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Dialektische Phantasie\" unter Bedingungen autoritärer Herrschaft: Die Philosophische Sommerschule...

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Balkanologische Veröffentlichungen Geschichte, Gesellschaft und Kultur in Südosteuropa Begründet von Norbert Reiter, herausgegeben von Hannes Grandits, Wolfgang Höpken und Holm Sundhaussen Jugoslawien in den 1960er Jahren Auf dem Weg zu einem (a)normalen Staat? Herausgegeben von Hannes Grandits und Holm Sundhaussen Band 58 I 2013 2013 Harrassowitz Verlag • Wiesbaden Harrassowitz Verlag • Wiesbaden
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Balkanologische Veröffentlichungen Geschichte, Gesellschaft und Kultur

in Südosteuropa

Begründet von Norbert Reiter, herausgegeben von Hannes Grandits, Wolfgang Höpken

und Holm Sundhaussen

Jugoslawien in den 1960er Jahren Auf dem Weg zu einem (a)normalen Staat?

Herausgegeben von Hannes Grandits und Holm Sundhaussen

Band 58

I

2013

2013

Harrassowitz Verlag • Wiesbaden

Harrassowitz Verlag • Wiesbaden

„Dialektische Phantasie” unter Bedingungen autoritärer Herrschaft: Die philosophische Sommerschule auf der

Adria-Insel Korcula 1964-1974

Nenad Stefanov

Inmitten des Kalten Krieges treffen sich Intellektuelle aus Ost und West auf einer Adria-Insel zum Diskutieren. Ein Bild zeigt Herbert Marcuse und Lucien Goldmann mit jugoslawischen Kollegen vor dem Hintergrund mediterraner Hausfassaden und Zypressen ins Gespräch vertieft. Insulare Gelehrten-Idylle, ganz jenseits der System-konfrontation. Kein Kalter Kulturkrieg, sondern grenzübergreifende Reflexionen über Gesellschaft. So kann es aus größerer Entfernung nostalgischer Verklärung den Anschein haben. Aus einer anderen Perspektive, scheinbar distanzierter Ernüch-terung, kann post festum der Schluss gezogen werden, die Idylle sei aus guten bzw. schlechten Gründen trügerisch gewesen. Mit zunehmendem zeitlichem Abstand erscheint der Irrtum nur noch größer, in diesem Bild etwas anderes zu sehen als einen Zufall, der wenig über die Substanz der Debatten auf Korcula, noch viel weniger über die Verfasstheit der jugoslawischen Gesellschaft zu diesem Zeitpunkt sagen kann.

Solche Wahrnehmung der Schnappschüsse als Trugbilder findet ihre vermeint-liche Bestätigung mit einem Blick auf die jugoslawische Gesellschaft in den 1950er Jahren, in denen sich die Theorieströmung der Praxis-Philosophie, um die es hier gehen soll, zu entwickeln begann: Rückständigkeit, Armut, autoritäre Herrschaft nach einer bedrückenden Erfahrung von Gewalt im Zweiten Weltkrieg.

Für Simone de Beauvoir verhieß zu dieser Zeit eine Reise nach Jugoslawien noch die Möglichkeit von Abenteuer in Europa, direkt hinter der italienischen Grenze:

,,,Wenn Sie nach Jugoslawien wollen`, sagte uns der Hotelportier in Triest, ,kann ich Dinare beschaffen`. Nach Jugoslawien reisen? Das Einfachste von der Welt. Binnen vierundzwanzig Stunden hatte uns die Agentur Putnik mit Visen, Karten und Ratschlägen versorgt. Nachdem wir zwei Ersatzreifen, einen Reserve-Benzinkanister, Zündkerzen, Öl, Bretter und diverse Werk-zeuge verstaut hatten, ließen wir unseren Tank füllen. ,Im Auto nach Jugo-slawien? Da werden sie etwas erleben!', sagte der Tankwart. Als wir die Grenze überschritten waren wir sehr aufgeregt: fast wie ein Eiserner Vorhang! Und wir kamen tatsächlich in eine andere Welt. Kein Wagen

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befand sich auf der Straße, die am Meer entlangläuft. Die Chaussee war so rissig, dass man sehr bald querfeldein fahren musste [ ... ]."'

