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14 | frühe Kindheit | 0113
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> Mit etwa einer Milliarde Menschen sind Personen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen die größte Minderheit der Welt. <
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Chronische Erkrankungen im Kindesalter: Diagnose – Behinderung – Identität| Von Olaf Kraus de Camargo
„Ohne Zweifel haben wir die moralische Verpf lichtung, die Barrieren zur Partizipation
zu beseitigen und ausreichend Mittel und Wissen zu investieren, um das unermessliche
Potential der Menschen mit Behinderungen zu offenbaren.”
Stephen Hawkins, in: Weltgesundheitsorganisation und Weltbank 2011
(eigene Übersetzung aus dem Englischen)
Mit der Verabschiedung der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinde-
rung und Gesundheit (ICF) durch die Mitgliedsstaaten der WHO im Jahre 2001 (Weltgesund-
heitsorganisation 2001) und der Behindertenrechtskonvention durch die UN in 2006 (Verein-
te Nationen 2006) ist eine Denkweise verbunden, die vor allem im medizinischen Bereich oft
noch ungewohnt ist. Lange galten das biomedizinische Modell und das soziale Modell von
Gesundheit als gegensätzlich. Doch schon in den 1970er Jahren wurde eine Verbindung die-
ser Modelle vorgeschlagen (Engel 1977). Das sogenannte bio-psycho-soziale Modell versucht
beide Sichtweisen zu vereinen und ist die Grundlage für die Entwicklung der ICF gewesen.
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Gerade bei der Begleitung von Menschen mit chronischen Erkran-
kungen sind soziale Aspekte wie die Verbesserung der Funktions-
fähigkeit, Partizipation und Inklusion in den Fokus des Handelns
gerückt. Viele verschiedene Faktoren bedingen Gesundheit und
nur einige davon sind „medizinisch” bzw. wir verstehen inzwi-
schen unter Gesundheit weit mehr als die Abwesenheit von
Krankheit (Diagnosen) (Kraus de Camargo und Fayed in Druck).
Auch der Begriff „Behinderung” wird nicht mehr auf bestimmte
Diagnosen bezogen, sondern wird in Zusammenhang mit dem
Kontext und der Lebenswelt des Menschen gesehen. Diese Verän-
derungen haben Einfluss auf eine Reihe von Schritten, von der
Bedeutung der Diagnosestellung, über Behandlung und Behand-
lungsziele wie auch die Prognose. Außerdem verändert diese
Sichtweise unser eigenes professionelles Rollenverständnis, die
Art der interdisziplinären/transdisziplinären Zusammenarbeit
von Fachleuten (Simon und Kraus de Camargo 2008) wie auch die
Beziehung zwischen Kindern mit chronischen Erkrankungen/
Behinderungen mit ihren Familien und diesen Fachleuten. Für
die betroffenen Familien und ihre Kinder eröffnen sich neue Pers-
pektiven, nicht zuletzt um auch ihre Rechte als Bürger einzufor-
dern (Hurst 2003).
Ziel dieses Artikels ist es zu zeigen, wie sich zum einen die
Schwerpunkte in der Gesundheitsversorgung von der akuten
Medizin zur chronischen Medizin verändert haben und sich
gleichzeitig unser Denken über Menschen mit chronischen
Erkrankungen und Behinderung entwickelt hat. An Hand der auf
Basis des bio-psycho-sozialen Modells von Gesundheit entwickel-
ten Struktur der Internationalen Klassifikation der
Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit
werden die Begriffe „Diagnose”, „Behinderung” und
„Identität” diskutiert und in ihrer Bedeutung für die
Behandlung und Begleitung von Kindern mit chroni-
schen Erkrankungen und ihren Familien beleuchtet.
Zunahme chronischer ErkrankungenDie Definition einer chronischen Erkrankung erfolgt
nach unterschiedlichen Kriterien in der Literatur, so
dass auch Häufigkeitsangaben schwanken (van der
Lee, Mokkink et al. 2007). Man kann jedoch davon
ausgehen, dass in den letzten 40 Jahren chronische
Erkrankungen im Kindesalter erheblich zugenommen
haben. Aus amerikanischen Daten können wir ent-
nehmen, dass etwa 15 bis 18 Prozent der US-amerika-
nischen Kinder und Jugendlichen eine chronische
Erkrankung aufweisen. Spitzenreiter sind Adipositas,
Asthma und ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyper-
aktivitätsstörung) (Perrin, Bloom et al. 2007).
