer kritischen Rekonstruktion von Brandoms Gedankengang und

schließt daran seine Kritik an, die er aus der Frage nach dem Objektivitätsgehalt sprachlicher

Äußerungen heraus entwickelt. Nach Habermas untersucht Brandom „diskursive Praktiken

aus der Sicht einer zweiten Person, die Wahrheitsansprüche zuschreibt und beurteilt“ (WR,

170), was zu einem „merkwürdig objektivistischen Verständnis diskursiven Verhaltens“ führe

(ebd.). Das Hauptproblem in Bezug auf die Objektivitätsfrage, laute: Wie kann ein fehlbarer

Interpret das vermeintliche vom berechtigten „Für-wahr-Halten“ unterscheiden, wenn er

selbst Diskursteilnehmer ist, also keinen objektiven Standpunkt außerhalb des Diskurses,

keinen „Gottestandpunkt“, einnehmen kann? (ebd.) Wie lassen sich dann Wahrheit und

objektiver Gehalt einer Äußerung feststellen? Die Beantwortung dieser Frage ist deshalb für

Habermas so wichtig, da Kommunikation für ihn in der Anerkennung von

Geltungsansprüchen, die ein Specher mit seinem Sprechakt erhebt und zu denen auch der

Wahrheitsanspruch zählt, der sich auf die „objektive“ Welt bezieht (die Habermas getrennt

sieht von der sozialen und der subjektiven). Die Strategien, die Brandom zur Lösung dieses

Problems vorschlägt, sind für Habermas, wie wir im folgenden zeigen werden, aus seiner

Sicht nicht befriedigend. Die Frage, die sich einem Betrachter dieser Auseinandersetzung

aufdrängt, bertrifft die Erwägung, wie wichtig es ist, ob etwas in dem Sinne objektiv wahr ist,

dass es unabhängig vom Diskurs in einer „objektiven Welt“ existiert, damit man sich über

seine Wahrheit verständigen kann.

In der Einleitung lobt Habermas Brandoms Ansatz als „innovative Verschränkung von

formaler Pragmatik und inferentieller Semantik“ (WR, 139). Er sieht darin eine

Weiterentwicklung des kantischen Ansatzes, der insofern pragmatisch sei, als er „den Geist“

als einen „mit Begriffen hantierenden“ begreift, „der unter den Beschränkungen einer von

ihm unabhängigen Welt rational sowie in den Grenzen der sozialen Umgebung selbständig

operiert“ (WR, 138). Dieser Satz beinhaltet eine Reihe von Prämissen: die Voraussetzung

einer von der Sprache unabhängigen und diese begrenzende Welt, die Begrenzung des

sprachlich-intellektuellen Horizonts durch den sozialen Kontext, das Postulat der Möglichkeit

autonomen Denkens und das Primat der Vernunft. Ob Brandom tatsächlich alle diese

Prämissen teilt, bleibt zu prüfen.

  57

Brandom würde nun, so Habermas, durch das Modell des „Gebens und Nehmens von

Gründen“ für die Beschreibung des Vorgangs der Verständigung als ein Argumentationsspiel,

das Vokabular bereitstellen, mit dem sich die impliziten Praktiken, „in denen sich die

Vernunft und Autonomie sprach- und handlungsfähiger Subjekte äußert“, explizit machen

ließen (ebd.). Das Projekt der formalen Pragmatik, das Habermas mit Brandom verbindet,

besteht darin, ein formales Vokabular für das zu finden, was wir mit Sprache tun. Dieses

Vokabular ist bei Habermas das Vokabular der Formal- oder Universalpragmatik, bei

Brandom ist es das logische Vokabular: „Denn nun beginnen wir zu sagen, was wir tun, wenn

wir sagen, dass Leo ein Löwe ist.“ (BB, 34).

Indem ich solche Dinge sage, indem ich also logisches Vokabular gebrauche, kann ich die

impliziten inferentiellen Festlegungen explizit machen, die den Gehalt der Begriffe gliedern, welche

ich beim Aufstellen ganz gewöhnlicher expliziter Behauptungen verwende. (BB, 33f.)

Mit „explizit machen“ meint Brandom, dass das logisches Vokabular dazu in der Lage ist, die

implizite Folgerungsbeziehungen eines Begriffes zu anderen Begriffen seinerseits in eine

begriffliche Form zu bringen und sie durch dieses Verbegrifflichen begreifbar zu machen:

Dort, wo Explizitheit mit einer spezifischen begrifflichen Gliederung identifiziert wird […] läuft

das Ausdrücken [making it explicit] von etwas darauf hinaus, es zu verbegrifflichen: es also in

eine begriffliche Form zu bringen. (BB, 29)

Doch es bestehen nach Habermas nicht nur Anknüpfungspunkte zu Kant, wenn es um die

Pragmatik geht. Ebenso finden sich Anschlüsse an Wittgenstein und den Vorrang des

„Wissens-Wie“ (vor dem „Wissen-Dass“) sowie den Vorrang des Sozialen (vor der

Repräsentation) hinsichtlich der Beschreibung dessen, was wir mit Sprache tun. Das Wissen-

Wie beziehe sich auf das Wissen, wie man Sprache kommunikativ verwende, der Vorrang des

Sozialen beziehe sich auf das Primat der intersubjektiven Verständigung. Mit der

linguistischen Wende hätte nach Habermas nicht nur eine Abkehr vom Repräsentationsmodell

der Erkenntnis stattgefunden, sondern ein Übergang zu einem Kommunikationsmodell der

Verständigung (vgl. WR, 141). Darüber hinaus werde die gesellschaftsbildende Funktion von

Kommunikation offenbar.

Auf dem Wege kommunikativer Vergesellschaftung verstricken sie [die Mitglieder einer

Sprachgemeinschaft] sich in ein Netz intersubjektiver Beziehungen, in denen sie sich voreinander

  58

verantworten müssen. Weil diese Verantwortung in der Münze von Gründen eingelöst werden muss,

bildet die diskursive Praxis des Gebens und Forderns von Gründen auch die Infrastruktur der

Alltagskommunikation. (WR, 141)

Habermas sieht in Brandoms Modell diskursiver Praxis als „Geben und Fordern von

Gründen“ die Möglichkeit einer Strukturbeschreibung der Alltagskommunikation. Ein

ähnliches Projekt hat er selbst mit der Formulierung seiner Formalpragmatik verfolgt, welche

die Aufgabe hat, die Tiefenstruktur unserer Alltagskommunikation, die durch verschiedene

Sprechakttypen bedingt wird, explizit zu machen. Wichtig ist, dass Habermas’ Projekt im

Rahmen seiner kritischen Gesellschaftheorie angesiedelt ist und letztlich ihren Zwecken

dienen soll. Interessanterweise sieht Brandom selbst den Gewinn seiner Theorie eher darin,

die „normative Feinstruktur der Rationalität“ (BB, 264) explizit machen zu können, d.h.

einen in die Lage zu versetzen, nicht nur etwas mit Begriffen zu tun, sondern auch zu sagen,

was man tut. Er sieht seine Theorie also eher im Rahmen einer Theorie vom Begriff als im

Rahmen einer Gesellschaftstheorie – auch wenn das explizite Wir-Sagen einen

gemeinschaftskonstituierende und damit vergesellschaftende Funktion hat. Dies ist aber im

Rahmen seines Projektes eher ein Nebeneffekt. So betont er in der Einleitung zu „Begründen

und Begreifen“, dass das „alles überragende Thema“ in diesem Werk das „Wesen des

Begrifflichen als solches“ sei (BB, 9). Und auch im Schluss der „Expressiven Vernunft“

(EV)61 betont er, dass der semantische Kern der von ihm vorgelegten Analyse der diskursiven

Praxis die in ihr enthaltene Theorie des begrifflichen Gehalts bilde (vgl. EV 9.1.1., 851) –

auch wenn er diesen Gehalt im expressiv-pragmatischen Vokabular der deontischen

Kontoführung formuliert. Ist Brandoms postulierte „normative Feinstruktur der Rationalität“,

die er mit der inferentiellen Gliederung begrifflicher Gehalte, ihrer perspektivischen Struktur

und der normeneinsetzenden Praxis der deontischen Kontoführung der Diskursteilnehmer

begründet, vergleichbar mit der Alltagsstruktur der Kommunikation, die Habermas im Blick

hat? – auch wenn diese ebenfalls Ausdruck einer Form von Rationalität ist, der

kommunikativen Rationalität? Sind die Begriffe von Rationalität bei Brandom und Habermas

vergleichbar?

Habermas fährt in seiner Rekonstruktion von Brandom damit fort, dass sich durch die

Betonung des Sozialen eine bestimmte Perspektive der Betrachtung ergebe, die sich

methodisch darin niederschlage, dass die Äußerungen eines Sprechers aus der

                                                                                                               61 Ders. (2000): Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung. Frankfurt/M.

  59

Rezeptionsperspektive, der Perspektive einer zweiten Person analysiert würden. Die Frage

laute nicht, unter welchen Bedingungen eine Aussage wahr sei, sondern, was wir tun würden,

wenn wir die Äußerung eines anderen als wahr behandelten. Dieses Verfahren nennt

Habermas „antiobjektivistisch“ (WR, 142), was nicht heißt, dass sie deshalb subjektivistisch

sei; vielmehr sei sie intersubjektivistisch. Dies wird deutlich, wenn man mit Habermas

Brandoms Modell des „deontic score-keeping“ untersucht: Im Spiel des Gebens und Forderns

von Gründen nähmen beide Kommunikationspartner zueinander die Rezeptionsperspektive

ein. In einem ersten Schritt würde einem Sprecher durch einen Interpreten ein

Wahrheitsanspruch (claim) und eine entsprechende Festlegung (commitment) auf die

Voraussetzungen und Konsequenzen seiner Behauptung zugeschrieben. Damit sei der

Sprecher darauf verpflichtet, für seine Behauptung einzustehen und sie im Zweifelsfall weiter

zu begründen. In einem zweiten Schritt nehme der Interpret zu der Äußerung selbst Stellung

und frage sich, ob ‚p’ auch aus seiner Perspektive zutreffen würde. Entsprechend laute seine

Stellungnahme zu dem Wahrheitsanspruch, welchen er dem Sprecher zugeschrieben hatte,

„ich stimme zu“/„Ja“ oder „ich stimme (noch) nicht zu“/„Nein“. Stimme er zu, so anerkenne

er die Berechtigung (entitlement) des Sprechers, ‚p’ zu behaupten. Im Verlauf dieses Spieles

ermittelten beide Interaktionspartner über die aufmerksame Verfolgung des „Spielstands“

oder „Punktestands der Verpflichtungen“, ob sie den anderen jeweils für berechtigt zu einer

oder verpflichtet auf eine bestimmte Überzeugung oder Handlung hielten. Dabei beantworte

der Punktestand die Frage, wie die Rechte und Pflichten zu einem gegebenen Zeitpunkt auf

die Teilnehmer der sozialen Interaktion de facto verteilt seien. Dieser Spielstand bestimme

seinerseits auch, welcher nächste Zug, z.B. welche sprachliche Äußerung, als gültig oder

richtig angesehen werde. Das Ergebnis dieses Zuges sei dann wiederum ein neuer Spielstand

u.s.w. (vgl. WR. 142 ff.)

Entscheidend ist, dass dieses Modell der Buchführung über Verpflichtungen, wie es

Habermas rekonstruiert, von privat und „im Stillen“ durchgeführt wird. Sprecher und

Interpret reagieren aufeinander, aber nur mittelbar. Zwischen den Akten der Behauptung (des

Sprechers), der Infragestellung (durch den Interpreten), der Antwort (des Sprechers) und der

Anerkennung/Nichtanerkennung der Geltung der Behauptung (durch den Interpreten) liegt

sozusagen jeweils eine minimale „Verrechnungsphase“ der „Punkte“ im Argumentationsspiel.

Das Bild, das sich einem nach dieser Beschreibung des Modells aufdrängt, ist das der

„Kommunikation“ von zwei gegeneinander spielenden Schach-Computern, die nie persönlich,

spontan und unmittelbar aufeinander reagieren, sondern immer unpersönlich, sachbezogen

  60

und strategisch-„berechnend“. In Bezug auf das Baseball-Spiel fasst Habermas seine Kritik

wie folgt zusammen:

Aber bei einem strategischen Mannschaftsspiel wie diesem geht es um die kalkulierte Anpassung

an die Reaktionen anderer, nicht um eine konsensuelle Kooperation, die Anforderungen der

sozialen Integration genügen kann. (WR, 176)

Es stellt sich die berechtigte Frage, ob man so etwas noch Kommunikation nennen könne.

Diese mechanistische Darstellung des deontischen Punkteführens aus Habermas Sicht

erweckt den Anschein, als ob Brandom genau bei dem gescheitert wäre, was er zeigen wollte:

den Unterschied zwischen einem „Messinstrument wie einem Thermometer oder

Spektrophotometer und einem Beobachter, der nichtinferentiell zu Überzeugungen gelangt

oder Behauptungen über Temperaturen und Farben aufstellt.“ (EV, 151). Im Anschluss an

Sellars hatte er den Unterschied wie folgt formuliert:

Das Entscheidende, das dem Papagei und dem Messinstrument fehlt – der Unterschied zwischen

bloß responsiver und begrifflicher Klassifikation – , seien Praktiken des Lieferns und Forderns von

Gründen, in deren Rahmen die responsiven Reaktionen [wie „das ist rot“] die Rolle spielen

können, Überzeugungen und Behauptungen zu rechtfertigen. Einen Begriff begreifen oder

verstehen heißt nach Sellars, die Inferenzen praktisch zu beherrschen, in denen er vorkommt –

heißt wissen (in dem praktischen Sinn von fähig sein, zu unterscheiden), was aus der

Anwendbarkeit eines Begriffs folgt und woraus sie folgt. Der Papagei behandelt weder „Das ist

rot“ als inkompatibel mit „Das ist grün“ noch als aus „Das ist purpurrot“ folgend, noch als dessen

Folgerung „Das ist farbig“. (EV, 152)

Was den Menschen als begriffliches und deontisches Wesen vom Computer als bloß

reponsiver Maschine unterscheidet, ist nicht die Fähigkeit, logische Ketten erzeugen zu

können, sondern empfindlich auf die normative Signifikanz der mit einer Behauptung

verbundenen Festlegungen zu reagieren. Wenn man deontische Kontoführung als bloßen

Verrechnungsakt darstellt, geht dieser Aspekt spezifisch menschlicher Kommunikation

verloren und ein verzerrtes Bild von Brandoms Modell entsteht. Stekel-Weithofer weist auch

in Bezug auf Schnädelbachs Verriss von Brandoms „Expressive Vernunft“ darauf hin, dass es

ein Fehler sei, die analytische Metapher des „score-keepings“ überzustrapazieren und zum

  61

Ausgangspunkt der Kritik zu machen.62 Schnädelbach empfindet diese Metapher als

„grauenhaftes Bild unserer Verständigungsverhältnisse“, dem er (vermutlich weil Brandom

Amerikaner ist und als Amerikaner im Stammland des Kapitalismus lebt?) eine

Monetarisierung der Begrifflichkeit zur Beschreibung menschlicher Kommunikation vorwirft:

Als böser Marxist könnte man fragen: Kommunikation als score-keeping – wo ist da der

Unterschied zum Schacher zwischen lauter kleinen shop-keepern, die unablässig gegenseitig ihre

Konten aufrechenen? Ist es ein Zufall dass sich in der kapitalistischen Welt niemand wundert,

wenn jemand menschliche Verständigung überhaupt als Börsenveranstaltung unter kleinen

Privatkapitalisten vorstellt?63

Er berücksichtige dabei nicht, so Stekel-Weithofer, dass es zur Methode der Struktur- oder

Formanalyse gehöre, mit projektiven Vergleichen zwischen unterschiedlichen Bereichen zu

arbeiten, die analoge Strukturen aufwiesen. (Stekeler-Weithofer 2004, 178) Die von Brandom

gewählten Vergleichsgegenstände zur Formanalyse von Sprechhandlungen bzw.

kommunikativen Handlungen seien Spiele, die sich dadurch auszeichneten, dass es für sie

„eine Kontrollpraxis der Erfüllung ,normativer‘ Bedingungen für die zugelassenen Folgen

von Spielzügen“ gebe, wie z.B. beim Baseball oder beim Schach. Deontische Kontoführung

sei in diesem Zusammenhang als „Format zur Notation für Spielstände“ zu verstehen, dass

dazu diene „metastufige Kontrollreflexionen […] über den Stand etwa einer Debatte oder

über noch offene Versprechungen oder über schon erfüllte Verpflichtungen explizit“ zu

machen. (ebd.)

Die methodische Entscheidung – die Privilegierung der Perspektive der 2. Person, d.h. des

Rezepienten – im Rahmen einer formalen Pragmatik habe nach Habermas nun Folgen für die

Semantik, in welcher den Ja-/Nein-Stellungnahmen eines Interpreten zu einer Behauptung, die

ein Sprecher äußere, ein Vorrang gegenüber dem Status von dessen Äußerungen (wahr oder

falsch) mit Bezug auf die objektive Welt eingeräumt werde. Entscheidend sei, ob die

Sprechhandlung dem Interpreten als wahr erscheine, d.h., ob er sie als solche betrachte und

behandle.

                                                                                                               62 Vgl.: Stekeler-Weithofer, Pirmin (2004): Wir halten das Banner der Wahrheit. Zu Herbert Schnädelbachs Lektüre von Brandom, Hegel und anderen ,Idealisten’. – In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 29/2004. S. 177-188. S. 177 f. 63 Schnädelbach, Herbert (2001): Sozialpragmatischer Idealismus. Bemerkungen zu Robert B. Brandoms „Expressive Vernnft“. Berlin. – In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 29/2004. S. 163-175. S. 163 f.