Als Simone de Beauvoir gemeinsam mit Claude Lanzmann sich 1952 spontan zu einer doch sehr ausführlichen Tour durch Jugoslawien von Triest, die Adria-Küste entlang, über Sarajevo nach Belgrad und zurück entschlossen, bedeutete Jugo- slawien, wie es hier kurz anklingt, vor allem pittoreske Armut in südländischer Kulisse. Wie die Mallorquiner, Süditaliener und Nordafrikaner sind die Menschen in Jugoslawien im Blick de Beauvoirs vor allem arm, aber stolz und hilfsbereit zu-

gleich.z Ohne das Wohlwollen in den Betrachtungen von Simone de Beauvoir bleibt die Rückständigkeit, die höchstens Avantouristisches für den westlichen Besucher verheißt, doch kaum die Idee von einer „zivilisierten" philosophischen Diskussion. Oder sind solche Philosophen die wahren Exoten im Gegensatz zum beliebten touristischen Fotoobjekt des Tagelöhners samt Esel?

Um dem scheinbaren Gegensatz von realen Trugbildern und irrealen Idyllen zu entgehen, kann aber gerade auf der Insel Korcula angesetzt werden. Die Wider-sprüchlichkeit der jugoslawischen Gesellschaft wird dort sichtbar, die besonders in den 1960er Jahren verdichtet wahrnehmbar wurde. In einer „postagrarischen Ge-sellschaft" entwickelte sich eine philosophische Schule der „Praxis", deren Charak-teristik unter anderem darin bestand, in einer neuartigen Konstellation Gesellschafts-theoretiker und Intellektuelle aus Ost und West zusammenzuführen. Die Sommer-schule auf der jugoslawischen Adria-Insel Korcula war der Ort, an dem dies einmal im Jahr zwischen 1963 und 1974 sichtbar wurde.

Damit ist auch angedeutet, dass der Zeitraum auch einiges von der Bedeutung dieser philosophischen Sommerschule erschließt. Die Sommerschule von Korcula, und die Herausgabe der Zeitschrift Praxis spielte sich in einer Zeit des Umbruchs in Jugoslawien ab. Dieser Band diskutiert die 1960er Jahre in Jugoslawien als Möglichkeit den Blick auf die jugoslawische Gesellschaft zu erweitern und zu differenzieren. Auf diese Weise rücken gesellschaftliche Prozesse in den Blick, Herrschaftsformen und Konflikte, die nicht schlüssig und ausnahmslos in einem ethnonationalen Interpretationsmuster aufgehen konnten. In diesen mehr als zehn Jahren bündeln sich politische Reformen, erste Erfahrungen mit einem jugosla-

wischen „Way of Life" von Wohlstand, einer immer größeren Öffnung für den Westen, sowie schließlich erste wirtschaftliche Krisenerfahrungen und erneut zunehmende Repression seitens der Partei in den 1970er Jahren, die grundlegende Föderalisierung des Staates.

1 Beauvoir, Simone de: Der Lauf der Dinge, Hamburg 1966, S. 284. 2 „Es war die schlichte und unmittelbare Beziehung der Menschen zueinander, die Gemeinschaft

der Interessen und Hoffnungen — Brüderlichkeit. [ ... ] Unmittelbar nach der Grenze schien uns Italien ein reiches Land zu sein. Gewaltige Zankautos, Tankstellen, ein dichtes Straßen- und Schienennetz, Brücken, volle Schaufenster: Das alles erschien mir jetzt wie eine große Ver-günstigung. Und zugleich mit dem Wohlstand begegneten uns wieder die Rangordnung, der Abstand, die Schranken." Ebd., S. 287.

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Es ist bemerkenswert, dass scheinbar diese jugoslawische Umbruchs-Zeit in verschiedener Hinsicht auch mit Tendenzen der Veränderung in Westeuropa korrespondiert. In der Diskussion über eine neue Periodisierung europäischer Sozial-geschichte gab es den Vorschlag, diese Zeitspanne zwischen 1964-1974 etwa als Schamierzeit zu betrachten, zwischen dem Höhepunkt des Wohlfahrtstaates, der Glaubwürdigkeit des Versprechens einer gerechten Gesellschaft hin zu der Er-fahrung von Krise und der scheinbaren Begrenztheit sozialer und ökonomischer Ressourcen, die Mitte der 1970er ansetzte.3 Damit ist die Geschichte der Praxis-Schule in den jeweils unterschiedlichen jugoslawischen und europäischen Konstel-lationen von gesellschaftlichem Aufbruch und Krisenerfahrung verortet. Da für diese Schule die Analyse gesellschaftlicher Gegenwart von zentraler Bedeutung war, erschließt sich vermittels deren Darstellung einiges von den jugoslawischen und europäischen Prozessen gesellschaftlicher Veränderung.

