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Der Schutz der Einfältigen. Menschen mit einer geistigen Behinderung in der Bibel und in weiteren...

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Edgar Kellenberger Der Schutz der Einfältigen kellenberger.indb 1 05.08.2011 11:38:19
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Edgar Kellenberger

Der Schutz der Einfältigen

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Edgar Kellenberger

Der Schutz der Einfältigen

Menschen mit einer geistigen Behinderung in der Bibel und in weiteren Quellen

Theologischer Verlag Zürich

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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de/ abrufbar.

Umschlaggestaltung Simone Ackermann, Zürich unter Verwendung der Malarbeit «Wüstenwanderung des Volkes Israel» von Rolf N. (siehe S. 41–43), benutzt mit freundlicher Genehmigung der Evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Oberwil BL (Foto: Simon Bürgin, Oberwil)

Druck ROSCH-BUCH Druckerei GmbH, Scheßlitz

ISBN 978-3-290-17604-4

© 2011 Theologischer Verlag Zürich http://www.tvz-verlag.ch/

Alle Rechte bleiben vorbehalten.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

I. Vorgehen und Ziel dieses Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

II. Geistige Behinderungen in der Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1. Die Suche ist nicht einfach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2. Ein Nachweis ist möglich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 3. Geistige Behinderung und «Normalintelligenz» . . . . . . . . . . . . 20 4. Eine neue Fährte ins Alte Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 5. Unterschiedliche Kategorien in der Bibel und heute. . . . . . . . . . 23 6. Das Doppelgesicht der modernen Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . 24 7. Die verschiedenen Gesichter der altorientalischen Medizin . . . . 26 8. Jesus als «Heiler» und Berührender. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 9. «Taubstumme» im Neuen Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 10. Weitere Blicke ins Alte Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

III. Was schöpfen geistig Behinderte heute aus der Bibel? . . . . . . . . . . 39 1. Menschen mit einer geistigen Behinderung und ihr Beitrag

für das Verständnis von Bibeltexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2. Möglichkeiten und Grenzen einer religiösen Sozialisation . . . . . 40 3. Zum Beispiel Rolf N. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 4. Zum Beispiel Bernhard K. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 5. Eigenständige und ernstzunehmende Erklärer der Bibel . . . . . . 45 6. Konsequenzen für heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 7. Rückschlüsse auf die Lebenssituation in biblischer Zeit . . . . . . 50 8. Anregungen für die Bibelwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

IV. Mögliche Schicksale von Menschen mit geistiger Behinderung. . . . 55 1. Methodische Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2. Kindersterblichkeit und Überlebensmöglichkeiten. . . . . . . . . . . 58 3. Auffällige Geburten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

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4. Kindestötung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 5. Keine Opfer von behinderten Kindern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 6. Aussetzung von Neugeborenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 7. Vernachlässigung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 8. Strassenkind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 9. Bettelexistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90

10. Geringschätzung, Verspottung und Instrumentalisierung. . . . . . 92 11. Prostitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 12. Verding- oder Adoptionsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 13. Schenkung an den Tempel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 14. Aufnahme zur Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 15. Integration innerhalb der Sippe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 16. Integration durch die Glaubensgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . 127

Exkurs: «Segen und Fluch» bzw. «Schuld und Strafe» . . . . . . . . . 132

17. Auswirkungen in der Kirchengeschichte: Belastende Äusserungen von Augustinus und Luther . . . . . . . . . . . . . . . . 135

18. Integrationsmöglichkeiten innerhalb der Gesellschaft . . . . . . . 139

V. Lehren für heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 1. Ein Bilderbogen des Lebens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 2. Menschen in Kategorien einteilen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 3. Die Stimme der monotheistischen Religionen . . . . . . . . . . . . . 155 4. Fortschritte und Rückschritte in der Moderne. . . . . . . . . . . . . 157 5. «Euthanasie von unten» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 6. Bedürftigkeit als Grundvoraussetzung des Menschseins . . . . . 162 7. Zukünftige Entwicklungen und Herausforderungen . . . . . . . . 163 8. Leben als Geschenk. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169Autorenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171Bibelstellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173Stichwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

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Vorwort

Der Titel dieses Buches ist bewusst offen formuliert, so dass er die Ge-danken in verschiedene Richtungen lenken kann, und lehnt sich an eine Wendung aus einem Psalmgebet an (Ps 116,6). Das Buch stellt einerseits Forschungsarbeit auf einem bisher noch kaum bearbeiteten Gebiet vor und richtet sich andrerseits an ein breiteres Publikum von Interessierten und Betroffenen. Diese doppelte Ausrichtung auf zwei so unterschiedliche Leserkreise erfordert gegenseitige Rücksichtnahme. Die Auseinandersetzung mit der Fachliteratur geschieht konkret in den Anmerkungen und kann bei der Lektüre auch gut übergangen werden. Hebräische und andere alt-sprachliche Wörter sollen lesbar und aussprechbar sein für jemanden, der dieser Sprachen nicht kundig ist. Im Buch werden folgende Sonderzeichen verwendet:

ḥ Aussprache: ch (deutsch Bach)q wie französisch commeṣ z (Zukunft)š sch (Busch)ṭ t (französisch tête)ʾ weicher Stimmeinsatz (deutsch ʾUrʾahn)ʿ harter Stimmeinsatzē wird im Griechischen als ä ausgesprochen, sonst als langes eĕ flüchtig gesprochener Vokal wie in französisch leă gemurmeltes, kurzes a

Als Faustregel gilt: Lateinische und babylonische Wörter werden auf der zweitletzten Silbe betont, hebräische hingegen auf der letzten (häufigste Aus-nahme in diesem Buch: petî ist auf dem e zu betonen). Für das Griechische gibt es leider keine solche Faustregel.

Die Übersetzung biblischer Texte folgt, allerdings nicht sklavisch, der Zürcher Bibel von 2007; zuweilen übersetze ich etwas zugespitzter, was sich eine offizielle Bibelübersetzung ohne die hier gebotenen Erläuterungen so nicht leisten kann.

Ein solch kulturübergreifendes Projekt bedingt Übergriffe in Fach-gebiete, in denen mir eine professionelle Ausbildung fehlt. Ich danke darum allen Fachleuten für ihre kritische Durchsicht von Teilen meines

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Manuskripts: Dr. med. Verena Meier, Dr. med. Hans-Peter Vontobel, Dr. med. Peter Frutiger, PD Dr. theol. Christina Tuor (Neues Testament), den Heilpädagoginnen Babs Noll und Irit Szir sowie dem Psychologen Alois Berger; Markus Christen für die Besprechung humangenetischer Fragen und deren ethischen Implikationen sowie Dr. phil. Gerhard Graf und Dr. phil. Christian Graf für Fragen in Bezug auf die Philosophie-geschichte. Viele andere Menschen, deren Namen zum Teil im Laufe des Buches erwähnt werden, trugen ebenfalls dankenswerte Anregungen aus ihrem Erfahrungsbereich bei.

Die letzte Verantwortung, dass alles in zutreffendem Zusammenhang wiedergegeben wird, bleibt aber natürlich bei mir. Dasselbe gilt ange-sichts der hilfreichen sprachlichen Verbesserungsvorschläge des Lektors Samuel Arnet, der sich um eine Optimierung der Leserfreundlichkeit be-mühte. Ihm und den andern Verlagsverantwortlichen sei gedankt für ihren sorgfältigen und überdurchschnittlich engagierten Einsatz.

Oberwil, im Juli 2011Edgar Kellenberger

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I. Vorgehen und Ziel dieses Buches

Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit drei Fragen:

1. Werden Menschen mit einer geistigen Behinderung in der Bibel und in den Quellen benachbarter Kulturen erwähnt?

2. Wie haben wir uns ihr Schicksal vorzustellen?3. Was können wir aus solchen Erkenntnissen für uns heute und für die

aktuelle Problematik lernen?

Die Bibelwissenschaft hat sich bisher noch kaum der ersten Frage an-genommen. Die zweite und dritte Frage betreten erst recht Neuland. Bei einem solchen Projekt sind zunächst Vorfragen zu klären:

Ist es überhaupt möglich, aus der geschichtlichen Vergangenheit etwas Hilfreiches zu unserm Thema zu lernen? War damals nicht alles grund-sätzlich anders? Es fehlten doch die heutigen heilpädagogischen und medizinischen Errungenschaften wie beispielsweise die pränatale Diagnostik. Doch vieles war gar nicht völlig anders, wie folgendes Beispiel zeigt: In den letzten Jahren haben die Medien über die Einrichtung der «Babyklappe» im ehemals klösterlichen Spital Einsiedeln1 als einer Sensation berichtet – ohne zu realisieren, dass diese Einrichtung Jahrtausende alt ist. Bereits aus dem alten Ägypten sind Personen bekannt mit dem Eigennamen «Sie-haben-ihn (bzw. das Mädchen)-vor-den-Gott-XY-gelegt (wörtlich: weggeworfen)».2 Offenbar wurde das Kind, das man nicht aufziehen konnte oder wollte, auf die Tempelschwelle der betreffenden Gottheit gelegt. Dass gerade auch behinderte Kinder – ebenfalls solche mit einer geistigen Behinderung – von diesem Schicksal betroffen waren, wird uns im Verlauf dieses Buches noch weiter beschäftigen. Jedenfalls stossen wir hier auf ein Phänomen, das während Jahrtausenden auf ähnliche Weise praktiziert worden ist. Das dahinter liegende «ewige» Problem führte offenbar immer wieder zur selben Lösung. Der bekannte französische Historiker Fernand Braudel hat für solche Phänomene den Ausdruck «longue durée» geprägt.

Natürlich war früher auch manches anders. So blieben die technischen

1 www.babyfenster.ch/frame.html.2 H. Ranke, Die ägyptischen Personennamen, Bd. 2, Glückstadt 1952, S. 244;

vgl. S. 227, 323 und 380.

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Möglichkeiten zu einem Schwangerschaftsabbruch viel eingeschränkter als heute. Stattdessen existierten mindestens zwei Alternativen: Kindes-aussetzung und Kindestötung. Beides gilt heute als unmenschlich – aber vermutlich hätten auch frühere Generationen lieber eine «klinisch saubere» Abtreibung vorgenommen, wenn sie dazu in der Lage gewesen wären. Ebenso kann man fragen, ob ein grundsätzlicher Unterschied besteht, wenn damals ein behindertes Kind erst nach der Geburt als solches erkannt und (eventuell) getötet wurde, wogegen heute die pränatale Diagnostik die Möglichkeit bietet, es bereits vor der Geburt operativ zu entfernen.

Wenn wir sehen, dass vieles durch die Jahrhunderte und Jahrtausende gleich oder ähnlich geblieben ist, weil es zur elementaren condition humaine gehört, so stellt sich unsere Ausgangsfrage noch schärfer: Was können wir aus der Vergangenheit für unsere heutigen Fragen lernen, falls sich zeigen sollte, dass «nichts Neues unter der Sonne» geschieht? In diesem Buch wird die ganze Variationsbreite bedacht, wie unterschiedlich der Umgang mit denjenigen Menschen war, die man heute als «geistig behindert» bezeichnet.

Weitere Quellen nebst der Bibel

Auf den ersten Blick scheint die Bibel kaum etwas zu geistiger Behinderung zu sagen. Darum sollen nicht nur das Alte und Neue Testament befragt werden, sondern ebenfalls die benachbarten Kulturen: Ägypten, Meso-potamien, die griechische und lateinische Antike, zuweilen auch die nachfolgende christliche Kultur bis ins Mittelalter sowie der Koran. Eine solche Ausweitung verspricht schon darum erfolgreiche Ergebnisse, weil wir z. B. aus den Keilschriftdokumenten ein besonders breites Spektrum an Informationen über alltägliche Lebensverhältnisse erhalten. Bei Aus-grabungen fand man u. a. auch Quittungen, private Briefe, Abmachungen und Verträge, also viele zufällige schriftliche Zeugnisse, welche in offiziellen Schriften und literarischen Werken nicht als der Mitteilung wert erachtet werden. Das Alte Testament hingegen stellt eine offizielle Schriftensammlung dar, deren einschränkende Auswahl durch sakrale und unterweisende Interessen bestimmt wurde. Noch konzentrierter, und folglich noch ein-geschränkter, ist die Sammlung neutestamentlicher Schriften. Doch die reicher dokumentierten Nachbarkulturen können u. U. den Blick öffnen für etwas, was in der Bibel ebenfalls vorkommt, wenn auch nur leise an-getönt, so dass es bisher übersehen worden ist. Durch den «Umweg» über die Nachbarkulturen wird es möglich, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung in der Bibel «sichtbar» werden. Dabei wird sich zeigen, dass die Bibel zu unserer aktuellen Thematik Wesentliches zu sagen hat.

Doch darf man alle diese Kulturen im selben Atemzug nennen? Wie entscheidend ist der grosse zeitliche und geographische Abstand? Bei aller

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notwendigen Differenzierung treten erstaunliche Gemeinsamkeiten zutage. Dazu ein Beispiel: Das Aussetzen von Kindern kann in vielen Kulturen jeweils mit Tätigkeitswörtern bezeichnet werden, welche «fortwerfen» be-deuten: Im Ägyptischen lautet dies ḥaʿ, im Babylonischen nadû und nasāku, im Griechischen rhiptein bzw. aporrhiptein, im Lateinischen proiicere, in der deutschen Rechtssammlung des Urschwabenspiegels werfen.3 Auch das Alte Testament reiht sich hier ein mit dem hebräischen Wort hišlîk. Jede der genannten Sprachen verwendet also ein Wort desselben Inhalts. Mit diesen Ausdrücken für «fortwerfen» wird deutlich, dass hier eine ge-meinsame Vorstellung zugrunde liegt, die im weiteren Verlauf dieses Buches noch ausführlich vorgestellt werden soll. Man wirft fort, wofür man selber nicht sorgen will. Der Begriff trägt in sich einen negativ wertenden Touch (entweder gegen das Weggeworfene oder gegen den Wegwerfenden), etwa ähnlich wie unser deutsches Wort «abschieben». Es ist wohl kein Zufall, wenn das lateinische Wort für «wegwerfen» (proiicere) nicht nur für das «Aussetzen» eines Kindes verwendet wird, sondern im Mittelalter ebenfalls für das «Abschieben» eines Kindes (häufig wegen einer körperlichen oder geistigen Behinderung) in ein Kloster.4

Wir werden die alten Texte auch danach befragen, welche unterschied-lichen Motivationen und Wertungen hinter dem damaligen Tun erkennbar werden. Dabei ist zu beachten, dass es sich hier ausschliesslich um Texte aus «vormodernen» Zivilisationen handelt. Um diesen Graben nicht vor-schnell zu überspringen, wird meine Beobachtung zuweilen ausgeweitet auf heutige «vormoderne» Kulturen in der Dritten Welt sowie auf ehe-malige prähistorische Kulturen, soweit die Auswertung archäologischer Funde etwas zu unserem Thema beitragen kann. Ausgraben lassen sich bekanntlich nur Knochen, aber nicht Geist und Seele; da aber die Schädel-knochen von Menschen mit Trisomie 21 (Downsyndrom) eine spezielle Form aufweisen, können sie schon seit prähistorischer Zeit mit grosser Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden.5 Dabei ist stets in Betracht zu ziehen, dass archäologische Funde «stumme» Zeugen sind, die erst durch unsere heutige (subjektive!) Deutung zum Sprechen gebracht werden.

3 Belege bei J. Boswell, Kindness, S. 304 und 326. – Zum kulturübergreifenden Phänomen gehört, dass diese Vorstellung auch in unterschiedlichen Religionen begegnet (zur römischen Religion siehe z. B. Livius, ab urbe condita XXVII 37,6).

4 Belege bei J. Boswell, S. 298–299.5 Näheres weiter unten S. 62.

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Definitionen von geistiger Behinderung

Schliesslich bedarf es einer Klärung, was das vorliegende Buch unter «geistiger Behinderung» genau versteht. Bewusst stelle ich an die alten Texte eine «moderne» Frage, die einer früheren Zeit nicht adäquat ist. Ich verwende also den heutigen Begriff zunächst ganz unkritisch im landläufigen Sinn, um erst im Laufe der Untersuchung den Blick dafür zu gewinnen, wie frühere Kulturen geistige Behinderung anders wahrgenommen und möglicherweise Abgrenzungen vorgenommen haben, die nicht mit den unsrigen übereinstimmen.6 Das vorliegende Buch geht aus vom breiten Spektrum der Menschen, die (zumindest in den Jahren zwischen etwa 1960 und 1990) alle einer heilpädagogischen Schule zugewiesen wurden. Wenn heute der Wunsch stark zunimmt, einen möglichst grossen Teil dieser Kinder in Regelklassen der allgemeinen Schule zu integrieren, so ist dies ein interessantes Phänomen, das sich tendenziell wieder vorindustriellen Zivilisationen annähert. Ob diese Integration in die modernen Gesell-schaft ein Erfolgsmodell wird, kann frühestens in einem Jahrzehnt beurteilt werden, wenn die Kinder nach Abschluss der Schulzeit den Weg in die Arbeitswelt finden müssen.

Behinderung von Nichtbehinderung oder von anderen Behinderungen abzugrenzen, ist oft schwierig. Erst recht gilt das, wenn wir uns anhand alter Geschichtsquellen eine Vorstellung von einer Behinderung machen müssen, die damals von anderen Voraussetzungen aus betrachtet worden ist. Diese Problematik soll gleich zu Beginn an einem Beispiel veranschaulicht werden:7 Der mittelalterliche, in Konstantinopel wirkende Universalgelehrte Michael Psellos (um 1050) berichtet von einem seltsamen jungen Mann mit wildem Blick,8 der die üblichen Kontakte eines jungen Mannes (Jagd, Sport, Ball-spiele, Schwitzbad) mied. Stattdessen liebte er, die Spindel zu drehen und zu weben. Er spielte mit Puppen und legte sich in einer Art Puppenstube Braut und Bräutigam, Schwangerschaft und Geburt zurecht. In der Wertung jener

6 Auf eine systematische Darstellung gleich von Anfang an wird bewusst verzichtet, und zwar zugunsten eines «Blicks von unten», der den «Überblick aufs Ganze» erst mit der Zeit gewinnen kann. Der Zugangsweg in Kapitel II ist darum sachgemäss «tastend». Auf dieselbe Weise lernen übrigens nicht nur Menschen mit einer Behinderung, sondern ebenfalls Normbegabte die Welt kennen.

7 R. Volk, Der medizinische Inhalt der Schriften des Michael Psellos, München 1990, S. 120–124. Der Titel des Traktats lautet: «Wie die einen Menschen intelligent und die anderen töricht (mōroi) werden». Textausgaben: D. O’Meara, Philosophica Minora II, Leipzig 1989, S. 88–92; mit Übersetzung und Kommentar O. Auburger, Michael Psellos, Die Entstehung von Intelligenz und Schwachsinn, Diss. TU München 1978.

8 Die Formulierung tōn ommatōn agrion meint vielleicht weniger einen wilden, sondern eher einen starren bzw. stieren Blick.

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Gesellschaft galt all dies als «weibisch»; auf uns heute wirkt ein solcher (ca. 15- bis 20-jähriger) Mann eher infantil. Der Verdacht einer geistigen Behinderung wird zusätzlich genährt durch die Mitteilung, die Ursache dieses merkwürdigen Benehmens läge in seinem «übergrossen Kopf, fast wie ein Rind», wodurch die «Bewegungen der Geisteskräfte geschwächt» würden und der Mann einen «schlaffen und schwachen Verstand» habe. Handelte es sich etwa um einen Hydrozephalus («Wasserkopf»), was häufig mit geistiger Behinderung einhergeht? Diese Vermutung erscheint plausibel, zumal Psellos solche Menschen als «linkisch, abgestumpft, schwach und voll Vergesslichkeit» beschreibt. Allerdings ermöglicht uns der Charakter des alten Textes keinen medizinischen «Beweis». Mit solchen Unsicher-heiten müssen Historiker leben.

Der Beitrag der Hauptbetroffenen

Vielgestaltig und nuancenreich ist das Bild über geistige Behinderungen und den Umgang mit solchen Menschen, das sich aus den Geschichts-quellen gewinnen lässt. Ähnlich vielgestaltig ist das Leben dieser Menschen auch heute – mit ihrer unermüdlichen Lebensfreude und ihren schwierigen Zeiten. Einblicke bekam ich seit Jahrzehnten als Vater durch unseren Sohn Bernhard, und dann auch durch viele andere Menschen, die ich im Laufe der Jahre dank ihm kennenlernte. Diese Erfahrungen haben mich geprägt. Sie führten im Dialog mit den alten Geschichtsquellen zu neuen Fragen, sowohl an die Vergangenheit wie an unsere heutige Lebenspraxis.9 Solche Fragen sowie mögliche Antworten sind der Inhalt dieses Buches.

9 Zur wissenschaftlichen Weise der Wahrheitsfindung gehört eine gute Balance zwischen persönlicher Betroffenheit und genügender Distanz zum «Forschungs-gegenstand». Für diese Balance ist vielleicht der Umstand hilfreich, dass meine Frau und ich nicht biologische Eltern sind, sondern unseren Sohn adoptierten.

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II. Geistige Behinderungen in der Bibel

1. Die Suche ist nicht einfach

Wer auf die Suche geht nach biblischen Erwähnungen einer geistigen Be-hinderung, bedarf eines genauen, ja eines hartnäckigen Blicks.1 Grund-sätzlich anders verhält es sich mit körperlichen Behinderungen, wo man sich sofort an Heilungsgeschichten in Bezug auf Seh-, Hör- und Geh-defizite erinnert. Aber geistige Behinderungen? Aus dem Alten Testament kommt uns vielleicht der König Saul in den Sinn (1Sam 16,14–23). Doch hier – wie auch bei David, der vor den Philistern den Wahnsinnigen mimt (1Sam 21,14) – geht es deutlich um psychische Phänomene, die ausserhalb der Thematik dieses Buches liegen.2 Im Neuen Testament erinnern wir uns zuerst an die (von einem Dämon oder einem unreinen Geist) «Besessenen». Jedoch beschreiben die Evangelien solche Menschen mit Einzelheiten, die ebenfalls – zumindest nach unseren heutigen Kriterien – auf psychische Erkrankungen hinweisen:3 Der Besessene, der in Grabhöhlen haust und wild herumschreit, zeigt sich nach dem heilenden Machtwort Jesu als ein gesitteter Mensch, «bekleidet und besonnen» (Markus 5,15). Das hier

1 Für unsere Thematik wenig ergiebig sind die breiten bibeltheologischen Ausführungen in drei Büchern, die sich fast ausschliesslich mit körperlichen Be-hinderungen befassen: H.-G. Schmidt (Hg.), In der Schwäche ist Kraft. Behinderte Menschen im Alten und Neuen Testament, Hamburg 1979; A. K. Szagun, Be-hinderung. Ein gesellschaftliches, theologisches und pädagogisches Problem, Göttingen 1983; und H. R. Herbst, Behinderte Menschen in Kirche und Gesellschaft, Stuttgart 1999. Beachtenswerter ist die diakoniewissenschaftliche Dissertation von N. Petersen, Geistigbehinderte Menschen.

2 Dazu siehe S. M. Olyan, Disability, S. 66ff. Im Englischen meint «mental disability» vorwiegend psychische Probleme; hingegen wird eine (seit Geburt be-stehende) geistige Behinderung – worauf Olyans Buch kaum eingeht – als «mental retardation» oder «intellectual disparity» bezeichnet.

3 H. I. Toensing, Living among the Tombs. Society, Mental Illness and Self-Destruction in Mark 5:1–20, in: H. Avalos u. a. (Hg.), This Abled Body, 2007, S. 131–143.

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vorkommende griechische Wort für «besonnen sein» (sōphronein) ist weder auf Intelligenz noch auf Vernunft fokussiert, sondern steht in 1Petr 4,7 im Zusammenhang mit angemahnter «Nüchternheit» und in 2Kor 5,13 im Gegensatz zur «Ekstase».

Etwas näher kommen wir vielleicht mit der Heilungserzählung über einen Knaben, dessen geschilderte Symptome deutlich auf epileptische Anfälle hinweisen (Markus 9,17–20). Bekanntlich gehen manche Formen von geistiger Behinderung mit zusätzlicher Epilepsie einher. Doch weder an dieser Bibelstelle noch an andern wird eine geistige Behinderung erwähnt; stattdessen erscheint die uns heute irritierende Verbindung von Epilepsie mit Einflüssen des Mondes4 oder eines «unreinen» bzw. «stummen Geistes» (Mk 9,25 und öfter). Wer dies als vorsintflutliche Erklärungsversuche be-lächelt, muss zumindest eine Antwort darauf geben, warum der Glaube an die Einflüsse des Mondes auf den menschlichen Körper bis in die heutige «aufgeklärte» Zeit weiterlebt, ja vielleicht sogar noch tendenziell zunimmt;5 und für den Glauben an Dämonen lässt sich Ähnliches bis in die Jugend-kultur der Video-Games beobachten. Es ist zunächst einmal nüchtern festzuhalten: Es gibt höchst unterschiedliche medizinische Denksysteme, und sie bestehen heute nebeneinander. Und zweitens: Die Erklärungen der heutigen Schulmedizin sind der Bibel fremd, ebenso auch den andern frühen Kulturen (was nicht heisst, dass es damals keine seriösen medizinischen Beobachtungen gegeben hätte!).

Man kann sich fragen, ob die Denkkategorien der heutigen Schulmedizin unsere Suche nach biblischen Erwähnungen von geistiger Behinderung erschweren. Doch bereits der berühmte Arzt Paracelsus, der im 16. Jahr-hundert auf der Wasserscheide zwischen unterschiedlichen medizinischen Denksystemen steht, stellte mit Verwunderung und Irritation fest, dass Jesus nie Menschen mit intellektuellen Behinderungen geheilt habe.6 (Paracelsus selber konnte es auch nicht; in einer Abhandlung versuchte er wenigstens eine mythologische Erklärung, weshalb solche Behinderungen existieren.)

4 Laut Matthäus beschreibt der Vater den Zustand seines Sohnes als «Mond-süchtigkeit» (selēniazesthai, Mt 17,15; vgl. Mt 4,24).

5 Wenn man an der Meeresküste bei Ebbe und Flut die starken Anziehungs-kräfte des Mondes beobachtet, wird es gut denkbar – wenn auch nicht beweisbar –, dass diese Kräfte auch auf den menschlichen Körper wirken können.

6 Paracelsus, Sämtliche Werke, Abt. I, Band 14, München 1933, S. 73–74. Die unter dem Titel «De generatione stultorum Liber Theophrasti» stehende deutsche (!) Abhandlung ist zuweilen Paracelsus (alias Theophrast v. Hohenheim) abgesprochen worden. Dazu siehe C. F. Goodey, «Foolishness» in Early Modern Medicine and the Concept of Intellectual Disability, in: Medical History 48, 2004, S. 289–310.

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Warum sind die Quellen spröde?

Vonseiten der Bibelwissenschaft wird – meist ohne grosses Nachdenken – die Meinung vertreten, dass geistige Behinderung nirgends in der Bibel erwähnt sei. Als mögliche Erklärung für diese Behauptung werden ganz unterschiedliche Vermutungen angestellt:

-deckung einer Behinderung getötet; oder sie wurden ausgesetzt, was üblicherweise ebenfalls zum Tode führte.

-bereiche, u. a. auch nicht für geistige Behinderungen.

Aufgrund solcher Überlegungen begab sich die Bibelwissenschaft bisher kaum auf die Suche nach allfälligen Erwähnungen geistig behinderter Menschen.

Allerdings haben auch die folgenden Überlegungen das Recht, näher geprüft zu werden:

-hinderungen, ohne dass bisher die Bibelwissenschaft den Bedeutungs-gehalt der entsprechenden hebräischen (bzw. griechischen) Wörter vollständig erkannt hätte?

dem antiken Denken, oder handelt es sich hier um eine moderne Er-findung? Existierten die von uns derart etikettierten Menschen damals ohne diese Etikette – oder vielleicht unter anderen Kategorisierungen (z. B. ohne Differenzierung zwischen psychischen und geistigen Auf-fälligkeiten,7 wie dies ja teilweise noch bis ins 20. Jahrhundert der Fall war)?

-sellschaft problemloser in den Arbeitsprozess integrieren, so dass sie weniger «auffallen» und vielleicht deswegen in den alten Texten selten oder gar nicht Erwähnung finden?

grundsätzlich als ein «gesellschaftliches Konstrukt» bezeichnen: Eine Gesellschaft definiere jeweils das als «Behinderung», was ihre eigenen Interessen so störe, dass man es nicht integrieren wolle.8 «Behindert ist man nicht, Behindert wird man», lautete vor Jahren

7 Zu Recht und Grenzen dieser Differenzierung siehe unten S. 24 und 153.8 Eine ausführliche Präsentation und kritische Diskussion solcher Thesen findet

sich in A. Yong, Theology and Down Syndrome, 2007, S. 79–116. – Ebenfalls

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ein kämpferisches Plakat einer deutschen Behindertenorganisation. Je theoretischer und geistreich-überspitzter solche Thesen – ursprüng-lich für körperliche, unterdessen auch für geistige Behinderung – formuliert werden, desto banger wird es allerdings uns Eltern vor den praktischen Konsequenzen. Wir wissen, dass die begrenzte Autonomie, die unseren geistig behinderten Söhnen und Töchtern gewährt wird und die sie selber mit Schlauheit noch etwas erweitern, stets auf einen verlässlichen und liebevollen Schutz angewiesen bleibt. Da sie sich – wohl im Unterschied zu Menschen mit einer körperlichen Be-hinderung – diesen Schutz nicht selber schaffen können, fühlen wir Eltern uns an ihrer Stelle in die Pflicht genommen.

2. Ein Nachweis ist möglich

Die Antwort auf die Frage, ob geistige Behinderung in den alten Texten überhaupt existiert oder auch nur verschleiert vorkommt, wird dank eines altorientalischen Textes erleichtert. Es ist ein eigentlicher Glücksfall, dass – deutlicher als in der Bibel erkennbar – ein assyrischer Text das tatsächliche Überleben von Menschen mit einer geistigen Behinderung ausführlich dokumentiert: Er entstammt dem Gilgamesch-Epos aus Mesopotamien. Dieses Epos ist fragmentarisch auf keilschriftlichen Tontafeln und Täfelchen aus der Zeit vom dritten bis zum ersten Jahrtausend v. Chr. erhalten, teils im babylonischen oder assyrischen Dialekt, teils in der älteren sumerischen Sprache. Seine weite Ausstrahlung zeigt sich zudem an Streufunden aus Ländern ausserhalb Mesopotamiens (übrigens auch aus Kanaan); und auch noch in den Handschriften aus Qumran erinnert man sich an Gilgamesch als einer Gestalt aus der Urzeit.

Nun beschreiben Fragmente aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. (d. h. etwa aus der Zeit, als in Israel der Prophet Jeremia zur Welt kam) auf ca. zehn Verszeilen das eindrückliche Portrait eines Menschen, dessen geistige Be-hinderung deutlich erkennbar ist. Der hier geschilderte Mensch erhält von seiner Umgebung nur minderwertige Nahrung: Biersatz (anstatt Butter) und Getreideabfall (anstatt richtiges Mehl). Gekleidet ist er in groben Stoff, den sonst niemand trägt, und anstatt eines Gürtels hat er einen einfachen Strick. Im Gegensatz zum privilegierten und weisen König Gilgamesch besitzt er keinen Ratgeber und kann auch anderen keinen Rat geben.9 Auf diese Weise

kritisch äussert sich die medizinhistorische Habilitationsschrift von I. Ritzmann, Sorgenkinder, S. 121–124.

9 Zehnte Tafel, Zeilen 270–278. Eine Übersetzung ins Deutsche findet sich z. B.

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haben wir uns also das (recht kümmerliche!) Leben eines Menschen mit einer geistigen Behinderung im Alten Orient vorzustellen. Dabei zeigt der Zu-sammenhang des Textes, dass hier etwas Typisches geschildert werden soll, das in gleicher Weise auch für weitere Schicksalsgenossen zutraf. Zudem ist ein wichtiges Detail zu beachten: Die mangelhafte Nahrung wird ihm «gegeben»;10 offenbar kann er seine Nahrung nicht wie andere Menschen durch eigener Hände Werk beschaffen.11 Entweder lebt er von Bettelei oder wird von seinen Verwandten versorgt. Oder er ist zumindest unfähig, sich zu wehren, um denselben Arbeitslohn wie alle andern zu erhalten.

Dieser assyrische Text erweist sich demnach als «Kronzeuge» für unsere Thematik. Er dokumentiert, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung über das (besonders gefährliche) Kleinkindalter hinaus überleben konnten, und dies in ausreichender Häufigkeit, so dass ihr Schicksal als etwas Typisches angesehen werden konnte.12 Ein Zweites lernen wir aus diesem Text: Er bezeichnet einen solchen Menschen mit dem assyrisch-babylonischen Wort lillu (Abb. 1).13 Dies ermöglicht uns,

bei W. Röllig, Das Gilgamesch-Epos, Stuttgart 2009, S. 105 oder in «Texte aus der Umwelt des Alten Testaments», Band 3, S. 726. Ältere Übersetzungen sind mit dem Risiko der Unvollständigkeit behaftet, weil immer wieder neue (meist kleine) Ton-tafelfragmente entdeckt werden, die den bereits bekannten Text ergänzen können. Trotzdem sind grosse Teile des Epos noch unbekannt. – Hier die Übersetzung von W. Röllig, welche einige Einzelheiten leicht anders versteht (Zeilen 272–278; Un-sicheres von ihm kursiv gedruckt): «Einem Toren wird Bierhefe gegeben statt süsser Sahne; Kehricht und Kleie anstelle von Kuchen und Brot, gekleidet ist er mit einem Schilfrock anstelle eines Mantels, statt eines Gürtels gegürtet mit einem Strick. Dies (tut er), weil er keinen hat, der ihm rät, er keinen guten Ratschlag bekommt. Gilgamesch, kümmere dich um ihn, wie es Pflicht des Königs ist.»

10 Das hier verwendete Verb nadānu entspricht dem häufigen hebräischen nātan.11 Diese Beobachtung spricht gegen den Übersetzungsvorschlag der ansonsten

vorzüglichen deutschen Ausgabe von S. Maul (Das Gilgamesch-Epos neu übersetzt und kommentiert, München 4. Aufl. 2008). Maul möchte lillu an dieser konkreten Stelle als «gewöhnlichen Menschen» verstehen. Dieser Vorschlag steht innerhalb der Spezialistenzunft einsam da, auch wenn das bedeutungsähnliche Wort saklu z. T. so verwendet wird (z. B. in SAA X 28,3). – Ein babylonischer Kommentar erklärt lillu mit «nicht entscheidungsfähig» (W. G. Lambert, Babylonian Wisdom, S. 78). – Zur Frage, ob lillu auch einen psychisch kranken Menschen bezeichnen könnte, siehe S. 21 Anm. 19.

12 Dies bestätigt ein anderer Text, der die «Vielzahl» von (männlichen oder weiblichen) Menschen mit einer Behinderung an einem Ort als ein (gutes oder schlechtes) Omen bezeichnet; unter den zahlreichen Behinderungsarten begegnet hier dasselbe Wort lillu (S. Freedman, If a City, Tafel I, Zeilen 87–88).

13 Beim Verfassen von Texten in Keilschrift wird die Kante eines Schreibgriffels in den noch weichen Ton gedrückt. Anders als die uns vertraute alphabetische Schrift mit rund zwei Dutzend Zeichen handelt es sich um eine Silbenschrift, die mehrere hundert Zeichen umfasst. Sie ist von links nach rechts zu lesen; das Wort lillu kann entweder als lil-lu (so Beispiel oben) oder als li-il-lu (unten) geschrieben werden.

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also ursprünglich «Laller» bedeuten).14 Ebenfalls eine weibliche Form lillatu lässt sich mehrmals finden. Rund zwei Dutzend solcher Vorkommen (und zudem noch weitere bedeutungsähnliche Begriffe) werden uns helfen, zu zusätzlichen Informationen zu gelangen. Hier ist zunächst die folgende auffällige Beobachtung zu würdigen: Bei manchen Belegen geht es zwar ebenfalls um Menschen mit einer geistigen Behinderung (diese Stellen sollen später in diesem Buch ausgewertet werden). Andrerseits gibt es Belege, wo lillu einen sogenannt «normalintelligenten» Menschen bezeichnet, der in einem konkreten Moment durch «dummes Verhalten» auffällt. Zuweilen sagt jemand auch über sich selber, dass er «dumm handelte».15

3. Geistige Behinderung und «Normalintelligenz»

Bereits das erwähnte Gilgamesch-Epos spielt mit der doppelten Bedeutung von lillu. Es lohnt sich, die obengenannte Stelle genauer in ihrem inhalt-lichen Zusammenhang zu betrachten: Aufgeschreckt durch den un-erwarteten Tod seines Freundes Enkidu unternimmt Gilgamesch eine weite Reise zu Utnapischtim, um von diesem zu erfahren, wie man als Mensch die eigene Sterblichkeit verhindern und zu Unsterblichkeit gelangen könne. Utnapischtim ist nämlich der einzige Mensch, der die Sintflut überlebt hatte und danach von den Göttern das Geschenk der Unsterblichkeit er-hielt. Utnapischtims Rat an Gilgamesch ist allerdings ernüchternd: Anstatt trübseligen Herzens und mit eingefallenen Wangen auf der Suche nach Unsterblichkeit umherzuirren, soll Gilgamesch nach Hause gehen, dort als guter König wirken und sich auch um den lillu kümmern.16 Im Licht dieses Rats erscheint das oben zitierte Portrait des lillu als eine feinsinnige

14 So W. von Soden, Akkadisches Handwörterbuch, Band I, S. 553. Er über-setzt lillu mit «Tölpel, Idiot, Dummkopf».

15 So z. B. in einem Brief aus dem frühen 2. Jahrtausend: «Ich machte eine Dummheit und vertraute dem Šunšija das Geheimnis an» (J. Eidem, The Shemshara Archive, I The Letters, Kopenhagen 2001: Briefe Nr. 70,7.12 und 4,5.12).

16 Zeile 278.

aus dem informationsreichen Schatz der zahlreich erhaltenen Keilschriftdokumente nach weiteren Texten zu suchen, in denen dieses Wort lillu vorkommt, das möglicher-weise lautmalerisch gebildet ist wie unser deutsches Wort «lallen» (lillu würde dann Abb. 1: Keilschrift

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und doppelbödige Botschaft an Gilgamesch:17 Einerseits finden wir eine Gegenüberstellung – hier der privilegierte und weise König Gilgamesch, dort der kümmerlich lebende lillu –, andrerseits benimmt sich Gilgamesch selber wie ein Tor, wenn er in der ganzen Welt umherirrt und der Illusion des ewigen Lebens nachläuft.

Gute Literatur ist jeweils gut komponiert. Deshalb erstaunt es nicht, dass das Wort lillu uns bereits in der ersten Hälfte des Epos an prominenter Stelle begegnet. Dort erfahren wir von Heldentaten, die Gilgamesch mit seinem Freund Enkidu in fernen Ländern unternimmt. So gelangen die beiden zum Zedernwald und zum dortigen Riesen Chumbaba. Dieser fühlt sich durch eine Provokation Enkidus in seiner Ruhe gestört und sagt verärgert zu Gilgamesch: «Es sollen sich doch lillu-Menschen mit diesem Barbaren (gemeint ist Enkidu) beraten! Warum kommst du zu mir?»18 Hier wird lillu eindeutig als Schimpfwort verwendet: Gilgamesch soll doch nicht so blöd sein, sich mit diesem Enkidu einzulassen.

Auch ausserhalb des Gilgamesch-Epos gebrauchen Keilschrift-dokumente lillu quasi als Schimpfwort.19 Dieselbe Verwendungsweise findet sich ebenfalls in vielen andern Sprachen bei Wörtern mit der Be-deutung «Idiot». Wir begegnen hier also einem kulturübergreifenden Phänomen: Noch weit bis ins 20. Jahrhundert hinein war es auch in unserem Land gang und gäbe, Menschen mit einer geistigen Behinderung als Idioten zu bezeichnen. In der medizinischen Fachsprache des 19. Jahr-hunderts war «Idiot» sogar ein offiziell-wissenschaftlicher Ausdruck für sie, und das hatte seine Folgen bis weit ins 20. Jahrhundert. Erst seit wenigen Jahrzehnten ist eine solche Ausdrucksweise ausdrücklich ver-pönt; im heutigen Zeitalter der «political correctness» würde man sich damit völlig ins Abseits stellen.

Die Fortschrittlichkeit der heutigen Sprachregelung scheint unbestreit-bar zu sein. Doch ist die Frage zu stellen: Wurde ein solcher Fortschritt erkauft mit Entwicklungen, welche sich auch als nachteilig für Menschen mit einer geistigen Behinderung herausstellen könnten? Was sind eigentlich

17 A. R. George, The Babylonian Gilgamesh Epic. Introduction, critical edition and cuneiform texts, Oxford 2003, Bd. II, S. 504.

18 Fünfte Tafel, Zeile 86 (vgl. Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Band 3, S. 695).

19 Belege in The Assyrian Dictionary of the Oriental Institute of the University of Chicago, Band L, Chicago 1973, S. 189–190. Grundsätzliche Übersetzung: «fool, moron». – Allerdings ist aus kulturvergleichenden Beobachtungen damit zu rechnen, dass unsere heutige scharfe Trennung von geistiger Behinderung und psychischen Erkrankungen so nicht für frühere Jahrtausende gegolten hat. Doch spricht bei den meisten Belegen der Textzusammenhang stärker für das, was wir heute geistige Behinderung nennen.

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die Konsequenzen, wenn wir heute fein säuberlich trennen – hier unsere (natürlich nur gelegentliche) Dummheit, und dort die Menschen mit einer angeborenen geistigen Behinderung? Ist dies wirklich hilfreich für die heute mit Recht angestrebte Integration, oder führt dies im Gegenteil zu einer stärkeren Separierung mittels Einteilung der Menschen in «korrekte» Kate-gorien? Umgekehrt gefragt: War es ausschliesslich negativ, wenn noch bis vor wenigen Jahrzehnten solche Menschen als «Idiötli» oder «Dummerli» angesprochen wurden, oder schwang in solchen (problematischen) Be-zeichnungen auch eine gewisse Nähe und Wärme mit, wogegen unsere heutigen, wertmässig «neutralen» Bezeichnungen zur emotionalen Sterili-tät neigen? Es ist bezeichnend, dass heute manche Eltern von ihrem Kind mit Trisomie 21 liebevoll – aber ohne jegliche «political correctness» – als von «unserm Mönggi» (Verkleinerungsform zu «mongoloid») reden.

4. Eine neue Fährte ins Alte Testament

Ausgehend von der obigen Beobachtung, dass der zweifache Sinn von Wörtern wie lillu – «Tor» wie auch «geistig Behinderter» – ein kultur-übergreifendes Phänomen darstellt, soll die Suche nun aufs Alte Testa-ment ausgedehnt werden. Hier finden sich zahlreiche Erwähnungen von «Toren» und «Torheit». Vor allem im Buch der Sprüche begegnen wir vielen Mahnsprüchen, die zur «Weisheit» aufrufen und vor «Torheit» warnen. Natürlich sind solche Aussagen adressiert an Menschen, welche als sogenannt Normalbegabte20 nach Weisheit streben und am Vermeiden törichten Handelns interessiert sind. Gleichwohl lassen sich Stellen finden, wo sich ein doppelsinniges Verständnis von Torheit schier aufdrängt:

Wer einen Dummkopf zeugt, dem ist es zum Kummerund nicht freut sich der Vater eines Toren.

(Spr 17,21; vgl. auch 17,25)

Die hier zu beobachtende sprachliche Formulierung ist auffällig: Wie kann man einen Dummkopf (kĕsîl) «zeugen»? Eine vergleichbare Formulierung findet sich zudem in der griechischen Fassung des Buches von Jesus Sirach:

20 Der gebräuchliche Ausdruck «normalbegabt» kann den fälschlichen Ein-druck erwecken, dass das Normale selbstverständlich für jedermann einsichtig ist. Aus diesem Grund verwende ich im Folgenden stattdessen den Ausdruck «normbegabt». Mit diesem «Stolperstein» möchte ich das Bewusstsein dafür wach-halten, dass eine Norm das Konstrukt einer bestimmten Gesellschaft ist und nicht in jedem Fall naturgegeben ist.

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«Die Schande/Scham eines Vaters liegt in der Zeugung (!) eines Nicht-geschulten/Schulungsunfähigen (griechisch apaideutos) / eine (solche) Tochter wird (ihm) zum Nachteil» (Sir 22,3).

Bevor wir uns inhaltlich mit diesen Aussagen befassen (siehe S. 120–121), richten wir das Augenmerk auf den überraschenden sprachlichen Ausdruck «zeugen». Diese Sprüche gehören zur sogenannten Weisheits-literatur, die ihr Interesse der möglichst umfassenden Erziehung junger Menschen zuwendet; dabei eingeschlossen ist die Charakterbildung. Gewiss sind Erziehungsbemühungen nicht immer von Erfolg gekrönt. Doch bei einem Misserfolg kann man schwerlich von «Zeugung» sprechen. Für ein Geburtsgebrechen sprechen analoge Formulierungen aus Mesopotamien und der Antike.21 Somit sind hier kaum charakterliche Bildungsdefizite gemeint, sondern wir finden tatsächlich erstmals Aus-sagen über geistige Behinderungen, die bisher von der Bibelwissenschaft übersehen worden sind.

Etwas Zweites fällt in den beiden zitierten Sprüchen auf. Hier begegnen uns drei verschiedene, aber bedeutungsähnliche Bezeichnungen: «Dumm-kopf», «Tor» und «Nichtgeschult». Zusätzliche hebräische und griechische Begriffe mit derselben Bedeutung lassen sich in weiteren biblischen Texten finden. Merkwürdigerweise fällt es jeweils schwer, die genaueren Unter-schiede zwischen diesen bedeutungsähnlichen Begriffen zu bestimmen. Dies gilt für das Hebräische ebenso wie für das Deutsche. Also auch hier beobachten wir ein kulturübergreifendes Phänomen. Wie ist es zu deuten? Verhält es sich etwa so, dass sich die Realität eines Intelligenzdefizits zwar in einer grossen Vielfalt von Aspekten zeigt, dass sich aber diese Vielfalt schlecht in Kategorien einteilen lässt?

5. Unterschiedliche Kategorien in der Bibel und heute

In den beiden letzten Jahrzehnten lassen sich zwei auseinanderstrebende Tendenzen beobachten: Einerseits führen die modernen medizinischen und pädagogischen Bemühungen zu immer ausgeklügelteren Differenzierungen von Behinderungsarten. Als Folge davon ist das Leben der betroffenen Menschen in vielem gezielt gefördert, erleichtert und bereichert worden. Gleichzeitig ist ein umgekehrter Trend zu beobachten: Bei den Bemühungen um schulische Koedukation versucht man, Kinder mit unterschiedlichsten

21 Belege auf S. 56 (Anm. 22) und 135 (Anm. 237): als lillu (bzw. fatuus) geboren werden.

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Behinderungen zusammen mit sogenannt nichtbehinderten im gleichen Schulzimmer gemeinsam zu unterrichten. Ein solcher Verzicht auf eine differenzierende Kategorisierung entspricht tendenziell eher dem, was wir in agrarischen Gesellschaften, also auch in den biblischen Texten und anderswo, beobachten können.

Solange die Erkenntnisse der modernen Schulmedizin unbekannt waren, konnten die heute gängigen Kategorisierungen gar nicht aufkommen. Ein solches Nichtwissen brachte im Vergleich zu heute erhebliche negative Konsequenzen, aber vermutlich auch einige Vorteile. Wenn beispielsweise zwischen psychischen Erkrankungen und geistigen Behinderungen häufig nicht unterschieden wurde, konnte dies das Leiden der Betroffenen fatal vergrössern. Es wäre darum blauäugig, frühere Kulturen zu idealisieren. Gleichwohl ist es nützlich, die Frage zu stellen, was die heutige Zivilisation als Preis für moderne Lebenserleichterungen allenfalls an Qualitäten ver-loren hat.

6. Das Doppelgesicht der modernen Medizin

2007 erschien eine überaus gründliche Arbeit über das Downsyndrom.22 Der Autor – Amos Yong, ein nordamerikanischer, pfingstlich orientierter Theologieprofessor – ist zusammen mit einem ältern Bruder mit Trisomie 21 aufgewachsen und bringt daher intensive persönliche Erfahrungen in seine theologische Durchdringung ein. Seine historischen, soziologischen und insbesondere seine neuen dogmatischen Überlegungen entfalten einen weiten Horizont und zeigen viele Aspekte, die leicht übersehen werden können. Letzteres gilt auch für seine Überlegungen zum Sieges-zug der modernen Medizin zugunsten der Menschen mit einer geistigen Behinderung.23

Bei aller Dankbarkeit für die naturwissenschaftlichen Segnungen, ohne die sein Bruder kaum die ersten Monate überlebt hätte, bringt er eine kritische Analyse im Blick auf sämtliche Früchte an diesem Baum wissenschaftlicher Erkenntnis. Er redet von einer grundsätzlichen und folgenreichen «Medikalisierung» von geistiger Behinderung und zeigt dies auf am Beispiel «Trisomie 21». Der medizinisch fokussierte Blick führte

22 A. Yong, Theology and Down Syndrome. Yong ist ein kreativer Dogmatiker, aber kein Exeget. Darum ist seine bibelauslegerische und kirchengeschichtliche Ausbeute mager. Sein Buch wertet sehr viel (ausschliesslich englische) Fachliteratur aus verschiedensten Gebieten aus.

23 Ebenda, S. 45–77.

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erst im 19. Jahrhundert zur «Entdeckung» und wissenschaftlichen Be-schreibung dieses Phänomens durch den englischen «Irren-Arzt» John L. Down. Nach dessen Namen reden wir heute von Downsyndrom (der Entdecker selbst hatte die rassentheoretisch begründete Bezeichnung «Mongolismus» gewählt). Diese Entdeckung, die also erst knapp 150 Jahre alt ist, geschah in einer frühindustriellen Gesellschaft, die erschreckt ein rasantes Ansteigen von Alkoholismus, Prostitution und Kriminalität unter «Schwachsinnigen» beobachtete und sorgenvoll nach gegensteuernden Massnahmen suchte. Polizeiliche Methoden erwiesen sich – naturgemäss – als erfolglos. Mehr Erfolg erhoffte man sich von medizinischen und von (sozialhygienisch motivierten, also positiv gemeinten) eugenischen Mass-nahmen. Im Glauben an eine «messbare» Wahrheit kamen zudem die ersten Intelligenztests auf.

Die Früchte dieser Entwicklung waren vielfältig: Vielen «Schwach-sinnigen» ging es deutlich besser, Familien wurden merklich entlastet, und ein Heer von medizinischen und sozialen Sachverständigen wuchs heran. Zudem führten eugenische Bemühungen zu Sterilisationen (zuerst nur unter schwachsinnigen Prostituierten, dann auch auf andere ausgeweitet). Dies alles geschah aus der Sorge heraus, dass die Gesellschaft sich vor einer Überschwemmung durch schwachsinnige Kinder zu schützen habe. Doch bereits ab 1916 öffnete sich die Büchse der Pandora noch weiter: In den USA wurde damit begonnen, deformierte Kinder (sogenannte unfits) zu töten, um Vererbungen zu vermeiden. Die Ärzteschaft selber war gespalten in Befürworter und Gegner von Euthanasiemassnahmen. Sogar schon etwas früher sind in der Schweiz vergleichbare Ideen verbreitet worden, insbesondere durch den berühmten Hirnforscher und Sozialhygieniker August Forel (übrigens prangte Forels Konterfei noch Ende des 20. Jahr-hunderts auf den Schweizer Banknoten, allerdings wegen anderer Ver-dienste). Dann kamen die Nationalsozialisten. Nach dem Ende des Dritten Reichs wurde «Euthanasie» zum Unwort. Für wie lange?

Neue Tendenzen

Bis heute hat sich das Rad weiter gedreht. Wir kennen unterdessen die genetische Ursache von Trisomie 21. Zwar ist es der Medizin weiterhin unmöglich, diese Behinderung zu heilen, doch ist die Aussicht verlockend, mittels pränataler Diagnostik und darauf folgendem Schwangerschaftsab-bruch wenigstens die Geburt solcher Kinder zu verhindern. Yong bringt statistische Informationen aus den USA, dass inzwischen 70 bis 90 Pro-zent dieser Föten abgetrieben werden.24 Solches geschieht mit der Ab-sicht der Medizin, den Menschen zu helfen und Leiden zu verhindern. Doch wessen Leiden? Kinder mit Trisomie 21 leiden keineswegs mehr als

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der Durchschnitt anderer Kinder. Eltern, die ein solches Kind aufgezogen haben, erklären häufig, dass sie – nach einem anfänglichen Schock der Ratlosigkeit – schliesslich weniger belastet als vielmehr bereichert wurden. Sie mussten auch nicht alles ganz allein durchstehen, sondern erhielten sozialpädagogische und medizinische Hilfe, welche von der Allgemeinheit finanziert wird und ihnen rechtens zusteht. Sollen nun zukünftige Eltern vor dem Schock einer solchen Geburt tunlichst bewahrt, und dadurch auch künftiger positiver Erfahrungen beraubt werden? Moralische Vor-schriften (auf die eine oder andere Seite) sind hier problematisch.

Unbestreitbar sind hingegen die hohen finanziellen Aufwendungen der öffentlichen Hand. Sollen also medizinische Mittel sozusagen die «Gesell-schaft heilen», d. h. diese zumindest finanziell entlasten? Doch der Preis ist hoch, der hier auf dem Spiel steht: In letzter Konsequenz wird dadurch das Lebensrecht eines Menschen abhängig von einer finanziellen Kosten-Nutzen-Rechnung. Solches passt zu einer Entwicklung, die heute in der westlichen Zivilisation vielfach zu beobachten ist: Immer mehr Bereiche unserer Existenz werden rasant ökonomisiert, d. h. werden unter dem Blickwinkel entschieden, ob die investierten Kosten «sich lohnen» und zu neuen Gewinnen amortisieren lassen. Wo wird unsere Gesellschaft enden, wenn auch die Angebote der Medizin für diesen Zweck instrumentalisiert werden? Die bereits begonnenen Diskussionen über medizinische Lösungen angesichts des wachsenden Anteils alter Menschen lassen fatale Folgen auch im Blick auf Menschen mit geistiger Behinderung ahnen. Dabei wird meist nicht klar, wo die treibenden Kräfte sind, und wo die Getriebenen. Noch kaum begonnen hat übrigens die Diskussion um die zunehmenden Altersprobleme von Menschen mit einer geistigen Behinderung.25 Wird es dereinst an diesem Punkt zu neuen Euthanasielösungen kommen?

7. Die verschiedenen Gesichter der altorientalischen Medizin

Bereits in früheren Zeiten hatte die Medizin mehr als ein einziges Ge-sicht. Das medizinische Denken Israels ist zwar mangelhaft dokumentiert. Doch wissen wir bedeutend mehr von der besser dokumentierten Medizin

24 Zu noch höheren Zahlen aus der Schweiz siehe die Studie der Universität Lausanne: http://www.smw.ch/docs/pdf/2000_38/2000–38–081.PDF.

25 A. Yong, S. 74, macht aufmerksam, dass Menschen mit Trisomie 21 über-durchschnittlich früh von der Alzheimer-Krankheit ergriffen werden. Zahlen aus Europa bei G. Theunissen, Geistig behindert und dement. Überlegungen und An-regungen aus pädagogischer Sicht, in: Geistige Behinderung Jg. 2, 1999, S. 165–178.

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Mesopotamiens. Unter den zahlreichen Keilschriftdokumenten ragt das weitverbreitete «diagnostische Handbuch» als besonders aufschlussreich heraus; es umfasst vierzig Tontafeln (jede mit durchschnittlich hundert Zeilen!).26 Hier findet sich eine Fülle von sorgfältigen medizinischen Be-obachtungen am menschlichen Körper, systematisch von Kopf bis Fuss aufgelistet. Einige besondere Krankheitsgruppen werden im Handbuch gesondert abgehandelt, beispielsweise verschiedene Arten von Epilepsie, gynäkologische Erkrankungen oder Kinderkrankheiten. Die differenzierten medizinischen Beobachtungen zeigen uns ein sympathisches Gesicht der mesopotamischen Medizin.

Sehr viel fremder sind uns zwei weitere Gesichter im selben Hand-buch: die eigentliche Diagnose der Krankheit sowie deren Therapie. Bei der Diagnose ist uns einerseits vertraut, dass unterschieden wird zwischen heilbaren Krankheiten und solchen mit vermutlich tödlichem Ausgang. Andrerseits sind wir irritiert, wenn häufig als Ursache einer Erkrankung lediglich angegeben wird: «Hand der Gottheit X». Organische Ursachen einer Krankheit sind hier auffällig selten anzutreffen. Ebenfalls fremd sind uns die meisten Therapieformen. Häufig bestehen sie aus einem Be-schwörungsgebet oder einem komplizierten Ritual an diejenige Gottheit, deren «Hand» die Krankheit verursachte. Dazu werden meistens auch Medikamente genannt. Deren Beschreibung tönt für unsere Ohren wie diejenige eines Medizinmanns aus der Dritten Welt. Allerdings ist sehr fraglich, ob wir die hier genannten Ausdrücke (z. B. «Schildkrötenpenis») wörtlich verstehen dürfen. Die heutige altorientalistische Wissenschaft hegt nämlich den starken Verdacht, dass hier meistens blosse Decknamen aufgeschrieben sind, damit die richtigen Medikamente geheim bleiben, sozusagen als (nur mündlich weiterzugebendes) «Geschäftsgeheimnis».27

In der altorientalischen Medizin finden wir also ein Zusammenspiel von Elementen vor, die uns heute weiterhin einleuchten, und solchen, die uns fremd bleiben. Doch die für unser Verständnis unvereinbaren Aspekte lassen sich hier nicht voneinander trennen:28 In Mesopotamien ist der Arzt gleichzeitig beobachtender Mediziner und priesterlicher Vermittler

26 Übersetzung und Kommentierung weiter Teile bei N. P. Heessel, Diagnostik. Das Handbuch ist um ca. 1000 v. Chr. aus älteren Traditionen neu zusammengestellt worden. – Einen instruktiven Querschnitt durch die medizinischen altorientalischen Texte bietet die Textsammlung von B. Janowski u. a. (Hg.), Texte zur Heilkunde, Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Neue Folge, Band 5, Gütersloh 2010.

27 Ebenfalls um einen Geheimcode handelte es sich, wenn zu meiner Jugend-zeit die Ärzte ihre Rezepte in einer unleserlichen Schrift schrieben, welche nur von Apothekern entziffert werden konnte. Das Risiko von Fehlinterpretationen blieb allerdings bestehen.

28 Dazu grundsätzliche Verstehensversuche bei S. Maul, «Die Lösung vom

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zur Gottheit. Nebenbei bemerkt: Vielleicht sollten wir uns fragen, ob die heutige Medizin eine ähnliche Doppelfunktion hat, insofern als der Anspruch auf eine Welt ohne Funktionsstörungen (und geistige Be-hinderungen) eine verweltlichte religiöse Utopie vom Paradies auf Erden ist. Zudem ist uns klar, dass heutige Medikamente bei manchen Kranken ebenfalls auf «magische» Weise wirken (Placebo-Effekt) – und dies un-abhängig davon, ob die Schulmedizin oder die Naturheilkunde das Medikament verschrieben hat.

Geistige Behinderung

Auch über geistige Behinderung erfahren wir in den mesopotamischen Texten einiges. Zunächst fällt auf, dass Begriffe wie lillu, die deutlich auf eine solche Behinderung hinweisen, in der genuin medizinischen Literatur fehlen.29 Hingegen finden wir hier Belege für eine «heraushängende» Zunge, was möglicherweise auf Trisomie 21 hinweist30 (eine schlaffe Zungenmuskulatur führt zu einer typischen Haltung der Zunge, die wie ein Heraushängen aussieht). Als weitere, meist erst nach Monaten oder Jahren erkennbare Behinderungsarten werden in den Texten vielleicht erkennbar: cerebrale Lähmung, Muskelschwund, «floppy baby syndrome», «morbus Huntington» und Autismus.31 Allerdings sind keine eindeutigen Zu-weisungen möglich, weil diese Dokumente in leider nur fragmentarischem Erhaltungszustand auf uns gekommen sind. Zudem ist es problematisch, den alten Texten heutige medizinische Diagnosen überzustülpen, ohne die ganz andere Vorstellungswelt jener Zeit zu beachten.32

Bann». Überlegungen zu altorientalischen Konzeptionen von Krankheit und Heil-kunst, in: Studies in Ancient Medicine, Band 27, Leiden 2004, S. 79–95.

29 Jedoch finden wir viele solcher Behinderungsbezeichnungen öfters in Katalogen von möglichen Missgeburten, die als schlechtes Vorzeichen galten und deren fatale Auswirkung möglichst gestoppt werden sollte. Näheres unten S. 66–67.

30 J. Scurlock u. a., Diagnoses, S. 424: «If his tongue hangs out and he is not in full possession of his faculties».

31 J. Scurlock u. a., S. 331–336 und 407. – Im Weiteren ist eine sumerisch-altbabylonische Wörterliste zu beachten, wo die Reihenfolge der Wörter assoziativ im Sinne einer ähnlichen Bedeutung geordnet ist. Hier folgen unmittelbar im An-schluss an den lillu zwei Bezeichnungen für Menschen, die «den Speichel tropfen bzw. fliessen lassen» (Materialien zum sumerischen Lexikon 12, S. 201). Mangelnde Kontrolle des Speichelflusses ist beobachtbar bei cerebralen Schädigungen, weil diese zu mangelhafter Steuerung der Mund- und Lippenmuskulatur führen.

32 Siehe die Skepsis des Medizinhistorikers K.-H. Leven, «At Times These Ancient Facts Seem to Lie before me like a Patient on a Hospital Bed» – Retrospective Diagnosis and Ancient Medical History, in: H. Horstmanshoff (Hg.) u. a., Magic and Rationality in Ancient Near East und Graeco-Roman Medicine, Leiden 2004, S. 371–386.

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Wenn wir Ausschau halten nach weiteren geistig-körperlichen Mehr-fachbehinderungen, so haben wir zudem an Epilepsie zu denken. Dafür finden sich im «Handbuch» und in andern Keilschriftdokumenten überraschenderweise gegen ein halbes Dutzend unterschiedlicher Be-zeichnungen und dementsprechend auch unterschiedliche Therapien, die teilweise eine Heilung in Aussicht stellen. Leider kann die heutige Sprach-wissenschaft die präzisen Bedeutungen dieser (offenbar unterscheid-baren) Epilepsiearten noch nicht bestimmen. Die uns hier verborgene Differenzierung beweist, dass die mesopotamische Medizin eine ihr eigene Systematisierung kannte. Zudem wurde bei der Epilepsie unterschieden, in welchem Lebensjahr der erste Anfall geschah, und dementsprechend lauteten Diagnose und Therapie jeweils anders.