  62

Die Grundfrage der Bedeutungstheorie, was es heißt, eine Behauptung, bzw. Aussage zu verstehen,

wird durch die Frage ersetzt, was ein Interpret tut, wenn er einen Sprecher ‚in der richtigen Weise’

als jemanden ‚nimmt und behandelt’, der mit seinem Sprechakt einen Wahrheitsanspruch erhebt.

(WR, 142)

Damit wird, nach Habermas Modell, dem Geltungsanspruch auf Richtigkeit in der sozialen

Welt der Vorrang von dem Geltungsanspruch auf Wahrheit in Bezug auf die objektive Welt

eingeräumt, bzw. soziale und objektive Geltung werden vermischt. Doch gerade in „Wahrheit

und Rechtfertigung“ verabschiedet sich Habermas von seiner vorher selbst vertretenen These,

dass Wahrheit mit Rechtfertigbarkeit (unter den Bedingungen einer idealen Sprechsituation)

zusammenfallen würden. Indem er jenen Kritikern zustimmt, die den Sinn einer Annahme

idealer Bedingungen bezweifelten, weil sie in der tatsächlichen Praxis nie vorkämen, steht er

nun vor dem Problem, woraus der unbedingte Sinn von Wahrheit noch abgeleitet werden

könnte. Aber was bleibt dann noch anderes als die letzte Instanz der Bewährung von

Wahrheitsansprüchen, wenn nicht die objektive Welt, d.h. die „Welt“ aus der

Wahrnehmungen in die Welt des Diskurses als Erfahrungsgründe eintreten und in die sie als

Handlungen austreten? Die Vermutung drängt sich auf, dass er an Brandom sozusagen sich

selbst bzw. seine eigene ehemalige Theorie kritisiert – ohne dass er dies explizit macht. Sollte

es ihm selbst nicht klar sein, könnte er Gefahr laufen, Brandom durch die Brille seiner

eigenen Prämissen zu lesen, was Brandoms Theorie verfälschen und Habermas Kritik in

Bezug auf Brandom entkräften würde.

Die Verschränkung von formaler Pragmatik und Semantik bewirke bei Brandom also eine

Verschiebung des Fokus des Interesses von der Beschreibung dessen, was Wahrheit sei zur

performativen Frage, was wir tun würden, wenn wir etwas als wahr behandelten. Aus der

semantischen Perspektive frage man sich, was Sprecher meinen (und versuche es zu

verstehen) – aus der pragmatischen Perspektive frage man sich, was sie tun. Meinen und Tun,

Bedeutung und (Sprech-)handeln, seien aber insofern ineinander verwoben, als der Gehalt

einer Aussage nach Brandom und im Anschluss an Wittgenstein nicht abgelöst von den

Praktiken der Begründung und Rechtfertigung zu verstehen sei. Vielmehr werde der Gehalt

eines Begriffes durch die Rolle, die er im Spiel des Gebens und Forderns von Gründen spiele,

bestimmt. Umgekehrt regle der Begriff als ein Knotenpunkt semantischer Fäden oder Bündel

von Bedeutungen, die in ihn einmünden und aus ihm folgen, das Spiel des Gebens und

Aufnehmens von Gründen. Er stelle sozusagen das semantische „Schienennetz“ inferentieller

  63

Bezüge von Aussagen untereinander zu Verfügung, auf dem sich die Spielteilnehmer

bewegten und das sie auf diese Weise „in Betrieb“ nähmen.

Die Diskurspraxis nimmt das Netzwerk der im Vokabular einer Sprache angelegten inferentiellen

Beziehungen gleichsam in Betrieb. Die Stellungnahme der Diskursteilnehmer zu den wechselseitig

zugeschriebenen Geltungsansprüchen verlaufen in Bahnen, die durch die semantischen

Implikationen des jeweiligen Inhalts einer Äußerung vorgezeichnet sind. Die Semantik schießt die

Begriffe vor, die diskursiv entfaltet werden. (WR, 145)

Aus der Sicht der Semantik gehen also dem Hantieren mit den Begriffen die (inferentiell

gegliederten) Bedeutungen voraus, aus der Sicht der Pragmatik erhalten die Begriffe ihre

Bedeutung im Hantieren.64 Für Brandom sind diese Perspektiven gleichberechtigt und die

Entscheidung für die eine oder die andere folgt allein methodischen Erwägungen. Aus der

einseitig semantischen Perspektive ließe sich die Erzeugung neuer Begriffsgehalte nicht

erklären. Die pragmatische Perspektive dagegen offenbart das produktive Potential

diskursiver Praxis.

Andererseits ist Brandom zu sehr Pragmatist, als dass ihn ein Bild von der Sprache als ein „Haus des

Diskurses“ überzeugen könnte. Jedenfalls setzt er dem Idealismus einer sprachlichen

Welterschließung, aus dem es für die Mitglieder der jeweiligen Sprachen kein Entrinnen gibt, eine

andere Konzeption entgegen. Er begreift die Diskurspraxis eher als Erzeuger von Begriffen denn als

Geisel eines a priori ererbten Bedeutungswissens. (WR, 145)65

Obwohl es so scheint, dass Pragmatik und Semantik zu gleichen Teilen das Sprachspiel

                                                                                                               64 Zur Veranschaulichung des von Habermas dargestellten Zuammenhangs von Semantik und Pragmatik kann man sich das Gehirn vorstellen. Das neuronale Netz, das die Schaltstellen des Gehirns miteinander verbindet, ist die materiale Voraussetzung dafür, dass wir denken können. Andererseits ist es die Erfordernis des Denkens, dass diese Vernetzung in den ersten Lebensmonaten überhaupt erst entstehen lässt, im weiteren Leben am Wieder-Veröden hindert und es uns weiter ausbauen lässt. In ähnlicher Weise ist die Erfordernis des Sprechhandelns in einer menschliche Gesellschaft die logisch notwendige Bedingung dafür, dass Begriffe Bedeutung erlangen können, während die Begriffe selbst und die in ihnen konvergierenden Bedeutungsketten im aktuellen Fall genealogisch dem Handeln vorausgehen. Brandom betrachtet den Prozess, wie Begriffe in der Praxis des Gebens und Aufnehmens von Gründen Bedeutung erlangen, nicht von einem naturalistischen Standpunkt, sondern einem logisch-begrifflichen Standpunkt. Aus seiner Perspektive begründet die Pragmatik deshalb die Semantik. Er „zäumt das Pferd“ sozusagen „von hinten auf“, indem er vom Ergebnis her – was die Leute mit Begriffen tun – die Voraussetzungen – den Bedeutungsgehalt – bestimmt. 65 Habermas gibt dazu kein Beispiel. Man kann sich aber folgendes vorstellen: In anderen Handlungskontexten und unter veränderten historischen Bedingungen kann derselbe Begriffe durch neue und sogar gegensätzliche Bedeutungen aufgeladen werden. Dies geschieht z.B. wenn diskriminierte Minderheiten die abwertenden Bezeichnungen durch die sie unterdrückende Majorität positiv umkonnotieren und damit den Unterdrückern als Instrument der Erniedrigung entziehen. Aktuell z.B. die „Slut-Walk“-Bewegung junger Frauen, die für ihr Recht eintreten, sich freizügig – wie „Schlampen“/sluts – zu kleiden.

  64

bestimmen würden, ergibt sich, je nachdem für welche Perspektive man sich entscheidet, ein

interpretatorischer Schwerpunkt. Brandom legt seinen Schwerpunkt auf die pragmatische

Perspektive. Der Vorgängigkeit der Pragmatik in logischer Hinsicht wird aus methodischen

Gründen bei Brandom ein Vorrang gegenüber der Semantik eingeräumt, die der diskursiven

Praxis genealogisch vorausgeht. Er plädiert sozusagen für eine Betrachtungsweise, bei der

zuerst die Henne (Praxis) erscheint, die dann das Ei (den begrifflichen Gehalt) legt. Das

Hennen (Praktiken) genealogisch aus Eiern (semantischen Gehalten, mit denen hantiert wird)

schlüpfen und deshalb das Ei vor der Henne hätte existieren müssen, ist ein Aspekt, der ihn

deshalb weniger interessiert, weil er die phänomenologische Perspektive einnimmt. Er will

wissen wie, unter welchen Bedingungen, uns etwas als „Ei“/bedeutungsvoll erscheint – und

welches theoretische Vokabular nötig ist, um die Praktiken, die dieses Erscheinen

begrifflicher Gehalte bewirken (die Praktiken des „Eierlegens“), angemessen zu beschreiben.

Habermas dagegen, der Brandom die Annahme unterstellt, dass aus dem „Amalgam einer

vorprädikativen Weltauslegung […] die diskursive Praxis erst hervor[gehe]“ (WR, 150),

überträgt seine „naturalistische“ Perspektive, die mit einem linearen Zeitbewusstsein

einhergeht, auf Brandom, der diese gar nicht teilt und stattdessen in der geschichtlich-

dialektischen Denkfigur des hegelschen Begriffs denkt, der rückgreifend

(interpretierend/anerkennend) voranschreitet. Diese „vorprädikative Weltauslegung“ oder die

„vorgebahnten Wege zur Realität“ (s.u.) findet Habermas bei Tomasello als „gemeinsamen

begrifflichen Hintergrund“ wieder (der gemeinsame Aufmerksamkeit, geteilte Erfahrung, und

gemeinsames kulturelles Wissen umfasse)66 – in den er Hegels objektiven Geist hineinliest.

Die strukturalistische Lesart Hegels durch Habermas, die der dialektischen Bewegung des

Begriffs nicht Rechnung trägt und rein kausallogisch in der Zeit vorwärts denkt (erst „werden

die Schienen gelegt“/Semantik, dann „kann man auf ihnen fahren“/Pragmatik) ist im Rahmen

meiner Überlegungen zu den Ursachen des Missverständinisss von Brandoms Theorie durch

Habermas wichtig, weil es zeigt, wie Habermas bereits Hegel missversteht und infolgedessen

Brandoms Theorie gar nicht mehr ohne die Brille, durch die er Hegel liest,

unvoreingenommen analysieren kann. Dies macht der folgende Auszug aus seiner Laudatio

für Tomasello anlässlich der Verleihung des Hegel-Preises 2009 sehr deutlich:

In den Jenaer Vorlesungen bringt Hegel die „Medien“ von Werkzeug, Sprache und Familie ins

Spiel, um das falsche Bild einer Kluft zurückzuweisen, die das erkennende, seinen Objekten fremd

und egozentrisch gegenüberstehende Subjekt angeblich erst überbrücken muss. Hegel entwirft

                                                                                                               66 Tomasello, Michael (2011): Die Ursprünge menschlicher Kommunikation. Frankfurt a. Main. S. 15 f.

  65

stattdessen das sozialpragmatische Bild von einem subjektiven Geist, der sich auf symbolisch

vorgebahnten Wegen zur Realität bereits vorfindet. Er bewegt sich immer schon in

Funktionszusammenhängen, die in Werkzeugen objektive Gestalt angenommen haben, immer

schon im Horizont eines sprachlich artikulierten Hintergrundwissens und im eingewöhnten

sozialen Netzwerk gemeinsamer Praktiken. Vorgeprägt durch diesen objektiven Geist eines

kulturellen Milieus, befindet sich der erkennende subjektive Geist von vornherein bei seinem

Anderen. Dieses „Sein beim Anderen“ meint den kognitiven Vorschuss symbolisch verkörperter

Sinnzusammenhänge, von denen die jeweils aktuellen Wahrnehmungen, Urteile, Äußerungen und

Handlungen zehren. (Unterstreichungen durch mich).67

Sprache und diskursive Praktiken seien als Symbolsysteme Formen verobjektivierten

impliziten semantischen Gehalts. Als soziale Praktiken erzeugen sie ein „kulturelles Milieu“ ,

bestehend aus sozialen Institutionen und Praktiken und einer systematische Tradierung

kulturellen Wissens, das Habemas mit dem „objektiven Geist“ Hegels und dem

„gemeinsamen Hintergrund“ bei Tomasello identifiziert. Was Tomasello den „gemeinsamen

Hintergrund“ oder – in Anlehnung an die Arbeiten von Handlungsphilosophen wie Michael

Bratman, Margaret Gilbert, Searle und Raimo Tuomela –„geteilte Intentionalität“ nennt und

was Habermas in Anlehnung an Hegel als das „Sein beim Anderen“ bezeichnet, sei das

Medium in und der Hintergrund vor dem sich Kommunikation vollziehe. Geteilte

Intentionalität umfasse nach Tomasello die Fähigkeit, „mit anderen in kooperativen

Unternehmungen gemeinsame Absichten zu verfolgen und Verpflichtungen einzugehen“.

Diese gemeinsamen Absichten und Verpflichtungen würden durch gemeinsame

Aufmerksamkeit und wechselseitiges Wissen geformt und basierten auf den kooperativen

Motiven, anderen zu helfen und Dinge mit ihnen zu teilen.68 Dies ist sehr im Einklang mit

dem „Telos der Verständigung“ das Habermas als der Sprache – und uns als sprachlichen

Wesen – innewohnend annimmt. Die Dynamik zwischen den Zeitebenen der Gegenwart, der

Vergangenheit und der Zukunft, die in der dialektischen Anerkennungsstruktur der Tradition

bei Brandom zum Ausdruck kommt, geht sowohl Tomasello als auch Habermas ab.

Die Struktur der reziproken Anerkennung, innerhalb welcher der Geist als ganzer zu

Selbstbewusstsein kommt, ist geschichtlicher Art. Es handelt sich um eine Beziehung zwischen

Zeitebenen des Geistes, in welchem die Gegenwart die Autorität der Vergangenheit anerkennt und

umgekehrt Autorität über sie ausübt, wobei ihre Konflikte von der Zukunft ausgehandelt werden.

                                                                                                               67 Habermas, Jürgen (2009): Laudatio für Michael Tomasello, gehalten anlässlich der Verleihung des Hegel-Preises am 16. Dezember 2009 in Stuttgart. S. 5. www.stuttgart.de/img/mdb/item/383875/51478.pdf [25.07.2011] 68 Vgl. Tomasello, Michael (2010): Warum wir kooperieren. Berlin. S. 11

  66

Das ist die Anerkennungsstruktur der Tradition, die die normative Struktur des

Entwicklungsprozesses artikuliert, in welchem Begriffe ihre Gehalte durch Anwendung in der

Erfahrung erwerben […]69

Anerkennung ist mehr als ein „Inbetriebnehmen“ vorgefundener Bedeutungen.

Was Habermas nun nicht ausreichend von Brandom geklärt sieht, ist eben jene „Praxis“

selbst, die bei Brandom als Instanz der Bewährung von Wahrheitsansprüche fungieren solle.

Brandom erkläre nur, wie die Begriffe Bedeutung erlangen würden, so Habermas Kritik, aber

nicht, warum sie deshalb zu Recht für wahr gehalten werden könnten – kurz: warum der

Anspruch auf Wahrheitsgeltung erhoben werden dürfe. (Vgl. WR, 146) Habermas dagegen

sucht nach einer Begründung der Möglichkeit eines Konsenses über den Wahrheitsgehalt

einer Aussage im materialen, nicht-epistemischen und begriffstranszendenten Sinn. Ihm fehlt

bei Brandom eine Bewährungsinstanz für die Wahrheitsgeltung, die für Habermas nur in

einem Bereich liegen kann, der jenseits des „Spielfeldes“ der Sprache ist – in einer objektiven,

vom „Spiel“ unabhängigen Wirklichkeit. Die erfolgreiche Rechtfertigung der

Wahrheitsgeltung mit Bezug auf die objektive Welt geht für Habermas nicht in der

intersubjektiven Rechtfertigung des Richtigkeitsanspruchs auf. Brandom scheint diesem

Problem aus Habermas Sicht Rechnung zu tragen, wenn er den „realistischen Einwand“ (WR,

146) äußert, dass objektiv korrekte Schlüsse sich nur darauf gründen könnten, wie die Dinge

wirklich seien, nicht wie sie uns erschienen:

A semantically adequate notion of correct inference must generate an acceptable notion of

conceptual content. But such a notion must fund the idea of objektive truth conditions and so of

objectively correct inferences. Such proprieties of judgement and inference outrun actual attitudes

of taking or treating judgements as correct. They are determined how things actually are,

independently of how they are taken to be. (ME 2.6.3., 137)

Habermas macht in dieser Äußerung eine Unverträglichkeit von zwei Perspektiven aus: der

phänomenalistischen und der naturalistisch-realistischen. Entweder man beschränke sich

darauf, Kommunikation aus der Innenperspektive zu beschreiben, konzentriere sich ganz auf

das dialogische Geschehen und klammere eine von der Sprache unabhängige objektive Welt

                                                                                                               69 Brandom, Robert B. (1999): Pragmatistische Themen in Hegels Idealismus. Unterhandlung und Verwaltung der Struktur und des Gehalts in Hegels Erklärung begrifflicher Normen. Aus dem Amerikanischen von Reiner Ansén. DZPhil, Berlin 47 (1999), 3, S. 355-381. S. 381.

  67

aus, oder man setze die Prämisse einer objektiven Welt (wie Habermas) und ziehe diese dann

aber auch als Bewährungsinstanz für die Wahrheitsgeltung von Aussagen in die Theorie mit

ein. Unter der ersten Perspektive müsste man sich allerdings davon enthalten (woran

Brandom sich nicht halte), von Wahrheit zu sprechen, denn diese ist für Habermas unbedingt

und muss deshalb einstellungstranszendent sein.