Die Darstellung des „Praxis-Kreises" kann an dieser Stelle nur angedeutet werden.4 Es handelt sich dabei nicht um eine strikte „intellectual history" jener Fassung, in der allein von (Kon-)Texten aber nicht von einem „Außerhalb" dieser Texte die Rede ist. Dabei ist gerade die Vermittlung von theoretischer Arbeit und

3 Vgl. Wirsching, Andreas: ,The 1970s and 1980s as a Turning Point in European History?", in: Journal of Modern European History 9 (2011), No. 1, S. 8-26.

4 Im Zuge des neuen Forschungsimpulses durch das vierzigjährige „Jubiläum" des globalen 1968, sind auch wichtige Arbeiten zu diesem weiteren Themenkomplex in Jugoslawien er-schienen. Siehe hierzu vor allem: Kanzleiter, Boris: Rote Universität. Studentenbewegung und Linksopposition in Belgrad, Hamburg 2011, sowie Ders. / Stojakovid, Krunoslav (Hg.): 1968 in Jugoslawien. Studentenproteste und kulturelle Avantgarde zwischen 1960 und 1975. Gespräche und Dokumente, Bonn 2008. Praxisphilosophie und -kreis waren schon zu Zeiten ihres Beste-hens Gegenstand wissenschaftlichen Interesses, wobei hier klare Grenzen zwischen distanzier-ter Analyse und interessierter Rezeption notwendig verschwimmen, und somit ebenso Teil einer Analyse von Ideentransfers sein sollten. Siehe hierzu die beiden immer noch grundlegenden Überblicksdarstellung: Sher, Gerson S.: Praxis. Marxist Criticism and Dissent in Socialist Yu-goslavia, Bloomington/London 1977; McBride, William: From Yugoslav Praxis to Global Pa-thos. Antihegemonic Post- Post- Marxist Essays, Oxford 2001. Eine Reihe von Arbeiten aus dem Umfeld des Praxis-Kreises erschien auch in deutscher Sprache, wie: Petrovid, Gajo: Revolutionäre Praxis. Jugoslawischer Marxismus der Gegenwart, Freiburg 1969. Auch in der Bundesrepublik erschienen Arbeiten, die sich mit Theorie und Praxis des „anderen" Sozialis-mus systematisch auseinandersetzten: Rütten, Ursula: Marxismus als Gesellschaftskritik Die PRAXIS-Gruppe in Jugoslawien — ihre Grenzen und Möglichkeiten, Inauguraldissertation, TH Aachen 1976; Herbert, Gabriele: Das Einfache, das schwer zu machen ist. Selbstverwaltung in Jugoslawien, ein Beispiel für die Probleme von Übergangsgesellschaften, Frankfurt a. M. 1982. Sowie als kritischer Rückblick: Rütten, Ursula: Am Ende der Philosophie? Das gescheiterte „Modell Jugoslawien" —Fragen an Intellektuelle im Umkreis derPRAWS-Gruppe, Klagenfurt 1993. In den Gesellschaften des früheren Jugoslawien initiierten die ehemaligen Akteure eine neue Diskussion: Popov, Nebojsa (hg. mit Milan Kangrga, Zagorka Golubovid, Ivan Kuvacid, Bozidar Jaksid, Ante Lesaja): Sloboda i nasi je, razgovor o casopisu Praxis i korculanskoj letnjoj .s"koli, Beograd 2003; Kangrga, Milan: Sverceri vlastitog zivota. Refleksije o hrvatskoj politickoj kulturi i duhovnosti, Split 2002; Markovid, Mihailo: „Bozidar Jaksid: Neobjavljeni intervju: Praxis — kriticko misljenje i delanje", in: Filozofi a i drugtvo 1 (2010), S. 3-16.