In Deutschland werden ähnliche Beobachtungen
gemacht. So ist der Anteil an Kindern und Jugendli-
chen mit Übergewicht seit den 1980er Jahren um 50
Prozent angestiegen und die Daten der KiGGS-Studie
ermitteln etwa 15 Prozent aller Kinder und Jugendli-
chen von drei bis 17 Jahren als übergewichtig (Kurth
und Schaffrath Rosario 2007). Wenn wir amtliche
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Daten zur frühen Kindheit betrachten, so zeigt zum Beispiel der
Bericht zur sozialen Lage von kleinen Kindern im Land Branden-
burg, dass schon bei Zweijährigen mindestens ein medizinisch
relevanter Befund bei 16 Prozent der Kinder im Rahmen der Früh-
erkennung festgestellt wurde. Bei Fünfjährigen steigt dieser
Anteil auf 38 Prozent und bei den Sechsjährigen gar auf 45 Pro-
zent! Als medizinisch relevante Befunde wurden in dieser Auf-
stellung Krankheiten, schwerere körperliche und seelische Stö-
rungen sowie Behinderungen definiert (Ministerium für Arbeit,
Soziales, Gesundheit und Familie (MASGF) 2007).
Auch wenn es für viele chronische Erkrankungen Hinweise für
eine genetische Veranlagung gibt, ist es nicht nachvollziehbar,
dass der Genpool sich so rapide geändert hat, um diese Häufung
über die letzten Jahrzehnte zu erklären. Äußere Faktoren wie die
Lebensumwelt, die Lebensgewohnheiten, sozioökonomische Ver-
hältnisse und auch die öffentliche Verwaltung scheinen eine
bedeutende Rolle zu spielen. So wird eine relative Häufung chro-
nischer Erkrankungen in sozialen Randgruppen beobachtet (Per-
rin, Bloom et al. 2007). Hinsichtlich der Verbreitung von gesunder
Lebensführung zeigen weitere Daten aus der KiGGS-Studie (zitiert
in Lampert 2010), dass z. B. nur 19 Prozent der sechs- bis elfjähri-
gen Kinder die empfohlenen Mengen an Obst und lediglich sechs
Prozent die empfohlenen Mengen an Gemüse verzehren. Hin-
sichtlich des Einflusses der Umwelt auf die Partizipation von Kin-
dern mit chronischen Erkrankungen zeigt die europäische SPAR-
CLE-Studie am Beispiel von Kindern mit Zerebralparese, dass die
Partizipation bei vergleichbarer Funktionsstörung selbst inner-
halb von Nord- und Mitteleuropa auch erheblich davon abhängt,
in welchem Land (und damit auch in welchem Gesundheits- und
Sozialsystem) die Kinder leben (Colver, Dickinson et al. 2010).
Chronische Erkrankungen in der frühen KindheitMit dem Auftreten der ersten Symptome eines Krankheitszustan-
des bei einem Kind ist zunächst nicht unbedingt davon auszuge-
hen, dass es sich um eine chronische Erkrankung handelt. Fach-
leute bemühen sich zunächst um eine genauere Einordnung von
Symptomen und Beschwerden und versuchen zu einer Diagnose
im Sinne des bio-medizinischen Modells zu gelangen. Der Begriff
Diagnose ist ein Wort griechischen Ursprungs und wird im Brock-
haus von 1837 wie folgt definiert: „...bezeichnet die oft sehr
schwierige Unterscheidung der Krankheiten und die auf dieser
beruhenden Erkenntnis derselben. Da ohne sie keine mit
Bewusstsein der Gründe auszuführende Heilung denkbar ist,
macht sie eine der wichtigsten Aufgaben aus, welche der Arzt am
Krankenbette zu lösen hat. Eine glückliche Diagnose
setzt langjährige und fortwährende Studien, dadurch
erworbene gründliche Kenntnisse, sowie durch öftere
Beobachtung einer großen Menge von Kranken
gesammelte Erfahrung, Scharfblick und richtiges
Urteil voraus.”
Verbunden mit diesem Verständnis der Bedeutung
der richtigen Diagnose einer Krankheit ist auch eine
Erwartung von Klarheit über die Prognose und die
Hoffnung auf eine erfolgreiche Therapie, die letzt-
endlich zur Heilung der Erkrankung führen soll. Die
Diagnose einer chronischen Erkrankung bei einem
Kind ist somit eine doppelte Belastung für die Eltern.
Zunächst machen sie die Beobachtung, dass etwas mit
dem Kind nicht in Ordnung ist, dann erhalten sie oft
die Erklärung, dass eine Heilung nicht zu erwarten
ist und ihr Kind lebenslang von einer chronischen
Erkrankung begleitet sein wird. Die emotionale
Bedeutung dieser „Verluste” hat die Schriftstellerin
Emily Perl Kingsley in ihrem kurzen Essay „Willkom-
men in Holland” sehr treffend dargestellt; viele Inter-
netseiten von Selbsthilfegruppen geben diesen Text
wieder (Kingsley 1987). Die Erwartung eines gesunden
Kindes wird verglichen mit einer Reiseplanung nach
Italien. Bei der Ankunft stellt man zunächst ent-
täuscht fest, in Holland gelandet zu sein, lernt aber
dann die schönen Seiten dieses Landes anzunehmen
und zu schätzen. Manche Eltern kommen jedoch nie
in Holland an, ihre Kinder passen in keine Diagnose
und sie müssen sich sozusagen ihr „neues Land” selbst
erschließen. Bei diesem Prozess bleiben das Kind und
die Eltern weiter in Kontakt mit Fachleuten unter-
schiedlicher Berufsgruppen. Die Suche nach einer
Diagnose geht oft über Jahre weiter.