Arzt und Patient

Wie Menschen damals die Früchte dieser Medizin erlebten, diese Frage kann mit einigen wenigen, aber doch aufschlussreichen Hinweisen be-antwortet werden. Im Unterschied zu vielen heutigen Spezialärzten be-suchte ihr mesopotamischer Vorgänger die Kranken zu Hause. Bereits unterwegs bereitete er sich mental auf die kranke Person vor (dabei beachtete er unter anderem, ob er ein gutes oder schlechtes Omen auf dem Weg antrifft). Im Hause angekommen, begann die Beobachtung der Krankheit; die Diagnose konnte gemäss dem erwähnten «Hand-buch» sehr differenziert sein. Die anschliessende Therapiesitzung war aufwendig. Die begleitenden Opfer waren teuer – ob es «abgespeckte» Varianten für Ärmere gegeben hat, wissen wir nicht, da Ausgrabungsfunde und Dokumente allermeist oberschichtslastig sind, weil reiche Leute mehr schriftliche Erwähnung finden und ihre Hinterlassenschaft auch eher dem Zahn der Zeit widersteht. Zu befürchten ist, dass wir mit einer krassen «Zweiklassenmedizin» rechnen müssen.

Wir wissen nicht, was der Arzt unternahm, wenn die Diagnose des «Handbuchs» lautete: «Er wird sterben». Ebenfalls wissen wir kaum, welche medizinischen Erfolge die Menschen mit einer Behinderung er-warten durften. Wer zu den unheilbaren Patienten gerechnet wurde, konnte vom Arzt wenig oder nichts erwarten. Das «Handbuch» gab die Anweisung, ein behindertes Neugeborenes sogleich zu töten, damit nicht die ganze Familie auseinanderbreche (Einzelheiten dazu in Kapitel IV);33 dabei handelt es sich jedoch um ganz seltene Ausnahmefälle unter präzis

33 J. Scurlock u. a., S. 331–332 und 335–336; N. Heessel, Diagnostik, S. 324–338.

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formulierten Bedingungen (etwa eine besonders extreme Art von Epi-lepsie). Solche Anweisungen dürfen also nicht verallgemeinert werden.

Aus Ägypten erfahren wir etwas über die medizinische Versorgung auch ärmerer Volksschichten, weil sich deren Lebensspuren dank dem trockenen Klima besser als anderswo erhalten haben. So sind «Teilzeit-Ärzte» unter den Arbeitern und Kunsthandwerkern in Deir el-Medineh dokumentiert auf Papyri sowie auf beschriebenen Tonscherben, die etwa unseren Notizzetteln entsprechen.34 Diese Heiler liessen sich tageweise von den üblichen Arbeiten an den Pharaonengräbern im nahe gelegenen Tal der Könige dispensieren, um in ihrem Dorf die Kranken zu betreuen und die Medikamente herzustellen. Die Heilmethoden unterscheiden sich nicht grundsätzlich von dem, was wir aus Mesopotamien kennenlernten, und umfassen sowohl magische als auch medizinische Behandlungen. Einige Auflistungen von Medikamenten haben sich erhalten (z. B. werden gegen Hämorrhoiden Honig und Gänsefett in den After eingeführt). Zudem kann man aus den Dokumenten auch interessante Schlüsse über die Ent-löhnung der Ärzte ziehen: Diese geschah durch das Kollektiv und nur selten durch die betroffenen Familien.

8. Jesus als «Heiler» und Berührender

Der Sprung von Mesopotamien und Ägypten nach Galiläa und Juda zu Jesus ist nicht so gross, wie man zunächst annehmen könnte. Auch bei Jesus beobachten wir eine Kombination von zwei unterschiedlichen Verhaltensweisen: einerseits sein «Aufschauen35 und Seufzen» zum himmlischen Vater und andrerseits seine konkreten Heilpraktiken, wie wir sie bei Vertretern der Volksmagie erwarten.36 Mehrmals benutzt Jesus zur Heilung seinen Speichel:37 So berührt er mit seinem Speichel die Zunge eines Taubstummen (Mk 7,33). Darum wird Jesus zuweilen in Analogie zu

34 Zum Folgenden siehe A. G. McDowell, Village Life in Ancient Egypt. Laundry Lists and Love Songs, Oxford 1999, S. 53–59 und 219–220.

35 Mk 7,34. Ist es ein Zufall, dass dasselbe Wort anablepein in den Evangelien häufig auch das erneute Sehen von vormals Blinden bezeichnet?

36 Beide Verhaltensweisen werden in Mk 7,33–34 erzählt. – Vergleichbares findet sich auch bei alttestamentlichen Gestalten wie Elija, Elisa und Jesaja. Jesaja verkündet dem kranken König Hiskija die Entscheide Gottes, begleitet ihn seel-sorgerlich und verabreicht ihm einen Feigenfladenkuchen (Jes 38,21).

37 Mk 7,33; 8,23; vermutlich auch Joh 9,6–11.

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heutigen Schamanen gesehen, was übrigens auch für die mesopotamischen Ärzte gilt.38

Uns interessiert besonders, wie Jesus den Menschen mit einer geistigen Behinderung begegnete. Zwar findet sich anscheinend keine solche Heilungsgeschichte in den Evangelien.39 Aber ich möchte das Augenmerk auf eine Handlungsweise richten, die für Jesus typisch erscheint und darum in den Evangelien häufig erwähnt wird: Jesus hat die Menschen intensiv körperlich berührt. «Er berührte ihn/sie» wird über ein Dutzend Mal in den Evangelien erzählt.40 Aber auch die Menschen wollen Jesus berühren; dies wird etwa gleich häufig erwähnt.41 Nun weiss ich als Vater eines behinderten Kindes, wie der Körperkontakt ein elementares Mittel der Kommunikation ist: Behinderte Menschen haben ein feines Gespür für wesentliche «Nachrichten», die über einen Körperkontakt übermittelt werden. Besonders wichtig sind gegenseitige Berührungen für Menschen, die nicht über die Sprache kommunizieren können. Ich kenne eine Mutter, die ihren Sohn, der sich sprachlich nicht verständlich ausdrücken kann, abends regelmässig massiert und so eine «Sprache» des gegenseitigen Ver-stehens findet.

Folgen der Berührung

In diesem Zusammenhang ist die Beobachtung wichtig, dass Jesus nicht nur bei Krankenheilungen jemanden berührt. Er berührt auch die Jünger, die ob dem irritierenden Verklärungswunder «erschreckt» sind, und gibt ihnen durch seine Berührung neuen Mut, um vom Berge der Verklärung hinunter wieder in ihren Alltag zurückzukehren (Mt 17,7). Der intensive Körperkontakt mit Jesus führte also nicht in jedem Fall zu dem, was wir üblicherweise als «Heilung» bewerten, sondern konnte auch ganz elementar stärken für die Alltagsbewältigung. Und wenn Jesus z. B. einen Aussätzigen anrührte (Mk 1,41), durchbrach er damit die damals (und heute?) selbstverständliche Grenze zwischen «rein» und «unrein». Er überwand den (sogenannt natürlichen) Ekel.

Diese Beobachtung eröffnet neue Fragen an die bekannte Geschichte

38 Vielfältige Überlegungen z. B. im Sammelband von W. Stegemann u. a., Jesus in neuen Kontexten, Stuttgart 2002.

39 Siehe oben S. 16 zur Beobachtung des irritierten Paracelsus.40 Mk 1,41; 7,33; 8,22; 10,13; zusätzlich Mt 17,7; 20,34; Lk 6,19; 22,51; vgl.

noch Lk 7,14. An all diesen Stellen steht dasselbe griechische Wort haptein, ebenso wie an den Stellen, die in der folgenden Anmerkung genannt werden. – Zusätzlich sind die Stellen zu nennen, wo Jesus einen Menschen (einseitig?) «bei der Hand ergreift» (kratein): Mk 1,31; 5,41; 9,27.

41 Mk 3,10; 5,27–31; 6,56; zusätzlich Lk 7,39; vgl. Joh 20,17.

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«Jesus segnet die Kinder». Dieser traditionelle Titel ist allerdings nur teil-weise berechtigt; denn nur Markus erwähnt eine Segnung (Mk 10,13–16), Matthäus und Lukas hingegen reden ausschliesslich von einer «Be-rührung» durch Jesus (Mt 19,13–15; Lk 18,15–17). Darauf liegt offenbar das Hauptgewicht. Konkret berichten die drei Evangelien, dass Jesus seine Hand auf die Kinder legt. Markus erzählt noch ausführlicher, dass Jesus die Kinder zuvor auf oder in «seinen Arm nimmt».42 Da man in der Antike nur den nächsten Verwandten und Freunden so nahe kommt, fällt Jesus hier aus dem gesellschaftlich anerkannten Rahmen.

Mit welcher Absicht wurde Jesus gebeten, diese Kinder zu «berühren»? Was erhofften sich die Leute – etwa die Eltern –, wenn sie Kinder mit dieser ausdrücklichen Bitte zu Jesus «brachten»? Und: Könnte es etwa sein, dass gerade auch behinderte Kinder zu Jesus gebracht wurden? Solches würde verständlicher machen, dass die verärgerten und schimpfenden Jünger diese Kinder (samt deren Eltern?) vertreiben wollten.43 Der Bibeltext zwar sagt dies nicht ausdrücklich, doch Eltern eines behinderten Kindes können sich solches sehr gut vorstellen. Eine geistig behinderte Frau bezieht diese biblische Erzählung genau auf sich selber (siehe S. 48). – Dadurch würde das Schlusswort Jesu noch steiler und paradoxer, als es sonst schon ist: «Wer das Gottesreich nicht aufnimmt wie ein Kind, wird nicht hinein-kommen» (Mk 10,15).

Jesu Heilungswirken geschah in einem so breiten Spektrum von Tätig-keiten, dass zumindest einiges davon auch durch uns getan werden kann – und auch bis heute getan wird. Dazu gehört ebenfalls das «Berühren». Wir sollten über solche Tätigkeiten nicht zu gering denken. Denn sie stehen unter der Verheissung eines ermutigenden Wortes Jesu, das wegen seiner überraschenden Provokation heutzutage nur selten zitiert wird: «Wahrlich, wahrlich, wer an mich glaubt, der wird die Werke, die ich tue, auch tun; ja noch grössere wird er tun» (Joh 14,12).

9. «Taubstumme» im Neuen Testament

Als «taubstumm» (griechisch kōphos) benennt das Neue Testament Menschen mit einem besonderen Schicksal. Wer von Geburt an ohne Gehör leben musste, konnte Wesentliches nicht lernen, das zur Lebensbewältigung

42 Zur genaueren Bedeutung des Umarmens siehe unten S. 118.43 Eine vergleichbare Reaktion (mit demselben griechischen Wort epitimān

«entehrend anherrschen») geschieht in der versuchten Vertreibung von Menschen mit einer Sehbehinderung, weil sie Jesus stören könnten (Mt 20,31).

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wichtig gewesen wäre. Dazu gehört insbesondere die Sprache. Darum begegnet uns in diesem Zusammenhang öfters auch die Bezeichnung «sprachlos» (alalos). Die Bibelübersetzungen geben dieses Wort zuweilen mit «stumm» wieder, doch ist ebenfalls an (fast) unverständliche Sprech-weise zu denken. Wer sich sprachlich nicht recht ausdrücken konnte, galt mangels Kommunikationsmöglichkeit schnell als «dumm» – das ist heute nicht anders.44 Wer seine Umwelt nicht akustisch wahrnehmen konnte und zudem nicht zu Kompensationen über das Optische angeleitet wurde, erlitt in der Tat auch eine geistige Teilbehinderung. Doch auch ein anderer Aspekt ist denkbar: Wer z. B. aus Gründen einer cerebralen Lähmung nicht verständlich reden und darum auch nicht sprachlich kommunizieren konnte, galt automatisch als «dumm» (und «stumm»), sogar wenn er die anderen Menschen hörte und verstand; auch in diesem Fall erhielt er mangelnde Förderung durch seine Umwelt. Aus diesen Perspektiven sollen nun die neutestamentlichen Nachrichten über «Taubstumme» betrachtet werden.

Ich beginne mit einem Textzusammenhang, den wir heute keineswegs mit «taubstumm» assoziieren: Der hochbetagte Zacharias, der zukünftige Vater des Täufers Johannes, konnte monatelang nicht mehr reden, nach-dem ein Engel ihm im Tempel die Geburt eines Sohnes angekündigt hatte (Lk 1,22). Überraschenderweise bezeichnet der Evangelist Lukas den Zacharias als «taubstumm» (kōphos), obwohl dieser ja alles hören konnte und seinen Mitmenschen durch stumme Zeichen auch Antwort gab. Erst als er für seinen neugeborenen Sohn den Namen Johannes (d. h. «Gott handelt gnädig») aufgeschrieben hatte, konnte er wieder sprechen. Nach unseren modernen Denkkategorien würden wir den «taubstummen» Zacharias nicht nach medizinischen, sondern eher nach psychologischen Kriterien beurteilen. Wir würden etwa spekulieren, dass Zacharias durch Schuldgefühle blockiert ist, weil er der Ankündigung des Engels nicht geglaubt hat (Lk 1,20). Doch im Sinne des Neuen Testaments wäre es wohl sachgemässer, auf eine psychologisierende Erklärung zu verzichten und stattdessen ganz elementar von einer (längeren) sprach-lichen Kommunikationsstörung zu reden. Diese steht in einem tieferen Zusammenhang mit mangelndem Glauben, als dass wir sie platt als Strafe erklären könnten.45

44 Mit Händen zu greifen ist dies in Mesopotamien: Die beiden (untereinander sprachverwandten) Wörter sakku und sukkuku bedeuten sowohl «verstopft (an den Ohren), hörbehindert» als auch «dumm».

45 Im Alten Testament bedeutet das entsprechende hebräische Tätigkeits-wort heḥĕrîš meistens eine willentliche (!) Verweigerung des Sprechens und Kommunizierens (Gen 24,21; 34,5; Ex 14,14; Num 30,5.8.12.15; Ri 16,2; 18,19;

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Kommunikationsstörung

Mit der Denkkategorie «Kommunikationsstörung» lassen sich auch die anderen Erzählungen über «Taubstumme» eher verstehen. Vier Be-gegnungen Jesu werden ausführlicher erzählt.46 Jedes Mal heisst es zu Beginn ausdrücklich: «Sie brachten einen kōphos zu Jesus».47 Es ist auf-fällig, dass dieser nicht selbständig zu Jesus kommt, sondern «gebracht» werden muss (von wem konkret?). Dabei ist zumindest einer von ihnen kein kleines Kind mehr (Mk 9,21). Könnte dies möglicherweise auf eine allgemeine Kommunikationsstörung dieser Menschen hindeuten? Die Be-gegnung mit Jesus führt dreimal dazu, dass der «Taubstumme» am Schluss «redet»,48 also «richtig»49 kommunizieren kann. Dazwischen stehen zwei unterschiedliche Tätigkeiten Jesu. Das eine Mal nimmt Jesus seinen Speichel und berührt damit die Zunge des «Taubstummen» (Mk 7,33). Ich verstehe dies als Beschreibung einer besonders intimen Nähe, mit der Jesus sich seinem Gegenüber zuwendet. Die andern drei Erzählungen berichten, dass Jesus durch sein «Anschreien» den «Dämon vertreibt», der den «Taubstummen» in Besitz genommen hat. Diese starke Kommunikations-weise Jesu erscheint uns heutzutage allerdings als allzu heikel und riskant; vielleicht hätten wir «vorsichtig-behutsamen Therapeuten» hier wieder neu von Jesus und seiner authentischen Direktheit zu lernen. Wenn das Neue Testament von Inbesitznahme durch einen Dämon erzählt, so ist dies für uns zunächst irritierend.50 Das zugrundeliegende Phänomen ist jedoch auch uns nicht fremd; wir erleiden es heute ebenfalls, auch wenn wir es in unserer Sprache ganz anders formulieren: Wir reden etwa von einer Kommunikationsstörung, die wir mit unseren Methoden weder «durchschauen» noch beseitigen können. Also z. B. die unerklärlichen zerstörerischen Nachtaktivitäten heutiger Chaoten, denen wir recht ohn-

1Sam 7,8; 10,27; 2Sam 13,20; 19,11; 2Kön 18,36 usw.). In den Psalmen ergeht die Bitte, dass Gott «nicht taubstumm sei», d. h. nicht durch sein Schweigen die Kommunikation verweigere (z. B. Ps 28,1; 35,22; 83,2).

46 Mk 7,32–37; 9,14–29; Mt 9,32–24; 12,22–24 (hier handelt es sich um einen typhlos, also um einen Taubblinden, im Unterschied zum kōphos im Parallelbericht Lk 11,14–23). Ferner erscheint kōphos ebenfalls in summarischen Aufzählungen (Mt 11,5; 15,30–31).

47 Mt 9,32 und 12,33; Mk 7,32 und 9,17 (nur hier ist es der Vater, der den Knaben bringt).

48 Mk 7,35; Mt 9,33; 12,22. Vergleiche die Bezeichnungen alalos «sprachlos» in Mk 7,37; 9,17.25 und mogilalos «kaum oder mühsam sprechend» in Mk 7,32.

49 Mk 7,35: orthōs.50 Die amerikanische Neutestamentlerin H. Toensing zeigt jedoch, dass

die Erfahrungen heutiger psychisch Kranker den neutestamentlichen Dämonen-schilderungen sehr nahekommen können (in: H. Avalos u. a., This Abled Body, S. 136).

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mächtig gegenüberstehen. Solche irritierenden Phänomene sind gleich-sam unsere heutigen «Dämonen», unter denen wir leiden. Darum sollten wir auf jeden Fall alle die merkwürdigen Vorstellungen vergessen, die wir uns üblicherweise von «Dämonen» und «Besessenheit» machen, und die durch Filme mit perfekten, unter Einsatz von Computertechnik her-gestellten Simulationen leider immer wieder neu genährt werden. Doch die unguten Entwicklungen unserer heutigen Zivilisation geschehen ohne solche Simulation, und die Gesellschaft bleibt gegenüber diesen realen Dämonen hilflos.

Was Jesus hier bewirkte, galt damals und gilt heute als «Wunder». Mit diesem Wort berühren wir ein schmerzhaftes Kapitel, an dem sich viele Eltern im Blick auf ihr Kind mit einer geistigen Behinderung wund reiben. Gleiches galt wohl ebenso in der Zeit Jesu für die vielen Familien, die mit einer Behinderung weiterleben mussten, ohne dass Jesus zu ihnen kam. Und was dachten die vielen Kranken, Ausgezehrten, Seh- und Geh-behinderten am Teich Bethesda, als Jesus nicht auch ihnen, sondern nur einem einzigen Menschen zur Gesundung verhalf (Joh 5,1–9)? Sie und auch wir fragen: Warum hat Jesus nicht alle, sondern nur relativ wenige Menschen «geheilt»? Oder gehen vielleicht unsere Erwartungen in eine ver-kehrte Richtung, weil wir eine allzu mechanische und «flächendeckende» Vorstellung von «Heilung» haben? Wunder bleiben etwas Unverfügbares – und sie geschehen meistens ganz anders, als wir es erwarten. Ist es etwa kein Wunder, was z. B. beim «Berühren» noch heute geschehen kann?

10. Weitere Blicke ins Alte Testament

Kehren wir zurück zu jenen hebräischen Wörtern, die möglicherweise nicht nur «Tor», sondern auch «geistig Behinderter» bedeuten können. Darunter findet sich das Wort petî, das im Alten Testament an 18 Stellen vorkommt. Auffälligerweise findet sich kaum ein direkter Tadel an einen petî wegen törichten Handelns, obwohl ein Defizit an Weisheit und Einsicht vorausgesetzt wird.51 Stattdessen begegnet in einem Psalm der Dank, dass Gott in seiner Barmherzigkeit solche petî-Menschen «in Obhut nimmt» (Ps 116,6).52 Und gleich darauf doppelt der Psalmbeter nach: «Ich war schwach/bedürftig, und Gott hat mich gerettet.»

51 Bezeichnenderweise gibt die griechische Übersetzung das hebräische Wort mit drei unterschiedlichen Vokabeln wieder, die sich sozusagen ergänzen: «Kind» (nēpios), «nichts Böses tuend» (akakos) und «unvernünftig» (aphrōn).

52 Zu analogen Aussagen in mesopotamischen Gebeten siehe unten S. 129.

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Nun gehört es zur Eigenart alttestamentlicher Poesie, dass eine Aus-sage häufig wiederholt wird, d. h. dass der zweite Teil den ersten durch einen zusätzlichen Aspekt sozusagen erläutert (sogenannter Parallelismus membrorum). Dazu ein Beispiel aus demselben Psalm: «Du hast mein Leben vom Tod errettet, / mein Auge vor Tränen bewahrt» (Ps 116,8). Dies ermöglicht uns, die Eigenschaft eines petî mit der «Schwäche/Be-dürftigkeit» eines Menschen in Parallele zu sehen: Ein petî ist also in erster Linie schwach und bedürftig, was auch für alle gilt, die diesen Psalm nach-sprechen. Dass er (infolgedessen) töricht handelt, wird dadurch weder bestritten, noch fällt darauf ein ausdrücklicher Tadel. Dazu passt, dass andere Bibelstellen ihr Augenmerk stärker auf die Verleitbarkeit und Naivität eines petî richten.53 Der petî «glaubt jedem Wort», wogegen der Kluge seine Schritte zuvor kritisch prüft (Spr 14,15). Oder: «Ein Kluger sieht das Unheil kommen und versteckt sich; die Einfältigen aber gehen den Weg weiter und müssen die Folgen tragen» (22,3). An solchen Stellen können sowohl «normalintelligente» Menschen wie auch solche mit einer geistigen Behinderung gemeint sein.54 Wie wir gesehen haben, ist die Grenze zwischen Normbegabung und geistiger Behinderung im damaligen Bewusstsein sehr viel durchlässiger als heute.

In eine scheinbar völlig andere Welt geraten wir, wenn wir eine eigen-artige Stelle aus dem Buch Ezechiel betrachten (Ez 45,18–20). Dort wird berichtet, dass das Tempelgebäude in Jerusalem alljährlich durch ein Sühn-opfer zu reinigen sei, damit es heilig bleibe – ein entweihter Tempel wäre eine Missachtung Gottes und würde Gottes Wohlgefallen an den dar-gebrachten Opfern gefährden, und deshalb soll der Priester zu Beginn des ersten Monats die Pfosten der Tempelpforten und die vier Ecken des Altars mit dem Blut eines Opfertiers bestreichen. Doch nicht genug damit: Jeweils am siebten Tag desselben Monats55 soll die Prozedur wiederholt

53 In Spr 7,7 ist er ein heranwachsender Mann ohne Entscheidungsfestigkeit (wörtlich «mangelnden Herzens», ḥăser-leb), der durch eine sexuell reife, verheiratete Frau verführt werden kann. Zu den Defiziten des petî siehe weiter Spr 1,4; 8,5; 9,4; 9,16; 14,18; 27,12; Ps 19,8; 119,130. – In Qumran (Übersetzung: J. Maier, Die Qumran-Essener. Die Texte vom Toten Meer, I–III, München 1995–1996) begegnet petî in einem breiten Bedeutungsspektrum: Er hält die Tora (1QpHab 12,4–5; positiv gewertet auch in 11Q5 18,3–5); sogar ein Priester kann petî sein (beginnende Demenz oder mangelnde Kompetenz im Erkennen einer Hautkrank-heit?) und soll gleichwohl seine Diagnose über eine Hautkrankheit fällen, weil er der Priester ist (CD 13,6). Andererseits wird der petî aufgezählt unter den Menschen, die wegen einer Behinderung nicht die Versammlung betreten dürfen, weil in deren Mitte die heiligen Engel sind (CD 15,15 = 4Q266 fr. 8 und vgl. 1QSa 1,19). Vgl. S. M. Olyan, Disability, S. 112–113.

54 Vgl. S. M. Olyan, Disability, S. 64–65.55 Anders die griechische Übersetzung (Septuaginta): «am ersten Tag des

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werden «wegen demjenigen, der etwas aus Versehen getan hat,56 und wegen dem petî » (Vers 20). Offenbar geht es um zwei unterschiedliche Menschengruppen, welche beide den Tempel unbeabsichtigt verunreinigt haben könnten – etwa durch eine verbotene Berührung einer geheiligten Stelle im Tempel. Wir fragen uns: Wer ist hier ein petî? Es ist gar nicht so abwegig, darunter einen Menschen mit geistiger Behinderung zu ver-stehen, der aus Unverstand – im Unterschied zum «Versehen» der ersten, verständigeren Gruppe – etwas Entheiligendes tat. Wie im späteren Kapitel IV ausführlicher dargestellt werden soll, wurden einfache Verrichtungen im Tempel durch Hilfspersonal durchgeführt; darunter waren Menschen, die dem Tempel zur Obhut übergeben worden waren, u. a. weil sie als Behinderte nicht selbständig für ihr Leben sorgen konnten und sonst niemand bereit war, sich um sie zu kümmern.

Weitere hebräische Ausdrücke

Wenden wir uns einem weiteren hebräischen Wort mit der Bedeutung «Tor» zu, kĕsîl. Diese Vokabel ist in ihrem genaueren Bedeutungsumfang schwierig einzugrenzen. Wir begegneten ihr bereits weiter oben: «Wer einen Dummkopf (kĕsîl) zeugt, dem ist es zum Kummer» (Spr 17,21). Aus demselben hebräischen Wortstamm gibt es auch das Verb mit der Bedeutung «töricht handeln» und die beiden Substantive kesel und kislâ, die mit «Torheit (von Normbegabten)» zu übersetzen sind. Höchst über-raschend ist nun aber, dass die beiden genannten Substantive an manchen Stellen mit dieser Übersetzung keinen verständlichen Sinn ergeben und man dort stattdessen mit «Vertrauen» oder «Zuversicht» übersetzen muss, womit eine törichte Hoffnung gemeint sein kann.57 Überraschender und aufschlussreicher sind aber diejenigen Stellen, die ein positives Vertrauen auf Gott meinen: «Der herr ist deine Zuversicht (kesel) / und bewahrt deinen Fuss davor, in eine Falle zu treten» (Spr 3,26). Und Ps 78,7 redet von Menschen, die auf Gott ihr Vertrauen (kesel) setzen und Gottes Taten nicht vergessen.

Einer Erklärung harrt das auffällige Phänomen, dass derselbe hebräische Wortstamm einerseits «Torheit» und andrerseits «Vertrauen (in Gott)» bedeuten kann. Diese Frage ist in der hebräischen Sprachwissen-schaft noch kaum je gestellt oder gar beantwortet worden. Ich wage hier einen eigenen Erklärungsversuch, wobei ich dafür die Menschen mit einer

siebten Monats».56 Zu šāgâ «versehentlich handeln» vgl. Num 15,22–29 und Lev 5,15–18.57 Hi 8,14 (die Zuversicht des Frevlers ist ein dünner Faden); Hi 31,24 (Gold

als Grundlage des Vertrauens); Ps 49,14.

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geistigen Behinderung ins Spiel bringe. Meine Überlegungen stützen sich auf zwei ganz unterschiedliche Beobachtungen. Erstens kann man hin-weisen auf die bemerkenswerte biblische Aussage: «Der petî bringt jedem Wort Vertrauen entgegen» (Spr 14,15).58 Zweitens beobachte ich das tiefe Grundvertrauen, das viele Menschen mit einer geistigen Behinderung dem Leben – und zuweilen ausdrücklich auch Gott – entgegenbringen. Erfahrungsgemäss sind sie an diesem Punkt uns Normbegabten häufig überlegen. Warum sollte dieses Phänomen nicht bereits für die hebräisch sprechenden Menschen eine Realität gewesen sein, die sich gleichzeitig in ihrer Sprache niedergeschlagen hat?

58 Das hier begegnende Verb heʾĕmîn wird an vielen andern Stellen für «(Gott) vertrauen, (an ihn) glauben» verwendet (z. B. Jes 7,7; oder Abraham in Gen 15,6).

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III. Was schöpfen geistig Behinderte heute

aus der Bibel?

1. Menschen mit einer geistigen Behinderung und ihr Beitrag für

das Verständnis von Bibeltexten

Ein ganzes Buch ausschliesslich aus der Perspektive eines Normbegabten über «die geistig Behinderten» zu schreiben, erschiene mir nicht nur überheblich und paternalistisch, sondern wäre auch dumm – denn damit würde die Chance vertan, dass die durch ihr Leben Hauptbetroffenen ihren ureigenen Zugang zur Thematik sichtbar machen und hier einbringen können. Deswegen kehre ich diese Frage jetzt um: Wie nehmen geistig Behinderte die Bibel wahr? Was schöpfen sie aus ihr?

Antworten darauf liegen auch diesmal nicht sofort auf dem Tisch. Zuweilen herrscht zudem die Meinung, dass Behinderte wenig oder nichts zu dieser Thematik mitteilen könnten. Also auch hier bedarf es eines liebe-voll-genauen, ja hartnäckigen Blicks, um fündig zu werden. Zu den Augen müssen alle Sinne hinzukommen, um die Antworten in ihrer Vielgestaltigkeit wahrnehmen und aufnehmen zu können. Solche Antworten ergehen in den verschiedensten, vor allem auch in nonverbalen «Sprachen». Darum gibt es in diesem Kapitel manches aus dem Leben der betroffenen Menschen zu erzählen, und anderes tritt nicht in Worten, sondern als Gemälde vor uns. Dadurch wird der Zugang viel breiter, als wenn wir Normbegabten die Wahrheit einseitig mittels Sprache und Definitionen einfangen möchten.

Für die Bibelwissenschaft eröffnet dieser ungewöhnliche Weg eine be-sondere Chance. Der Weg ist ähnlich wie bei der Methode, die in der heutigen Geschichtswissenschaft als sogenannt «experimentelle Archäo-logie» bezeichnet wird und neuartige Einsichten in die zu erforschende Vergangenheit verspricht: Man baut heute z. B. einen rekonstruierten stein-zeitlichen Drehbohrer nach und beobachtet, wie damit Löcher in einen Stein gebohrt werden können. Von solchen praktischen Beobachtungen erhofft man sich Aufschlüsse für eine überzeugendere Rekonstruktion des damaligen Alltags, auch wenn man sich dabei bewusst bleibt, dass

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die gemachten Beobachtungen nicht einfach eins zu eins in die Vergangen-heit übertragbar sind. Möglicherweise können uns heutige Menschen mit einer geistigen Behinderung durch ihre konkrete Lebensbewältigung Hin-weise auf Realitäten geben, die bereits in früheren Jahrtausenden galten. Wie weit die Lebensverhältnisse damals und heute miteinander vergleich-bar sind, ist allerdings eine Frage, die im Folgenden nicht ausser Acht zu lassen ist.

Eine weitere Einschränkung muss gleich von Anfang an benannt werden. Es liegt in der Natur der Dinge, dass ich als Vater die ganze Thematik allzu sehr aus der Perspektive meiner eigenen, begrenzten Er-fahrung sehe, d. h. aus dem Blickwinkel der Erlebnisse mit unserem Sohn. Das ist ein höchst einseitiger Erfahrungszugang. Natürlich weiss auch ich mit dem Kopf, dass es bei andern Menschen unterschiedlichste Aus-wirkungen von geistiger Behinderung gibt, aber in der Praxis bleibe ich doch weitgehend blind gegenüber anderen Erfahrungen. Und der Blick auf den eigenen Sohn ist nicht gefeit vor Überschätzung und Unter-schätzung. Im Folgenden sollen Erfahrungsbeiträge anderer Söhne und Töchter sowie von deren Eltern und pädagogischen Fachpersonen dieses Defizit vermindern.

2. Möglichkeiten und Grenzen einer religiösen Sozialisation

Menschen mit einer geistigen Behinderung haben in ihrer Kinder- und Jugendzeit eine unterschiedlich starke religiöse bzw. kirchliche Sozialisation erfahren. Dabei konnten sie sich diese nicht selber auswählen, sondern waren davon abhängig, was ihnen die Umgebung gerade anbot. Diese Ver-antwortung teilen sich Elternhaus, schulischer oder kirchlicher Religions-unterricht, allenfalls auch weitere Einflussträger. Unabhängig davon ist, was sie als Empfangende selber aufnehmen konnten oder nicht. Erst recht nicht berechenbar ist, was sie aus ihrer eigenen Sensibilität schöpfen konnten, um ein Defizit aus ihrer Umgebung zu kompensieren. Denn solche Defizite, ja eigentliche Brüche sind häufig. Bereits die Entdeckung einer geistigen Behinderung führt bei den Eltern zu einem Schock, der traumatisierend wirken kann. Die Frage nach Gottes Gerechtigkeit meldet sich schleichend und schmerzvoll. Wer kann sie ihnen beantworten? Als eine weitere grosse Klippe erweist sich später die Anmeldung zum Firm- oder Konfirmations-unterricht – vor einigen Jahrzehnten noch häufiger (heute melden die Eltern zunehmend ihr Kind gar nicht mehr an, wenn der Unterricht nicht inner-halb des Schulhauses stattfinden kann). Hier geschahen (und geschehen) neue Verletzungen, die bei den Eltern je nachdem nie mehr verheilen.

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Versäumnisse und Ungeschicklichkeiten einer kirchlichen Amtsperson er-halten ein grosses Gewicht und prägen das Bild der Kirche bei den davon Betroffenen. In unseren lockeren volkskirchlichen Verhältnissen fehlen dann häufig andere Kontaktpersonen, welche das entstandene Bild durch eigenes Tun wieder relativieren und aufhellen könnten.

Welche Auswirkungen hat all dies auf die Söhne und Töchter? Im Religionsunterricht, den sowohl meine Frau als auch ich erteilten, be-merkten wir kaum je eine negative Reaktion. Auch andere Katechetinnen bestätigen uns, dass fast alle behinderten Kinder gerne zu ihnen kommen, und dass es häufig möglich ist, ihr Herz zu erreichen. Dies gilt gerade auch dort, wo ein Kind sich verbal schwer oder gar nicht ausdrücken kann. Allerdings haben wir Religionslehrkräfte nicht selber in der Hand, was ein Kind konkret aufnehmen wird; häufig wird dies für uns gar nicht sichtbar.

Im Wissen um diese Relativität unserer Beobachtungen sollen nun am Beispiel zweier Erwachsener konkrete Früchte gezeigt werden. Einer von ihnen hat eine überdurchschnittlich starke kirchliche Sozialisation erfahren, der andere eine unterdurchschnittliche.

3. Zum Beispiel Rolf N.

Bei Rolf N. ist die kirchliche Sozialisation unglücklich verlaufen. Seine Eltern sind von ihrer Kirche tief verletzt worden. Sie haben ein deut-lich distanziertes Verhältnis zu allem Kirchlichen. Rolf wurde die Erst-kommunion verwehrt. Ein Kontakt zu seiner Kirche kam nicht mehr zu-stande. Nach Abschluss der Schulzeit lebte er weiterhin bei seinen Eltern und arbeitete extern in einer heilpädagogischen Beschäftigungsstätte. Dort wurde er u. a. auch intensiv für das Malen gefördert. Eine ausgebildete Maltherapeutin leitet ihn dabei an. Diese eindrückliche Frau ist für vieles sehr wach; kirchlich ist sie als Katholikin nicht besonders eingebunden, eben so, wie es dem schweizerischen volkskirchlichen Durchschnitt ent-spricht. – Unterdessen lebt Rolf intern in dieser Institution und verbringt weiterhin Wochenenden bei seinen Eltern.

Als eine Kirchgemeinde ihre Räume für eine Ausstellung anbot und für die auszustellenden Malarbeiten das Thema «Mose am Dornbusch» vor-schlug, ging die Maltherapeutin darauf ein. Sie las die biblische Geschichte vor und liess sie von den Behinderten malen. Rolfs Reaktion war stark und unerwartet: Er empfand sofort die schwerwiegenden Konsequenzen des angekündigten Auszugs aus Ägypten und sagte in seiner leisen Sprache: «Das ist eine ganz traurige Geschichte! … Jetzt male ich die Leute, die traurig sind, weil sie sofort weggehen müssen. Ich gebe ihnen ein langes

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Seil, damit sie einander nicht verlieren.» So malte er sein Bild – ganz aus der eigenen Betroffenheit heraus (Abb. 2).

Eine glühend heisse Landschaft in differenzierten Rot- und Gelbtönen nimmt den Hauptteil des Bildes ein. Sorgfältig dargestellte Sandkörner weisen auf die Wüste hin. In der Bildmitte sehen wir eine Gruppe von fünf Menschen, die in ihrer Umgebung eher verloren wirkt. Alle tragen eine schwere Last auf ihrem Rücken. Sie lassen ihre Köpfe hängen – aus Er-schöpfung über die lange Wanderung in der Hitze? Oder hat Rolf im All-tag beobachtet, dass jedermann beim Tragen eines Rucksacks automatisch den Kopf senkt? Jedenfalls scheinen die Fünf mit kleinen Schritten nur langsam und mühsam vorwärtszukommen. Mit ihren (eher archaisch dar-gestellten) Gesichtern blicken sie kaum nach vorne. Versuchen sie, nach rückwärts zu schauen? Oder eher hin zu uns, die wir das Bild betrachten? Alle halten sich am selben Seil. Der Kleinste geht zuvorderst. Er kann

Abb. 2: Malarbeit – Wüstenwanderung des Volkes Israel

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kaum der Anführer sein; aber vielleicht geben ihm das Seil und der Zu-sammenhalt der Gruppe den nötigen Mut. Das Seil setzt sich nach vorn und hinten fort. Wir dürfen wohl annehmen, dass sich weitere Gruppen an diesem Seil halten. Gegen vorn ist das Seil gespannt, doch gegen hinten liegt es schlaff am Boden. Heisst dies, dass die abgebildeten Fünf das Schlusslicht einer grösseren Gruppe bilden?

Die sorgfältigen Einzelheiten dieser auch ästhetisch schönen Darstellung zeigen: Offensichtlich hat sich Rolf intensiv in die Situation der Wüsten-wanderung eingefühlt. Dabei bedenkt er ebenfalls drohende Schwierig-keiten und Unsicherheiten. Doch vor allem stellt der (ca. 25-jährige)1 Maler seine eigene Lebenssituation mit deren Unsicherheiten dar. Rolf ist nämlich daran, sich von seinem liebevoll besorgten Elternhaus abzulösen, und möchte aus eigenem Antrieb ins Internat seiner heilpädagogischen Arbeitsstätte eintreten. Das macht ihm – und seinen Eltern – natürlich Angst. Welcher noch ungewissen Zukunft geht er entgegen?2 So wird die biblische Geschichte zu Rolfs eigener Geschichte. Ob er, der eher klein-gewachsen ist, sich selber auf dem Bild als Vordersten der Fünf darstellt? Geben ihm die vier anderen buchstäblich «Rückhalt»? Ist die mittlere Person, die als Einzige etwas rechts von der Schrittlinie geht, vielleicht ein professioneller Betreuer (oder gar ein «Mose»)? Sichtbare Sicherheit in der ungewissen Situation gibt jedenfalls das – in der Bibel nicht er-wähnte, sondern von Rolf kreativ erfundene – gemeinsame Seil, das alle miteinander verbindet, «damit sie einander nicht verlieren» (wie Rolf sagt). Es ist grün – Farbe der Hoffnung.

4. Zum Beispiel Bernhard K.

Bernhard ist in einem protestantisch sozialisierten Elternhaus auf-gewachsen. Hier, in der Sonntagschule und später im Religionsunterricht, hörte er viele biblische Geschichten. Wenige kennt er noch heute; doch ob sie ihm wichtig sind, wissen wir nicht. Der einzige Bibelspruch, den er als jetzt Vierzigjähriger auswendig kennt, ist sein Konfirmationsspruch: «Gott, du hast mich fröhlich gemacht». Er hatte ihn seinerzeit aus einer

1 Zu beachten ist, dass das Gemälde nicht nur kindliche Züge aufweist, sondern durch seine differenzierte Bildkomposition und Farbgebung als Werk eines Er-wachsenen wirkt.

2 Die archaische Gestaltung der Gesichter ermöglicht es, aus ihnen nicht nur Besorgnis auf kommende Schwierigkeiten, sondern auch freudigen Mut auf das Ziel der Wanderung herauszulesen.

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Liste von drei Bibelsprüchen selbständig ausgewählt – eine zutreffende Wahl, wie damals seine Schwester spontan konstatierte. Sein sporadischer Besuch des Konfirmationsunterrichts sowie die Konfirmation waren ihm wichtig. Seither geht er regelmässig mit den Eltern in den Gottesdienst, falls er das Wochenende bei ihnen und nicht im Wohnheim verbringt. Er geht sehr gerne in den Gottesdienst. Für Bernhard, der Feste liebt, ist jeder Gottesdienst ein kleines Fest. Das ist eigentlich erstaunlich; denn in einem traditionell reformierten Gottesdienst ist alles auf das Wort ausgerichtet, vor allem auf die zwanzigminütige Predigt, welche intellektuell nicht anspruchslos ist. Hingegen werden die anderen Sinne (Sehen, Riechen, Körperkontakt) kaum angesprochen. Man sagt darum meiner Kirche (zu Recht?) nach, dass sie weltweit die ungünstigste Gottesdienstform für Menschen mit einer geistigen Behinderung anbiete.

Doch Bernhard ficht das nicht an. Am Samstag jeweils stellt er die typisch protestantische Frage: «Wer predigt am Sonntag auf der Kanzel?» Was er von der Predigt selber versteht, wissen wir nicht. Zusammen mit seinem obligaten Teddybär sitzt er – zur Erleichterung seiner Eltern und der ganzen Gemeinde – still da. Wenn man ihn fragt, was der Pfarrer oder die Pfarrerin gesagt habe, so antwortet er: «Einfach etwas Schönes!» Wichtig ist ihm auf alle Fälle die Liturgie, deren Ablauf er kennt. Wehe, wenn das «Unser Vater» nicht zur rechten Zeit kommt! Dann wird er unruhig (und kann gar einmal die Pfarrerin am Ärmel nehmen): «Wann kommt endlich das ‹Unser Vater›?» Hier ist offensichtlich für Bernhard das Zentrum des Gottesdienstes; hier kann er voll partizipieren. Er betet mit, dass man etwas auch in den andern Bankreihen hört – und von Bernhards Innerlichkeit berührt wird. Auch ein «Kyrie eleison», das regelmässig in den Gottesdiensten gesungen wird, kann wichtig werden. Bei den Liedern singt Bernhard nur dann mit, wenn er ein Lied bereits regelmässig gehört hat. Doch auch andernfalls sagt er nachher: «Wir (nicht: sie!) haben ge-sungen.» Nach Ablauf des Gottesdienstes soll für Bernhard die Gemein-schaft weitergehen: Er fragt ausgewählte (!) Gemeindeglieder, ob sie noch zu einem Kaffee ins Restaurant kommen. Ein Kaffee nur mit den Eltern wäre für Bernhard zu wenig.

Interessant sind die sichtbaren Folgen der kirchlichen Sozialisation. Bernhard hat ausgewählt und eigenständig die Gewichte für sich ver-schoben: Er, der gerne redet und dies für seine Kommunikation mit den Mitmenschen braucht, gewichtet das Wort der Bibel und die Worte in der Kirche anders, d. h. er konzentriert sich dabei auf ausgewählte Elemente. Und obwohl er als Kind viel gemalt hat und immer noch zeichnet, waren darunter nie biblische Motive. Andrerseits sind die regelmässig vor-kommenden liturgischen Elemente – das «Unser Vater» und einzelne Lieder – für ihn unentbehrlich, wie überhaupt der ganze liturgische Ablauf

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des Gottesdienstes. Dass er sich derart auf die Liturgie konzentriert, hat mit Bernhard selbst zu tun; er ist nie von aussen dazu beeinflusst worden. Die reformierte Kirche der deutschen Schweiz gehört zwar zu den welt-weit liturgieärmsten Kirchen. Doch vielleicht ist gerade diese Kargheit für Bernhard eine Hilfe, um den Überblick über den Ablauf des ganzen Gottesdienstes zu behalten; möglicherweise wäre er mit einer reicheren liturgischen Tradition in einer andern Konfession überfordert. Eine weitere Wahl trifft Bernhard mit seinem aktiven Bedürfnis nach Gemein-schaft, was im Gegensatz zum Individualismus unserer protestantischen Gottesdienstkultur steht.

5. Eigenständige und ernstzunehmende Erklärer der Bibel

Rolf N. und Bernhard K. haben, je auf ihre Weise, auf biblische Texte reagiert. Ihre Reaktionen sind nicht etwa eine Kopie dessen, was andere ihnen vermittelt haben, sondern es handelt sich jeweils um eine eigen-ständige persönliche Aneignung eines Bibeltexts. Rolfs Darstellung der Wüstenwanderung ist sehr realitätsbezogen und gleichzeitig so unkon-ventionell, dass viele, die das Bild zum ersten Mal sehen, nicht auf die Idee kommen, dass hier Israels Wüstenwanderung dargestellt ist. Rolfs Bild legt den Finger auf eine Dimension, die meistens übergangen wird: Hier ereignet sich kein triumphaler Zug der Befreiten, sondern es geht um einen risikoreichen Weg von Verunsicherten. Eigentlich entspricht dies genau der alttestamentlichen Darstellung, die bekanntlich von der wiederholten Sehnsucht zurück zu den «Fleischtöpfen Ägyptens» erzählt (Ex 16,3). Rolfs Malerei erfasst also an diesem Punkt die Erzählung von der Wüstenwanderung genauer, als andere bibelkundigere, ja auch als manche professionellen Leser und Leserinnen die Wüstenwanderung ver-stehen.3 Im Hinblick auf Rolfs eher unterdurchschnittliche kirchliche Sozialisation ist dies überraschend.

Auf ganz andere Weise reagiert Bernhard als aufmerksamer Hörer. Aus der Fülle von biblischen Informationen, die an sein (gut sozialisiertes) Ohr dringen, wählt er einiges Wenige aus, das ihm sehr wichtig wird. Mit seiner Konzentration auf das «Unser Vater» kann er ein zentrales Anliegen von Jesus aufnehmen, ja sogar verinnerlichen. Wie diese eigenständige

3 Vielleicht liefert Rolf für die Bibelwissenschaft sogar einen Beitrag zum Verständnis des schwerverständlichen hebräischen Wortes ḥămušîm (Ex 13,18), insofern es einen geordneten Auszug in übersichtlichen Gruppen zu fünft (oder zu fünfzig) bedeuten könnte.

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«Leistung» Bernhards möglich wurde, weiss ich nicht; jedenfalls haben sich weder das Elternhaus noch die Schule hingesetzt, um ihm diesen Text beizubringen. Eines Tages entdeckten die Eltern zu ihrer Überraschung, dass er ihn auswendig sagen kann und konkrete Vorstellungen von der Bedeutung einzelner Gebetsbitten hat. Und wenn Bernhard dieses Gebet zum Zentrum seiner Erfahrungen im Gottesdienst macht, so bedeutet das nicht, dass er entsprechend unterwiesen worden wäre.

Weitere eindrückliche Aussagen stammen vom 19-jährigen Joschia R. Er findet die Bibel ein spannendes Buch. In der Schule hat er viele biblischen Geschichten gehört, aber er hat, wie er mir mitteilt, nicht alles verstanden. Doch gelingt es Joschia, einige Geschichten ganz nah mit seinen persön-lichen Erlebnissen zusammenzusehen. Wenn er mit seinem Onkel, der Pfarrer ist, Boot fährt, ist es «fast wie in der Bibel beschrieben mit den Jüngern, wie bei Jesus. Ja, ab und zu fahren wir zusammen über den See Genezareth.» Und: «Ich habe Geschichten gern mit schwachen Leuten, so wie du4 sie erzählt hast. Die Geschichte mit der Frau.5 Ja, denn es ist für mich nicht einfach, in einer Welt voller starker Menschen, die alles können, zu leben.» – Stellvertretend für diejenigen Menschen, die sich nicht so ge-wandt ausdrücken können, zeigt uns Joschia, was für Gedanken in einem Menschen mit Trisomie 21 möglich sind. Übrigens kann Joschia nicht oral kommunizieren, sondern drückt sich mit Hilfe einer Buchstabentafel aus, indem er mit seinem Finger in Blitzesschnelle auf die jeweiligen Buch-staben zeigt.

Dass diese Menschen auf so eindrückliche Wege in ihrem Bibelver-ständnis geführt worden sind, ist letztlich ein Wunder. Dieses Wunder ereignet sich in unterschiedlichsten Variationen an unzähligen Menschen mit oder ohne geistige Behinderung. Meistens wird uns dies gar nicht bewusst, weil wir zu wenig auf die Signale der betreffenden Menschen achten. Übersehen werden sie insbesonders bei Menschen mit einer sehr schweren Behinderung und eingeschränkten Kommunikationsmöglich-keiten. Zudem haben diese Menschen es zusätzlich schwer wegen der Tatsache, dass Religiöses in einer modernen säkularisierten Gesellschaft immer mehr aus dem Alltag entfernt wird. Dadurch schwinden generell Kontaktmöglichkeiten, die z. B. im alten Israel selbstverständlich gegeben waren. Biblische Impulse müssten heutzutage wohl besonders tief in der vermittelnden Person verwurzelt sein, damit sie den Schwerstbehinderten kommuniziert werden können.

4 Joschia meint hier seinen Onkel, der beim Gespräch ebenfalls dabei war.5 Gemeint ist die blutflüssige Frau, welche Jesu Kleid berührte.

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Fruchtbare Gelegenheiten

Im Folgenden gebe ich eine eher zufällige Blütenlese von Beispielen weiter, die mir von Bekannten und Freunden zugetragen worden sind. Ich tue dies mit dem Ziel, dass diese Beispiele uns gleichzeitig erfreuen und das eigene Bibelverständnis fördern.

zu können, sind Rollenspiele. In vielen Behinderteninstitutionen gibt es jeweils im Dezember ein Krippenspiel, wo Menschen mit unterschiedlichen Behinderungsgraden und Sprachmöglichkeiten mitmachen können. Für viele bietet dies Gelegenheit, sich mit einer biblischen Gestalt zu identifizieren; und sie wissen voll Freude von Jahr zu Jahr: «Jetzt bin ich (wieder) der Engel» (oder «der Hirte» usw.). Das Rollenspiel bietet fruchtbare Möglichkeiten zu eigen-ständigen Aktualisierungen mittels Verknüpfung von biblischer Geschichte und eigenem Leben. So kann z. B. eine Frau, die den Engel der Verkündigung spielt, ihre Botschaft an die Hirten beenden mit dem Satz: «So, jetzt wisst ihr’s, und ich gehe nun wieder zurück in den Himmel zu meinem Mami.» Was für ein schönes Bekenntnis, dass die verstorbene Mutter im Himmel von einem Weihnachtsengel begleitet ist.

vor Weihnachten die Mutter. Die Heimleitung möchte, aus falsch verstandener Rücksichtnahme, die Rolle umbesetzen, aber stösst damit auf völliges Unverständnis. Unbedingt will sie wiederum den Engel der Verkündigung spielen; doch verlangt sie diesmal ein goldenes Tor. Auf Nachfrage schildert sie den Einzug ihrer Mutter ins Himmelreich durch dieses goldene Tor. An der Weihnachts-feier verkündigt sie allen Anwesenden, dass sie ihre liebsten drei Menschen verloren habe (ihren Vater, ihren Götti und zuletzt ihre liebe Mutter). Es ist für die Anwesenden ein bewegender Moment, diesen trauernden «Weihnachtsengel» so gefasst, ja fast gelassen zu erleben, mit so vielen Gedanken, die er sich machte, erfüllt von einem tiefen Gottvertrauen.

-raschend lebendig werden. Wenn Goliath ob seiner schweren Rüstung immobil wird und durch zwei Waffenträger gestützt werden muss, fällt die Agilität des umherhüpfenden David umso mehr ins Auge. Da braucht es überhaupt keine Worte mehr.

Behinderungen auffallen, sind eindrückliche Krippenspiele erlebbar. Ich denke an die Gestaltung der Rolle der Maria durch Menschen,

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die weder reden noch sich mit Gesten ausdrücken können, aber alles in ihr strahlendes Gesicht legen.

-treuende Person gemeinsam eine Rolle; Letztere spricht die Worte, welche Erstere nicht sagen (oder höchstens anschliessend wieder-holen) kann. Der elementaren Eindrücklichkeit einer solchen Szene tut dies keinen Abbruch, sondern diese wirkt – sozusagen aus zweier Zeugen «Mund» – sogar noch stärker.

viele biblische Geschichten und kann stundenlang eine Bilderbibel mit Rembrandt-Reproduktionen anschauen und so die Geschichten verinnerlichen. Gerne spielt sie ihre biblischen Erfahrungen vor ihren Eltern, so etwa die Geschichte von Jesus, der die Kinder zu sich nimmt und den Jüngern verbietet, sie wegzuschicken. Mit un-missverständlicher Mimik und Ganzkörpereinsatz spielt sie diese Geschichte und holt anschliessend ihre Kinderbibel und erklärt, dass dass sie selber das Kind auf Jesu Arm sei. – Auch wenn am Sonntag der Prediger z. B. vom Zöllner Zachäus erzählt, reagiert Anna sofort mit Gesten: Sie erhebt den Zeigefinger, ahmt das Hinab-steigen vom Baum nach, freut sich mit Jesus und Zachäus. Für den Prediger ist eine solche «Mitpredigerin» eine willkommene Kollegin, zumal Anna, die wegen ihrer Behinderung nicht verbal redet, durch ihren Charme Herzen erobern kann.

Spanien. Brigitte wünscht, den Sonntagsgottesdienst zu besuchen, und nimmt unter Begleitung eines Betreuers an einer katholischen Messe teil. Viel Gesang, der angenehm kühle Kirchenraum, das ge-dämpfte Licht und die vielfältige Gestaltung der Messe ermöglichen ein schönes Erlebnis. «Nur schade, dass wir den Inhalt nicht ver-standen haben», erwähnt der Betreuer zum Schluss. Darauf sagt Brigitte mit ruhiger und fester Stimme: «Ich habe jedes Wort ver-standen.» Dies ist ihre Überzeugung, und weitere Rückfragen er-übrigen sich …

6. Konsequenzen für heute

Die Bibel bleibt Menschen mit einer geistigen Behinderung nicht grund-sätzlich verschlossen, im Gegenteil: Sie können Wesentliches aus ihr schöpfen. Das kann einzelne Sätze, Bilder oder Motive betreffen, oder es kann durch gottesdienstliche Erfahrungen vermittelt sein. Dieses

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ermutigende Ergebnis wird durch ein zweites in eine zunächst irritierende Richtung gelenkt: Das Ausmass einer kirchlichen Sozialisation spielt dabei eine erstaunlich untergeordnete Rolle. Wie wir z. B. gesehen haben, hat Bernhard nie eine biblische Geschichte gemalt, obwohl er durch seine kirchliche Sozialisation Dutzende von ihnen gehört hat. Gewiss hätten ihn seine Eltern sogleich mit Lob und Anerkennung unterstützt, sobald er einmal ein biblisches Thema gemalt hätte. Stattdessen zeichnet er Kirch-türme mit mächtig schwingenden Glocken, was für seine Eltern ebenso wenig der Mittelpunkt ihres Glaubens ist wie etwa auch die gottesdienst-liche Liturgie, die von Bernhard so stark beachtet wird.

Positiv lässt sich sagen: Die Bibel selber ermöglicht Impulse, die stark genug sind, um auf fruchtbaren Boden zu fallen. Diese Impulse führen zu kreativen Aneignungen, die ins persönliche Leben integriert sind. Insofern werden biblische Aussagen «verstanden», und nicht einfach nur mechanisch nachgeredet. Mit dem, was Menschen mit einer geistigen Be-hinderung aus der Bibel verstehen, können sie zudem auch Lehrer für andere werden.6 So etwa kann uns Rolf lehren, biblische Geschichten so realistisch zu sehen, dass sie für unser eigenes Leben transparent werden. Oder: Viele Menschen mit einer geistigen Behinderung wie Bernhard können uns den Wert der Wiederholung zu entdecken lehren, die sich nicht in einem mechanischen Repetieren erschöpft. Wiederholung gilt uns zwar vielfach als tödlich langweilig. Ein derzeitiger Trend geht darum dahin, die Aufmerksamkeit der Leute durch ständig neue Reize und Gags am Leben zu erhalten. Dementgegen leben und lehren uns Menschen wie Bernhard eine Alternative: Wiederholung kann unser bisheriges Ver-ständnis vertiefen und darum bereichern und erfreuen. Wiederholung ist sozusagen das tägliche Brot, das mehr nährt als die originellste Patisserie.7 Solche Erfahrung ist lehrreich für unsere Gesellschaft. Ebenfalls wichtig ist sie für die Bibelwissenschaft: Diese nimmt die zahlreichen Wieder-holungen, die sich in der Bibel selber finden, häufig eher negativ als positiv

6 Vergleichbares gilt für Kranke und deren Verständnis von Bibeltexten: Dank ihrer Betroffenheit sind sie kompetent, und darum sollten sie von der Bibel-wissenschaft vermehrt ernst genommen werden. Siehe E. und C. Kellenberger-Sassi, Psalmen am Krankenbett, in: B. Huwyler u. a. (Hg.), Prophetie und Psalmen (Fest-schrift für K. Seybold), Münster 2001, S. 175–181. – Dasselbe gilt von Aidskranken und HIV-Positiven, deren wesentlicher Beitrag zur Hiob-Exegese ausgewertet wird von G. West und B. Zengele, Reading Job Positively in the Context of HIV/AIDS in South Africa, Concilium 4, 2004, S. 112–124.

7 Ein Beispiel aus der Katechese: Meine Frau und ich erteilten Erwachsenen mit einer geistigen Behinderung biblischen Unterricht und setzten dafür auch musikalische Ruhepunkte ein. Dabei lernten wir zu unserer Überraschung, dass diese Menschen jedes Mal wieder dieselbe Musik wünschten und sich darauf freuten.

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wahr. Allzu bestimmend ist dabei die Vorstellung, dass die Echtheit des Intellektuellen sich in immer neuen (möglichst noch originelleren und unerwarteten) Geistesblitzen bewähren müsse. Im Neuen Testament wird unserer heutigen Begierde nach Abwechslung der Spiegel vorgehalten, wenn darin Lukas die Philosophen Athens porträtiert: Diese wollen immer wieder Neues hören (Apg 17,21), bleiben dabei aber blind für die Botschaft des Apostels Paulus.

Die bisher skizzierten lehrreichen Erfahrungen tragen ihren Wert in sich. Unabhängig davon mag die Frage aufkommen: Wie viele Menschen mit einer geistigen Behinderung werden so intensiv von der Bibel berührt, wie die präsentierten Beispiele es zeigen? Sind sie etwa nur eine kleine Minderheit? Der Glaube gehört zu denjenigen Lebensäusserungen, die sich am allerwenigsten messen und quantifizieren lassen. Vor allem in den volkskirchlichen Verhältnissen ist Glaube etwas sehr Vielfältiges, das häufig verborgen bleibt. Bereits Normbegabten fehlt häufig die Sprache und auch der geschützte Rahmen, um ihre (meist sehr intimen) Glaubens-erfahrungen andern mitteilen zu können. Noch am einfachsten erscheint die Kommunikation von schlechten Erfahrungen; doch sogar da bleiben die tieferen Gründe oft verborgen. Menschen mit einer geistigen Be-hinderung haben wohl andere Schwierigkeiten als die Normbegabten, um ihre Glaubenserfahrungen zu kommunizieren. Ob es mehr oder weniger sind, möchte ich offen lassen.

7. Rückschlüsse auf die Lebenssituation in biblischer Zeit

Obige Schilderung heutiger Menschen mit einer geistigen Behinderung geschah nicht zuletzt in der Hoffnung, dadurch ihre «Verwandten» in biblischer Zeit samt ihren Lebensbedingungen besser verstehen zu lernen. Allerdings wird diese Hoffnung nicht von allen geteilt. Manche vermuten einen allzu grossen Graben zwischen den heutigen grossen heilpädagogischen Fördermassnahmen und damals, als überhaupt kein Kind einen vergleichbaren Aufwand an Schulung erhielt, ja als kein ent-sprechendes «Recht auf Bildung» existierte.

Die folgende Beobachtung soll uns diesen Graben überbrücken helfen. Viele Eltern erinnern sich an Momente, wo die Lernfähigkeit ihres Kindes bereits einsetzte, bevor die heilpädagogischen Fördermass-nahmen begannen. Kleinkinder, deren retardierte Sprachentwicklung noch nicht angefangen hat, beginnen z. B. plötzlich zu singen und sich selbständig im Kreis zu drehen, nachdem Nachbarkinder mit ihnen Reigentänze gespielt haben. Offensichtlich können auch Kleinkinder mit

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einer geistigen Behinderung Anregungen ihrer natürlichen Umwelt auf-nehmen und daraus lernen. Umso mehr dürfen wir solches annehmen in vorindustriellen Zivilisationen wie Israel, wo Rituale grössere Bedeutung hatten als bei uns. Gerade bei Menschen mit einer geistigen Behinderung kann man eine starke Empfänglichkeit für Rituale und deren regelmässige Wiederkehr beobachten. Warum sollten sie nicht schon in biblischer Zeit über diesen Kanal Entscheidendes gelernt haben?

Ebenfalls nicht unterschätzen dürfen wir die Fähigkeiten von Menschen mit einer geistigen Behinderung, gängige Werte ihrer natürlichen Um-gebung zu beobachten und aufzunehmen, um sich so die Zugehörigkeit zur Gesellschaft zu sichern. Dazu ein Beispiel: Bernhard beobachtete gierig, wie seine jüngere Schwester sich mit dem Lernen des Alphabets ab-mühte. Darauf konnte die lernbehinderte (!) Schwester ihre eigenen Schul-frustrationen abreagieren, indem sie ihrem älteren Bruder das Lesen und Schreiben beibrachte; und Bernhard liess sich die groben Lehrmethoden seiner machtbewussten Schwester klaglos gefallen.8 So lernte er Lesen und Schreiben – ohne heilpädagogische Schule. Diese hingegen entschied mit einem gewissen Recht, dass im Blick auf seine zukünftige Integration der alltägliche Umgang mit Reissverschlüssen, Schuhbändeln und Hemden-knöpfen Vorrang habe (doch solches lernte er bis heute nicht). – Und ein entfernt vergleichbares Beispiel eines elementaren kindlichen Lernwillens aus der Antike des 4. Jahrhunderts n. Chr.: Wohl mit einer ähnlichen Gierigkeit wie Bernhard eignete sich der in seinem fünften Lebensjahr er-blindete Didymus ein umfassendes Bildungswissen an, so dass er sich zum führenden Theologen im ägyptischen Alexandria entwickeln konnte. Sein berühmtester Schüler wurde Hieronymus, der die lateinische Bibelüber-setzung (genannt Vulgata) geschaffen hat.9

Mit diesen Beispielen sollen nicht die heutigen engagierten und erfolgreichen heilpädagogischen Bemühungen madig gemacht werden. Diese schaffen in der Tat vielfältige Entfaltungsmöglichkeiten, wie sie früher nicht denkbar waren. Unabhängig davon ist allerdings auch die menschliche Fähigkeit zu beachten, dass man sich ohne Schule etwas

8 Bei Bernhard lässt sich das elementare Bedürfnis beobachten, durch Schreiben die Welt zu ordnen. Er liebt es, lange Listen zu schreiben: Alle ihm bekannten Ess-waren (er isst selber sehr gerne), alle ihm bekannten Ortsnamen oder die Namen seines vielfältigen Bekanntenkreises. Dass es dabei um ein Ordnen der chaotischen Welt geht, zeigt sich u. a. an folgender Beobachtung: Bernhard merkte sich bereits zuvor, in seiner illiteraten Zeit, dialektbedingte Unterschiede in der Aussprache desselben Wortes, und listete mündlich solche Ausspracheunterschiede in längeren Reihen auf. – Man beachte die Analogien zur Listenwissenschaft, wie sie im Alten Orient gepflegt wurde.