Dieses an die Teilnehmerperspektive gebundene, die Sprachpraxis von innen rekonstruierende

Vorgehen verpflichtet den Analytiker, nicht von Wahrheit und Referenz zu reden, sondern davon,

wie einem Interpreten, der seinen Mitspielen Wahrheitsansprüche und Bezugnahmen zuschreibt,

Wahrheit und Referenz erscheinen. (WR, 146)

In „Wahrheit und Rechtfertigung“ geht es Habermas genau darum, festzustellen, inwiefern

ein Realismus nach der sprachpragmatitischen Wende möglich sein kann, ohne dafür einen

Gottesstandpunkt zu reklamieren, bzw. „einen Blick hinter die Kulissen des menschlichen

Geistes“ zu werfen (WR, 32), von dem aus allein sich beurteilen ließe, ob man das „Ding an

sich“ oder die „Welt an sich“, „wie sie wirklich ist“, nun ausgemacht hätte. Die Lösung

besteht für Habermas darin, die „objektive Welt“ ex negativo zu bestimmen, d.h. als

dasjenige, woran unsere Hypothesen über die Welt in der Praxis scheitern können.

Erkenntnisse seien demnach „Folgen einer intelligenten Verarbeitung performativ erfahrener

Enttäuschungen.“ (WR, 21) So ließen sich Hypothesen an der Welt bewähren, führten aus

dem „Haus der Sprache“ heraus und verbänden uns mit der Welt, ohne dass Sprache deshalb

in Anspruch nehmen müsste, Wirklichkeit abzubilden. Auf diesem Wege kann Habermas

einen schwachen Naturalismus und die realistischen Intuitionen retten. Doch kann Brandom

den realistischen Intuitionen mit seinem Modell auch Rechnung tragen? Dies bezweifelt

Habermas.

Im Folgenden stellt Habermas dar, wie Brandom das von Habermas festgestellten Dilemma

der sich widersprechenden Perspektiven, der phänomenalistischen und der „naturalistischen“,

zu lösen sucht. Zu diesem Zweck vollzieht Habermas nach, wie Brandom von den normativen

Einstellungen der Diskursteilnehmer über die normativen Status ihrer Äußerungen (worauf sie

sich verpflichtet haben und wozu sie berechtigt sind) zur Objektivität des Gehalts ihrer

Äußerungen gelangt. Diesen Prozess fasst er wie folgt zusammen:

  68

Indem einer [ein Diskursteilnehmer] dem anderen eine Behauptung zuschreibt und als korrekt

anerkennt, belehnt er diese Äußerung gleichsam mit einem (als objektiv vermeinten) Gehalt und

richtet für sie den Status einer wahren Behauptung ein. (WR, 147)

Daraufhin fragt sich Habermas, wie Brandom von dem „objektiv vermeinten“ Gehalt zu

einem objektiv wahren Gehalt kommt. Nur dadurch, dass ein Diskursteilnehmer diesen Staus

„einrichtet“? Was ist, wenn dieser sich irrt? Oder wenn sich gar eine ganze

Diskursgemeinschaft irrt? Kann man da noch von einer Wahrheitsgeltung im Sinne von

Objektivität sprechen? – Auf welche Weise Normen bei Brandom zu (wahren) Tatsachen

„werden“ (die für alle bindend sind, die sich auf sie verpflichtet haben, weil sie rational sind)

erklärt Habermas mit Kants Modell der Selbstgesetzgebung: „Der Gesetzgeber handelt

autonom, wenn er sich genau den Normen unterwirft, die er aus Einsicht wählt. Der freie

Wille ist der rationale Wille, der sich durch gute Gründe bestimmen lässt.“ (WR, 148).70

Willensfreiheit bedeute für Kant nicht Gesetzlosigkeit. Vielmehr bestehe die Autonomie des

Menschen in seiner Fähigkeit, seine Freiheit selbst einzuschränken. Diese Selbstbindung fasse

Kant in der Formel des kategorischen Imperativs zusammen. Brandom beziehe sich auf Kant,

indem er erkläre, dass „Our dignity as rational beings consists precisely in being bound only

by rules we endorse, rules we have freely chosen (like Odysseus facing the sirens) to bind

ourselves with.“ (ME 1.5.2., 50) Autonomie und Heteronomie fielen in diesem Akt der

kantischen Selbstgesetzgebung zusammen.

Das Problem, das Habermas hierbei ausmacht, besteht darin, dass genau die vernünftigen

Normen, die durch die Selbstgesetzgebung gestiftet werden (sollen), nur als vernünftig

bestimmt werden können, wenn es bereits einen Maßstab des Vernünftigen gibt. M.a.W.:

„Bevor Diskursteilnehmer als ‚Gesetzgeber’ auftreten, zehren sie ‚immer schon’ von der

normativen Binnenstruktur der Rede.“ (WR, 148). Habermas nimmt die Rede und die

(kommunikative) Rationalität – mit den Griechen gesprochen: den Logos – als gegeben und

vorgängig an. Der Maßstab müsse dem Gemessenen vorausgehen.71 Damit geht er, anders als

                                                                                                               70 Vgl. Kant: „Da der Begriff einer Kausalität den von Gesetzen bei sich führt, […] so ist die Freiheit […] darum doch nicht gar gesetzlos, sondern muss vielmehr eine Kausalität nach unwandelbaren Gesetzen, aber von besonderer Art sein, denn sonst wäre ein freier Wille ein Unding. […] Der Satz aber: der Wille ist in allen Handlungen sich selbst ein Gesetz […] ist aber gerade die Formel des kategorischen Imperativs.“ – Kant, Immanuel (1998): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Frankfurt am Main. S. 81. 71 Andererseits: wenn die Erfordernis des Messens nicht bestünde, gäbe es dann einen Maßstab? Mir scheint, dass es sich bei den Vernunftnormen, die den Maßstab darstellen, und der vernünftigen Normsetzung, die sich an den Vernunftnormen orientiert, es sich wie bei der Henne und dem Ei verhält: solange man kausal fragt, dreht man sich im Kreis. Nur dann, wenn man sich aus methodischen Erwägungen, für eine Perspektive der

  69

Brandom, von der Semantik aus und begründet mit dieser die Pragmatik. Gleichzeitig hält er

beide Perspektien nicht für prinzipiell austauschbar, je nach Fragestellung und methodischer

Erfordernis, sondern weist ihnen unterschiedene Bereiche zu, die er nicht vermischt sehen

will. Während die Semantik kognitive Regeln und deren Einhaltung betreffe (und die Frage

nach der Wahrheitsgeltung), fielen die soziokulturelle Regeln, die das Handeln leiteten, unter

die Pragmatik (und die Frage nach der Richtigkeitsgeltung).

Eine empirische Erklärung, bei der Normen nur durch eine Gemeinschaft, also heteronom,

eingesetzt würden, indem sie korrektes Verhalten belohnt und abweichendes Verhalten

bestraft, sieht Habermas als nicht ausreichend an, um zu erklären, dass wir uns nicht (nur) aus

Angst vor Strafe oder in Erwartung von Lohn Normen unterwerfen, sondern, wie Brandom es

nennt, weil wir von guten Gründen affiziert werden können, d.h. mit Habermas: den

„zwanglosen Zwang“ des besseren Arguments verspüren und ihm auch (sprach-)handelnd

folgen. Wie kommt es aber, dass das, was uns als vernünftig einleuchtet, uns auch als

verpflichtend erscheint? Wie überbrückt Brandom die Kluft zwischen etwas „als richtig

erkennen“ und etwas als „handlungsleitend empfinden und umsetzen“? Habermas hält diese

Kluft für unüberbrückbar, da es sich aus seiner Sicht um zwei getrennte Bereiche handle:

Die Affektion durch Gründe ist aber etwas anderes als eine Verpflichtung durch Normen.

Während Handlungsnormen den Willen von Aktoren binden, lenken Rationalitätsnormen ihren

Geist.“ (WR, 149)

Der Unterschied zwischen beiden Bereichen (mit Kant gesprochen: praktischer und

theoretischer Vernunft) bestehe einmal darin, welchen „Teil“ (?) des Menschen sie affizierten

– Wille oder Geist – und in welchem Maße sie bindend seien. Während Handlungsnormen

nach Habermas Verhaltenserwartungen darstellten, denen man sich nicht entziehen könne,

wenn man ihrer Gültigkeit im rationalen Diskurs zugestimmt habe,72 ist das, was als

                                                                                                               Betrachtung entscheidet, ergibt sich eine Richtung: entweder begründet die Pragmatik die Semantik oder umgekehrt. Brandom blickt von der Pragmatik her, bleibt aber flexibel in seiner Perspektive, da seine Theorie eine funktionalistische ist. Habermas, weil er einen schwachen Naturalismus vertritt, legt sich jedoch auf die Pespektive der Semantik fest. 72 „Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten. […] ,Handlungsnormen’ verstehe ich als zeitlich, sozial und sachlich generalisierte Verhaltenserwartungen. ,Betroffen’ nenne ich jeden, der von den voraussichtlich eintretenden Folgen einer durch Normen geregelten allgemeinen Praxis in seinen Interessen berührt wird. Und ,rationaler Diskurs’ soll jeder Versuch der Verständigung über problematische Geltungsansprüche heißen, solange er unter Kommunikationsbedingungen stattfindet, die innerhalb eines durch illokutionäre Verpflichtungen konstituierten öffentlichen Raums das freie Prozessieren von Themen und Beiträgen, Informationen und, Gründen

  70

vernünftig gelte, nur ein „zwangloses Angebot“ an den Geist des Menschen – das er jedoch

nicht ablehnen kann, wenn er sich selbst als rational verstehen will. Insofern wirken

Rationalitätsnormen regulierend.

Habermas wirft Brandom vor, beide Bereiche zu vermischen, indem er durch einen

„überinklusiven Begriff“ von Normativität Rationalitätsnormen an Handlungsnormen

angleiche. Den Ursprung dieser Neigung, die Bereiche zu vermischen, sieht Habermas in

Brandoms Praxisbegriff, den er von Wittgenstein und Heidegger herleitet. Mit Wittgenstein

teile Brandom die pragmatistische These, dass, weil der Gebrauch eines Wortes seinen

Gehalt bestimme, diejenigen grammatischen Regeln, die die Sprachspiele regelten mit den

Regeln identisch seien, die die Diskurspraktiken der Sprachgemeinschaft regelten. Damit

setzten Brandom und Wittgenstein nach Habermas kognitive und soziokulturelle Regeln in

eins. Mit Heidegger teile Brandom mit Bezug auf die Zeug-Analyse den Vorrang des

Gebrauchs der Dinge, ihre Zuhandenheit, vor dem theoretischen Zugang zu ihnen, ihrer

Vorhandenheit. Zugleich teile er Heideggers holistischen Ansatz, nach welchem die Dinge

innerhalb einer und mit Bezug auf eine Praxisstruktur benannt würden. Demnach erschließe

sich das, was etwas sei, aus seinem Wozu. Auf die Frage, wie uns die Welt erscheine, gäben

Wittgenstein und Heidegger je eine sprachphilosophische bzw. eine ontologische Antwort.

Gemeinsam sei beiden der pragmatische Ansatz. Brandom teile mit beiden diesen Ansatz,

grenze sich aber auch von beiden ab: einmal von Wittgensteins Kontextualismus, indem er–

so Habermas – die Idee einer objektiven Welt als Bestandteil diskursiver Praktiken

voraussetze und von Heidegeger, insofern er das Vorhandene als das Explizitgemachte

aufwerte73 und der sozialen Praxis und ihren internen Funktionszusammenhängen einen

Vorrang vor den Bewandniszusammenhängen der zuhandenen Dinge oder des „Zeugs“ in der

geteilten Lebenswelt gewähre. Dies habe Auswirkungen darauf, wie die Teilnehmer an der

sozialen Praxis geneigt seien, auf ähnliche Reize gleich zu „antworten“:

Beim Einzelnen schlägt sich dieses vorprädikative Weltverständnis in Dispositionen nieder, auf

ähnliche Stimuli in der gleiche Weise zu „antworten“ wie die anderen. Die Mitglieder einer

Sprachgemeinschaft „instituieren“ also Bedeutungen dadurch, dass sie ihre typisierten Antworten

                                                                                                               ermöglichen.“– Habermas, Jürgen (1992): Faktizität und Geltung. Frankfurt a.M. S.138.f. 73 Habermas weist hier auf eine Aufsatz von Brandom zu Heidegger hin, in welchem er erklärt: „Die Aussage und die sie ermöglichende Praxis des Gebens und Forderns von Gründen sind selbst eine besondere Art praktischer Aktivität. Auf etwas mit einer Aussage über es zu antworten bedeutet, es als Vorhandenes zu behandeln.“ – Brandom, Robert B. (1997): „Heideggers Kategorien in ’Sein und Zeit‘“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie , Bd. 45/4 , Berlin. S. 546.

  71

wechselseitig als „geeignet und angemessen“ anerkennen. Damit verbindet sich die epistemische

Autorität der Mitglieder mit der sozialen Autorität der Gemeinschaft.“ (WR, 150)

Die Wechselwirkung der Einstellungen der einzelnen Mitgieder einer Sprachgemeinschaft

untereinander erzeuge durch gegenseitige exponentielle Verstärkung eine

Gruppeneinstellung, die sich in Regeln der kommunikativen Interaktion niederschlage, die

„von außen“ wieder auf die Einzelnen zurückwirke und damit schrittweise eine sprachliche

Vergesellschaftung erzeuge. Während, wie oben erwähnt, eine empirische Erklärung wie das

Lohn-Strafe-Modell nicht ausreiche, um die Wirkungsmacht von Normen auf unser Handeln

zu erklären, überbrücke das Modell von Brandom die Kluft zwischen etwas „als richtig

erkennen“ und etwas als „handlungsleitend empfinden und umsetzen“, indem es die

individuelle epistemische mit der kollektiven sozialen Autorität miteinander verschränke.

Wichtig ist Habermas Wortwahl bzgl. akzeptierter „Antworten“ in solch einem

gesellschaftlichen Diskurs, denn „geeignet und angemessen“ bedeutet richtig oder der

Konvention entsprechend – aber nicht notwendig wahr, d.h. mit Referenz zu einer objektiven

Wirklichkeit; soziale und rationale Geltung sind nicht dasselbe. Was wahr im Sinne von

„wirklich“ ist, das ist für Brandom das Explizitgemachte oder Vorhandene innerhalb des

Diskurses – ein fact oder eine Tatsache: „Auf etwas mit einer Aussage zu antworten bedeutet,

es als Vorhandenes zu behandeln“.74 In diesem Sinne seien Tatsachen für Brandom „wahre

Behauptungen“ (true claims), d.h. Aussagen, auf die wir mit der Stellungsnahme antworten:

„Das ist (auch aus meiner Perspektive) wahr“. Habermas beschreibt diesen Prozess wie folgt:

„Die konstative Rede [ein Behauptungssatz] entzieht zuhandene Dinge dem

Interessenzusammenhang praktischer Vorhaben [in der sozialen Welt] und holt sie als

vorhandene [objektive] Gegenstände, von denen Tatsachen ausgesagt werden können [die

wahr oder falsch sind], in den diskursiven Zusammenhang des schlussfolgernden Denkens

ein.“ (WR, 151)

Nun kehre ich nocheinmal zur Verschränkung von epistemischer individueller und kollektiver

sozialer Autorität zurück. Hier stellt Habermas ein Problem fest: Selbst wenn sich alle

Mitglieder über die Richtigkeit einer Feststellung seien sind, könnten sie sich doch irren. Die

Frage nach der Wahrheit einer Aussage wird deshalb an den Einzelnen zurückverwiesen.

Auch Brandom formuliert dies Problem:                                                                                                                74 Ebd.

  72

This means that although the inferentialist order of explanation may start with inferences that are

correct in the sense hat they are accepted in the practice of a community, it cannot end there. It

must somehow move beyond this sense of correctness if it is to reach a notion of propositional

conceptual content recognizable as that expressed by our ordinary empirical claims and possessed

by our ordinary empirical beliefs. (ME 2.3.6., 137)

Unsere starken realistischen Intuitionen stehen im Kontrast zu dem vergleichsweise

schwachen Konsens über die Richtigkeit der Verwendung eines Begriffs.

How can normative attitudes of taking or treating applications of concepts as correct or incorrect

institute normative statuses that transcend those attitudes in the sense that the instituting attitudes

can be assessed according to those instituted norms and found wanting? (ebd.)

Brandom fragt sich, von welchem Standpunkt aus die Richtigkeit der Einstellung, die ein

Interaktionspartner zu einer Äußerung eines anderen einnimmt (Zustimmung =

wahr/Ablehnung = falsch), beurteilt werden könnte. Oder, mit Habermas:

Wie [kann] einer Äußerung, deren Status von der Zuschreibung und Beurteilung einer Interpeten

abhängt, ein objektiver Gehalt zukommen […], der gegebenenfalls über das hinausreicht, was

Interpreten jeweils wissen und tun? (WR, 151)

Mit Bezug auf Brandoms eigene Frage, stellt Habermas nun fest, dass Brandom offenbar trotz

seines phänomenalistischen Vorgehens realistischen Intuitionen Genüge tun wolle. Mit dieser

Unterstellung verortet er Brandom in einem von Habermas diagnostizierten typischen

Dilemma nach dem linguistic turn. Demnach seien Sprache und Realität derart ineinander

verschlungen, dass das, was wirklich sei nur mit Rekurs auf das, was wahr sei zu erklären

wäre und andererseits aber die Wahrheit eines Satzes nur durch andere Sätze begründet oder

widerlegt werden könne, so dass ein objektives Urteil über die Wahrheit einer Aussage nicht

mehr getroffen werden könne. Dies sei eine „Not“, ein Mangel, auch, wenn der Pragmatismus

aus dieser Not eine Tugend gemacht hätte. Sich in die phänomenalistische Perspektive zu

„flüchten“, aus der wahr ist, was einem als wahr erscheint, ist für Habermas keine Löung des

Dilemmas.