DiagnoseEine uralte medizinische Weisheit hört und liest man
auch heute immer wieder: Ohne Diagnose keine The-
rapie. Mit einer Diagnosestellung ist die Hoffnung auf
Therapie und damit auf Genesung verbunden. Dies
trifft sicher für viele akute Krankheitsbilder zu. Auch
bevölkerungsmedizinisch war das Ziel über Jahrzehn-
te festzustellen, welche Krankheiten aufgetreten sind,
bzw. wie gut Präventionsmaßnahmen wie z. B. Imp-
fungen gewirkt haben. Personen mit chronischen
Erkrankungen und Behinderungen nehmen jedoch
zunehmend Raum ein. Im Bericht über Behinderung
der Weltgesundheitsorganisation und der Weltbank
von 2011 werden sie als die größte Minderheit der
Welt mit etwa eine Milliarde Menschen beziffert
(Weltgesundheitsorganisation und Weltbank 2011).
Chronische Erkrankungen sind inzwischen weltweit
eine der größten Herausforderungen für Gesundheits-
systeme, die in ihrem Aufbau, ihrer „Servicestruktur”
> Bevölkerungsmedizinisch stehen Fragen nach der Funktionsfähigkeit und Lebens- qualität der Menschen mit chronischen Erkrankungen im Vordergrund. <
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und ihrer Finanzierung vor allem an der Behandlung
akuter Krankheitsbilder ausgerichtet sind. Hier wird
ein Umdenken erforderlich sein (Allotey, Reidpath et
al. 2010). Menschen mit chronischen Erkrankungen
haben oft sehr komplexe Bedürfnisse mit fließenden
Übergängen zwischen notwendigen medizinischen
und sozialen Hilfen. Die Ausrichtung dieser Hilfen
allein an Diagnosen ist oft wenig hilfreich und birgt
die Gefahr der Diskriminierung vor allem dann, wenn
zum Beispiel Leistungen nur einer bestimmten Diag-
nosegruppe zuteilwerden und diejenigen, die entwe-
der die „falsche” oder noch keine Diagnose haben,
von diesen Leistungen ausgeschlossen werden, selbst
wenn diese hilfreich wären (McDowell und O‘Keeffe
2012). Bevölkerungsmedizinisch stehen somit nicht
mehr Todesraten oder Impferfolge im Vordergrund,
sondern Fragen nach der Funktionsfähigkeit und
Lebensqualität der Menschen mit chronischen Erkran-
kungen.
Auch in der Forschung wird ein Umdenken notwendig
sein. Der größte Anteil an Forschungsgeldern fließt
weiterhin in Projekte, die zum Ziel ihrer Untersu-
chungen eine Verbesserung der Körperfunktionen
und -strukturen haben. In einer Analyse der Outcome-
Kriterien aller Interventions-Studien (clinical trials)
über chronische Erkrankungen bei Kindern beschrie-
ben nur sieben Prozent aller Studien Effekte der
untersuchten Interventionen auf Aktivitäten und Par-
tizipation (Fayed, Kraus de Camargo et al. 2013). Diese
sogenannten „patient-important outcomes” müssen
stärkere Beachtung bei der Entwicklung von Studien-
designs finden, um letztendlich auch zu Ergebnissen
zu gelangen, die für den Patienten mit einer chroni-
schen Erkrankung relevant sind.
BehinderungDie unterschiedlichen Modelle von Gesundheit haben
auch ein unterschiedliches Verständnis des Begriffs
„Behinderung“ zur Folge. Im bio-medizinischen
Verständnis ist Behinderung eine Art Diagose. Man
spricht von „chronischen Erkrankungen und Behinde-
rungen“. Im sozialen Modell von Gesundheit ist die
Behinderung das Ergebnis einer sozialen Interaktion
und nicht notwendigerweise mit einer Diagnose ver-
knüpft.
Im Grundgesetz wurde 1994 dem Artikel 3 der Satz
hinzugefügt „Niemand darf wegen seiner Behinde-
rung benachteiligt werden“. Auf der Homepage des
Bundesministeriums für Arbeit und Soziales steht
unter der Überschrift „Was ist Teilhabe behinderter
Menschen?“ der Satz: „Menschen mit Behinderungen
wollen genauso leben wie nichtbehinderte Menschen“
(Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2009).