9 J. Leipoldt, Didymus der Blinde von Alexandria, Leipzig 1905.

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Wesentliches aneignen kann, ja dass dies ebenfalls Menschen mit einer geistigen Behinderung erfolgreich tun – heute wie damals. Und dieser ausserschulische Lernkanal konnte auch in biblischer Zeit Wesentliches zur Integration in die Gesellschaft beitragen.

Als ich – im Vorfeld zur vorliegenden Veröffentlichung – dieses Kapitel verschiedenen Personen zum Lesen gab, welche pädagogisch (jedoch nicht heilpädagogisch!) tätig sind, erhielt ich jeweils die Reaktion: Das hier Mitgeteilte entspreche grundsätzlich den Erfahrungen, die sie in ihrer Tätigkeit mit Menschen ohne geistige Behinderung machen. Offensichtlich zeigen meine Beobachtungen etwas sehr Elementares, das für alle Lernenden gilt. Vielleicht darf man sogar die These wagen, dass die grundsätzliche condition humaine besonders gut an Menschen mit einer geistigen Behinderung ablesbar ist. Wir stossen hier auf eine tiefere Gemeinsamkeit, als es die konkreten Unterschiede zwischen Menschen mit und ohne geistige Behinderung erkennen lassen.

8. Anregungen für die Bibelwissenschaft

Im Sinne einer Zusammenfassung dieses Kapitels sollen drei Anregungen weitergegeben werden, die ich als Bibelausleger aus der Begegnung mit geistig behinderten Menschen schöpfe.

a. Dass Bernhard mit erheblichen syntaktischen Sprachdefiziten, dem Gemüt eines Fünfjährigen und dem Intellekt eines Acht-jährigen das «Unser Vater» nicht nur als etwas Zentrales erfassen kann, sondern auch konkrete Vorstellungen von einzelnen Sätzen hat, sagt Entscheidendes über den Charakter dieses Mustergebets und über dessen Autor aus. Dieses Gebet ist offensichtlich so formuliert, dass es einerseits für ein einfaches Gemüt aussagekräftig ist und andrerseits von keinem Menschen ausgeschöpft werden kann. Offensichtlich ermöglicht dieses Gebet die Integration von Menschen mit einer geistigen Behinderung in die Gemeinschaft Jesu. Zudem fördert es – im Sinne von Lk 11,1 «Herr, lehre uns beten» – die weitere Entwicklung des Betens: Unterdessen lernte Bernhard auch frei formulieren, wenn er für die Erlebnisse des vergangenen Tages dankt und fürbittend für Menschen betet, die ihm wichtig sind.10 Er ist gewiss nicht der Einzige, dessen Gebet durch die Schule des «Unser Vater» gefördert worden ist.

10 Ebenfalls frei formulierte Gebete, die aus abendlichen Gesprächen zwischen

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b. Dass die Bibelwissenschaft die zahlreichen wörtlichen Wieder-holungen in den Texten zu wenig positiv würdigt, ist bereits gesagt worden. Im Sinne einer vertiefenden Wiederholung dopple ich nach und verweise nicht nur auf Refrains, deren literarische Funktion noch eher einleuchtet, sondern auch auf ganze Erzählungen, die im Alten Testament sowie in den Evangelien mehrmals und je leicht variiert erzählt werden. Meist wird dies eher als ein Betriebsunfall in einer wild wuchernden (und darum unsorgfältig erscheinenden) Überlieferungskette – oder schlicht als plumpe Kompilation (An-häufung von Überlieferungsstoff) – beurteilt. Hinter einer solchen Abwertung verbirgt sich eine einseitige Ästhetik. Können uns Menschen mit einer geistigen Behinderung den Weg zu einer anderen Ästhetik weisen, welche den biblischen Textwiederholungen besser gerecht wird, indem die Wiederholungen als positive Vertiefung ge-sehen werden? Zudem würde es sich lohnen, z. B. die Feste in Israel noch vermehrt unter diesem Aspekt zu beachten. Dazu gehören sowohl die Feste an der Schwelle zu einer neuen Lebensphase (Be-schneidung, Entwöhnung usw.) als auch diejenigen, die ans Land-wirtschaftsjahr gebunden sind und an Israels Heilsgeschichte er-innern sollen (Passa, Laubhüttenfest, Neujahr). Und auch der Alltag war durch Wiederholungen verschiedenartigster Art geprägt (Lieder während der Arbeit usw.), die noch wenig erforscht sind, u. a. weil sie uns Normbegabten weniger auffallen.

c. Wenn Rolf N. die Exodus-Überlieferung so elementar mit seiner eigenen biographischen Situation verbinden kann, so ist dies kein erstmaliges Phänomen. Bereits die biblischen Texte zeigen eine identitätsbildende Kraft des Exodusgeschehens, die sich über viele Jahrhunderte erstreckt und unter veränderten Situationen er-neut hilfreich werden kann. Dies wird von der Bibelwissenschaft zwar gesehen, wirkt sich aber in den zahlreichen literarischen und redaktionsgeschichtlichen Analysen von Ex 1–15 vielfach zu wenig aus.

einer Mutter und ihrer Tochter erwuchsen, finden sich bei F. und S. Meier, Heute hat es nicht geregnet. Gedanken und Gebete eines geistig behinderten Mädchens, Zürich 1986.

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IV. Mögliche Schicksale von Menschen mit

geistiger Behinderung

1. Methodische Vorbemerkungen

Biblische (und andere alte) Texte wollen nicht als historisches Lexikon gelesen werden. Gleichwohl ist es möglich, aus einzelnen, oft nur bei-läufigen Bemerkungen etwas Konkretes aus dem Leben von Menschen mit einer geistigen Behinderung zu erfahren. Bei jedem Fund handelt es sich um einen erfreulichen Glücksfall; solche Einzelfunde zeigen zwar vermut-lich Typisches, aber aus ihnen lassen sich keine Statistiken erstellen mit Prozentzahlen über Kindersterblichkeit, Kindesaussetzung und geglückte Integration von Menschen mit einer geistigen Behinderung. Gleichwohl seien im Folgenden unterschiedlichste Möglichkeiten von Lebensschick-salen vorgestellt.

Ein weiterer Grund für die Seltenheit solcher Erwähnungen liegt darin, dass die Thematik vielfach schambesetzt ist, damals ebenso wie heute. Wer berichtet von sich aus z. B. über einen vorgenommenen Schwangerschafts-abbruch? Wer gibt zu, dass er ein Kind vernachlässigt und insgeheim dessen Tod als Erlösung für alle erhofft? Bei der Erforschung alter Texte muss also auch mit dem Verschweigen solcher Informationen gerechnet werden. Trotzdem kann unter besonderen Umständen die verschwiegene Wahrheit ans Licht treten. Dazu ein Beispiel: Kein alter Text berichtet darüber, dass jemand einem sehbehinderten Menschen absichtlich ein Hindernis in den Weg legte, damit er darüber stolpere und zu Fall komme. Überliefert ist jedoch das Verbot:

Einen Tauben sollst du nicht schmähen, und einem Blinden sollst du kein Hindernis in den Weg legen, sondern du sollst dich fürchten vor deinem Gott. Ich bin der herr. (Lev 19,14)

Und in der ägyptischen Lebenslehre des Amenemope finden wir ein vergleichbares Verbot:

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Verlache nicht einen Blinden und verhöhne nicht einen Kleinwüchsigen. (Amenemope XXV)1

Diese beiden Belege – der eine aus einer israelitischen Zusammenstellung von priesterlichen Geboten und Verboten, der andere aus der ägyptischen Weisheits- und Bildungsliteratur – lassen mit einer gewissen Sicherheit vermuten, dass ein solches Verbot nicht grundlos war, sondern eine ent-sprechende Behandlung behinderter Menschen leider vorkam. Allerdings können wir nicht beurteilen, wie häufig eines solche Tat geschah.

Diese Methode des indirekten historischen Nachweises heisst im wissen-schaftlichen Jargon «Hermeneutik des Verdachts». Sie hat allerdings auch ihre Tücken und muss deshalb mit grosser Vorsicht angewandt werden. Dies soll am Beispiel der Kindestötung gezeigt werden: Die Tötung eines Kindes wegen dessen Behinderung wird in der Bibel weder erwähnt noch verboten. Es wäre allerdings kurzschlüssig, aus diesem Schweigen zu folgern, dass Kindestötung als etwas so Selbstverständliches galt, dass es weder erwähnt noch erlaubt oder verboten zu werden brauchte. Doch ebenso kurzschlüssig wäre die umgekehrte Folgerung, dass Kindestötung damals als so undenkbar galt, dass jegliches Verbot überflüssig erschien. Ein weiteres Beispiel: Die nachbiblischen jüdischen Schriftsteller Philo und Josephus polemisierten im ersten Jahrhundert n. Chr. vehement gegen den – laut ihnen «heidnischen» – Brauch der Kindestötung. Bedeutet dies, dass Kindestötung damals nur unter Nichtjuden vorkam, oder dass Juden vor einer Übernahme dieses Brauches gewarnt werden sollten, oder gar, dass Kindestötungen unter Juden gang und gäbe waren und nur von diesen beiden Schriftstellern als unjüdisch gebrandmarkt wurden? Und was wäre zu folgern, wenn diese kritischen jüdischen Stimmen von Philo und Josephus für uns Heutige zufälligerweise verloren gegangen wären? Dürfte man dann aus dem Schweigen schliessen, dass Kindestötungen selbstverständlich waren? – Es kann doch nicht sein, dass Kindestötung in jedem Fall als «bewiesen» gelten darf – unabhängig davon, ob die alten Quellentexte diese erwähnen, nicht erwähnen, oder ver-bieten. Sonst wären wir beim bekannten Märchen vom «Wettlauf zwischen Hase und Igel», wo der Hase trotz höchster Rennleistung immer am Ziel die Stimme des Igels (richtiger: des einen der beiden Igel) hören muss: «Ich war schon vor dir da!».

Körperliche Behinderung einbeziehen?

Eine weitere methodische Vorbemerkung ist nötig: Wo die alten Quellen zu wenig Informationen über geistige Behinderung hergeben, ziehe ich

1 Deutsche Übersetzung nach H. Brunner, Altägyptische Weisheit, S. 254.

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Aussagen über körperliche Behinderungen heran, weil hier die Quellen etwas reichlicher fliessen. Daraus versuche ich mit aller Vorsicht Ana-logien zur Situation von geistiger Behinderung zu ziehen. Gewiss muss man fragen, ob dieses Vorgehen methodisch statthaft ist, denn zumindest heute beobachten wir unter Betroffenen einen deutlichen Graben zwischen der Erfahrungswelt einer körperlichen und derjenigen einer geistigen Be-hinderung. Doch bereits oben beim Nachdenken über die «Taubstummen» (Kapitel II) schmolz unsere heutige Abgrenzung zwischen der Ursache einer körperlichen Behinderung und deren Folgen betreffend einer geistigen Behinderung.

Auch weitere mesopotamische, jüdische und christliche Texte zeigen in Auflistungen, dass beide Erfahrungswelten damals miteinander genannt werden konnten.2 Als Beispiel sei ein Keilschrifttext mit einer Zauberformel zitiert,3 welche hintereinander folgende Behinderungen aufzählt (zuerst werden Frauen genannt, dann Männer):

Gebrechliche, sei vollkommen!Gelähmte, renne! Finde Genossinnen!

Du, Gewichtige (die zu viel hat),und Zerbrochene (die zu wenig hat): Stehet auf!

Rede, Tor (šōṭê)! Stehe auf, Tauber!

Zaubersprüche sind zwar naturgemäss schwer verständlich und haben eine Logik, die uns oft rätselhaft bleibt. Aber wenigstens ist für uns deutlich erkennbar, dass hier verschiedene Behinderungsarten zu einer Gesamtheit von Defiziterfahrungen zusammengefügt werden.4

2 Beispiele einer gemeinsamen Erwähnung von körperlichen und geistigen Be-hinderungsarten finden sich in den Auflistungen zahlreicher Missgeburten in Meso-potamien (dazu siehe unten S. 66–67) sowie in lexikalischen Listen (Materialien zum sumerischen Lexikon 12,201.228; 13,192.194; 14,278). Siehe ferner die Auf-zählungen in Qumran (CD 15,15 = 4Q266 fr. 8); ferner im Midrasch HhldR IV,17 (Menschen mit Ausfluss, Hautkranke, Lahme, Blinde, Stumme/Dumme [ʾlmjn], Taubstumme [ḥršjn], geistig Unzurechnungsfähige [šwṭjn], Geistesabwesende [šmmjn], Törichte [ṭpšjn], Zweifler [ḥlwqj lb]). Zu Thomas-Akten 12 siehe unten S. 103.

3 Übersetzung und kurzer Kommentar: Texte aus der Umwelt des Alten Testa-ments, Band 2, S. 432–433. Der Text (ca. 3. Jahrhundert v. Chr.) ist insofern ein Unikum, als er in aramäischer Sprache abgefasst, aber in Keilschrift geschrieben ist; dies erschwert die Verständlichkeit für uns heute. Zum Inhaltlichen siehe unten S. 133 Anm. 228.

4 Zu beachten ist die Wertungsskala der verschiedenen Behinderungen; die Aufzählung endet mit dem «Toren» (šōṭê) und dem «Tauben». Wird hier zwischen psychischen Auffälligkeiten und mangelnder Intelligenz unterschieden?

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2. Kindersterblichkeit und Überlebensmöglichkeiten

Sowohl Totgeburten als auch der nachgeburtliche frühe Kindstod werden in den biblischen Texten öfters als ein Unglück erwähnt; dieses konkrete Leid ist also dem alttestamentlichen Menschen vertraut.5 Es ist aus biologischen Gründen damit zu rechnen, dass gerade auch Föten mit (meistens un-erkannten) Behinderungen zu früh und tot geboren wurden. Ebenso vertraut ist der Tod von Säuglingen und Kindern.6 Auf eine besondere Weise wird dieses Leid sichtbar, wenn wir auf die Personennamen achten, welche die Eltern ihrem neugeborenen Kind gaben.

Bei der Wahl des Namens dachte man öfters an den frühen Tod eines älteren Geschwisters (oder anderen Verwandten). Dies ist der sprachliche Hintergrund von Namen wie Manasse (das Neugeborene lässt das ver-storbene Kind «vergessen»), Tachat («an Stelle von»), Jojakim («Jahwe hat wieder erstehen lassen»), Nehemia («Jahwe tröstete» für ein älteres, verstorbenes Kind) oder weiblich Tanchumet (die Namensform ist ver-wandt mit Nehemia, also «Trösterin»). Solche «Ersatznamen» sind im Alten Testament und im ganzen Alten Orient häufig. Ein besonders ein-drückliches Beispiel ist Salomo, dessen Geburt für seine Eltern David und Batseba ein «Ersatz» für ihr zuvor verstorbenes Kind ist (2Sam 12): Salomo (eigentlich «sein Ersatz») kommt von šālôm, was nicht nur Friede bedeutet, sondern zunächst «Vollständigkeit, Heil». Mit Salomos Ge-burt ist die königliche Familie «vollständig». Negativer tönen Namen wie Jeter und Jitro («Rest»), welche auf eine aufgrund von Todesfällen geschrumpfte Familie hinweisen.

Problematische Geburten als Behinderungsursache

Erfahrungsgemäss sind schwierige Geburten eine mögliche Ursache für Behinderungen. Mehrfach erwähnt die Bibel Geburtsvorgänge, die sowohl Mutter wie Kind gefährden.7 Darunter finden wir z. B. die Klage: «Bis zum Muttermund sind die Kinder gelangt, und nun fehlt die Kraft, um

5 Ex 21,22–23; 23,26; Num 12,12; 2Kön 2,19–22; Hi 3,16; Ps 58,9; Pred 6,3; vgl. noch Jes 37,3; Hi 3,11; Ps 22,30; 1Kor 15,8. Vgl. M. Grohmann, Fruchtbarkeit und Geburt in den Psalmen, Tübingen 2007, S. 227–271.

6 In verschiedenem Alter: 2Sam 12,15–23; 1Kön 14,1–18; 16,34; 1Kön 17,17; 2Kön 4,18–37; Jes 65,20.

7 Gen 35,16–18; 1Sam 4,19–20; 1Chr 4,9; Jes 37,3; 66,9; Hos 13,13; vgl. noch Gen 3,16; Jes 66,7 und häufige Vergleiche im Bild der Geburtswehen (dazu S. 64). Eindrückliche ausführliche Beschreibungen aus Mesopotamien dokumentiert E. von Weiher in: A. Karenberg u. a. (Hg.), Heilkunde, Band 1, S. 124–127.

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zu gebären!» (Jes 37,3). Doch nicht nur Bibeltexte schildern stockende Geburtsvorgänge; auch archäologische Funde von Skeletten mit einem ausgewachsenen Embryo im Mutterleib sprechen eine deutliche Sprache. In einem Fall verursachte der zu enge Gebärkanal der 14-jährigen Frau den Tod von Mutter und vierzigwöchigem Kind.8 Da nützte auch das (archäo-logisch nachgewiesene) Inhalieren von Haschisch (Cannabis sativa) nichts mehr, welches der Förderung der Geburtswehen sowie der Schmerzstillung dienen sollte.

Zudem zeichnen uns auch hier die israelitischen Personennamen ein lebendiges Bild: Nach einem glücklichen Ende des Geburtsvorgangs er-scheinen Danknamen wie Semarja («Jahwe hat bewahrt»). Wunschnamen wie Ezechiel («Gott stärke das Kind») blicken wohl auf eine schwierige Geburt zurück; erst recht gilt dies für Namen wie Petachja («Jahwe hat [den Mutterleib] geöffnet») und Perez («[Damm-]Riss»). Bei langwierigen Geburten kann Sauerstoffmangel zu cerebralen Schädigungen führen, und infolgedessen zu körperlichen oder/und geistigen Behinderungen.

Ergänzende Informationen aus Mesopotamien

In den Nachbarkulturen ergibt sich generell dasselbe Bild;9 manche Einzel-heiten werden noch anschaulicher. In Mesopotamien listet das bereits mehrfach erwähnte diagnostische «Handbuch» eine Reihe von Krank-heiten auf, die zum Tod eines Säuglings oder eines Kindes führen. Darunter zählen u. a. verschiedene Arten von Epilepsie, ohne dass diese nach heutigen medizinischen Erkenntnissen genauer eingeordnet werden könnten. Auf eine cerebrale Schädigung zurückzuführen ist im «Handbuch» wohl die Diagnose von Kindern im ersten bis vierten Lebensjahr mit spastischen Zuckungen, die weder aufstehen noch Brot kauen noch reden können.10 Bei einer cerebralen Lähmung ist die Unfähigkeit zum Gebrauch der Kaumuskel gekoppelt mit der Sprechunfähigkeit, da hier dieselben Muskeln vom Ge-hirn her beherrscht werden müssen. Die Prognose der mesopotamischen Ärzte ist leider sprachlich für uns nicht eindeutig: entweder «das Kind wird nicht richtig» (im Sinne von: seine Behinderung bleibt unheilbar, es wird

8 U. Hübner, Sterben überleben leben, 2009, S. 52.9 Für Mesopotamien vgl. K. Volk, Vom Dunkel in die Helligkeit. Schwanger-

schaft, Geburt und frühe Kindheit in Babylonien und Assyrien, in: V. Dasen (Hg.), Naissance et petite enfance dans l’Antiquité (OBO 203), Fribourg 2004, S. 71–92. – Einen allgemeinen Überblick zur neueren paläopathologischen Forschungslage gibt G. Berkson, Intellectual and Physical Disabilities in Prehistory and Early Civilization, in: Mental Retardation 42, 2004, 195–208.

10 Text und kommentierte Übersetzung bei J. Scurlock u. a., Diagnoses, S. 331 und Anm. 186.

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also nie gerade stehen und gehen) oder «es wird sich nicht aufrichten» (im Sinne von: es wird nicht aufkommen, sondern sterben).11 Für das zweite Ver-ständnis spricht eine überraschende Bemerkung des «Handbuchs» zwanzig Zeilen früher. Hier wird ein medizinischer Test empfohlen, der heutzutage als «Moro-Reflex» bekannt ist: Der Arzt hält den Säugling in der Höhe und lässt ihn dann für einen ganz kurzen Moment ungeschützt fallen. Ein gesundes Kind wird sofort unwillkürlich seine Arme ausbreiten, ein cerebral geschädigtes Kind hingegen tut dies nicht. Im letzteren Fall prognostiziert das «Handbuch»: «Erreichen des Erdstaubs» (d. h. es wird sterben).12

Den modernen Menschen interessiert natürlich, wie häufig damals Todesfälle waren. Leider ist es jedoch erst heutzutage möglich, die Säug-lings- und Kindersterblichkeit aufgrund von Statistiken zu quantifizieren.13 Im Entwicklungsland Angola wird geschätzt, dass 18 Prozent aller ge-borenen Kinder vor Ablauf des ersten Lebensjahres sterben; in anderen Drittweltländern liegt diese Zahl heute zwischen 15 und 2 Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland und der Schweiz sind es nur 4 Promille. Die hohen Mortalitätsraten gründen vielfach auf mangelnder oder zumindest einseitiger Ernährung sowie ungenügender Hygiene. Die moderne Medizin kann aus finanziellen und kulturellen Gründen vielerorts nicht direkt helfen; trotzdem wirkt sie sich in allen Ländern aus. Darum ist anzunehmen, dass die Kindersterblichkeit in früheren Jahrhunderten auch bei uns noch deut-lich höher lag. Für das europäische Mittelalter schätzt man, dass mehr als die Hälfte der Menschen vor Erreichen ihres 14. Lebensjahres starben.14 Auch die privilegierte Adelsschicht, deren Geburten und Todesfälle besser dokumentiert sind, war von der grossen Kindersterblichkeit trotz bester Voraussetzungen (Ernährung und Hygiene) nicht ausgenommen.

11 išaru (in sumerischer Schreibweise SI.LÀ) kann sowohl «aufrecht, gerade» als auch «richtig» bedeuten. Die zweite Übersetzungsmöglichkeit («nicht richtiger», d. h. behinderter Sohn) ist anzunehmen im Dialog zwischen Šupe-ameli und seinem Vater II,2 aus Ugarit (siehe M. Dietrich in Ugarit-Forschungen 23, 1991, S. 45 mit Anm. 58).

12 D. Cadelli, Lorsque l’enfant paraît malade, in: Ktéma 22, 1997, S. 18–19. Ebenso K. Volk, Kinderkrankheiten nach der Darstellung babylonisch-assyrischer Keilschrifttexte, in: Orientalia 88, 1999, S. 14–15. – Der Reflex ist allerdings nur in den ersten vier Lebensmonaten beobachtbar.

13 Die folgenden Zahlen stammen aus https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/rankorder/2091rank.html.

14 Lexikon des Mittelalters, Band 5, Stuttgart 1999, Sp. 1144. – Für das 18. Jahrhundert schätzt die Medizinhistorikerin I. Ritzmann (Sorgenkinder, S. 131), dass 25% der Neugeborenen das erste Lebensjahr nicht überlebten und weitere 25% vor Erreichen des Erwachsenenalters starben; mit grossen regionalen Schwankungen sei zu rechnen.

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Archäologische Hinweise

Gerade schwer behinderte Menschen werden schon im frühen Kindesalter gestorben sein – damals wohl noch häufiger als heute. Dies ist einer der Gründe dafür, dass Archäologen bis jetzt nur bei wenigen Skeletten Rück-schlüsse auf eine schwere geistige Behinderung ziehen können (leichtere Behinderungsgrade sind jedoch kaum an den Knochen nachweisbar). Umso wichtiger dienen diese wenigen Einzelfunde als Beleg, dass eine schwere Be-hinderung nicht in jedem Fall den sicheren Tod bedeuten musste. Zunächst ein Beispiel einer nicht harmlosen körperlichen Behinderung:15 Säuglinge mit (massiv) gespaltenem Gaumen brauchen zum Überleben ein zeitintensives Einlöffeln der Nahrung. In einer Kultur, wo jedermann um sein Überleben kämpfen muss, bedeutet dies einen grossen Aufwand für die Angehörigen. Dass er tatsächlich geleistet worden ist (zumindest in den nachweisbaren Fällen), zeigen archäologische Funde:16 In Kalifornien fand man mehrere solche Schädel aus prähistorischer Zeit; die betreffenden Menschen mit massiven Gaumenspaltungen erreichten ein Alter von 25 bis 35 Jahren. Ein weiterer Fund stammt aus dem frühmittelalterlichen England; hier ist mit einer Lebenszeit von gar 40 bis 50 Jahren zu rechnen. Und die Untersuchung von ägyptischen Mumien ergibt, dass auch in der dortigen Kultur Menschen mit massiven Gaumen- und Lippenspaltungen bis ins Erwachsenenalter überlebten.17 Ebenfalls dramatisch ist die Geburt eines Kindes mit Wasserkopf (Hydrozephalus), wobei der Wasserdruck auf das Hirngewebe öfters auch zu geistiger Behinderung führt; ein ca. vierjähriges Mädchen aus der ägyptischen Mittelschicht ist in Deir el-Medineh standes-gemäss bestattet worden.18 Im Weiteren fand man in Ägypten die Mumie einer fünfzigjährigen, cerebral gelähmten Frau, die mit daraus resultierenden körperlichen Deformationen im frühen 2. Jahrtausend lebte und dann als

15 Weitere schwere körperliche Behinderungen bei C. Roberts u. a., The archaeology of disease, New York 3. Aufl. 2005, S. 44–62.

16 C. Roberts u. a., S. 52.17 J. Filer, Disease, Egyptian Bookshelf (The British Museum), London 1995,

S. 64–65.18 Siehe unten S. 123. Weitere Beispiele bei J. Filer, Disease, S. 66, sowie (ein

3- bis 4-jähriges Kind aus der Altsteinzeit im Gebiet um Nazareth) in V. Delattre u. a. (Hg.), Décrypter la différence, S. 27–30. Zu jungsteinzeitlichen Funden aus Deutschland siehe H. Meller (Hg.), Schönheit Macht und Tod, Halle 2001, S. 130–131; zu ca. 30 prähistorischen Funden siehe A. C. Aufderheide u. a., The Cambridge Encyclopedia of Human Paleopathology, Cambridge 1998 = 2. Aufl. 2005, S. 57–58. Zu Äusserungen griechischer Ärzte siehe C. Hummel, Das Kind und seine Krankheiten in der griechischen Medizin von Aretaios bis Johannes Aktuarios, Frankfurt 1999, S. 176–178.

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Angehörige der Oberschicht standesgemäss bestattet wurde.19 Auffälliger-weise hiess sie Geheset («Gazelle») – es bleibt das Geheimnis ihrer Eltern, ob sie die Bewegungsstörungen bei der Geburt noch nicht bemerkten oder ob sie diese mit einem solchen Namen beschreiben bzw. auf magische Weise wegwünschen wollten. Auch bei den Griechen waren cerebrale Bewegungs-störungen bekannt: Aristoteles beschreibt Menschen, deren Glieder sich nach links bewegen, wenn sie sie nach rechts lenken möchten.20

Dass nicht nur Menschen mit einer körperlichen, sondern auch solche mit einer geistigen Behinderung überleben konnten, dafür gibt es einige wenige archäologische Nachweise. Ein eindrücklicher Fund in Deutschland stammt aus provinzialrömischer Zeit: Ein neun- oder zehnjähriges Kind litt an Mikrozephalie (Kleinköpfigkeit), was entweder genetisch oder etwa durch eine Rötelnerkrankung der Mutter bedingt sein kann und zu geistiger Behinderung des Kindes führt; im Grab fand man zudem ein Amulett sowie eine Knochenperle.21 Ferner lässt bei einigen anderen Fundorten die Form der ausgegrabenen Schädelknochen an Trisomie 21 denken. Am un-bestrittensten ist im angelsächsischen Raum der Fund eines neunjährigen Knaben aus dem 6. Jahrhundert sowie in Deutschland jener einer 18- bis 20-jährigen Frau aus der prähistorischen Hallstattkultur (350 v. Chr.).22 Dass Trisomie 21 nicht häufiger archäologisch nachgewiesen ist,23 wird u. a. damit zusammenhängen, dass das Gebäralter der Mütter damals deutlich niedriger lag als heute und dass viele Kinder früh an Herzproblemen starben. Im Übrigen ist, wie oben bei der Gaumenspaltung, eine zeitintensive Fütterung nötig, wenn der Säugling wegen seiner schlaffen Zunge nicht saugen kann.

Schliesslich kann eine geistige Behinderung auch erst zu einem späteren Zeitpunkt durch eine Krankheit entstehen, z. B. durch eine Hirnhaut-entzündung (Meningitis). Die körperlichen Folgen dieser Erkrankung

19 S. Lösch u. a., Cerebral paralysis in an ancient Egyptian female mummy from a 13th dynasty tomb – palaeopathological and radiological investigations (Salzburger Kongress, im Druck). Vorläufig siehe D. Polz u. a., Für die Ewigkeit geschaffen. Die Särge des Imeni und der Geheset, Mainz 2007, S. 104–106 (mit instruktiven Farbfotos von Kopf und Hand).

20 Nikomachische Ethik 1102b; siehe A. W. H. Adkins, Paralysis and akrasia in Eth. Nicom., American Journal of Philology 97, 1976, S. 62–64.

21 J. Wahl u. a., Das römische Gräberfeld von Stettfeld, S. 42–43 und 72. – Siehe weiter unten S. 67 und Abb. 3.

22 C. Roberts u. a., S. 44; K. W. Alt (Hg.), Kinderwelten, Köln 2002, S. 182–183 (dort werden weitere mögliche Fälle erwähnt); A. Czarnetski u. a., Down’s syndrome in ancient Europe, The Lancet 362, 2003 (www.thelancet.com). Diskussion (zudem zu einem 5- bis 6-jährigen Kind aus dem 5. Jahrhundert n. Chr.) in V. Delattre u. a. (Hg.), Décrypter, S. 23 und 91–94.

23 In unserer heutigen Gesellschaft liegt die Häufigkeit bei ca. 1:800, für unter dreissigjährige Mütter bei 1:2500.

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lassen sich an archäologischen Knochenfunden ebenfalls nachweisen. Auch wenn es nur in einem Bruchteil der Fälle zur Entstehung einer geistigen Behinderung kam, so muss uns doch zu denken geben, dass in der Bronze-zeit (2. Jahrtausend) bei bis zu 20 Prozent der Kinder eine Erkrankung der Hirnhaut vorkam, im Mittelalter bei über 50 Prozent.24 Zudem ist mit weiteren Behinderungen zu rechnen, die durch mangelhafte Ernährung entstanden (Blutarmut durch Eisenmangel usw.).

Zurück zu Israel

Wir dürfen annehmen, dass die oben geschilderten Umstände ähnlich auch für Israel galten; hinzu kommt, dass Israel ein armes Land war. Von Er-nährungsmangel zeugen die häufig erwähnten «Hungersnöte», welche z. B. die Erzeltern öfters zur Emigration ins fruchtbarere Ausland trieben.25 Unterernährung, Mangelernährung und Hungertod lassen sich zudem osteologisch (insbesondere anhand der sogenannten Harris-Linien) an Knochenfunden von Kindern aus Israel nachweisen.26 Ebenfalls werden die oben erwähnten Behinderungen generell auch in Israel vorgekommen sein.

3. Auffällige Geburten

In den biblischen Texten wird kaum eine Geburt mit einer (körperlichen oder geistigen) Behinderung erwähnt. Dies kann entweder ein Zufall sein, oder es galten solche Behinderungen damals nicht als erwähnungswert. Es

24 Das Reallexikon der germanischen Altertumskunde (Band 15, S. 469) verweist auf M. Schultz, Spuren unspezifischer Entzündungen an prähistorischen und historischen Schädeln, Anthropologische Beiträge 4 A/B, Aesch 1993, bes. S. 49–55. In erster Linie waren Kleinkinder betroffen. Die grossen Häufigkeitsunter-schiede in den verschiedenen Populationen lassen an regionale Epidemien denken. Siehe auch ders., Paleohistopathology of Bone. A New Approach to the Study of Ancient Diseases, Yearbook of Physical Anthropology 44, 2001, S. 106–147, bes. S. 129. – Schultz (Spuren, S. 51) erwähnt übrigens auch ein stärkeres Auftreten von Hydrozephalus in frühbronzezeitlichen Populationen (bis 5%). Für weitere Informationen zu einer mittelalterlichen Kinderpopulation im Zusammenhang mit Vitaminmangel sowie Leptomeningitis tuberculosa siehe O. Templin, Die Kinderskelette von Bettingen im Kanton Basel-Stadt (Schweiz). Eine paläopatho-logische Untersuchung, med. Diss. Göttingen 1993, S. 179–203. – Zu Meningitis (und Hydrozephalus) im alten Mesopotamien siehe J. Scurlock u. a., Diagnoses, S. 325–326 und 412 (weitere Erwähnungen siehe Register S. 845–846).

25 Gen 12; 26; 41; ferner Rut 1; 2Sam 21; 1Kön 17–18 und weitere Stellen.26 U. Hübner, Sterben überleben leben, S. 58–59.

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ist aber auffallend, dass die Problematik der Gebärfähigkeit und der Ge-burtsschwierigkeiten sowohl die biblischen Erzähler als auch die Dichter viel intensiver beschäftigt hat: Die weibliche Unfruchtbarkeit ist ein häufiges Thema im Alten und auch noch im Neuen Testament. Und die Geburts-wehen erscheinen immer wieder als dichterisches Bild für Situationen von schwierigen und schmerzhaften Entwicklungsprozessen.27 Auch für die Tot-geburt gibt es eindrückliche Formulierungen: Menschen werden verglichen mit einer Totgeburt, die «halb verwest aus dem Mutterleib herauskommt» (Num 12,12) und «verscharrt» wird (Hi 3,16). Warum hat die Geburt eines sichtbar behinderten Kindes die Dichter nicht zu ähnlich packenden Bildern gereizt? Wurden solche Geburten als weniger dramatisch empfunden?

«Sprechende» Personennamen

Ein Spiegel der elterlichen Reaktionen auf eine Geburt zeigt sich in den Personennamen. So wie heutige Eltern im Internet einen passenden Namen für ihr Kind finden und dabei auch häufig die sprachliche Bedeutung eines Namens erkunden können, so sagt auch die Namenswahl der israelitischen Eltern, die notabene die Bedeutung des ausgesuchten (hebräischen) Namens verstanden, etwas über ihr momentanes Empfinden aus. Viele Namen danken Gott für die Geburt des Kindes oder sprechen einen Wunsch für dessen Zukunft aus. Andere nennen eine auffällige Eigenart, die am Säug-ling bereits zu beobachten ist oder die man sich in Zukunft als Charakter-eigenschaft des Kindes wünscht. Etwas seltener sind Personennamen mit Eigenschaften, die wir – zumindest heute – als eher unvorteilhaft erachten.

Auch Behinderungen kommen in den Personennamen zur Sprache. Da gibt es z. B. einen Charumaf («gespaltene Nase») oder einen Chatat («Schwächling»), ferner Namen für «gekrümmter» und «gebrochener» Rücken (Ard, Ater, Chakufa; Bariach) oder für einen «verletzten» Körper-teil (Jischwi, Gideon und Gidoni). Bei weiblichen Namen, die viel seltener überliefert sind, fehlen Behinderungsbezeichnungen (doch gibt es eine Zerua «die Aussätzige» oder besser «Hautkranke»). Meistens lässt sich nur schlecht entscheiden, ob ein Name von den Eltern bei der Geburt verliehen wurde oder erst später als Spitzname hinzukam. Auch fragen wir uns heute, was Kinder selber dabei empfanden, wenn sie mit einem solchen Namen aufwachsen mussten – die alten Texte geben uns dazu wenig Antworten. Immerhin ist aber in zwei Fällen die Motivation für eine solche Namensgebung überliefert: Eine sterbende Mutter gibt in einem Akt der

27 Ps 48,7; Jes 13,8; 26,17; 42,14; Jer 6,24; 13,21; 22,23; 49,24; 50,43; Dan 10,16; Mi 4,9; Mk 13,8; Joh 16,21; Apg 2,24.

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Verzweiflung ihrem soeben geborenen Kind den Namen Ikabod («ohne Ehre»), nachdem die Philister ihren Gatten getötet, Israel in einer Schlacht besiegt und die Bundeslade in ihre Gewalt gebracht haben (1Sam 4,21);28 Ikabod behält auch später diesen Namen (1Sam 14,3). Anders verhält es sich bei Ben-Oni («Sohn meines Schmerzes/Unheils»): Anlässlich einer schwierigen Geburt gibt die sterbende Mutter ihrem Sohn diesen Namen; doch sein Vater, Jakob, nennt ihn Ben-Jamin («Sohn der rechten, d. h. ehrenvollen Seite»; Gen 35,18).29

Ob auch Eigenschaften geistiger Behinderung in den Namen vorkommen, lässt sich nicht mit Sicherheit beantworten. Der Name Gachar könnte «gering an Geist» bedeuten.30 Der Name des reichen Gutsbesitzers Nabal bedeutet «Tor», und dessen Ehefrau kommentiert: «Nabal heisst er, und Torheit (něbālâ) ist mit ihm» (1Sam 25,25). Ein solcher Name, den zu geben uns heute unmöglich erscheint, ist kein Einzelfall: Namen mit der Bedeutung «Dummkopf» finden sich mehrfach in Mesopotamien (vor allem Lillu und Saklu) und auch noch in der Antike (griechisch Morion und Moros; lateinisch Baro, Brutus, Varro u. a.).31 Wie es zu solchen Namen kommt, ist nicht einfach zu beantworten;32 meistens handelt es sich wohl

28 Zum Namen Ikabod und weiteren westsemitischen Namen des Typs «Wo ist die Gottheit XY?» vgl. J. S. Burnett, Where is God? Divine Absence in the Hebrew Bible, Minneapolis 2010, S. 27–42.

29 Ein weiteres Beispiel einer unvorteilhaften Namengebung: Aus Papua Neu Guinea stammt das Selbstzeugnis eines Mädchens, bei dessen Geburt der Vater be-fahl: «Break it and throw it away». Die Mutter gehorchte nicht, und das Mädchen wuchs unter genau diesem Namen Letahulozo auf (zitiert im Sammelband von G. Hausfater u. a., Infanticide. Comparative and Evolutionary Perspectives, New Brunswick 2. Aufl. 2008, S. 427). – Möglicherweise lässt sich in ähnlicher Weise auch der ägyptische Name «Wozu ist er/sie nütze?» auf einen jeweiligen Seufzer der Mutter oder des Vaters anlässlich der Geburt zurückführen (H. Ranke, Grundsätz-liches zum Verständnis der ägyptischen Personennamen, Heidelberg 1936, S. 15 und 19). Die oben erwähnten alttestamentlichen und kulturübergreifenden Beispiele relativieren etwas die zuweilen vertretene Meinung, dass solche unvorteilhaften Namen stets eine übelabwehrende Funktion hätten (von einem derogative-protectory naming spricht z. B. D. Hobson, Naming Practices in Roman Egypt, Bulletin of the American Society of Papyrologists 26, 1989, 157–174, bes. S. 165–166).

30 M. Noth, Die israelitischen Personennamen im Rahmen der gemeinsemitischen Namengebung, Stuttgart 1928, S. 229. Unsicher ist ebenfalls Aschwat («schwach-sichtig, schwachsinnig»; vgl. M. Noth, S. 228); ferner Charscha «Taubstummer». – Zu möglichen weiteren Namen in Mesopotamien vgl. die Auflistung von H. Holma, Die assyrisch-babylonischen Personennamen der Form quttulu, Helsinki 1914.

31 Für die griechischen Namen siehe die Belege in der elektronischen Daten-bank http://papyri.info/search (unter den Namensträgern finden sich auch führende Amtsträger). Für die lateinischen Namen vgl. die Auflistung bei I. Kajanto, The Latin Cognomina, Helsinki 1965, S. 264–265.

32 Zum alttestamentlichen Nabal vgl. die Diskussion verschiedener Er-klärungsversuche durch J. J. Stamm, Beiträge zur hebräischen und altorientalischen

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um Spitznamen, die dem Namensträger erst im Laufe des Lebens gegeben wurden. Hingegen fehlt ein deutlicher Beleg dafür, dass eine geistige Be-hinderung, die gleich nach der Geburt erkannt wurde – möglich wäre dies am ehesten bei Trisomie 21 oder Kretinismus –, dazu führte, dass ein ent-sprechender Name (und nicht erst später ein Spitzname) gegeben wurde.

Rituale aus Mesopotamien

Elterliche Ängste vor und nach der Geburt kommen sowohl im Alten Orient wie in der griechisch-römischen Antike vor allem in den zahlreichen magischen Ritualen und Zaubersprüchen zur Sprache.33 Überraschender-weise geht es dabei jedoch kaum um körperliche Behinderungen (und erst recht nicht um geistige), sondern primär ums Überleben und um Ab-wendung eines vorzeitigen Todes. Insofern besteht ein deutlicher Mentali-tätsunterschied zum heutigen Erleichterungsseufzer «Hauptsache, das Kind ist gesund». Bedeutet dies, dass Behinderungen so häufig waren, dass sie als etwas schon fast Normales galten, vor allem weil sie ja auch später durch Unfälle, Krankheiten und Mangelernährung entstehen konnten?34 Oder sind Aussagen über Behinderungen in diesen Texten bisher übersehen worden?

Für Letzteres könnte sprechen, dass aus Mesopotamien ausführliche Kataloge bekannt sind, welche alle erdenklichen «Missgeburten» auflisten. Darunter befinden sich viele Bezeichnungen für körperliche und eben-falls für geistige Behinderungsarten, so u. a. auch das Wort lillu,35 das uns bereits weiter oben begegnet ist. Alle diese Missgeburten werden als Omen verstanden, das entweder etwas Gutes oder – häufiger – etwas Schlechtes voraussagt, und darum steht im Katalog bei jeder Art von Missgeburt die zu erwartende Auswirkung. So musste man zur Zukunftssicherung möglichst auf alle Auffälligkeiten am Neugeborenen achten, worunter offensichtlich auch geistige Behinderungen fielen.

So sehr dieses Denksystem in sich stimmig erscheint, so ungewiss ist,

Namenkunde, OBO 30, Fribourg 1980, S. 205–213. Allerdings berücksichtigt er zu wenig das kulturübergreifende Phänomen von Namen wie Lillu (Mesopotamien), Mōros (griechisch) usw.

33 Siehe z. B. die ausführliche Textsammlung von J. G. Gager, Curse Tablets and Binding Spells from the Ancient World, New York 1992. Für Ägypten vgl. den materialreichen Aufsatz von G. Robins, Women & Children in Peril. Pregnancy birth and mortality in Ancient Egypt, in: Kmt. A Modern Journal of Ancient Egypt 5/4, 1994–1995, S. 24–35.

34 Für die Antike vgl. das Urteil von N. Vlahogiannis, «Curing» Disability, in: H. King (Hg.), Health in Antiquity, London 2005, S. 180–191, bes. S. 182.

35 Belege im Chicago Assyrian Dictionary sowie im Akkadischen Hand-wörterbuch unter lillu.

kellenberger.indb 66 05.08.2011 11:38:29

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Fragestellungen im Judentum

Wenden wir uns einer andern Kultur zu, welche den biblischen Texten vielleicht noch näher steht: Im Judentum bilden die grossen Sammelwerke Mischna und Talmud eine unentbehrliche Ergänzung zu den (älteren)

Abb. 3: Grabbeigabe für Knaben mit geistiger Behinderung. Verschiedene

Seitenansichten des Äffchens (Höhe 1,5 cm; die durch die Öse gezogene Schnur ist

natürlich nicht erhalten geblieben). Unten rechts die Seiten- und Oberansicht

der zylinderförmigen Knochenperle.

Opferrituale, die sich nur die oberste Gesellschaftsklasse leisten konnte. Ob sich die Mehrheit der Bevölkerung an dieselbe Art der Zukunftssicherung hielt, oder ob man sich etwa durch bedeutend kostengünstigere (Allzweck-)Amulette vor schlechten Einflüssen zu schützen suchte, wird aus den alten Texten leider nicht deutlich. Zumindest darf an den bereits erwähnten archäologischen Fund aus römischer Zeit erinnert werden, wo ein Amulett einem geistig behinderten, an Kleinköpfigkeit leidenden Kind mit ins Grab gelegt worden ist, aber auch schon während der neunjährigen Lebenszeit eine Rolle gespielt haben könnte (Abb. 3).

alttestamentlichen Schriften. Die Mischna ist im 2. Jahrhundert n. Chr. schriftlich fixiert worden, der Talmud einige Jahrhunderte später. Die in diesen Werken gesammelten rabbinischen Diskussionen erwähnen öfters auch auffällige Geburten, da bei solchen Menschen unklar ist, ob sie die Gebote erfüllen können. Es geht dabei z. B. um Zwitter bzw. Intersexuelle, deren Geschlechtsorgane fehlen oder unklar ausgebildet sind.36 Dass eine

36 Das aus dem Griechischen androgynos stammende Fremdwort androginōs («männlich-weiblich») begegnet in der Mischna zwanzigmal; der Talmud bringt ein Mehrfaches an Belegen. Übrigens wird dieses Fremdwort ebenfalls im Lateinischen verwendet (Livius, ab urbe condita, XXVII 11,5 u. ö.). – Noch häufiger belegt ist der Ausdruck ṭumṭom, der vielleicht Kryptorchismus (Hodenhochstand) meint (E. Koskenniemi, Exposure, S. 69).

wie viele Menschen sich davon be-stimmen liessen bzw. sich bestimmen lassen konnten: Die Abwendung der schlechten Folgen eines beobachteten Omens bedurfte kostspieliger

kellenberger.indb 67 05.08.2011 11:38:29

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solche Geburt als Horror empfunden wurde, berichten auch Quellen aus anderen Kulturen, vor allem aus römischer Zeit.37

Für unsere Thematik entscheidend ist die Erwähnung einer anderen Gruppe von Menschen, deren Möglichkeiten zur Gebotserfüllung ebenfalls eingeschränkt sind, nämlich «Taubstumme, geistig Unzurechnungsfähige und Minderjährige».38 Die beiden ersten Begriffe können mit einer geistigen Behinderung in Zusammenhang stehen, wobei allerdings beim «geistig Unzurechnungsfähigen» (hebräisch šōṭê) nicht zwischen einer psychischen Krankheit und einer geistigen Behinderung unterschieden wird. Es ist davon auszugehen, dass bei der Geburt eines Kindes nicht erkannt werden konnte, wenn es «taubstumm» oder geistig unzurechnungsfähig war – und somit geht aus diesen Stellen nicht hervor, welche Behinderungsarten als auffällig gewertet wurden. Die einzige Gruppe von Neugeborenen, deren Auffällig-keit in den rabbinischen Quellen erwähnt wird, ist meines Wissens jene der Kinder, die mit einem nicht eindeutigen Geschlecht auf die Welt kamen.

Bildliche Darstellungen

Weder die biblischen noch die rabbinischen Texte lassen erkennen, welche Empfindungen die Geburt eines behinderten Kindes bei den Eltern und der weiteren Umgebung auslöste. Angesichts der überhaupt spärlichen Er-wähnungen von geistiger Behinderung bei Kindern (und auch Erwachsenen) soll hier schon darauf hingewiesen werden, dass die speziellen Gesichts- und Körpermerkmale von Trisomie 21 (sowie weiterer geistiger Behinderungen wie z. B. Thalassämie Alpha) schon lange vor der «Entdeckung» durch den Mediziner John L. Down aufgefallen sind: Aus der Antike sind einige bild-liche Darstellungen unterschiedlicher geistiger Behinderungsarten bekannt (Abb. 4–5):39 Bei der hellenistischen Plastik sowie bei der etruskischen Vase denkt die medizinhistorische Forschung wegen flacher Nasenbrücke, schrägen Lidspalten, kleinen Ohren und rundem Gesicht an eine geistige Be-hinderung wie Trisomie 21. Umso auffälliger ist das weitgehende Schweigen der damaligen Texte darüber. Seit dem Spätmittelalter erweisen sich dann Maler als unbestechliche Beobachter: Kinder mit Trisomie 21 begegnen uns bei italienischen Malern des 15. Jahrhunderts, und zwar merkwürdigerweise

37 W. den Boer, Private Morality in Greece and Rome. Some historical aspects, Leiden 1979, S. 100–124.

38 In der Mischna wird diese Dreierliste an zwei Dutzend Stellen genannt, im (bedeutend umfangreicheren) Talmud entsprechend häufiger. Dabei werden diese Menschen von der Erfüllung eines bestimmten Gebots dispensiert. Orthodoxe Eltern heute bemühen sich trotzdem um Gebotserfüllung und bitten auch die konfessionell neutrale Staatsschule, mit dem Kind darauf hinzuarbeiten.

kellenberger.indb 68 05.08.2011 11:38:29

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fast ausschliesslich beim Bildthema «Madonna mit Jesuskind». Von Andrea Mantegna (1431–1508) gibt es verschiedene Darstellungen.40 Auffällig sind jeweils das Gesicht des Kindes, dessen Finger sowie die starke Spreizung zwischen erster und zweiter Zehe. Zu beachten ist auch die Trauer auf dem Gesicht Marias (Abb. 6), was als Portraitierung einer adligen Auf-traggeberin Sinn machen würde. Wenig später findet sich die Darstellung eines Kindes mit Trisomie 21 auf dem «Aachener Passionsaltar» durch einen anonymen Zeitgenossen Albrecht Dürers, und zwar im Zusammen-hang mit einer Darstellung der Leidensgeschichte Jesu (Abb. 7ab).41 Der Medizinhistoriker A. H. Murken zählt vierzehn Symptome auf, aus denen er auf Trisomie 21 schliesst. Von der Bildkomposition her ist das Kind, das von einem Affen gelaust wird, mit auffälligem Gewicht plaziert. Leider

39 Eine umsichtige Diskussion bei M. Grmek u. a., maladies, S. 223–230. Zudem ist auf eine mögliche jungsteinzeitliche Darstellung einer geistigen Be-hinderung aus Griechenland zu verweisen (A. A. Diamandopoulos u. a., A Neolithic case of Down syndrome, Journal of the History of Neurosciences 6, 1997, S. 86–89). Zu Darstellungen aus der Inka-Kultur siehe z. B. J. Kunze u. a., Genetik und Kunst, Berlin 1986, Abb. 106. – Siehe auch unten S. 153 Anm. 2.

40 Zusätzlich zum hier gezeigten Bild aus Florenz gibt es auch eine Darstellung in New York («Madonna and Child with Seraphim and Cherubim», zu finden unter http://www.metmuseum.org/home.asp) sowie eine andere in Boston (http://www.downrightbeautiful.org/uploads/9/3/4/0/934042/4818947.jpg). – Etwas weniger zwingend ist ein Gemälde von Filippo Lippi von ca. 1431 (http://en.wikipedia.org/wiki/File:Filippo_Lippi_Madonna_San_Trivulzio.jpg).

41 A. H. Murken, Eine spätmittelalterliche Darstellung des Mongolismus-Syndroms, Medizinhistorisches Journal 7, 1972, S. 103–113. Weitere Beispiele von Gemälden aus jener Zeit bei A. H. Murken, Die Darstellung eines mongoloiden Kindes auf dem Aachener Passionsaltar, Wallraf-Richartz-Jahrbuch 33, 1971, S. 313–320. Zudem machte mich K.-H. Meissner (Erfurt) auf die dortige Prediger-kirche mit der Statue einer Maria mit Kind aufmerksam (W. Pinder, Die deutsche Plastik des 14. Jahrhunderts, München 1925, Abb. 72).

Abb. 4 und Abb. 5: Antike Darstellungen von Trisomie 21: hellenistische Skulptur (links), etruskische Vase (rechts)

kellenberger.indb 69 05.08.2011 11:38:31

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Abb. 6: Jesuskind mit geistiger Behinderung bei italienischen Malern

bleibt unsicher, welche symbolische Botschaft der Maler ausdrücken will, wenn das spielende Kind eine ähnlich gebeugte Körperhaltung wie der fast nackte (und zum Kind blickende!) Jesus einnimmt, gleichzeitig aber ein ebenso prächtiges Kleid wie Pilatus trägt. Jedenfalls deuten die liebe-volle Darstellung des Kindes und des Affen auf eine eher positive Wertung

kellenberger.indb 70 05.08.2011 11:38:33

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Abb. 7a: Aachener Passionsaltar (linker Seitenflügel)

hin. Ein ebenso eindeutiges Beispiel – es stammt von einem anonymen holländischen Maler – ist ein Weihnachtsengel, der typische Gesichtszüge trägt.42 Massive cerebrale Bewegungsstörungen sind auf einer Altartafel

42 Abbildung bei V. Delattre u. a. (Hg.), Décrypter la différence, S. 93 sowie etwa unter www.metmuseum.org (Website des Metropolitan Museums New York; im Suchfenster «Down’s syndrome» eingeben). Der besagte Engel ist gleich rechts

kellenberger.indb 71 05.08.2011 11:38:34

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von Mathias Grünewald zu sehen (Abb. 8). Dargestellt ist die Legende des Heiligen Cyriakus, der die «besessene» Kaisertochter Artemia geheilt haben soll. Grünewalds Darstellung des Mädchens wirkt in manchen Details so realistisch, dass der Maler konkrete Beobachtungen von verschiedenen Be-hinderungen miteinander kombiniert haben muss: Das Gesicht zeigt einen epileptischen Anfall, und die spastisch gespreizten Finger weisen auf eine cerebrale Schädigung hin.43

neben Maria zu sehen und deutlich kleiner als sie. Zwei weitere Figuren im Hinter-grund zeigen vielleicht ebenfalls Behinderungen.

43 Prof. Dr. med. D. Janz, Berlin (brieflich): «beiderseits gesenkte Lider, die Augen stehen in einer déviation conjugée nach aussen, Hände und Arme zeigen eine Stellung einer Athetose double.» Ob zusätzlich auch eine geistige Behinderung vorliegt, ist aus dem Bild nicht ablesbar.

Abb. 7b: Aachener Passionsaltar (Ausschnitt)

Abb. 8: Gemälde von Mathias Grünewald

kellenberger.indb 72 05.08.2011 11:38:35

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4. Kindestötung

In keinem biblischen Text wird jemals thematisiert, dass ein Kind bald nach der Geburt getötet worden wäre, weil seine Existenz als eine Belastung erschien. Dies ändert sich jedoch in den ersten zwei Jahrhunderten n. Chr.: Zuerst betonen Juden und dann auch Christen, dass zu ihrer religiösen Tradition keinerlei Art von Kindestötung passt. Dies wird zudem bestätigt durch den römischen Historiker Tacitus (ca. 100 n. Chr.), was schon darum beachtenswert ist, weil er bei seinen zahlreichen Ausführungen über die Juden durch einen krassen Judenhass auffällt, der übrigens schlecht zu seiner postulierten neutralen Objektivität (sine ira et studio) passt. In einer langen Auflistung jüdischer Eigenheiten schreibt er, dass die Juden «sich um den Bevölkerungsnachwuchs kümmern; denn eines der später geborenen Kinder zu töten, gilt ihnen als Frevel».44 Bereits mehr als hundert Jahre früher haben andere heidnische Geschichtsschreiber Ähnliches bezeugt.45

Bevor wir diskutieren, ob unsere Interpretation des biblischen Schweigens und der erwähnten Texte zutrifft, soll vorerst die Situation in den Nach-barkulturen beleuchtet werden.

Rom und Griechenland

Tacitus ist besorgt darüber, dass die römische Praxis der Kindestötung negative Auswirkungen auf die demographische und sittliche Entwicklung des römischen Volkes haben könnte. Als rühmliches Gegenbeispiel nennt er die Praxis bei den Germanen, die moralisch den Römern überlegen seien. Dasselbe Lob müsste Tacitus eigentlich auch den Juden spenden, doch seine Judenverachtung führt ihn zu einer gewundenen Argumentation: Weil die Juden nach der Weltherrschaft streben – also aus einem gefährlichen anti-römischen Motiv heraus! –, ziehen sie ihre Nachkommen alle auf.

Mit seiner grundsätzlich kritischen Haltung gegenüber der Kindestötung steht Tacitus zwar nicht ganz allein da, aber er gehört zu einer kleinen Minderheit unter den römischen Intellektuellen. Eine bedeutende Mehr-heit hingegen befürwortet die Kindestötung argumentationsreich. Für viele andere sei hier die Meinung des Philosophen und Rhetorikers Seneca d. Ä. (55 v. Chr. – 39 n. Chr.) erwähnt. In seiner Abhandlung über unberechtigten und berechtigen Zorn schreibt er:46

44 hist. V 5,3. Ausführlich dazu äussert sich die differenzierte Arbeit von C. Tuor, Kindesaussetzung und Moral in der Antike, S. 324–326.

45 Vgl. C. Tuor, Kindesaussetzung, S. 318–324.46 de ira I, 15,2 (debiles monstrosique).

kellenberger.indb 73 05.08.2011 11:38:36

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Missgeburten löschen wir aus, und auch unsere Kinder ertränken wir, wenn sie zu schwach oder mit schweren Fehlbildungen zur Welt kommen. Das Nutzlose so vom Gesunden zu trennen, ist keine Wut, sondern Vernunft.

Und gleich zuvor:

Tollwütige Hunde schlagen wir tot; wenn ein Stier wild und nicht zu bändigen ist, töten wir ihn; krankem Vieh schneiden wir die Kehle durch, damit es nicht die ganze Herde verseucht.

Senecas Argumentation ist von drastischem Nützlichkeitsdenken geprägt. Gleichzeitig dürfen wir uns fragen, ob diese massive Argumentationskette vielleicht auch ein Hinweis darauf ist, dass sich Seneca gegen einen un-sichtbaren Gegner verteidigt. War die Kindestötung zu seiner Zeit etwa doch nicht so selbstverständlich, wie es Seneca darstellt? Jedenfalls ist in manchen Fällen dokumentiert, dass Römer mit körperlichen Behinderungen überlebten und erst im Erwachsenenalter eines natürlichen Todes starben.

Das Befürworten der Kindestötung ist keine römische Erfindung, denn bereits die griechischen Intellektuellen propagierten sie. Dass darunter so illustre Namen wie Plato und Aristoteles sind, mag diejenigen erschrecken, die ein idealistisches Bild des antiken Humanismus hegen. Doch fällt damit vielleicht ein Licht auf das eigenartige Phänomen, dass sich später Akademiker, welche an nationalsozialistischen Euthanasiemassnahmen mitgewirkt hatten, vor Gericht mit der Überzeugung verteidigten, dass ja auch Plato und Aristoteles dasselbe für richtig befunden hätten.47

Wenn man die Äusserungen dieser griechischen Intellektuellen genauer anschaut, so fällt auf, dass sie weniger konkret als ihre späteren römischen Kollegen schreiben. Zuweilen sind ihre Formulierungen sogar merkwürdig unklar: So sollen im Idealstaat, den Plato entwirft, «verkrüppelte» Kinder zusammen mit den Kindern der «schlechteren Bürger» an einem «un-aussprechlichen und uneinsehbaren Ort verborgen werden, wie es sich geziemt».48 Warum schreibt Plato hier nicht deutlicher, wie und wo das zugehen solle? Und ebenfalls sein Schüler Aristoteles hält sich ungewöhn-lich kurz, wenn er in seiner ausführlichen Schrift «Der Staat der Athener»

47 Als Beispiel (noch aus dem Jahr 1974!) sei die Aussage des seinerzeitigen namhaften Leipziger Chefarztes genannt: W. Catel, Leben im Widerstreit. Bekennt-nisse eines Arztes, Nürnberg 1974, S. 172. – Grundsätzliches zu dessen Biographie: H.-C. Petersen, Werner Catel – ein Protagonist der NS-«Kindereuthanasie» und seine Nachkriegskarriere, Medizinhistorisches Journal 38, 2008, S. 139–173.

48 Politeia 460c: ta de tōn cheironōn, kai ean ti tōn heterōn anapēron gignētai, en aporrhētō te kai adēlō katakrypsousin hōs prepei. Ähnlich Sokrates im Dialog Timaios 19a (ta de tōn kakōn eis tēn allēn lathrā diadoteon polin).

kellenberger.indb 74 05.08.2011 11:38:36

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ein Gesetz fordert, dass «nichts Verstümmeltes aufgezogen werde» (meint er damit Kindestötung oder Aussetzung?), und gleichzeitig andeutet, dass er das allgemeine Volksempfinden nicht auf seiner Seite hat.49 Plato beruft sich bei seiner Begründung auf die Hundezucht sowie darauf, dass «das Geschlecht ganz rein bleiben» solle. Es sind bei ihm (wie auch bei Aristoteles) deutlich elitäre, aristokratische Motive; die Kraft des «Schönen und Guten» soll nicht geschwächt werden.

Wie weit die Empfehlungen der Intellektuellen zur Kindestötung mit der Praxis innerhalb der Bevölkerung Griechenlands und Roms überein-stimmten, muss jedoch erst geprüft werden. Wir dürfen hier den Resultaten der sorgfältigen und subtilen Untersuchung von C. Tuor folgen: Aus vielen Erwähnungen wird erstens deutlich, dass Kindestötung und Aussetzung vorkamen, auch wenn die Quellenlage keine Zahlenangaben erlaubt. Die zugrundeliegenden Motive sind vielfältig: Armut, Bequemlichkeit (bei be-güterteren Eltern), zu viele Kinder (vor allem: zu viele Töchter). Ein weiteres häufiges Motiv waren Schwächlichkeit oder körperliche Deformationen des Neugeborenen; doch führte dies nicht immer zu Kindestötung oder Aus-setzung, denn es werden auch Erwachsene mit solchen Behinderungen in den Quellen erwähnt.50 Zu den Gebrechen, die in den Texten nicht genauer beschrieben werden, gehören vermutlich auch Mehrfachbehinderungen, cerebrale Schädigungen und eventuell Trisomie 21; letzteres bleibt allerdings höchst unsicher, weil die Quellen stets von deutlich sichtbaren körperlichen Auffälligkeiten ausgehen.

Zweitens zeigen die Quellen, dass Kindestötung sowie Kindesaussetzung meist mit Scham und Schuldgefühlen verbunden waren. Sogar bei den oben erwähnten Stimmen von griechischen und römischen Intellektuellen ist dies zwischen den Zeilen zu spüren.