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außerakademischer/außertextlicher Erfahrung ein wesentliches Merkmal des Praxis-Kreises. Daher steht hier die Beziehung zwischen gesellschaftlicher Erfahrung und Reflektion über Gesellschaft im Mittelpunkt. Die Soziologen, Philosophen, Politologen und auch Theologen, die sich aus den urbanen Zentren Jugoslawiens um diese Zeitschrift sammelten, werden hier als Intellektuelle bezeichnet. In der Auseinandersetzung wie sich Wissenschaftler und deren öffentliches Handeln analysieren ließe, hat es verschiedene Vorschläge gegeben: wie etwa der promi-nentere des Gelehrten-Intellektuellen.5 Abgewandelt von der ursprünglichen Prägung durch Gangolf Hübinger als Gelehrter und Politiker,b insbesondere im

Hinblick auf intellektuelle Praxis im deutschen Kaiserreich, soll der Begriff des Gelehrten-Intellektuellen auch weitere Segmente von Wissenschaftlern und deren politisches Engagement erfassen. Allerdings erscheint diese Bezeichnung, die auf Herbert Marcuse angewandt wurde,7 eher die Differenzen zu anderen Intellektu-ellen- und Bildungsmilieus abzuschleifen, als das Differente herauszuarbeiten. Genauso wenig Erhellendes „Gelehrten-Intellektueller" über Marcuse aussagen mag, kann es den gesellschaftlichen Ort und das Selbstverständnis der einzelnen Mitarbeiter des Praxis-Kreises beschreiben. Während für die Zwischenkriegszeit in Jugoslawien „Gelehrten-Politiker" als Zuschreibung durchaus hilfreich ist, erfordert die Veränderung von Herrschaft nach dem Zweiten Weltkrieg und darin die Rolle von Intellektuellen eine andere Fassung. Im Selbstverständnis des jugoslawischen Bundes der Kommunisten gab es entweder bourgeoise Wissenschaftler, die „keine Freunde der Gegenwart" waren, oder aber Revolutionäre und Bildungsarbeiter. Intelligenz als Begriff kam dagegen rasch aus dem Sprachgebrauch, je deutlicher die Ablösung von der Sowjetunion wurde. Der Begriff des „Intellektuellen" dagegen etablierte sich zunehmend seit Ende der 1950er Jahre vor allem als pejorative Bezeichnung von „unzuverlässigen Bildungsarbeitern". Zugleich aber tauchte dieses Wort immer häufiger als Selbstzuschreibung unter Publizisten auf. Im jugo-slawischen Kontext wurde in dem Wort Intelektualac die ohnehin auch in den westlichen Gesellschaften dem Wort innewohnende Ambivalenz noch zugespitzt:

Intelektualac beinhaltete aus der Perspektive der Partei nicht nur Marginalität oder Sonderlichkeit, sondern auch Querulatorisches bis hin zu Sabotage, im Gegensatz zum Selbstverständnis als reflektierendes Individuum was sich wiederum für die Mitglieder des Praxis-Kreises in dem Wort ausdrückte. Aus dieser Perspektive umfasst Intellektueller angemessen das Feld von Zuschreibungen seitens der Herrschaft und jenes Selbstverständnis, das nach unabhängigen Handlungsfeldern

5 Hübinger, Gangolf. Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte, Göttin-

gen 2006, S. 11. Müller, Tim B.: Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme

im Kalten Krieg, Hamburg 2010. 6 Hübinger, Gangolf. „Die politischen Rollen europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert", in:

Ders. / Thomas Hertfelder (Hg.): Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik,

Stuttgart 1999, S. 30-46. 7 Müller, Krieger und Gelehrte.

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strebte, und wird ganz urspektakulär für die Mitglieder des Praxis-Kreises verwendet.

Dieser Überblick über die Zeitschrift Praxis und die von ihr veranstaltete Sommerschule auf Koröula wird als Geschichte von Ideentransfers und als Beziehungsgeschichte zwischen West und Ost gefasst, dies insbesondere vermittels der philosophischen Entwürfe kritischer Theorie. Dabei gilt es auf ein potentielles Missverständnis aufmerksam zu machen, das sich bei der Darstellung von Transfers einschleichen kann. Unter Umständen kann dabei als nicht explizite Voraussetzung mitschwingen, Ideentransfer bedeute die Aneignung substantiell verschiedener Denkformen in einen grundlegend andersartigen gesellschaftlichen Zusammenhang, also jugoslawische Intellektuelle eignen sich westliche Philosophie an. Auf diese Weise werden schon existierende gemeinsame Ausgangsgrundlagen verwischt und Differentes essentialisiert. Daher geht es hier vielmehr darum, wie sich Intellektuelle in Jugoslawien mit Reflektionsformen von anderen Intellektuellen auseinander-setzten, die in Westeuropa lebten. In einem zweiten Schritt können dann Unter-schiede definiert und deren Geltungsbereich eingegrenzt werden. Um der Vagheit der Rede vom „Kulturtransfer" zu entgehen, bietet es sich dabei an, auf eine Definition von Ideentransfer zurückzugreifen, wie sie von Osterhammel im Kontext einer um die Transfergeschichte erweiterte Gesellschaftsgeschichte vorgeschlagen wurde.