Habermas spricht dabei vom Verhältnis von „Sprache“ und „Realität“ als ob es sich um zwei

Welten handle: eine intersubjektive und objektive Welt, die sich aneinander reiben würden

und die die Philosophen, die ein Außerhalb der Sprache ausschlössen, in Widersprüche

  73

verstricken würden. Habermas dagegen will den „Bannkreis der Sprache“ (WR, 152)

durchbrechen. Er sucht einen „Ausgang“ zur Welt und einen Anker für die Ansprüche auf

Wahrheitsgeltung. Stößt man aber schon auf „Welt“, wenn man auf Widerspruch im Diskurs

stößt, oder erst, wenn man auf Widerstand im Handeln oder auf eine widersprechenden

Wahrnehmung stößt? Habermas favorisiert eindeutig das zweite Modell. Durch

Wahrnehmung gerechtfertige Aussagen, z.B. „alle Schwäne sind weiß“, sind nur solange

„wahr“, bis ein empirischer Gegenbeweis (ein schwarzer Schwan) erbracht wird.

Gerechtfertigte Aussagen können deshalb nur Richtigkeitsgeltung, nicht Wahrheitsgeltung

beanspruchen. Dass empirische Beweise überhaupt als Vetomacht oder Regressstopper (auch

von Brandom) zugelassen werden, zeige, so Habermas, dass wir de facto die realistische

Intuition teilten, dass es eine objektive Welt gebe, die unabhängig von uns existiere und die

für alle ein und dieselbe Welt sei, insofern sie den gemeinsamen Bezugspunkt darstelle, auf

den hin wir Ansprüche auf Wahrheitsgeltung bzgl. der Tatsachen, die wir über sie aussagen,

erhöben. (Vgl. WR, 153)

Wir unterstellen also sowohl die Existenz möglicher Gegenstände, von denen wir Tatsachen aussagen

können, wie auch die Kommensurabilität unserer Bezugssysteme, die uns erlaubt, unter verschiedenen

Beschreibungen dieselben Objekte wiederzuerkennen. (WR, 153)

Brandom teile nur scheinbar, so Habermas, die Prämisse einer für alle identischen Welt,

welche die objektive Grundlage unserer normativen Einstellungen sei, um so einem

Relativismus zu vermeiden, sehe aber andererseits den Widerstand der Welt, die sie uns im

Handeln entgegensetze, nicht als Anlass, um aus dem Scheitern von Handlungen an den

kontingenten Gegebenheiten der Welt zu lernen, indem man sich darüber verständigt. Dies

liegt daran, dass seine Form des „Realismus“ eigentlich ein metaphysischer Begriffsrealismus

sei.

Brandom rettet die realistischen Intuitionen nicht durch eine Rekurs auf die kontingenten

Beschränkungen einer als unabhängig und identisch unterstellten Welt, die die Diskursteilnehmer

verarbeiten, indem sie ihre konstruktiv entworfenen Interpretationen von Zuständen und

Ereignissen mit der praktisch erfahrenen Kontingenz entäuschter Konfrontationen in Einklang

bringen. Er begreift die Welt […] überhaupt nicht nominalisitisch, sondern […] „realistisch“,

wenn man den Ausdruck anders als im modernen Erkenntnisrealismus im Sinne eines

metaphysischen Begriffsrealismus verwendet. Brandom sieht nämlich die Objektivivtät unserer

  74

Begriffe und materialen Schlussregeln in einer an sich begrifflich strukturierten Welt verankert.

(WR, 165 f.)

Diese Haltung erscheint Habermas, als Vertreter des nachmetaphysischen Denkens,

inkonsistent. Im Folgenden versucht er sie sich deshalb zu erklären.

In der Tat hat Habermas an diesem Punkt Brandom aber bereits verlassen, denn bei Brandom

impliziert das Zulassen von Erfahrungsgründen als Regressstopper nicht die Annahme einer

objektiven Welt im Sinne von Habermas (einer Welt, die unabhängig von den Aussagen über

sie existiert, für alle gleich ist und damit dem Universalismusanspruch der Wahrheitgeltung

gerecht werden würde. Dass die „Dinge“ Autorität über die Begriffe ausüben könnten,

bedeutet für Brandom nicht, dass sinnliche Wahrnehmungen eine „Vetogewalt gegenüber

ungeeigneten semantischen Regeln“ (WR, 160) hätten:

Begriffe, verstanden als inferentielle Rollen von Ausdrücken, fungieren nicht als epistemologische

Vermittlungsinstanzen zwischen uns und dem, was sie unter Begriffe bringen. Nicht, weil es keine

Kausalordnung aus Einzeldingen gäbe, die den Inhalt des Denkens liefern, sondern weil diese

selbst durch und durch begrifflich aufgefasst werden und nicht im Gegensatz zum Begrifflichen.

(EV 9.1.2., 862)

Brandom leugnet in der Tat keine Welt der „Einzeldinge“, die in kausalen Verhältnissen

zueinander stehen würden, aber diese „Dinge“ sind nicht ontologisch definiert, sondern als

etwas, „auf das Begriffe angewendet werden“ (im Gegensatz zu Menschen, die Begriffe

anwenden). Diese „Dinge“ sind damit durch ihre Rolle im Spiel des Gebens und Nehmens

von Gründen, innerhalb der Sprache, definiert. Die „objektive Welt“, die sie konstituieren, ist

deshalb nichts anderes als diese Praxis selbst. Diese „Dinge“ liefern wohl den Gehalt der

Begriffe und man ist geneigt, in einem Stoff-Form-Dualismus zu denken. Damit liegt man

aber falsch, da der Gehalt der Begriffe selbst schon begrifflich gegliedert in dem Sinne ist,

dass er Regeln unterliegt. Das Unterworfensein unter Notwendigkeiten verbindet die „Wesen,

die Begriffe anwenden“ und die „Dinge“ auf die Begriffe angewendet werden: bei den

Menschen nennt man es Geschichte oder Normen, bei den „Dingen“ Natur oder

Regelhaftigkeit. (Vgl. BB, 42; EV 9.1.2., 864). Der Begriff als geregelte Praxis steht im

Zentrum und bestimmt sowohl die Akteure als auch das, womit sie hantieren. So wie es für

Kant, für den Begriffe und Normen identisch sind, kein Reich außerhalb des Normativen gibt,

da Regeln überall gelten, so gibt es für Brandom keine andere Welt als eine begrifflich

  75

gegliederte, „denn das Unbestimmte ist Nichts für den Verstand und endet im Nichts.“

(Hegel).75 So muss man Brandoms Zitat von Hegel verstehen, dass demjenigen, der die Welt

rational betrachte, d.h. Begriffe auf sie anwende, diese Welt auch als begrifflich gegliederte

erscheine („On he who looks rationally on the world, the world looks rationally back“). Nur

unter diesem Blickwinkel erscheinen „Denken und Welt als gleichermaßen und in den

bevorzugten Fällen als identisch begrifflich gegliedert […]“ (EV 9.1.2., 862). Die Perspektive

des Begrifflichen erzeugt eine Strukturverwandtschaft zwischen „Subjekt“ und „Objekt“, die

Brandom, in Anlehnung an Hegel, zu der scheinbar objektiv-idealistischen These führt, „dass

die Struktur und Einheit des Begriffs die gleichen sind wie Struktur und Einheit des Selbst.“

Entsprechend seien Begriffe am besten „nach dem Modell des Selbst zu verstehen.“76

Wenn Habermas aus diesen Aussagen, die lediglich von einer Strukturanalogie im Rahmen

eines bestimmten methodischen Vorgehens sprechen, schließt, dass Brandom damit sagen

wolle, dass „sowohl unsere diskursiv gewonnenen Gedanken wie die in Gedanken gefasste

Welt, von Haus aus begrifflicher Natur, also aus demselben Stoff gemacht seien“ (WR, 166),

so zeigt das nur, dass er Brandom nicht verstanden hat. Es ist geradezu paradox, mit dem

Begriffsdualismus von Stoff und Form an Brandoms Konzept heranzugehen, der sich so sehr

Hegel verpflichtet fühlt (und diese Verpflichtung auch einlöst), dessen Anliegen es war, die

zu Gegensätzen erstarrten Dualismen von Stoff und Form zu überwinden! Denken und Welt

stehen bei Hegel und Brandom einander nicht getrennt durch eine Kluft gegenüber, sondern

sind als „notwendige Entzweiung“ ein Faktor des Lebens, das ewig entgegensetzend sich

bildet, und die Totalität ist in der höchsten Lebendigkeit nur durch Wiederherstellung aus der

höchsten Trennung möglich.77 Eine Unterscheidung werde dann zum Dualismus, so Brandom,

wenn ihre Bestandteile so unterschieden würden, dass ihre charakteristische Beziehung

zueinander letztlich unverständlich werde. (Vgl. EV 2000, 852) Brandom dagegen möchte

eine „Geschichte zu erzählen“, die erklären soll, „warum wir uns von dem Nicht-Wir, das uns

umgibt, sowohl unterscheiden als auch zu ihm in Beziehung stehen.“ (EV 9.1.1., 867). Diese

gleichzeitige Einheit und Geschiedenheit erleben wir jedesmal, wenn wir die grundlegende

Frage stellen, die Brandom an Anfang und Ende der „Expressiven Vernunft“ gesetzt hat:

Wann behandeln wir etwas als zu uns gehörig? – Wir sind umgeben von einer Welt aus Nicht-                                                                                                                75 Hegel, G.W.F. (61986). S. 26. 76 Brandom, Robert B. (1999): Pragmatistische Themen in Hegels Idealismus. Unterhandlung und Verwaltung der Struktur und des Gehalts in Hegels Erklärung begrifflicher Normen. Aus em Amerikanischen von Reiner Ansén. DZPhil, Berlin 47 (1999), 3, S. 355-381. S. 355. [PT] 77 Hegel, G.W.F. (61986): Werke in 20 Bänden mit Registerband, Bd. 2: Jenaer Schriften 1801-1807. Frankfurt/M., S. 21-22.

  76

Wir, von dem wir herausfinden wollen, ob und wie es zu uns Begriffeverwendern dazugehört,

an unserer Praxis teilhat. Als intentionale Wesen nehmen wir immer schon eine intentionale

Einstellung zu allem ein, was uns begegnet. Selbst einfachen intentionalen Systemen wie

Messgeräten oder Computern gegenüber. Die Methode, um den „Graben“ zwischen Wir und

Nicht-Wir zu überwinden ist die dialektische Methode. Sie besteht nach Hegel darin „das

Gewordensein der intellektuellen und reellen Welt als ein Werden, ihr Sein als Produkte als

ein Produzieren zu begreifen“:

Es ist insofern eine Zufälligkeit, aber unter der gegebenen Entzweiung der notwendige Versuch,

die Entgegensetzung der festgewordenen Subjektivität und Objektivität aufzuheben und das

Gewordensein der intellektuellen und reellen Welt als ein Werden, ihr Sein als Produkte als ein

Produzieren zu begreifen. In der unendlichen Tätigkeit des Werdens und Produzierens hat die

Vernunft das, was getrennt war, vereinigt.78

„Sie als uns anzuerkennen“ („recognizing them as us“ (ME 9.3.3., 644), das gemeinsame Wir-

Sagen im interpretativen Gleichgewicht zwischen Interpretierenden und Interpretierten stellt

bei Brandom genau diese rationale Tätigkeit des Produzierens begrifflicher Gehalte dar, die

die produktive Entgegensetzung von Subjekt und Objekt bewahrt aber sie weder in einen

Begriffsrealismus noch einen Idealismus überführt, die beide Formen eines statischen

Monismus sind. Brandom solches zu unterstellen bedeutet, dass man die von ihm verwendete

dialektische Methode ontologisch liest. Wenn bei Hegel oder Brandom von der „Einheit von

sinnlicher und intellektueller Welt“ die Rede ist, so handelt es sich um eine Einheit, die über

eine Praxis vermittelt ist, keine ontologische Einheit. Hier kommt wieder der Begriff des

„Absoluten Wissens“ ins Spiel, der bei der Analyse von Brandoms Kommunikationsbegriff so

wichtig war. Mit den Worten Hegels:

Diese bewusste Identität des Endlichen und der Unendlichkeit, die Vereinigung beider Welten, der

sinnlichen und der intellektuellen, der notwendigen und der freien, im Bewusstsein ist Wissen. Die

Reflexion als Vermögen des Endlichen und das ihr entgegengesetzte Unendliche sind in der

Vernunft synthetisiert, deren Unendlichkeit das Endliche in sich fasst.79

Das Wissen oder soziale Selbstbewusstsein ist ein explizites Wissen um das Wie der

gemeinsamen Praxis der Begriffsverwendung. Da diese Praxis als Anerkennungspraxis

                                                                                                               78 Ebd. 79 Hegel, G.W.F. (61986). S. 27-28. Hervorhebungen durch mich.

  77

sowohl synchron als auch diachron, über die Generationen hinweg, stattfindet und als solche

geschichtlich ist, scheitert jedes Modell, dass diese Prozesse beschreiben will, wenn es das

zeitliche Moment nicht berücksichtigt. Die dialektische Figur beschreibt ein Zurückgehen, um

fortzuschreiten.

Indem der Begriff das eigene Selbst des Gegenstands ist, das sich als sein Werden darstellt, ist es

nicht ein ruhendes Subjekt, das unbewegt die Akzidenzien trägt, sondern der sich bewegende und

seine Bestimmungen in sich zurücknehmende Begriff. (PhdG)80

Die Struktur der reziproken Anerkennung, innerhalb welcher der Geist als ganzer zu

Selbstbewusstsein kommt, ist geschichtlicher Art. Es handelt sich um eine Beziehung zwischen

Zeitebenen des Geistes, in welchem die Gegenwart die Autorität der Vergangenheit anerkennt und

umgekehrt Autorität über sie ausübt, wobei ihre Konflikte von der Zukunft ausgehandelt werden.

Das ist die Anerkennungsstruktur der Tradition, die die normative Struktur des

Entwicklungsprozesses artikuliert, in welchem Begriffe ihre Gehalte durch Anwendung in der

Erfahrung erwerben […] Indem man diese Struktur explizit macht, gelangt man zu jener Art von

Selbstbewusstsein, die Hegel „Absolutes Wissen“ nennt, und von dem ich hier einige Umrisse

nachzeichnen wollte.81

Was Brandom beschreibt ist die Struktur dieser Bewegung des Begriffs als ein Geben und

Nehmen von Gründen in der Gestalt wechselseitiger Interpretation oder deontischer

Kontoführung. Habermas „Diagnose“ eines metaphysischen Begriffsrealismus, dass Brandom

die Objektivität unserer Begriffe und materialen Schlussregeln in einer an sich begrifflich

strukturierten Welt verankert sehe (vgl. WR, 165 f.), ist an sich nicht falsch. Nur beschreibt

sie eine Strukturanalogie als ein Verhältnis von zwei Welten: einer Welt der Begriffe und

einer „an-sich-seienden“ Welt, von Brandom behaupten würde, sie wäre begrifflich

gegliedert. diese „an-sich-seiende“ Welt existiert aber weder bei Hegel noch bei Brandom je

unabhängig von dem sie setzenden Subjekt. Das Ziel bei Brandom und Hegel ist

[d]ie Vereinigung beider Seiten […] welche diese Reihe der Gestaltungen des Geistes beschließt;

denn in ihr kommt der Geist dazu, sich zu wissen nicht nur wie er an sich , oder nach seinem

absoluten Inhalte, noch wie er für sich nach seiner inhaltslosen Form oder nach der Seite des

Selbstbewusstseins, sondern wie er an und für sich ist. (PhdG, 520)

                                                                                                               80 Hegel, G.W.F. (1988): Phänomenologie des Geistes. Hamburg. S. 45. 81 Brandom, Robert B. (1999): Pragmatistische Themen in Hegels Idealismus. Unterhandlung und Verwaltung der Struktur und des Gehalts in Hegels Erklärung begrifflicher Normen. Aus dem Amerikanischen von Reiner Ansén. DZPhil, Berlin 47 (1999), 3, S. 355-381. S. 381.

  78

Doch zurück zu Habermas Kritik an Brandom Kommunikationsbegriff – auch wenn wir nun

festgestellt haben, dass diese Kritik Brandom eigentlich gar nicht mehr treffen kann, weil er

gar keinen Begriffsrealismus vertritt. Wie nehmen also an, das Habermas recht hätte und

untersuchen die möglichen Folgen eines Begriffsrealismus für das Verständnis menschlicher

Kommunikation. Das zentrale Problem des angenommenen Begriffsrealismus besteht darin,

dass er eine Form des Mentalismus darstellt, der eine objektive Welt und die Anderen als

Gesprächspartner für das Verstehen irrelevant macht. Ein solches Konzept hat deshalb kein

gesellschaftskritisches und damit progressives Potential mehr. Deshalb muss Habermas, als

kritischer Soziologe, es ablehnen. Ein solches Modell erscheint geradezu „langweilig“: weder

für den Einzelnen noch die Diskursgemeinschaft gibt es etwas Neues zu erkennen oder zu

erarbeiten und keiner ist wirklich verantwortlich, denn alle sind nur Ausführende oder

„Besonderungen“ der Selbstbewegung des Begriffs oder des „Allgemeinen“.