Mesopotamien

Im Folgenden wenden wir uns dem Alten Orient zu. Am breitesten ist die Quellenlage in Mesopotamien, wo wir im Gegensatz zu Griechenland und Rom keine Diskussionen über das Pro und Kontra finden; zudem fehlt an den wenigen Stellen, welche die Praktizierung von Kindestötung

49 Athēnaiōn politeia 1335b; siehe die Kommentierung durch C. Tuor, Kindes-aussetzung, S. 57–60.

50 Vgl. M. L. Rose, The Staff of Oedipus. Transforming Disability in Ancient Greece, Ann Arbor 2003, S. 47–49. Die Autorin (S. 7) unterscheidet scharf zwischen einer körperlichen Behinderung (z. B. im Sehen, Gehen) und einer weniger tolerier-baren Monstrosität (Fehlen der Geschlechtsorgane, überzählige Finger), die als unnatürlich bzw. untermenschlich bewertet wird. Allerdings lässt sich diese Unter-scheidung nicht überall durchhalten.

kellenberger.indb 75 05.08.2011 11:38:36

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erwähnen, die Erwähnung erkennbarer Schuld- und Schamgefühle. Von Kindestötung erfahren wir ausschliesslich im Zusammenhang mit schlimmer Behinderung – Armut und weitere Gründe, sich eines Kindes zu entledigen, führten in Mesopotamien zu andern Lösungen, wie wir noch sehen werden. Die Praxis der Kindestötung ist bezeugt in einem sogenannten namburbi-Ritual, welches das Unheil abwehren soll, das man als Folge einer Miss-geburt (izbu) befürchtet: Im Laufe dieses komplizierten und materialreichen Rituals wird die Missgeburt, womit übrigens nicht nur ein Mensch, sondern auch ein Tier bezeichnet werden kann, schliesslich in einen Fluss geworfen und so entsorgt.51 Das ganze Prozedere ist derart aufwendig und teuer, dass es nur für die begüterte Oberschicht praktizierbar ist.

Im Weiteren nennt das diagnostische «Handbuch» zwei schwere Fälle: Wenn das Neugeborene «weder weint noch schreit noch Kraft zu körper-lichen Bewegungen hat», sondern einfach schlaff daliegt, dann soll man es «lebendig ins Wasser werfen, damit die Familie [wörtlich: das Haus des Vaters] nicht auseinanderfällt».52 Dieselbe Begründung findet sich auch im Fall eines schwer spastischen (cerebral geschädigten) Kindes, das «weint, sich dreht und sich andauernd versteift»: Es soll «wie eine Totgeburt be-graben» werden.53 Offensichtlich steht hier eine grosse Verzweiflung im Hintergrund, so dass eine aussergewöhnliche Tötungsart gewählt wird, um zusammen mit dem Neugeborenen auch dessen «Totengeist» zu eliminieren. Was mit dem befürchteten Auseinanderfallen der Familie gemeint ist, kann ich nur erahnen: Ist es die Überforderung der Pflege, welche die Familie auseinanderzureissen droht?54

Von aussergewöhnlichen Tötungsarten, die uns noch grausamer er-scheinen, ist in zwei anderen babylonischen Texten die Rede: Diesmal sind es nicht Kinder, sondern Erwachsene, die verbrannt bzw. lebendig begraben werden sollen. Die Krankheitssymptome lassen denken an eine (genetisch bedingte) Hirnstörung mit sowohl körperlichen als auch psychischen und

51 S. Maul, Zukunftsbewältigung. Eine Untersuchung altorientalischen Denkens anhand der babylonisch-assyrischen Löserituale (namburbi), Mainz 1994, S. 336 (Zeile 46).

52 N. Heessel, Diagnostik, S. 325 und 335; J. Scurlock u. a., Diagnoses, S. 332. In heutiger medizinischer Terminologie denkt der Mediziner B. Andersen an Floppy baby syndrome, Muskelschwund, Prader-Willi-Syndrom oder Botulis-mus (in Scurlock u. a., ebenda). – Die Möglichkeit, dass die Familie deshalb aus-einanderfällt, findet sich auch in Bezug auf die Geburt eines lillu zweimal in der Omen-Literatur (E. Leichty, The omen series Šumma izbu, S. 36; W. von Soden, Šumma Ea liballiṭ-ka, S. 114).

53 N. Heessel, Diagnostik, S. 324 mit Kommentierung S. 328–329.54 Ich habe subjektiv den Eindruck, dass Kinder mit einer geistigen Behinderung

irritierend oft das Weggehen des Vaters oder den frühen Tod eines Elternteils er-fahren. Eine Statistik dazu kenne ich allerdings nicht.

kellenberger.indb 76 05.08.2011 11:38:36

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intellektuellen Folgen (Chorea Huntington);55 falls es sich tatsächlich um Erbkrankheiten handelt, konnte es die jeweiligen Familien wohl mehr als einmal treffen. Auch hier geht es darum, das Übel mit Stumpf und Stiel auszurotten. Dies sind allerdings Ausnahmefälle, und sie stehen in auf-fälligem Gegensatz zu allen sonstigen engagierten Heilungsbemühungen der mesopotamischen Ärzte.

Angesichts solch irritierender Tötungspraktiken ist ein Blick in die ver-gleichende Kulturanthropologie (Ethnologie) hilfreich. In vielen Kulturen ist es zwar der Normalfall, dass behinderte Menschen aufgezogen und gepflegt werden. Doch in besonderen Stresssituationen kommt es zu Kindestötungen, die zuweilen besonders grausame Formen annehmen.56 Ebenso ist aus der römischen Zivilisation (2. Jahrhundert v. Chr.) bekannt, dass nach der Verzweiflung über eine militärische Katastrophe Menschen lebendig begraben wurden und dass dies sowohl von staatlichen Organen als auch von der Volksmeinung unterstützt wurde.57 – Auch heutzutage berichten die Tageszeitungen zuweilen von Stresssituationen, in deren Folge Menschen lebendig begraben werden. So wurde z. B. 2010 in einem ländlichen Randgebiet Südanatoliens ein halbwüchsiges Mädchen, das des Kontakts mit Männern bezichtigt wurde, von der Familienjustiz zum Tod durch lebendiges Begraben verurteilt. Ein modernes Staatswesen kann eine solche Konkurrenzierung durch ein alternatives Rechtssystem natürlich schlecht dulden und muss gegen solche Familien einschreiten.58

Als Stress kann ebenfalls der Lebenskampf der vorislamischen beduinischen Bevölkerung in der unwirtlichen Wüste bezeichnet werden. Hier wurden neugeborene Mädchen verscharrt, wohl weil die Kosten für das Aufziehen und Verheiraten nicht aufzubringen waren. Dagegen protestiert Mohammed in Sure 16,58–59 und 81,8 mit Vehemenz: Er droht mit Allahs Bestrafung, denn solche Praktiken seien im Vielgötterglauben gang und gäbe (Sure 6,137.140). Ebenso scharf wendet sich Mohammed gegen Kindestötung aufgrund von Armut: «Tötet nicht eure Kinder aus (Angst vor) Verarmung – euch und ihnen beschert doch Gott den Lebens-unterhalt – … und tötet nicht die Seele, die Gott für unantastbar erklärt hat, es sei denn bei vorliegender Berechtigung» (d. h. bei Todesstrafe für

55 Texte mit Übersetzung und Kommentar des Mediziners B. Andersen bei J. Scurlock u. a., Diagnoses, S. 335–336.

56 D. Neubert u. a., Behinderung und Behinderte in verschiedenen Kulturen. Eine vergleichende Analyse ethnologischer Studien, Heidelberg 3. Aufl. 2001, S. 66–68.

57 Livius, ab urbe condita 23,57 u. ö.; ausführlich dazu zuletzt D. Engels, Das römische Vorzeichenwesen, Stuttgart 2007, S. 443–448. Es scheint sich um etruskischen Einfluss zu handeln.

58 Basler Zeitung vom 6. Februar 2010, S. 14.

kellenberger.indb 77 05.08.2011 11:38:36

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Abfall vom Glauben, Mord, Ehebruch sowie im Krieg gegen Feinde).59 Im Koran findet sich total siebenmal ein Verbot der Kindestötung, verteilt auf fünf Suren aus verschiedenen Abfassungszeiten.

Es muss zu denken geben, dass sowohl jüdische60 als auch christliche und islamische Spitzenvertreter Kindestötung vehement ablehnen. Sie tun es be-deutend heftiger als ihre griechischen und römischen Kollegen und erachten solche Tötungen als unvereinbar mit ihrer religiösen Identität. Die Ein-mütigkeit aller drei monotheistischen Schwesterreligionen an diesem Punkt ist auch darum beachtenswert, weil sie ohne schriftlich erhaltene Gegen-stimmen auf uns gekommen ist; die Verbote sind also mit dem zentralen Anliegen der Identitätssicherung verbunden – möglichst niemand soll sich von der Praxis der «Heiden» anstecken lassen. Dass es zu solcher «An-steckung» gekommen ist, wird kaum zu bezweifeln sein. Da Kindestötung jedoch nur gegen die religiöse Identität, d. h. nur im Geheimen praktiziert werden konnte,61 unterschied sich die Praxis deutlich von der griechisch-römischen Kultur.

5. Keine Opfer von behinderten Kindern

Die im Alten Testament sowohl erwähnten wie auch heftigst verbotenen Kinderopfer werden bis heute intensiv erforscht und diskutiert.62 Trotz der vielen vergossenen Tinte hat die Wissenschaft bis jetzt nur wenige sichere Ergebnisse, aber dafür viele sensationelle Hypothesen vorzuweisen. Wäre es z. B. denkbar, dass Kinder mit einer sichtbaren Behinderung zwar nicht getötet, aber – sozusagen mit dem Segen der Religion – Gott geopfert wurden? So faszinierend diese Hypothese auch tönen mag, so ist sie doch eine Totgeburt, weil sie ein universales Faktum aller Religionen ausser Acht lässt: Wenn ein Opfer das Wohlgefallen der Gottheit finden soll, so muss es «makellos» sein; alles andere würde die Gottheit nur beleidigen und erzürnen.

59 Sure 6,151 und ähnlich an weiteren Stellen (17,31; 60,12).60 Ein weiteres Argument diskutiert E. Koskenniemi (Exposure, S. 71): Wenn

die rabbinischen Texte so häufig Menschen mit mangelhaft ausgebildeten Sexual-organen nennen (androginōs, ṭumṭom), so bedeutet dies, dass diese Kinder offenbar nicht getötet wurden.

61 Zur (restriktiven) Praxis in der islamischen Gesellschaft des Mittelalters siehe A. Gil’adi, Children of Islam. Concepts of Childhood in Medieval Muslim Society, Oxford 1992, S. 101–115.

62 Auflistung der Belege bei A. Michel, Gott und Gewalt, S. 48–53.

kellenberger.indb 78 05.08.2011 11:38:36

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So ist es kein Zufall, dass sich im Alten Testament – ebenso wie etwa im griechischen Kulturraum – das Verbot findet, dass Tiere mit bestimmten Eigenschaften nicht geopfert werden dürfen. In Israel waren das blinde Tiere, solche mit gebrochenem Glied, verstümmelte, solche mit Warzen, Krätze oder Flechte, missgebildete oder sonst wie mit Mangel behaftete (Lev 22,20–25).63 Dieselben Eigenschaften verunmöglichen auch einem Menschen, der als Priester das Opfer «richtig» darbringen soll, den Altar-dienst (Lev 21,17–23). Sogar wenn ein legitimer israelitischer Priester behindert wird – durch einen Unfall oder altershalber –, muss er vom Altardienst dispensiert werden; er darf aber weiterhin vom «Geheiligten» essen und bleibt dadurch innerhalb der Gemeinschaft mit Gott (Lev 21,22). Schliesslich sei an die berühmte Geschichte von Isaaks «Opferung» er-innert: Isaak ist der besonders ersehnte und geliebte Sohn Abrahams, und deswegen wäre er ein «würdiges» Opfer (Gen 22). Somit ist es schlicht undenkbar, dass Eltern sich der Last eines behinderten Kindes entzogen hätten, indem sie es «durchs Feuer gehen liessen» (z. B. 2Kön 17,17) oder «dem Moloch opferten».64

6. Aussetzung von Neugeborenen

Die Kindesaussetzung wird grundsätzlich auch im Alten Testament thematisiert, allerdings ohne dass dabei eine geistige Behinderung erwähnt würde. Neben verschiedenen Anspielungen, die leicht übersehen werden können,65 gibt es drei ausführliche Texte, die je eine spezielle Situation schildern.

Mose

Der erste Text ist die bekannte Erzählung von Mose, der als Kind in einem Körbchen im Nil ausgesetzt wird – entgegen Pharaos Befehl wird es nicht ungeschützt dort hineingeworfen und damit dem sicheren Tod ausgeliefert

63 Tiere mit den beiden zuletzt erwähnten Eigenschaften sind zwar zur Opferung ebenfalls unmöglich, gestattet jedoch wenigstens als eine «freiwillige Gabe» für das Personal des Heiligtums (Vers 23). – Ebenso konnten auch Menschen mit Behinderungen dem Heiligtum übergeben werden, um dort zu leben; dazu siehe unten S. 113–117.

64 Ein solches Opfer wird z. B. in Lev 18,14 erwähnt; Moloch ist entweder als Opferart oder als Name einer Gottheit zu verstehen.

65 Auf Kindesaussetzung spielen möglicherweise an: Ps 22,11; 27,10; Jes 49,15; Jer 14,5.

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(Ex 1,22–2,10). Diese Erzählung ist von ihrem Charakter her kein Protokoll, sondern eine Sage, die eine elementare menschliche Situation anschaulich zeichnet und damit die Problematik einer geschichtlichen Epoche poetisch konzentriert zusammenfasst. Insofern kann eine Sage konkretere und ein-drücklichere Informationen liefern als eine wissenschaftliche Rekonstruktion des seinerzeitigen Geschehens, die sich mit spärlichem Quellenmaterial sowie vage bleibenden Schlussfolgerungen begnügen muss. Der Bilder-schatz, aus dem eine Sage schöpft, ist oft kulturübergreifend. Ein neueres Beispiel dafür ist die schweizerische Sage von Wilhelm Tell: Diese Gestalt, die urschweizerische Eigenständigkeit gegen fremde Tyrannen eindrücklich verkörpert, ist in manchen Zügen mit nordeuropäischen Sagen über die Jäger verwandt. Ähnliches gilt für die Erzählung von Moses Aussetzung in einem Körbchen: Eine Sage über den assyrischen König Sargon I., der als Säugling von seiner ledigen Mutter ebenfalls in einem Körbchen aus-gesetzt worden ist, gleicht ihr bis in Einzelheiten hinein. Zwar betont die biblische Erzählung stärker die Züge der Rettung des gefährdeten Kindes, während die eigentliche Kindesaussetzung eher in den Hintergrund tritt. Doch wird auch so deutlich, dass Kindesaussetzungen ein kulturüber-greifender Lösungsversuch für ein kulturübergreifendes Problem sind. Auch in der griechischen und römischen Sagenwelt erscheinen öfters Kindesaus-setzungen; sie werden uns weiter unten beschäftigen.

Ismael

Der zweite Text, ebenfalls eine Sage, schildert die Aussetzung bzw. Ver-treibung eines bereits älteren Kindes (Gen 21,9–21). Abraham, Saras Mann, ist um des ehelichen Friedens willen bereit, seinen ersten Sohn Ismael zu-sammen mit dessen Mutter, der Magd Hagar, in die Wüste wegzuschicken. Dort irren diese umher und verzehren den mitgegebenen minimalen Proviant; danach sehen sie das unausweichliche Verdursten vor sich, bis ein Engel ihnen einen Brunnen zeigt und eine Verheissung über Ismaels gute Zukunft verkündet. In dieser Erzählung wird die Härte einer Aussetzung ebenso deutlich wie die Problematik des Abraham, der hier keine gute Figur macht. Zudem geschieht hier eine zweite Art von Aussetzung, näm-lich durch Hagar, die ihren Sohn unter einen Strauch «wegwirft», weil sie dessen Verdursten nicht mit ansehen mag (21,15–16). Die Erzählung setzt voraus, dass Aussetzung als Notlösung in einer extremen Krise vorstellbar war.66 Der Erzähler verzichtet bewusst auf eine moralische Verurteilung und

66 Ob der Text ein gespanntes Verhältnis zwischen den Nachkommen Ismaels und denjenigen Jakobs in der Erzählzeit mit anspricht oder nicht, kann hier nicht weiter verfolgt werden.

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zielt stattdessen auf das entscheidende Handeln Gottes, das zur Lösung der Krise hinführt. – Dass in der Moderne vergleichbare Zwangsverschickungen geschahen, wird auch heute immer wieder thematisiert. So entschuldigte sich 2010 der britische Premierminister offiziell dafür, dass bis 1970 während Jahrhunderten eine insgesamt sechsstellige Anzahl von armen Kindern in die Kolonien abgeschoben worden waren.67

Jerusalem als Findelkind

Der dritte alttestamentliche Text, der eine Kindesaussetzung erwähnt, findet sich im Buch des Propheten Ezechiel. Dabei wird Jerusalems Un-treue gegenüber dem Gott Israels unerhört scharf kritisiert. Ezechiel erzählt von Gottes Beziehung zu Jerusalem anhand eines unkonventionellen Bildes (Ez 16), das die Schmerzgrenzen des moralischen Empfindens bewusst missachtet (und dies nicht erst heute): Gott entdeckt unterwegs auf freiem Feld einen soeben ausgesetzten weiblichen Säugling, der nackt und noch blutig zappelnd «weggeworfen» worden ist, ohne dass er ordentlich von der Nabelschnur getrennt, gewaschen, mit Salz und Öl eingerieben und in Windeln gewickelt worden wäre. Der Vorübergehende erbarmt sich des hilflosen Säuglings und zieht das Mädchen auf, bis es zu einer schönen und begehrenswerten Frau heranwächst. Dann aber missbraucht diese zur Enttäuschung ihres Pflegevaters dessen Reichtum, um sich als Hure schön und fremden Männern gefügig zu machen. Ezechiels Gedicht, das porno-graphische Züge enthält, endet mit der massiven Bestrafung des ehemaligen Findelkinds durch den enttäuschten Pflegevater. – Diese kühne allegorische Erzählung war für Ezechiels Zuhörer nur dann verständlich, wenn diese selber eine Vorstellung von Aussetzung hatten.

Alle drei alttestamentlichen Texte lassen erkennen, dass Aussetzung eine reale, wenn auch keineswegs wünschbare Option ist; vor allem in einer Krisensituation kann sie unumgehbar werden. In allen drei Texten führt stets Gottes Rettung über eine solche Not hinaus – ohne sie hätten die ausgesetzten Kinder nicht überlebt.

«wegwerfen»

Auffälligerweise kommt in diesen Texten stets der Begriff «wegwerfen» (hebräisch hišlîk) vor.68 Dieses Wort betont nicht den Aspekt unseres «Werfens», sondern denjenigen des «Entledigens» oder «Entsorgens» an

67 Basler Zeitung vom 25. Februar 2010, S. 3.68 Gen 21,15; Ex 1,22; Ez 16,5.

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einen Ort ausserhalb unserer eigenen Verantwortung.69 So ist es zu verstehen, wenn Hagar den verdurstenden Ismael unter einen Strauch «wegwirft», weil sie mangels Wasser für ihr Kind weder Sorge noch Verantwortung mehr tragen kann und auch nicht dem Sterben zusehen mag. Josefs ältere Brüder entledigen sich ihrer Fürsorgepflicht, wenn sie Josef in den Brunnenschacht «entsorgen» (Gen 37,20–24). Und wenn Jeremias Gegner den betagten Propheten in eine Zisterne «wegwerfen», so tun sie dies sogar ausdrück-lich «mit Seilen» (Jer 38,4–13). Die Vorstellung des «Wegwerfens» werden wir im Folgenden wiederum im Zusammenhang mit Aussetzung antreffen, wenn wir uns nun anderen Kulturen zuwenden.

Kindestötung ist am ehesten noch in den allerersten Tagen nach der Geburt denkbar, bevor eine innige Beziehung zum Kind wächst. Hingegen kann Aussetzung leichter auch später erfolgen, weil die Mutter sich in der Hoffnung wiegt, dass das Kind gefunden und von andern Menschen auf-gezogen werde. Eine solche Aussetzung ist denkbar in einer wirtschaftlichen Krisensituation, oder wenn sich eine Schwäche des Kindes erst im Laufe der Zeit zeigt. Insofern kann man spekulieren, ob auch eine (erst später erkennbare) geistige Behinderung zu einer Aussetzung motivieren könnte. Allerdings sagen die alten Quellen dies nie explizit, so dass eine Antwort schwierig ist.70 Ich versuche daher im Folgenden, die ausserbiblischen Texte vorsichtig auszuwerten.

Alter Orient

In Mesopotamien ist die Aussetzung von Kindern auf vielfältige Weise be-zeugt,71 und zwar mit je unterschiedlichen Folgen: Einerseits kann sie zum baldigen Tod führen, andrerseits ist je nach Umständen auch das Über-leben des Kindes möglich. Bereits die sprachlichen Formulierungen rund um die Aussetzung weisen auf die Todesrisiken hin: Wer ein ausgesetztes Kind findet und adoptiert, «entreisst es dem Maul eines Hundes»; gemeint sind herrenlose Strassenhunde, die sich von Abfällen und Aas ernährten und einen wehrlosen Menschen lebensgefährlich angreifen konnten.72 So

69 M. Malul, Adoption of Foundlings in the Bible and Mesopotamian Documents. A Study of some Legal Aspects in Ezechiel 16,1–7, in: Journal for the Study of the Old Testament 46, 1990, S. 97–126.

70 Für die römische Antike siehe die vorsichtigen Ausführungen von C. Laes, Learning from Silence. Disabled Children in Roman Antiquity, in: Arctos 42, 2008, S. 85–122, bes. 92–99.

71 Zum Folgenden vgl. K. Volk, Von Findel-, Waisen-, verkauften und deportierten Kindern. Notizen aus Babylonien und Assyrien, in: A. Kunze-Lübke (Hg.), Schaffe mir Kinder …, Leipzig 2006, S. 47–87.

72 Von Hunden, die Menschen angreifen oder gar anfressen, redet z. B.

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sind beispielsweise aus dem frühen zweiten Jahrtausend v. Chr. viele Be-amtenrapporte an den König der Stadt Mari (am Oberlauf des Euphrats) bekannt. Rapportiert wird u. a. der grausige Fund eines mehrmonatigen Säuglings, von welchem Kopf und Unterleib fehlten, so dass nicht einmal dessen Geschlecht bestimmbar war (dies erscheint dem Beamten als be-sonders erwähnenswert).73 Wurde das Kind von wilden Tieren angefressen? Der Fundort – nahe bei einem Kanal – deutet auf Aussetzung hin, denn dies ist ein belebter Ort und darum besonders geeignet für die Hoffnung einer Mutter, dass das Kind rechtzeitig gefunden und gerettet werde. Sofort unternommene Recherchen der Beamten zur Herkunft des toten Kindes ergaben keine Informationen über dessen Meister (Sklavenkind?), Eltern oder andere Mitwissende. Diese Mauer des Schweigens ist unter solchen Umständen begreiflich, wenn auch für die Beamten frustrierend.

In den meisten Fällen wird ein ausgesetztes Kind gestorben sein. Doch verständlicherweise berichten die Dokumente eher über die (vermutlich viel selteneren) Fälle, wo ein ausgesetztes Kind dank einem interessierten (z. B. adoptionswilligen) Mitmenschen überlebt. Mehrmals dokumentiert sind denn auch Personennamen wie «aus dem Maul eines Hundes ist er gerettet worden» (Ina-pi-kalbi-irich).74

Griechisch-römische Quellen

In der griechisch-römischen Antike ist Aussetzung ebenfalls eine bekannte Lösung.75 Sie wird in Texten von ganz unterschiedlichem Charakter an-gesprochen: Mythen und Sagen berichten von Helden und Königen, deren Leben als Findelkind begonnen habe. So werden etwa die späteren Gründer Roms, die ausgesetzten Zwillinge Romulus und Remus, von einer Wölfin auferzogen (der spätere aggressive Imperialismus Roms nährt sich also von anfänglicher Raubtiermilch). Bei der Häufigkeit solcher Sagen erhält man fast den Eindruck, jeder Prominente müsse eine Herkunft als Findling vorweisen können. Dahinter steht wohl die Erfahrung, dass gerade auch

1Kön 21,23–24; vgl. auch Ps 22,17; 68,24; Jes 56,11; Lk 16,21. Das Phänomen ist kulturübergreifend; von Hunden im Zusammenhang mit Kindesaussetzung schreibt z. B. auch der heidnische römische Schriftsteller Firmicus Maternus (4. Jahrhundert n. Chr.) in seinem astrologischen Buch «Mathesis» (VII 2).

73 Übersetzung in J.-M. Durand, documents épistolaires, Band 3, S. 236–237.74 J. J. Stamm, Die akkadische Namengebung, Leipzig 1939, S. 320; C. Wunsch,

Findelkinder und Adoption, S. 182–183.75 Dazu ausführlich C. Tuor, Kindesaussetzung. Ähnliche Beurteilungen auch

in den (zeitgleich erschienenen) Arbeiten von C. B. Horn u. a., «let the little children come to me». Childhood and Children in Early Christianity, Washington 2009, S. 213ff., sowie von E. Koskenniemi, Exposure.

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das Leben bedeutender Menschen von Anfang an durch Risiken gefährdet ist; auch Mose und Jesus – dem Kindermord von Bethlehem entronnen – gehören in diese Linie.

Ebenso häufig ist Aussetzung ein Thema in Romanen, Tragödien und Komödien. Eindrücklich illustriert das etwa ein Ölkrüglein aus Unteritalien, wo derbe Komödien besonders beliebt waren (Abb. 9): Ein beleibter Mann im Typus des komischen Schauspielers stösst auf ein ausgesetztes Wickel-kind, das am Boden liegt; in Gesten und Körperhaltung drückt er grosses Erstaunen aus. Zur Erhöhung der Komik wurde der (offenbar weibliche) Säugling mit Brüsten und einer Frauenfrisur dargestellt. Der Altar rechts des Schauspielers könnte ein Hinweis auf den Ort des Geschehens sein.76

76 Ich danke der Archäologin A. Kaufmann für die ausführliche Bildbeschreibung.

Abb. 9: Darstellung von Kindesaussetzung auf Ölkrug

In der antiken Literatur stirbt unrealistischerweise ein ausgesetztes Kind nie, sondern es erlebt stets nach anfänglichen Schwierigkeiten eine grosse Karriere. Die Frage drängt sich auf: Warum ist diese Thematik so faszinierend?

In der Literatur bietet sich Gelegenheit, sich auf unverfängliche Weise einem Tabuthema zu nähern, das in der Gesellschaft noch nicht verarbeitet ist. Offenbar ist nicht nur Kindestötung, sondern ebenso die Praxis der Kindesaussetzung mit Scham verbunden, wie dies heutzutage wohl ähnlich für die Auseinandersetzung mit Abtreibung gilt. Wenn man selber einmal

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ein Kind ausgesetzt hat, denkt man zuweilen daran zurück und fragt sich insgeheim, was wohl aus dem Kind geworden ist. Vernimmt man nun in der Literatur von den erfolgreichen Karrieren ehemaliger Ausgesetzter, kann dies das eigene Gewissen beruhigen.

Gottheiten mit einer Behinderung

Wir kennen die Gefühle nicht, welche die Eltern nach dem Aussetzen eines körperlich versehrten Kindes bewegten. Für sie könnte der Mythos des geh-behinderten Gottes Hephaistos hilfreich gewesen sein:77 Hera, Gattin des Zeus, setzt ihr schwächliches Kind Hephaistos aus; nach einer Tradition «wirft» sie es ins Meer. Doch Hephaistos wird gerettet und schafft es, später unter die zwölf olympischen Hauptgötter gezählt zu werden. – Verehrt wurden übrigens auch andere Gottheiten mit körperlichen Missbildungen und hässlichen Zügen: Viele Abbildungen haben wir vom ursprünglich ägyptischen Gott Bes, der in Israel und in der ganzen Antike als Talisman verbreitet war;78 er gilt als Beschützer bei den Risiken von Schwangerschaft und Geburt (Abb. 10ab). Seine typische Hässlichkeit und seine mehrfachen

77 Vgl. N. Kelley in: H. Avalos u. a. (Hg.), This Abled Body, S. 35–36. Ausführlich M. Schmidt, Hephaistos lebt. Untersuchung zur Behandlung behinderter Kinder in der Antike, in: Hephaistos 5–6, 1983/4, S. 133–161.

78 Ausführlich dazu unten S. 96–97.

Abb. 10ab: eine Beset-Figur (oben) und eine Bes-Figur (rechts; Salbtöpfchen)

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Behinderungen (pathologischer Kleinwuchs mit nach aussen geknickten kurzen Beinen, offener Mund, oft heraushängende Zunge) erscheinen als ein merkwürdig ambivalentes göttliches Phänomen. Und auch der hässliche Pan ist eine undurchschaubar polyvalente griechische Gottheit.

Bestimmungen im Judentum

Über die konkrete Durchführung einer Kindesaussetzung informiert uns am ausführlichsten ein jüdischer Text aus dem Talmud.79 Säuglinge wurden z. T. mit einem Erkennungszeichen (Perlenkette, Medaillon, Amulett) aus-gesetzt. Das bedeutet einerseits, dass sich die Eltern zur Aussetzung genötigt sahen, weil sie sich z. B. infolge einer Missernte die Ernährung des Kindes nicht leisten konnten, andererseits aber auch, dass sie planten, das Kind in wirtschaftlich besseren Zeiten wieder zurückzuholen. Der Säugling wurde also mit Öl eingerieben, ordentlich eingewickelt oder (bei einem Knaben) gar beschnitten. Der Talmud informiert über diese Einzelheiten natürlich nicht mit dem Ziel, unsere heutige Neugierde zu stillen, dienen doch diese Beobachtungen zur Klärung schwerwiegender rechtlicher Probleme: Wie steht es mit dem Risiko, dass das Kind mit unbekannter Herkunft später in aller Ahnungslosigkeit ein nahe verwandtes Familienmitglied heiraten könnte (Inzest)? In welchem Verhältnis zur jüdischen Gemeinschaft steht das ausgesetzte Kind, dessen Herkunft unbekannt ist, und welche Rechte stehen ihm zu? Und wie wird man dem alten Gebot gerecht, dass ein (allenfalls nichtjüdischer) «Bastard» nicht in die jüdische Gemeinde ein-treten dürfe (Dtn 23,3)? Die von den Schriftgelehrten diskutierte Lösung ist kinderfreundlich und nimmt in Zweifelsfällen stets Partei zugunsten des Findelkinds und dessen voller jüdischen Rechte. Letztere gelten, wenn der Säugling – damit er überlebe – an einem gut frequentierten Ort ausgesetzt wird, wie z. B. an einem vor Tieren geschützten Baum, bei einer Synagoge in einer Stadt, am Strassenrand oder am Ufer eines Flusses. Wenn hingegen durch die unsorgfältige Art der Aussetzung der Tod des Säuglings in Kauf genommen oder gar gewünscht erscheint, wird angenommen, dass die Mutter keine Jüdin ist (hier zeigt sich ein hohes Vertrauen in die jüdische Mentalität!). Doch auch in einem solchen Fall ist die jüdische Allgemeinheit für die Ernährung des Kindes verantwortlich, auch wenn dieses nicht ein Vollmitglied der jüdischen Gemeinde wird.80 Der Talmud setzt also nüchtern

79 Traktat Qidduschin 73a-b. Übersetzung in: Der babylonische Talmud (übers. v. L. Goldschmidt), Berlin 1925–1935, Band 6, S. 762–763. Zum Folgenden vgl. die ausführliche Kommentierung durch C. Tuor, Kindesaussetzung, S. 337–340. Ähnliches erfahren wir auch aus nichtjüdischen antiken Texten.

80 Wie oder von wem es aufgezogen wird, wird nicht gesagt, weil dies

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voraus, dass Aussetzungen infolge Armut und Hunger vorkommen – sogar im eigenen Volk. Dabei verzichtet er auf jeglichen moralisierenden Vorwurf (ebenso übrigens gegenüber der Not unverheirateter Mütter).81

Weil Aussetzungen von Kindern mit einer körperlichen oder geistigen Be-hinderung weder in biblischen noch in jüdischen und frühchristlichen Texten je erwähnt werden,82 ist ein historisches Urteil kaum möglich.

7. Vernachlässigung

Weder unter den Texten des Alten Orients noch unter jenen der griechisch-römischen Antike habe ich ein eindeutiges Beispiel für die Vernachlässigung eines Kindes wegen dessen Behinderung gefunden.83 Doch erinnern wir uns an den anfänglich zitierten Text aus dem Gilgamesch-Epos: Der geistig behinderte lillu – hier ist allerdings an einen Erwachsenen zu denken – er-hält nur minderwertige Nahrung, so dass er sich mit Biersatz und Kleie begnügen muss. Es ist davon auszugehen, dass solches zum Teil zwangs-läufig geschah. In Zeiten knapper Ressourcen ist es unmöglich, alle mit genügend Nahrung, Kleidung und Betreuung zu versehen;84 ein behindertes Kind, das häufig doppelt so viel Aufmerksamkeit und Zeit wie andere braucht, gerät da mangels Ressourcen leicht unter die Räder.85 Wenn sich die Mangelsituation gar verschärft, so wird der Tod eines Mitessers zur

ausserhalb der Thematik der hier geführten Diskussion von Schriftgelehrten lag.81 Ebenso bereits in der Mischna (Traktat Qidduschin 4,1–3).82 Aufarbeitung der christlichen Quellen durch N. Kelley, The Deformed Child

in Ancient Christianity, in: C. B. Horn u. a., Children in Late Ancient Christianity, Tübingen 2009, S. 199–225.

83 Zur Vernachlässigung von Kindern im Alten Testament siehe A. Michel, Gewalt, S. 55–57.

84 Der römische Jurist Paulus (3. Jahrhundert n. Chr.) wertet die Ver-nachlässigung eines Kindes mittels Ernährungsverweigerung ebenso als Mord, wie wenn man es erstickt oder aussetzt (Corpus Juris, Digest. XXV 3,4). – Für die frühe römische Kaiserzeit gibt es einige Lebensläufe von Kindern, die trotz Lahm-heit oder Taubheit aufgezogen wurden (D. Gourevitch, Au temps des lois Julia et Papia Poppaea, la naissance d’un enfant handicapé est-elle une affaire publique ou privée?, in: Ktéma 23, 1998, S. 459–473).

85 Das oben erwähnte Kind mit Mikrozephalie (siehe S. 62) gehört vielleicht dazu, da der untersuchte Schädel Spuren von Unterernährung aufweist. J. Wahl u. a., Gräberfeld Stettfeld, S. 180 (Grab Nr. 83). Es ist allerdings auch möglich, dass das Kind nicht mehr essen konnte oder wollte; zudem ist daran zu erinnern, wie erschreckend häufig eine Mangelernährung osteologisch nachgewiesen werden kann.

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Entlastung für die anderen. Besonders gefährdet ist, wer am wenigsten zur Produktion beitragen kann. Die bereits erwähnten archäologischen Funde aus prähistorischer Zeit zeigen jedoch, dass Einzelne trotz ihrer Behinderung überlebt haben – aus zähem Überlebenswillen oder dank überdurchschnittlicher Pflege vonseiten der Sippe? Beides braucht nicht gegeneinander ausgespielt zu werden. Heutige ethnologische Beobachtungen in Drittweltländern betonen vor allem die Zähigkeit, trotz Behinderung einen genuinen Beitrag zum Überleben der Sippe – und so auch zum eigenen Überleben – zu leisten.86

Dass die ganze Problematik auch modernen Zivilisationen nicht fremd ist, zeigt z. B. das «Baby Doe»-Gesetz in den USA. Es wurde 1984 als Schutzbestimmung erlassen, nachdem mehrere Elternpaare sich entschieden hatten, ihrem behinderten Kind (z. T. mit Trisomie 21) keine medizinische Pflege angedeihen zu lassen, damit es rasch stürbe.87

8. Strassenkind

Wie die Geschichte von der Vertreibung Ismaels durch Abraham zeigt, sind auch Aussetzungen älterer Kinder denkbar, besonders in Krisenzeiten. Ein alttestamentlicher Text tönt etwas Vergleichbares an: Nach der grausamen Eroberung Jerusalems durch den babylonischen König Nebukadnezzar (586 v. Chr.) kommt es zum Zusammenbruch der Ernährungslage, so dass man munkelt, dass Eltern aus Hunger sogar ihre eigenen Kinder assen.88 Mag man dies als übertriebenes Gerücht bewerten, wie es in

86 Zur Pflegesituation unter vorchristlichen Germanen siehe W.-D. Teegen, in ders. u. a., Studien zur Lebenswelt der Eisenzeit, Berlin 2006, S. 543–544. – Aus Mali stammen die Erfahrungen der Ethnologin K. Dettwyler, Can Paleopathology Provide Evidence for «Compassion», American Journal for Physical Anthropology 84, 1991, S. 375–384. Sie warnt vor dem Trugschluss, sich den Umgang mit be-hinderten Menschen in prähistorischen Kulturen allzu rosig vorzustellen. Neuere kulturanthropologische Informationen bestätigen dies; siehe den Sammelband von J. Hubert, Madness Disability and Social Exclusion. The archaeology and anthropology of «difference», London 2000 (z. B. S. 74–76). – Ein frühbronze-zeitliches Grab aus Sachsen zeigt einen achtjährigen Knaben mit schweren Geh- und anderen Behinderungen. Aus der Knochenuntersuchung ergeben sich keine Zeichen von Vernachlässigung; der Knabe hat sich viel bewegt und half wohl auch im Alltag mit, siehe www.lda-lsa.de/landesmuseum_ fuer_vorgeschichte/fund_des_monats/2006/oktober/.

87 http://en.wikipedia.org/wiki/Baby_Doe_Law#Background_of_the_Law.88 Klgl 4,10; 2,20; in einer früheren Belagerung Samarias 2Kön 6,28–29. Als

angedrohte Ankündigungen in Lev 26,29; Dtn 28,53; Jer 19,9; Ez 5,10.

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einer Verzweiflungssituation und beim Zusammenbruch der offiziellen Kommunikationskanäle vorkommen kann, so wird doch die folgende Information zutreffend sein und eine sichtbare Not zeigen (Klgl 2,11–12.19; vgl. Jes 51,20): Nicht nur auf dem Schoss der Mutter, sondern auch auf den offenen Plätzen der Stadt und an den Strassenecken verschmachten und verhungern (ausgesetzte?) Säuglinge und Kinder. Suchen die Kinder dort nach essbaren Abfällen? Betteln sie andere Menschen an? Sind sie von ihrer Familie geschickt worden, oder handeln sie aus eigener Initiative? Jedenfalls wird man an heutige Strassenkinder (vor allem in der Dritten Welt) erinnert, deren Eltern bekanntlich häufig noch leben, aber aus unter-schiedlichen Gründen nicht mehr für ihre Kinder sorgen können, so dass diese sich selbständig machen (müssen). Vielleicht sollte man auch im alten Israel – vor allem in Bezug auf besondere Notzeiten – von eigent-lichen «Müllkindern» reden,89 die auf den Abfallhalden die Abfälle der Begüterteren nach Verwertbarem absuchen. Die Aussage, dass Gott «den Armen aus dem Kot (oder: Abfall) erhebt» (Ps 113,7; 1Sam 2,8), könnte darauf hinweisen.

Eine Talmudstelle erwähnt einen Knaben, der halb verhungert auf einem «Mist-/Müllhaufen» liegt.90 Die Tatsache, dass das Kind zu sprechen und antworten fähig ist, hilft beim Eingrenzen seines Alters. Es nennt auf Anfrage den Namen seiner Familie, ist aber das einzig übriggebliebene Familienmitglied. Vergleichbare Informationen haben wir aus Papyrusfetzen, die sich im Wüstensand Ägyptens konserviert haben – einer Fundgrube für alltägliche Informationen aus Privatbriefen und Notizen. Mehrfach wird dort erwähnt, dass auf einem Müllhaufen Kinder ausgesetzt und von Fremden aufgenommen wurden.91 Zudem sind sehr viele Personennamen dokumentiert, die aus dem entsprechenden griechischen Wort für «Mist, Müll» gebildet sind und sich auf eine entsprechende Lebenssituation be-ziehen könnten.92

89 Zu hebräisch ʾ ašpô im Sinne von «Kot» und «Müll» siehe R. Kessler, Sozial-geschichte, S. 144.

90 Traktat Sanhedrin 63b.91 J. Rowlandson, Women and society in Greek and Roman Egypt. A

sourcebook, Cambridge 1998, S. 117, 176, 274–275, 295. Ebenfalls gibt es Namen, die mit dem bedeutungsgleichen lateinischen Wort stercus gebildet sind.

92 279 Belege von Namen mit Kopr- («Mist») sind aufgelistet bei S. B. Pomeroy, Copronyms and the Exposure of Infants in Egypt, in: R. Bagnaly u. a. (ed.), Studies in Roman Law in Memory of Arthur Schiller, Leiden 1986, S. 147–162. Pomeroy vermutet allerdings, dass solche griechischen Namen im Laufe der Zeit ihre ur-sprünglich konkrete Bedeutung unter den (von der griechischen Kultur beeinflussten) Ägyptern verloren. Jedenfalls sind die (mehrheitlich männlichen) Namensträger in allen sozialen Schichten nachweisbar, und es handelt sich nur selten um Sklaven-kinder. – Ob die sprachverwandte Berufsbezeichnung eines Clowns (griechisch

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Auch in Mesopotamien schlägt sich die Lebenssituation der Strassen-kinder in ihren Personennamen nieder. Erschreckend häufig dokumentiert sind Namen wie «Der/Die-von-der-Strasse» (Sulāia, Suqāia). Zwar könnte man hier allenfalls noch an Kleinkinder denken, die an einem Strassenrand ausgesetzt wurden und dann das Privileg erlebten, aufgelesen zu werden; Namen wie «Der vom Stadtgraben» (Hariṣānu) beziehen sich jedoch deut-lich auf den «Wohnort» des Strassenkindes, denn ein Stadtgraben eignet sich schlecht als Ort zum Aussetzen eines kleines Kindes.

Das Schicksal eines Strassenkindes ist ähnlich demjenigen eines ver-nachlässigten Kindes, wie dies weiter oben skizziert worden ist. In beiden Fällen sind die Eltern ausserstande, für das Kind zu sorgen, wobei sich Nichtwollen und Nichtkönnen kaum fein säuberlich trennen lassen; der Unterschied zwischen einem vernachlässigten und einem Strassenkind liegt zunächst im Alter des Kindes, und dann auch in den Möglichkeiten eines älteren Kindes, aus eigener Initiative das Leben in die Hand zu nehmen.

Es ist zu befürchten, dass in Israel gerade Kinder mit einer geistigen Behinderung besonders gefährdet waren, zum Strassenbettel angehalten zu werden, wenn sie auf keine andere Weise zum Lebensunterhalt beitragen konnten. Und wer ihnen nichts gab, riskierte, von ihnen aus vollem Herzen verflucht zu werden; die spätalttestamentliche Weisheitsschrift des Jesus Sirach sagt ausdrücklich, dass Gott das Gebet eines abgewiesenen Bettlers «erhört», der «mit bitterem Herzen» den Nichtgeber «verflucht» (Sir 4,6).93

9. Bettelexistenz

Das Elend des Strassenbettels kommt im Alten und Neuen Testament mehr-fach zur Sprache. Bereits Kinder konnten davon betroffen sein (Ps 109,10). Besonders häufig werden aber Erwachsene mit einer Behinderung genannt: Sehbehinderte (Mk 10,46–52; Joh 9), Gehbehinderte (Lk 16,19–31; Apg 3) und «Aussätzige» (2Kön 7). Im Neuen Testament wird sprachlich unter-schieden zwischen dem «Minderbemittelten», der unter finanziellem Druck steht (z. B. wegen Überschuldung), und dem «Bettelarmen», der gar nichts mehr besitzt und seine Grundbedürfnisse mit Almosen decken muss, weil

koprias, lateinisch coprea) auf dessen biographische Herkunft zurückgeht? Oder weist das Wort darauf hin, dass ein Clown mit seinen Spässen «Mist» spielt?

93 Zur Verfluchung als einer wirkungskräftigen «Waffe» der Hilflosen vgl. die Warnung einer ägyptischen Weisheitsschrift, hinfällig gewordene Alte nicht zu verspotten: «Pass auf, dass sie dich nicht verfluchen, bevor du selber alt geworden bist» (H. Brunner, Altägyptische Weisheit, S. 215).

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seine ganze Existenz zusammengebrochen ist.94 Bezeichnenderweise gibt es auch wandernde Bettelarme,95 die offenbar als Obdachlose zu denken sind: Im Gleichnis vom grossen Gastmahl werden, nachdem die ordent-lichen Gäste abgesagt haben, die Bettelarmen und körperlich Versehrten zunächst von den Plätzen und Gassen der Stadt eingeladen, doch später auch von den Landstrassen und Zäunen ausserhalb der Stadt (Lk 14,21–23; vgl. Mk 10,46); das Lukas-Evangelium ruft ausdrücklich dazu auf, es dem Gleichnis Jesu gleichzutun und ebenso «Bettelarme, Verkrüppelte, Lahme, Blinde» zum Essen einzuladen (Lk 14,13). Gerade die Bettelarmen (griechisch ptōchoi) erhalten in der Verkündigung Jesu einen Ehrenplatz; sie sind die bevorzugten Adressaten der «guten Botschaft», des Evangeliums (Mt 11,5; Lk 4,18; 6,20). Im Milieu der Bettelarmen finden auch Heilungen durch Jesus statt.96

Jesus führt hier konsequent die Linie weiter, die bereits im Alten Testa-ment mit kritischen Prophetenstimmen laut wird.97 Die Verkündigung der Freudenbotschaft an die Bettelarmen geschieht in Wort und Tat, und zwar in einer aussergewöhnlichen Intensität. Dadurch unterscheidet sich Jesus von der Sozialkritik, wie sie alttestamentlich und ausserbiblisch zuweilen deutlich geäussert wird. Solche Sozialkritik kommt jedoch üblicherweise von einzelnen Intellektuellen der Oberschicht, welche zwar scharfe Be-obachter des Unrechts sein können,98 sich aber in der Praxis oft als hilf-los erweisen, weil ihnen eine eigene erlittene Armutserfahrung mangelt. Insofern ist Jesus anders: Er hat selber keinen garantierten Ort, «wo er sein Haupt hinlegen kann», während doch auch Vögel ihre Nester und Füchse ihre Höhle haben (Mt 8,20). Und die Menschen, die Jesus nach-folgen, teilen mit ihm dieselbe Armut. Und noch das neutestamentliche

94 E. und W. Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte, Stuttgart 1995, S. 90–94. Für die griechische Kultur vgl. H. Kloft, Gedanken zum Ptochós, in: I. Weiler (Hg.), Soziale Randgruppen, S. 81–106.

95 Ähnliches gilt wohl für Ägypten, wie die (aus hellenistischer Zeit stammende) Weisheitslehre des Papyrus Insinger mit ihrer Kritik an «herumziehenden Dumm-köpfen» andeutet (XXVIII 9–12 und XXIX 17: Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Band 3, S. 311–313). Leider ist der Ausdruck «Dummkopf» hier nicht präzis zu fassen; in dieser für die Oberschicht typischen Literatur ist jede Art von Vagabundieren negativ besetzt.

96 W. Stegemann, Das Evangelium und die Armen. Über den Ursprung der Theologie der Armen im Neuen Testament, München 1981, S. 10ff. Zur Armut in Palästina: Derselbe, Jesus und seine Zeit, Stuttgart 2010, insbesondere S. 251–262 und 347.

97 Jes 58,6–7; 61,1–2; Ez 18,7.16; Mal 3,5.98 Beispiele aus der Bildungsliteratur der Oberschicht: Hi 24,5–8 sowie – nur

scheinbar als persönliche Erfahrung formuliert – die sogenannte «babylonische Theodizee», Zeilen 133–143 und 272 (Übersetzung in: Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Band 3, S. 151 und 156).

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Schrifttum bleibt der Armutserfahrung bedeutend näher, als dies für fast alle Literatur jener Zeit gilt.

Angesichts des erfahrungsgetränkten Charakters der neutestament-lichen Schriften ist es doppelt auffällig, dass eine geistige Behinderung hier nicht ebenso deutlich zutage tritt wie die zahlreich genannten körper-lichen. Abgesehen von den «Taubstummen», wo am ehesten noch eine Verbindung zu einer geistigen Behinderung denkbar ist, scheint dies für andere Fälle kaum zu gelten. Wie ist dieses neutestamentliche Schweigen zu erklären? Könnte es sein, dass eine körperliche Seh- oder Gehbehinderung einschränkendere Konsequenzen für die Ausübung manueller Arbeit zur Bestreitung des Lebensunterhalts hatte, während eine (vor allem leichtere) geistige Behinderung eher noch eine übliche landwirtschaftliche Arbeit ermöglichte? Falls diese Überlegung richtig wäre, so würde dies erklären, dass eine geistige Behinderung ein kleineres Risiko einschloss, bettelarm zu werden, als wenn jemand wegen einer körperlichen Behinderung aus dem üblichen Arbeitsprozess herausfiel. Wir hätten dann geistige Behinderungen eher unter den Tagelöhnern (am Rande des Existenzminimums) zu suchen. Eine solche Sicht lässt sich möglicherweise stützen durch Beobachtungen aus heutigen Drittweltländern.99

10. Geringschätzung, Verspottung und Instrumentalisierung

In aussergewöhnlicher Schärfe wendet sich ein alttestamentliches Verbot gegen sadistische Machenschaften im Umgang mit Sehbehinderten: «Verflucht ist, wer einem Sehbehinderten auf dem Weg irreführt» (Dtn 27,18; vgl. Spr 28,10). Das Verbot steht in einer Reihe von insgesamt zwölf Fluchandrohungen (Dtn 27,11–26), die allein schon durch deren Anzahl auffällt (vgl. die zwölf Stämme Israels); thematisiert werden unter anderem der Götzendienst, das Verspotten der alt gewordenen Eltern oder inzestuöse sowie unsoziale Vergehen. Nach jeder dieser Fluchandrohungen soll das Volk mit dem gemeinsamen Ruf «Amen» antworten und damit sein elementares Einverständnis geben. In diesem Abschnitt wird auffälliger-weise also auch Menschen mit einer Behinderung indirekt ein besonderer Schutz zugesprochen.

Noch in der spätalttestamentlichen griechischen Fassung der Weisheits-schrift Jesus Sirach findet sich eine vergleichbare Mahnung, diesmal aber zum Schutz von Menschen mit einer geistigen Behinderung: «Verspotte

99 A. Yong, Down Syndrome, S. 130–140. Näheres siehe unten S. 147–149.

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nicht einen Schulungsunfähigen,100 damit deine Vorfahren nicht entehrt werden» (Sir 8,4). Überraschend ist hier, wie das Verbot begründet wird: Hier steht offenbar die Familienehre des Spötters auf dem Spiel.101

Das oben erwähnte Verbot, einen Hörbehinderten zu schmähen und einem Sehbehinderten ein Hindernis in den Weg zu legen (Lev 19,14), wird meistens ebenfalls als Verbot einer böswilligen oder gar sadistischen Aktion verstanden. Im Folgenden lege ich einen abweichenden Inter-pretationsvorschlag vor: Der Vers findet sich in einer Art priesterlichem Katechismus (Lev 19),102 welcher unterschiedliche Gebote und Verbote zusammenstellt, die das Zusammenleben innerhalb der israelitischen Gesell-schaft regeln. Auffällig ist der Refrain, der 16-mal, jeweils am Ende eines inhaltlich zusammengehörigen Komplexes, vorkommt: «Ich bin Jahwe» (zuweilen erweitert durch «… euer Gott»). Offensichtlich sollen die hier zusammengestellten Gebote und Verbote in ganz besonderer Weise als Willensäusserung des Gottes Israels sanktioniert werden.

In den Versen 13–14 findet sich nun die folgende Zusammenstellung:

13Du sollst deinen Nächsten nicht bedrücken und nicht berauben. Den Lohn eines Tagelöhners sollst du nicht bis zum nächsten Morgen

zurückbehalten. 14Einen Tauben sollst du nicht schmähen/verfluchen,103 und einem

Blinden sollst du kein Hindernis in den Weg legen, sondern du sollst dich fürchten vor deinem Gott. Ich bin Jahwe. (Lev 19)

Die ersten beiden Zeilen betreffen den Umgang mit Lohnabhängigen, die beiden folgenden den Umgang mit behinderten Menschen. Den Lohn-abhängigen soll ihr Lohn weder gedrückt (wörtlich «geraubt») noch zu spät ausbezahlt werden. Beides wäre verheerend für Tagelöhner, die ohne eigene finanzielle Reserven – also von der Hand in den Mund – leben.

Nun darf man fragen, ob die im folgenden Zeilenpaar erwähnten

100 Mē prospaize apaideutō. Die (nicht identische) hebräische Fassung nennt den ʾĕwîl. – Zur Verspottung vgl. Spr 17,5 (einen Armen auslachen) und 30,17 (die eigenen Eltern). Zum apaideutos im Sinne von «Dummkopf, Ignorant» sowie apaideusia «Ignoranz» siehe Josephus ant. II 285; contra Ap. II 2,3.37–38.130 und vgl. 2Tim 2,23. An andern Stellen geht es allerdings um den Unerzogenen oder Ungezogenen.

101 Es ist jedoch ebenfalls eine abweichende Übersetzung möglich, welche banaler tönt: «Scherze nicht mit einem Ungeschulten, damit deine Vorfahren nicht entehrt werden.»

102 E. Gerstenberger, Leviticus, S. 238. In Lev 19 steht übrigens das berühmte Gebot, auch den (im Lande ansässigen) Fremden zu «lieben wie dich selbst» (Vers 18).

103 Zu hebräisch qillel im Sinne von «verfluchen» vgl. Lev 24,11.15.

kellenberger.indb 93 05.08.2011 11:38:41

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behinderten Menschen ebenfalls als Arbeitende vorzustellen sind: Wird der Hörbehinderte etwa deshalb verflucht, weil sein Arbeitgeber über die Arbeitsleistung eines Tauben mit einer (scheinbaren oder tatsächlichen) geistigen Behinderung unzufrieden ist? Wer jedoch nichts hört, kann sich nicht zur Wehr setzen gegen eine Verfluchung, von deren unfehlbarer Aus-wirkung man im alten Israel überzeugt war. Und liegt beim Sehbehinderten das Problem etwa dort, dass sein Arbeitgeber bei einem Arbeitsauftrag besonders Rücksicht auf die Behinderung des Arbeiters nehmen soll, in-dem er z. B. mögliche Hindernisse prophylaktisch aus dem Weg räumt? Solches meint wohl Hiob, wenn er (als Arbeitgeber) von sich sagt: «Auge wurde ich dem Blinden, und Fuss dem Lahmen» (Hi 29,15). Falls diese Interpretation von Lev 19,14 richtig wäre, so ginge es hier nicht gegen die Verspottung von Menschen mit einer Behinderung, sondern es würde eine besondere Rücksichtnahme des Arbeitgebers gefordert.

Anschliessend werden die vier Verbote abgeschlossen mit einer positiven Mahnung: «Du sollst dich fürchten vor deinem Gott». Diese sprachliche Formulierung kommt insgesamt nur fünfmal im Alten Testament vor,104 und zwar immer als Abschluss einer Mahnung zur Verantwortung eines sozial Stärkeren gegenüber einem Schwächeren: Überschuldete sollen keinen Zins bezahlen müssen, hilflose Alte sollen geehrt werden, niemand soll übervorteilt oder mit Gewalt beherrscht werden.

Die hier vorgelegte Interpretation hat den Vorteil, dass sie den Text-zusammenhang der Verse 13 und 14 besonders ernst nimmt. Und zweitens nimmt sie ernst, dass dieser Text priesterlichen Ursprungs ist, wogegen Jesus Sirach aus der Bildungsliteratur von Weisheitslehrern stammt. Der unterschiedlichen Herkunft der Texte entspricht auch deren unterschied-licher Inhalt.

Ägypten

Ebenfalls aus der Bildungsliteratur, und zwar aus der ägyptischen, stammt die Mahnrede des Beamten Amenemope an seinen Sohn (ca. 1100 v. Chr.), die zur Charakterbildung junger Menschen diente. Das 25. Kapitel (von insgesamt 30) lautet:105

Verlache nicht einen Blinden und verhöhne nicht einen Zwerg. Erschwere nicht das Geschick eines Lahmen.

104 «Sich vor Gott fürchten» (im Unterschied zu häufigerem «Gott fürchten») sonst nur noch in Lev 19,32*; 25,17*.36.43. Die mit * bezeichneten Verse schliessen ebenfalls mit «Ich bin Jahwe (euer Gott)».

105 Übersetzung nach H. Brunner, Altägyptische Weisheit, S. 254.

kellenberger.indb 94 05.08.2011 11:38:41

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Verspotte nicht einen Mann, der in der Hand des Gottes ist, und sei nicht aufgebracht gegen ihn, wenn er einen Fehler gemacht

hat.106

Der Mensch ist Lehm und Stroh, und Gott ist sein Schöpfer. er zerstört und erbaut täglich, er macht tausend Arme nach seinem Belieben, und tausend Leute macht er zu Aufsehern, wenn er (der Sonnengott?) in seiner Stunde des Lebens ist. Wie freut sich, wer den Westen erreicht (d. h. nach dem Sterben die

Ewigkeit erlebt). Er wird (dort) heil sein in der Hand des Gottes.

Das Kapitel endet mit der Gewissheit, dass in der Ewigkeit keine Be-hinderungen mehr existieren werden, sondern alle «heil» sein werden. Das soll sich schon während des irdischen Lebens im Umgang mit Menschen auswirken, die jetzt noch mit einer Behinderung leben:107 Genannt werden der Sehbehinderte, der Wachstumsbehinderte, der Gehbehinderte. Wer hin-gegen ist «der Mann, der in der Hand des Gottes ist»?108 Meistens denkt man an Epilepsie oder an eine psychische Erkrankung (Besessenheit). Allerdings liegt jegliche Behinderung «in der Hand des Gottes», denn dieser formt wie ein Töpfer die Menschen aus Lehm so, dass die einen zu Armen und die andern zu Mitgliedern der Führungsschicht werden. Doch achten wir auf das konkrete Detail, das im Zusammenhang mit nur diesem vierten Mann mitgeteilt wird:109 Der Mann in der Hand Gottes «macht Fehler», worüber andere Menschen aufgebracht werden können. Da lässt sich an Menschen mit einer geistigen Behinderung denken – auch wenn epileptische Anfälle oder psychische Erkrankung nicht gänzlich ausgeschlossen werden können.110

106 Anders übersetzt I. Shirun-Grumach (Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Band 3, S. 247): «und wende dein Gesicht nicht gegen ihn, (um) ihn anzugreifen»; ähnlich auch V. Laisney, L’enseignement d’Aménémope, Rom 2007, S. 211.

107 Zu weiteren ägyptischen Mahnungen, behinderte Menschen nicht zu ver-spotten, siehe den ägyptologischen Beitrag von H. W. Fischer-Elfert im Sammelband von M. Liedtke, Behinderung als politische und pädagogische Herausforderung, Bad Heilbrunn 1996, S. 93–116.

108 Der Ausdruck «in der Hand des Gottes» begegnet zudem noch in Kap. 6: «Besser ist Armut in/aus der Hand des Gottes als Schätze im Vorratshaus. Besser sind Brote, wenn das Herz vergnügt ist, als Reichtum mit Unrast.» Vgl. grundsätz-lich I. Shirun-Grumach, Bedeutet «in der Hand Gottes» Gottesfurcht?, in: Studies in Egyptology presented to M. Lichtheim, Band 2, Jerusalem 1990, S. 836–852.

109 Oder meint diese Zeile etwa einen neuen, fünften Menschentyp?110 V. Laisney, L’enseignement, S. 214 erwägt handicapé mental und listet

weitere Verständnismöglichkeiten auf.

kellenberger.indb 95 05.08.2011 11:38:41

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Bes – eine Gottheit mit geistiger Behinderung?

Sind im soeben diskutierten Text die «Fehler» störend, so gibt es auch das Gegenteil: Gerade wegen seiner Hässlichkeit und mehrfachen Behinderung kann der international verbreitete ägyptische Gott Bes die Menschen vor Gefahren schützen (Abb. 10ab).111 In den zahlreichen Darstellungen fallen körperliche Anomalien auf, die zumindest teilweise auch mit geistiger Be-hinderung einhergehen können: Typisch ist ein Misswuchs mit zu kurzen und nach aussen geknickten Beinen.112 Häufig begegnet zudem eine heraus-hängende Zunge, die an die schlaffe Zungenmuskulatur bei Trisomie 21 er-innert; und auch hinter der Fratzenhaftigkeit des Bes darf eine Behinderung vermutet werden, die ebenfalls zu geistiger Behinderung führt.113 Zuweilen erscheint die Gottheit Bes in weiblicher Gestalt namens Beset; im hier vor-gestellten Beispiel (einer Tonscherbe aus der ägyptischen Kunsthandwerker-siedlung von Deir el-Medineh) fallen auf: der typische Kleinwuchs und die extrem heraushängende Zunge, ferner ein Löwenkopf mit Federkrone und Löwenschwanz sowie links und rechts zwei Bes-Kinder, die gierig nach den schweren Brüsten der Mutter greifen. Der grässliche Anblick der Gottheit soll jeweils vor gefährlichen Dämonen schützen, welche den Menschen schaden wollen, aber vor Bes (oder Beset) erschreckt Reissaus nehmen.

111 Ausführliche Informationen bei V. Dasen, Dwarfs, S. 55–103. Viele Ab-bildungen bei C. Herrmann, Ägyptische Amulette aus Palästina/Israel, Fribourg 1994–2002. Zur Bes-Darstellung aus der nördlichen Sinai-Halbinsel (Kuntillet Adschrud) siehe die Diskussion (mit Bild) bei F. Mathys, Segenszeugnisse aus dem Alten Israel, Zürich 2010, S. 44–45. Die in Israel gefundenen Exemplare sind allerdings, der Armut dieses Landes entsprechend, weniger aufwendig gearbeitet als die beiden Abb. 10ab, die aus der reicheren ägyptischen Kultur stammen. Zu Trägern des Personennamens Besaj im eisenzeitlichen Israel (WSS Nr. 110.294.424 und Esr 2,49) siehe H. te Velde, Art. Bes, in K. van der Toorn u. a., Dictionary of Deities and Demons in the Bible, Leiden 2. Aufl. 1999, S. 173.

112 Zu genetisch bedingter Chondrodysplasie (bzw. Knorpeldystrophien) im Zusammenhang mit geistiger Behinderung siehe J. Schölmerich (Hg.) u. a., Medizinische Therapie, Heidelberg 3. Aufl. 2007, S. 548; ausführlicher http://www.orpha.net/consor/cgi-bin/OC_Exp.php?lng=DE&Expert=1422. Hier begegnen auch geschlechtliche Zwitter, was sich ebenfalls in manchen Bes-Darstellungen beobachten lässt.