Nach Osterhammel kann Kulturtransfer als Teil einer transnationalen Gesell-schaftsgeschichte dann produktiv werden, wenn:

„Trägergruppen und Institutionen namhaft gemacht und dokumentiert werden können, und es möglich ist, spezifische Transfervorgänge mit angebbaren Bedürfnissen, Interessen und gesellschaftlichen Funktionen zu verbinden sowie ihre Folgen zu untersuchen."s

Vermittels der Fokussierung auf die Zeitschrift Praxis und den Diskussions-zusammenhang, den die Redaktion in Jugoslawien etablieren konnte, lässt sich eine solche „Trägergruppe" des Transfers präzise umreißen, sowie die Gefahr umgehen, im „Kulturtransfer" abstrakt unterschiedene Gesellschaften zu essentialisieren, indem die einzelnen Elemente des Transferierten oder der Beziehungsgeschichte anschaulich werden.

Hier wird gefragt, wie sich der Transfer vollzog. Welche Elemente theoretischer Entwürfe waren für die Intellektuellen in Jugoslawien von Bedeutung und wie lässt sich dies anhand der Treffen auf Korcula und den Diskussionen in der Zeitschrift veranschaulichen? Ideentransfer bedeutet zumeist auch Modifikation dieser Ideen.9

8 Osterhammel, Jürgen: „Transnationale Gesellschaftsgeschichte. Erweiterung oder Alter-native?", in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), Nr. 3, S. 464-479.

9 Kaelble, Hartmut / Kirsch, Martin / Schmidt-Gemig, Alexander: „Zur Entwicklung transnationaler Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert. Eine Einleitung", in: Dies. (Hg.): Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfnt/New York

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Hier wird analysiert, welcher Art diese Modifikationen waren. Ebenso wird thematisiert, inwieweit sich vermittels der Treffen auf KoKula eine spezifischere Kenntnis des gesellschaftlichen Kontextes bei den ausländischen Teilnehmern der Sommerschule entwickelte, inwieweit es überhaupt für die Teilnehmer von Bedeu-tung war, dass diese in Jugoslawien stattfand?

Die Verbindung zwischen kritischer Theorie und der jugoslawischen Praxis-Philosophie ist nicht willkürlich, aus nachträglicher Forscherperspektive konstruiert oder inspiriert von der augenblicklichen Konjunktur verflechtungsgeschichtlicher Ansätze. Diese Verbindung wurde bereits in der medial vermittelten Öffentlichkeit der Bundesrepublik in der Zeit des höchsten Bekanntheitsgrades der jugoslawischen Philosophen gezogen, so etwa in der Wochenzeitschrift „Der Spiegel" in einer Ausgabe des Jahres 1970:

„Die orthodoxen Linken fanden in den Gedanken dieser Zeitschrift [Praxis]

ein Virus wieder, das sie vordem schon in der kritischen Theorie der Frankfurter Schule diagnostiziert hatten: die Auflehnung gegen ihren „dialektischen Materialismus" (Diamat), der Philosophie nur noch als Widerspiegelung der wirklichen Verhältnisse zulässt." 10

Anders als Horkheimer, Adorno und Marcuse entwickelten die „Praxis-Philosophen ihre Kritik an Kapitalismus und Sozialismus freilich von Anfang an in einem sozialistischen Land." Viele von ihnen waren gleich Supek und Vranicki Wider-standskämpfer und litten nach dem Krieg „unter dem Eindruck äußerer Macht im Namen künftiger Freiheit", wie Petrovic es 1970 im Wochenmagazin „Der Spiegel" in einer ersten Dokumentation des Praxis-Kreises für deutsche Leser umschrieben hat. 11 Fünf Jahre später hieß es in dem gleichen Wochenmagazin rückblickend:

„So war es denn auch das Verdienst des ,Praxis-Kreises`, dass Jugoslawien für die ,Neue Linke` in aller Welt zum Mekka des demokratischen Sozialismus geworden ist, es schien zu bezeugen, dass Sozialismus und Freiheit durchaus vereinbar seien." 12

Praxis: Konzeption und Geschichte Im Folgenden werden zunächst die gesellschaftlichen und politischen Kontexte kurz skizziert, in denen diese den „orthodoxen Linken" so missliebige Erscheinung entstand. Der Bruch Jugoslawiens mit der Sowjetunion 1948 implizierte nicht allein

2002, S. 7-36, hier S. 11. 10 „Diese Welt muss überschritten werden". Spiegel-Gespräch mit den Redaktionsmitgliedem der

jugoslawischen Zeitschrift Praxis Gajo Petrovic und Milan Kangrga, in: Spiegel, Nr. 10, 1970, S. 170-174. Dem Interview vorangestellt ist eine Vorstellung der Praxis-Gruppe.