Was ist der Unterschied zwischen einem Menschen
mit einer Behinderung und einem behinderten Menschen? Wir
haben gelernt, dass es politisch nicht korrekt ist, einen Menschen
mit einer Diagnose zu beschreiben, da er in erster Linie Mensch
und erst dann jemand mit einer Diagnose ist. Um die Reduzie-
rung eines Menschen auf seine Krankheit zu vermeiden, spricht
man nicht mehr vom „spastischen“, „autistischen“ oder „stottern-
den“ Kind sondern von einem Kind mit einer Zerebralparese, mit
einer Autismus-Spektrum-Störung oder einer Redeflussstörung.
Wenn wir von einem Menschen mit Behinderung sprechen,
bedeutet dies, dass wir Behinderung als eine definierte Einheit
verstehen, die man einem Menschen wie eine Diagnose zuordnen
kann. Die Denkweise des sozialen Modells von Gesundheit zeigt
sich im Wahlspruch der Behindertenbewegung „behindert ist
man nicht, behindert wird man“. Wenn Menschen behindert
werden, dann sind damit Dinge in ihrem Umfeld gemeint. Es
müsste dann also eigentlich politisch korrekt heißen „behinderte
Menschen“, d. h. „Menschen in einem behindernden Umfeld“
oder „Menschen, die behindert werden“.
Die Bedeutung des Spannungsfeldes des Menschen (mit oder ohne
eine Diagnose) und seiner Umwelt bringt die Internationale Klas-
sifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit
(ICF) zur Geltung (Abbildung 1) und versucht damit die Gesichts-
punkte des bio-medizinischen Modells und des sozialen Modells
von Gesundheit zu vereinen. Eine Person mit einem Gesundheits-
zustand (und das gilt für jede Person) lebt in einem bestimmten
Kontext. Ihre Funktionsfähigkeit und das Ausmaß ihrer Behinde-
rung ergeben sich aus dem Wechselspiel von Körperfunktionen,
-strukturen, Aktivitäten und Partizipation, die in diesem Kontext
ausgeführt werden. Unter diesen Gegebenheiten gilt eine Person
als funktional gesund, wenn
- vor ihrem gesamten Lebenshintergrund (Konzept der
Kontextfaktoren),
- ihre körperlichen Funktionen (einschließlich des mentalen
Bereichs) und Körperstrukturen allgemein anerkannten
Normen entsprechen (Konzepte der Körperfunktionen
und -strukturen),
- sie nach Art und Umfang das tut oder tun kann, wie es
von einem Menschen ohne Gesundheitsproblem erwartet
wird (Konzept der Aktivitäten),
- sie ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind,
in der Art und dem Umfang entfalten kann, wie es von
einem Menschen ohne Schädigungen der Körperfunktio
nen/-strukturen und Aktivitätseinschränkungen erwartet
wird (Konzept der Teilhabe) (Schuntermann 2009).
> Im sozialen Modell von Gesundheit ist die Behinderung das Ergebnis einer sozialen Interaktion und nicht notwendigerweise mit einer Diagnose verknüpft. <
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Dementsprechend wird Behinderung allgemein defi niert als eine
negative Wechselwirkung zwischen einer Person, deren Gesund-
heitszustand der Defi nition nach ICD (Internationale Klassifi kati-
on der Krankheiten, WHO) entsprechen mag, und ihren Kontext-
faktoren, mit Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit der Per-
son. Speziell liegt eine Behinderung dann vor, wenn sich diese
negative Wechselwirkung auf die Teilhabe in einem Lebensbe-
reich auswirkt (z. B. in der Kindertagesstätte, der Schule oder
beim Spiel bzw. Freizeitaktivitäten). Behinderungen sind somit
nicht absolut, sondern auf Lebensbereiche bezogen (Kraus de
Camargo und Simon 2013).
In diesem Sinne können auch Menschen mit chronischen Krank-
heiten, die traditionell nicht zu den „Behinderungen“ im bio-
medizinischen Verständnis gezählt werden, als behindert gelten.
Diese Behinderungen können allgemeiner Art sein oder sich auf
bestimmte Lebensbereiche beschränken. Ein Kind mit Neuroder-
mitis kann z. B. nicht bestimmte Nahrungsmittel zu sich nehmen
oder sein Gesundheitszustand verschlechtert sich unter bestimm-
ten Witterungsbedingungen. Ein Kind mit ADHS kann sich in
einem Klassenraum mit einem Überangebot an sensorischen
Reizen nicht konzentrieren. Ein Kind mit Diabetes benötigt häufi -
gere Mahlzeiten, als in der Schule vorgesehen und ein Kind mit
Adipositas kann z. B. nicht ein Fahrgeschäft auf einem Rummel
benutzen, da es nicht den vorgegebenen Maßen entspricht. Behin-
derungen treten bei Einschränkungen der Partizipation auf.
IdentitätDer Begriff Identität kommt aus dem Lateinischen „idem“, was
„derselbe“ bedeutet. Wir identifi zieren uns mit Personen, Ideen,
Werten und Lebensweisen, die mit uns übereinstimmen. Wie
oben beschrieben, vermeiden wir eine Reduktion der Identität
von Menschen mit chronischen Erkrankungen auf ihre Diagnose.