113 Unter den Behinderungsarten, die in den Darstellungen des Bes zusammen-geflossen sein könnten, ist von medizinhistorischer Seite auch das sogenannte Praundler-Hurter-Syndrom vermutet worden, das u. a. zu geistiger Behinderung führt (R. Watermann, Bilder aus dem Lande des Ptah und Imhotep, Köln 1958, S. 123). Diese genetisch bedingte Krankheit wird ebenfalls Gargoylismus genannt, weil die Menschen aussehen wie Wasserspeierfratzen (franz. gargouilles) an einer gotischen Kathedrale; bezeichnenderweise dienen diese ebenfalls der Abwehr von Dämonen. – Die heraushängende Zunge ist ebenfalls typisch für die Schreckens-fratze der Gorgo Medusa.

kellenberger.indb 96 05.08.2011 11:38:41

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Auf solche Weise dient Behinderung als schwarzer Hintergrund eines Ge-schehens, das letztlich dem von Dämonen bedrohten Menschen hilfreich ist. Es handelt sich hier also um eine besondere Art der Instrumentalisierung von körperlicher und möglicherweise auch von geistiger Behinderung. Es finden sich unzählige Darstellungen des Bes auf Gegenständen des Schlaf-zimmers (Betten, Kopfstützen114), der weiblichen Körperpflege (Spiegel, Schminkgeräte wie z. B. Abb. 10b) und des Haushalts (Kästen, Stühle). Vor allem im Zusammenhang mit den Risiken von Schwangerschaft, Ge-burt und Säuglingspflege dient Bes im häuslichen Bereich (d. h. ausserhalb der offiziellen Religion) als beliebter Talisman, zusammen mit magischen Beschwörungen.115

Missbrauch in Mesopotamien …

Nicht nur Gottheiten, sondern auch Menschen können wegen einer (körper-lichen oder geistigen) Behinderung instrumentalisiert werden, indem man deren typische Haltungen – z. B. ihre Gutgläubigkeit – zu eigennützigen Zwecken missbraucht. Solches wird uns vor allem aus Mesopotamien be-richtet: Auf mesopotamischen Grenzsteinen erscheinen regelmässig Fluch-androhungen, die davor warnen, diesen Stein wegzuschaffen oder dessen Inschrift zu zerstören mit der Absicht, dass die gegebenen Besitzverhältnisse nicht mehr respektieren werden müssen. In diesem Zusammenhang werden nun überraschenderweise Menschen mit verschiedenen (auch geistigen) Behinderungen aufgelistet. Diese könnten, auf Geheiss anderer und ohne deren egoistische Motive zu durchschauen, einen Grenzstein entfernen oder beschädigen. Ein Beispiel aus einer solchen Grenzsteininschrift (Abb. 11ab):116

114 In einem so heissen Land wären Kopfkissen in der Art, wie wir sie haben, ungünstig; zumindest die Privilegierten schliefen auf einer hölzernen (leicht gepolsterten) Kopfstütze.

115 Gerne wüsste man die Ursache, warum Fehlgeburten in Holzfiguren des Bes beigesetzt wurden (W. Helck u. a. [Hg.], Lexikon der Ägyptologie, Band 1, Wiesbaden 1972, Sp. 722).

116 Die steinerne Urkunde (um 1300 v. Chr., ca. 50 cm hoch) wurde in einem Heiligtum des Sonnen- und Rechtsgottes Šamaš gefunden. Die Darstellung eines muskulösen Hundes (und evtl. einer Schlange) begegnet auch auf andern Grenz-steinen und weist wohl auf die Göttin Gula hin. Text und französische Über-setzung: D. Arnaud, Revue d’Assyriologie 66, 1972, S. 164–168. Auflistung der Behinderungsarten in Zeile 34: šagga sakka sakla samâ nûʾa dubbuba ulā<la> (eine präzise Übersetzung der einzelnen Begriffe ist strittig). – Eine tabellarische Über-sicht der in den Grenzsteinen verwendeten Begriffe für Behinderung findet sich bei E. Cassin, Le semblable et le différent. Symbolismes du pouvoir dans le Proche-Orient ancien, Paris 1987, S. 96–97.

kellenberger.indb 97 05.08.2011 11:38:41

98

Abb. 11ab: Babylonischer

Grenzstein. Die beiden letzten Keil-schriftzeichen auf

Zeile 34 bezeichnen den ulālu.

kellenberger.indb 98 05.08.2011 11:38:42

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Wer einen Spastiker, einen Taubstummen, einen Toren, einen Unsteten, einen Barbaren, einen Schnorrer oder einen geistig Schwachen dazu beauftragt: Mögen ihn die Götter Anu, Enlil und Ea mit einem bösen Fluch ohne Nachlass belegen!

Beachtenswert ist, dass der Fluch direkt den Auftraggeber treffen soll, der ja ursprünglich den angedrohten Fluch von sich weg auf die instrumentalisierten beauftragten Täter lenken wollte, um selber «saubere Hände» zu behalten.

… und im römischen Reich

Zurück zur Verspottung von Menschen mit einer geistigen Behinderung. Bereits in Mesopotamien gab es Witze über sie; und die Zöglinge, die zu (privilegierten) Schreibern ausgebildet wurden, grenzten sich in ihrem Dünkel gerne ab mit satirischen Aussagen gegen «Taubstumme» bzw. geistig Behinderte.117 Dass solche Ausgrenzungen in unterschiedlichsten Formen denkbar sind und auch in einer offenkundigen Nähe zu Behinderten ge-schehen können, erfahren wir aus Rom, wo manche Aristokratenhaushalte «Narren» oder «Närrinnen» hielten, vielleicht ähnlich wie im Mittelalter die Könige ihre Hofnarren. Der wohlhabende Literat Seneca d. J., Erzieher des späteren Kaisers Nero, berichtet in einem Brief von einer solchen Närrin (lateinisch fatua) namens Harpaste, die er von seiner Gattin erbte, und kleidet seine persönliche Abscheu vor solchen Geschöpfen118 in ironisch-selbstironische philosophische Betrachtungen.119

Andere wurden in eine sozusagen professionellen Rolle als Clowns (oder ähnlich) gedrängt und dadurch missbraucht: Menschen mit einer geistigen

117 Siehe: Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Band 3, S. 57, 92–93, 95 und 81.

118 Seneca redet von prodigia; diese Bezeichnung wird sonst für Missgeburten verwendet. – Zu fremden Kindern, die in den Haushalt reicher Römer aufgenommen wurden, um (aus unterschiedlichsten Intentionen) zärtlich verwöhnt zu werden, siehe C. Laes, Desperately Different? Delicia Children in the Roman Household, in: D. L. Balch u. a. (Hg.), Early Christian Families in Context. An Interdisciplinary Dialogue, Grand Rapids 2003, S. 298–324; dort S. 302–304 zu (ausschliesslich körperlich?) behinderten Kindern. Zudem gehörten hin und wieder auch Sklaven mit einer geistigen Behinderung zum Haushalt, vgl. den morio-Sklaven für sexuelle Aktivitäten in Martial VI 39 und XII 93 sowie in ähnlichem Zusammenhang den mōros in der griechischen Witzesammlung «Philogelos» Nr. 251.

119 Seneca d. J., Brief Nr. 50. Zu weiteren solchen fatuae und fatui vgl. H. Grassl, Zur sozialen Position geistig Behinderter in der Antike, in: I. Weiler, Soziale Randgruppen, S. 107–116. Grassls Beitrag differenziert allerdings nicht zwischen geistiger Behinderung und psychischer Krankheit; doch nennt der erwähnte Brief Senecas deutlich die Symptome einer geistig behinderten Frau.

kellenberger.indb 99 05.08.2011 11:38:42

100

Behinderung – moriones120 genannt – finden sich unter den professionellen Entertainern, die bei den Partys der Gutbetuchten auftraten. Sie dienten zur Amüsierung der Gäste und wurden zu unfreiwilligen Spässen und Ver-renkungen provoziert, was umso komischer wirkte, wenn diese Menschen gleichzeitig auch durch körperlich sichtbare Behinderungen auffielen.121

Wie unterschiedlich dies von den Intellektuellen Roms beurteilt wurde, zeigt deutlich ein Brief des hohen Staatsbeamten Plinius an seinen Bekannten Julius Genitor:122 Letzterer beklagte sich über eine Party, an welcher auch moriones auftraten. Plinius tröstet ihn, dass eben die Geschmäcker verschieden seien; die einen fänden die Produktionen eines Narren ekelhaft, andere diejenigen eines Rezitators oder Leierspielers. Eine weitere Meinung finden wir beim geistreichen Satiriker Martial. Dieser regt sich auf über die hohen Kaufpreise für die moriones und darüber, dass sich darunter auch solche einschleichen, die eine geistige Behinderung nur vortäuschen; hin-gegen lobt er denjenigen, der ohne Tricks seine Blödheit vorlebt.123 Auch sonst kommt Martial in seinen formvollendeten Epigrammen auf die Unterhaltungsfunktion der moriones zu sprechen. Ohne diese Institution grundsätzlich zu kritisieren, lässt er zuweilen eine leise Verachtung durch-scheinen. Literarisch betrachtet, benutzt er die moriones, um seine gekonnten satirischen Pfeile gegen andere abzusenden, welche die moriones für ihre eigenen Zwecke einspannen.

Noch um 400 n. Chr., also gegen Ende des römischen Reichs, erwähnt der Theologe Augustinus mehrfach moriones. Offensichtlich hat sich diese Institution auch in einer christianisierten Gesellschaft gehalten. Augustinus jedoch kritisiert deutlich die Paradoxie, dass «sogenannt Verständige an Gebrechen anderer Vergnügen empfinden».124 Zudem würden solche Entertainer auf dem Sklavenmarkt zu höheren Preisen eingekauft als Ver-ständige. Augustinus beschreibt sie als «kraushaarig» (cirrati) – hatten

120 Das Wort ist ein Fremdwort aus griechisch mōriōn «Törichter, Narr».121 Tacitus (ann. 12,49) schildert einen solchen Clown namens Iulius Paenignus:

Er sei «wegen seiner Geistesschwäche (ignavia animi) ebenso verachtenswert wie wegen seines missgestalteten Körpers».

122 Plinius der Jüngere, Brief IX 17. – Siehe auch I. Weiler, Überlegungen zu Zwergen und Behinderten in der antiken Unterhaltungskultur, Grazer Beiträge 21, 1995, S. 121–145.

123 Epigramme VIII 13 und XIV 210 (ausführlicher C. Schöffel, Martial Buch 8, Stuttgart 2002, z. St.). Weitere Belege: III 82,24; VI 39,17; XII 93,3; ferner III 82 (fatua). Dazu zuletzt B. Gevaert, Mentally and physically challenged persons in Martial’s epigrams (Salzburger Kongress, im Druck). – Was genau der von Plutarch erwähnte «Monster-Markt» (tōn teratōn agora) war, wird aus dessen Schilderung (moralia 520c) leider nicht klar.

124 De pecc. mer. I 66 (lateinisch-deutsche Ausgabe in der Reihe «Sankt Augustinus, der Lehrer der Gnade», Band 1, Würzburg 1971, S. 156–157).

kellenberger.indb 100 05.08.2011 11:38:42

101

sie ungepflegtes Haar (vgl. auch Abb. 7b auf S. 72), oder gehörte dies zu einer Art «Tracht» wie bei andern Entertainern?125 Er kritisiert zudem den damals üblichen Begriff moriones und verwendet stattdessen lieber das Wort fatui, das wohl stärker ein schicksalhaftes Krankheitsmoment hervorhebt. Weitere aussergewöhnliche Überlegungen dieses Theologen werden uns weiter unten (unter dem Stichwort «Integration in die Glaubensgemein-schaft») beschäftigen.

Bildliche Darstellungen

Die Verspottung von Menschen mit einer Behinderung scheint in der Antike weit verbreitet gewesen zu sein. Es haben sich zahlreiche Tonfiguren er-halten, die eine körperliche Behinderung karikierend aufs Korn nehmen. Darunter sind auch Tonfigürchen, welche die Dummheit eines Menschen durch charakteristische körperliche Gesichtszüge darstellen wollen.126 Die Funktion solcher Miniaturskulpturen kann nur vermutet werden. Man nimmt häufig an, dass hier Bettler (seltener Bettlerinnen) abgebildet sind, welche an den Festen verschwendungssüchtiger Reicher nach einem Bissen heischten.127 Die Gäste amüsierten sich über diese Kreaturen, die etwa mit einer ungeschickten Darbietung auftraten; und der reiche Gastgeber konnte so seinen Überfluss zur Schau stellen, indem er sie scheinbar grosszügig

125 cirrus ist der besondere Haarschopf der Athleten als Kennzeichnung ihrer Berufsklasse (Thesaurus Linguae Latinae, Band 3, S. 1188).

126 Siehe unten Abb. 15 (S. 152). Zahlreiche weitere Abbildungen finden sich in den Katalogen vieler Museen; die Wichtigsten werden genannt bei M. Grmek u. a., maladies, S. 401, Anm. 10. Zuletzt M. Waser, Behinderte in der hellenistisch-römischen Bronzekleinplastik (Salzburger Kongress, im Druck). Zur antiken Physiognomik der Dummheit siehe H. P. Laubscher, Fischer und Landleute. Studien zur hellenistischen Genreplastik, Mainz 1982, S. 49–55.

127 Ausführliche Diskussion bei L. Giuliani, Die seligen Krüppel. Zur Deutung von Missgestalten in der hellenistischen Kleinkunst, Archäologischer Anzeiger 102, 1987, S. 701–721. Dort auch zu älteren Vermutungen, dass an Darstellungen von Theaterrollen oder an eine maskottchenartige Funktion gegen den «bösen Blick» zu denken sei (letztere Vermutung wieder bei C. A. Barton, The Sorrows of the Ancient Romans. The gladiator and the monster, Princeton 1993, S. 168–172). Vor-sichtiger urteilen J. Fischer, Griechisch-römische Terrakotten aus Ägypten, Tübingen 1994, S. 70–72, sowie L. Laugier, Les grotesques de Smyrne, types pathologiques et caricatures (im Ausstellungsband des Louvre: d’Izmir à Smyrne. Découverte d’une cité antique), Paris 2009, S. 170–194. Grundsätzlich zuletzt I. Weiler, Zur Physiognomie und Ikonographie behinderter Menschen in der Antike (Salzburger Kongress, im Druck).

kellenberger.indb 101 05.08.2011 11:38:42

102

duldete – und je nachdem sogar solche Figuren aus Ton oder Bronze (z. T. in hoher künstlerischer Qualität)128 in seiner Wohnung aufstellte.129

Der Koran als eine positive Stimme

Auch Mohammed erhebt, im Koran, die Stimme gegen die Instrumentalisierung von Menschen, die sich wegen einer geistigen Be-hinderung nicht gegen gemeine Machenschaften wehren können. Dies zeigt sich vor allem bei Kaufgeschäften, in welche «schwachsinnige»130 Menschen involviert sind (Sure 2,282; vgl. 4,5). Diese dürfen nicht übers Ohr gehauen werden, weswegen Vertrauenspersonen für sie eintreten sollen.

Neues Testament und frühes Christentum

Wie oben gezeigt, benutzen die biblischen Autoren die Menschen mit einer geistigen Behinderung weder als Zielscheibe der Geringschätzung noch zur Instrumentalisierung. Im Gegenteil: Wo die Texte entsprechende Versuche unter den Menschen erwähnen, geschieht dies mit deutlicher Kritik und Abwehr. Dies gilt, wie ich gezeigt habe, für das Alte Testament – und ebenso auch für das Neue Testament: So widersetzt sich Jesus seinen Jüngern, welche die (behinderten?) Kinder vertreiben wollen (Mk 10,13), und ebenso widersetzt sich Jesus auch der Menschenmenge, welche den Hilfeschrei eines Sehbehinderten nicht ernst nimmt und diesen zum Schweigen bringen will (Mk 10,48). Gegen solche Versuche wendet sich Jesus demonstrativ den Kindern bzw. dem Sehbehinderten zu. Und als anderswo die Jünger die Ursache einer Sehbehinderung in einer Sünde sehen wollen, die der Behinderte oder dessen Eltern begangen hätten, so entgegnet ihnen Jesus deutlich: «Weder dieser noch seine Eltern haben gesündigt, sondern es sollen

128 Kommentierte Fotos solcher Tonfiguren z. B. bei N. Himmelmann, Realistische Themen in der griechischen Kunst der archaischen und klassischen Zeit, Berlin 1994, S. 89–122. – Eine noch unpublizierte Wiener Diplomarbeit kata-logisiert gegen zweihundert Bronzefiguren mit körperlichen Behinderungen, wobei hier dümmliche Gesichter fast gänzlich fehlen (Magdalena Waser, Behinderte in der hellenistisch-römischen Kleinplastik. Bronze, 2010).

129 Teilweise dienten solche Figürchen, vor allem wenn sie mit einer Öse zum Aufhängen bzw. mit Glöckchen versehen waren (sogenannte tintinnabula), auch zur Vertreibung böser Geister.

130 So die Koranübersetzung von A. Khoury, Gütersloh 1987. Die Bedeutung von arabisch safīh ist derjenigen von hebräisch petî ähnlich (vgl. die Belege in den Suren 4,28; 8,66 u. ö.; bezeichnenderweise sind meistens Normbegabte gemeint, und es fehlen Androhungen von Sanktionen gegen solche Toren). – Das Wort daʿīf, das in 2,282 gleich anschliesst, meint jemanden, der seiner Sinne noch nicht oder nicht mehr mächtig ist, und wird von Khoury an dieser Stelle mit «hilflos» übersetzt.

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die Werke Gottes an ihm offenbar werden» (Joh 9,3).131 Diese Haltung Jesu darf ebenfalls gegenüber Menschen mit einer geistigen Behinderung Geltung beanspruchen, auch wenn das in den Texten nicht eigens erwähnt wird.

Anders verhält es sich in der nachbiblischen Schrift der sogenannten Thomas-Akten (ca. 200 n. Chr.), deren Aussagen erheblich von jenen in den neutestamentlichen Schriften abweichen. Denn diese apokryphe Apostel-geschichte stammt aus einer christlichen Nebenströmung, welche das Ideal einer absoluten sexuellen Enthaltsamkeit hochhielt. Um den Wert solcher Askese zu unterstreichen, gelangt der Verfasser zum erstaunlichen Urteil, dass sowieso die meisten gezeugten Kinder «entweder mondsüchtig (d. h. epileptisch?) oder halb dürr oder gebrechlich oder taub oder sprachlos oder gelähmt oder dumm (griechisch mōros)» würden; und falls sie gesund wären, so seien sie untauglich und auf abscheuliche Werke ausgerichtet.132 Hier beobachten wir eine Kinderfeindlichkeit, die Jesus fremd war. Mit ihr verbunden erscheint auch eine extreme Abwertung der Kinder mit einer (körperlichen oder geistigen) Behinderung, wie sie im Neuen Testament und im sonstigen frühen Christentum nicht zu beobachten ist.

Eine Eigentümlichkeit der hebräischen Sprache

Dass die biblischen Texte so deutlich einer Verspottung oder Gering-achtung von behinderten Menschen Widerstand entgegensetzen, ist be-deutsam. Dieser Widerstand war offenbar nötig gegenüber einer landläufig drohenden Geringschätzung, die sich vielleicht auch an einem eigenartigen hebräischen Sprachphänomen beobachten lässt: Das hebräische Wort kĕsîl, das je nachdem einen normbegabten «Toren» oder einen Menschen mit einer geistigen Behinderung bezeichnet, ist eine Sprachbildung vom Wortstamm K-S-L. Durch Vertauschung der beiden ersten Konsonanten gibt es auch den Wortstamm S-K-L, und zwar mit derselben Bedeutung «Tor»: hebräisch sākāl, babylonisch saklu (und weitere verwandte semitische Sprachen).

Die Ursache dieses aussergewöhnlichen Phänomens, das in der hebräischen Sprache einmalig ist, konnte bisher nicht geklärt werden. Könnte es sein, dass die hebräische Sprache mit ihrem exklusiven Wort-stamm K-S-L eine künstliche Vertauschung von K und S vorgenommen hat,133

131 Siehe dazu unten S. 127–128.132 Kap. 12; deutsche Übersetzung in W. Schneemelcher (Hg.), Neutestament-

liche Apokryphen, Band 2, Tübingen 6. Aufl. 1997, S. 308.133 Die ursprüngliche Bedeutung des Wortstamms K-S-L war sowohl im

Hebräischen wie in verwandten semitischen Sprachen wohl eine andere (vgl. hebräisch kesel und babylonisch kislu in der Bedeutung «Lende»). – Eine ähnliche Vertauschung liegt vielleicht vor im Namen von Josuas Begräbnisort Timnat-cheres /

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um so die Sprachstörung darzustellen, welche durch eine Hörbehinderung oder eine cerebrale Lähmung verursacht ist? Im Schweizerdeutschen gibt es dazu ein vergleichbares Phänomen: Zu meiner Jugendzeit sagte man anstatt «taubstumm» häufig «staub-dumm» und drückte damit sowohl die ungeschickte Aussprache als auch die vermutete Dummheit von Menschen mit einer massiven Hörbehinderung aus.

Es hat seine besondere Bedeutsamkeit, dass sich sowohl jüdische, christ-liche als auch islamische Spitzenvertreter dafür einsetzen, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung nicht geringgeschätzt oder für fremde Zwecke instrumentalisiert werden. Dazu passt, dass alle drei monotheistischen Religionen ebenfalls ihren eindeutigen Widerstand anmelden, wenn es um die Tötung von Neugeborenen geht.

11. Prostitution

Ezechiels kühne allegorische Erzählung vom ausgesetzten weiblichen Säug-ling, der vom Gott Israels gefunden und aufgezogen wird, aber dann zur Prostituierten wird (Ez 16), musste bei denen, die Ezechiels Erzählung hören und verstehen sollten, ein Wissen um die hier angesprochene Problematik voraussetzen. Gehörte dazu auch, dass Ausgesetzte im späteren Verlauf ihres Lebens tatsächlich zu Prostituierten werden? Auf den ersten Blick erscheint dies eher weit hergeholt. Doch Nachrichten aus Nachbarkulturen lehren uns etwas anderes:

Justinus, der den christlichen Glauben nicht nur in seinen Schriften, sondern auch durch seinen Märtyrertod in Rom bezeugt hat (ca. 165 n. Chr.), begründet seine vehemente Ablehnung der Kindesaussetzung mit erstaunlichen Argumenten: Wer als Ausgesetzter überhaupt überlebe, werde fast ausnahmslos zur Unzucht angeleitet – gleichgültig, ob Mädchen oder Knabe.134 Wie die Aufzucht von Schafen oder Ziegen würden Kinder (ge-meint sind hier Findelkinder) zum späteren Zweck der Prostitution auf-gezogen. Darum riskiere jeder Mann, der ein Bordell besuche, ahnungslos Inzest mit seiner früher ausgesetzten Tochter zu begehen.

Was bei Justin nach rhetorischer Übertreibung tönt, erweist sich leider als eine kulturübergreifende Realität, die in unterschiedlichsten Quellen nach-weisbar ist. Aus Griechenland ist eine Gerichtsrede gegen die Prostituierte

Timnat-serach (Ri 2,9; Jos 24,30), wo ḥeres «Sonne(ngottheit)» als heidnisch ver-dächtigt und durch seraḥ «stinkend» ersetzt worden sein könnte.

134 Apologie I 27–29; vgl. C. Tuor, Kindesaussetzung, S. 262–295 zu Justin und inhaltlich verwandten christlichen Stimmen aus dem 2. und 3. Jahrhundert.

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Neaira erhalten und orientiert über deren Biographie:135 Neaira wurde im Mädchenalter, wie manche ihrer Berufskolleginnen, als Sklavin von einer Bordellwirtin aufgekauft, welche deren weibliche Reize im Blick auf eine zukünftige Laufbahn als Prostituierte ausbildete. Für die Bordellwirtin war dies eine gute finanzielle Investition, denn der Marktwert einer Freien (oder Freigekauften) war bedeutend höher als derjenige einer Sklavin. Neaira erlebte dann eine steile Karriere nach oben – und später einen stetigen Niedergang, als ihre Schönheit verblüht war und man es wagen konnte, sie in einem Wust von Gezänk vor Gericht zu ziehen.

Ähnliche Bemerkungen finden sich über ausgesetzte Kinder in lateinischen Theaterstücken; und noch in der mittelalterlichen Gesetzessammlung des Urschwabenspiegels findet man die Bestimmung, dass ein Kind aus Armutsgründen zwar verkauft werden dürfe, aber nicht an ein Hurenhaus.136

Ezechiels allegorische Erzählung – sozusagen «vom Findelkind zur Prostituierten» – weist demnach einen breiteren und realistischeren Hinter-grund auf, als man zunächst annehmen möchte. Umso kühner erscheint, was der Prophet damit gleichnisartig über den Gott Israels und dessen Tun an Jerusalem sagen will: Jerusalem wird dargestellt als eine Stadt, die – was historisch zutrifft – von nichtisraelitischen Eltern abstammt (Ez 16,3) und von diesen im Stich gelassen worden ist. Der Gott Israels hat sich aus Er-barmen dieser Stadt angenommen wie ein Pflegevater; doch all seine liebe-vollen Bemühungen fruchten schlussendlich nichts, sondern die Pflege- bzw. Adoptivtochter wird mit Eintritt ins Erwachsenenalter eine Prostituierte, die sich mit allen Männern – d. h. mit fremden Gottheiten – einlässt und damit ihren ursprünglichen Wohltäter bitter enttäuscht.

Obwohl zwar über das Schicksal von Menschen mit einer geistigen Be-hinderung die Quellen schweigen, spricht vieles für die Befürchtung, dass solche Menschen zu denen gehörten, die sich besonders schlecht gegen sexuelle Übergriffe wehren konnten – oder gar meinten, nur dank ihrer Sexualität von ihrer Umgebung akzeptiert zu werden. Ein alttestamentlicher Text gibt uns einen Hinweis: Der Prophet Amos protestiert gegen diejenigen, die «im Staub der Erde nach dem Kopf der Hilflosen treten und die sozial

135 Text und Übersetzung von K. Brodersen in Antiphon, Gegen die Stief-mutter, Darmstadt 2004, S. 68–69.

136 Belege bei J. Boswell, Kindness, S. 96 (mit Anm. 4), 112–113 und 326 (mit Anm. 13). Weitere antike Quellen nennt E. Koskenniemi, Exposure, S. 129–133. – Bereits in römischen Sklavenverkaufsverträgen findet sich häufig die Klausel ne serva prostituatur, welche verbietet, dass der Käufer die Sklavin an ein Bordell weiterverkauft; siehe Th. McGinn, Prostitution Sexuality and the Law in Ancient Rome, New York 1998, S. 288–319. Aus weiteren Quellen ist auch der umgekehrte Fall ersichtlich, dass männliche Sklaven mit einer geistigen Behinderung von ihrer Herrin sexuell verwendet wurden (Philogelos 251; Martial VI 39 und XII 93).

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Gedrückten (von ihrem Rechtsanspruch) abdrängen», und bringt unmittel-bar darauf ein konkretes Beispiel: «Ein Mann und dessen Vater gehen zum selben Mädchen (naʿărâ)» und entweihen so Gottes heiligen Namen (Am 2,7). Es ist durchaus denkbar, dass unter diesen Mägden, die von ihrem Arbeitgeber wirtschaftlich abhängig waren, ebenfalls solche mit einer geistigen Behinderung gehörten. Sie riskierten, von Mitgliedern der Arbeit-geberfamilie oder von dessen Knechten als sexuelles Freiwild missbraucht zu werden. Letzteres wird im Buch Ruth als ernsthaftes Risiko erwähnt.137 Umso entscheidender ist, dass die Verantwortlichkeit des Arbeitgebers sich in der Ruth-Erzählung auch auf die Schaffung von Rahmenbedingungen erstreckt, welche die sexuelle Integrität seiner Arbeiterinnen schützen.

12. Verding- oder Adoptionsverhältnis

Beobachtungen aus dem 20. Jahrhundert

Zwar kommen Adoptionen auch heute unter kinderlosen Elternpaaren vor, und das mannigfache Leiden früherer Verdingkinder wird end-lich aufgearbeitet. Trotzdem wird die öffentliche Meinung nicht den komplexen Verhältnissen der letzten hundert Jahre gerecht, geschweige denn denjenigen der vergangenen Jahrtausende. Damit es nicht zu Fehl-beurteilungen aus einer verengten Sicht kommt, sollen zunächst zwei oft übersehene Realitäten der Situation zu Beginn des 20. Jahrhunderts skizziert werden.

Zum einen wurden infolge Armut – beispielsweise nach Verlust eines arbeitsfähigen Vaters oder einer Mutter, oder überhaupt wegen zu vieler Geburten – Familien auseinandergerissen, so dass Kinder verdingt, d. h. einer fremden Familie als Arbeitskräfte übergeben werden mussten; zu-weilen entstanden daraus Adoptionen. Zum andern konnten Kleinbauern nur dank der Gratisarbeit ihrer Kinder genügend produzieren, um selber überleben zu können; wer kinderlos blieb und sich einen Knecht oder eine Magd finanziell nicht leisten konnte, brauchte daher ein oder zwei Verding- oder Adoptivkinder, um selber über die Runden zu kommen.

In Bezug auf die menschliche Qualität eines konkreten Verding- oder Adoptionsverhältnisses müssen wir mit einer grossen Bandbreite von guten und schlechten Beziehungen rechnen. Die heutige Tendenz, Verdingungen schlecht und Adoptionen besser zu bewerten, wird den komplexen Verhält-nissen jedenfalls nicht gerecht; im konkreten Einzelfall war die menschliche

137 Vgl. Rut 2,9–15 und 3,10.

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Qualität für die Betroffenen wichtiger als die juristische Form. Aus diesem Grund, und auch weil die juristischen Bedingungen in den alten Texten nicht immer klar sind, werden im Folgenden Verdingung und Adoption gemeinsam betrachtet.

Altes Testament

Auch in Israel war es selbstverständlich, dass die Familien ihre Kinder schon früh zur Arbeit heranzogen. Archäologische Knochenfunde zeigen z. T. er-schreckende gesundheitliche Fehlentwicklungen aufgrund von Kinderarbeit (Tragen grosser Lasten, chronische Schwerarbeit).138 In Notzeiten musste die Arbeitskraft von Kindern zudem nach auswärts verkauft werden.139 Üblicherweise wird dies als Verkauf in die Sklaverei bezeichnet, doch ist die Grenze zwischen Sklaverei und einem Angestelltenverhältnis fliessend. Daher kann der hebräische Begriff ʿebed mit «Sklave» oder mit «Knecht, Diener» übersetzt werden; er meint in jedem Fall einen «Abhängigen» (so wird z. B. auch ein königlicher Minister ʿebed genannt).

Damit soll der Verkauf israelitischer Kinderarbeit keinesfalls schön-geredet werden. Wie drückend dies empfunden werden konnte, wird im Buch Nehemia deutlich:140 Der Wiederaufbau der zerstörten Stadtmauer Jerusalems in der nachexilischen Zeit benötigte die Mitarbeit der Be-völkerung. Dieser Frondienst geschah während der Erntezeit, die eigentlich dringenden landwirtschaftlichen Aktivitäten hätte dienen müssen. Es kam zu heftigen Klagen der Bevölkerung,141 womit sich dann der jüdische Statt-halter Nehemia, der von der persischen Obrigkeit eingesetzt worden war, auseinandersetzen musste (Neh 5,1–13): Aus Nahrungsmangel und wegen der hohen Abgaben ans Perserreich waren viele Kleinbauern genötigt, ihr Land an reichere Volksgenossen zu verpfänden, so dass sie sozusagen zu deren Pächtern wurden. Als nächster Schritt kam der Verkauf der Arbeits-kraft, zuerst der Töchter, dann der Söhne. Bezeichnend ist nun die deut-liche Wertung durch die verzweifelten Betroffenen: «Wir müssen unsere Söhne und Töchter zu Abhängigen erniedrigen,142 ohne etwas dagegen tun zu können, und unser Landbesitz gehört anderen.» Nehemia setzte sich

138 U. Hübner, Sterben überleben leben, S. 60.139 Die Belege sind gesammelt bei A. Michel, Gewalt, S. 57–58.140 Konkrete Interpretationen von Neh 5 bei E. Gerstenberger, Leviticus, S. 351,

und R. Kessler, Sozialgeschichte, S. 144–147. – Eine eindrücklich sprechende meso-potamische Analogie schildert C. Zaccagnini, War and Famine at Emar, Orientalia 64, 1995, S. 92–109.

141 Ausdrücklich werden dabei auch die Frauen genannt; die Formulierung «das Volk und ihre Frauen» (Neh 5,1) ist innerhalb des Alten Testaments einmalig.

142 Das hebräische Verbum kābaš hat den Sinn von «unterwerfen,

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dann energisch und tatkräftig für die ärmeren Familien ein, trat damit aber den Reicheren tüchtig auf die Zehen und erwarb sich neue Feindschaften.

Ob auch Familienmitglieder mit einer geistigen Behinderung verkauft wurden, beantwortet Neh 5 zwar nicht. Doch lässt der prioritäre Verkauf der Töchter vermuten, dass die arbeitsstärksten Familienmitglieder am längsten in der Familie zurückbehalten wurden.143 Daraus könnte man schliessen, dass in einer Notsituation gerade Töchter mit einer geistigen Behinderung vermutlich früher weggegeben wurden.

Umgekehrt wird es sich verhalten haben, wenn ein Gläubiger zu einer zahlungsunfähigen Witwe kommt und gerade ihre arbeitskräftigen Söhne holt, damit diese durch ihre Arbeitskraft die bestehende Schuld abzahlen (2Kön 4,1). Hier sind natürlich die produktivsten Familienmitglieder am begehrtesten, weil am wertvollsten. Diese Erzählung zeigt übrigens, wie der Schülerkreis des Propheten Elischa selber zur Schicht der Armen ge-hört, wo der Tod eines Vaters die Hinterbliebenen in existenzzerstörende Schulden treiben kann.144 Mehrere Elischa-Erzählungen beleuchten die Zustände dieses Milieus der Armen (2Kön 4,38–41; 6,5), wobei Elischa selber aus einer reicheren Schicht stammt (1Kön 19,19) und auch Kontakte zu ausländischen Königen unterhält (2Kön 8,7–15).

Adoptionen waren in Israel nicht verbreitet. Am ehesten könnte die Stelle Est 2,7.15 so verstanden werden. Doch bleibt unklar, ob die Vollwaise Ester von ihrem Onkel Mordochai nur in dessen Haus aufgenommen oder regelrecht adoptiert wurde; Letzteres könnte auf mesopotamische oder hellenistische Gepflogenheiten zurückgehen. Jedenfalls gab es in Israel deutliche Bemühungen, auftauchende soziale Probleme innerhalb der Grossfamilie zu regeln.145 Erbrechtliche Verschiebungen, wie sie bei einer Adoption erfolgen, hätten das Sippensystem gestört.

Mesopotamien

In Mesopotamien hingegen waren Adoptionen mit erbrechtlichen Folgen sehr häufig. Bereits seit dem frühen 2. Jahrtausend sind detaillierte Gesetzes-regelungen bekannt.146 Ferner haben sich zahlreiche Privatverträge von

niederdrücken» (z. B. 2Sam 8,11; Jer 34,11–16; 2Chr 28,10; in sexuellem Sinn Est 7,8; vgl. noch Gen 1,28).

143 Es ist vielleicht kein Zufall, dass das Gebot Ex 21,7 zwar den Verkauf von Töchtern regelt, aber etwas Entsprechendes betreffend verkauften Söhnen fehlt.

144 In Mt 18,25 (Schalksknechtsgleichnis) verlangt der Gläubiger sogar den Verkauf sämtlicher Familienmitglieder, weil die Schuld riesengross ist.

145 Vgl. Gen 48,5.14–20; Lev 25,47–49; Dtn 25,5–10; Rut 3–4; Mk 12,19–22.146 Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Band I, S. 36; 66–67 (Codex

Hammurabi); 81.

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Adoptionen aus allen Zeitepochen erhalten.147 Dabei wird ein breites Spektrum von Motivationen, die zu einer Adoption führten, sichtbar. Kinderlose adoptierten jemanden als zukünftige Arbeitskraft; dereinst sollte diese – als pflegende Frau oder als arbeitender Mann – deren Alters-versorgung bis zum Tod und die religiösen Riten danach sichern. Zudem sollte ein männlicher Adoptierter den Namen der Familie weiterführen. Je nachdem erhofften sich die Adoptierenden auch eine spätere Heirat mit einer jüngeren Frau oder sahen diese vor als zukünftige Ehefrau für ihren leiblichen Sohn, d. h. auch als willfährige (weil dankbar-abhängige) Schwiegertochter und Pflegerin für ihr eigenes Alter.148 Im Weiteren gab es fiktive Adoptionen zu erbrechtlichen und geschäftlichen Zwecken. Und Sklaven mit eigenen Kindern adoptierten eine Arbeitskraft, um sie später gegenüber ihrem Herrn als Ersatzperson einzutauschen, damit stattdessen ihr eigener Nachkomme aus dem Sklaven- oder Angestelltenverhältnis freigekauft werden konnte.149

Die Motive der leiblichen Eltern waren damit nicht identisch: Die Weg-gabe zur Adoption geschah in unterschiedlichen Notsituationen, vor allem wegen Armut oder illegitimer Kindschaft. Adoptionen im Säuglingsalter wurden oft mit einem Säugungsvertrag verbunden, so dass die leibliche Mutter ihr Kind zunächst noch selber säugte (oft gegen Entgelt) und erst nach Abschluss dieser Phase an die Adoptiveltern abgab; die analoge Situation bei Moses Mutter, die ihr Kind selber säugte und erst später der Pharaonenprinzessin übergab (Ex 2), ist auffällig. Im Weiteren ist erkennbar, dass die verarmte Mutter oft durch Vertragsdetails versuchte, das unter den gegebenen Umständen Bestmögliche für die Zukunft ihres Kindes heraus-zuschlagen; zum Beispiel soll das Kind nicht lebenslange Sklavin werden, sondern nach dem Tod der Adoptiveltern frei sein.150

Auch Findelkinder wurden zu diesen Zwecken relativ oft adoptiert. Wie weit dabei auch humanitäre Überlegungen mitspielten, wird aus den Dokumenten nicht deutlich. Eine grosse Rolle spielt hingegen die vertrag-liche Garantie, dass die leiblichen Eltern – gleichgültig, ob sie zur Zeit der

147 Siehe vor allem C. Wunsch, Findelkinder, S. 174–244; ferner K. Radner, Privatrechtsurkunden.

148 Anders K. Radner (Privatrechtsurkunden, S. 138–141): Sie vermutet, jedoch ohne Gründe angeben zu können, dass Knaben zur Sicherung der Erbfolge adoptiert worden seien, Mädchen hingegen aus humanitären Gründen, um diese aus einer schwierigen Situation zu retten.

149 Wenn Sklaven eigene Kinder bekamen, war ein solches Kind Eigentum des Herrn und blieb daher lebenslang dessen Sklave. Die Eltern konnten jedoch ihr Kind freikaufen, indem sie ihrem Herrn einen Ersatzsklaven stellten, den sie zuvor adoptiert und aufgezogen hatten.

150 C. Wunsch, Findelkinder, S. 189 und 191.

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Adoption bekannt waren oder nicht – später keinen eigenen Anspruch auf die unterdessen begehrenswerte Arbeitskraft anmelden können. Zu den Adoptionsverträgen von Kleinkindern gehört zuweilen der Fussabdruck des Kindes (Abb. 12);151 er diente vielleicht der Identitätssicherung oder hatte eine magische Bedeutung. Einmal ist ein solcher Vertrag sogar auf ein Tonmodell in Form eines Kinderfusses eingeschrieben.152

151 C. Zaccagnini, Feet of Clay at Emar and Elsewhere, Orientalia 63, 1994, S. 1–4.

152 S. Franke u. G. Wilhelm, Eine mittelassyrische fiktive Urkunde zur Wahrung des Anspruchs auf ein Findelkind, Jahrbuch des Museums für Kunst und Gewerbe Hamburg 4, 1985, S. 19–26.

Abb. 12: Fussabdruck auf Adoptionsvertrag

Mit aller Vorsicht kann man versuchen, das Leben eines adoptierten Findelkindes weiter zu verfolgen. Am ehesten möglich ist dies für die be-sonders gut erschlossene neuassyrische und neubabylonische Zeit, die sich mit der Epoche der israelitischen Propheten überschneidet. Menschen mit Personennamen wie «Der-vor-das-Maul-eines-Hundes-Geworfene» (oder «Der-aus-dem-Maul-Herausgerissene»), was nur bei einem Findelkind sinnvoll erscheint, sind meistens Sklaven, Tempelabhängige oder land-wirtschaftliches Personal, welches bezeichnenderweise ohne Angabe eines Ahnherrennamens aufgeführt wird. Doch zeigen vereinzelte Dokumente auch die Möglichkeit des Aufstiegs in vornehme städtische Geschlechter, weswegen wir hier mit den Früchten einer Adoption rechnen dürfen.153 Ähnliches gilt für jemanden, der Sulāia («Der-von-der-Strasse») heisst und

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als Gebildeter in der königlichen Bibliothek arbeitet.154 Eine solch ein-zigartige Karriere steht im Gegensatz zum Schicksal der weiteren sechs Personen, die allein aus neuassyrischer Zeit mit einem entsprechenden Namen dokumentiert sind;155 mit Besorgnis muss man zudem an die grosse Dunkelziffer von Trägern des gleichen Namens denken, die in keiner Ur-kunde erwähnt werden, weil ihr Leben am Rande der Gesellschaft unter minimalsten Lebensumständen jegliche Erwähnung in einem Dokument ausschloss.156

Geistige Behinderung

Ob auch Menschen mit einer geistigen Behinderung unter den Adoptierten waren, darüber schweigen die Dokumente weitgehend.157 Doch scheint das folgende Szenario realistisch: Wer manuell arbeiten konnte und willfährig war – und beides können wir bei Menschen mit geistiger Behinderung häufig voraussetzen –, war als Sklave oder als zukünftige Schwiegertochter und Alterspflegerin einsetzbar und darum auch adoptierbar.

In Israel galt das soziale Auffangnetz der Grossfamilie als genügend hilf-reich, so dass eine ausserfamiliäre Adoptionslösung als wenig dringlich er-schien.158 Umso mehr haben wir damit zu rechnen, dass die Arbeitskraft von Menschen mit einer (leichteren) geistigen Behinderung von ihren Familien verkauft bzw. verdingt wurde, damit diese Menschen – unter ähnlichen

153 C. Wunsch, Findelkinder, S. 182–183.154 Prosopography of the Neo-Assyrian Empire, Band 3/1, S. 1157: scholar. –

Verwirrend ist das Bild beim Namen Ezbu, weiblich Ezibtu («Verlassen, aus-gesetzt»): Unter den insgesamt 17 neuassyrischen Menschen finden wir eine Frau mit Vermögen, einen Landbesitzer und den Butler eines Prinzen; zudem heisst im Alten Testament ʿAzubā («die Verlassene») die Frau eines Königs. Es erscheint unwahrscheinlich, dass diese alle einmal Ausgesetzte waren; denkbar ist ebenfalls, dass der Name auf den Tod ihres Vaters vor ihrer Geburt hinweist. Siehe ferner die (ursprünglich westsemitischen) Namen Sakahu, Sakahâ und Sakūhu («Findling»; S. 1065 und 1068) mit insgesamt fünf Namensträgern.

155 Dazu kommen aus neubabylonischer Zeit Dutzende von Personen namens Šulāia und Suqāiu (aufgelistet im Buch von K. Tallquist, Neubabylonisches Namen-buch, Helsinki 1905).

156 Es ist zu vermuten, dass ausgesetzte Kinder in verschiedenen Kulturen vor allem aus der eigennützigen Motivation aufgelesen wurden, um sie als Sklaven arbeiten zu lassen, ohne zuvor einem früheren Herrn einen Kaufpreis bezahlen zu müssen.

157 Um einen sekundären Spitznamen handelt es sich wohl beim Truppen-kommandanten Sabbūru (Prosopography, S. 1058: «Simple, Childish»).

158 Anders (doch mit einem unpräzis definierten Begriff von Adoption) D. L. Bartlett, Adoption in the Bible in: M. J. Bunge u. a. (Hg.) The Child in the Bible, Grand Rapids 2008, S. 375–398.

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Voraussetzungen wie in Mesopotamien – in der Landwirtschaft oder im Pflegedienst ihren neuen Arbeitgebern dienen sollten.

13. Schenkung an den Tempel

Dass Menschen an ein Heiligtum «geschenkt» werden, ist als ein kultur-übergreifendes Phänomen seit Jahrtausenden (und auch lange noch in der katholischen Kirche) vielfach belegt. Im Alten Testament denken wir zunächst an Samuel, dessen Mutter das lang ersehnte Kind schon vor der Zeugung ihrem Gott Jahwe als «lebenslängliches Geschenk» gelobt und es später dem Priester Eli am Heiligtum in Schilo übergibt, als sie das Kind abgestillt hat, was in Israel mit ca. drei Jahren der Fall war (1Sam 1). Mit dieser Schenkung bricht der Kontakt zwischen Mutter und Kind nicht ab: Die Familie besucht Samuel regelmässig, wenn sie alljährlich nach Schilo kommt, und die Mutter bringt jeweils ein neues Kleid für ihn mit (1Sam 2,19). Samuel dient «vor dem herrn» in Schilo (1Sam 2,18).

Dasselbe hebräische Wort für «schenken» (nātan in 1Sam 1,11) steckt ebenfalls im Begriff nĕtînîm («Geschenkte»), welcher Menschen bezeichnet, die dem Tempel in Jerusalem «geschenkt» worden sind. Von Nachkommen solcher nĕtînîm erfährt man vor allem in einer Liste von Rückwanderer-Familien, die aus dem babylonischen Exil in die frühere Heimat nach Jerusalem remigrierten (Esra 2,43–54 = Neh 7,46–56). In den meisten Bibelübersetzungen werden die nĕtînîm, über deren genauere Funktion sich die biblischen Quellen nur spärlich äussern,159 als «Tempeldiener» (oder Tempelsklaven) bezeichnet. Ein Teil der nĕtînîm hat zudem eine ausser-israelitische Abstammung; dazu gehört wohl auch die Charge der (ursprüng-lich kanaanäischen) «Holzfäller und Wasserschöpfer» (Jos 9,21–27; vgl. Dtn 29,10), die von Generation zu Generation Diener am Heiligtum bleiben.

Betrachten wir zuerst die reicher dokumentierte Situation in Mesopotamien, bevor wir uns dem Alten Testament zuwenden.

Mesopotamien

Seit dem dritten Jahrtausend v. Chr. erwähnen Keilschrifttexte in sumerischer und später auch in babylonisch-assyrischer Sprache die Schenkung von Menschen an ein Heiligtum. Bei ganz frühen Dokumenten fällt auf, dass es sich dort vor allem um Frauen und Kinder handelt. Sie arbeiten in

159 Vgl. Esr 7,24; 8,17.20; Neh 3,26.31; 10,29; 11,3.21; 1Chr 9,2.

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tempeleigenen Webereien und erhalten als Entlöhnung «Kost und Logis». Man hat die entsprechenden Versorgungslisten analysiert und heraus-gefunden, wer hier arbeitet: Witwen, Waisen, Alte, alleinstehende Frauen, Menschen mit Seh- und Hörbehinderungen, aber auch Kriegsgefangene aus dem Ausland.160 Viele dieser Menschen werden vermutlich zu einer unterdurchschnittlichen Arbeitsleistung fähig gewesen sein. Ob der Tempel mit diesen Menschen, für die offenbar sonst niemand sorgen wollte, ein lukratives Geschäft machte oder nicht, wird aus den Dokumenten nicht deutlich. Für die betroffenen Menschen, die dem Tempel geschenkt worden waren, war das dortige Leben vermutlich kein Honiglecken; denn die Namenslisten für die Essensrationen der Arbeitenden erwähnen viele tote, kranke und entlaufene Personen.

Auch im zweiten und ersten Jahrtausend v. Chr. blieben Schenkungen von Ländereien, Tieren und Menschen an den Tempel weit verbreitet – samt all den bereits angedeuteten Problemfeldern wie dem Weglaufen der «geschenkten» Menschen.161 Reichere Leute schenkten vor allem ihre Sklaven (etwa dann, wenn deren Arbeitsfähigkeit nachliess?) oder sie ver-machten sie testamentarisch dem Tempel für die Zeit nach ihrem Ab-leben.162 Ärmere Leute verschenkten Familienmitglieder; dass sie dazu aus wirtschaftlichen Gründen mehr oder weniger gezwungen waren, wird aus einzelnen Dokumenten deutlich.163 Gut denkbar ist, dass – neben unehe-lichen oder verwaisten Kindern – besonders auch Familienmitglieder mit einer Behinderung an den Tempel übergeben wurden. Ebenso ist vorstell-bar, dass der Tempel solche Geschenke zwar nicht ablehnen konnte, aber

160 I. Gelb, The Arua Institution, Revue d’Assyriologie 66, 1972, S. 1–32, bes. S. 10. Vgl. J. Renger, Kranke, Krüppel, Debile – eine Randgruppe im Alten Orient?, in: V. Haas (Hg.), Aussenseiter und Randgruppen. Beiträge zu einer Sozialgeschichte des Alten Orients, Xenia 32, Konstanz 1992, S. 113–126, bes. S. 123–124.

161 Siehe B. Menzel, Assyrische Tempel. Untersuchungen zu Kult, Ad-ministration und Personal, Rom 1981, S. 23–33; J. Kohler u. a., Assyrische Rechts-urkunden, S. 38–40; R. P. Dougherty, The shirkûtu to babylonian deities, New Haven 1923=1980; M. Dandamaev, Slavery in Babylonia, Illinois 2. Aufl. 1984, S. 469–557.

162 Zur Problematik vgl. C. Wunsch, Findelkinder, S. 209. – Die vom neu-assyrischen König geschenkten Menschen scheinen allerdings ein breiteres soziales Spektrum aufzuweisen (S. Svärd, Dedicated Women of Neo-Assyrian Temples, am IOSOT-Kongress 2010 in Helsinki, unpubliziert).

163 R. Dougherty, shirkûtu, S. 33–34 (eine Witwe schenkt der Göttin von Erech während einer Hungersnot zur Zeit des Königs Nabunid zwei kleine Söhne für lebenslänglich; sowie ein zweites Beispiel). – Eine entfernte Analogie ist in der griechischen Mythologie die Gestalt des Ion, des Sohnes von Apollo und der sterb-lichen Mutter Kreusa, der im Heiligtum von Delphi aufwuchs (vgl. die gleichnamige Tragödie von Euripides).

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gleichzeitig damit überfordert war, hinreichend für das Wohl der ihm überlassenen Menschen zu sorgen.

Klöster im Mittelalter

Konkretere Einblicke in diese Problematik bekommen wir durch die Schenkungen an christliche Klöster im Mittelalter.164 Die geschenkten Kinder wurden im abendländischen Mönchstum zu normalen Mönchen und Nonnen; aus ihnen wurde der Nachwuchs für die Klöster rekrutiert. Unter ihnen befinden sich so berühmte (und später heilig gesprochene) Leute wie der Germanen-Missionar Bonifatius und der Dogmatiker Thomas von Aquin. Ihre Eltern hatten kraft ihrer elterlichen Autorität bestimmt, sie im Kindesalter dem Kloster zu schenken, ohne dass die Kinder gegen die lebenslangen Konsequenzen des elterlichen Entscheids Einspruch hätten erheben können. Die entsprechende Bestimmung, die in aller Klarheit in der Klosterregel des Benedikt von Nursia (6. Jahrhundert) festgelegt ist,165 wurde – trotz zunehmenden Gegenstimmen – im ganzen Mittelalter offiziell nie aufgehoben. Zugrunde liegt der Gedanke des verdienstlichen lebens-langen Opfers (der Eltern und der Kinder) für Gott; darum werden die geschenkten Kinder «Oblaten» (d. h. Dargebrachte, Geopferte) genannt. Die Oblaten trugen wesentlich zur Entstehung einer christlichen Elite des Mittelalters bei.

Zu den geschenkten Kindern gehörten immer wieder auch Kinder mit einer deutlichen oder sogar gravierenden Behinderung, die dem Schutz der Klostermauern (sowie den dortigen Schulungsmöglichkeiten) anvertraut wurden. Ein prominentes Beispiel ist der auf der Bodensee-Insel Reichenau im 11. Jahrhundert lebende Mönch Hermannus Contractus (wörtlich «der körperlich Zusammengezogene»): Das Kind, das fast bewegungs- und sprechunfähig war – es litt an einer schweren cerebralen Schädigung oder an einer spinalen Kinderlähmung –, überlebte im Kloster trotz lebenslanger

164 Umfassend informieren: M. de Jong, In Samuel’s Image. Child Oblation in the Early Medieval West, Leiden 1996. M. Lahaye-Geusen, Das Opfer der Kinder. Ein Beitrag zur Liturgie- und Sozialgeschichte des Mönchtums im Hohen Mittel-alter, Altenberge 1991. – Anders verhielt es sich im östlichen Christentum, wo die geschenkten Kinder meistens lebenslange «Diener» blieben und Arbeiten ver-richteten, die an die Wasserschöpfer und Holzhacker in Jos 9 gemahnen. Siehe A. Papaconstantinou ΘEIA ΟΙΚΟΝΟΜΙΑ. Les actes Thébains de donation d’enfants ou la gestion monastique de la pénurie, in: Mélanges Dagron, Travaux et Mémoires 14, Paris 2002, S. 511–526.

165 Kap. 59; kirchengeschichtliche Einordnung bei A. de Vogüé, La règle de saint Benoît, Band 6 (Sources Chrétiennes 186), Paris 1971, S. 1355–1368. Ergänzend und korrigierend M. de Jong, In Samuel’s Image, S. 16–40.

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Schmerzen, ja wurde einer der führenden europäischen Gelehrten jener Zeit (Geschichtsschreibung, Musik, Mathematik und Astronomie).166 Und bei französischen Ausgrabungen fanden sich Überreste eines Augustiner-Chorherrn, der mit einer Spina bifida geboren worden war, als privilegierter Adliger aber – wohl dank guter Pflege – doch ein hohes Alter erreichte.167

Gerade in Adelskreisen war es üblich, behinderte Kinder zusammen mit einem Stück Land dem Kloster zu schenken. So zeigt etwa der Kloster-friedhof der Dominikanerinnen im elsässischen Sélestat für das 13. bis 18. Jahrhundert überdurchschnittlich viele Bestattungen von Nonnen, die seit Geburt an körperbehindert waren (der hohe Prozentsatz von 20% lässt aufhorchen).168 Für die Adelsfamilie war dies in mehrfacher Hin-sicht eine Entlastung. Was diese Schenkung den behinderten Menschen selber bedeutete, und ob sie den Ordensstand als Aufwertung ihres Lebens empfanden, erfahren wir nicht; vermutlich wird der Zufriedenheitsgrad ein breites Spektrum abgedeckt haben, wie dies heute auf Menschen zutrifft, die in einem Behindertenheim leben.

Kritische Stimmen

Bereits im 11. Jahrhundert klagt Ulrich von Cluny:

Diese heilige Einrichtung wurde korrumpiert durch die Gier der Eltern, die im Interesse ihrer Sippe dem Kloster alle buckligen, deformierten, dummen [!] und aussichtslosen Kinder zuwiesen …169

Und gleich zuvor:

Wenn sie ein Haus voll Kinder haben, oder wenn sie solche haben, die lahm oder verkrüppelt, taub oder stumm oder blind, bucklig oder leprös sind oder mit irgend einem Fehler, der sie in der Welt weniger wünschens-wert macht, so bringen sie diese dar als Mönche, zusammen mit den frömmsten Gelübden …

Einige Jahrzehnte später erlaubt Abt Petrus Venerabilis in Cluny die Auf-nahme von Oblaten mit körperlichen und geistigen Behinderungen nur

166 A. Borst, Mönche am Bodensee 610–1525, Sigmaringen 1978, S. 102–118.167 V. Delattre u. a., Décrypter, S. 177–179.168 V. Delattre u. a., Décrypter, S. 185–188. Dort auch Überlegungen zur

Spiritualität von Behinderung als Martyrium und vollkommenem Glaubensleben.169 J. Boswell, Kindness, S. 298; J. P. Migne, Patrologia Latina, Band 149, Paris

1863, Sp. 635–636 (siehe dort die krasse Formulierung solcher Behinderungen: semihomines vel ita semivivi, «Halbmenschen und sozusagen Halblebendige»). – Dieselbe Klage lässt sich schon mehr als ein halbes Jahrtausend früher bei Hierony-mus (Brief 130,6) nachweisen.

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noch bei ausdrücklicher Genehmigung durch den jeweiligen Abt.170 Und im 13. Jahrhundert klagt ein Pariser Bischof, dass Kinder «durch Eltern und Verwandte weggeworfen [!] werden», wie man «Kätzchen oder Schwein-chen, die von der Mutter nicht ernährt werden können» töte. Dies ge-schehe, um das Familienerbe für diejenigen, die in der Welt wirkten, nicht zu schmälern.171 Nicht in jedem Fall muss man von solch sachfremden Motivationen ausgehen; häufig verbanden sich wohl (edlere) Motivationen mit finanziellen Zwängen.172

Augrund des massiven Missbrauchs der Institution der Oblaten und der daraus folgenden Überlastung der Klöster wurden in den Städten des späteren Mittelalters vermehrt besondere Häuser für Findelkinder ins Leben gerufen. Diese Einrichtungen waren allerdings erst recht überfordert, da die tragende Klostergemeinschaft als Stütze fehlte; tragischerweise starben viele Kinder nach kurzer Zeit, und dadurch entstand wieder Platz für un-glückliche Neuankömmlinge.173

Israel

Dies führt uns zur Frage, wie viele «geschenkte» Menschen das Jerusalemer Heiligtum tragen konnte, war es ihnen doch wegen ihrer Behinderung nur möglich, eine eingeschränkte Arbeitsleistung zu erbringen. Zumindest in alttestamentlicher Zeit hatte Jerusalem als Zentrum eines armen Landes niemals dieselbe Wirtschaftskraft, wie wir sie bei den mesopotamischen Staatsheiligtümern voraussetzen dürfen: Diese waren die grössten Land-eigentümer, Wirtschaftsunternehmen, Banken (Tempelschatz!) und Arbeit-geber.174 Selbst wenn der Jerusalemer Tempel dies innerhalb seines Landes

170 J. Lynch, Simoniacal entry into religious life from 1000 to 1260. A social economic and legal study, Columbus/Ohio 1976, S. 43–44. Hier ist von stulti die Rede. Weitere Quellen bei S. Shahar, Childhood in the Middle Ages, London 1990, S. 184.

171 J. Lynch, Simoniacal entry, S. 42. 172 Ein prominentes Beispiel einer späteren Oblate ist die Adlige Katharina

von Bora (später Gattin von Martin Luther), die als Neunjährige von ihrem ver-armten und verwitweten Vater dem Kloster geschenkt wurde und als Mädchen von den dortigen privilegierten Bildungsmöglichkeiten profitierte. – Übrigens hatten auch meine Frau und ich eine Zeitlang erwogen, unseren Sohn in ein Kloster zu geben, weil wir beobachteten, dass er gerne Lieder sang und Gottesdienste feierte, hingegen keine Lust zu manueller Arbeit zeigte, wie er sie später einmal in einer geschützten Werkstätte verrichten sollte. Doch scheuten wir uns davor, ihn lebens-lang den Klosterbrüdern zuzumuten (von der jahrtausendealten Einrichtung der Oblation wussten wir damals noch nichts).

173 J. Boswell, Kindness, S. 418–427.174 I. Mendelsohn, Slavery in the Ancient Near East, New York 1949, S. 100.

Für Israel vgl. vielleicht Lev 27,1–7.

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auch gewesen sein sollte, war seine Wirtschaftskraft viel begrenzter, auch wenn sie im Vergleich zu jener einer einzelnen Familie immer noch be-trächtlich war.

Wenden wir uns nun erneut der alttestamentlichen Namensliste zu, welche die rückwandernden Familien nennt, deren Ahnherren einstmals als nĕtînîm dem Tempel «geschenkt» wurden (Esr 2,43–54). Auffälligerweise finden sich in dieser Liste überdurchschnittlich viele Namen, die sprach-lich auf eine Behinderung hindeuten: Da gibt es einen «Hinkenden» (Paseach), einen «Krummen» (Keros),175 einen «Gekrümmten» (Chakufa), einen «Taubstummen» (Charscha) und möglicherweise einen «Geringen an Geist» (Gachar). Dies fällt umso mehr ins Gewicht, als Behinderungs-bezeichnungen in israelitischen Personennamen sonst selten sind. Zudem ist der Bibelwissenschaft schon vor langer Zeit aufgefallen, dass die Sippen aus den nĕtînîm zahlenmässig viel dürftiger sind als andere rückwandernde Sippen.176 Es ist denkbar, dass diese Menschen mit (z. T. vererbbaren?) Be-hinderungen wirtschaftlich auf keinen grünen Zweig kamen und rascher starben, so dass die Zahl ihrer Nachkommen kümmerlich blieb.177

In diesem Licht dürfen wir nun auch die bereits weiter oben diskutierte Stelle Ez 45,18–20 über das Ungeschick eines petî sehen: Als Tempeldiener verrichteten vermutlich auch Menschen mit einer geistigen Behinderung einfache Hilfsarbeit. Wegen des Risikos, dass sie aus mangelndem Ver-ständnis und Ungeschick eine Verunreinigung des Tempels verursachen könnten, war eine spezielle, alljährlich stattzufindende prophylaktische Entsühnungsaktion vorgesehen, damit dadurch die kultische Reinheit des Tempels wieder hergestellt bzw. gewährleistet werden kann. Dies geschah wohl auch, um die Arbeit der Tempeldiener nicht ständig überwachen lassen zu müssen.178 Beachtenswert ist, dass zwei unterschiedliche Menschen-gruppen als potentielle Verunreiniger des Tempels genannt werden: in erster Linie Normbegabte mit dem Risiko eines unfreiwilligen «Versehens», erst in zweiter Linie ein geistig Unzurechenbarer (hebräisch petî).

175 Zur vorexilischen Erwähnung eines Kerositers in Arad siehe das vor-sichtige Urteil von J. Renz u. a., Handbuch der althebräischen Epigraphik, Band I, Darmstadt 1995, S. 383.

176 W. Rudolph, Esra und Nehemia, Handbuch zum Alten Testament, Tübingen 1949, S. 23.

177 Armut könnte ein weiterer Grund sein; für das europäische Mittelalter informiert J. Boswell (Kindness, S. 408–410), dass die Familien der Armen weniger Kinder hatten. Für Mesopotamien vgl. G. Galil, The Lower Stratum Families in the Neo-Assyrian Period, Leiden 2007, S. 347.