Die Annahme einer im ganzen begrifflich strukturierte Welt entlastet die endlichen und falliblen

menschliche Geist in gewisser Weise von der konstruktiven Anstrengung, in eigenen Begriffen

Interpretationen vom Geschehen in der Welt zu erzeugen. […] An die Stelle der „Anstrengung des

Begriffs“, die sonst eine Sache des kooperativen Lernens einer konsruktiv verfahrenden

Kommunikationsgemeinschaft wäre, tritt die „Bewegung des Begriffs“, die sich durch

erfahrungsvermittelte Diskurse hindurch, aber über die Köpfe der meisten Diskursteilnehmer

hinweg vollzieht. Dieser Objektivismus entkleidet die Diskursgemeinschaft der epistemischen

Autorität (wie auch der moralische Autonomie) […] (WR, 172)

Diese rechtshegelianische Lesart Hegels deutet den Begriff oder das Absolute als

Bewusstsein, als quasi transzendentales absolutes „Subjekt“, nicht als Vernunfttätigkeit, die

sich intersubjektiv in kommunikationsimmanenten Anerkennungsprozessen vollzieht. Gegen

diese Lesart grenzt sich Brandom in „Reconciling Two Heroes“ explizit ab.82 Wer Hegel so

lese, verkenne, dass der hegelsche „Geist“ nicht durch mentale Reflexion, sondern durch

soziale Anerkennungsprozesse – die in Ich-Du-Dyaden sich ereigneten und von dort aus

vergesellschaftend nach außen wirkten – zum Bewusstsein als an und für sich Seiendes

gelange. Da Habermas aus seiner Lesart Hegels aber nicht herauskann, erscheint ihm die

Gründung des deontischen Kontoführens auf die Interpretationspraktiken zwischen einer

ersten und zweiten Person bei Brandom unglaubwürdig. „Was er „Ich-Du-Beziehungen‘

                                                                                                               82 Vgl.: Brandom, Robert B. (2009): Towards Reconciling Two Heroes: Habermas and Hegel. Conference on the Philosophy of Jürgen Habermas, University of Pécs, Pécs, Ungarn, 18. - 19. Mai 2009. [RH] S. 10.

  79

nennt, konsruiert er nämlich tatsächlich als die Beziehung zwische einer ersten Person, die

Geltungsansprüche erhebt, n deiner dritte Person, die dem anderen Geltungsansprüche

zuschreibt.“ (WR, 173) Wie Habermas die deontische Kontoführung liest, gehe es einem

Sprecher nur darum einem Interpreten „zu verstehen zu geben“, dass er ,p‘ für wahr halte.

Dem hält Habermas entgegen, dass dies nicht der alleinige Grund für das Eintreten des

Sprechers in die Kommunikation mit einem Anderen gewesen sein könne. Ein Sprecher wolle

„nicht nur richtig verstanden werden, sondern sich mit jemandem über ,p‘ verständigen.“

(WR, 176) M.a.W.: Er will, dass der andere den Wahrheitsanspruch, den er mit der

Behauptung „das p“ erhoben hat, vom anderen anerkannt wird. Das bedeutet auch, dass er

von ihm eine Antwort erwartet und nicht nur die Zuschreibung eines Geltungsanspruchs.

Wahrheitsansprüche seien deshalb, so Habermas, grundsätzlich auf intersubjektive

Anerkennung angelegt und Verständigung würde als Ziel jeder Kommunikation innewohnen.

Diese „Pointe sprachlicher Verständigung“ (WR, 175) würde Brandoms Modell der

Kommunikation als deontischem Kontoführen deshalb entgehen.

Zusammenfassung

Habermas begreift Brandoms Ansatz zur Sprachpragmatik im Ganzen als einen Weg von

Kant zu Hegel, d.h. einen Weg, der bei Kants Autonomiebegriff und der Selbstbindung des

eigenen Wollens durch rationale Gründe beginnt, dann die Praktiken beschreibt, „in denen

sich die Vernunft und Autonomie sprach- und handlungsfähiger Subjekte äußern“ (WR, 138),

um über die Angleichung von Tatsachen und Normen, theoretischer und praktischer Vernunft,

im Medium des Rationalen – das Brandom als per se normativ verstehe – zu einem

hegelianischen rationalen Monismus zu gelangen (vgl. WR, 182). Diese Entwicklung ist für

Habermas, der selbst einen kantischen Pragmatismus vertritt, in sich widersprüchlich. Kant

und Hegel, pragmatischer Kantianismus und objektiver Idealismus, sind für ihn unvereinbar.

Und dass Brandom, dessen Ansatz er als „Meilenstein in der theoretischen Philosophie“

ansonsten hoch schätzt, sich in diesen Widerspruch verstrickt hat, lastet er einem

Missverständnis von Kants Pragmatismus und der methodischen Entscheidung Brandoms

zugunsten einer phänomenologischen Herangehensweise an.

Das unterstellte Missverständnis betrifft – um es mit den habermas’schen Schlagwörtern zu

benennen – die Vermischung von Wahrheit und Rechtfertigung: d.h. dem, was

Kommunikationsteilnehmer behaupten dürfen, weil es wahr ist und dem, was sie tun sollen

  80

und wofür sie sich rechtfertigen müssen, wenn sie es nicht tun. Denn was wir tun sollen, ließe

sich nach Habermas nicht mit Tatsachen, sondern nur mit Werten „begründen“, d.h.

rechtfertigen.83 Die methodische Entscheidung für einen „Individualismus“, nach welchem

„die Diskurspraxis auf der Grundlage wechselseitiger Beobachtungen aus Schlussfolgerungen

hervor[gehe], die individuelle Teilnehmer, ein jeder für sich“ vornähmen (vgl. WR, 177),

führe Brandom deshalb notwendig zu einem Begriffsrealismus, weil er sowohl die

naturalistische als auch die pragmatistische Alternative, um Lernprozesse an den

Schnittstellen von Sprache und Welt im Wahrnehmen und Handeln zu erklären, ausschlage

(WR 162). Weder erkläre er die „realistischen Intuitionen“ mit Bezug auf eine objektiv

existierende Welt, noch könne er Lernen als Auseinandersetzung mit der Vetomacht der

Wahrnehmungen beschreiben.

Habermas seinerseits möchte mit seiner Kritik sozusagen einen Ausweg aus der Sackgasse

weisen, in die sich Brandom angeblich aufgrund seiner methodischen Entscheidungen

manövriert hätte, und zwar durch eine „Rückwendung“ von Hegel zu Kant, die aus Habermas

Sicht allein zukunftsweisend sei. Brandoms Neohegelianismus dagegen verurteilt Habermas

als nicht mehr zeitgemäß: im Zeitalter des nachmetaphysischen Denkens sei es unmöglich

geworden, einen Standpunkt außerhalb unserer Sprache einzunehmen „um gegebenenfalls

erkennen zu können, dass sich in den Strukturen unseres Weltverständnisses Strukturen der

Welt widerspiegeln, die aus demselben Stoff gemacht sind wie unsere Begriffe“ (WR, 171,

167). Metaphysik und Hegel, der einen letzten quasi-metaphysischen Ansatz mit seinem

„Geistmonismus“ (?) vertrat, sind für Habermas gleichermaßen anachronistisch.

                                                                                                               83„Eine Rechtfertigung der normativen Erwartung, dass Bankangestellte einen Schlips tragen sollen, wird sich […] weniger auf Tatsachenargumente als auf ‚starke Wertungen’ stützen, besispielsweise auf den Zusammenhang zwishen bestimmten Kleidungsvorschriften und jenen Wertorienierungen, die Mitglieder einer bürgerlichen Kultur aus ihrer Perspektive mit der vetrauenswürdigen Handhabung von Geldgeschäften verbinden“ (WR, 184).

  81

4. Brandoms Erwiderung auf Habermas

Brandom nimmt in seinem Artikel „Facts, Norms, and Normative Facts: A Reply to

Habermas“ [FN] zu Habermas Einwänden Stellung, die dieser im European Journal of

Philosophy gegen ihn vorgebracht hatte.84 Der Hauptvorwurf betraf, wie das letzte Kapitel

gezeigt hat, die fehlende Berücksichtigung der Rolle der zweiten Person in der

Kommunikation. Insbesondere nimmt Brandom Bezug auf die Passage, in der Habermas von

dessen Modell von Kommunikation behauptet, dass es

den Interpreten vorzugsweise mit einem Publikum gleichsetzt, das die Äußerung eines Sprechers

beurteilt – und nicht mit einem Adressaten, von dem erwartet wird, dass er dem Sprecher eine

Antwort gibt. Jede Runde eine neuen Diskurses wird mit einer Zuschreibung eröffnet, die der

Interpret aus der Beobachterperspektive einer dritten Person vornimmt. (WR, 174)

Im ganzen findet er diese Beurteilung zutreffend, wendet aber ein, dass sein Modell als ein

handlungstheoretisches Modell von Kommunikation doch über bloß passive Beobachtung aus

der Perspektive einer dritten Person hinausgehe. Schließlich fordere die Infragestellung einer

Behauptung durch einen anderen den Sprecher heraus, diese zu rechtfertigen. Mithin stellt

Kommunikation in der Tat bei Brandom mehr dar, als ein „selbstgenügsames Spiel, womit

sich die Partner gegenseitig über ihre Meinungen und Absichten informieren.“ (WR, 175). Es

handelt sich um ein Spiel, bei dem sich die Partner nicht nur gegenseitig „Gründe geben“,

sondern eben auch voneinander einfordern können.

Auf der semantischen Seite gehe sein Modell, so Brandom, über das bloße asymmetrische

Beobachten insofern hinaus, als die Beziehung zwischen demjenigen, der eine (insbesondere

doxastische) Festlegung zuweist – „Er behauptet, dass (zuerst das Ei da war)“ – und

demjenigen, der sie eingeht, indem er sie anerkennt – „Ich stehe dazu, dass das Ei zuerst da

war, (weil sonst kein Huhn hätte schlüpfen können)“ – symmetrisch ist, d.h. dass keine

Perspektive privilegiert ist. Wessen Behauptungen oder Begriffsanwendungen autoritativ

seien, müsse in „mühsamer Kleinarbeit“ ausgehandelt werden: „Es gibt nur die tatsächliche

Praxis des Prüfens, wer im Einzelfall die besseren Gründe hat.“ (vgl. EV/8.6.4, 834)

                                                                                                               84 Brandom, Robert B. (2000): Facts, Norms and normative Facts: A Reply to Habermas. European Journal of Philosophy 8/3 (2000), 356-374. [FN]

  82

(Aus der Comis-Serie „Touché“, vom Zeichner Thomas Körner alias ©TOM)85

Das Wesen von Kommunikation sieht Brandom in der Fähigkeit, über die Differenz zwischen

den sozialen Perspektiven der Kommunikationspartner hin- und her zu navigieren, die durch

ihre Überzeugungen und Hintergrundfestlegungen jeweils doxastisch und inferentiell

determiniert sind. Dabei bestehe das Ziel nicht nur darin, wie Habermas unterstellt,

Informationen vom anderen zu bekommen, indem man ermittelt, worüber der andere spricht,

sondern auch, indem man versucht, die Welt aus desssen Perspektive zu sehen – um ermitteln

zu können, was er sagt. Denn der gleiche Satz (das Gesagte) bedeutet nach Brandom eben

„im Mund verschiedener Personen Verschiedenes.“ (vgl. EV/8.2.1, 709)

Allerdings wendet Brandom sich deutlich gegen ein Kommnikationsmodell wie es auch

Habermas vertritt, das erfolgreiche Kommuniaktion, d.h. wechselseitiges Verstehen, als ein

Teilen von Gedanken begreift:

But nothing is made of the notion of face to face, reciprocal communicative interaction aimed at the

sort of understanding that consists in convergence of the contents of commitments as specified de re,

from one participant’s perspective, and de dicto, from that of the other. (FN, 362)

                                                                                                               85 Ein Musterbeispiel gescheiterter wissenschaftlicher Kommunikation: In beiden Köpfen werden zwar logische Wenn-Dann-Ketten durchlaufen (die sich leider im Kreis drehen) doch keiner ist bereit, die Perspektive zu wechseln und die Inferenzketten aus der Sicht des Anderen zu beurteilen (was hier natürlich trotzdem das Henne-Ei-Dilemma nicht lösen würde). Sehr deutlich wird an diesem Beispiel die Irrelevanz eines Bezugs des Diskurses zu einer „objektiven Wirklichkeit“ außerhalb des Diskurses („am Anfang war die Socke“), die eben transzendent zu der menschlich-begrifflichen Denk-Kategorie „Kausalität“ ist und sich ihm deshalb nur durch die Offenbarung durch eine höheren Gewalt erschließt (hier: durch den Comiczeichner). Die Lösung der Aporie durch Gewalt kann sowohl als Scheitern des rationalen Diskurses am unnachgiebigen Festhalten an der eigenen Machtposition gedeutet werden, aber auch als erfolgreichen Durchbrechen des rationalen Paradigmas durch eine befreiende, nichtsprachliche Handlung.

  83

Der Inhalt der doxastischen und praktischen Festlegungen, d.h. die an eine Behauptung

gebundenen theoretischen und praktischen Konsequenzen auf die sich der Sprecher

verpflichtet, kann gar nicht mit dem des Hörers identisch sein, da sie jeweils verschiedene

Hintergrundfestlegungen mit dem verbinden, worüber sie etwas behaupten (d.h. mit Bezug

auf die Sache/de re), bzw. mit dem, was der Hörer dem Sprecher zuschreibt, dass jener glaubt

(seinen Glauben an das Gesagte/de dicto).

Solange Unterschiede bei den Begleitfestlegungen bestehen, mit Blick auf die der Gehalt der durch

einen Satz ausgedrückten Behauptung zu ermitteln ist, bedeutet der gleiche Satz im Mund

verschiedener Personen Verschiedenens. (EV,/8.2.1, 709)

Der Grund dafür besteht in der inferentiellen Gliederung begrifflicher Gehalte. Worauf sich

jemand durch eine Behauptung festlegt, kann nur, so Brandom „vor einem Hintergrund

kollateraler Festlegungen entschieden werden, die als Hilfshypothesen verfügbar sind und als

weitere Prämissen beim Folgern eingebracht werden können.“ (ebd.). In Anlehnung an

McDowells Kritik an Frege erklärt er dies in der „Expressiven Vernunft“ noch genauer.

Erfolgreiche Kommunikation verlange nicht geteilte Gedanken, sondern verschiedenen

Gedanken, die jedoch „in einer passenden Relation der Korrespondenz stehen“ müssten, d.h.

„dass die Zuhörer mit der Äußerung des Sprechers einen angemessenen korrespondierenden

de re-Sinn verbinden.“ (EV/8.5.3, 780) Wenn ich z.B. sage: „Sieh mal, der Abendstern ist

aufgegangen!“ und du antwortest, „Ja, da ist ja die Venus!“, dann hast du, durch eine

passende Substitution meines Ausdrucks, einen mit dem Sinn meiner Äußerung

korrespondierenden de-re-Sinn verbunden, d.h., dir ist klar, dass wir über dasselbe sprechen,

obwohl wir Verschiedenes sagen. Du hast mich verstanden – und auch ich weiß, dass du mich

verstanden hast, weil ich umgekehrt in der Lage bin, den Oberbegriff Venus wieder mit

meinem Unterbegriff „Abendstern“ zu ersetzen.

Brandom wehrt sich gegen den Vorwurf durch Habermas, dass seine Theorie wechselseitiges

Verstehen nicht angemessen beschreiben könnte, weil er nicht ausreichend zwischen der

Rolle des Hörers (der angesprochen wird und von dem erwartet wird, dass er antwortet) und

der des Zuhörers (der nur beobachtet und Zuschreibungen macht) unterscheide. Brandom

stellt den Dialog nur nicht an den Anfang seiner Argumentation – und sein Ziel ist nicht das

Erklären von Verständigung. Brandom stellt stattdessen den Begriff und dessen Eigenschaften

  84

an den Anfang und leitet aus dessen Struktur alles andere – den Begriff von Objektivität,

Normativität, monologisches Begründen und dialogische Kommunikation – ab.