Oft hilft eine Diagnose Eltern jedoch, sich mit anderen Eltern zu
identifi zieren, die ebenfalls ein Kind mit der gleichen Diagnose
haben. Dies ist die Grundlage für viele erfolgreiche Elternselbst-
hilfeorganisationen. Neben dem gegenseitigen Austausch unter-
stützen viele dieser Organisationen traditionell auch die For-
schung auf der Suche nach einer Therapie für die jeweilige
Erkrankung. Beispielhaft sind dafür die Deutsche Krebshilfe („Ihr
Ziel ist es, die Krebskrankheiten in all ihren Erscheinungsformen
zu bekämpfen”) (Deutsche Krebshilfe e.V. 2012) oder die Kinder-
herzstiftung („Angeborene Herzfehler lassen sich heute in vielen
Fällen wirkungsvoll behandeln”) (Deutsche Herzstiftung e.V.
2013). Bis zu ihrer Vereinigung mit der Organisation „Autism
Speaks” im Jahre 2007 und der damit verbundenen Aufgabe ihres
urspünglichen Namens „Cure Autism Now” sah auch diese Grup-
pe ihr Hauptziel in der Behandlung und möglichst raschen Hei-
lung einer Störung.
In den letzten Jahren zeigt sich in einigen Bereichen eine Verän-
derung der Bedeutung der Identifi kation mit einer Diagnose. Man
beobachtet, dass es nicht mehr hauptsächlich darum geht, Kräfte
ICF: Bio-psycho-soziales ModellGesundheitsproblem/-zustand
(Gesundheitsstörung oder Krankheit, ICD)
Körperfunktionenund -strukturen
Schädigung
Aktivitäten
Beeinträchtigung
Teilhabe/Partizipation
Beeinträchtigung
Körperfunktionen Aktivitäten Teilhabe/Partizipation
persönliche
Faktoren
- Alter, Geschlecht
- Motivation
- Lebensstil
Umweltfaktoren
Barrieren, Förderfaktoren
- Ernährung, Medikamente
- Zugang zu Leistungen
- Einstellungen anderer Menschen
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zu bündeln, um die identitätsstiftende Diagnose zu bekämpfen,
sondern die Diagnose wird Teil der Identität. Ein Beispiel hier-
für ist die „Autism Pride”-Bewegung. Sie lehnt die Bemühungen
Autismus zu heilen ab und möchte, dass Menschen mit Autismus
als „neurodiverse” Mitglieder der Gesellschaft akzeptiert und
entsprechend ihrer Bedürfnisse unterstützt werden (Cascio 2012).
Dieses Phänomen beschreibt der Autor Andrew Solomon in sei-
nem Buch „Far from the Tree” mit dem Begriff „horizontale Iden-
tität” (Solomon 2012). Im Gegensatz zur „vertikalen Identität”,
wie wir sie in Bezug auf unsere Herkunft, Hautfarbe oder auch
Religion empfinden, beziehen sich „horizontale Identitäten” auf
Merkmale, die wir mit Menschen außerhalb unserer Familie oder
unseres Kulturkreises teilen.
In eine ähnliche Richtung argumentieren Gibson et al. in ihrer
Analyse eines Mädchens mit einer Muskelerkrankung (Gibson,
Carnevale et al. 2012). Sie postulieren, dass das Ziel der größt-
möglichen Unabhängigkeit stark von der westeuropäischen Denk-
weise geprägt ist und postmoderne Theorien eher von einem
„fluiden Selbst” ausgehen, welches sich durch „Interdependen-
zen” im Sinne von gegenseitigen Abhängigkeiten anstatt durch
„Independenz” oder Unabhängigkeit auszeichnet. So sieht sich
das Mädchen in der Fallbeschreibung weder „an den Rollstuhl
gefesselt” noch „im Rollstuhl” sondern der Rollstuhl ist Teil ihrer
Identität, sie ist ein Mädchen „mit einem Rollstuhl”. Das „fließen-
de” dieser Identität ist, dass in bestimmten Situationen ohne Roll-
stuhl z. B. die Mutter Teil der Identität wird, wie auch andere
Personen und Hilfsmittel, die Teil des Lebens dieses Mädchens
geworden sind. Im Gegenzug ist auch das Mädchen selbst und die
besondere Art der Interaktion mit ihr Teil der Identitäten der
anderen Personen. Partizipation ist somit nicht gleichzusetzen
mit größtmöglicher Unabhängigkeit.