178 Ez 45 ist ein programmatischer Text im Blick auf einen zukünftigen Neu-bau des zur Zeit der Abfassung des Textes zerstörten Tempels. Wir wissen nicht, inwieweit die Bestimmungen auf eine Praxis im vorexilischen Tempel zurückgehen.

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Dass die nĕtînîm eine disparate Herkunft haben, zeigt sich daran, dass ausser Behinderungsbezeichnungen auch zahlreiche nichtisraelitische Namen vor-kommen (Esr 2,43–54).179 Es ist vorstellbar, dass Letztere z. B. auf versprengte Kriegsgefangene oder Kriegsflüchtlinge (gewiss ohne geistige Behinderung) zurückgehen.180 Denjenigen Sippen hingegen, die aus geschenkten Israeliten bestanden, gelang es wohl eher, im Laufe von Generationen zur Klasse der Leviten aufzusteigen; jedenfalls lassen sich einige Bibelstellen in dieser Richtung deuten.181 Dadurch wurde mit der Zeit immer unsicherer, ob die restlichen Sippen der nĕtînîm als israelitisch gelten durften; in den nachbiblischen Texten von Mischna und Talmud gehören die nĕtînîm zu den Gruppierungen, deren jüdische Identität als zweifelhaft gilt.182

14. Aufnahme zur Pflege

Eine humanitäre Motivation bei Verdingung und Adoption konnte in den alten Dokumenten bisher nicht nachgewiesen werden; dasselbe gilt auch bei der Schenkung an den Tempel. Anders verhält es sich hingegen mit besondern Pflegeverhältnissen, die im Neuen Testament und in frühchrist-lichen Schriften zutage treten. Jesus reagiert auf die Jünger, die für sich um die grössten Ehrenplätze in Gottes Reich rangeln, indem er ein Kind in ihre Mitte stellt und es als Zeichen des Schutzes umarmt – damals eine unübliche Geste gegenüber nichtverwandten Kindern (Mk 9,33–37). Das griechische Wort für «umarmen» (Mk 9,36; vgl. auch 10,16) setzt vermut-lich voraus, dass dafür Jesus zunächst selber auf die Knie gehen muss und sich so auf dieselbe Ebene wie das Kind begibt.183 Provokativ lenkt er die

179 J. Blenkinsopp, Ezra-Nehemiah, The Old Testament Library, London 1989, S. 90.

180 Für Mesopotamien (und Israel) siehe Belege in I. Mendelsohn, Slavery, S. 101–102 und 150 (Ende von Anm. 42).

181 Siehe nĕtûnîm in Num 3,9; 8,16–19; Esr 8,17 (Qere liest hier nĕtînîm). – Zuweilen wird vermutet, dass Kinder von der Familie direkt als Leviten versprochen bzw. geschenkt worden seien; vgl. L. E. Stager in Bulletin of the American Schools of Oriental Research 260, 1985, S. 27–28.

182 Beispiele: Mischna-Traktat Jebamot 2,4; 6,2; 8,3. – Bereits im alttestament-lichen Prophetenbuch Ezechiel wird kritisiert, dass man unbeschnittene Ausländer zu Arbeiten im Zusammenhang mit dem Opferdienst ins Heiligtum gebracht habe, was als Entweihung des Tempels gewertet wird (Ez 44,7–9 und vgl. W. Zimmerli, Ezechiel, Biblischer Kommentar 13/2, Neukirchen 1969, S. 1125–1126 mit Bezug auf die nĕtînîm).

183 So versteht M. Ebner das griechische Wort enangkalizesthai («in den ge-krümmten Arm nehmen»): M. Ebner, Kinderevangelium oder markinische Sozial-kritik? Mk 10,13–16 im Kontext, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 17, 2002, S. 315–336, bes. S. 334–335.

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Aufmerksamkeit der Jünger auf ein Kind, das offenbar als nicht besonders ehrenhaft gilt: «Wer eines von solchen Kindern aufnimmt, der nimmt mich auf (bzw. meinen himmlischen Vater)».184 Vergleichbares wird weder im Alten Orient noch im Alten Testament erwähnt.

Welche Art von Kindern hier Jesus meint, lässt sich nur vermuten. Am ehesten ist an Vollwaisen oder Findelkinder zu denken.185 Solche Kinder sollen von Mitgliedern der Gemeinschaft Jesu «aufgenommen» werden. Es ist dokumentiert, dass die christliche Gemeinde diese Aufgabe auch wahrgenommen hat. Der griechische Theologe Gregor von Nyssa (4. Jahr-hundert) erzählt, dass beim Tode seiner Schwester Makrina Menschen um ihre «Mutter und Ernährerin» trauerten; Makrina hatte sie «zur Zeit der Hungersnot von den Wegen aufgehoben, ernährt und erzogen».186 Und in der westlichen Kirche befürwortet wenig später Augustinus die christ-liche Taufe bei Kindern, die «von ihren Eltern grausam ausgesetzt, von heiligen Jungfrauen aufgelesen und zur Taufe gebracht werden». Augustinus qualifiziert das Tun der Jungfrauen mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37), was sich kaum allein auf die Ermöglichung der Taufe beziehen kann, sondern die weitere Betreuung der ausgesetzten Kinder mit einschliesst.

Etwas später, im 5. Jahrhundert, regelte ein Konzilsbeschluss die Rechte der Findelkinder und der Menschen, die bereit waren, sie aufzunehmen.187 Das sollte uns hellhörig machen: Es zeigt, dass ein Problem in einer grösseren Anzahl von Fällen vorhanden war, so dass eine Lösung dringlich wurde. Im vorliegenden Fall liegt die Lösung des Problems darin, dass die Rechte der Pflegeeltern geschützt werden sollen. Dies lässt annehmen, dass damals leibliche Eltern in einer sozialen Notsituation ihre Kinder aussetzten und sie später zurückholen wollten, wenn die akute Not vorüber war. Ohne einen Schutz der Pflegeeltern, denen die aufgenommenen Kinder ans Herz wachsen (und je nachdem auch wirtschaftlich unentbehrlich sind), wäre wohl niemand mehr bereit gewesen, ein ausgesetztes Kind aufzunehmen.

184 Oder liegt etwa der von Jesus hergestellte Gegensatz in der wenig attraktiven Aufgabe, die mit der Sorge um dieses Kind verbunden ist?

185 Diskussion der Argumente bei C. Tuor, Nochmals «Wer eines solcher Kinder aufnimmt». Ein Beitrag zur sozialgeschichtlichen Auslegung von Mk 9,35–37, in: G. Gelardini (Hg.), Kontexte der Schrift (Festschrift für E. Stegemann), Band I, Stuttgart 2005, S. 87–99.

186 Vita Macrinae 26,30.187 Zitate und Kommentierung in C. Tuor, Kindesaussetzung, S. 345. – Zum

Zusammenspiel von spätrömischen Kaisern und nachkonstantinischer Kirche siehe J. Evans Grubbs, Church State and Children. Christian and Imperial Attitudes Toward Infant Exposure in Late Antiquity, in: A. Cain u. a. (Hg.), The Power of Religion in Late Antiquity, Ashgate 2009, S. 119–131.

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Menschen mit einer geistigen Behinderung werden zwar in den erwähnten Quellentexten nicht explizit erwähnt. Doch das Ethos des «barmherzigen Samariters», dem der scheinbar Fernste und unter die Räuber Gefallene zum Nächsten wird, lässt es als wahrscheinlich erscheinen, dass man gerade verstossene Kinder aufnahm;188 zudem macht geistige Behinderung zuweilen besonders empfänglich für Glaubensinhalte.

15. Integration innerhalb der Sippe

Der Schmerz der Familie

Was im Familienleben abläuft, ohne etwas Aussergewöhnliches und Zu-kunftsweisendes zu sein, wird nur selten schriftlich festgehalten – dies gilt auch für die Schriftensammlung des Alten und Neuen Testaments. Umso hellhöriger wird man, wenn eher beiläufig auch etwas Alltägliches Er-wähnung findet. Dazu gehört der bereits oben erwähnte Vers:

Wer einen Dummkopf189 zeugt, dem ist es zum Kummer,und nicht freut sich der Vater eines Toren (nābāl). (Spr 17,21)

Der hier ausgesprochene Seufzer gilt dem Vater eines Sohnes, der vermut-lich mit einer geistigen Behinderung lebt. Wenn ein solches Kind hinter elterlichen Hoffnungen zurückbleibt, schmerzt das; auch heute machen Eltern in bestimmten Situationen diese Erfahrung. Dazu kommt die Scham gegenüber der Gesellschaft, besonders in einer vorindustriellen Zivilisation, welche noch erheblich stärker von allgemein anerkannten Normen be-stimmt ist. Sich über solche gesellschaftliche Normen ungestraft hinweg-zusetzen, ist (in begrenztem Ausmass) erst in einer individualistischen liberalen Kultur möglich. Ausserhalb der gesellschaftlichen Norm liegt der «Dummkopf».

Noch schlimmer ist es, wenn eine Behinderung zu Verhaltensauffällig-keiten führt, die als bösartig gelten oder so interpretiert werden. Letzteres könnte mit dem hebräischen Wort nābāl gemeint sein, das zuweilen mit grausamen Taten assoziiert erscheint;190 es erscheint im zweiten Glied des Parallelismus membrorum, das häufig eine Steigerung gegenüber dem ersten

188 Zu erinnern ist, wie Augustinus geistige Behinderung als etwas Defizitäres und Beklagenswertes bewertet, siehe unten S. 136.

189 Zu kĕsîl siehe oben S. 103 und 37.190 So z. B. Jes 32,5; Ps 14,1 und insbesondere das Substantiv nĕbālâ (Gen 34,7;

Ri 19,23–24; 2Sam 13,12 u. ö.).

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ausdrückt. Sehr rasch werden in einem solchen Fall die Eltern beschuldigt, in ihrer Erziehung versagt zu haben. Es ist daher besonders mutig, dass die israelitische Bildungsliteratur keine solchen Schuldzuweisungen macht und stattdessen ausdrücklich den Schmerz der Eltern anspricht – und ihn damit ernst nimmt.

Bemerkenswerterweise finden sich in der israelitischen Literatur noch zwei weitere Bemerkungen derselben Art:

Kränkung191 für den Vater ist ein dummer Sohn (ben kĕsîl)192

und Bitternis für diejenige, die ihn geboren hat. (Spr 17,25)

Und:

Die Scham eines Vaters liegt in der Zeugung eines Schulungsunfähigen;

eine (solche) Tochter wird (ihm) zum Nachteil. (Sir 22,3)193

In allen drei Sprüchen wird nicht blauäugig idealisiert: Angesichts einer (wohl schwereren) geistigen Behinderung werden Schmerz und Kränkung nüchtern beim Namen genannt. Realitäten, die in einem Menschenleben auszuhalten sind, können durch keine Weisheit hinwegdiskutiert werden. Wenn nun die israelitische Bildungsliteratur solche Realität ausspricht, so bedeutet dies, dass die Betroffenen ihren Schmerz nicht verstecken mussten.

Aussagen von Intellektuellen

In einer Kultur des honour and shame bedeutet shame sowohl «Schande» (als Beurteilung durch das Kollektiv) als auch «Scham» (als Reaktion des Individuums). Es erstaunt darum nicht, dass die entsprechenden hebräischen und griechischen Wörter für beides stehen. Wenn die israelitische Bildungs-literatur geistige Behinderung in den Zusammenhang mit Schande und Scham stellt, so wird damit deutlich, dass gerade sensible Intellektuelle in Israel – seien sie nun Eltern oder Beobachter – geistige Behinderung als eine persönliche Kränkung erleben. Dabei teilen sie ihr Empfinden nicht nur mit bitter gewordenen Müttern (Spr 17,25), sondern höchstwahrscheinlich auch mit weiteren Kreisen der Bevölkerung. Von Intellektuellen würde man

191 Das hebräische Wort kaʿas begegnet z. B. auch als Kränkung einer kinder-losen Frau (Hanna in 1Sam 1,6.11) oder steht für andere persönliche Kränkungen, welche Menschen in den Psalmen beklagen (Ps 6,8; 10,14; 31,10).

192 Zu ben kĕsîl vgl. auch Spr 10,1 und 19,13.193 Griechische Fassung; die hebräische Fassung dieses Kapitels ist verloren. –

Vgl. noch Sir 22,12–13 (auf normbegabte Toren zu beziehen?); Augustinus versteht dies als Aussagen über Menschen mit einer geistigen Behinderung (siehe unten S. 136).

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vielleicht erwarten, dass sie von einer problematischen, aber gesellschaftlich vorgegebenen Vorstellung von «Schande» Abstand nehmen könnten. Doch wir sollten die geistige Freiheit der Intellektuellen (damals wie heute) nicht überschätzen. Zwar begannen diese auch in den biblischen Texten, das Phänomen der Schande kritisch zu hinterfragen, wenn sie etwa zwischen berechtigter und unberechtigter Schande unterschieden (Sir 4,21; 20,23). Doch bis zur Thematik der geistigen Behinderung sind sie offenbar nicht vorgestossen.

Wer sich heute – als Eltern oder Fachperson – für die Förderung von Menschen mit einer geistigen Behinderung einsetzt, ist vielleicht enttäuscht, dass die israelitische Bildungsliteratur nicht «positiver» den Wert solcher Menschen hervorstreicht. Dabei geht die nüchterne Realität vergessen, dass auch in unserer Gesellschaft noch bis vor weniger als hundert Jahren die Familie weitgehend allein für ihr behindertes Kind sorgen musste und damit häufig überfordert war.194 Zudem ist an die Allgegenwart der Scham zu er-innern: Gerade die Eltern, die als Einzige sich um solche Kinder kümmerten, versteckten diese «Schande» in ihren vier Wänden. Dahinter stand die Angst vor Spott und Unverständnis der Gesellschaft sowie die Sorge, dass die Ehre der Familie geschmälert werde. In der ländlichen Peripherie der Schweiz war noch bis über die Mitte des letzten Jahrhunderts zu beobachten, dass solche Familienmitglieder die schützenden Wände des Hauses nicht verlassen durften, ja unter Umständen zusätzlich durch einen Vorhang in der Stube vor den entehrenden Blicken Fremder abgeschirmt wurden und hinter dem Ofen ihren Alltag verbrachten. Die Nöte der Familie und ihres behinderten Mitgliedes können wir erahnen.

Dieses Erfahrungsfeld wird ebenfalls deutlich in einem Spruch aus der griechischen Fassung des Buches Jesus Sirach: «Verspotte nicht einen Schulungsunfähigen, damit deine Vorfahren nicht entehrt werden» (Sir 8,4).195 Geht es hier um Verspottung innerhalb der Sippe und dass der Spötter dadurch die Ehre seiner eigenen Vorfahren schmälern würde? Soll diese Mahnung die Kernfamilie vor dem Spott durch entferntere Verwandte schützen?

194 Ein in seiner Anschaulichkeit eindrückliches Beispiel von den enormen Pflegeleistungen der Kernfamilie im England des 19. Jahrhunderts gibt D. Wright, Family Care of «Idiot» Children in Victorian England, in: P. Horden u. a. (Hg.), The Locus of Care, Families communities institutions and the provision of welfare since antiquity, London 1998, S. 176–197. Wright wertet ausführliche Protokolle aus, die von Ärzten anlässlich des Eintritts älterer Jugendlicher in ein Hospital erstellt wurden, wenn die Kernfamilie die Pflege nicht mehr leisten konnte. Über eine Mithilfe der entfernteren Verwandtschaft sowie der nachbarschaftlichen Um-gebung schweigen diese Texte!

195 Zur Übersetzung siehe oben S. 93 Anm. 100–101.

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Unversehens sind wir von der Annahme ausgegangen, dass in Israel die Menschen mit einer geistigen Behinderung in ihrer Familie betreut wurden. Allerdings kann dies weder mit dem Alten noch mit dem Neuen Testament nachgewiesen werden – etwa deshalb, weil solche Alltäglich-keit in sakral-unterweisenden Texten als nicht erwähnenswert galt? Doch was wären überhaupt realistische Alternativen zur häuslichen Betreuung durch die Familie gewesen? Hier ist ein vergleichender Blick auf andere Kulturen angezeigt.

Archäologische Zeugnisse

Zunächst erinnere ich an die archäologischen Zeugnisse, aus denen wir ent-nehmen dürfen, dass einzelne Menschen mit einer schwereren Behinderung jahre- oder gar jahrzehntelang überlebten, weil sie zeitintensive Pflege innerhalb ihrer Sippe erhielten.196 Dazu hier ein weiteres Beispiel aus dem Kinderfriedhof von Deir el-Medineh: Dieses Dorf wurde bewohnt von ägyptischen Familien, die ihr Brot als Arbeiter und Kunsthandwerker im nahe gelegenen Tal der Könige verdienten, wo sie die luxuriösen Graban-lagen der reichen Oberschicht errichten mussten. Die Gräber ihrer eigenen Familienmitglieder jedoch sind natürlich sehr viel schlichter. Dabei fällt auf, wie sorgfältig körperlich behinderte Kinder bestattet wurden, von denen mindestens das eine nach langer Pflegebedürftigkeit starb.197 Das schwerstbehinderte, vielleicht dreijährige Kind lag in einer alltäglichen, jetzt gelb-schwarz verzierten Holzkiste, auf welcher der Personenname Ariki in schwarzer Tinte aufgetragen ist (siehe Abb. 13; Kindergräber sind sonst häufig anonym). Ebenfalls in einem kastenförmigen Sarg bestattet wurde die Mumie eines ungefähr vierjährigen Mädchens, das an einem Wasserkopf litt; es trägt lebensspendende Skarabäus-Amulette an seinen Armen, und daneben fand man reichhaltige Grabbeigaben (Kosmetikgefässe aus Stein, Nadeln aus Elfenbein und Holz, Gefässe mit Bier und Nüssen, eine Tonschale mit einer Perücke aus natürlichem Haar, ein zerbrochenes Püppchen aus gebranntem Ton, Säckchen und Becher mit Getreidekörnern, Lampen, ein Paket mit Stoffen).198

196 Siehe oben S. 61 und 88.197 L. Meskell, Dying Young. The experience of death at Deir al Medina,

Archaeological Review from Cambridge 13, 1995, S. 35–45. Grundsätzliche Folgerungen derselben Archäologin in: D. Montserrat (Hg.), Changing Bodies, Changing Meanings, London 1998, S. 155–156. Details ausführlicher im Grabungs-bericht von B. Bruyère, La nécropole de l’est, Fouilles de l’Institut français du Caïre 15, 1937, S. 165–167 sowie 14 und 202.

198 R. Zillhardt, Kinderbestattungen und die soziale Stellung des Kindes in

Abb. 13: Hieroglyphen des Namens Akiri

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Ein Knabe in gleichem Alter mit Becken-Skoliose wurde in einem geflochtenen Korb beigesetzt; dieser war aber zu klein und musste auf-geschnitten werden, um Platz für die Füsse des Kindes zu schaffen. Die aufwendige Sorgfalt der Bestattung sowie die liebevollen Grabbeigaben (Abb. 14)199 werfen ebenfalls ein deutliches Schlaglicht auf die Haltung der betroffenen Familie gegenüber ihrem behinderten Kind.200 Dies setzt ein Fragezeichen hinter die heute beliebte Hypothese, dass es in einer vormodernen Gesellschaft wegen der hohen Kindersterblichkeit keine emotional starke Beziehung zwischen Eltern und Kleinkindern gegeben habe.201

Ägypten. Unter besonderer Berücksichtigung des Ostfriedhofs von Deir el-Medine, Beiheft 6 der Göttinger Miszellen, 2009, S. 27–28.

199 Im Grab des Kindes fand man nicht nur die Kindermumie im Korb mit Deckel, sondern auch einen langhalsigen Krug, sieben Teller mit Broten und Palm-nüssen sowie eine Halskette aus blau glasierter Keramik (Fayence). Beschreibung des Kindes durch B. Bruyère, S. 202: «enfant monstrueux aux jambes torses, au crâne difforme dont les hypophyses n’ont jamais pu se souder et ont doté l’enfant d’un bec de lièvre prononcé.»

200 R. Zillhardt, S. 40. – Zur liebevollen Bestattung eines 6- bis 7-jährigen Kindes mit Hydrozephalus aus dem jungsteinzeitlichen Deutschland siehe R. Schaf-berg u. a. in: Archäologie in Deutschland 19, 2002/2, S. 51.

201 L. Meskell verweist auf die Kritik dieser Hypothese durch A. MacFarlane, Death and the Demographic Transition. A note on English evidence on death 1500–1750, in: S. C. Humphreys u. a., Mortality and Immortality. The anthropology and archaeology of death, London 1981, S. 249–259. Ähnlich für das 18. Jahr-hundert im deutschen und schweizerischen Sprachraum I. Ritzmann, Sorgenkinder, S. 221–222.

Abb. 14: Grab eines körperbehinderten ägyptischen Kindes

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Altorientalische Texte

In Mesopotamien zeigt uns das medizinische «Handbuch», dass Langzeit-kranken und Menschen mit Behinderung grosse Aufmerksamkeit geschenkt wurde.202 Wenn Ärzte sich jahrelang um solche Menschen kümmerten, bedeutete dies gleichzeitig auch einen entsprechenden pflegerischen und finanziellen Aufwand für die betroffene Familie. Zudem ist zu bedenken, dass die häuslichen Verhältnisse vielfach eng waren – mit einem pflege-bedürftigen Mitglied wurden sie noch enger.

Was eine geistige Behinderung für die betroffene Familie bedeutete, lässt ein babylonischer Text erahnen, der mit der alttestamentlichen Hiob-Dichtung entfernt geistesverwandt ist, die sogenannte «Babylonische Theodizee». Sie besteht aus dem Zwiegespräch zwischen einem Leidenden, der verzweifelt klagt, und seinem Freund, der ihn zu trösten versucht und dafür aus seinem allgemeinen Erfahrungsschatz schöpft. So will er den Leidenden unter anderem mit folgendem Hinweis trösten:

Der erste Sohn wird als lillu (d. h. mit einer geistigen Behinderung) geboren,

(aber) der zweite Sohn wird ein starker Held genannt.203

Abgesehen vom zweifelhaften Charakter dieses Trostes, der auch zynisch wirken kann, steht hinter der Aussage eine deutliche Abwertung des ersten Sohnes gegenüber dem zweiten, der als «starker Held» gelobt wird. So wie der erste Sohn als quantité négligeable mitläuft, soll der Leidende seine derzeitige Not relativieren und auf bessere Zeiten hoffen.

Darüber hinaus ist nochmals hinzuweisen auf die Listen mit der Auf-zählung aller erdenklicher Missgeburten. Auch wenn diese Listen Werke der gebildeten Oberschicht sind, ist doch zu vermuten, dass die hier ver-tretenen Ansichten und Bewertungen in weiten Bevölkerungsschichten nicht unbekannt waren. Unter den «Missgeburten» wird öfters auch eine geistige Behinderung erwähnt, etwa mit den Begriffen lillu (männl.) und lillatu (weibl.).204 Die Geburt eines solchen Kindes gilt als Omen, das – allerdings

202 J. Scurlock u. a., Diagnoses, S. 332. – Ein ähnliches Bild zeichnet I. Ritz-mann (Sorgenkinder, S. 156–157) für die aufwendige Pflege Schwerbehinderter durch die Kernfamilie im Europa des 18. Jahrhunderts. Starke populärwissenschaft-liche Beachtung einer Pflegebedürftigkeit unter Neandertalern fanden Grabungen in der irakischen Höhle von Shanidar (E. Trinkaus u. a., Die Neandertaler. Spiegel der Menschheit, München 1993).

203 W. G. Lambert, Babylonian Wisdom, S. 87, Zeilen 262–263.204 E. Leichty, The omen series Šumma izbu (I 52–53; III 14; IV 49; XI 22–23).

Ferner S. Freedman, If a City (I 87–88 mit positiven Zukunftsaussichten); W. von Soden, Šumma Ea, S. 114, Zeile 24 (hier wird der lillu qualifiziert als einer, der «nicht hört» bzw. nicht gehorcht).

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nur in der Mehrheit der Fälle – auf eine negative Zukunft hinweist; dies hatte auch Konsequenzen für die betroffene Familie. Sie wird – ebenso wie ihre Nachbarschaft – verständlicherweise mit Furcht auf eine solche Ge-burt reagiert haben. Welche Konsequenzen zog sie? Vertraute sie auf den Schutz durch ein Amulett, um den befürchteten negativen Auswirkungen zu entgehen? Und was geschah mit dem Kind? Wenn solche Kinder nicht getötet, ausgesetzt oder (zu einem späteren Zeitpunkt) einem Tempel ge-schenkt wurden, blieb nur die Betreuung innerhalb der Familie. Letzteres ist in der Mehrzahl der Fälle zu vermuten.205

Familien mit einem geistig behinderten Kind sind nicht erst heutzutage mit der Pflege überfordert. Über die Situation in Mesopotamien haben wir zwar keine direkten Informationen – solche Gefühle werden verständlicher-weise nach Möglichkeit verheimlicht –, doch geben uns einige Dichtungen Aufschluss darüber. Auch wenn diese literarischen Texte keine Protokolle sind, lassen die Klagen doch die Gefühle damaliger Patienten mit schweren oder chronischen Krankheiten erahnen.

Es sah mich der Bekannte, und er drückte sich zur Seite.Wie einen nicht Blutsverwandten behandelte mich meine Familie.206

Und ein weiteres Beispiel, das teils positiv und teils rätselhaft tönt:

Versammelt war meine ganze Familie, um (mich) vor der Zeit einzureiben (d. h. einzubalsamieren?).

Der Nahestehende (meiner Verwandtschaft) stand trauernd da. Meine Brüder badeten sich wie Ekstatiker in ihrem Blut (etwa ein

Akt der Verzweiflung?).Meine Schwestern besprengten mich mit Kelter-Öl (d. h.

behandelten mich als einen Sterbenden?).207

Biblische Texte

Wenn in Israel der Sippengedanke so stark war, dass er sogar die Ein-richtung der Adoption zurückdrängte, so spricht alles dafür, dass die meisten Menschen mit einer geistigen Behinderung von ihrer Familie betreut worden sind. Dies führte wohl nicht immer zu idealen Zuständen, wie sich aus

205 So auch N. Walls in: H. Avalos u. a., This Abled Body, S. 23.206 Die Dichtung «Ich will preisen den Herrn der Weisheit» schildert einen

verzweifelten Kranken und dessen Heilung durch Marduk: Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Band 3, S. 119, Zeilen 91–92.

207 Aus einem Lobgesang über die Heilkunst Marduks: Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Band 2, S. 824, Zeilen 9–12 (aus Ugarit).

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literarischen Zeugnissen des Hiobbuches und einiger Psalmen208 zumindest für Schwerkranke erschliessen lässt. Auf Hiobs Leiden reagiert seine Ehefrau mit «Fluche Gott und stirb!». Hiob beurteilt in seiner Antwort das Schwere ganz anders und wirft seiner Ehefrau grausame Torheit vor (Hi 2,9–10).209 Und gegenüber seinen Freunden klagt er (Hi 19):

13Gott hat meine Brüder mir entfremdet;und die mich kennen, haben sich abgewandt von mir.

14Meine Verwandten halten sich fern.…

17Meiner Frau ist mein Atem widerlich,und meinen Geschwistern mein Gestank.

18Selbst Kinder verachten mich,wenn ich aufstehe, verhöhnen sie mich.

19Alle meine Vertrauten verabscheuen mich,und die ich liebte, haben sich gegen mich gewandt.

Im Blick auf geistige Behinderung ist zu erinnern an die oben erwähnten Texte: das Seufzen über die Zeugung eines «Toren», die zu Jesus gebrachten Kinder, «damit er sie berühre», sowie der zu Jesus gebrachte «taubstumme» und/oder epileptische Knabe. In allen diesen Fällen wird die Erfahrung eines Defizits deutlich, das die Familie nicht zu beheben vermag, weshalb sie ihr Familienmitglied hoffnungsvoll zu Jesus bringt.

16. Integration durch die Glaubensgemeinschaft

Heutige Eltern, die in ihrer Biographie wegen mangelhafter Integration ihres behinderten Kindes verletzende Erfahrungen mit der Kirche machten, nagen vermehrt an der Frage, ob eine Behinderung letztlich eine Strafe Gottes bedeute und mit welcher «Sünde» dieses Schicksal «verdient» sei. In klassischer Weise erscheint diese Frage, die in der tiefsten Schicht unserer archaisch gebliebenen Seele lauert, in einer Diskussion zwischen Jesus und seinen Jüngern angesichts eines jungen Mannes, der von Geburt an mit einer Sehbehinderung lebt (Joh 9,2–5). Die Jünger fragen Jesus: «Meister, wer hat gesündigt, er oder seine Eltern, dass er blind geboren wurde?» Doch Jesus wendet sich eindeutig gegen eine solche Deutung der Behinderung und antwortet: «Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern die

208 Ps 31,12; 38,12; 41,10; 69,9; 88,9.19. Es fällt auf, dass die eigentliche Kernfamilie nicht erwähnt wird.

209 «Du redest wie eine der Törinnen (hannĕbālōt).»

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Werke Gottes sollen an ihm offenbar werden.» Jesus nimmt also den Seh-behinderten samt seiner Familie in Schutz.210 Zudem lenkt er den Blick auf die Aufgabe, die ihm und ebenso seinen Jüngern aufgetragen ist: «Wir (!) müssen die Werke (Gottes) wirken, der mich gesandt hat.»

Die Dringlichkeit dieser Aufgabe wird noch unterstrichen durch die Fort-setzung der Rede Jesu: Dies ist zu tun, «solange es Tag ist. Es kommt die Nacht, da niemand wirken kann.» Nicht erst in ferner Zukunft, sondern schon jetzt sollen wir unser Werk an und mit den Menschen tun. Damit setzen wir Jesu Wirken fort – eine unerwartet kühne Verheissung! –, so wie Jesus das Werk Gottes in Beziehung auf den Sehbehinderten erfüllt. Wiederum benutzt Jesus seinen Speichel für seine intime Nähe zu seinem Gegenüber, und dieser Tag wird für den Sehbehinderten zu einem Tag des Lichts.

Gebete um göttlichen Schutz

Es ist nicht so einfach, diese ermutigende Botschaft Jesu, die im Laufe der Kirchengeschichte leider oft verdunkelt wurde, den heutigen Menschen glaubhaft zu vermitteln. Vergessen werden auch die weiter oben erwähnten sozialen Aufrufe der alttestamentlichen Propheten zugunsten von Menschen mit einer Behinderung. Stattdessen spukt das archaische Denkschema der Jünger Jesu von «Schuld und Strafe» weiter bis heute; es stützt sich zu-dem auf ein entsprechendes Verständnis des Alten Testaments. Nun teilen alttestamentliche Texte zwar manche archaischen Vorstellungen mit dem übrigen Alten Orient (auch wenn sie sie häufig anders zuspitzen). Wo die Texte eine geistige Behinderung erwähnen, gehen die Assoziationen jedoch nicht in Richtung einer göttlichen Bestrafung, sondern im Gegenteil zu göttlichem Schutz. In diesem Sinne werden in manchen Gebeten Menschen erwähnt, die wegen einer geistigen Behinderung oder einer körperlichen Beeinträchtigung auf die Beschützung durch eine Gottheit angewiesen sind:211

210 Anders denkt die nachbiblische (sogenannt apokryphe) Schrift der pseudo-clementinischen Homilien (3. Jahrhundert): Hier wird – entgegen dem biblischen Wortlaut! – eine persönliche Schuld als Ursache der Blindgeburt behauptet (Homil. XIX 22,5–8). Zur generellen Diskussion um die Ursachen einer Behinderung in der frühen Kirche (und in der heidnischen Antike) sowie um einen allfälligen Zusammen-hang mit menschlicher Sünde siehe die Auswertung der Quellen durch N. Kelley in: C. B. Horn u. a., Children in Late Ancient Christianity, 2009, S. 208–216.

211 Unter den Begriffen, welche geistige Behinderung mit einschliessen, begegnet in dieser Gebetssprache nur selten lillu (so ein Text bei E. Ebeling, Die akkadische Gebetsserie «Handerhebung», Berlin 1953, S. 84, Zeile 4). Meistens wird das Wort ulālu verwendet, das sich in anderen Auflistungen häufig auf behinderte Menschen bezieht, die für die Zerstörung oder Verschiebung eines Grenzsteins missbraucht werden können (siehe oben S. 97–99). Zur Bedeutung von ulālu vgl. auch Cuneiform

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Ischtar/Inanna)212

der Machtlose, der Kümmerling, der Arme» (Hymnus an den Sonnen-gott Schamasch)213

achtest auf ihr Gebet …» (Gebet an Marduk)214

215

216 den Kümmerling, / du erhebst den Machtlosen, du behütest den geistig Behinderten» (Gebet an Marduk).217 Die letzte Aussage meint die Tätigkeit eines Hirten und erinnert insofern an den alttestamentlichen Ps 23.

Auch aus dem Alten Testament lässt sich ein vergleichbares Beispiel an-führen. In einem Psalmgebet, das Gottes hilfreiche Eigenschaften aufzählt, heisst es: «Der herr behütet die geistig Behinderten» (Ps 116,6; vgl. oben S. 35–36 sowie Ps 146,9 šōmēr … gērîm). Das hier vorkommende hebräische Wort petî schliesst Menschen ein, die wegen begrenzter Urteilskraft und Gutmütigkeit leicht für fremde Zwecke instrumentalisiert werden.

Die genannten Beispiele zeigen, dass Menschen mit solchen Ein-schränkungen in Mesopotamien und Israel unter besonderem göttlichem Schutz gestellt sind.218 Oder vorsichtiger ausgedrückt: Solches wird in

Texts 23, London 1906, Nr. 10, Zeilen 10 und 15: «wie ein ulālu seinen Weg nicht findet … sich nicht ausdrücken kann» (kima u-la-lu la imuru kibissu … la iptû panišu). Siehe auch M. Jursa, Geistesschwache in Sippar, in: Notes assyriologies brèves et utiles 2001, S. 63–64. – Ich danke der Herausgeberin M. Roth, dass sie mir den noch unpublizierten CAD-Artikel ulālu zugänglich machte.

212 Zeitschrift für Assyriologie 65, 1975, S. 188, Zeile 117 (A. Sjöberg). – Dieselbe Göttin bewirkt die Umkehrung der Schicksale von Starken und Schwachen, wobei ebenfalls der ulālu erwähnt wird (ebenda Zeile 140; siehe zudem MVAG 13, 1908, S. 226 sowie K. Volk, Die Balaĝ-Komposition ÚRU-ÀM-MA-IR-RA-BI, Stuttgart 1989, S. 150, Zeile 73).

213 W. G. Lambert, Babylonian Wisdom, S. 134, Zeilen 132–133.214 Journal of the American Oriental Society 53, 1968, S. 130 und 132, Zeile

5 (W. G. Lambert).215 Beiträge zur Assyriologie und semitischen Sprachwissenschaft 5, S. 363,

Zeile 6 (spätbabylonisches Gebet).216 Oder turappaš ist zu übersetzen mit: «du schenkst weiten Raum».217 Archiv für Orientforschung 19, 1959/60, S. 65, Zeilen 13–14

(W. G. Lambert). – Ferner gab es in der Stadt Babylon wahrscheinlich eine Strasse namens «(Marduk’s) Protection is Good for the ulālu» (siehe A. R. George, Babylonian Topographical Texts, Leuven 1992, S. 66–67, Zeile 65).

218 Ein spannendes Kapitel wäre, wenn wir über die Existenz und die Funktion von Gottheiten mit dem Namen einer geistigen Behinderung mehr wüssten. Doch leider sind die Texte über einen Gott Lillu sowie eine Göttin

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den Texten zumindest proklamiert. Wie sich dieser Schutz im alltäglichen Umgang innerhalb der Gesellschaft auswirkte, ist allerdings damit noch nicht gesagt. Denkbar ist ein breites Spektrum von Möglichkeiten: Die Stellung unter göttlichen Schutz kann entweder eine entsprechende Praxis stützen, sie könnte aber auch nur ein Abschieben der gesellschaftlichen Verantwortung auf eine Gottheit bedeuten.219 Zwar übernimmt der König zumindest theoretisch die Verantwortung für die Witwen und Waisen – ebenfalls eine Gruppe von sozial Schwachen, die im alten Orient unter göttlichen Schutz gestellt werden.220 Jedoch für behinderte Menschen wird ein solcher Schutz kaum explizit erwähnt;221 allerdings ist zu bedenken, dass solche Menschen bei den (vom König unterstützten) «Armen» und «Schwachen» mitgemeint sein könnten. Ebenso denkbar ist aber, dass die Religion als einzige Instanz auf solche Menschen aufmerksam machte.222

Sukkukūtu («Taubheit») allzu fragmentarisch erhalten, als dass sie geeignete Informationen zuliessen. Belegnachweise im Chicago Assyrian Dictionary und im Akkadischen Handwörterbuch; siehe auch den Artikel Lil(lu) im Reallexikon der Assyriologie, Band 7, Berlin 1987.

219 Zu letzterer Vermutung vgl. die Ausführungen zur Antike von M. Meye Thompson in M. J. Bunge u. a. (Hg.), The Child in the Bible, S. 202.

220 Siehe z. B. Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Band 3, S. 1288. – Im Alten Testament kümmern sich sowohl der König als auch Gott selber (Ps 68,6; 146,9) um Fremde, Witwen und Waisen.

221 Doch siehe Utnapischtims Rat an den König im Gilgamesch-Epos X 278. Eine weitere Ausnahme: Der assyrische König Asarhaddon nennt als eine seiner guten Eigenschaften, dass er «die Hand des ulālu ergreift» (R. Borger, Die Inschriften Asarhaddons, Graz 1956, S. 92 Zeile 12).

222 Zu denjenigen, die in der Gesellschaft häufig unter die Räder gerieten, zählen auch die Ausgesetzten. Ein altbabylonischer Hymnus an die Göttin Inanna/Ischtar erklärt als deren typische Eigenschaft: «Das Mädchen, das aus-gesetzt wurde, findet in ihr (d. h. Ischtar) eine Mutter. / Sie benennt es, unter den Menschen ruft sie aus seinen Namen» (Texte aus der Umwelt des Alten Testa-ments, Band 2, S. 722). Mit der Verleihung eines Namens erhalten namenlose Findelkinder ihre menschliche Würde. Ist als Realität hinter dieser Bemerkung zu vermuten, dass die Ischtar-Tempel weibliche Findelkinder aufnahmen, ähn-lich wie in Ägypten, wo Personennamen solches für die dortige Göttin Isis (und andere Gottheiten) nahelegen? – Ob solche Aussagen auf Tempelprostitution hinweisen, kann weder bewiesen noch widerlegt werden. Zur wachsenden Skepsis, ob diese Institution im Alten Orient überhaupt existierte oder nur ein Phantasieprodukt der modernen Wissenschaft ist, vgl. den neusten Sammelband von T. Scheer u. a. (Hg.), Tempelprostitution im Altertum. Fakten und Fiktionen, Berlin 2009. – Ferner findet sich öfters die Formulierung, dass die Gottheit «die Hand des Ausgesetzten ergreift» (ṣabit qat naski); siehe die Wörterbücher sowie die neue Stele von Tell Masaïkh, deren Veröffentlichung nächstens durch G. M. Masetti im Journal of Cuneiform Studies geschehen soll. Ich verstehe nasku sowie das Verbum nasāku in der Bedeutung des Aussetzens.

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Schutzbestimmungen

Im Alten Testament finden sich mancherlei Schutzbestimmungen für sozial Schwache.223 Die Propheten reden ihrem Volk immer wieder ins Gewissen, dass dieser gebotene Schutz nicht vernachlässigt werden dürfe. Das Neue Testament geht noch weiter und erwähnt die Schaffung konkreter Speisungs- und Unterstützungsprogramme (Apg 6; Jak 1,27). Ältere Witwen erfahren eine partnerschaftliche Fürsorge und Integration, indem sie als Diakoninnen im Dienst der frühchristlichen Gemeinden wirken können (1Tim 5).

Geistige Behinderung

Schutzbedürftige mit einer geistigen Behinderung werden in der Bibel in solchem Zusammenhang nicht erwähnt. Dies wird erst anders beim Theo-logen Augustinus (um 400 n. Chr.). Mit Hochachtung erzählt dieser von einem Mann mit einer geistigen Behinderung, der stärker als die Mehrheit der Bevölkerung ein Christ sei und sich heftig für den Glauben wehre, wenn ein Normbegabter sich abschätzig über Jesus Christus äussere.224 Aus-drücklich erwähnt Augustinus, dass dieser Mann «in der Religion vertraut gemacht worden» sei (in welcher Weise dies geschah, erfahren wir leider nicht). Dieser Mann sei sonst «gegen alle persönliche Unbill in wundersamer Einfalt überaus geduldig», hingegen bei Entehrung des Namens und der Person Jesu Christi verfolge er die Lästerer mit Steinen und verschone dabei auch die Herren (!) nicht. Augustinus nimmt diesen aggressiven Verteidiger in Schutz und tut dies mit einer bemerkenswerten theologischen Deutung: Gottes Geist weht, wo er will – und hier bei einem geistig Behinderten, den Augustinus zu den «Söhnen des Erbarmens» (im Gegensatz zu den «Söhnen der Hölle» wie die Lästerer) zählt. Darum solle niemand seinen eigenen Verstand rühmen, sondern Gott als den alleinigen Geber aller Gaben. Gott ziehe einen solchen «Toren» den sehr viel Scharfsinnigeren vor, und er habe ihn dazu vorausbestimmt und geschaffen, damit wir einsehen, dass Gottes Gnade keine Art von Begabung bei den «Söhnen des Erbarmens» gering achte, aber jegliche Art von Begabung bei den «Söhnen der Hölle» als nichtig erzeige. Dieses hohe Lob gilt einem geistig Behinderten, obwohl Augustinus kurz zuvor schreibt, dass solche Menschen «mit einem tierähn-lichen Bewusstsein» zur Welt kämen.225

223 Ex 22,20–26; Lev 19,9–10; 25 und weitere Stellen.224 De pecc. mer. I 32 (Sankt Augustinus, der Lehrer der Gnade, Band 1,

S. 101–102). Augustinus verwendet zur Kennzeichnung geistiger Behinderung hier (und anderswo) den Begriff morio.

225 Es gilt dabei zu bedenken, dass Kinder und Tiere in der Antike grund-sätzlich ähnlich bewertet wurden, wie ja auch beide durch ihre «Arbeit» für den

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Die herausgestellten positiven Aspekte dieser alten Texte sind wichtig. Ihre Wirkung wird allerdings geschmälert durch gegenläufige archaische Denkvorstellungen,226 die noch unsere moderne Seele gefangenhalten. Dazu gehört vor allem das alte Gegensatzpaar «Segen und Fluch», das auch in der heute säkularisierten Kultur bestimmend auf elementare Lebensbereiche einwirkt und die befreienden Impulse der biblischen Botschaft überlagert. Bis heute wird Unglück auf menschliches Fehlverhalten zurückgeführt. In manchen Fällen entspricht dies der Realität (Beispiel: Umweltzerstörungen). Doch auf geistige Behinderung wenden die biblischen und altorientalischen Texte diese Logik nicht an.

Exkurs: «Segen und Fluch» bzw. «Schuld und Strafe»

In Mesopotamien enden die Gesetzessammlungen (am berühmtesten diejenige des babylonischen Königs Hammurabi) und die Staatsverträge jeweils mit längeren Aufzählungen von Segen und Fluch; diese treffen ein, je nachdem ob die zuvor genannten Gebote und Verbote befolgt oder missachtet worden sind. Derselbe Aufbau der Gesetzeszusammen-stellungen findet sich auch im Alten Testament, wo gegen Ende der Fünf Bücher Mose «Segen und Fluch» seinen traditionellen Platz hat (Dtn 28).227 Hier werden die möglichen Auswirkungen der Erfüllung und der Missachtung der Gebote breit und drastisch aufgezählt, häufig mit den-

Lebensunterhalt beitrugen (T. Wiedemann, Adults and Children in the Roman Empire, London 1989, S. 18–25). Die emotionale Bindung an Kinder war dadurch nicht ausgeschlossen. Vielleicht galten Erwachsene mit einer geistigen Behinderung sozusagen als lebenslängliche Kinder (für diese Vermutung sprechen könnten eine Stelle in Brief Nr. 187,25 sowie der Textzusammenhang in de pecc. mer. I 66).

226 Dazu gehört auch die Vorstellung, dass die Existenz behinderter Kinder auf aussergewöhnliche Umstände oder verbotene Praktiken beim elterlichen Geschlechtsverkehr zurückzuführen sei (ein sehr frühes Beispiel aus der meso-potamischen Omen-Literatur findet sich bei E. Leichty, The omen series Šumma izbu, S. 38, zu Zeile 69). Solche Argumente fehlen in der Bibel. Der Talmud dis-kutiert sie zwar, aber lehnt schlussendlich solche Gedankengänge ab und gibt die inkriminierten Varianten des Geschlechtsverkehrs frei (Traktat Nedarim 20b; vgl. Pesachim 112b und Gittin 70a). Trotzdem begegnen solche Vorstellungen auch im Christentum – mit stigmatisierenden Folgen für die Betroffenen; dazu ein Beispiel aus dem Mittelalter: Der franziskanische Bussprediger Berthold v. Regensburg (13. Jahrhundert) warnt vor Geschlechtsverkehr während den kirchlichen Fest- und Fastenzeiten; dies führe zu aussätzigen, fallsüchtigen, blinden, krummen, stummen und törichten (!) Kindern (Vollständige Ausgabe seiner Predigten, Wien 1862 = Berlin 1965, S. 323).

227 Eine vergleichbare, doch etwas kürzere Auflistung von Segen und Fluch findet sich in Lev 26.

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selben Details wie in den altorientalischen Texten. Und sogar noch die Gebote in der Bergpredigt Jesu, wie sie uns das Matthäus-Evangelium zusammenstellt, endet mit den Worten: «Wer diese meine Worte anhört (bzw. nicht anhört) und danach handelt (bzw. nicht danach handelt), ist einem klugen (einem törichten) Mann zu vergleichen …». Im ersten Fall baut er auf Fels, und sein Haus bleibt in allen Stürmen bestehen, im andern Fall baut er auf Sand, und das Haus wird einstürzen (Mt 7,24–27). Es wäre jedoch zu kurz geschlossen, wenn wir diese Worte Jesu im Sinne von «Belohnung der Braven» und «Bestrafung der Bösen» verstünden, denn es geht in der ganzen Bergpredigt um die Hinführung zu gelingendem Leben – das Gegenteil wäre verpasstes Leben (wie im Beispiel des einstürzenden Hauses).

Ein Strukturvergleich der altorientalischen und biblischen Texte zeigt einen interessanten Unterschied: In Mesopotamien hat der Segen weniger Gewicht oder fehlt gar ganz, so dass die Fluchwirkungen tatsächlich als Drohungen erscheinen. Während in der altbabylonischen Gesetzes-sammlung Hammurabis die Segensbeschreibung mengenmässig nur 6 Prozent der Fluchbeschreibung umfasst, so sind es im Alten Testament (Dtn 28) doch 30 Prozent. Im Neuen Testament umfassen die beiden Teile zum «Hausbau auf Fels und auf Sand» je etwa gleich viel.

Noch aussagekräftiger ist das Inhaltliche: Aus diesen Texten können wir ersehen, wie sich damals die Menschen ein gelingendes Leben vor-stellten («Segen»), und ebenso konkret, was sie sich unter keinen Um-ständen für sich selber wünschten («Fluch»).228 Für Letzteres sind über die genannten Texte hinaus auch reine Verfluchungen zu beachten; diese findet man in Zauberritualen gegen persönliche Feinde, aber auch als Androhung gegen die Zerstörung von Grenzsteinen oder Gräbern. Flüche wirken sich in den unterschiedlichsten Lebensbereichen aus: Mangelnde Fruchtbarkeit (bei Mensch, Tier und Vegetation), Krieg und Zerstörung bis in die familiären Verhältnisse hinein, Seuchen und persönliche Krankheit, Vernichtung der Nachkommen und Erlöschen

228 Besonders aussagekräftig sind hasserfüllte Fluch- und Zauberrituale gegen verhexende Feinde, z. B. in der Beschwörungssammlung Maqlû. – Nicht befriedigend einordnen lässt sich der auf S. 57 zitierte Zauberspruch. Er steht am Ende eines Beschwörungsrituals, dessen Zweck leider unklar bleibt. Vermutlich handelt es sich um eine Beschwörung, welche die bösen Geister unschädlich macht, indem sie diese als Behinderte darstellt bzw. verspottet (ein instruktives Beispiel einer solchen Beschwörung ist der aramäische Text auf einer Zauberschale: siehe J. Segal u. a., Aramaic and Mandaic Incantation Bowls in the British Museum, London 2000, S. 89). An einen Fluch gegen verleumdende Menschen denkt hingegen M. Geller, The Aramaic incantation in cuneiform script, in: Jaarbericht Ex Oriente Lux 35–36, 1997–2000, S. 127–146.

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des eigenen Namens. Zuweilen werden auch Behinderungen in solchen Aufzählungen genannt: Am häufigsten findet sich die Androhung von Blindheit, zusammen mit «chronischen» Krankheiten, Aussatz und Wassersucht;229 seltener erwähnt wird Taubheit und Stummheit,230 über-raschend selten Epilepsie,231 obwohl uns dünkt, dass diese augenfällige und dramatische Behinderung eine besondere Attraktivität für eine Verfluchung haben könnte. Auch andere sichtbare Behinderungsarten (z. B. Lähmungen) werden nie oder fast nie erwähnt.

In den Prophetenbüchern des Alten Testaments werden Be-hinderungsbezeichnungen in Gerichtsaussagen verwendet (oft als Vergleich, z. B. «wie Blinde» Jes 59,10; Zef 1,17) und das Heil als «Heilung» einer körperlichen Behinderung dargestellt. Solche Aus-sagen sollten nicht im Sinne einer Bestrafung von Sünde oder Un-glaube ausgelegt werden.232

Ebenfalls nicht in den Zusammenhang von Sünde und Strafe gehören mesopotamische Personennamen mit der Bedeutung «Was ist meine Sünde?» (Mīna-arni u. a.).233 Solche Namen weisen nicht auf eine Be-hinderung des betreffenden Menschen hin,234 sondern sind Ausdruck einer politisch und religiös korrekten Haltung (Sündenbewusstsein), die gerade für höhere Beamte wichtig war, wie an der Namengebung abgelesen werden kann; die betreffenden Namen erscheinen denn auch auf privaten Siegeln von Menschen einer gehobenen sozialen Stellung.

Geistige Behinderung wird weder biblisch noch ausserbiblisch je er-wähnt; es fehlen Begriffe wie lillu, saklu oder ulālu. Steht dahinter vielleicht die Erfahrung, dass jemand in höherem Alter zwar sein Augenlicht ver-lieren, aber nicht zu einem «Toren» oder zu einem «Taubstummen» werden kann?235 Doch dann bliebe unerklärt, weshalb auch Lähmungen,

229 Belege im Chicago Assyrian Dictionary, z. B. unter saharšubbû und agannutillû. Ferner S. M. Olyan, Disability, S. 143, Anm. 22.

230 Das Chicago Assyrian Dictionary bringt unter sakāku (Band S, S. 68) und ṣibtu (Band Ṣ, S. 163–164) ausschliesslich Belege aus Inschriften auf Grenzsteinen.

231 M. Stol (Epilepsy in Babylonia, Cuneiform Monographs 2, Groningen 1993, S. 146) nennt zwei Belege aus einer Zauberbeschwörung gegen persönliche Feinde sowie eine neuassyrische Verfluchung gegen Vertragsbrüchige.

232 Gegen S. Melcher, With Whom Do the Disabled Associate? Metaphorical Interplay in the Latter Prophets, in: H. Avalos u. a., This Abled Body, S. 115–129. Zuweilen bewirkt Gott selber die Verstockung Israels; zu Jes 6,9–10 siehe E. Kellen-berger, Die Verstockung Pharaos, Stuttgart 2006, S. 175–176.

233 Belege bei K. Watanabe, Ein neuassyrisches Siegel des Mīnu-ahṭi-ana-Ištari, Baghdader Mitteilungen 24, 1993, S. 289–308.

234 Gegen D. Cadelli, Lorsque l’enfant paraît malade, Ktéma 1997, S. 14.235 Entsprechende Begriffe fehlen in den Fluchtexten ganz. – Der

Epilog der Gesetzessammlung Hammurabis droht den ungetreuen

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die ja ebenfalls im Laufe des Lebens hinzukommen können, kaum als Fluch erwähnt werden. Somit bleibt die Annahme plausibler, dass geistige Behinderung nicht die für einen Fluch notwendige Symbolkraft aufweist. Dies ist umso bemerkenswerter, als sichtbare psychische Auffälligkeiten in den Fluchbeschreibungen wenigstens am Rande erwähnt werden, also eher noch die benötigte Symbolkraft zeigen: «Wahnsinn/Raserei» und «Verwirrung» (als seelische Folge erlittener Katastrophen) finden sich je einmal im Alten Testament aufgelistet.236

17. Auswirkungen in der Kirchengeschichte: Belastende

Äusserungen von Augustinus und Luther

Augustinus: ein herausgeforderter Theologe

Weil Augustinus ein guter Beobachter der Menschen war und uns viele seiner Schriften überliefert sind, wissen wir über seine Beurteilung geistiger Behinderung mehr als über die Haltung anderer.237 Manches er-scheint uns dabei widersprüchlich. Augustinus wird hin- und hergerissen zwischen negativen und positiven Bewertungen. Vermutlich versucht

Regierungsverantwortlichen (!) an, dass die Gottheit ihnen die «Hör- bzw. Ent-scheidungskraft (uznu) und Weisheit (nēmequ)» weggenommen werde; doch handelt es sich hier um ein Instrumentarium zur Macht-Erhaltung und nicht um eine geistige Behinderung (Übersetzung in: Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Band 1, S. 78, col. L, Zeile 2). Dasselbe gilt für eine Königsinschrift aus dem 3. Jahr-tausend: Der Gott der Weisheit «soll seinen Verstand (hassu) nicht weit machen» (I. Gelb u. a., Die altakkadischen Königsinschriften des 3. Jahrtausends, Freiburger Altorientalische Studien 7, Stuttgart 1990, S. 260, Zeilen 183–184).

236 Dtn 28,28.34: hebräisch šiggāʿôn/mĕšuggāʿ und einmal auch timmāhôn (vgl. auch Sach 12,4: timmāhôn als Panikreaktion von Ross und Reiter). Meines Erachtens handelt es sich hier nicht um geistige Behinderung; siehe noch H. U. Steymans, Deuteronomium 28 und die adê zur Thronfolgeregelung Asarhaddons. Segen und Fluch im Alten Orient und in Israel, OBO 145, Fribourg 1995, S. 272. – Ebenfalls psychische Reaktionen stehen hinter der akkadischen Wendung šanû mit Objekt ṭêmu (siehe Belege im Chicago Assyrian Dictionary, Band 17, S. 407–408), welche in derselben Bedeutung auch im Hebräischen vorkommt (1Sam 21,14; Ps 34,1).

237 Belege: morio(nes) in Brief 143,3; 166, 17; de pecc. mer. I 32; I 66; contra Jul. III 10. Der allgemeinere Begriff fatuus (auch in Sir 22,12–13) mit der Formulierung «als fatuus geboren werden» begegnet zudem in enchirid. 103; Brief Nr. 187,25; contra Jul. IV 16; V 18; VI 1–2; opus imperfectum I 54; III 155, 160–161 und 191; IV 8, 75, 114–115, 123, 125 und 134; V 22; VI 9, 14, 16 und 27; mit anderen Begriffen in op. imperf. III 198; V 1 und 11. Siehe dazu E. Kellenberger, Augustin und die Menschen mit einer geistigen Behinderung. Der Theologe als Be-obachter und Herausgeforderter, in: Theologische Zeitschrift 67, 2011, S. 25–36.

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er – was ihm allerdings nur teilweise gelingt –, sich von landläufigen negativeren Beurteilungen freizukämpfen. Dabei gehört zu Augustinus’ Befangenheit, dass er (wie andere Intellektuelle in der Antike) die geistige Behinderung einseitig als Defizit sieht. Er zählt sie zu den «Leiden kleiner Kinder», die noch nicht wissentlich schuldig geworden sind. Und er zitiert dazu aus seiner lateinischen Bibel eine Stelle über «Toren», die er auf Menschen mit einer geistigen Behinderung bezieht: «Das Leben eines Toren ist noch schlimmer als der Tod», und «ein Tor ist lebenslang zu beklagen» (Sir 22,12–13). Das sieht auf den ersten Blick wie eine extreme Herzlosigkeit aus. Doch dahinter steht eine besondere Sensibilität des Seelsorgers und Bischofs gegenüber dem schwer verständlichen Leiden von Kindern. Mehrmals zählt Augustinus offenen Auges mannigfache De-fizite auf: Warum gibt es «blinde, einäugige, triefäugige, taube, stumme, hinkende, deformierte, verkrüppelte, von Würmern geplagte, lepröse, ge-lähmte, epileptische und anderweitig behinderte Kinder»? Warum gibt es «triebhafte, jähzornige, ängstliche, vergessliche, schwerfällig denkende Kinder, solche ohne Verstand und so törichte, dass man lieber mit Tieren als mit ihnen zusammenleben möchte»?238 Deshalb lässt sich Augustinus in seinen Schriften immer wieder auf ein Ringen um das Verständnis von geistiger Behinderung ein. Er bringt ein weites Spektrum eigenständiger Beobachtungen und Überlegungen, wie sich dies bei keinem seiner Zeit-genossen findet. Besonders reibt er sich an der Frage nach der bestimmten Aufgabe, die Gott den Menschen mit einer geistigen Behinderung gegeben hat.

Augustinus’ Bemühen ist umso bemerkenswerter, als das Phänomen der geistigen Behinderung das eigene Gedankensystem des scharfsinnigen Theologen an wesentlichen Punkten in Frage stellt. Dazu gehört eine Thematik, die uns heute als spitzfindig erscheinen könnte, aber in Wirk-lichkeit immer noch aktuell und ungelöst ist. Augustinus’ Frage «Wann und wie wird die Seele einem Menschen eingehaucht?» entspricht un-gefähr unserer heutigen Diskussion: Zu welchem Zeitpunkt darf man von einem vollwertigen Menschen sprechen? Schon bei der Zeugung, oder bei welchem Stadium der Zellteilung, oder in welchem Monat des Embryonalzustands? Was macht eigentlich einen Menschen aus? Welches sind die Voraussetzungen, dass man ein Etwas als einen Menschen be-zeichnen darf? Weder Augustinus noch wir heute können darauf ein-deutige Antworten geben.

238 op. imperf. VI 16 (tardicordes, excórdes, fatui). Andere Aufzählungen erwähnen selten auch «von Dämonen geplagte» Kinder (so z. B. Brief 166,16), was möglicherweise psychische Auffälligkeiten meint oder Epilepsie (allerdings erscheint an anderen Stellen dafür lunaticus «mondsüchtig» oder epilepticus).

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Augustinus diskutiert vier Möglichkeiten,239 wann und wie die Seele in den menschlichen Körper gelangt:

a. Die Seele ist seit Ewigkeit in geistiger Form bei Gott. Zur Strafe wegen einer Verfehlung geht sie in einen irdischen Körper ein. Augustinus wird im Laufe seines Lebens immer ablehnender gegen diese Sicht, die aus der Gedankenwelt eines Plato und Pythagoras herkommt und eine Art von Seelenwanderungslehre darstellt. Christlicherseits wird sie vertreten unter anderem von Origenes und von Didymus dem Blinden (Letzterer ist oben in Kapitel III erwähnt worden).

b. Die Seele ist ein Teil (bzw. ein «Ausfluss») Gottes. Augustinus lehnt diese Sicht vehement ab, seitdem er sich von den Manichäern ab- und den Christen zugewandt hat. (Die Manichäer vertraten eine radikale Trennung zwischen dem wertlosen Leib und der göttlichen Seele.)

c. Eine dritte Lösung lehnt Augustinus ab, weil sie seines Erachtens zu materialistisch ist: Durch die elterliche Zeugung pflanzt sich die Seele fort. Diese Sicht wird etwa vom Theologen Tertullianus vertreten.

d. Für die vierte Lösung hegt Augustinus am meisten Sympathien: Jede Seele wird während des Zeugungsaktes unmittelbar durch Gott geschaffen.

Im Blick auf geistige Behinderung gerät nun Augustinus in Schwierig-keiten: Wenn er sagt, dass Gott selber jede Seele erschafft, so bedeutet dies, dass Gott ebenfalls Seelen mit geistiger Behinderung erschafft. Doch das möchte Augustinus dem Schöpfer keinesfalls anlasten. Zudem vertritt er die problematische Lehre von der «Erbsünde»: Die Unvollkommenheit und Sündhaftigkeit eines jeden Menschen werde durch den elterlichen Zeugungsakt weiter vererbt; am Anfang der Vererbungskette stehe Adam als der erste Sünder.

Zur Entlastung Gottes müsste man sich für die dritte Lösung (c.) ent-scheiden – es sind ausschliesslich die Eltern, die aufgrund des Zeugungsaktes für die Behinderung ihres Kindes verantwortlich sind. Augustin sieht die Problematik, kann sich aber nicht entscheiden und wendet sich in seiner Ratlosigkeit an seinen älteren Kollegen Hieronymus, der ihm aber auch nicht helfen kann.240 – In dieser Hilflosigkeit ist mir Augustinus sympathisch. Sympathischer jedenfalls als in seinen harten Thesen, mit denen er das

239 Kommentierte Auflistung in A. Fürst, Augustinus – Hieronymus Brief-wechsel, Fontes Christiani 41, Turnhout 2002, S. 60–70.

240 Zur kirchengeschichtlichen Einordnung der Diskussion siehe A. Fürst, Zur Vielfalt altkirchlicher Soteriologie. Augustinus’ Berufung auf Hieronymus im pelagianischen Streit, in: Grazer theologische Studien 19 (Festschrift für N. Brox), 1995, insbesondere S. 166–171.

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Gewissen unzähliger Eltern jahrhundertelang schwer belastet hat: seine (mit der Sexualität verquickte) Erbsündenlehre sowie seine Überzeugung, dass ungetauft gestorbene Kinder keine Chance hätten, in den Himmel zu kommen. In keinem dieser Fälle hat Augustinus die Aussagen der Bibel auf seiner Seite.

Martin Luther: unbedachte und bedachte Äusserungen

Ein Jahrtausend später sind evangelische Theologen ebenso wenig vor höchst problematischen Meinungen gefeit. Ein schlimmes Beispiel liefert Martin Luther mit einer Äusserung, die er bei Tisch im privaten Kreis seiner Studenten und Gäste gemacht hat; weil Luthers Tischgenossen begierig jedes Wort ihres Lehrers aufgeschrieben bzw. weitererzählt haben, wissen wir überhaupt davon, sogar aus mehreren Quellen.241 (Wie viel Dummes sage ich bei Tisch, was glücklicherweise nie aufgeschrieben wird?). Es geht dabei um ein zwölfjähriges Kind mit einer schweren geistigen Behinderung, das «nur ass und schiss», aber so viel verschlang wie vier Bauern; zudem erwähnt eine der Quellen, dass das Kind lachte, wenn ein Schaden geschah, und weinte, wenn alles normal lief. Luther meinte, man solle es ersticken. Aus welchem Grund, wollte ein (vermutlich irritierter) Tischgenosse wissen. Ob Luthers Antwort stockt uns der Atem: «Einfach darum, weil es ein Stück Fleisch ohne Seele ist.» Ja, noch schlimmer: Luther vermutet, dass der Teufel dieses seelenlose Wesen geschaffen habe.