From his [Habermas] point of view the achievement of this sort of mutual understanding is the

central communicative phenomeneon. A theory of linguistic practice that starts elsewhere and

treats accounting for this sort of I-thou interaction as peripheral, as something of an afterthought,

has missed something crucial. (FN 2000, 363)

Brandom sieht den Grund dafür, dass Habermas sein Modell als defizitär bezeichnet, in der

Grundauffassung Habermas’ vom Ziel und Zweck von Kommunikation. Für ihn sei eben

genau das „Teilen von Gedanken“ für erfolgreiche Kommunikation wesentlich. Erfolgreiche

Kommunikation besteht für Habermas in der Tat in Verständigung, d.h. dem „begründeten

Einverständnis“, zwischen zwei Interaktionspartnern „über etwas in der Welt“ (d.h. über die

Geltung eines Wahrheitsanspruchs mit Bezug auf etwas in der objektiven Welt).86 Menschen

bedienen sich der Sprache, so Habermas in „Wahrheit und Rechtfertigung“, nicht um

jemandem zu verstehen zu geben, dass man eine Behauptung „p“ für wahr hält und um vom

anderen bloß richtig verstanden zu werden, sondern um sich mit ihm über „p“ zu verständigen

– so dass am Ende „beide gemeinsam glauben, ,dass p‘.“ (WR, 176) Er steht damit

beispielsweise dem Kooperationsmodell menschlicher Kommunikation nach Michael

Tomasello87, in dem – neben der grundsätzlichen Intention miteinander zu kooperieren – auf

der Ebene der Wahrnehmung ein Wissen um einen Gegenstand innerhalb des Rahmens

gemeinsamer Aufmerksamkeit in der objektiven Welt geteilt wird,88 wesentlich näher als dem

                                                                                                               86 Vgl. WR, 176 und: „Verständigung hat das Ziel, eine Situation zu überwinden, die durch Problematisierung der in kommunikativem Handeln naiv vorausgesetzten Geltungsansprüchen entsteht: Verständigung führt zu einem diskursiv herbeigeführten, begründeten Einverständnis […].“ Habermas, Jürgen (1971): Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, 1963, 4. erw. Auflage, Frankfurt a. M., 115. – Zu den drei Geltungsansprüchen vgl.: „Die Aktoren erheben mit ihren Sprechhandlungen, indem sie sich miteinander verständigen Geltungsansprüche, und zwar Wahrheitsansprüche, Richtigkeitsansprüche und Wahrhaftigkeits-ansprüche je nachdem, ob sie sich auf etwas in der objektiven Welt (als der Gesamtheit existierender Sachverhalte), auf etwas in der gemeinsamen sozialen Welt (als der Gesamtheit legitim geregelter interpersonaler Beziehungen einer sozialen Gruppe) oder auf etwas in der eigenen subjektiven Welt (als der Gesamtheit privilegiert zugänglicher Erlebnisse) Bezug nehmen.“ – Habermas, Jürgen (1983): Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. M. S. 68. 87 Vgl. Tomasello, Michael (2010): Warum wir kooperieren. Berlin. – Ders. (2011): Die Ursprünge menschlicher Kommunikation. Frankfurt a. Main. 88 In seiner Laudatio für Tomasello, anlässlich der Verleihung des Hegel-Preises 2009, fasst Habermas Tomasellos Kommunikationsmodell wie folgt zusammen: „Auf der horizontalen Ebene übernimmt der eine die Wahrnehmungsperspektive des anderen, so dass eine soziale Perspektive entsteht, aus der die Beteiligten gleichzeitig in vertikaler Richtung ihre Aufmerksamkeit auf das angezeigte Objekt richten; und so gewinnen sie von dem gemeinsam identifizierten und wahrgenommenen Objekt ein geteiltes Wissen.“ – Habermas, J.(2009): Laudatio für Michael Tomasello, gehalten anlässlich der Verleihung des Hegel-Preises am 16. Dezember 2009 in Stuttgart. www.stuttgart.de/img/mdb/item/383875/51478.pdf [25.07.2011].

  85

von Brandom, bei dem nicht propositionale Gehalte oder Dinge in einer vom sprachlichen

Diskurs unabhängigen „objektiven Welt“, sondern eine begrifflich-normativ strukturierte

Praxis geteilt wird. Für Brandom besteht die Leistung, die in erfolgreicher Kommunikation

vollbracht wird, in der Koordination verschiedener Perspektiven auf einen Gegenstand.

Understanding, – whether one-sided understanding of another or mutual understanding of each

other – is a product of discursive co-ordination in which the distinctness of perspectives is

maintained and managed. (NF, 363)

In diesem Sinne ist das Modell des Verstehens bei Brandom z.B. Gadamers Modell der

Horizontverschmelzung diametral entgegengesetzt. Die verschiedenen Perspektiven bleiben

erhalten. Es wird zwischen ihnen lediglich übersetzt oder „über-ge-setzt“ (hin- und her

navigiert):

The fact that the word ‚I’ can never have the significance in my mouth that it does in yours […] in

no way precludes my understanding what you express by using it. Communiction is possible, but it

essentially involves intralinguistic interpretation – the capacity to accomodate differences in

discursive pespective, to navigate across them. (ME 1998, 588)

Was dabei geteilt wird ist nicht „etwas in der Welt“ – und dieses Etwas ist auch gar nicht

nötig, um miteinander zu kommunizieren. Erfolgreiche Kooperation bei einer gemeinsamen

Unternehmung, sei es Kommunikation oder Paartanz, bedeutet für Brandom nicht, dass beide

dasselbe tun (b.z.w. denken), sondern dass ihr gemeinsames Tun geteilten (hier: begrifflichen)

Normen oder Spielregeln unterliegt:

Und du und ich können durch genau die gleichen öffentlichen sprachlichen und begrifflichen

Normen im Umfeld des Begriffs gebunden sein, ungeachtet dessen, dass wir geneigt sind,

unterschiedliche Behauptungen aufzustellen und unterschiedliche inferentielle Züge zu absolvieren.

Es ist meine Sache, ob ich ein Token des Typs ‚Molybdän’ im Spiel des Gebens und Verlangens von

Gründen ausspiele. Es ist dann allerdings nicht mehr meine Sache, die Signifikanz dieses Zuges zu

bestimmen. (BB, 46)

„The participants do not need at all to be doing the same thing (sharing) in a narrow sense, in

order to be engaged in a joint enterprise, and in that broader sense to be doing the same thing

(sharing). (FN, 363) In ähnlicher Weise würden auch Paartänzer, obwohl sie unterschiedliche                                                                                                                

  86

Schrittfolgen und Figuren absolvieren, zusammen tanzen. Was beim Paartanz das öffentlich

anerkannte Repertoire an passenden Figuren und Schrittfolgen darstellt, ist, übertragen auf die

diskursive Praxis, die durch deontisches Kontoführen erzeugte „normative Feinstruktur der

Rationalität“ oder „die öffentlichen sprachlichen und begrifflichen Normen im Umfeld des

Begriffes“, die uns beide gleichermaßen binden.

Die zentrale Kritik von Habermas, dass Brandom die „Pointe sprachlicher Verständigung“

verfehle, sei, so vermutet Brandom, damit aus Sicht von Habermas aber wohl noch nicht

entkräftet. Allerdings sei dies auch nicht nötig (oder möglich), da seine, Brandoms, und

Habermas Sicht, was den Zweck von Kommunikation angehe, grundsätzlich

auseinandergingen. Für Habermas besteht die „Pointe sprachlicher Verständigung“ – im

Rahmen seiner „Theorie des kommunikativen Handelns […], die die normativen Grundlagen

einer kritischen Gesellschaftstheorie“ aufklären soll (TKH II, 583, vgl. I, 8) – im „Imperativ

gesellschaftlicher Integration und Nötigung zur Koordination der Handlungspläne unabhängig

entscheidender Interaktionsteilnehmer“ (WR, 176). Sprachliche Verständigung ist für ihn ein

Instrument zur Handlungskoordination und Vergesellschaftung. Brandom dagegen lehnt nicht

nur die wechselseitige Verständigung als Zweck und Ziel diskursiver Praktiken ab – er lehnt

es ganz grundsätzlich ab, sprachlichen Praktiken irgendein Ziel außerhalb ihrer selbst

zuzuordnen.

But I deny this – not because I think that linguistic practice has some other point, but because I

think that it is a mistake to think of it as having a point at all. Linguistic practice is not for

something. […] Mutual understanding, the pursuit of co-operative undertakings, are made

possible by linguistic practtice. But I do not see that they can intelligibly be taken to be its point,

aim or end. It makes us the kind of being we are in such a fundamental sense that it makes no

sense to ask after the point of our being like that. (FN, 363/364)

Für Brandom sind wir „diskursive Wesen“, die sich immer schon im Raum der Gründe und

damit im Spiel des Gebens und Forderns von Gründen vorfinden. In diskursiver Praxis

verwirklichen wir unser Wesen. Was ein „Ziel“ ist, wird im Rahmen von Brandoms Theorie

diskursiver Praktiken völlig neu definiert. Ein Ziel im „praktisch-rationalen Sinn“ (vgl. FN,

364) ist, aristotelisch gesprochen, für Brandom soetwas wie eine Entelechie oder eine

Energeia, d.h. „Form“, die sich im „Stoff“ verwirklicht (wobei Stoff und Form nicht wie bei

Platon unabhängig voneinander existieren). Der Formbegriff bei Aristoteles umschließt Wirk-

und Zweckursache: Insofern die Form (eidos) die Wirkursache in sich schließt, ist sie

  87

Energeia, ist „Im-Werk-Sein“ oder Prozess; insofern die Form auch den Zweck eines

Prozesses einschließt, ist sie Entelechie, „Was-sein Ziel-in-sich selbst-Trägt“. In beiden Fällen

ist das Ziel aber nicht außerhalb, sondern (wie bei Brandom) innewohnend und vorwärts (zur

Vollendung) treibend. Brandom nennt dieses Formprinzip in Anlehnung an Hegel den

„Begriff“, was für ihn nichts anderes als rationale diskursive Praxis ist. Und diese sei

produktiv: „[…] a mighty engine for the envisaging and engendering of new ends […].“ (FN,

363)

Sprachliche Praxis als ganze (d.h. nicht die einzelnen Sprechakte) habe nach Brandom

verschiedene Funktionen, aber keine dieser Funktionen – sei es Ausdruck und Übermittlung

von Gedanken, Verstehen, Verständigung, Kooperation oder Arterhaltung – sei deshalb der

Zweck dieser Praxis. Ohne diskursive Praktiken würden diese Funktionen gar nicht

realisierbar sein, d.h. „existieren“. In der Reihenfolge der Erklärung im Rahmen von

Brandoms funktionaler Theorie der Begriffe, die deren Rolle beim Begründen untersucht,

muss deshalb immer mit der Praxis angefangen werden. Brandom räumt der Pragmatik einen

Vorrang vor der Semantik ein, weil er mit Wittgenstein davon ausgeht, dass die Bedeutung

oder der begriffliche Gehalt oder der Gedanke von etwas nicht zuerst existiert und dann durch

diskursive Praxis von einem Sender zu einem Empänger transportiert wird: „Language is

certainly not a tool for the expression of thoughts intelligible as such apart from their relation

to such means of expression […] “ (FN, 363) Die Vorstellung von einer Geistsubstanz oder

Idee, die in der Lautgestalt der sprachlichen Äußerung materielle Form annimmt, verwirft

Brandom als „mythologisch“ (ebd.). Die Bedeutung, der semantische Gehalt eines Ausdrucks,

werde vielmehr durch seine Rolle in Begründungspraktiken, d.h. im Gebrauch dieses

Ausdrucks, konstituiert.

Das Begreifen eines Begriffs, der in einem solchen Vorgang des Explizitmachens [die Umformung

in eine Behauptung, in deren Form ein Begriff sowohl als Prämisse als Begründung dienen wie als

Konklusuion der Begründung bedürfen kann] verwendet wird, besteht im Beherrschen des

inferentiellen Gebrauchs: im Wissen (in dem praktische Wissen, dass man unterscheiden kann,

und das ist ein Wissen–wie) worauf man sich sonst noch festlegen würde wenn man den Begriff

anwendet, was einen dazu berechtigen würde und wodurch eine solche Berechtigung

ausgeschlossen wäre. (BB, 21-23)

Das einseitige (asymmetrische) „Verstehen“ eines anderen aus der Beobachterperspektive der

dritten Person (indem man die richtigen Zuschreibungen zuweist) – „one-sided understanding

  88

of another“ – und das wechselseitige Verstehen, die Verständigung im Dialog zwischen 1.

und 2. Person (indem man zwische der eigenen und der fremden Perspektive hin- und her

navigiert) – „mutual understanding of each other“ – unterliegen nach Brandom denselben

öffentlichen sprachlichen und begrifflichen Regeln oder Normen. Sie unterscheiden sich nicht

prinzipiell, wie Habermas dagegenhält. Habermas sieht das Hauptproblem bei Brandom in

eben dieser sog. „Vermischung von zwei Kommunikationsebenen“ (vgl. WR, 175), die er

streng getrennt sehen will: die Ebene der Intersubjektivität, auf welcher Sprecher und Hörer

miteinander sprechen (eine performative Einstellung zueinander einnehmen), und die Ebene

der Gegenstände (den propositionalen Gehalt), über die sich Sprecher und Hörer

verständigen. Nur in der Einheit von Rede und Äußerung erhalte der propositionale Gehalt

nach Habermas seinen „pragmatischen Verwendungssinn“.89 Brandom dagegen fühlt sich in

seiner Theorie verpflichtet, darauf zu verzichten, den propositionalen Gehalt eines Äußerung

mithilfe der propositionalen Einstellungen zu erklären, d.h. wie z.B. Habermas eine Liste

pragmatischer Universalien aufzustellen, die die propositionalen Gehalte der Äußerungen als

Kommnikativa, Konstativa, Repräsentativa oder Regulativa qualifizieren: „But it is an

essential methodological commitment of Making It Explicit not to appeal to propositional

attitudes such as intention and expectation in explaining speech acts.“ (FN, 364) Die Passage

aus Habermas Kritik, die Brandom abschließend zitiert, macht den Gegensatz der

Herangehensweisen sehr deutlich. Darin unterstellt Habermas dem Sprecher eine doppelte

Intention (bei der er den zweiten Aspekt der Kommunikationsabsicht für den Wesentlichen

hält): 1. dass ein Interpret dem Sprecher eine entsprechende Meinung zuschreibt und 2. dass

der Adressat (öffentlich) der Behauptung zustimmt (oder sie in Frage stellt). Letzteres sei

entscheidend, da diese Stellungnahme mit „ja“ oder „nein“ für beide Seiten

„interaktionsfolgerelevante Verbindlichkeiten“ herstelle. Ziel sei bei Habermas aber ganz

eindeutig, schlussendlich, die Übereinstimmung. Nur eine positive Stellungnahme, d.h.

Zustimmung, etabliere die Basis, nämlich „geteilte Hintergrundannahmen“, für weitere

Kommunikation. Wann immer dieser „Einklang“ gestört sei, entstehe Kommunikationsbedarf.

(Vgl. WR, 175) Im Anschluss an den von Brandom zitierten Abschnitt macht Habermas dies

nocheinmal ganz explizit, weshalb ich ihn in voller Länge wiedergeben möchte:

                                                                                                               89 Vgl. Habermas, Jürgen (1971): Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz. In: Maciejewski, Frank (Hg.)(1971): Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt a. M. S. 101-142. S.105.

  89

Alltägliche Kommunikationen werden vom Kontext geteilter Hintergrundannahmen getragen. Und

Kommunikationsbedarf entsteht wiederum aus der Notwendigkeit, die handlungsrelevanten

Meinungen und Absichten unabhängig entscheidender Subjekte in Einklang zu halten.

Kommunikation ist kein selbstgenügsames Spiel, womit sich Partner gegenseitig über ihre

Meinungen und Absichten informieren. Erst der Imperativ gesellschaftlicher Integration und

Nötigung zur Koordination der Handlungspläne unabhängig entscheidender Interaktionsteilnehmer

– erklärt die Pointe sprachlicher Verständigung. (WR, 175/176)

Brandom möchte bei der Erklärung dessen, was Behauptungen sind, ohne performative

Hilfsvorstellungen wie „glauben/beabsichtigen/erwarten, dass ...“ auskommen. Jedenfalls will

er nicht wie Grice so tun, als ob kommunikative Absichten Behauptungen vorangehen

würden, sozusagen unabhängig von der Behauptungspraxis selbst. Michael Tomasello, der auf

dem Modell von Grice aufbaut, fasst die „kommunikative Absicht“ in einer einfach

verständlichen Formel zusammen: „Ich will, dass du weißt, dass ich etwas von dir will.“90

Brandom stellt infrage, ob so eine Erwartungshaltung unabhängig von kommunikativer Praxis

überhaupt gedacht werden kann. In der Erklärung von diskursiver Praxis sei es sogar

unmöglich mit irgendetwas zu beginnen, das als verstehbar unabhängig von seiner Rolle in

diskursiven Begründungspraktiken sei, wie er in Anmerkung 6 (FN, 373) seine Behauptung

noch zuspitzt. Das Projekt von Making It Explicit sei wesentlich grundlegender als das von

Habermas oder Grice. Indem Brandom die Behauptung als die paradigmatische Gestalt einer

Äußerung etabliert, erscheinen alle anderen propositionalen Einstellungen neben den

Konstativa, auch die von Habermas ins Zentrum gerückte Behauptung, die pragmatisch durch

die Erwartung einer Antwort bzw. Zustimmung qualifiziert ist, als Sonderfälle diskursiver

Praxis.

Das Vorgehen des semantischen „Behauptungstheoretikers“ (wie Brandom sich selbst in

„Begründen und Begreifen“ nennt), bestehe zunächst darin, den Begriff der Behauptbarkeit zu

erklären und dann, was es heiße, dass eine Behauptung „richtig“ sei. Beide Aufgaben würden

laut Brandom durch seine Theorie bewältigt: Die Frage, wann eine Äußerung die

Bedeutsamkeit einer Behauptung hat, lässt sich im Bild der Spielzüge im Spiel des Gebens

und Forderns von Gründen erklären. Wann welcher Spielzug erlaubt, angemessen oder

„richtig“ ist, falle damit zusammen, wann ein Sprecher dazu berechtigt sei, diesen Zug zu tun.

Die Berechtigung beruhe ihrerseits auf den „Regeln des Spiels“ die „als Vorbedingungen für

das Ausführen eines derarigen Spielzuges angegeben werden. Hierbei handelt es sich um den                                                                                                                90 Tomasello, Michael (2011): Die Ursprünge menschlicher Kommunikation. Frankfurt a. Main. S. 100.