Unter diesem Gesichtspunkt bedeutet Partizipation, seine Identi-
tät weiter entwickeln zu können. Dies kann auch in gegenseiti-
gen Abhängigkeiten erfolgen. Nach Renwick besteht Lebensquali-
tät neben dem „Sein” (wer ich als Person bin: physisch, psychisch
und spirituell), dem „Dazugehören” (wie meine Umwelt und ich
zusammenpassen) auch im ständigen „Werden” oder welche Ziele
habe ich, wonach strebe ich, was lerne ich und welche Hoffnun-
gen habe ich (Being, Belonging and Becoming) (Renwick und
Brown 1996).
Kontext und chronische KrankheitenIn der Geschichte der Medizin wurden schon im Altertum äuße-
ren Einflüssen eine wesentliche Bedeutung für die Gesundheit
zugeschrieben (Hippokrates 400 vor Christus). Gerade der bedeu-
tende Pathologe und einer der Begründer der biomedizinischen
Denkweise Rudolf Virchow (Virchow 1858) war es, der auch die
Bedeutung sozialer Verhältnisse als Ursache von Epidemien her-
vorhob (Virchow 1848). Der Kinderarzt Stefan Engel (1878 bis1968)
wird gerne mit der Aussage zitiert: „Jeder Kinderarzt, der seine
Aufgabe voll erfasst, muss gleichzeitig Sozialarzt sein” (Straßburg,
Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin).
Wenn neben den biomedizinischen Erkenntnissen die Bedeutung
der sozialen Verhältnisse schon so lange erkannt war, was hat sich
dann in unserem Verständnis in den letzten Jahrzehnten so
grundlegend geändert, wie eingangs angemerkt? Sigrid Stöckel
zitiert eine Aussage von Stefan Engel aus dem Jahre 1925/26 in
ihrer Abhandlung zur Entwicklung der Sozialmedizin in Deutsch-
land folgendermaßen: „Hygienische Bestrebungen seien darauf zu
richten, ‘die Bevölkerung auf diejenigen Lebensformen einzustel-
len, unter denen sie sich bei den heutigen Lebensbedingungen
gesund erhalten und günstig entwickeln kann’” (Stöckel 2005).
Man kann dies auch so ausdrücken, dass unser Tun darauf abzie-
len sollte, das Individuum der Umwelt möglichst gut anzupassen.
Nach diesem Verständnis ist die Umwelt unveränderbar vorgege-
ben. Das ist die Grundlage eines sozialen Denkens der Fürsorge.
Man hilft den Menschen, die Schwierigkeiten in der Anpassung
an ihre Umwelt haben. Das bedeutet aber auch, dass Patienten als
die „Hilfeempfänger” weiterhin eine eher passive Rolle spielen.
Damit ihnen geholfen werden kann, müssen sie diese Hilfe
annehmen. Erfolgt dies nicht, spricht man in der Medizin von
„Compliance”-Problemen. Compliance heißt übersetzt so viel wie
Fügsamkeit oder Willfährigkeit. Heute wissen wir, dass man die
Umwelt sehr wohl verändern kann, indem man sie beispielsweise
barrierefrei gestaltet und dass Hilfen Patienten- bzw. Familien-
zentriert erfolgen sollen. Und das ist im Wesentlichen eine Folge
des heute veränderten Verständnisses des Begriffs „Behinderung”.
Eine sinnvolle und hilfreiche Veränderung der Umwelt erfordert
jedoch auch einen aktiv mitgestaltenden „Patienten”, der seine
individuellen Bedürfnisse mitteilt und einfordert anstatt willfäh-
rig zu tun, was ihm verordnet wird.
Behandlung und BehandlungszieleWas bedeutet dies für die Behandlung? Ohne auf spezielle Behand-
lungsverfahren unterschiedlicher chronischer Erkankungsbilder
einzugehen, ist parallel zum enormen biomedizinischen Fort-
schritt der letzten Jahrzehnte auch hier eine Veränderung in der
Behandlungsplanung zu beobachten. Der Trend geht hin zu indi-
vidualisierten Ansätzen und der sogenannten personalisierten
Medizin (Burckart und Green 2012). Zum Beispiel wissen wir, dass
das antivirale Medikament Abacavir Nebenwirkungen vor allem
bei Personen mit bestimmten genetischen Merkmalen verur-
sacht. Dies führte zur Empfehlung, diese Merkmale vor Einsatz
des Medikaments festzustellen (Burckart und Green 2012). Weite-
re häufig verordnete Medikamente wie bestimmte Antikonvulsi-
va, Analgetika, oder Antirheumatika weisen ebenfalls unter-
schiedliche Wirkungs- und Nebenwirkungsprofile in Bezug zum
genetischen Profil der Patienten auf (de Beaumais, Elie et al.
2011). In der Zukunft werden vermutlich zunehmend personali-
sierte Ansätze in der medikamentösen Behandlung erfolgen, d. h.
Therapie folgt nicht nur der Diagnose, sondern auch der individu-
ellen Veranlagung des Patienten, die ggf. überhaupt nichts mit
dem Krankheitsbild zu tun hat. Hier zeigt sich auch im Bereich
der rein pharmakologischen Ansätze eine Weiterentwicklung
des bio-medizinischen Modells zum bio-psycho-sozialen Modell.