Offensichtlich teilt der Reformator hier die Vorstellungen seiner Zeit und glaubt an die Realität von «Wechselbälgen»,242 die vom Teufel den Müttern untergeschoben bzw. gegen einen menschlichen Säugling aus-getauscht worden seien. Die Menschen zu Luthers Zeit können sich solche massiven Behinderungen nicht als Folge einer Krankheit oder natürlichen

241 M. Luther, Tischreden, Weimar 1912–1921, Nr. 5207.242 Auch in seinen veröffentlichten Schriften streift Luther zuweilen kurz

solche Vorstellungen; siehe das Stellenregister zu den Stichwörtern «Wechselbalg» und «Mondkind» in der Weimarer Gesamtausgabe, Band 69–73; ferner die (in der Authentizität ihres Wortlauts fraglicheren) Tischreden Nr. 323, 2528b, 2529, 3676, 4166, 4513 und 6831. – Luthers Sicht wird im Zusammenhang dargestellt bei M. Miles, Martin Luther and Childhood Disability in 16th Century Germany. What did he write? What did he say?, in: Journal of Religion Disability & Health 5, 2001, S. 5–36; erweiterte Fassung (2005) in http://www.independentliving.org/docs7/miles2005b.html (mit Lit.). Zur Geschichte der (vor allem in germanischen Kulturen heimischen) Wechselbalgvorstellung siehe J.-C. Schmitt, Saint Lévrier. Guinefort guérisseur d’enfants depuis le XIIIe siècle, 2. Aufl. Paris 2004, S. 109–118; etwas anders C. F. Goodey u. a., Intellectual Disability and the Myth of the Changeling Myth, Journal of the History of the Behavioral Sciences 37, 2001, S. 223–240. Zu Luthers Äusserung siehe auch N. Petersen, Geistigbehinderte Menschen, S. 63–69.

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Behinderung vorstellen; deshalb müssen sie sie auf den Teufel zurückführen (in solchen Fällen wird für Luther übrigens auch eine Taufe fraglich). Es berührt mich schmerzlich, dass Luther hier all seine sonstigen biblischen Entdeckungen vergisst und als «Kind seiner Zeit» die problematischsten Vermutungen seiner Zeitgenossen teilt; nicht nur wer sich heute in der Heilpädagogik engagiert, reagiert verständlicherweise entsetzt und verletzt. Allerdings wäre zu wünschen, dass mit mindestens so viel Eifer die grosse Zahl von Luthers zukunftsgerichteten Impulsen zur Kenntnis genommen würde – und nicht nur Luthers enttäuschende Ansichten.

Solche positiven Impulse finden sich etwa bei Luthers Äusserungen über Hörbehinderte.243 Hier wendet er sich gegen seine Zeitgenossen, indem er energisch die volle Teilnahme Hörbehinderter am Abendmahl befürwortet, und zwar mit folgender Begründung: Man solle dem Heiligen Geist nicht ins Handwerk pfuschen – viele Taubstumme könnten innerlich höheren Verstand haben als wir. Luther lehnt darum die «Kompromisslösung» seiner Freunde ab, die den Taubstummen mit ungeweihtem Brot abspeisen wollten, und nennt dies einen Betrug, der Gott nicht gefalle: Gott habe Hörende wie Hörunfähige zu Christen und damit zu gleichberechtigten Partnern ge-macht, ohne dass man deren «Verstand» im konkreten Fall «nachprüfen» müsse. Dass Luther sich an diesem Punkt durchgesetzt hat, ist nicht selbst-verständlich. Schliesslich nahm die kirchliche Abendmahlsunterweisung in der Reformation einen wichtigen Stellenwert ein, und man stand damals einer Schulung Hörbehinderter hilflos gegenüber.

In Bezug auf geistige Behinderung ist übrigens bemerkenswert, dass Luther mehrmals die anstrengende Arbeit der Mütter von mehrfach-behinderten Kindern und deren begrenzte Lebensdauer (18 bis 19 Jahre) anspricht.244 Wiederum stehen nüchterne Beobachtungen neben Über-legungen, die uns seltsam vorkommen: Mütter werden von solchen Kindern im wörtlichen Sinn «ausgesogen». Haben sie diese etwa jahrelang ge-stillt? Meint Luther ein Burn-out der Mutter, oder handelt es sich hier um magische Vorstellungen?

18. Integrationsmöglichkeiten innerhalb der Gesellschaft

Die biblischen Texte geben keine Antwort auf die Frage, ob und wie die Menschen mit einer geistigen Behinderung damals in die Gesellschaft

243 Zum Folgenden siehe D. Gewalt, Taube und Stumme in der Sicht Luthers, Luther 41, 1970, S. 93–100.

244 Tischreden Nr. 4166 und 4513.

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integriert waren. Dieses Phänomen ist schwierig zu deuten. Grundsätzlich ist es heikel, aus der Tatsache, dass etwas nicht erwähnt wird, logische Schlüsse zu ziehen (der Fachjargon nennt dies ein argumentum e silentio), weil man dabei rasch zu Fehlschlüssen kommen kann: So wird zwar die Menstruation der Frauen in der Bibel öfters erwähnt (Lev 15,19–24), nicht aber in den medizinischen Texten Mesopotamiens.245 Niemand käme nun auf die seltsame Idee, daraus zu schliessen, dass die Ärzte im Zweistrom-land keine Ahnung von der weiblichen Menstruation hatten. Ein solches Schweigen hat man zunächst einmal unerklärt stehen zu lassen. In Bezug auf unsere Frage wird sich dann aber zeigen, dass Informationen aus Nach-barkulturen Auskünfte geben können, die Rückschlüsse auf Israel gestatten.

Altorientalische Quellen

Für Mesopotamien erhalten wir einen ersten, recht problematischen Ein-blick durch die Klage eines höheren Beamten, der infolge einer Lang-zeiterkrankung seine Stellung verlor und in eine grosse soziale Isolation geriet. Er klagt: «Es stieg auf über mir der Krüppel, / mir voran liegt der Tölpel (lillu).»246 Vorausgesetzt wird hier das grundsätzlich niedrige Sozial-prestige von behinderten Menschen. Hingegen wird nicht klar, ob es sich um Schimpfwörter oder um eigentliche Behinderungen handelt; falls das zweite anzunehmen ist, könnte daraus auf eine Integration Behinderter in den Arbeitsprozess geschlossen werden.

Dass solche Menschen zumindest zum Strassenbild einer babylonischen Stadt gehörten, lässt sich aus dem oben erwähnten medizinischen «Hand-buch» erschliessen.247 Auf seinem Weg zum Patienten begegnen dem Arzt nicht nur Tiere (Hunde, Schweine, Rinder usw.), sondern auch «Ekstatiker» (psychisch Kranke?),248 Krüppel sowie Seh- und Hörbehinderte. Wir er-

245 So vor allem R. Biggs, The Human Body and Sexuality in the Babylonian Medical Texts, in: L. Battini u. a. (Hg.), Médecine et médecins au Proche-Orient ancien, Oxford 2006, S. 39–52 (bes. 42–43).

246 Aus der sogenannten «Babylonischen Theodizee» (Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Band 3, S. 150, Zeile 76). – Auch in Gebeten begegnen ent-sprechende Klagen (E. Ebeling, Gebetsserie, S. 128, Zeile 14, und S. 132, Zeile 59; E. Reiner u. a., Journal of Cuneiform Studies 21, 1967, S. 262). Zudem erscheinen menschliche Rangordnungen übertragen in der Fabel von den Bäumen, deren einer als «lillu der Bäume» negativ qualifiziert wird (W. G. Lambert, Babylonian Wisdom, S. 165).

247 V. Haas (in: ders. [Hg.], Aussenseiter und Randgruppen, S. 31) stützt sich auf R. Labat, Traité Accadien de Diagnostics et Prognostics Médicaux, Leiden 1951, S. 2–7.

248 In einer jüngeren Omen-Sammlung (S. Freedman, If a City, Tafel I, Zeilen 81–82) gelten «viele Ekstatiker» und «Ekstatikerinnen» als ein schlechtes Omen

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fahren, dass dabei ein Sehbehinderter als ein schlechtes Omen für die zu besuchenden Kranken galt; und ein Hörbehinderter galt als Hinweis auf diejenige Gottheit, welche sowohl diese Hörbehinderung als auch die Krankheit des nun zu besuchenden Patienten verursacht hatte.

Wie begrenzt eine Integration solcher Menschen sein konnte, lässt sich aus weiteren Quellen erschliessen. In Mesopotamien gab es Regeln für das Risiko, dass sich ein gekaufter Sklave nachträglich als Epileptiker erweist. Bereits in der altbabylonischen Gesetzessammlung des Königs Hammurabi galt die Bestimmung einer einmonatigen Karenzfrist, innert derer ein Kauf rückgängig gemacht werden durfte;249 spätere Kauf-Urkunden aus neu-assyrischer Zeit nennen meist eine längere Karenzfrist von hundert Tagen. Zudem ist hier die Liste möglicher Risiken länger: «Gepacktwerden» (durch einen Dämon?), Epilepsie und «Wahnsinn/Raserei».250 Eine Arbeitskraft, die innert einem Vierteljahr einen Anfall erlitt, galt demnach als wert-los (oder wurde im besten Fall zu einem niedrigen Preis gekauft). Gerne möchten wir erfahren, wer für ihre Lebenskosten aufkam oder ob solche Menschen ihren Lebensunterhalt mit Betteln verdienen mussten. Doch die Quellen schweigen.

Jede Gesellschaft kennt diese Problematik: Denken wir nur an die Leistungsvorbehalte, die heute die Lebens- und Krankenversicherungen vornehmen dürfen, wenn eine konkrete Krankheit bereits vor Versicherungs-abschluss besteht. Darum erstaunt es nicht, dass ähnliche Regelungen wie in den Keilschriftdokumenten auch anderswo vorkommen. Im Wüstensand Ägyptens etwa fand man Sklavenverkaufsverträge mit einer halbjährigen Kündigungsfrist,251 falls innert dieser Zeit Epilepsie oder Aussatz (?) sicht-bar wurde; selten wird auch «Befallensein von Dämonen» (psychische Auffälligkeit?) genannt.252 Dass die Epilepsie dabei als «heilige Krankheit» bezeichnet wird, ändert nichts an der Härte der Bestimmung, welche die Arbeitsmöglichkeiten von epileptischen Menschen vernichtet.

und bringen «Leid über die Stadt». Dabei kann es sich um psychisch Kranke oder/und um eine Berufsbezeichnung handeln.

249 § 278 (Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Band 1, S. 74–75).250 Ausführlich K. Radner, Privatrechtsurkunden, S. 173–188; dort auch

zu den Begriffen ṣibtu, bennu und šēhu. Ein weiteres Risiko heisst sartu und meint wohl den widerrechtlichen Verkauf von Sklaven; er kennt keine Karenzfrist, innert welcher er entdeckt werden muss, d. h. er verjährt nicht.

251 J. A. Straus, L’achat et la vente des esclaves dans l’Égypte Romaine. Contribution papyrologique à l’étude dans une province orientale de l’empire Romain, München 2004, bes. S. 153–154.

252 E. Jákab, Praedicere und cavere beim Marktkauf. Sachmängel im griechischen und römischen Recht, München 1997, S. 203.

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Griechische und jüdische Quellen

Auch Plato formuliert in seinen Gesetzen, die er für einen idealen Staat entwirft, Regeln für das Rückgängigmachen eines Sklavenkaufs: Eine solche Ungültigkeitserklärung ist während sechs Monaten möglich bei Schwindsucht, Steinleiden, Harnzwang oder einer andern, kaum erkenn-baren langwierigen und schwer heilbaren Krankheit des Leibes und des Geistes (!).253 Ein ganzes Jahr dauert die Karenzfrist bei Epilepsie, die offen-bar als ein besonders schwerwiegender Schaden beurteilt wird. Falls der Käufer jedoch Arzt oder Gymnastiklehrer ist, kann der Kauf in keinem dieser Fälle rückgängig gemacht werden; dasselbe gilt, falls der Verkäufer dem Käufer die Wahrheit sagte.

Ebenso erwähnt der Talmud Situationen, wo ein solcher Kauf nichtig ist. Drei Fälle bei der Anstellung (bzw. dem «Kauf») einer Magd werden diskutiert. Beim ersten Fall sagt der frühere Arbeitgeber: «Diese Magd ist (geistig oder psychisch) unzurechnungsfähig, eine Epileptikerin und (!) ver-wirrt/geistesschwach.»254 Dabei hat die Magd aber nur einen dieser Makel, und die beiden andern werden einfach hinzugedichtet (um den zukünftigen

253 Nomoi 916a–b; für «Geist» steht das griechische Wort dianoia, das stärker auf die Intelligenz als auf die Psyche zu beziehen ist. – Ich bezweifle u. a. deshalb die These, dass der Philosoph Plato geistige Behinderung als etwas Problemloses angesehen habe (gegen C. F. Goodey, Mental Disabilitites and Human Values in Plato’s Late Dialogues, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 74, 1992, S. 26–42). Zur Meinung des Aristoteles, dass kleinwüchsige Menschen weniger intelligent seien (vgl. z. B. part. animal. 686b), siehe V. Dasen, Dwarfs, S. 218 (vgl. auch oben S. 96 mit Anm. zu den Behinderungen der Gottheit Bes). Zur Einschätzung des Aristoteles, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung wie Kinder seien (vgl. politica 1323a; mem. et reminisc. 453b), sowie zu entsprechenden Begräbnissitten vgl. die Forschungen von P. Baker und S. Francis (siehe vorläufig www.kent.ac.uk/secl/classics/projects/disability.html; die These ist möglicherweise interessant im Blick auf das Verständnis von hebräisch petî als geistig Behinderter); in dieselbe Richtung weist der Papyrus SB V 7655, Zeilen 22 und 25 (jemand gilt als mōros kai paidion kai anoētos). Siehe zudem V. Dasen, All Children are Dwarfs. Medical discourse and iconography of children’s bodies, Oxford Journal of Archaeology 27, 1908, S. 49–62.

254 Traktat Baba Metzia 80a: šōṭê, nikpît, měšoʿemet. Der dritte Begriff begegnet nur selten in den rabbbinischen Schriften und ist in seiner Bedeutung unklar. – Dass in der Antike ein möglicher Zusammenhang von chronischer Epilepsie und geistiger Behinderung bekannt war, zeigt der Mediziner Aretaios, der im 2. Jahrhundert n. Chr. in Alexandrien wirkte: «(diese Krankheit) schädigt ihr Denken (dianoia) derart, dass sie ganz dumm werden (mōrainein)» (Abhandlung über chronische Krankheiten I 4, Edition C. Hude, Berlin 2. Aufl. 1958, S. 39). In andern Fällen schreibt Aretaios geistige Behinderung auch psychischen Ursachen zu (ebenda I 5 über die melancholia; S. 40). Dass Aretaios auch noch Schädeltrepanation als erfolgversprechende Therapie vorschlägt (C. Hude, S. 153: VII 4), lässt vermuten, dass die häufigen prähistorischen Trepanationen ebenfalls Epileptiker betrafen.

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Arbeitgeber zu täuschen); in diesem Fall ist der getätigte Kauf bzw. die Übernahme durch den neuen Arbeitgeber nichtig. Wenn jedoch der frühere Arbeitgeber den einen wahren Makel nennt und auf zwei weitere (hier nicht genannte) Makel aufmerksam macht, so kann der neue Arbeitgeber die Magd nicht zurückgeben. Ebenso im dritten Fall, wenn die Magd alle drei genannten Makel aufweist, kann sich der neue Arbeitgeber nicht hinterher beschweren (er war ja richtig orientiert worden). Wie weit solche Fälle in der Praxis vorkamen, ist bei den oft etwas theoretisch anmutenden, scharf-sinnigen Diskussionen im Talmud nicht immer klar. Doch in jedem Fall lassen sich dahinter allerlei Probleme im Alltag der betroffenen Menschen erahnen.

Geistige Behinderung

Während die geistige Behinderung von Arbeitskräften im Talmud für unser heutiges Verständnis nicht zweifelsfrei formuliert ist, redet eine römische Rechtsquelle betreffend Mängelhaftung bei Sklavenverkäufen eindeutig von Arbeitskräften, die als moriones bezeichnet werden. Die lateinische Rechtssammlung der «Digesten», welche einen Teil des berühmten spät-antiken «Corpus Juris» bildet, zitiert Entscheide früherer römischer Juristen, darunter auch Pomponius, einen Nichtchristen des 2. Jahrhunderts n. Chr.:255

Auch wenn der Verkäufer keinen besonders intelligenten Sklaven zu (gewähr)leisten brauche, sei es doch als Mangel anzusehen, wenn er einen Sklaven verkauft habe, der so dumm oder so töricht (fatuum vel morionem) ist, dass er zu nichts zu gebrauchen ist. Aber wir befolgen die Regel, dass sich die Bezeichnungen «Mangel» und «Krankheit» allein auf den Körper beziehen. Für einen psychisch-geistigen Mangel (animi vitium) muss der Verkäufer dagegen nur dann einstehen, wenn er [dessen Abwesenheit] zugesichert hat, sonst nicht.

Hier – wie auch bei anderen römischen Juristen – finden wir also eine deutliche Unterscheidung zwischen körperlicher und psychisch-geistiger Behinderung.256

Im Folgenden bringt Pomponius zwei konkrete Beispiele von

255 Digest. XXI 1,4.3 (lateinisch-deutsch in: O. Behrends u. a., Corpus iuris civilis, Heidelberg 1990–, Band 4, S. 5).

256 Zu einer juristischen Differenzierung zwischen Krankheit (morbus) und Gebrechen (vitium) siehe das Referat bei Aulus Gellius («Attische Nächte» IV 2; 2. Jahrhundert n. Chr.). Im Weiteren differenzieren römische Juristen zwischen einer erregteren Form von psychisch-geistigen Auffälligkeiten (furiosus) und einer eher stilleren Art (demens); siehe E. Renier, Observations sur la terminologie de l’aliénation mentale, in: Mélanges F. de Visscher IV, Revue Internationale des Droits

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nichtkörperlichen Behinderungen: den ausreisserischen Sklaven und das scheuende bzw. ausschlagende Tier.

Deshalb wird (in einem römischen Edikt) für den Fall des Herumtreibens oder des Sklaven, der zur Flucht neigt, ausdrücklich eine Ausnahme gemacht; denn das sind psychisch-geistige Mängel, keine körperlichen. Daher haben einige Juristen auch gesagt, man dürfe Zugvieh, das zum Scheuen und Ausschlagen neige, nicht den kranken Tieren zu-rechnen; denn dieser Mangel sei ein Mangel der tierischen Psyche, kein körperlicher.

Geistige Behinderung scheint hier – im Gegensatz zu körperlicher Be-hinderung – weniger ein Hinderungsgrund für die Integration in den Arbeitsprozess zu sein, als wir es für Mesopotamien und wohl auch für den Talmud vermutet haben.257 Ein Vergleich bleibt allerdings problematisch, weil die zitierten Texte unterschiedliche Schweregrade von Behinderung vor Augen haben. Denn Pomponius bezieht sich an der zitierten Stelle auf leichtere geistige Behinderung und schliesst eine «schwere» Krankheit wie Epilepsie ausdrücklich davon aus. An anderer Stelle unterscheidet er, ob ein morio oder fatuus als Sklave wenigstens zu etwas oder zu gar nichts zu gebrauchen sei.258

Einzelschicksale

Die Aussichten, aus den alten Quellen zu erfahren, wie Menschen mit einer leichteren geistigen Behinderung integriert wurden, sind nicht so rosig: Solche Menschen gehörten zumindest mehrheitlich zur Unterschicht, und diese ist nur selten dokumentiert. Erfolgversprechend ist zunächst die Methode, über die Personennamen und die dokumentierte gesellschaftliche Stellung der betreffenden Namensträger etwas zu erfahren. Aus Meso-potamien lassen sich Menschen eruieren, die Lillu oder Saklu («Tor»)

de l’Antiquité 3, 1950, S. 429–455; ferner J. F. Gardner, Being a Roman Citizen, London 1993, S. 167–178.

257 Papyrusfunde aus dem im hellenistisch-römischen Ägypten geben be-sondere Aufschlüsse aus dem Alltag von Menschen mit einer Behinderung. Über Möglichkeiten und Grenzen ihrer Integration in den Arbeitsprozess vgl. die Belege bei P. Arzt-Grabner, Behinderungen und Behinderte in den griechischen Papyri (Salzburger Kongress, im Druck).

258 Digest. XXI 1,4.5 und 1,65.1. – Aufschlussreich ist auch die Meinung des Juristen Ulpianus (um 200 n. Chr.) in Bezug auf die Einklagbarkeit, falls ein gekaufter Sklave eine enttäuschende Arbeitsleistung erbringt: «Wenn ein Sklave jünger als fünf Jahre ist oder schwach (debilis) oder sonst wie unbrauchbar zur Arbeit für seinen Herrn, so findet keine Schätzung statt» (Digest. VII 7,6.1).

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heissen; diese Namen findet man auf Quittungen und in Rechtsurkunden.259 Ein Lillu ist Erntearbeiter und bekommt dieselbe Menge Gerste wie seine Arbeitskollegen. In kleineren Rechtssachen und Verkäufen sind einige Männer namens Saklu als Zeugen dabei (zum Zeugendienst verpflichtete man gerne abhängige Nobodies). Als Angestellte am Königshof von Mari werden zwei Männer namens Sukkuku («Taubstummer») erwähnt,260 die ganz am Schluss einer Personalliste betreffend abgegebenen Kleidern er-scheinen; sie werden Sukkuku und «ein zweiter Sukkuku» genannt.261 Da ihr Name eher als allgemeiner Ausdruck ihrer Behinderung und weniger als echter Eigenname aussieht, darf man vermuten, dass hier tatsächlich zwei Hörbehinderte einen Arbeitsplatz am Königshof gefunden haben.262 – An-gesichts dieser relativ wenigen Belege wird man allerdings nicht allzu viel auf eine solche Auswertung von Namen bauen dürfen;263 diese Methode ist eh nicht ganz unbedenklich.

Ebenfalls mager ist die Ausbeute, wenn wir nach Begriffen wie lillu Ausschau halten. Spannend ist ein Fund aus dem 2. Jahrtausend: zwei Listen mit Bezeichnungen von neuen Kleidern, die an das Personal des Königs von Mari auszuteilen waren. Zu diesem Personal gehörte eine Frau namens Jadida, die zusätzlich als lillatu bezeichnet wird – ist damit eine geistige Behinderung gemeint?264 Unmittelbar nach dieser Frau werden ein «Ekstatiker» und ein Sänger aufgelistet; darauf folgen blosse Namen ohne weitere Bezeichnung. Alle diese Leute haben eine eher niedrige Charge, denn sie erhalten nur ein gewöhnliches Kleid, ohne besondere Verzierung.

Es wäre nun verlockend, darüber nachzudenken, wie eine geistig be-hinderte Frau unter das königliche Personal geraten könnte. Zum ebenfalls

259 Zum Folgenden siehe die Wörterbücher; ferner J. Kohler u. a., Assyrische Rechtsurkunden, Nr. 127; ders., Hammurabis Gesetz. Rechtsurkunden, Leipzig 1904–1923, Nr. 1263–1264 sowie die «Prosopography of the Neo-Assyrian Empire».

260 O. Rouault, Mukannišum. L’administration et l’économie palatiales à Mari, Archives royales de Mari, Band 18, S. 74–75. – Eine weitere Person namens Sakku erscheint im Brief ARM XIV 19,7 als Assistent (?) eines Beamten.

261 Die sprachliche Struktur (Verdoppelung des zweiten Konsonanten) ist typisch für eine grosse Zahl unterschiedlicher Behinderungsbezeichnungen.

262 Im Blick auf die Integration von Menschen mit einer leichteren Körper- oder Hörbehinderung kommt eine Untersuchung weiterer mesopotamischer Personen-namen zu einem ähnlichen Resultat: Siehe H. Waetzold, Der Umgang mit Be-hinderten in Mesopotamien, in: M. Liedtke, Behinderung als pädagogische und politische Herausforderung, Bad Heilbrunn 1996, S. 77–91.

263 Ebenfalls ungewiss ist, was man aus einer assyrischen Medikamenten-quittung für einen Königssohn namens Ulālu schliessen darf (W. Farber u. a., Zwei medizinische Texte aus Assur, Altorientalische Forschungen 5, Berlin 1977, S. 255–258).

264 M. Nissinen u. a., Prophets and Prophecy in the Ancient Near East, Atlanta 2003, S. 85 und 88 (ARM XXI 333 und XXIII 446).

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erwähnten Ekstatiker am Königshof ist zu bedenken, dass es häufig ekstatische Männer und Frauen sind, welche Prophezeiungen an den König richten,265 und dass diese zuweilen mit struppigem Haar auftreten,266 ähnlich wie dies zweitausend Jahre später Augustinus von den geistig behinderten, kraushaarigen moriones schreibt.267 In neuassyrischer Zeit werden in zwei Texten solche «Prophetinnen» als Oblaten bezeichnet, die vom König dem Ischtar-Tempel geschenkt worden sind.268 Weiterführende Spekulationen wären spannend; doch gilt zu bedenken, dass vereinzelte Zufallsfunde nicht dazu verführen dürfen, den Boden der Realität zu verlassen.

Ein sumerischer Mythos

Auf andere Weise spannend ist ein sumerischer Mythos über den Weis-heitsgott Enki und die Muttergöttin Ninmach.269 Im zweiten Teil sehen wir – zumindest auf den ersten Blick – eine bewundernswerte Integration verschiedener (auch geistiger) Behinderungsarten: Enki bestimmt be-hinderten Menschen einen Arbeitsplatz am mesopotamischen Königshof. Bei genauerem Studium des Textes wächst jedoch der Verdacht, dass es sich hier um eine Farce über die ineffiziente Beamtenschaft handelt270 (also etwa so, wie der frühere Bundesrat Christoph Blocher die Schweizer Staatsver-waltung als «geschützte Werkstätte» verhöhnte).

Zum Inhalt: Die Gottheiten Enki und Ninmach haben sich an einem Festgelage mit Bier betrunken und gehen nun einen Wettstreit ein: Ninmach möchte be-weisen, dass sie ebenso gut wie Enki Menschen erschaffen könne, aber Enki ist überzeugt vom Gegenteil und kündet an, dass er ihre Fehler auszubügeln ver-möge, indem er ihren Menschen ein gutes Schicksal bestimmen werde. Ninmach erschafft darauf aus Lehm sieben Menschen; alle weisen eine körperliche oder geistige Behinderung auf. Der Erste hat zitternde Hände – Enki lässt ihn dem

265 M. Nissinen vermutet, dass obige lillatu («crazy woman») ebenfalls ein ekstatisches Verhalten zeigte (in: A. Lemaire [Hg.], Congress Volume Ljubljana 2007, Supplements to Vetus Testamentum 133, Leiden 2010, S. 457–458). Vgl. bereits das Urteil von J.-M. Durand, documents épistolaires, Band 3, S. 465–466.

266 Entsprechende Belege von etqum «(meist tierisches) Haarfell» in: M. Nissinen u. a., Prophets, S. 50 und 65. Dazu die Vermutung von J.-M. Durand (documents épistolaires, Band 3, S. 85): «Il est possible que le rêveur ait été un paranormal.» Zudem werden der ekstatische Prophet und der «Haarige» in einer lexikalischen Liste zusammen mit anderem Tempelpersonal genannt (M. Nissinen u. a., Prophets, S. 186).

267 Zu diesen cirrati siehe oben S. 100–101. 268 M. Nissinen u. a., Prophets, S. 108 und 169 (= SAA IX 1.7 und XIII 148).269 Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Band 3, S. 386–401, ins-

besondere S. 393–395.270 J. Bottéro u. a., Lorsque les dieux faisaient l’homme. Mythologie

mésopotamienne, Paris 1989, S. 196.

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König dienen. Der Zweite kann nicht sehen – Enki bestimmt ihn zum Musiker (tatsächlich gibt es im Alten Orient viele sehbehinderte Harfenspieler und Sänger). Der Dritte hat geschwollene/gelähmte Füsse – Enki macht ihn zum Silberschmied (man vergleiche den griechischen Hephaistos). Der Vierte ist geistig behindert (ein lillu) und Angehöriger eines barbarischen Volkes (geistige Behinderung wird also deutlich abgewertet!) – Enki bestimmt ihn zum Dienst zu Häupten des Königs. Der Fünfte lässt dauernd seinen Urin tröpfeln – Enki vermittelt ihm ein Bad und eine magische Beschwörung. Die Sechste ist eine gebärunfähige Frau – Enki lässt sie im Frauenhaus arbeiten (als Weberin?). Der Siebte besitzt weder Penis noch Vagina – Enki bestimmt ihn dazu, als nibru-Höfling (als Eunuch?) dem König zu dienen. Als Zusammenfassung bemerkt Enki stolz, dass er allen sieben Menschen einen Brotverdienst vermittelt habe.

Leider ist es schwierig, den Realitätsgehalt einer Farce zu bestimmen; der Humor eines fremden Volkes ist in seinem Wesen oft nur schwer zu erahnen. Der Schluss des Textes ist bedauerlicherweise besonders schwer verständlich. Es scheint, das Enki seinerseits einen Menschen schafft, der mehrfach behindert ist; Ninmach aber kann diesen zu nichts Nützlichem bestimmen. (Nach einer andern Interpretation des Textes handelt es sich hingegen um die natürliche Hilflosigkeit eines Neugeborenen und nicht um eine aussergewöhnliche Behinderung.) Fazit: Dieser sumerische Mythos scheint kaum als Zeuge für die Integration behinderter Menschen in die Gesellschaft verwendet werden zu können.

Analogien aus heutigen Drittweltländern

So bleibt schliesslich noch die Methode übrig, Beobachtungen aus Kulturen der Dritten Welt für einen vorsichtigen Analogieschluss heran-zuziehen. Hier ist erst recht zu beachten, was für den Umgang mit alten Texten, ja letztlich für jeglichen Kontakt mit einem anderen Menschen gilt: Alle unsere Beobachtungen und Feststellungen sind Interpretation, also nicht einfach unumstössliche Fakten im Sinne von «so ist es». Inter-pretationen sollen respektvoll, aber nicht idealisierend sein. Ich stütze mich im Folgenden auf die Interpretationen der renommierten Kultur-anthropologin Ina Rösing, die selber über ein Jahrzehnt lang in den Anden gelebt hat. In der dortigen Kultur studierte sie unter anderem den Umgang mit Menschen, die – nach unserer Kategorisierung – mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung leben. Rösing erzählt konkrete Lebensläufe und kommt zum vorsichtigen Schluss, dass diese Menschen innerhalb ihrer Gesellschaft als integriert erscheinen und einigermassen selbständig für ihren Lebensunterhalt aufkommen, solange sie innerhalb des arbeitsteiligen Kollektivs eine wichtige Teilaufgabe erfüllen können.271

271 I. Rösing, Stigma or Sacredness. Notes on Dealing with Disability in an

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Bei einer leichteren geistigen Behinderung ist dies besser möglich als bei schwereren körperlichen Defiziten. Integrierte Menschen erleben weder sich selbst als behindert, noch werden sie von ihren Nachbarn auf diese Weise wahrgenommen; sobald eine Behinderung jedoch eine Teilnahme am Arbeitsprozess verunmöglicht, lebt die betroffene Person in grosser innerer Isolation, auch wenn sie von ihrer Familie geliebt wird.

In einer weiteren Publikation beschreibt Rösing die Konzepte einiger afrikanischer Gesellschaften.272 Eindrücklich sind die Kriterien der Intelligenz bei den Nyolas in Uganda: Intelligenz ist hier keine kognitive, sondern eine soziale Kategorie; sie umfasst Beratbarkeit, Zielgerichtet-heit, Höflichkeit, Gesprächsfähigkeit und Cleverness in Kombination mit sozialer Verantwortlichkeit. Ein «voller Mensch» ist man nicht als Individuum, sondern durch den Platz, den man im sozialen Netz einnimmt. – Bei den Ethnien der ostafrikanischen Molo-Kultur gibt es zwei unterschiedliche Bezeichnungen für geistig behinderte Kinder: omienere und obadha. Beide Begriffe sind nicht kognitiv, sondern hand-lungsbezogen gemeint. Mit dem negativen Begriff omienere («nutzlos, verdorben») werden auch Erwachsene bezeichnet, die ihre gesellschaft-lichen Rollen und Verpflichtungen nicht erfüllen und/oder Trinker sind. Ebenso fallen Unverheiratete sowie kinderlos bleibende Ehepaare unter diese Kategorie. Der Begriff obadha («stumm») hingegen kann bedeuten, dass ein Kind entweder nicht hört oder dass sein Kopf nicht richtig funktioniert. Doch entscheidend ist, dass das Kind mit einer geistigen Behinderung kommunikativ reagieren kann. Wenn es sich mit Zeichen verständlich macht und auf Impulse seiner Umgebung eingeht, so ist es

Andean Culture, in: B. Holzer u. a., Disability in Different Cultures, Bielefeld 1999, S. 27–43. – Dass Medizinmänner öfters Behinderungen (z. B. versehrte Hände) aufweisen, ist jedoch ein Zug, der in biblischen und altorientalischen Texten bis jetzt nicht nachweisbar ist. Zur «schweren Zunge» des Mose (Ex 4,10–11) vgl. E. Kellenberger, Die Verstockung Pharaos, Stuttgart 2006, S. 40–41. – Wenn alt-testamentliche Propheten von ihren Zeitgenossen als «Verrückte» bezeichnet werden (z. B. 2Kön 9,11), so ist das stets despektierlich gemeint. Der Prophet Ezechiel wird wegen seiner ästhetisch-künstlerischen Qualitäten geschätzt (Ez 33,32), nicht wegen seiner prophetischen Anliegen und Aktivitäten, die auch nach heutigem Verständnis als «verrückt» gelten könnten. Und die (nur angedeutete) Behinderung des Apostels Paulus kommt bei der Gemeinde von Korinth nicht gut an (in 2Kor 12 muss sich Paulus verteidigen; er selbst wähnt sich von einem Boten Satans geschlagen, aber Gott zeigt ihm eine besondere Aufgabe in der Behinderung: Gottes Kraft kommt in menschlicher Schwachheit zur Vollendung). Zu Behinderungsbezeichnungen in Jes 53 (ebenfalls zunächst negativ gewertet) siehe J. Schipper, Disability and Isaiah’s Suffering Servant, Oxford 2011.

272 I. Rösing, Intelligenz und Dummheit. Wissenschaftliche Konzepte, All-tagskonzepte, fremdkulturelle Konzepte. Ein Werk- und Denkbuch, Heidelberg 2004. Siehe insbesondere S. 267–268, 360–370 und 482.

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obadha; omienere hingegen bedeutet, dass es zum Beispiel auf Auf-forderungen nicht verständlich reagiert, dass es keinen Respekt zeigt oder beim Erscheinen eines Erwachsenen aus Angst schreiend wegrennt. Schlechte Schulleistungen hingegen haben nichts mit omienere zu tun. Wer kommunikativ, respektvoll, hilfsbereit und gehorsam ist – und somit ein soziales Verhalten zeigt, das die in der Molo-Region gross-geschriebenen Werte erfüllt –, gilt trotz einer geistigen Behinderung als «klug». In Mikronesien (Pazifik) gelten vergleichbare Werte.

Solche eindrücklichen Konzepte können allerdings nur einen Teil der existierenden geistigen Behinderungsarten in die Gesellschaft integrieren. Wer in Uganda beispielsweise an Epilepsie leidet, gilt – unabhängig vom Mass unseres westlichen Intelligenzquotienten – als «dumm» und wird nach dem ersten Anfall endgültig vom Schulbesuch ausgeschlossen.

Eine vorsichtige Auswertung im Blick auf das alte Israel lässt es nicht zu, alle vorindustriellen Kulturen über einen Kamm zu scheren; es gilt, differenziert auf allfällige Gemeinsamkeiten zu schauen. Auch Israel war eine Stämmegesellschaft, in der sich das Individuum von seiner Sippe (Grossfamilie) her definiert. So fragt man einen unbekannten Menschen nicht nach seinem Namen, sondern nach seiner Herkunft: «Wem (welcher Sippe) gehörst du an?» (Gen 32,18; Rut 2,5; 1Sam 17,55–58). Längere Erzählungen beginnen im Alten Testament öfters mit einer Genealogie sowie der Nennung der Stammesbezeichnung, womit die Identität der Hauptperson gesichert wird (z. B. 1Sam 1,1). Da die israelitische Stammes-gesellschaft in Clans, Gross- und Kernfamilien gegliedert ist,273 kann es sich eine Frau z. B. leisten, allenfalls auf die angebotene Fürsprache beim König oder beim Heeresobersten zu verzichten (2Kön 4,13).

Angesichts dieser Gesellschaftsstruktur kann im alten Israel zwischen der Integration in die Familie und derjenigen in die Gesellschaft nicht unterschieden werden: Integration geschah innerhalb der Sippe. Wer hier durchs Netz fiel, hatte wenig Hoffnung, dass die Gesamtgesellschaft ihn stützte – dort herrschten ja dieselben Wertvorstellungen. Solange diese als selbstverständlich galten, brauchten sie in den Texten nicht erwähnt zu werden. Wenn also die biblischen Texte kaum etwas über die Integration von Menschen mit einer geistigen Behinderung mitteilen, dürfen daraus keine vorschnellen Schlüsse gezogen werden. Hingegen können mit ge-wisser Vorsicht die Informationen aus andern vorindustriellen Kulturen hinzugezogen werden, vor allem wenn diese untereinander konvergieren. So ist etwa die Not epileptischer Menschen und ihrer Familien nicht nur im heutigen Uganda, sondern auch in den Jesuserzählungen und in

273 Hebräisch mišpāḥâ, bêt-ʾāb und bêt.

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der altmesopotamischen Kultur nachweisbar: Die geläufigen Wertvor-stellungen führten zu fatalen Ausgrenzungen. Menschen mit leichterer geistiger Behinderung jedoch waren integrierbar, weswegen sie in den Quellen nicht erwähnt zu werden brauchten. Gerade eine agrarische Ge-sellschaft kann solche Menschen eher beschäftigen; dies war auch bis noch weit ins 20. Jahrhundert in der ländlichen Peripherie der Schweiz zu beobachten. Heute benötigen wir geschützte Werkstätten, um den be-treffenden Menschen (und uns) die Genugtuung zu verschaffen, dass sie gebraucht werden und einen sinnvollen Beitrag leisten können.

Menschen, die aus dem sozialen Netz herausfallen, geraten in eine grosse Isolation, damals wie heute. Bereits im Alten Orient mussten zentrale Organismen wie das Königtum (der «Staat») und der Tempel eine zumindest minimale Hilfestellung für Nicht-Integrierte erbringen, weil sonst die ganze Gesellschaft destabilisiert zu werden drohte. So pro-klamiert sich im ganzen Alten Orient der König als verantwortlich für isolierte Verarmte wie Witwen und Waisen. Für Israel ist zum Beispiel an Ps 72 oder an Salomos persönliche Rechtshilfe für eine ledige Mutter zu erinnern («Salomos Urteil», 1Kön 3).

Darüber hinaus leisteten die Heiligtümer mit der Aufnahme «ge-schenkter» Menschen einen wesentlichen Beitrag. In Israel waren allerdings Königtum und Tempel wirtschaftlich weniger potent, so dass ihre Hilfeleistungen mehr punktuell als durchgreifend sein konnten; des-wegen riefen die israelitischen Propheten immer wieder zu sozialer Ver-antwortung gegenüber den Verarmten auf (wenn auch ohne Erwähnung von Behinderten). Gleichwohl ist die Unterstützung von Menschen mit einer Behinderung nicht allzu gering einzuschätzen; Hintergrund die-ser Haltung bildeten, wie wir gesehen haben, religiöse Stimmen mit ihrem Verbot von Verspottung oder gar Tötung solcher Menschen. Damit leisteten die religiösen Institutionen einen wichtigen Widerstand und schufen einen hilfreichen Ausgleich gegenüber negativen Wertvor-stellungen der Bevölkerung, unter denen die Betroffenen vermutlich häufig zu leiden hatten.

kellenberger.indb 150 05.08.2011 11:38:50

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V. Lehren für heute

Wir stehen am Ende einer langen Exkursion, die uns in unterschiedlichste Gegenden und teilweise in bisher unerforschtes Gebiet geführt hat. Nun gilt es, den Ertrag zusammenzufassen und mit Blick auf die heutige Situation eine Bilanz zu wagen.

1. Ein Bilderbogen des Lebens

Ein überraschend vielfältiges Bild hat sich uns gezeigt: Wir dürfen geradezu von einem Bilderbogen reden – mit einem so breiten Spektrum an unter-schiedlichen Möglichkeiten, wie es für menschliches Leben überhaupt charakteristisch ist. Dabei sind uns hellere und vor allem auch dunklere Farben aufgefallen. Die zitierten biblischen und ausserbiblischen Texte gaukeln uns – wider Erwarten – keine heile Welt vor.

Unser (kapitalistisches) System sei zwar nicht gerade das Paradies, es schaffe aber zumindest die «beste aller möglichen Welten», heisst es. Diese Sicht verbirgt einen wichtigen Teil der Realität. Wo erhalten wir mit eigenen Augen Einblick in die Lebensrealitäten einer stets wachsenden Unterschicht – auch hier bei uns? Die Scham der Betroffenen und unsere eigene, behütetere Situation vermischen sich zu einem dichten Nebel. Im Gegensatz dazu zeigen uns alte Texte ungeschminkt, wie schwierig die Lebensbedingungen damals sein konnten; zuweilen lassen sich sogar Ansätze von Biographien erahnen.

Die Lebensmöglichkeiten, die im vorangegangenen Kapitel geschildert worden sind, gelten gleichzeitig auch für Menschen ohne geistige Be-hinderung. Umgekehrt gesagt: Geistige Behinderung war – falls es sich nicht gerade um eine besonders schwerwiegende Beeinträchtigung handelte – damals für das Schicksal der Menschen weniger entscheidend als heute. Ihr Schicksal war ebenso unterschiedlich wie dasjenige von Menschen ohne eine entsprechende Behinderung. Als unglückliche Schicksale im alten Israel können genannt werden: Aussetzung (auch bei geistiger Be-hinderung?), Vernachlässigung, Strassen- und Bettelexistenz, Verspottung, Instrumentalisierung, Verdingung, sexueller Missbrauch. Positiver waren: Aufwachsen in der eigenen Sippe mit angepassten Arbeitsmöglichkeiten,

kellenberger.indb 151 05.08.2011 11:38:50

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Abb. 15: Antike Tonfiguren mit dümmlichen Gesichtern (karikierend)

Aufnahme durch das Tempelpersonal (oder später durch christlich engagierte Pflegepersonen), überhaupt die integrierenden Auswirkungen der Religion. Über die statistische Häufigkeit dieser unterschiedlichen Lebensschicksale lässt sich allerdings nichts aussagen.

Es erstaunt, wie selten Menschen mit einer geistigen Behinderung zweifelsfrei in den alten – und insbesondere in den biblischen – Texten er-wähnt werden. Das mehrheitliche Schweigen dieser Texte darf allerdings nicht zum Schluss verführen, dass geistige Behinderung damals nicht wahr-

Abb. 16: Klippel-Feil-Syndrom

genommen worden sei. Zahlreiche bildliche Darstellungen von dümmlichen Gesichtern aus der Antike zeigen ein Bewusstsein der körperlich sichtbaren Eigenheiten, die typisch für eine geistige Behinderung sind (Abb. 15–16).1 Solche bildliche Darstellungen, die ausschliesslich aus der heidnischen Antike stammen, sind häufig in einem karikierenden Stil gehalten;2 dies weist auf einen Kontext der Verspottung hin, allenfalls konnte die dar-gestellte Behinderung auch der Abschreckung gefährlicher Dämonen dienen. Wir ersehen

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daraus, welche Emotionen eine geistige Behinderung je nachdem auslösen konnte. Dass solche Geringschätzung und Instrumentalisierungen vor-kamen, gehört zu den dunkleren Farben des Bilderbogens. Dass andrer-seits manche alten religiösen Texte solchen Haltungen deutlich Wider-stand entgegensetzen, darf dabei nicht übersehen werden (siehe unten).

2. Menschen in Kategorien einteilen?

Dass eine geistige Behinderung in den alten Texten selten namentlich er-wähnt wird, steht in einem seltsamen Gegensatz zu unserem heutigen Sprachgebrauch, der offenkundig eine andersartige Wahrnehmung von Behinderung zeigt: Heute gilt geistige Behinderung als eine besondere Existenzform, die nach einem speziellen Umgang mit solchen Menschen ruft. Die Grenze verläuft demnach zwischen denjenigen, die selbstver-ständlich der Norm entsprechen, und den Behinderten, welche dieser Norm nie genügen können. Die Bibel hingegen und weitere vormoderne Kulturen ziehen die Grenzlinie «realistischer»: zwischen den Momenten, in denen jemand einer gesellschaftlichen Norm genügt, und jenen, in denen ihr jemand nicht genügt. So wird deutlich, dass kein Mensch eine bestimmte Norm stets erfüllen kann – jedermann handelt einmal «töricht», einmal mutig, einmal kindlich/kindisch.

Dass alte Texte wenig oder gar nicht zwischen geistiger Behinderung und psychischer Erkrankung unterscheiden, spiegelt eine Tatsache: Eine erschreckend hohe Anzahl von Menschen mit einer geistigen Be-hinderung erkrankt auch psychisch, und zwar ohne dass dies die Folge

1 Anders verhält es sich vielleicht bei Abb. 16, wo eine karikierende Absicht nicht sicher ist. Das hier zu vermutende «Klippel-Feil-Syndrom» ist ein Geburts-gebrechen der Halswirbel, das zu Ertaubung sowie geistiger Behinderung führen kann. Dabei bewirkt ein Druck auf die Nerven grosse Schmerzen, was wohl aus der Tonfigur abzulesen ist (M. Grmek u. a., maladies, S. 209–210). Zum archäo-logischen Nachweis bei Mumien siehe W. Westendorf, Handbuch, S. 463.

2 Eine Statistik des Louvre von 1963 nennt 267 Tonfiguren mit pathologischem Aussehen; davon sind «34 faciès d’idiots divers» (D. & M. Gourevitch, Terres cuites Hellénistiques d’inspiration médicale au Musée du Louvre, Presse Médicale 71, 1963, S. 2751–2752). Zur Darstellung dümmlicher Menschen mit Mikrozephalus, Hydro-zephalus und Kretinismus vgl. auch W. E. Stevenson, The Pathological Grotesque Representation in Greek and Roman Art, Ann Arbor 1978, S. 184–185 und 192–195. – Siehe zudem die physiognomische Beschreibung dummer Menschen durch Polemon in dessen «Physiognomika», z. B. A5.6.10, B29.58.60 (Texte mit Über-setzung in: S. Simon u. a., Seeing the Face, Seeing the Soul. Polemon’s Physiognomy from Classical Antiquity to Medieval Islam, Oxford 2007).

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einer unwürdigen Behandlung oder einer unangemessenen Anforderung sein muss – sehr häufig ist von Mehrfachbehinderungen auszugehen. Alte Kulturen vertreten also nicht einfach veraltete Meinungen, sondern zeigen durchaus einen realistischen Zugang zu geistiger Behinderung.

Überhaupt ist die heutige Bezeichnung «geistig behindert» unpräzis. Ist etwa der Geist behindert? Die Suche nach anderen Ausdrücken führt allerdings zu keinem befriedigenden Resultat: Die Bezeichnung «intellektuell behindert» wäre eine unzulässige Einschränkung der Reali-tät (mangelnde Beachtung des Gemüts), und «kognitiv behindert» ist ja etwa auch ein Sehbehinderter.

Kritisch unter die Lupe zu nehmen sind Motivationen heutiger Strömungen, welche die gängigen Unterscheidungskategorien zwischen «behindert» und «nicht behindert» am liebsten abschaffen möchten: Geht es vielleicht darum, auf diese Weise finanzielle Investitionen ein-zusparen, die sonst den Menschen mit einer geistigen Behinderung zu-gute gekommen wären? Oder soll das reale Gewicht einer konkreten Behinderung kleingeredet werden, weil man die Welt in rosa sehen möchte? – Gleichermassen kritisch ist in die andere Richtung zu fragen, wenn fein säuberlich zwischen Behinderten und Nichtbehinderten unter-schieden wird: Führt dies nicht zwingendermassen zu einer fatalen Ab-wertung der Behinderten? Der Theologe Ulrich Bach, der während seines Studiums an Kinderlähmung erkrankte und sich deswegen nur noch im Rollstuhl fortbewegen konnte, redet – heilsam überspitzt – vom «Apartheidsdenken»: Hier sind die Gesunden und dort die Behinderten, die zu Objekten der Nächstenliebe gemacht werden.3 Dahinter verbirgt sich die Vorstellung, nur der Gesunde sei der von Gott gewollte Mensch, und so wird der Behinderte automatisch zur Ausnahme- und Randfigur. Einem solchen «Sozialrassismus» widersprechend hält Bach fest, dass ausnahmslos alle hilfsbedürftig sind und je auf ihre Weise helfen können. Eine solche Sicht kennt kein Gefälle von oben nach unten, und gleichzeitig verunmöglicht sie eine blauäugige Gleichmacherei.

Mit U. Bach stimmen Aussagen der Bibel überein: Das Erinnern an Gott, der einzig der Schöpfer und Erhalter der Menschheit ist,4 verunmög-licht die Vergötzung menschlicher Werte und ebenso die landläufige Ver-götzung der Gesundheit. Bei dieser Vergötzung wird übrigens ohne weitere Überlegung «Gesundheit» sowohl im Gegensatz zu Krankheit wie auch zu Behinderung gesehen; wer leichthin nachredet, dass «die Gesundheit

3 U. Bach, «Gesunde» und «Behinderte». Gegen das Apartheidsdenken in Kirche und Gesellschaft, München 1994. Derselbe, Getrenntes wird versöhnt. Wider den Sozialrassismus in Theologie und Kirche, Neukirchen 1991.

4 Siehe z. B. Jes 41,20; 42,5; 45,7; Ps 54,6; 116,6; 119,116.

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das höchste Gut» sei, nimmt in Kauf, dass Menschen abgewertet werden, welche dieser problematischen Sicht von Gesundheit nicht entsprechen. Natürlich ist es richtig und wichtig, das Leben zu lieben und gesund sein zu wollen – wenn wir aber meinen, gesund sein zu müssen, weil andern-falls das Leben nicht mehr «lebenswert» sei, wird die Gesundheit zum lebensfeindlichen Götzen.

Jesus fragte Menschen mit einer Krankheit oder Behinderung: «Willst du gesund werden?» (Joh 5,6; ähnlich Mk 10,51). Als Petrus seinen Meister zu weiteren Kranken führen will, die auf eine Heilung warten, sagt Jesus überraschenderweise: «Lasst uns anderswo hingehen, damit ich auch dort predige; denn dazu (!) bin ich gekommen!» (Mk 1,38).5 Wenn man Jesu Verweigerung nicht als gemeine Frechheit auslegen will, bleibt nur der Schluss: Heilung und Gesundheit sind offensichtlich kein Muss für Jesus.6

3. Die Stimme der monotheistischen Religionen

Unsere Vergötterung der Gesundheit ist lebensgefährlich, denn sie führt in eine fatale Nähe zu Euthanasiegedanken. Wenn der Verlust der Gesund-heit das Leben «lebensunwert» erscheinen lässt, so wird es schwierig zu begründen, warum ein solcher Mensch unter einem erheblichen zeitlichen, personellen und finanziellen Aufwand «am Leben erhalten» werden soll. Und wenn die Gesellschaft erst noch fun zum primären Lebenssinn erklärt, wird es dem betroffenen Nichtgesunden noch zusätzlich erschwert, den Sinn seines anscheinend fun-losen Weiterlebens (Weiterleben-Müssens) zu begreifen. Auf diese Weise angefochten, wird ein solcher Mensch von

5 Vergleichbares lässt sich beobachten in Mk 3,9 (Jesus tritt in ein Boot, um nicht weiter von Kranken bedrängt zu werden) und 7,24 (Jesus verbirgt sich in einem Haus). – Aus Mk 9,43 schliesst U. Bach (Getrennt, S. 50): Es ist besser für dich, dass du als ein Behinderter zum Leben eingehst, als weiterhin nichtbehindert mit zwei Händen (bzw. Augen) zu bleiben und in die Hölle zu fahren.

6 In den nachbiblischen (sogenannt apokryphen) «Akten des Petrus» (Ende 2. Jahrhundert) findet sich eine ähnliche Sicht, wenngleich durch einen massiven Wunderglauben vergröbert. Petrus wird gefragt, warum er seine eigene be-hinderte Tochter nicht von ihren Lähmungen heile, wogegen er doch sonst ver-schiedenartigste Behinderungen bei anderen Menschen geheilt habe. Petrus weist darauf hin, dass Gott diese Behinderung in seinem guten Plan so vorgesehen habe. Als Beweis, dass Gott jedoch nicht machtlos sei, heilt dann Petrus seine Tochter, um sie darauf sofort wieder in ihren gelähmten Zustand zurückzu-versetzen (W. Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen, Band 2, 6. Aufl. 1997, S. 256–257).

kellenberger.indb 155 05.08.2011 11:38:51

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Selbstzweifeln geplagt – «Wozu lebe ich?» – und von der Gesellschaft letzt-lich alleingelassen; er wird fallengelassen, in seinem Menschsein verraten. Woher soll er da die Kraft dafür erhalten, seinen Lebenssinn zu finden? Früher oder später wird er darin einstimmen, dass er sein Leben fort-werfen soll, um es sich selbst und der Gesellschaft «leichter» zu machen.

Diese Problematik wird in Zukunft noch vermehrt unsere Gesellschaft beschäftigen, welche in Bezug auf verschiedene Bevölkerungsgruppen hilf-los wirkt, wenn sie wie gebannt nur auf die defizitären Aspekte blickt. Zum Beispiel: Wie sind die zukünftigen Altersprobleme von Menschen mit einer geistigen Behinderung zu «lösen»,7 wenn diese zunehmend mit körperlichen oder psychischen Altersgebrechen konfrontiert werden?

Die Quelle dieser fatalen Entwicklung liegt im Vergessen dessen, was die drei monotheistischen Religionen hartnäckig in Erinnerung rufen: Einziger Erschaffer und Erhalter des Lebens ist Gott. Alle anderweitigen Versuche, das Leben zu meistern, sind Götzendienst, der keine Zukunft hat, sondern Leere ist und den Tod bringt. Von daher ist es kein Zufall, dass sich trotz ihrer sonstigen grossen Verschiedenheiten das Judentum, das Christentum und der Islam in diesem Punkt einig sind und die Tötung neugeborenen Lebens wie auch von Behinderten und Alten verbieten. Und ebenso ist Geringschätzung und Instrumentalisierung von Menschen mit einer Behinderung unvereinbar mit Gottes Willen.

Die Stimme der christlichen Religion ertönt nicht nur in unseren Kirchen, sondern zuweilen sogar noch deutlicher bei Menschen, die sich nicht als kirchlich engagiert bezeichnen und bei denen man es am aller-wenigsten erwartet. Dass die christliche Botschaft nicht immer von den «Gläubigsten» erfasst wird, darauf machte bereits Jesus in scharfer Kritik an der Elite der Gläubigen aufmerksam (Mt 8,11–12; Lk 18,14). Und so müssen wir es akzeptieren, dass die französische Revolution (samt ihrem sich «gottlos» gebärdenden Napoleon) mehr für die Gleichberechtigung aller Menschen getan hat als die kirchlichen Kreise jener Zeit. Gerade die Bewegung der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert nährte sich von biblischen Werten, die in den Kirchen zu wenig ernst genommen worden waren. Heutigen «aufgeklärten» Menschen ist häufig gar nicht bewusst, wie sehr sich manche ihrer liebsten Überzeugungen aus biblischen Wurzeln nähren, und noch weniger, an welchen Punkten das biblische Erbe ver-lassen wurde. – Nähe und Ferne zur Bibel soll im Folgenden an der an-hand des im Zeitalter der Aufklärung geprägten Begriffs «Menschen-würde» aufgezeigt werden.

7 Zu engagierten und erstaunlich erfolgreichen Alternativen siehe z. B. das aspektreiche Buch von M. Buchka, Ältere Menschen mit geistiger Behinderung, München/Basel 2003.

kellenberger.indb 156 05.08.2011 11:38:51

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4. Fortschritte und Rückschritte in der Moderne

Um besser zu verstehen, was mit «Menschenwürde» gemeint ist,8 lohnt es sich, die wechselvolle Geschichte dieser wichtigen Vorstellung zu verfolgen. Philosophische und andere geistige Entdeckungen bleiben nicht zwischen Buchdeckeln begraben, sondern können im Laufe der Zeit ins allgemeine Bewusstsein eingehen und zum selbstverständlichen Bestandteil einer Kultur werden. Häufig geschieht dies allerdings in einer Gestalt, die nicht mehr mit der anfänglichen Idee identisch ist.

Die Vorstellung der Menschenwürde speist sich aus zwei unterschied-lichen Quellen: Antike und Bibel. Die griechische Antike entwickelt die ein-drückliche Idee von der adeligen Würde eines jeden Menschen; dabei wird allerdings diskutiert, ob diese auch für sozial Niedrige gilt, und behinderte Menschen bleiben in der Praxis ausgeschlossen. Im Alten Testament wird von der Gott-Ebenbildlichkeit eines jeden Menschen geredet (Gen 1,26 und weitere Stellen) und ihm so eine Würde zugesprochen; gleichzeitig findet sich dort auch das Wissen, dass der Mensch unvollkommen und verletzlich ist, versagen und scheitern kann. Gleichwohl gilt die Gott-Ebenbildlich-keit von Anfang an und grundsätzlich allen, ohne dass sie durch «gute Leistungen» erst verdient werden müsste. Gott lässt seine Sonne scheinen auf Böse und Gute, und er gönnt seinen segensvollen Regen den Gerechten wie den Ungerechten, lesen wir im Neuen Testament (Mt 5,44); «ebenso Menschen mit und Menschen ohne Behinderung», dürfen wir mit Recht anfügen, auch wenn man sich dessen im Laufe der Kirchengeschichte nicht immer gleich bewusst gewesen ist.

Während der Aufklärung (17. und 18. Jahrhundert) erfolgt ein weiterer Schritt: Die menschliche Vernunft erhält eine neue Wichtigkeit – mit fatalen Folgen für Menschen mit einer geistigen Behinderung. Denn wer nun beim Siegeslauf des Verstandes nicht mitzuhalten vermochte, konnte bei den Aufklärern auf kein Verständnis hoffen. Als Beispiel sei eine einflussreiche Schrift des Engländers John Locke genannt. Dessen Hauptwerk von 1690 hat die weitere Geistesgeschichte bis heute stark beeinflusst (Abb. 17). Locke, ein wichtiger philosophischer Pionier der Toleranzidee (!), definiert geistige Behinderung als ein Fehlen des Verstandes (demgegenüber sei bei psychisch Kranken der Verstand nur zeitweilig ausser Kraft gesetzt). Laut Locke können solche Menschen nicht unterscheiden, vergleichen und abstrahieren, so dass sie auch die menschliche Sprache weder richtig ver-stehen noch gebrauchen. Infolgedessen spricht Locke diesen Behinderten,

8 Instruktive Informationen im «Handbuch Ethik im Gesundheitswesen», Band 5 (Ethikdialog in der Wissenschaft), Basel 2009, S. 45–57 (T. Rehbock).

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die er weiterhin als «Wechselbälge» (changelings) bezeichnet, ihr Mensch-sein ab und schafft für sie eine besondere Kategorie zwischen Mensch und Tier, oder er stellt sie sogar auf die Stufe eines Affen oder Elefanten.9

Nicht die körperliche Form, sondern das Vorhandensein von Vernünftig-keit entscheidet jetzt darüber, ob jemand als Mensch angesehen werden darf oder nicht. Diese Erkenntnis erschien den Pionieren der Aufklärung wahrscheinlich als Fortschritt,10 was allerdings auf Kosten der Menschen mit einer geistigen Behinderung ging. Locke’s unselige Entscheidung wirkt bis heute nach, wenn wir in aller Selbstverständlichkeit die Menschen in Normbegabte und geistig Behinderte unterteilen.11

9 J. Locke, An Essay Concerning Humane Understanding (1690) II 11,12–13; III 6,26 und IV 4,14–16. – Dazu vgl. C. F. Goodey, John Locke’s Idiots in the Natural History of Mind, in: History of Psychiatry 5, 1994, S. 215–250. Derselbe, The Psychopolitics of Learning and Disability in Seventeenth-Century Thought, in: D. Wright u. a. (ed.), From Idiocy to Mental Deficiency. Historical perspectives on people with learning difficulties, London 1996, S. 93–117. – Darf man Abb. 7b (Nähe von Affe und behindertem Kind) mit Locke’s Einordnung vergleichen?

10 In der griechisch-römischen Antike galten Monstrositäten (fehlende Sexual-organe, zusätzliche Finger usw.) als untermenschlich und waren also schlimmer als sonstige körperliche oder geistige Behinderungsarten (siehe S. 75 Anm. 50).

11 Fairerweise muss daran erinnert werden, dass auch Augustinus – bereits

Abb. 17: John Locke, An Essay Concerning Humane Understanding, 1690 (Titelseite)

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Immanuel Kant

Ein Jahrhundert später erhält die Aufklärungsidee ihre klassische Aus-prägung durch Immanuel Kant. Er bringt Impulse, die im Blick auf Menschen mit einer geistigen Behinderung sowohl verheissungsvoll als auch problematisch sind. Kant erklärt die Mündigkeit und Autonomie des vernünftigen Menschen als Grund seiner Würde. Darum verurteilt er die Bequemlichkeit, unmündig bleiben zu wollen; er bezeichnet es geradezu als Pflicht, seine eigene Vernunft zu gebrauchen. Wenn heute erfolgreiche Anstrengungen unternommen werden, um die Autonomie der Menschen mit einer geistigen Behinderung zu fördern, so liegt darin ein verheissungs-volles Potential, das sich auf Kant berufen kann.