  90

normativen Aspekt des Gebrauchs, von dem der Behauptungstheoretiker ausgeht.“ (vgl. BB,

240/41) In solchen Begriffen der „Richtigkeit“ innerhalb der Praxis deontischer Kontoführung

ließe sich auch über Sprechakte, die Absichten oder Erwartungen ausdrückten, sprechen.

In those terms it is possible […] to make sense of speech act kinds such as assertion, and of

propositional attitudes corresponding to belief and intention. At that point the notion becomes

intelligible of a species of assertion that is asserting with the intent or expectation of receiving an

answer or reaching agreement. The strong claim to which this approach is committed, however, is

that practices can be intelligible as making claims and inferences, and so as discursive practices,

even if they lack that species […] (FN, 364)

Habermas will den Begriff der Kommunikation nicht in diesem weiten Sinn, sondern nur für

den zielführenden Prozess der Verständigung verwenden. Brandom schränkt ein, dass

Verständigung nur ein Sonderfall des Verstehens sei. Dieses Verstehen, das sich auf

begriffliche Gehalte bezieht, ist dabei nicht rein kognitiv, sondern besteht im Beherrschen des

Gebrauchs dieses Begriffs. (Vgl. BB, 33) Dieser Gebrauch ist sowohl inferentiell als auch

normativ geregelt.

  91

5. Zusammenfassung und Bewertung der Auseinandersetzung

zwischen Brandom und Habermas

Aus Brandoms Sicht ist also Habermas Diskursbegriff nicht grundlegend genug, während aus

Habermas Sicht der Kommunikationsbegriff bei Brandom als „verkürzt“ erscheint, nämlich

um die Dimension der zweiten Person. Damit fehlt Brandom aus Sicht von Habermas die

angemessene methodische Erfassung der Dimension des kommunikativen Handelns, das

wesentlich kooperativ sei. Er wirft Brandom „methodischen Individualismus“ vor, den er auf

Brandoms angeblichen Begriffsrealismus zurückführt. Was Brandom „Diskurs“ nenne, sei

nur ein Produkt aus Schlussfolgerungen auf der Grundlage wechselseitiger Beobachtung, „die

individuelle Teilnehmer, ein jeder für sich, vornehmen.“ (WR 177) Dies schließe aus, dass

sich die Interaktionspartner je im gemeinsamen Konsens mit Blick auf einen

Geltungsanspruch träfen oder ein Wissen wirklich teilen könnten. (ebd.) Für Habermas ist

Diskurs grundsätzlich ein an Verständigung orientiertes Unterfangen: „In Diskursen suchen

wir ein ein problematisiertes Einverständnis, das im kommunikativen Handeln bestanden hat,

durch Begründung wiederherzustellen: in diesem Sinne spreche ich fortan von (diskursiver)

Verständigung.“91 Ein weiterer Aspekt von Habermas Diskursbegriff, nämlich die Ablösung

von egozentrischen Motiven92, fehle ebenfalls bei Brandom. Wenn „jeder für sich“ nur Buch

über den Punktestand im Spiel des Gebens und Forderns von Gründen führe, um so zu

berechnen, ob der eigene nächste Spielzug berechtigt sei oder der des anderen, so erscheine

dies als ziemlich egoistisches Unterfangen, bei dem jeder nur daran interessiert sei – wie beim

Baseball – mit dem höchsten Punktestand aus dem Spiel zu gehen, d.h. zu gewinnen/Recht zu

haben. Man kann verstehen, dass Habermas dies ablehnen muss, da er das kommunikative

Handeln im Kontrast zum strategischen oder instrumentellen Handeln konzipiert, als welches

bei BrandomVerständigung aus Habermas Sicht erscheint. Gerade in der Abgrenzung vom

Bild des strategischen Spieles hat Habermas in der TKH (I, 131 f.) den Unterschied von

objektiver Welt und sozialer Welt, Fakten und Normen, eigennütziger Kooperation und an

                                                                                                               91 TKH Bd. I, Habermas 1971, 115. 92 „Hingegen spreche ich von kommunikativen Handlungen, wenn die Handlungspläne der beteiligten Aktoren nicht über die egozentrischen Erfolgskalküle, sondern über Akte der Verständigung koordiniert werden. Im kommunikativen Handeln sind die Beteiligten nicht primär am eigenen Erfolg orientiert; sie verfolgen ihre individuellen Ziele unter der Bedingung, dass sie ihre Handlungspläne auf der Grundlage gemeinsamer Situationsdefinitionen aufeinander abstimmen können.“ – Habermas, Jürgen (1997): Theorie des kommunikativen Handelns. Band 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. 2. Auflage. Frankfurt a. M. S. 385.

  92

Verständigung orientierter Kooperation deutlich zu machen versucht. Kommunikation,

begriffen als bloß strategisches Handeln, braucht keine soziale Dimension:

Strategisch handelnde Subjekte müssen daher kognitiv so ausgestattet sein, dass für sie in der Welt

nicht nur physische Gegenstände, sondern auch Enscheidungen fällende Systeme [intentionale

Systeme] auftreten können […] Mit der Komplexität der innerweltlichen Entitäten wird der

Begriff der objektiven Welt selbst nicht komplexer. Auch die zum strategischen Handeln

ausdifferenzierte Zwecktätigkeit bleibt, nach ihren ontologische Voraussetzungen, ein Ein-Welt-

Begriff. (TKH, 132)

Genausowenig scheint Brandom aus Habermas Sicht die Perspektive der zweiten Person

wirklich zu benötigen, was deren scheinbare Vernachlässigung erkläre. Als angeblicher

Vertreter eines bjektiven Idealismus hat auch Brandom nur einen „Ein-Welt-Begriff“:

Der objektive Idealismu verschiebt die Erklärungslasten von koperativen Anstrengungen in einer

intersubjektiv konstiuierten Lebenswelt auf die Verfassung des Seienden als Ganzen […] Dieser

Objektivismus entkleidet die Diskursgemeinschaft der spistemischen Autorität (wie auch der

moralische Autonomie) […].“ (WR, 172)

Vor dem Hintergrund seiner Kritik des spieltheoretischen Ansatzes zur Interpretaion sozialer

Praktiken wird verständlich, warum Habermas so empfindlich auf die analytische Metapher

(!) des deontichen Kontoführens reagiert.93

Diese spieltheoretisch-strategische Lesart seiner Theorie der Kommunikation weist Brandom

zurecht als verkürzend zurück. Sie ignoriert, dass Brandom nicht beschreiben will, wie

diskursive Praxis aussehen sollte. Ihm ist es gleichgültig, aus welchen Motiven –

egoistischen, altruistischen oder utilitaristischen oder biologistischen etc. – wir mit anderen

Menschen kommunizieren, solange diese Kommunikation rational im Sinne von begrifflich

geregelt ist. Der Gegenstand von Brandoms Theorie und damit das Erkenntnisinteresse sind

einfach andere als die von Habermas. Weder in „Begründen und Begreifen“ noch in der

„Expressiven Vernunft“ geht es Brandom darum, ein Erklärungsmodell für Kommunikation                                                                                                                93 Habermas zitiert Höffe, nach welchem ein strategisches Spiel sich aus vier Bestandteilen zusammensetze: Spielern, Regeln Auszahlungen (vgl. Brandoms Punkte auf dem deontische Konto!) und Strategien. Nicht Diskursrationalität, sodern Zweckrationalität ist das leitende Prinzip in diesem Spiel. Die Grundmaxime könne lauten: „Wähle die Strategie, die im Rahmen der Spielregeln und angeseichts der Opponenenten den günstigsten Erfolg verspricht.“ Kommunikation wäre dann nichts anders als ein rhetorischer Wettkampf. Habermas lehnt diese spieltheoretische Interpretation der sozialen Wirklichkeit für den Bereich der Kommunikation ab. – Vgl. Höffe, O. (1975): Strategien der Humanität. München. S. 77f. In: TKH I, Anm. 145, S. 131.

  93

oder kommunikatives Handeln zu geben, das zusätzlich auch noch Grundlage einer kritischen

Gesellschaftstheorie und Basis einer Diskursethik sein sollte. Zwar beschäftigt ihn der

vergesellschaftende Effekt von rationalen sprachlichen Diskursen in Gestalt der Bildung eines

expliziten Wir-Bewusstseins. Aber er will darauf weder eine kritische Gesellschaftstheorie

aufbauen, noch die soziologische Forschung vorantreiben. Er beschreibt vielmehr, wie

begriffliche Normen in der Sprache erscheinen. Was Brandom am sprachlichen Handeln

interessiert, ist nicht, wie Handlungen koordiniert werden und diskursiv ein Konsens über

Geltungsansprüche erzielt wird, sondern ein progressives Explizitmachen eines impliziten

Wissens-Wie, das sagbar macht, wie man inferentielle Netze knüpft, dadurch

Geltungsansprüche erhebt und Berechtigungen erwirbt bzw. anderen zuschreibt. Brandom

geht über Habermas Konzept kommunikativer Rationalität durch seinen hegelianisch

motivierten Ansatz einer geschichtlichen Rationalität, die sich analog zur Bewegung des

hegelianischen Begriffs entfaltet, hinaus.

Zugespitzt formuliert, erscheint Habermas Projekt auf den ersten Blick als ein kritisches,

während Brandoms nur ein deskriptiv-analytisches zu sein scheint. Dieser Eindruckt täuscht

jedoch. Das Explizitmachen ist auch ein emanzipatorischer Akt, nicht nur ein theoretisch-

analytischer. Er ist eingebettet in einen fortschreitenen Prozess der dialektischen Entwicklung

eines immer expliziter werdenden Bewusstseins dessen, was man als Begriffe verwendendes

Wesen ist. Das Explizitwerden der Regeln impliziter sprachlicher Praktiken generiert für den

einzelnen ein semantisches Selbstbewusstsein und für eine Sprachgemeinschaft die Fähigkeit

zum Wir-Sagen.

Nachdem wir bisher implizit normative Wesen waren, können wir auf dieser Stufe der expressiven

Entwicklung für uns selbst als normative Wesen explizit werden – wohl bewusst, in welchem

Sinne wir Geschöpfe der Normen sind und in welchem die Normen unsee Geschöpfe sind.

Nachdem wir bisher implizit diskursive Wesen waren, können wir auf diesr Stufe der expressiven

Entwicklung für uns selbst als diskursive Wesen explizit werden – wohl bewusst, in welche Sinne

wir Geschöpfe unserer Begriffe (die Gründe, die wir prozudiseren und konsumieren) sind und in

welchem Sinne sie unsere Geschöpfe sind. (EV 9.3.2., 889)

Zusätzlich ist die diskursive Praxis wie ein Motor, der, die Vergangenheit deutend und aus ihr

Normen rekonstruierend, die „Gleise“ für die „Fahrt in die Zukunft legt“. Vor diesem Modell

erscheint Habermas Ansatz eher unbeweglich und starr. Auch Habermas verwendet die

Methode der Rekonstruktion, d.h. er untersucht ebenso wie Brandom die Tiefenstrukturen und

  94

immanenten Regeln sprachlichen Handelns. Aber bei ihm hat diese Rekonstruktion kein

progressives Potential, denn die Struktur, die er beschreibt, ist statisch, weil sie letztlich

naturalistisch begründet ist; er bewegt sich sozusagen im Kreis. So heißt es in „Faktizität und

Geltung“:

Es ist vielmehr das sprachliche Medium, durch das sich Interaktionen vernetzen und

Lebensformen strukturieren, welches kommunikative Vernunft ermöglicht. Diese Rationalität ist

dem sprachlichen Telos der Verständigung eingeschrieben und bildet ein Ensemble zugleich

ermöglichender und beschränkender Bedingungen. .94

Sprache ermögliche kommunikative Rationalität, weil sie Ausdruck dieser Rationalität sei.

Dass Sprache auf Verständigung ziele, ist nach Habermas also keine von (s)einer Theorie von

außen der Sprache angetragene Eigenschaft, sondern wohne der Sprache als

Rationalitätspotential bereits inne. Dieses Rationalitätspotential nennt Habermas

kommunikative Rationalität. Damit ist die Normativität menschlichen Sprechhandelns quasi

naturalistisch begründet. Dass Kommunikation der Verständigung dienen soll, sei in der

Geltungsbasis der Rede bereits als „regulative Idee“ angelegt und teile sich in der diskursiven

Praxis, die der Soziologe untersucht und deren immanente Regeln er explizit macht (z.B. in

Gestalt einer Universalpragmatik), nur mit:

Was derart in die Geltungsbasis der Rede eingelassen ist, teilt sich auch den übers kommunikative

Handeln reproduzierten Lebensformen mit. Die kommunikative Rationalität äußert sich in einem

dezentrierten Zusammenhang transzendental ermöglichender, strukturbildender und

imprägnierender Bedingungen, aber sie ist kein subjektives Vermögen, das den Aktoren sagen

würde, was sie tun sollen. (ebd.)

Dies drückt nichts anderes aus als das, was Brandom immer wieder in methodischer Hinsicht

betont: keine Erklärung diskursiven Handelns kann vor den Diskurs als Praxis zurückgehen,

und: „On he who looks rationally onto the world, the world looks rationally back.“ Das

bedeutet nicht, dass es keine Welt außerhalb unseres Denkens und unserer Sprache gäbe, nur,

dass wir sie nicht mit Sprache und Denken begreifen oder bestimmen können. Eine nicht

begrifflich geregelte Welt existiert für den Verstand nicht. Dies gilt sowohl aus der Sicht von

Kant, für den der Verstand als das Vermögen des Regelfolgens definiert ist, als auch aus der

                                                                                                               94 Habermas, J. (1992): Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt a.M. S. 17f. [FUG]

  95

Sicht von Hegel:

[…] jedes Sein, das der Verstand produziert, ist ein Bestimmtes, und das Bestimmte hat ein

Unbestimmtes vor sich und hinter sich, und die Mannigfaltigkeit des Seins liegt zwischen zwei

Nächten, haltungslos; sie ruht auf dem Nichts, denn das Unbestimmte ist Nichts für den Verstand

und endet im Nichts.95

Das hat bei Brandom nicht (und auch nicht bei Habermas) etwas mit einem

rechtshegelianischen Begriffsrealismus zu tun. Beide anerkennen, dass es „Dinge“ außerhalb

des Diskurses gibt, die wir wahrnehmen, für die wir als Erfahrungsgründe Wahrheitsgeltung

beanspruchen können und mit denen wir hantieren. So verschieden sind beide Modelle nicht.

Nur ist einerseits die Erklärungsrichtung entgegengesetzt und andererseits das

Erkenntnisinteresse verschieden.

                                                                                                               95 Hegel, G.W.F.: Werke in 20 Bänden mit Registerband, Bd. 2: Jenaer Schriften 1801-1807. Frankfurt a. Main 1986 (6. Auflage.). S. 26. Hervorhebungen durch mich.

  96

6. Abschluss und Ausblick

Seeing Is Forgetting the Name of the Thing One Sees (Koan)

In der Einleitung hatte ich mich gefragt, ob man Habermas Kritik schon allein deshalb abtun

könne, weil er bestimmten methodischen Entscheidungen Brandoms nicht folge und

stattdessen seine Grundentscheidung, sich auf die Erklärung begrifflicher Strukturen statt auf

das Verstehen menschlicher Kommunikation zu konzentrieren, angreife. Ist die Basis der

Verständigung aber tatsächlich ein Beherrschen des richtige Begriffsgebrauchs? Ist die durch

Argumentation herbeigeführte Übereinstimmung in der Beurteilung der Wahrheitsgeltung

einer Behauptung nur ein Sonderfall dieses „Know-How“?

In diese Fragen spielt auch mit hinein, ob man den Menschen mit Aristoteles wesentlich als

„zoon logikon“ begreift und damit die Verwirklichung seines Wesens in der rational-

sprachlichen Praxis. Können wir einen Begriff verstehen, ohne die Person zu verstehen, die

ihn äußert? Aber wie verstehen wir Personen?96 Nutzen wir dazu nicht alle Sinne? Welche

Fähigkeit versetzt uns eigentlich in die Lage, die Perspektiven zu wechseln und so aus der

Perspektive dessen, den wir interpretieren, seine inferentiellen Festlegungen zu

rekonstruieren? Und was motiviert uns, überhaupt zu versuchen, die Perspektive zu wechseln,

wenn wir doch auch einen überlegenen sozialen Status ausnutzen könnten, um den anderen

dazu zu zwingen, uns zuzustimmen? Diese Fragen gehen natürlich weit über die Projekte von

Brandom oder Habermas hinaus und sind insofern nicht dazu gedacht, diese Modelle zu

kritisieren. Es sind nur Fragen, die nocheinmal an die Basis gehen, um Ausblicke auf

alternative Beschreibungsmodelle von Kommunikation und Verstehen zu eröffnen, die noch

entwickelt werden könnten.

                                                                                                               96 Zu dieser Frage hat Anne Reichold einen interessanten Artikel mit dem Titel „Wie verstehen wir andere Menschen?“ geschrieben. Sie unterscheidet zwischen zweitpersonalem und drittpersonalenm Verstehen. Ersteres finde innerhalb von symmetrischen Beziehungen, letzteres in asymmetrischen Beziehungen statt. Begründungspraktiken innerhalb zweitpersonalen Verstehens beruhten auf interpersonalen Beziehungen, während sie in drittpersonalen Verstehen auf Fakten über die Welt beruhten. Handlungserklärungen seien dabei aus der Perspektive der zweiten Person erfolgreicher, während theoretische Erklärungen der Perspektive der dritten Person einen Vorrahng einräumten. – Vgl.: Reichold, Anne (2011): „ Wie verstehen wir andere Menschen? Zur Perspektive der zweiten Person in Handlungserklärungen “ – In: Wissenschaft und Natur. Studien zur Aktualität der Philosophiegeschichte. Festschrift für Wolfgang Neuser zum 60. Geburtstag; herausgegeben und eingeleitet von Klaus Wiegerling und Wolfgang Lenski. Nordhausen. S. 377-395.