Die Behandlung chronischer Krankheitsbilder ergibt sich oft aus
einem komplexen Gefüge medizinischer, pädagogischer, psycho-
logischer und sozialer Aktivitäten und Angebote. Die ICF kann
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hier als Rahmen für die Identifikation der unterschiedlichen
Handlungsebenen dienen. Zur Verständigung der Fachleute unter-
einander und mit den Patienten und der Familie ist es von Bedeu-
tung, dass sich die fachspezifischen Ziele an den übergeordneten
Patienten- und Familienzielen orientieren. Die Definition indivi-
dueller Behandlungsziele ist über die ICF gut möglich und hat
sich vor allem im Bereich der interdisziplinären Frühförderung
in den letzten Jahren etabliert (Kraus de Camargo 2007, Kraus de
Camargo und Simon 2013). Je individualisierter Behandlungsziele
ermittelt werden, umso größer sind auch die Erfolge von nicht-
medikamentösen Maßnahmen wie dies z. B. in der Physiotherapie
gezeigt werden konnte (Storck, Zieger et al. 1998, van den Broeck,
De Cat et al. 2010).
RechtRechtsansprüche für behinderte Menschen werden in unter-
schiedlichen Gesetzen geregelt. Zunehmend wird dabei das Ziel
der Teilhabe in den Vordergrund gestellt. So heißt es in § 2 des
Neunten Sozialgesetzbuches (SGB IX): „Menschen sind behindert,
wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische
Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Mona-
te von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und
daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt
ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung
zu erwarten ist.”
Mit der Entwicklung der ICF war auch die Hoffnung verbunden,
dass behinderte Menschen ihre Rechte als Bürger einfordern wür-
den. Wenn die Unterstützung behinderter Menschen nicht mehr
aus der Fürsorgesicht eine „Normalisierung” zum Ziel hat son-
dern die Gewährleistung der Teilhabe, dann bedeutet dies auch,
dass im Falle einer Einschränkung der Teilhabe dies eine Benach-
teiligung einer Gruppe in der Gesellschaft darstellt. Die Teilhabe/
Partizipation im Sinne der ICF („Eingebundensein in eine Lebens-
situation”) bedeutet auch die Wertschätzung der individuellen
Ziele und Bedürfnisse jedes Einzelnen. Das Behindertengleichstel-
lungsgesetz weist auf die Bedeutung der individuellen Bedürfnis-
se hin, um Nachteile zu beseitigen: „Ziel dieses Gesetzes ist es, die
Benachteiligung von behinderten Menschen zu beseitigen und zu
verhindern sowie die gleichberechtigte Teilhabe von behinderten
Menschen am Leben in der Gesellschaft zu gewährleisten und
ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen.
Dabei wird besonderen Bedürfnissen Rechnung getragen”
(§1 BGG).
Bei der Genehmigung von Versorgungsansprüchen findet sich
jedoch weiterhin noch die veraltete Denkweise eines linearen
Zusammenhangs zwischen Schädigung (Ebene der Körperfunkti-
onen und -strukturen in der ICF) und Krankheitsfolgen (Ebene
der Teilhabe in der ICF) wieder. So heißt es in der Versorgungsme-
dizin-Verordnung zum Bundesversorgungsgesetz: „Als Schädi-
gungsfolge wird im sozialen Entschädigungsrecht jede Gesund-
heitsstörung bezeichnet, die in ursächlichem Zusammenhang
mit einer Schädigung steht, die nach dem entsprechenden Gesetz
zu berücksichtigen ist” (Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-
Verordnung zum BVG). Versorgungsleistungen nach diesem
Gesetz werden an Hand einer Tabelle kalkuliert (GdB bzw. GdS),
in der einzelnen Organschädigungen bestimmte Grade einer
Behinderung zugeordnet werden. In dieser Tabelle gilt zum
Beispiel Adipositas nicht als Behinderung, es sei denn, es ist zu
Folgeschäden wie Gelenkschäden gekommen. Diabetes wieder-
um gilt als Behinderung, der Grad hängt jedoch vom Behand-
lungsaufwand ab. Wenn ein Patient Insulin benötigt und trotz-
dem noch eine instabile Stoffwechsellage aufweist, ist der
Behinderungsgrad entsprechend höher. Individuelle Kontext-
faktoren werden dabei nicht berücksichtigt, ebenso nicht die
besonderen Bedürfnisse z. B. der Eltern. Ein bio-psycho-soziales
Verständnis hat somit noch nicht in allen Gesetzen zur Behin-
derung Eingang gefunden.