Gleichzeitig müssen wir auch die Grenzen dieser Möglichkeiten sehen, denn sonst verkehrt sich der freiheitliche Impuls Kants – zumindest nach-träglich – zu einer fatalen Falle. In Kants Verständnis gilt diese Freiheit nicht nur den Adligen und Mächtigen, sondern allen Menschen, sofern sie sich darum bemühen.12 Doch wer dies unterlässt, bekommt das Urteil: «Wer sich aber zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, dass er mit Füssen getreten wird».13 Kant denkt hier an die Bequemlichen – in jener Zeit fehlte die Aufmerksamkeit für Menschen, die wegen einer geistigen Behinderung diesem Impetus nicht genügend folgen können; ja, der späte Kant kann solche «blödsinnigen» Menschen einmal gar als seelenlos bezeichnen.14 So führt die aufklärerische Weichenstellung zu ambivalenten Folgen für die Menschen, übrigens auch für solche ohne geistige Behinderung.

über ein Jahrtausend vor J. Locke – die moriones knapp über die Tiere gestellt hat; doch wurde Augustinus’ intellektuelle Überheblichkeit so weit durch biblische Impulse relativiert, dass sich auch bedeutend positivere Aussagen bei ihm finden (siehe oben S. 131). Bei Locke hingegen fehlen solche Gegenkräfte.

12 Entscheidend ist hier der Vollzug, nicht die Fähigkeit. Wo die Fähigkeit nicht in vollem Masse vorhanden ist, hat auch der Vollzug nur der vorhandenen Fähigkeit gemäss zu sein. Je mehr Freiheit, Rechte und Fähigkeiten, desto mehr Verantwortung, Pflichten und Aufgaben.

13 I. Kant, Metaphysik der Sitten (1797), II § 12 (http://www.korpora.org/Kant/aa06/437.html).

14 I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), Ende von § 49 (http://www.korpora.org/Kant/aa07/212.html): «Die gänzliche Gemütsschwäche, die entweder selbst nicht zum tierischen Gebrauch der Lebenskraft (wie bei den Kretinen des Walliserlandes) oder auch nur eben zur bloss mechanischen Nach-ahmung äusserer, durch Tiere möglicher Handlungen (Sägen, Graben etc.) zureicht, heisst Blödsinnigkeit und kann nicht wohl Seelenkrankheit, sondern eher Seelen-losigkeit betitelt werden.» Ferner § 18 (S. 155) zur Taubheit. – Zu einem ähnlich problematischen Urteil des Aufklärers J. J. Rousseau, der allgemein als Idealist gilt, siehe O. Speck, Menschen mit geistiger Behinderung. Ein Lehrbuch zur Erziehung und Bildung, München 10. Aufl. 2005, S. 16–17.

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Ein weiterer Aspekt der Menschenwürde wird von Kant beleuchtet: Meine eigene Menschenwürde und diejenige der andern sind gleichzeitig und gleichwertig zu achten. So vernünftig und schön dies tönt: Es hilft nicht bei einem Dilemma, das heute infolge aktueller medizinischer Fortschritte auf vielfache Weise auftreten kann und kaum lösbar ist. Wozu sind Eltern ihrem werdenden Kind gegenüber verpflichtet, wenn durch pränatale Diagnostik ein Risiko betreffend einer schweren Krankheit oder Behinderung festgestellt wird? Steht hier Menschenwürde gegen Menschenwürde? Und während die medizinische Forschung erfolgreich fortschreitet, beginnt unser Verständnis des Menschseins an den Rändern immer mehr auszufransen: Ist eine soeben befruchtete Eizelle «schon» ein Mensch, und ist ein Patient nach jahrelangem Koma «immer noch» ein Mensch? Gilt ihnen die Menschenwürde, die doch allen Menschen gelten soll, etwa noch nicht oder nicht mehr? Wir erweisen uns als unfähig, solch kontroversen Fragen anhand der Menschenwürde zu entscheiden.15

Unterdessen droht das Verständnis von universaler Menschenwürde weitere Löcher zu erhalten: Kann man eine solche Würde auch verlieren – etwa durch verbrecherische Aktivitäten oder durch den Verlust jeglicher «Lebensqualität»? Bereits diskutieren einige Ethiker ein solches «eigen-schaftsorientiertes» Verständnis der Menschenwürde, die man infolgedessen auch verlieren kann. Damit verändert sich der Sinn dieses Wortes grund-legend. Und es schwindet das Bewusstsein, dass – im biblischen Verständnis der Gott-Ebenbildlichkeit und auch noch bei Kant – die Menschenwürde vor aller Einteilung in Menschengruppen eben gerade allen gilt.

5. «Euthanasie von unten»

Ein staatliches Euthanasieprogramm wie dasjenige der national-sozialistischen Zeit ist in der heutigen westlichen Welt zwar undenkbar; der enorme Aufschwung in den staatlichen finanziellen Leistungen samt dem Ausbau der Institutionen und Spezialberufe spricht eine deutliche Sprache.

15 Zu Ansätzen in der medizinethischen Forschung siehe z. B. http://www.ethique.inserm.fr/. Kürzlich, in Auseinandersetzung mit der heutigen säkularen Diskussion, C. Frevel, Gottesebenbildlichkeit und Menschenwürde. Freiheit, Ge-schöpflichkeit und Würde des Menschen nach dem Alten Testament, in: A. Wagner (Hg.), Anthropologische Aufbrüche, Göttingen 2009, S. 255–274. – F. Sedlmeier zeigt anhand der Psalmen und von Hiob die nüchterne Realität, dass die Würde des Menschen gleichzeitig ein unverlierbares und ein bedrohtes Gut ist, was die Gesellschaft in eine besondere Verantwortung stellt (Quaestiones disputatae 237, 2010, S. 300–316).

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Doch könnten sich in Zukunft die heute um sich greifenden «Kosten-Nutzen-Analysen» als Achillesferse entpuppen, falls damit – zum Beispiel bei stark sinkender Wirtschaftskraft – vermehrt auch die Aufwendungen für Menschen mit geistiger Behinderung ins Visier genommen werden. Mit den gängigen Vorstellungen von Menschenwürde wären wir wohl schlecht für eine Diskussion gerüstet; die Argumente zum Schutz dieser Menschen würden bald einmal ausgehen, und es käme rasch der Vorwurf, man wolle den Behinderten (und ihren Eltern) ein unmenschliches Prinzip des «Leben-Müssens» aufoktroyieren und ihr autonomes Entscheidungs-recht beschneiden. Vorgeschoben würde dann das Argument der «schlechten Lebensqualität», welche nicht zumutbar sei.

Bereits heute zeigt sich eine neue Entwicklung, die man zuweilen als «Euthanasie von unten» bezeichnet: Zukünftige Eltern nehmen die Möglich-keiten der pränatalen Diagnostik wahr, und wenn der Test das Risiko einer Behinderung anzeigt (bereits testbar ist vor allem Trisomie 21), entscheiden sie sich häufig für einen Schwangerschaftsabbruch. Solche Entscheidungen geschehen heute unter grossem zeitlichen und persönlichen Druck. Dieser verstärkt sich, wenn sich die Betroffenen angesichts der Zukunft mit einem behinderten Kind von ihrer Umgebung nicht deutlich getragen fühlen.16 In einer solchen Stresssituation können die Eltern nicht wahrnehmen, was alles an erfolgreichen Anstrengungen zur Verbesserung eines Lebens mit Be-hinderung in den letzten Jahrzehnten unternommen worden ist. Eher passen sie sich dem an, was sie als die (mehr oder weniger geheimen) dominanten Werte unserer Gesellschaft wahrzunehmen meinen.17 So findet heute das, was in der griechisch-römischen Antike in Form von Kindestötung und -aussetzung geschah, in modernerer Form (und nur eventuell mit geringerer Gewissensbelastung) eine Fortsetzung. Dabei geraten Kinder mit einer geistigen Behinderung heutzutage rascher unter die Räder,18 wogegen in der Antike eine körperliche Auffälligkeit gefährlicher war.

16 Die vielfältigen Aspekte dieser Thematik werden diskutiert im Sammelband von D. C. Hürlimann u. a. (Hg.), Der Beratungsprozess in der Pränatalen Diagnostik, Bern 2008. Besonders beachtenswert ist der dortige Beitrag eines blindgeborenen, also direkt betroffenen Autors: J. Spielmann, Kinder, die es nicht geben darf – Ein ethischer Grundlagentext zur Pränatalen Diagnostik, S. 215–269.

17 M. Christen, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut «Dialog Ethik» Zürich, berichtet mir von Beobachtungen aus jüngster Zeit, dass die Anzahl solcher Schwangerschaftsabbrüche eher wieder abnehme (allerdings fehlt dazu eine statistisch gestützte Untersuchung). Er vermutet dahinter das Dilemma, dass die Schwangeren bei steigendem Altersdurchschnitt mit der Möglichkeit rechnen müssen, dass sie nach einem Verlust des Kindes keine Chance mehr für eine weitere Geburt haben.

18 Zwar lassen sich bisher nur einige wenige Arten geistiger Behinderung durch pränatale Diagnostik erkennen und dann allenfalls durch Schwangerschaftsabbruch

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Zusätzlich brisant für Überlegungen bezüglich Euthanasie sind die aktuellen, mit starken Emotionen vermischten öffentlichen Diskussionen um die «Sterbehilfe» bei Todkranken, da leider häufig nicht unterschieden wird zwischen Sterbebegleitung, palliativer Medizin und Sterbehilfe. Solche Diskussionen könnten sich eines Tages auf Demente und geistig Behinderte ausdehnen,19 je nachdem ausgelöst und verschärft durch ein-seitige Überlegungen zu Lebensqualität sowie «Kosten und Nutzen» dieser Menschen, wodurch auch eine Verlockung zu einer «Euthanasie von oben» wieder denkbar würde. Als im letzten Jahrhundert ein solcher Ernstfall eintrat, kam der Widerstand am ehesten von religiös motivierten Menschen, welche sich auf die Grundlage der Bibel stützen konnten und dabei ihr Leben riskierten; der Widerstand des aufgeklärten Humanismus, der auf das Ideal des vernünftigen Menschen setzte, war in diesem Punkt bedeutend schwächer. Wie wird es in Zukunft sein, wenn die Stimme der Religionen weiterhin systematisch geschwächt und deren Einfluss zurück-gedrängt wird? Wem nützt dieser Trend? Und wer riskiert deswegen unter die Räder zu geraten?

6. Bedürftigkeit als Grundvoraussetzung des Menschseins

Da die Vernunft als gemeinsamer Grundwert unseres Menschseins pro-blematisch ist, weil er Menschen mit einer geistigen Behinderung aus-schliesst, schlage ich einen anderen Grundwert vor. Zu den unverwechsel-baren Eigenheiten der christlichen Tradition gehört die Auffassung, dass sich das Menschsein in besonderer Weise darin zeigt, dass Gott selber Mensch geworden ist. Und zwar ein bedürftiger Mensch: Jesus brauchte von Anfang an, also sozusagen bereits vor seinem ersten Atemzug, menschliche Fürsorge. Seine Mutter gebar ihn, wickelte ihn in Windeln, nährte ihn an ihrer Brust. Etwas später bedurfte das Kind der Fluchthilfe nach Ägypten, um überleben zu können. Als Erwachsener brauchte er die Unterstützung seiner Jünger und Jüngerinnen. Zudem benötigten sie als Wanderprediger immer wieder eine Beherbergung; dabei erlebten sie öfters auch demütigende Verweigerung (Mt 10,14; Lk 9,53). Nicht zu-letzt bedurften sie auch finanzieller Unterstützung (Lk 8,1–3 nennt drei begüterte Frauen mit Namen). Und in den qualvollen letzten Stunden

«vermeiden». Doch nicht zu unterschätzen ist die psychologische Signalwirkung für die Einstellung unserer Gesellschaft zu geistiger Behinderung.

19 Auch psychisch Kranke könnten unter die Räder geraten, zumal diese Menschen noch weniger als andere eine Lobby hinter sich haben.

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seines Lebens ruft Jesus: «Mich dürstet» (Joh 19,28). Es ist bemerkens-wert, dass der «Sohn Gottes» sich das alles hat geben lassen müssen, ver-mutlich ohne dass er es sich aus eigener göttlicher Kraft hätte verschaffen können. Gerade ein grundsätzlich bedürftiger Jesus wird zum Helfer der Menschheit.20

Wer heute helfen will, tut gut daran, sich der Bedürftigkeit Jesu zu erinnern. Wer um seine eigene Bedürftigkeit weiss, kann auch mit der Be-dürftigkeit anderer Menschen partnerschaftlicher umgehen, ohne diese zu entmündigen. Zur Grundlage einer Partnerschaft gehört, dass jedermann bedürftig ist und alle auf ihre Weise helfen können; gerade Menschen mit einer geistigen Behinderung sind nicht nur hilfsbedürftig, sondern wollen und können auch Wesentliches und Hilfreiches geben. Allerdings wird dies von der Umwelt oft gar nicht bemerkt, weil diese es ihnen nicht zutraut.

7. Zukünftige Entwicklungen und Herausforderungen

Blickt man auf frühere geschichtliche Zusammenhänge zurück, ist die ge-läufige Sicht eines generellen Fortschritts ebenso fragwürdig wie jene eines ständigen Niedergangs. Stattdessen lässt sich ein Auf und Ab beobachten; verschiedene, anzahlmässig begrenzte Lösungsmöglichkeiten wechseln sich im Laufe der Jahrhunderte ab und wiederholen sich – ein Hinweis darauf, wie beschränkt der menschliche Geist letztlich ist. Dieses Auf und Ab gründet häufig auf dem Umstand, dass eine Lösung aus egoistischen Motiven missbraucht und schliesslich übernutzt wird, so dass eine Alter-native gesucht werden muss.

Ein Beispiel dafür ist die mittelalterliche Einrichtung der Oblaten, also der einem Kloster geschenkten Kinder: Weil der Adel sein Erbe zusammen-halten wollte und zudem behinderte Kinder abstiess, wurden die Klöster schliesslich von der Menge der Oblaten überfordert, und als Alternative mussten dann Findelhäuser trotz ihrer noch ungünstigeren Ausgangs-lage die abgestossenen Kinder übernehmen, zumal auch andere soziale Schichten dem Beispiel des Adels gefolgt waren. Zu einer vergleichbaren Überforderung kam es in jüngster Zeit bei den Sozialeinrichtungen von

20 Selber mit einer Behinderung lebend, beschreibt der Apostel Paulus sein und unser Teilhaben an der «Schwachheit» des gekreuzigten Christus sowie an der Kraft Gottes, die sich in der Auferstehung zeigt (ausführlich M. Albl, For Whenever I Am Weak, Then I Am Strong. Disability in Paul’s Epistles, in: H. Avalos, This Abled Body, S. 145–158).

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Arbeitslosen- und Invalidenversicherung: Die Arbeitgeberfirmen über-wiesen immer mehr Menschen, die dem steigenden Arbeitsdruck nicht mehr gewachsen waren, an die staatlichen Sozialversicherungen, bis diese finanziell überfordert wurden und infolgedessen begannen, ihre Versicherungsleistungen möglichst zurückzufahren – was dann alle Be-hinderten betrifft.

Ein weiterer Punkt: Die Lebensumstände in vorindustriellen Stammes-kulturen, zu denen ja auch das alte Israel gehört, unterscheiden sich wesentlich von unserem modernen, westeuropäisch-amerikanischen Lebensstil, der von einem starken Individualismus geprägt ist. Umso überraschender ist die Beobachtung, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung heute in mehrfacher Hinsicht weiterhin vorindustriell leben und dass dies von der Gesellschaft als normal angesehen wird. Denn im Gegensatz zu den heutigen Kleinfamilien, die tendenziell immer kleiner werden, orientiert sich die Struktur unserer Wohnheime weitgehend an der Form der vormodernen Grossfamilie. Diese lässt niemals dieselbe Individualisierung zu, die von den heutigen Normbegabten als selbst-verständliches Recht für sich selbst eingefordert und mit allen Regeln der Kunst zelebriert wird. Darum graut vielen alternden Normbegabten vor einem zukünftigen Aufenthalt im Alters- und Pflegeheim; doch eben-diese Lebensform wird, sobald es sich um Menschen mit einer geistigen Behinderung handelt, mit einer erstaunlichen Selbstverständlichkeit als normal und wünschenswert beurteilt. Und die betroffenen Behinderten scheinen ihnen insofern recht zu geben, als sie sich in der Regel opposition-slos in diese vorindustrielle Struktur fügen (und unter Umständen auch deren Vorteile entdecken). Sind sie etwa die Letzten, die heute diesem vormodernen Lebensstil frönen (müssen)? Oder sind sie – im Gegenteil – vielleicht die Ersten, und werden ihnen auch normbegabte Gruppierungen folgen müssen, sobald der bisherige «Individualismus für alle» als nicht mehr finanzierbar erscheinen sollte? Wären dann die Normbegabten ebenso beweglich in ihrer Anpassung an diese Lebensform?

Das heutige Anliegen, in der Schule möglichst viele Intelligenz- und Behinderungsgrade miteinander im selben Schulzimmer zu unterrichten statt die Schulbildung zunehmend zu individualisieren, ist in seiner Tendenz ebenfalls vorindustriell.21 Wenn dadurch Toleranz eingeübt und Ausgrenzung vermieden werden soll, wird dahinter ein hoher ethischer Anspruch sichtbar. Seltsamerweise geht trotzdem der Individualismus der Erwachsenen ungebremst weiter. Auch wenn ein direkter Zusammenhang

21 Allerdings ist inkonsequenterweise nie davon die Rede, Jugendliche mit einer intellektuellen Behinderung in ein Gymnasium zu integrieren. Hingegen wird die Schaffung von Spezialklassen für Hochbegabte diskutiert.

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schlecht beweisbar ist: Dass sich die Lohnschere zunehmend weiter öffnet, passt zu diesem letztlich egozentrischen und unsolidarischen Lebensstil, der vielleicht bei den Superreichen beginnt, aber nicht auf die Besser-gestellten beschränkt bleibt. Bildet ein schlechtes Gewissen das Motiv dafür, dass nun von den Kindern das Gegenteil dessen gelebt werden soll, was die Erwachsenen laufend vorleben? Oder sehen heutige Eltern nur dann eine Zukunft für ihr Kind, wenn sie dessen Behinderung mini-malisieren, indem sie es von den (in ihren Augen) stärker Behinderten separieren?

Aus all diesen Beobachtungen vermute ich eine schleichende Tendenz,22 Leben mit einer Behinderung als unwert (oder zumindest als nicht attraktiv) zu beurteilen und allenfalls nicht mehr zu schützen, weil solche Menschen nach Meinung der Gesellschaft nicht brauchbar sind bzw. keinen Profit abwerfen. Je mehr die stützende und warnende Stimme der drei monotheistischen Geschwisterreligionen an Autorität verliert, desto ungehinderter nähert sich unsere Gesellschaft tendenziell der alten griechischen und römischen Praxis.

8. Leben als Geschenk

Am Schluss dieses Buches sollen einige Erfahrungen von Direkt-betroffenen – jüngeren Eltern und Behinderten – deutlich machen, dass auch das Leben mit einer geistigen Behinderung für uns alle ein Geschenk sein kann.23 Die folgenden drei Blitzlichter stammen von Menschen mit

22 H. Nufer, Lehrbeauftragter an der Universität Fribourg (Abt. Heil-pädagogik) macht mich in einem Gespräch darauf aufmerksam, dass er meine (eher gefühlsmässig formulierten als konkret belegbaren) Entwicklungen der Zu-kunft an einzelnen Punkten bereits als gegenwärtig beobachtet. Ebenso äusserte sich mir gegenüber N. Petersen (wiss. Geschäftsführer der Arbeitsstelle Kirche und Stadt der Universität Hamburg, zuvor langjähriger Pfarrer in einer Werkstätte für behinderte Menschen). – Die Leistungsfähigkeit eines Menschen zum Grad-messer seiner Lebensberechtigung zu machen, hat eine lange Tradition: Namhafte griechische und römische Philosophen verneinen den Sinn ärztlicher Bemühungen um Chronischkranke und befürworten in solchen Umständen den Suizid (ein-drückliche Dokumentation von Texten seit Platos Staatsideal bei T. Kwasman in: A. Karenberg u. a., Heilkunde, Band 2, S. 263–276).

23 Diese Vorstellung war allerdings in einer agrarischen, sich stärker als Kollektiv verstehenden Gesellschaft wie Israel nicht in gleicher Weise denkbar. Doch warum sollten wir heute die Frucht der Individualisierung, wie sie in unserer Zivilisation vor allem seit Ende des Zweiten Weltkriegs möglich wurde, nicht auch positiv zur Entfaltung bringen?

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unterschiedlichsten Glaubensansichten. Zu ihnen nahm ich persönlich Kontakt auf oder kenne sie seit Jahrzehnten.

Ein Vater ist vor den Kopf geschlagen, als er nach der komplizierten Ge-burt seines ersten Kindes erfahren muss, dass es mit Trisomie 21 leben wird – so ganz anders hatte er es sich in seiner Vorfreude vorgestellt. Ein Jahrzehnt später bekennt er: «Ich bin leistungsorientiert erzogen worden und habe Chemie studiert. Meine behinderte Tochter Nadja hat mich ge-lehrt, dass ich meine Identität bei falschen Dingen suchte. Nadja ist nicht definiert über ihre Leistung, ihren Erfolg oder ihr Versagen. Sie weiss: Sie ist wertvoll, weil Gott sie liebt. Es ist befreiend zu wissen, dass meine Identität ein Geschenk von Gott ist.»

Eine junge Mutter, mit dem zweiten Kind schwanger, erfährt vom Frauenarzt, dass die Ultraschalluntersuchung den starken Verdacht auf ein behindertes Kind ergebe. Ein Schwangerschaftsabbruch sei deshalb zu erwägen. Die Mutter: «Ich habe einen geistig behinderten Bruder; das ist nichts Schlimmes. Ich möchte mein Kind behalten.» Einige Wochen später stirbt das Kind im Mutterleib ab. Die Mutter trauert sehr. Viele versuchen sie zu trösten: «Du bist ja noch jung und kannst wieder schwanger werden!» Diesen Satz erlebt sie als Verletzung und sagt: «Aber dieses Kind ist gestorben.»

Bernhard K. sagt seit vielen Jahren immer wieder: «Ich bin glücklich!». Unterdessen sagt er auch: «Ich bin ein glücklicher Mensch», und zu seinen Eltern: «du bist ein glücklicher Mensch».24 – Ähnliches kann auch für Menschen gelten, die sich wegen ihrer Behinderung nicht mit Worten äussern können, aber dasselbe mit ihrem Strahlen zum Ausdruck bringen.25

24 N. Petersen ergänzt dies durch eine wichtige kritische Bemerkung (E-Mail vom 22.7.2010): «Dabei darf aber das Glücklichsein oder Unglücklichsein kein Massstab werden, der darüber entscheiden kann, ob Leben lebenswert ist oder nicht. Wie viele nichtbehinderte Menschen sind unglücklich und werden trotz-dem nicht erschossen. Leben ist immer ein Geschenk Gottes. Jeder Mensch ist in seiner Brüchigkeit in Gottes Hand und niemand hat das Recht, uns dieser zu entreissen.» – Über die differenzierte Befindlichkeit von Menschen mit einer geistigen Behinderung finden sich zahlreiche eindrückliche Selbstzeugnisse in dem schönen Band von M. Kellersberger u. a. (Hg.), Der Mensch hat eine Unterschrift, Ittigen 2010.

25 Ein eindrückliches Beispiel ist der Bericht einer Mutter: A. Gujer u. a., Anna. Das Mädchen, das mit den Augen spricht, Basel 2008.

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Anhang

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Im Nachfolgenden werden die mehrfach zitierten Titel aufgeführt.

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Weitere (meist nur einmal erwähnte) wissenschaftliche Arbeiten aus dem 19. bis 21. Jahrhundert sind durch das Register sämtlicher im Buch verwendeten Autorinnen- und Autorennamen einsehbar (S. 171–172).

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Autorenregister

AAdkins, A. W. H., 62Albl, M., 163Alt, K. W., 62Andersen, B. R., 28–29,

59, 63, 76–77, 125Arnaud, D., 97Arzt-Grabner, P., 144Auburger, O., 12Aufderheide, A. C., 61

BBach, U., 154–155Baker, P., 142Bartlett, D. L., 111Barton, C. A., 101Berkson, G., 59Biggs, R., 140Blenkinsopp, J., 118Boer, W. den, 68Borger, R., 130Borst, A., 115Boswell, J., 11, 105,

115–117Bottéro, J., 146Bruyère, B., 123–124Buchka, M., 156Burnett, J. S., 65

CCadelli, D., 60, 134Cassin, E., 97Catel, W., 74Christen, M., 8, 161Czarnetski, A., 62

DDandamaev, M., 113Dasen, V., 59, 96, 142Delattre, V., 61–62, 71,

115Dettwyler, K., 88Diamandopoulos, A. A.,

69Dietrich, M., 60

Dougherty, R. P., 113Durand, J.-M., 83, 146

EEbner, M., 118Eidem, J., 20Engels, D., 77Evans Grubbs, J., 119

FFiler, J., 61Fischer-Elfert, H. W., 95Fischer, J., 101Francis, S., 142Franke, S., 110Freedman, S., 19, 125,

140Frevel, C., 160Fürst, A., 137

GGager, J. G., 66Galil, G., 117Gelb, I., 113, 135Geller, M., 133George, A. R., 21, 129Gerstenberger, E., 93,

107Gevaert, B., 100Gewalt, D., 139Gil’adi, A., 78Giuliani, L., 101Goodey, C. F., 16, 138,

142, 158Gourevitch, D., 87, 153Gourevitch, M., 153Grassl, H., 99Grmek, M., 69, 101,

153Grohmann, M., 58Gujer, A., 166

HHaas, V., 113, 140Hausfater, G., 65

Heessel, N. P., 27, 29, 76Herbst, H. R., 15Herrmann, C., 96Himmelmann, N., 102Hobson, D., 65Holma, H., 65Horn, C. B., 83, 87, 128Hubert, J., 88Hübner, U., 59, 63, 107Hummel, C., 61Hürlimann, D. C., 161

JJákab, E., 141Janowski, B., 27Jong, M. de, 114Jursa, M., 129

KKajanto, I., 65Kellenberger-Sassi, C., 49Kellenberger, E., 49,

134–135, 148Kellersberger, M., 166Kelley, N., 85, 87, 128Kessler, R., 89, 107Khoury, A., 102Kloft, H., 91Kohler, J., 113, 145Koskenniemi, E., 67, 78,

83, 105Kwasman, T., 165

LLabat, R., 140Laes, C., 82, 99Lahaye-Geusen, M., 114Laisney, V., 95Lambert, W. G., 19, 125,

129, 140Laubscher, H. P., 101Laugier, L., 101Leichty, E., 76, 125, 132Leipoldt, J., 51Leven, K.-H., 28

kellenberger.indb 171 05.08.2011 11:38:53

172

Lösch, S., 62Lynch, J., 116

MMacFarlane, A., 124Maier, J., 36Malul, M., 82Masetti, G. M., 130Mathys, F., 96Maul, S., 19, 27, 76McDowell, A. G., 30McGinn, T., 105Meier, F., 53Meier, S., 53Melcher, S., 134Meller, H., 61Mendelsohn, I., 116, 118Menzel, B., 113Meskell, L., 123–124Meye Thompson, M.,

130Michel, A., 78, 87, 107Miles, M., 138Murken, A. H., 69

NNeubert, D., 77Nissinen, M., 145–146Noth, M., 65Nufer, H., 165

OOlyan, S. M., 15, 36, 134

PPapaconstantinou, A.,

114Petersen, H.-C., 74Petersen, N., 15, 138,

165–166Pinder, W., 69Polz, D., 62Pomeroy, S. B., 89

RRadner, K., 109, 141

Ranke, H., 9, 65Rehbock, T., 157Reiner, E., 140Renger, J., 113Renier, E., 143Renz, J., 117Ritzmann, I., 18, 60,

124–125Roberts, C., 61–62Robins, G., 66Röllig, W., 19Rose, M. L., 75Rösing, I., 147–148Rouault, O., 145Rowlandson, J., 89Rudolph, W., 117

SSchafberg, R., 124Scheer, T., 130Schipper, J., 148Schmidt, H.-G., 15Schmidt, M., 85Schmitt, J.-C., 138Schneemelcher, W., 103,

155Schöffel, C., 100Schölmerich, J., 96Schultz, M., 63Scurlock, J., 28–29, 59,

63, 76–77, 125Sedlmeier, F., 160Segal, J., 133Shahar, S., 116Shirun-Grumach, I., 95Sjöberg, A., 129Soden, W. von, 20, 76,

125Speck, O., 159Spielmann, J., 161Stager, L. E., 118Stamm, J. J., 65, 83Stegemann, E., 91Stegemann, W., 31, 91Stevenson, W. E., 153Steymans, H. U., 135

Stol, M., 134Straus, J. A., 141Svärd, S., 113Szagun, A. K., 15

TTallquist, K., 111Teegen, W.-D., 88Templin, O., 63Theunissen, G., 26Toorn, K. van der, 96Trinkaus, E., 125Tuor, C., 8, 73, 75, 83,

86, 104, 119

VVlahogiannis, N., 66Vogüé, A. de, 114Volk, K., 59–60, 82, 129Volk, R., 12

WWahl, J., 62, 87Walls, N., 126Waser, M., 101–102Watanabe, K., 134Watermann, R., 96Weiher, E. von, 58Weiler, I., 91, 99–101West, G., 49Westendorf, W., 153Wiedemann, T., 132Wilhelm, G., 110Wright, D., 122, 158Wunsch, C., 83, 109,

111, 113

YYong, A., 17, 24–26, 92

ZZaccagnini, C., 107, 110Zengele, B., 49Zillhardt, R., 123–124Zimmerli, W., 118

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173

Bibelstellenregister

Genesis21,9–21 . . . . . . . . 80–8122 . . . . . . . . . . . . . . . 79

Exodus1,22–2,10 . . . . . 80, 1093–17 . . . . 41, 42 Abb. 2,

45, 534,10–11. . 148 Anm. 271

Leviticus19,13–14 . . . . 55, 93–9421,17–23 . . . . . . . . . . 7922,20–25 . . . . . . . . . . 7927,1–7 . . .116 Anm. 174

Numeri12,12 . . . .58 Anm. 5, 64

Deuteronomium28 . . . . . . . 88 Anm. 88, 132–133, 135 Anm. 236

Rut1–4 . . 63 Anm. 25, 106,

108 Anm. 145, 149

1. Samuel1 . . . . . . . . . . . . . . . 1122,8. . . . . . . . . . . 89, 1124,21. . . . . . . . . . . . . . 6516,14–23 . . . . . . . . . . 1521,14 . . . . . . . . 15, 135

Anm. 23625,25. . . . . . . . . . . . . 65

2. Könige9,11. . . . . 148 Anm. 271

Esra2 . . . . . . . 112, 117–118

Nehemia5 . . . . . . . . . . . 107–1087 . . . . . . . 112, 117–118

Hiob3,16. . . . .58 Anm. 5, 6419,13–19 . . . . . . . . . 127

Psalm34,1. . . . .135 Anm. 23678,7 . . . . . . . . . . . . . . 37113,7 . . . . . . . . . . . . . 89116,6–8 . . 7, 35–36, 129

Sprüche3,26. . . . . . . . . . . . . . 3714,15 . . . . . . . . . . 36, 3817,21 . . . . . . 22, 37, 12017,25 . . . . . . . . . . . . 12122,3. . . . . . . . . . . . . . 36

Jesaja53 . . . . . . 148 Anm. 271

Ezechiel16 . . . . . . . 81, 104–10545,18–20. . . . . . 36, 117

Amos2,7. . . . . . . . . . . . . . 106

Sirach4,6. . . . . . . . . . . . . . . 908,4. . . . . . . . . . . 93, 12222,3. . . . . . . . . . 23, 121

22,12–13 . . . . . . . . 121 Anm. 193, 135 Anm.

237, 136

Matthäus17,7 . . . . . . . . . . . . . . 3117,15 . . . . . . .16 Anm. 4

Markus5,15. . . . . . . . . . . . . . 157,33–34 . . . . . . . 30, 31

Anm. 40, 349,17–27 . . . . . . . . 16, 349,33–37 . . . . . . 118–1199.43. . . . . . .155 Anm. 510,13–16 . . 31 Anm. 40,

32, 102, 118 Anm. 183

Lukas1,22 . . . . . . . . . . . . . . 3310,25–37 . . . . . . . . . 11911,1 . . . . . . . . . . . . . . 52

Johannes9,2–5 . . 30 Anm. 37, 90,

103, 127–12814,12 . . . . . . . . . . . . . 32

Apostelgeschichte17,21 . . . . . . . . . . . . . 50

2. Korinther5,13. . . . . . . . . . . . . . 1612 . . . . . . 148 Anm. 271

1. Petrus4,7. . . . . . . . . . . . . . . 16

kellenberger.indb 173 05.08.2011 11:38:54

174

Stichwortregister

AAachen (Passionsaltar), 69–72

Abb. 7ab, 101, 158 Anm. 9Abgrenzungen. Siehe Definitionen und

Abgrenzungen von BehinderungAbraham, 38 Anm. 58, 79, 80, 88Abtreibung. Siehe

SchwangerschaftsabbruchAdoption (und Verdingung)

im 20. Jahrhundert, 13 Anm. 9, 106Israel, 105, 107–109, 111, 126Mesopotamien

Aussetzung und, 82–83, 109–111Fussabdruck, 110 Abb. 12Verträge, 108–110

ÄgyptischAmenemope, 55–56, 94–95ḥaʿ «wegwerfen», 11Papyrus Insinger, 91 Anm. 95

Altersprobleme, zukünftige, 26, 156Amulett

Alter Orient und Antike, 86, 96 Anm. 111, 123, 126

altes Europa, 62, 67 Abb. 3Anna G. (mit geistiger Behinderung),

48, 166 Anm. 25Apokryphe Schriften

Petrus-Akten, 155 Anm. 6Pseudo-Clementinen, 128

Anm. 210Thomas-Akten, 57 Anm. 2, 103

Arabischdaʿīf, safīh, 102 Anm. 130

Aramäischšōṭê «Tor», 57Zaubertexte, 57, 133 Anm. 228

ArbeitBehinderung und

agrarische Gesellschaft, 150Antike und Talmud, 142–144heute (Erste und Dritte Welt), 12,

41, 116 Anm. 172, 147–148, 164

Israel, 53, 92, 94, 106, 108, 111–112, 116–117

Mesopotamien, 19, 109, 111, 113, 140–141, 145–147

Kinderarbeit, 106–108, 131 Anm. 225

Archäologieexperimentelle, 39–40Knochenfunde und Grabbeigaben

Alter Orient, 61–62, 123–124 Abb. 14, 124 Anm. 200

Griechenland, 142 Anm. 253Israel, 59, 63, 107Mittelalter, 115prähistorisch, 61–63, 67 Abb. 3,

87 Anm. 85, 88, 125 Anm. 202

Stellenwert in der Geschichts-forschung, 10–11, 29

Aretaios (80–138; Arzt), 142 Anm. 254

Aristoteles (384–322 v. Chr.; Uni-versalgelehrter), 62, 74–75, 142 Anm. 253

ArmutÄgypten, 30, 95Antike und Talmud, 75–76, 87Bettelei, 19, 89–91, 101, 141Koran, 77Mesopotamien, 29, 109, 113, 117

Anm. 177, 129–130Mittelalter, 105, 117 Anm. 177Müll, Misthaufen, 89Neuzeit, 81, 106, 116 Anm. 172Strassenkinder, 88–90, 110–111Testament, Altes, 63, 89, 93

Anm. 100, 96 Anm. 111, 108, 116, 150

Testament, Neues, 90–92Vernachlässigung von Kindern, 55,

87–88, 90Asarhaddon (gest. 669 v. Chr.;

assyrischer König), 130 Anm. 221

Assyrisch. Siehe Babylonisch/Assyrisch

kellenberger.indb 174 05.08.2011 11:38:54

175

Augustinus (354–430), 100, 119–121, 131, 135–138, 146, 158–158 Anm. 11

Autonomie der behinderten Menschen, 18, 159, 161

BBabyklappe (Einsiedeln), 9Babylonisch/Assyrisch. Siehe auch lillu

bennu (Epilepsieart), 141 Anm. 250Briefe, 10, 20 Anm. 15, 145

Anm. 260Gebete, 27, 128–129, 140

Anm. 246Gesetze, 108, 132–134 Anm. 235, 141Gilgamesch-Epos, 18–21, 87, 130

Anm. 221Grenzsteinurkunde, 97, 98

Abb. 11ab«Ich will preisen», 126 Anm. 206išaru «aufrecht, richtig», 60

Anm. 11lillatu (weiblich zu lillu), 20, 125,

145–146Listen, 28 Anm. 31, 51 Anm. 8,

57 Anm. 2, 66, 113, 125, 145–146

medizinisches «Handbuch», 27, 29, 59–60, 76, 125, 140

medizinische Texte, andere, 27 Anm. 26, 140

nadû «wegwerfen», 11nasāku «wegwerfen», 11Omen-Sammlungen, 19 Anm. 12,

66, 76 Anm. 52, 125, 132 Anm. 226, 140 Anm. 248

Quittungen, 10, 145Rechtsurkunden und Verträge,

108–110, 132, 134 Anm. 231, 141, 145

Rituale, 27, 66–67, 76, 133sakku, sukkuku «taub», 33 Anm. 44,

97 Anm. 116 (siehe auch Personennamen)

saklu «Dummkopf», 19 Anm. 11, 97 Anm. 116, 103, 134 (siehe auch Personennamen)

ṣibtu, «gepackt (durch Dämon?)», 134 Anm. 230, 141 Anm. 250

«Theodizee», babylonische, 91 Anm. 98, 125, 140 Anm. 246

ulālu «geistig schwach», 97 Anm. 116, 98 Abb. 11b, 128–130 Anm. 211–221, 134

Bedürftigkeit / condition humaine, 35–36, 52, 154, 162–163

Behinderung. Siehe Bezeichnungen für Behinderung; Erklärungen für Behinderung

Benedikt von Nursia (480–547; Ordensgründer), 114

Bernhard K. (mit geistiger Be-hinderung), 13, 43–46, 49, 51–52, 166

Berthold von Regensburg (1210–1272; Bussprediger), 132 Anm. 226

Bes/Beset. Siehe GottheitenBettelexistenz. Siehe unter ArmutBezeichnungen für Behinderung.

Siehe auch Erklärungen für Behinderung

nicht schulmedizinische (siehe auch unter Personennamen; und unter den diversen Sprachen)

blödsinnig, 159Dummerli, 22geistig behindert, 154, 158Idiot; Idiötli, 21–22intellectual disparity, intellektuell

behindert, 15 Anm. 2, 154mental retardation, 15 Anm. 2Mönggi, 22Mongolismus, 22, 25nichtgeschult (apaideutos), 23schwachsinnig, 25, 65 Anm. 30Wechselbalg, 138, 158

political correctness, 21–22Bibel

Bibelverständnis heutiger Be-hinderter, 39–54

kirchliche Sozialisation/Unterweisung

Antike, 131heute, 40–41, 43–45, 49

Schulmedizin und, 16Unser Vater (Gebet), 44–45, 52Wiederholung, Wert der, 36, 48–49, 53

Bildliche DarstellungenAachener Passionsaltar, 69–70, 71

Abb. 7a, 72 Abb. 7bBes (Gottheit); Beset (weiblich), 85

Abb. 10ab, 96

kellenberger.indb 175 05.08.2011 11:38:54

176

etruskisch, 68–69 Abb. 5Grünewald, Mathias, 72 Abb. 8hellenistisch, 68–69 Abb. 4Inka-Kultur, 69 Anm. 39Jesuskind (italienische Maler),

69–70 Abb. 6jungsteinzeitlich, 69 Anm. 39Maria (Erfurt), 69 Anm. 41Weihnachtsengel (niederländisch), 71

Blindheit. Siehe SehbehinderungBlocher, Christoph (1940–; Politiker), 146Bora, Katharina von (1499–1552;

Gattin Martin Luthers), 116 Anm. 172

Braudel, Fernand (1902–1985; Historiker), 9

Brigitte (mit geistiger Behinderung), 48

CCannabis, 59cerebrale Schädigung

Ägypten, 61–62allgemein (auch in Israel), 33, 59, 104Antike, 62Mesopotamien, 28, 59–60, 76Mittelalter, 71–72 Abb. 8, 114Moro-Reflex, 60Sauerstoffmangel, 59

DDämonen, 15–16, 34–35, 96–97, 136

Anm. 238, 141, 152Definitionen und Abgrenzungen von

Behinderungbehindert/nichtbehindert, 12, 24,

52, 154, 155 Anm. 5Definitionsproblem, 12, 17, 154, 166geistig/Ekstatiker, 16, 140, 145–146geistig/körperlich

abgrenzbar, 15, 143–144, 158, 161sowohl als auch, 18, 57, 152, 156

geistig/normalintelligent, 20–22, 36, 38, 50, 52–53, 158

geistig/psychisch, 17, 24, 68, 142–144, 153, 156

Versuch einer Abgrenzung, 15, 95, 99 Anm. 119, 135, 157

Kategorisierung, 16–17, 22–24, 33–34, 147–148, 153–154, 158

Konstrukt, gesellschaftliches, 17–18, 22 Anm. 20

tierähnlich, 131, 136, 158–159Deir el-Medineh (Ägypten), 30, 61, 96,

123–124Didymus d. Blinde (310–398; Theo-

loge), 51, 137Down, John (1828–1896; Down-

syndrom), 25Downsyndrom. Siehe Trisomie 21Dritte Welt, 27, 60, 88–89, 92,

147–149

EEinsiedeln (Babyklappe), 9Epilepsie

Ägypten, 95, 141Antike, 103, 136, 142, 144Arbeitsmöglichkeit, 141–142Ausgrenzung, 29–30, 103, 141, 149bildliche Darstellung, 72 Abb. 8Fluch, 134geistige Behinderung und, 16, 95,

142 Anm. 254Mesopotamien

medizinisch, 27, 29–30, 59rechtlich, 141

Mittelalter, 72 Abb. 8Neues Testament, 16, 127, 149

Erklärungen für Behinderungnicht schulmedizinische (siehe auch

Dämonen)archaisches Denken heute,

127–128, 132Besessenheit durch Dämonen, 15,

35, 72, 95Fluch, 134–135«Hand» einer Gottheit, 27, 95,

166 Anm. 24infantil, 13Kretinismus, 66, 153 Anm. 2,

159 Anm. 14Strafe Gottes wegen einer Sünde,

33, 127–128, 132–135Teufel als Verursacher, 138–139verhaltensauffällig, 120«weibischer» Mann, 13

schulmedizinische (siehe auch cerebrale Schädigung; Epilepsie; Lähmung; Seh-behinderung; taub[stumm]; Trisomie 21)

Autismus, 28

kellenberger.indb 176 05.08.2011 11:38:54

177

Beckenskoliose, 124Botulismus, 76 Anm. 52Chondrodysplasie, 96 Anm. 112Chorea/morbus Huntington, 28, 77Downsyndrom (siehe Trisomie 21)floppy baby syndrome, 28, 76

Anm. 52Gaumenspaltung, 61–62Hirnhautentzündung

(Meningitis), 62–63Hydrozephalus (Wasserkopf), 13,

61, 63 Anm. 24, 123, 124 Anm. 200, 153 Anm. 2

Kleinwüchsigkeit, 56, 86, 96, 142 Anm. 253

Klippel-Feil-Syndrom, 152 Abb. 16, 153 Anm. 1

Kryptorchismus, 67 Anm. 36Mehrfachbehinderung, 29, 75,

85–86, 96, 147, 154Mikrozephalie, 62, 87 Anm. 85,

153 Anm. 2Mongolismus, 25Muskelschwund, 28, 76 Anm. 52Prader-Willi-Syndrom, 76

Anm. 52Praundler-Hurter-Syndrom, 96

Anm. 113Röteln, 62Spina bifida, 115Taubblindheit, 34 Anm. 46Thalassämie, 68Vitaminmangel, 63 Anm. 24

Euthanasie«Euthanasie von unten», 155,

160–162Humanismus und Medizin, Stellung

zu, 25–26, 74vom Staat gelenkt, 25, 74, 162

FFlorenz (Gemälde von Mantegna), 69

Anm. 40, 70 Abb. 6Forel, August (1848–1931; Hirn-

forscher), 25«fortwerfen», 11, 82. Siehe auch unter

den diversen SprachenFussabdruck, 110 Abb. 12

GGeburt. Siehe auch unter

KindersterblichkeitÄngste der Eltern, 66auffällige

Ägypten, 61–62Antike und Judentum, 67–68, 74–75,

99 Anm. 118, 153 Anm. 1Bibel, 23, 63–64Mesopotamien, 57 Anm. 2, 59,

66, 76, 125–126Behinderung von Geburt an, 23, 76

Anm. 52, 115, 121, 125, 127, 135 Anm. 237

Cannabis verabreicht, 59göttliche Hilfe, 85, 97Horror bei Missgeburten, 68Namenwahl als elterliche Reaktion,

58, 64–65, 111 Anm. 154Sauerstoffmangel, 59schwierige, 58–59, 64–65, 85, 97, 165Totgeburt, Fehlgeburt, 58–59, 64,

97 Anm. 115, 166Gellius, Aulus (ca. 130–180; Schrift-

steller), 143 Anm. 256Gesellschaft

honour and shame, 121Konstrukt, Behinderung als

gesellschaftliches, 17, 22 Anm. 20

kulturübergreifendin alten Kulturen, 11, 80, 83

Anm. 72, 104bis in die Neuzeit, 21–23, 51, 65

Anm. 29, 104, 112Methodisches, 7, 9, 66 Anm. 32

modern, 12, 23, 46, 77, 88, 157–166

vorindustriell-agrarischgegensätzlich zur Moderne, 24,

120, 124, 147–150, 153, 164–165

heutige Rückkehr zu, 12, 24, 132, 164–165

Gilgamesch-Epos. Siehe Babylonisch/Assyrisch

GottheitenBehinderungsbezeichnung (Name)

Lillu, 129 Anm. 218Sukkukutu, 130 Anm. 218

kellenberger.indb 177 05.08.2011 11:38:54

178

BehinderungsmerkmaleBes/Beset, 85 Abb. 10ab, 96–97Hephaistos, 85, 147Pan, 86

Gula, 97 Anm. 116Ischtar/Inanna, 129–130, 146Marduk, 126 Anm. 206–207, 129Schamasch, 97 Anm. 116, 129

Grab. Siehe ArchäologieGregor von Nyssa (340–394; Theo-

loge), 119Grenzsteinurkunden (Mesopotamien),

97–99 Abb. 11ab, 128 Anm. 211, 133–134

Griechischalalos «stumm», 33, 34 Anm. 48androgynos «Zwitter», 67 Anm. 36anoētos «unverständig», 142

Anm. 253apaideutos «ohne Schulung», 23, 93

Anm. 100aporrhiptein «wegwerfen», 11enangkalizesthai «umarmen», 118

Anm. 183haptein «berühren», 31 Anm. 40kōphos «taubstumm», 32–34koprias «Clown», 90 Anm. 92mogilalos «mühsam sprechend», 34

Anm. 48mōrainein, mōros «dumm», 12,

99 Anm. 118, 103, 142 Anm. 253–254

rhiptein «wegwerfen», 11selēniazesthai «mondsüchtig sein»,

16 Anm. 4sōphronein «besonnen/gesittet sein»,

16Grünewald, Mathias (1480–1528;

Maler), 72 Abb. 8

HHammurabi (gest. 1750 v. Chr.;

babylonischer König), 108 Anm. 146, 132–134, 141

Hebräischandroginōs «Zwitter», 67 Anm. 36,

78 Anm. 60ḥeḥĕrîš «taubstumm sein», 33–34

Anm. 45hišlîk «wegwerfen», 11, 81kaʿas «Kränkung», 121 Anm. 191

kesel, kislâ «Torheit, Vertrauen», 37kesel «Lende», 103 Anm. 133kĕsîl «Tor», 22, 37, 103, 121K-S-L / S-K.L (Konsonantenver-

tauschung), 103měšoʿemet «verwirrt/geistes-

schwach», 142 Anm. 254nābāl «(grausamer) Tor», něbālâ

«dumme Tat», 65, 120nātîn/nĕtînîm «(dem Tempel) ge-

schenkt», 112, 117–118nikpît «epileptisch», 142 Anm. 254petî «(unschuldiger) Tor», 7, 35–38,

102 Anm. 130, 117, 129, 142 Anm. 253

šōṭê «unzurechnungsfähig», 57 Anm. 2, 68, 142 Anm. 254

ṭumṭom «mit Hodenhochstand (?)», 67 Anm. 36, 78 Anm. 60

«Heiler» (Alter Orient und Jesus), 30–31

HeilungenBerührung und, 30–32, 34–35, 46

Anm. 5intellektuelle Behinderungen und,

16, 39Schädeltrepanation, 142 Anm. 254Speichel, 30, 34, 128Wunder, 31, 35, 46, 131, 155

Anm. 6Hieronymus (347–420; Theologe), 51,

115 Anm. 169, 137

IInstrumentalisierung behinderter

Menschen, 26, 92–104, 129, 156Integration

in Familie, 120–127, 165–166in Gesellschaft, agrarische, 52,

139–150in Gesellschaft, moderne, 17–18,

22, 51in Kirche bzw. Religionen, 52,

127–139, 152–153in Schule (Unterricht in Regel-

klasse), 12, 164–165Isaak (Altes Testament), 79Ismael (Altes Testament), 80–82, 88

kellenberger.indb 178 05.08.2011 11:38:54

179

JJesus von Nazareth, 84, 91, 118–119,

133, 156als bedürftiger Mensch, 162–163Behinderte und

Neues Testament, 30–35, 91, 102, 127–128, 149, 155

Wirkungsgeschichte, 45–46, 48, 52, 69–70 Abb. 6, 131

Joschia R. (mit geistiger Behinderung), 46

Josephus (38–100; jüdischer Geschichts-schreiber), 56, 93 Anm. 100

Justinus (gest. ca. 167; Märtyrer), 104

KKant, Immanuel (1724–1804; Philo-

soph), 159–160Kinderarbeit. Siehe unter ArbeitKinderopfer, 78–79, 114Kindersterblichkeit

Häufigkeit, 60Kindstod in frühem Lebensalter, 58, 60,

62–63, 65–66, 83, 87–88, 138Überlebensmöglichkeiten und,

58–63, 124Kindesaussetzung. Siehe auch Armut;

«fortwerfen»; Schenkung an Heiligtum

Abbildung auf Ölkrug, 84 Abb. 9Alternative zu Schwangerschafts-

abbruch/Kindestötung, 10Alter Orient und Antike, 75,

82–87, 90, 104–105, 111 Anm. 154.156, 119, 130 Anm. 222

Altes Testament, 79–82, 88–89, 104Babyklappe, 9Findelkind

in Israel, 81, 86, 104–105, 119in weiteren Kulturen, 83,

104–105, 109–110, 116, 119, 163

göttliche Hilfe, 80–81Häufigkeit, 55, 75, 83–84Moderne, 81, 161Motivation/Ursache, 82, 87, 119Praktiken, 86–87Romulus und Remus, 83Scham, 75, 84Todesrisiko, 82–83

KindestötungAlternative zu Schwangerschaftsab-

bruch, 10Alter Orient; Dritte Welt, 29, 75–77Befürwortung, 73–75ersticken, 87 Anm. 84, 138Israel, 56, 73, 78Koran, 77–78Kritik in der Antike, 73lebendig begraben, 76–77Moderne, 10, 25, 161Motivation, 75, 77Scham, 55, 75–76, 84Stresssituation, 77, 161Verbot, 73, 77–78, 104, 150, 156

kirchliche Unterweisung. Siehe unter Bibel

KleidungIsrael, 15, 46 Anm. 5, 112Mesopotamien, 18–19, 87, 145

Knochenfunde. Siehe unter Archäologie

Koran, 10, 77–78, 102Kulturen. Siehe Gesellschaft

LLähmung

Alter Orient, 57, 94–95, 134, 147Antike, 87 Anm. 84, 103, 136, 155

Anm. 6Bibel, 91, 94, 104Mittelalter, 114–115

Lateinischcirrus, cirrati «kraushaarig (?)»,

100–101, 146coprea «Clown», 90 Anm. 92demens; furiosus «seelisch/geistig

deviant», 143 Anm. 256fatuus, fatua «Narr, Närrin», 99–

101, 135–136 Anm. 237–238, 143–144

morio «Narr (zur Schau gestellt)», 99 Anm. 118, 100–101, 131 Anm. 224, 135 Anm. 237, 143–144, 146, 159 Anm. 11

prodigium «Omen, Missgeburt», 99 Anm. 118

proiicere «wegwerfen», 11vitium «Gebrechen», 143

Leviten (im Alten Testament), 118

kellenberger.indb 179 05.08.2011 11:38:54

180

lillu «Laller, Tor» (Mesopotamien)Bedeutungsbestimmung, 125

Anm. 204, 140 Anm. 246Doppelsinn (auch Schimpfwort),

19 Abb. 1, 20–22, 28 Anm. 31

Ekstatiker und, 145–146Literarische Erwähnung, 19

Anm. 12, 28, 66, 76 Anm. 52, 125, 128 Anm. 211, 140

in Gilgamesch-Epos, 19–21, 87in Mythos, sumerisch, 146–147

Name eines Menschen oder Gottes, 65–66, 129 Anm. 218, 144–145

Livius (59 v. Chr.–17 n. Chr.; Geschichtsschreiber), 11 Anm. 3, 67 Anm. 36, 77 Anm. 57

Locke, John (1632–1704; Philosoph), 157–158 Abb. 17, 159 Anm. 11

longue durée, 9, 163

MMakrina d.J. (330–379; Heilige), 119Mantegna, Andrea (1431–1506;

Maler), 69, 70 Abb. 6Mari (Mesopotamien), 83, 145Martial (40–102; Dichter), 99

Anm. 118, 100, 105 Anm. 136Medizin. Siehe Erklärungen für Be-

hinderung; SchulmedizinMenschenwürde, 156–161Mose, 41, 43, 79–80, 84, 109, 148

Anm. 271

NNadja W. (mit geistiger Behinderung),

166Nahrung

Einlöffeln, 61–62Hunger und Mangelernährung

in der Kirchengeschichte, 119in Israel, 63, 87–89, 107in weiteren Kulturen, 18–19, 60,

63, 66, 87, 113 Anm. 163Unterstützung, 19, 61, 131, 162

OOmen, 19 Anm. 12, 29, 66–67, 125,

140–141

PParacelsus (1493–1541; Arzt), 16Paris, Louvre, 153 Anm. 2Paulus (3. Jh.; Jurist), 87 Anm. 84Paulus (gest. nach 60; Apostel), 50,

148 Anm. 271, 163 Anm. 20Personennamen

ÄgyptenAriki, 123 Abb. 13«auf die Tempelschwelle ge-

worfen», 9Geheset, 62«Wozu ist er/sie nütze?», 65

Anm. 29griechisch-römisch

Baro; Brutus; Varro, 65Kopr-, Sterc- «vom Misthaufen»,

89 Anm. 91–92Moros, Morion, 65–66

IsraelArd; Ater; Bariach, 64Benjamin, 65Besaj, 96 Anm. 111Chakufa, 64, 117Charscha, 65 Anm. 30, 117Charumaf; Chatat, 64Ezechiel, 59Gachar; Gideon; Ikabod, 64–65Keros, 117Nabal, 65Paseach, 117Perez; Petachja; Salomo;

Semarja; Tanchumet, 58–59Zerua, 64

Mesopotamien«aus dem Maul des Hundes ge-

rissen», 82–83, 110«Dummkopf» (Lillu, Saklu), 65,

144–145«Kindischer», 111 Anm. 157«Taubstummer» (Sakku,

Sukkuku), 145«verlassen», 111 Anm. 154«von der Strasse», «aus dem

Stadtgraben», 90, 110«Was ist meine Sünde?», 134

Spitzname, 64, 66, 111 Anm. 157Petrus Venerabilis (1094–1156; Theo-

loge), 115

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181

Pflegevon Alten, 109, 111–112, 115von Behinderten

in alten Kulturen, 61, 76–77, 88, 123, 125–126

in der Neuzeit, 122 Anm. 194, 139

von Schwerkranken, 126Pflegekind, 81, 105, 118–119, 152Philo (20 v. Chr.–50 n. Chr.; jüdischer

Philosoph), 56Philogelos (griechische Witze), 99

Anm. 118, 105 Anm. 136Plato (428–348 v. Chr.; Philosoph),

74–75, 137, 142, 165 Anm. 22Plinius d.J. (61–113; Schriftsteller),

100Polemon (90–144; Gelehrter), 153

Anm. 2Pomponius (2. Jh.; Jurist), 143–144Prostitution, 25, 104–106, 130

Anm. 222Psellos (1018–1078; Gelehrter), 12–13

QQuittungen, 10, 145Qumran (Texte vom Toten Meer), 18,

36 Anm. 53, 57 Anm. 2

RRegelklasse. Siehe IntegrationRituale

Alter Orient, 27, 51, 66–67, 76, 133

geistig Behinderte, 51Rolf N. (mit geistiger Behinderung),

41–42 Abb. 2, 43, 45, 49, 53Rousseau, J.J. (1712–1778; Philo-

soph), 159 Anm. 14

SSamuel (im Alten Testament), 112Schenkung an Heiligtum

Alter Orient, 112–114, 146, 150christliche Klöster, 114–116, 163Israel, 112, 116–118, 150

Schule. Siehe IntegrationSchulmedizin, 24–26. Siehe auch

Erklärungen für Behinderung: schulmedizinische

Schwangerschaftsabbruchheute, 25, 161, 166pränatale Diagnostik und, 9–10, 25,

160–161Scham und, 55technische Möglichkeiten zur, 10

SehbehinderungAlter Orient, 56, 94–95, 134, 141,

147Altes Testament, 55, 79, 92–94, 134Antike, 51, 128 Anm. 210, 136–137Mittelalter, 115, 132 Anm. 226Neues Testament, 30 Anm. 35,

32 Anm. 43, 90–91, 102, 127–128

Seneca d.Ä. (55 v. Chr.–39 n. Chr.), 73–74

Seneca d.J. (1–65), 99Stettfeld (Grabfund in Deutschland),

62 Anm. 21, 67 Abb. 3, 87 Anm. 85

Strassenkinder. Siehe ArmutSumerisch

Enki und Ninmach (Mythos), 146–147

Listen, 28 Anm. 31, 57 Anm. 2SI.LÀ «aufrecht, richtig», 60

Anm. 11

TTacitus (58–120; Geschichtsschreiber),

73, 100 Anm. 121Talmud und Mischna

Entstehung, 67Inhaltliches, 68 Anm. 38, 86–87,

89, 118, 132 Anm. 226, 142–144

taub(stumm)Alter Orient, 57, 99, 130 Anm. 218,

134, 145Altes Testament, 33–34 Anm. 45,

55, 93–94, 117Antike und Judentum, 57 Anm. 2,

68, 87 Anm. 84, 103, 136, 153 Anm. 1

Dritte Welt, 148Mittelalter und Neuzeit, 104, 115,

132 Anm. 226, 139, 159 Anm. 14

Neues Testament, 16, 30, 32–34, 92, 127

kellenberger.indb 181 05.08.2011 11:38:54

182

Trisomie 21archäologischer Nachweis, 11, 62bildliche Darstellung, 68–72

Abb. 4–7Erkennbarkeit bei der Geburt, 66Familie, Reaktionen in der, 22, 24,

26, 166medizinische Bemühungen, 24–26pränatale Diagnostik, 161Zunge, 28, 96

UÜberleben. Siehe KindersterblichkeitUgarit, 60 Anm. 11, 126 Anm. 207Ulpianus (170–223; Jurist), 144

Anm. 258Ulrich von Cluny (1029–1093;

Mönch), 115Unterricht in Regelklasse. Siehe

Integration

VVerdingkind. Siehe Adoption (und

Verdingung)

Vernachlässigung von Kindern. Siehe Armut

VerspottungRealität, 101, 103, 122, 133

Anm. 228, 152 Abb. 15Verbot, 90 Anm. 93, 92–95, 122,

150Witze, 99

WWertung

als «Unglück»für das behinderte Kind, 136,

138, 166 Anm. 24für die Familie, 115, 121–122,

125, 139für die Gesellschaft, 12–13, 100

Anm. 121, 103, 147, 154, 165

positive, 36 Anm. 53, 70, 139, 149, 166

Witze. Siehe Verspottung

ZZivilisation. Siehe Gesellschaft

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183

Abbildungsnachweis

Abb. 1 (S. 20) Zeichnung: Edgar KellenbergerAbb. 2 (S. 42) im Besitz der Evangelisch-reformierten Kirchgemeinde

Oberwil BLAbb. 3 (S. 67) Regierungspräsidium Karlsruhe, Referat DenkmalpflegeAbb. 4 (S. 69) Benaki Museum, Athen (Inv. No. ΓΕ 12615)Abb. 5 (S. 69) aus M. Torelli, L’arte degli Etruschi, Rom 1985, Abb. 141Abb. 6 (S. 70) Polo Museale della città di Firenze, Gabinetto FotograficoAbb. 7ab (S. 71/72) Rheinisches Bildarchiv, Köln, rba_103073Abb. 8 (S. 72) Städel Museum Frankfurt/ARTOTHEK, Bild-Nr. 4760

(Der hl. Cyriakus)Abb. 9 (S. 84) Lécythe campanien à figures rouges. Scène de comédie,

MMA VASE 1046, cliché Bibliothèque nationale de FranceAbb. 10a (S. 85) aus A. Wiese: Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig.

Die ägyptische Abteilung, Verlag Philipp von Zabern, Mainz 2001, Abbildung 40, S. 141, Ostrakon BSAe 1007. Zeichnung Susanne Dürr, Antikenmuseum Basel

Abb. 10b (S. 85) Musée du Louvre, Paris, Inv.-Nr. 4469Abb. 11ab (S. 98) aus Revue d’Assyriologie 66, 1972, S. 148.166Abb. 12 (S. 110) Museum von Aleppo, Inv.-Nr. 8653; aus O. Rouault u. a.,

L’Eufrate e il tempo tutti i diritti riservati, Milano 1993 (S. 367, Nr. 351)

Abb. 13 (S. 123) aus Rapport sur les fouilles de Tell el Medineh, B. Bruyère, La nécropole de l’est, Fouilles de l’Institut français de Caïre, Band 15, Kairo 1937, S. 14

Abb. 14 (S. 124) aus Rapport sur les fouilles de Tell el Medineh, B. Bruyère, La nécropole de l’est, Fouilles de l’Institut français de Caïre, Band 15, Kairo 1937, S. 165

Abb. 15 (S. 152) Staatliche Museen zu Berlin, Antikensammlung. Inv.-Nr. TC 6370, 6383, 6657, 7717, 7716b, 7753, 7597.36, 7597.38, Neg.-Nr. ANT 4339

Abb. 16 (S. 152) aus M. Grmek, D. Gourevitch, Les maladies dans l’art antique, Paris 1998, S. 209

Abb. 17 (S. 158) John Locke, An Essay Concerning Humane Understanding, London 1690 (Titelseite)

Autor und Verlag waren bemüht, alle nötigen Abdruckrechte einzuholen. Sie bitten, nicht erhebbar gewesene Rechte gegebenenfalls beim Theologischen Verlag Zürich zu melden.

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