  97

Platons Begriff des Verstehens im „Siebten Brief“97 ist insofern interessant, als er auf dem

Weg des Diskurses zu einer nicht-diskursiven Erkenntnis des Gehalts eines Begriffes gelangt.

Die grundlegende Erkenntnis, die seinem Ansatz zugrundeliegt, ist, dass man sich dem, was

etwas wesenhaft ist, diskursiv nur annähern kann, dass es letztlich aber nicht begrifflich

erfasst werden kann, sondern sich zeigt. Sprachliche Bezeichnungen versetzten uns in die

Lage, Dinge entsprechend ihrer Natur mehr oder weniger gut und mithilfe von Verabredung

zu unterscheiden und uns gegenseitig über sie zu belehren. Mit ihrer Hilfe könne man lernen,

„zu fragen und zu antworten“ (Politeia 285d), um dadurch „dialektischer“ zu werden (ebd.

285d, 287a). Sie offenbarten ihren Erkenntniswert aber erst im Prozess, im „dynamischen

Logos“, im Dialog – nicht durch Vermittlungen propositionalen Wissens darüber, was etwas

sei. Der „dynamische Logos“ oder Dialog vollziehe sich, so Platon im „Siebten Brief“ (341c-

d; 342a-344b) im Durchlaufen von fünf Stufen, die jede für sich nicht genüge, um zu

offenbaren, was ein Ding sei. Das unablässige Herauf- und Hinabsteigen dieser Stufen im

Gespräch könne den Geist aber in eine Verfassung bringen, in welcher die Dinge selbst sich

zu zeigen vermögen. Es sei wichtig, dass diese Stufen keinen simplen Aufstieg von der

sinnlichen Wahrnehmung über die innere Vorstellung zum Begriff darstellten. Der Begriff sei

nicht das Ziel, sondern das Wesen. Und dieses zeige sich. Die Tür des Begriffes öffnet sich

sozusagen nach innen. Man kann die Stufen bis zur Tür heraufsteigen, aber man kann die Tür

nicht aufstoßen. Deshalb muss man u. U. die Stufen eine ganze Weile herauf- und

hinabsteigen. Die Erkenntnismittel, welche Kenntnis über das Wesen eines Sachverhalts

geben könnten, sind nach Platon: Sprachliche Bezeichnung (onoma), Definition (logos) und

Bild (eidolon) (342a). Hinzukomme die Erkenntnis selbst und das zu Erkennende als Fünftes

(ebd. 342b). Durch die Untersuchung, das methodische Studium von sprachlichen

Bezeichnungen, Definitionen und dem, was sich der Sinneswahrnehmung zeigt (343e), durch

Vergleich, Abgrenzung gegeneinander, durch Fragen und Antworten, unter Aufbietung aller

intellektuellen Kräfte, aber „ohne Neid“, d.h. mit alleinigem Interesse an der Sache, breche

jenes „Licht“ hervor, durch welches sich das Wesen des untersuchten Gegenstandes offenbare

(344b). Das „Ding an sich“ ist und bleibt auch für Platon in diesem Prozess nicht zu

begreifen, wohl aber kann man es, nach Platon, im dialektischen Dialog berühren.

                                                                                                               97 Bury, R. G. (Transl.): Plato. Plato in Twelve Volumes, Vol. 7. Translated by R.G. Bury. Cambridge, MA. London 1966. Auf: www.perseus.tufts.edu.; Crane, Gregory R. (Ed.): Perseus Digital Library. Tufts Universität Medfort, Massachusetts.

  98

Wie dies Berühren vorzustellen ist, definiert Platons Sokrates im Kratylos:

Denn weil die Dinge in Bewegung (pheromena) sind, so mag Weisheit (sophia) sein, was sie

anhält, betastet und ihnen folgen kann. Pherepapha also wäre der rechte Name der Göttin, wegen

ihrer Weisheit und der Betastung des Bewegten (epaphê tou pheromenou). (Krat. D 404c-d)98

Zum Begriff des „Betastens“ oder Berührens bei Platon im Gegensatz zum Er- oder

„Begreifen“ erklärt Rainer Marten:

Das dialektische Vorgehen zielt auf ein Berühren des zu Denkenden. Meinte Erkennen das

Umgreifen einer Sache oder das Eindringen in sie, dann wäre Berühren kein glücklich gewähltes

Bild. […] Wer berührt langt an; er ist weit genug und zielgerecht gegangen. Das Berühren als ein

Name des Einsehens (s. auch Tim 90c) ist zugleich ein Indiz dafür , dass es sich bei dem

Einzusehenden um etwas Einfaches ohne Innen und Außen […] handelt. Im denkenden Einsehen

als Berühren stößt nicht Verschiedenartiges aufeinander. Das Einsehen des Einzusehenden ist für

die philosophische Seele eine syngenetische Erfahrung.99

Hier kommt zum nur diskursiv gewonnenen Verstehen das Element der Begegnung als

„denkenden Einsehens“ hinzu. Verstehen ist mithin nicht notwendig das Ergebnis einer

sprachlichen Interaktion. Adam und Eva „erkannten“ sich nicht, nachdem sie ein langes

Gespräch geführt hatten.100 Es gibt ein Erkennen oder Verstehen, dass sich aus dem sich

miteinander Verbinden ergibt, dass sich nicht nur rein physisch im Geschlechtsakt, sondern

zuerst und vornehmlich „seelisch“ vollzieht. In Bezug auf die Bibelstelle, die im Deutschen

analog zum Griechischen korrekt mit „erkannte“ übersetzt ist, erklärt der Kirchenvater

Origenes, was „erkennen“ hier bedeutet und wie es sich vom „Begreifen“ durch Begriffe

unterscheidet:

Beachte aber, dass die Schrift noch anders vom Erkennen einer Sache spricht. Wenn sich nämlich

jemand mit etwas verbindet und vereint, nennt sie das ein Erkennen dessen, womit man sich

verbindet und vereint. Selbst wenn man vor einer solchen Einigung und Gemeinschaft Worte über

etwas begreift, so erkennt man es doch nicht. So hat auch Adam die Frau nicht erkannt, als er von

Eva sagte: „Das ist jetzt Bein von meinem Bein [...] Fleisch von meinem Fleisch“ (Gen 2,23). Als

                                                                                                               98 Loewenthal, Erich (Hg.) (1982): Platon, Sämtliche Werke, mit bio-bibliographischem Bericht von Bernd Henninger und editorischem Nachwort von Michael Assmann, Bd. 1, übersetzt von Julius Deuschle [Berlin 1940], Heidelberg. S. 570. 99 Marten, Rainer (1968): Die Methodologie der platonischen Dialektik. Studium Generale 21. S. 222. Hervorhebungen durch mich. 100 Moses 1.4.1. Αδαμ δὲ ἔγνω Ευαν. Von γιγνώσκω, erkennen, kennen.

  99

er sich aber dann mit ihr vereinigte, heißt es: „Adam erkannte Eva seine Frau“ (Gen 4,1)101

Das „Verstehen mit dem Herzen“ wird im Lateinischen concipere102 ausgedrückt, das etwas in

die Seele, in die Gedanken oder in das Gefühl aufnehmen bedeutet und voraussetzt, das man

etwas in sich Raum gibt, ihm Eingang gewährt, um es in sich wachsen zu lassen. Diese Art

des Verstehens von Etwas/Jemand in der Begegnung hat besonders Martin Buber beschäftigt.

Jemand (oder etwas) in diesem Sinne verstehen bedeutet für Buber: Ihn als ihn selbst (Du) –

nicht als etwas (Es) – zu verstehen. Das bedeutet, die Perspektive des Beobachters – z.B. des

Soziologen oder Sprachanalytikers – zu verlassen. Am Beispiel der möglichen Verhältnisses

zu einem Baum, erst aus der Perspektive des Ich-Es, dann aus der Perspektive des Ich-Du,

erklärt Buber, wie sich die Art und Weise des Verstehens verändert.

Ich betrachte einen Baum.

Ich kann ihn als Bild aufnehmen […]. Ich kann ihn als Bewegung verspüren […]. Ich kann ihn

einer Gattung einreihen und als Exemplar beobachten […]. Ich kann seine Diesmaligkeit und

Geformtheit so hart überwinden, dass ich ihn nur noch als Ausdruck des Gesetzes erkenne […].

Ich kann ihn zur Zahl, zum reinen Zahelnverhältnis verflüchtigen und verewigen.

In all dem bleibt der Baum mein Gegenstand und hat seinen Platz und seine Frist, seine Art und

Beschaffenheit.103

An all diesen Tätigkeiten ändert sich nichts, wenn einem z.B. ein Baum begegnet und man in

die Beziehung zum Baum hineintritt. Es handelt sich bei der Beziehung eben nicht um eine

Auslöschung allen Wahrnehmens, Empfindens, Vorstellens und Erkennens, sondern um das

Einbetten all dieser Tätigkeiten in den Horizont des Verstehens des Baumes als Ganzheit (DP,

12): „Es gibt nichts, wovon ich absehen müsste, um zu sehen, und kein Wissen, dass ich zu

vergessen hätte. Vielmehr ist alles, Bild und Bewegung, Gattung und Exemplar, Gesetz und

Zahl, mit darin, ununterscheidbar vereinigt.“ (DP, 11) Genausowenig erlischt das Ich im Du

oder umgekehrt. Beide haben teil aneinander. Das Verstehen das zunächst nur partikular war,

wird zu einem ganzheitlichen Verstehen.

                                                                                                               101 Origenes Kommentar zum Johannesevangelium 19.3. In: Origenes (1959): Das Evangelium nach Johannes. Übersetzt und eingeführt v. R. Gögler. Einsiedeln. – Hervorhebungen durch mich. 102 Georges, Karl Ernst (1998): Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. Hannover 81913 (Nachdruck Darmstadt 1998), Band 1, Sp. 1395-1398. 103 Buber, Martin (1992): „Ich und Du“. In: Das dialogische Prinzip. Gerlingen. S. 10 f. [DP]

  100

Was Verstehen jeweils bedeutet, ist bei Buber also abhängig vom Standpunkt des Verstehens,

der wiederum bestimmt wird durch die beiden Grundworte Ich-Du und Ich-Es, welche die

zwiefältige Haltung zum Ausdruck bringen, welche der Mensch zur Welt einnehmen könne.

(DP, 7) Grundworte sagen nach Buber nichts aus, sondern sie „stiften einen Bestand“, d.h.:

„Wer ein Grundwort spricht, tritt in das Wort ein und steht darin.“ (DP, 8) Wer also „Du“

spreche, stehe in der Beziehung. Das Ich, welches das eine oder andere Grundwort spreche,

sei je ein anderes, denn es sei kein Ich, das etwas sage – nämlich „Du“ oder „Es“ – sondern es

werde erst Ich oder Person am Du, es spreche „Ich werdend Du“. (DP, 15) Das so gewordene

Ich, könne sich in der Folge seiner selbst als Eigenwesen neben anderen Eigenwesen, als

Subjekt, bewusst werden und werde dann zur ersten Gestalt des Grundwortes Ich-Es. (DP,

26f.)

Die beiden Welten, die durch die jeweiligen Grundworte gestiftet würden, seien die „Welt der

Beziehung“ und die „Welt der Erfahrung“. In der Erfahrung habe der Erfahrende keinen

Anteil an der Welt, da die Erfahrung in ihm, nicht zwischen ihm und der Welt ist. In der

Beziehung dagegen „begegnet mir“ z.B. ein Baum „als er selbst“: „Er leibt mir gegenüber und

hat mit mir zu schaffen, so wie ich mit ihm.“ (DB, 11) Beziehung beruht auf Gegenseitigkeit

und sie ist unmittelbar – unvermittelt durch Begriffe, Sprache, Sinne oder Gefühle. Ihr Zweck

ist das Berühren des Du. (DB, 65) „Was erfährt man also vom Du? – Eben nichts. Denn man

erfährt es nicht. – Was weiß man also vom Du? – Nur alles. Denn man weiß von ihm nichts

Einzelnes mehr.“ (DB, 15) Was in der „Welt der Erfahrung“ verlorengehe sei das Element der

Wechselseitigkeit, welches in der Beziehung wirksam war: „Du nimmst sie [die Es-Welt]

wahr, nimmst sie dir zur ‚Wahrheit‘, sie lässt sich von dir nehmen, aber sie gibt sich dir

nicht.“ (DP, 35) In der Du-Welt herrsche dagegen zwischen der Welt und dem Ich eine

Gegenseitgkeit des Gebens: „du sagst Du zu ihr und gibst dich ihr, sie sagt Du zu dir und gibt

sich dir.“ (DP, 36f.)

Beide Haltungen zur Welt, die in den Grundworten Ich-Du und Ich-Es sich aussprächen,

gingen nach Buber beständig ineinander über. (DP, 21) Am Beispiel der Liebe erklärt er, dass

niemand in der unmittelbaren Beziehung verharren könne. Die Dauer der Liebe liege nicht in

der Ausdehnung der Gegenwart der Begegnung in der Zeit (was auch wenig Sinn machen

würde, da die Gegenwart ohne Dauer ist), sondern im Wechsel von Aktualität und Latenz der

Liebe. (ebd.) Denn in der Liebe werde das Du zwar berührt, aber es könne nicht erfahren

werden. Diese Liebe sei zwischen Ich und Du. Sie sei „wie die Luft, in der du atmest.“ (DP,

  101

41) Auch ein Erkennen des Du ist nicht möglich. In der Begegnung haben Ich und Du Anteil

aneinander, sie schauen wechselseitig ihr Wesen. Aus der Gegenwart des Schauens

heraustretend, wird das solcherart Geschaute zum Gegenstand der Erfahrung, einem Es, der

mit anderen Gegenständen der Erfahrung verglichen werden kann, das eingeordnet,

gegenständlich beschrieben und zergliedert werden kann: „nur als Es kann es in den Bestand

der Erkenntnis übergehen“, d.h. in das Gewesensein und damit in den Besitz des Subjektes.

(DP, 42)

Auf Gegenstände der Erfahrung wird der Intellekt angewendet: sie werden analysiert,

kategorisiert, evaluiert, besessen und benutzt. Einem Du in der Begegnung wird man

„gewahr“ oder „inne“ – nicht, indem man das Du wird in einem Akt der Verschmelzung,

sondern durch wechselseitige Teilhabe aneinander. Statt sich das Andere wie in der Es-Welt

anzueignen, eignen sich die Wesen in der Begegnung einander zu.

Die oben gestellten Fragen an den Begriff des Verstehens in der zwischenmenschlichen

Kommunikation lassen sich m.E. produktiv weiterbearbeiten, wenn man mit einem

erweiterten Verstehensberiff operiert, der nicht auf das diskursive Verstehen begrenzt ist und

von der Begegnung als Basis der Verständigung ausgeht; d.h. das Innewerden des Anderen

und das sich dem anderen Zueignen an den Anfang setzt, um von dort ausgehend den

Anderen, seine diskursiven Praktiken und Behauptungen zum Gegenstand der Erfahrung,

Beobachtung und Bewertung zu machen. Wenn wir zur Begegnung nicht prinzipiell in der

Lage wären, hätten wir gar keinen Begriff von unterschiedlichen Perspektiven. Wenn wir die

Perspektiven nicht wechseln könnten – nicht zur begrifflich, sondern auch empathisch –

würden wir nicht einsehen, warum eine Begründung unserer Position notwendig wäre. Ohne

die Fähigkeit, Gründe zu geben und zu fordern, könnten wir uns nicht über etwas

verständigen. Verstehen als Überbegriff all dieser Einzel-Fähigkeiten schließt deshalb – in

einem Kontinuum von der Ich-Du- zur Ich-Es-Beziehung – empfangen (concipere),

innewerden/einsehen (intellegere), anerkennen (recognoscere), erkennen (cognoscere),

begreifen (comprehendere), deuten/erklären (interpretari) und beobachten (notare) ein. Von

Verstehen im Vollsinne würde ich nur sprechen, wenn alle Fähigkeiten zum Ausdruck

kommen – d.h. dass man letztlich nur das wirklich verstehen kann, was man auch liebt.

  102

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Taylor, Charles (1999): Comment on Jürgen Habermas’‘From Kant to Hegel and Back

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White, Daniel: The unralleviling of the real 3-d mandelbulb.

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Herausgegeben und eingeleitet von Klaus Wiegerling und Wolfgang Lenski. Nordhausen.

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Zucca, Dorothee (2008): Von Kant zu Hegel, aber nicht zurück – Ein Blick auf die

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Vortragsvorlage für den XXI. Deutschen Kongress für Philosophie, 18.09.2008.

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Erklärung

Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig angefertigt und keine

anderen als die angegebenen Hilfsmittel und Quellen benutzt habe. Wörtlich oder dem Sinne

nach aus gedruckten, elektronisch oder aus anderen Quellen entnommene oder entlehnte

Textstellen sind von mir eindeutig als solche gekennzeichnet worden. Mir ist bekannt, dass

Verstöße gegen diese Versicherung nicht nur zur Bewertung dieser Master-Arbeit als „nicht

ausreichend“, sondern in schwer wiegenden Fällen zu weiteren Maßnahmen der Universität

Flensburg bis hin zur Exmatrikulation führen können.

Mit einer Ausleihe meiner Arbeit bin ich einverstanden / nicht einverstanden.

Flensburg, Datum

Unterschrift

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Vorname, Name

   


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