Doch auch wenn dies der Fall wäre, ist eine weit größere Barrie-
re für die Teilhabe von Kindern mit chronischen Erkrankungen
die Tatsache, dass oft nicht klar geregelt ist, ob eine Leistung
dem Sozial- oder dem Gesundheitsrecht zuzuordnen ist. Dies
führt zu Zuständigkeitsdiskussionen, deren Leidtragende dann
die Patienten und ihre Familien sind. Innerhalb Deutschlands
sind erhebliche regionale Unterschiede zu beobachten, welche
Leistungen bewilligt und bereitgestellt werden. Die Deutsche
Vereinigung für Rehabilitation sieht als Ursache dafür erhebli-
che „Vollzugsdefizite” in der Umsetzung insbesondere des SGB
IX (Deutsche Vereinigung für Rehabilitation e.V. 2011). Zum
anderen führt eine vermeintlich „objektive” Begutachtungspra-
xis leicht dazu, dass tatsächliche Behinderungen, wie wir sie als
kontextbezogene Einschränkungen der Teilhabe verstehen, oft
nicht erfasst werden, insbesondere dann, wenn nicht offensicht-
liche und leicht erkennbare körperliche Merkmale einer Behin-
derung vorliegen. So konnten Häussler et al. zeigen, dass die
Pflegebegutachtung von Kindern mit körperlichen Behinderun-
gen deutlich valider ausfiel als die von Kindern mit einer geisti-
gen Behinderung (Häußler, Streit et al. 2002).
SchlussbemerkungenWir haben gesehen, dass Kinder mit chronischen Erkrankungen
auf allen Ebenen der Gesundheit (individualmedizinisch und
sozialmedizinisch), wie sie in der Struktur der ICF repräsentiert
ist, Unterstützung benötigen. Neben der oft langjährigen medizi-
nischen Betreuung sind auch Unterstützungen im Umfeld zur
Verbesserung der Partizipation von erheblicher Bedeutung. Die
Veränderungen des Umfelds wiederum, wie z. B. Verbesserungen
der Lebensbedingungen, können biologische Prozesse beeinflus-
sen und Auswirkungen auf die Entwicklung chronischer Erkran-
kungen haben.
Diese enge Verzahnung zwischen psychosozialen Einflüssen und
biologischen Effekten unterstreichen die Erkenntnisse der Epige-
netik. So konnte z. B. gezeigt werden, dass nicht nur die Ernäh-
rung während der Schwangerschaft und frühen Kindheit einen
Einfluss auf das spätere Auftreten von chronischen Erkrankun-
gen wie Diabetes und Adipositas hat, sondern dass diese Effekte
selbst über Generationen Auswirkungen haben können (Kaati,
Bygren et al. 2007). Bevölkerungsmedizinische Maßnahmen kön-
nen demnach auch sehr langfristige Effekte haben.
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Einen wesentlichen Einfluss auf die Gestaltung des Umfelds und damit vor allem
auch der Einbindung und Unterstützung/Entlastung der Eltern chronisch kranker
Kinder stellen Gesetze dar, die den Zugang zu Behandlung und notwendige Verände-
rungen des Umfelds regeln. In den letzten Jahren wurden viele Gesetzestexte der
Philosophie eines bio-psycho-sozialen Modells von Gesundheit angepasst und die
Teilhabe/Partizipation der Menschen mit chronischen Erkrankungen ist zum wesent-
lichen Ziel von Behandlung und Unterstützung geworden. Im Alltag ist es jedoch für
viele Familien schwierig, die Unterstützungen zu erhalten, die sie benötigen, da zum
einen noch ein erheblicher Mangel an Informationen besteht und zum anderen trotz
der bestehenden Gesetze die unterschiedlichen Leistungsträger auf lokaler Ebene die
entsprechende Verantwortung nicht übernehmen. So fordert das Kindernetzwerk in
seinem 2. Berliner Appell im Jahre 2012: „Zusammenführung der Sozial- und Gesund-
heitsgesetzgebung in ein einheitliches Leistungsgesetz für die Teilhabe der Kinder,
Jugendlichen und Adoleszenten mit „Behinderungen“ (Kindernetzwerk e.V. 2012).
Dieses Anliegen sollte nicht nur ein Anliegen einzelner Interessengruppen und
Behindertenorganisationen sein, sondern muss als gesamtgesellschaftliche Aufgabe
und Auftrag verstanden werden.
Letztendlich betrifft Behinderung nicht nur die größte Minderheit auf dieser Welt,
sondern ist fester Bestandteil eines jeden menschlichen Lebens. Oder, wie es die Ethi-
kerin Rosemarie Garland-Thomson ausdrückt: „Behinderung ist möglicherweise die
essentielle Eigenschaft, die uns als menschliche Wesen definiert” (Garland-Thomson
2012, eigene Übersetzung).
Die vollständige Literaturliste ist beim Verfasser erhältlich.
Dr. Olaf Kraus de Camargo ist Associate Professor in der Abteilung für Entwicklungspädiatrie
an der McMaster University in Hamilton (Ontario, Kanada).
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