11 Ebd. 12 „Jugoslawien nagelt die Flagge an den Mast", Interview mit Ernst Bloch, dem Schlag gegen

den „Praxis-Kreis", in: Spiegel, Nr. 6, 1975, 80-82 (Zitat aus dem Erklärungskasten „Der Pra-

xis-Kreis").

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eine dadurch erzwungene ideologische Neuausrichtung, wie sie sich in den Diskussionen um die Einführung der Arbeiterselbstverwaltung niederschlug. Auch im wissenschaftlichen Bereich drückte sich diese Abwendung von den bisher unzerbrüchlich geltenden Lehren darin aus, dass die bis dahin als „bourgeoise Wissenschaft" diffamierte Soziologie als eigenständiges Fach an der Universität Belgrad eingeführt wurde. 13 Durch die Notwendigkeit, sich von der Sowjetunion auch innerhalb der marxistischen Theorie abzusetzen, ergab sich die Möglichkeit, mit der Kritik stalinistischer Schematisierungen marxschen Denkens auch an west-liche philosophische Diskussionen über Marxismus anzuknüpfen und aus dem jugo-slawischen Zusammenhang heraus alternative Interpretationen zu formulieren.'4

Dabei handelte es sich nicht um ein schlichtes Kausalverhältnis, in dem die politisch-ideologische Neuorientierung automatisch die Etablierung einer neuen Legitimations-„Theorie" zur Folge hatte. Vielmehr wird eine komplexe Gemen-gelage sichtbar, in der im Zuge der 1950er Jahre sich auch von der Partei in dieser Form nicht intendiert Freiräume für Reflexion und Diskussion eröffneten. Der Parteiausschluss und die späteren Gefängnisstrafen für den einstigen hochrangigen Chefideologen des Bundes der Kommunisten Milovan Dilas zeigen, dass zwar Spielräume für eine explizite Herrschaftskritik bestanden, wie sie Dilas in einer Artikelserie über die „Neue Klasse" unternahm, aber sie zeigten auch die Nervosität der Führung und der leitenden Kader vor einer zu großen Öffentlichkeit für solche Kritik.

Im Unterschied zu dem schon berühmten und erfahrenen Politiker Milovan Dilas handelte es sich bei den Mitgliedern der zukünftigen Zeitschrift Praxis wie Gajo Petrovic oder Milan Kangrga, die inhaltlich eine prägende Wirkung entfalten sollten, zu dieser Zeit noch um Studenten. Die trotz der „Dilasovstina" stattfindende graduelle Öffnung ermöglichte es jungen Intellektuellen wie Kangrga oder Petrovic in Monatszeitschriften wie Pregled, Gledista, etc. erste Überlegungen zu einer Reformulierung eines vorrangig philosophischen Bezuges auf Marx zu veröffent-lichen. Im Unterschied zu Dilas ging es dabei nicht um eine explizite Kritik der Herrschaftsverhältnisse. Das Interesse galt der Rezeption und Diskussion mit philo-sophischen Strömungen in den anderen Gesellschaften Europas, die sich kritisch mit der stalinistischen Herrschaftspraxis auseinandersetzten, aber in dieser Kritik an marxistisch fundierter Begrifflichkeit festhielten. Dabei wurde auch in diesen Texten und ihrer Wirkung schon ein zentrales Strukturmerkmal der Beziehung zwischen Parteiherrschaft und unabhängigem Handeln deutlich. Da die Funktionäre selbst die Parole eines „selbstverantwortlichen Sozialismus" ausgegeben hatten, verfügten

13 Samardzic, Radovan (Hg.): Sto godina Filozofskog fakulteta, Beograd 1963, S. 71ff.; Popov, Nebojsa: Drugtveni sukobi — izazov sociologije, Beograd 1990 (die 2. Aufl., Original, 1983, war verboten worden), S. 117. Ab 1950 wurde Soziologie zunächst innerhalb des rechtswissenschaftlichen Fachbereiches gelehrt.

14 Die ersten Arbeiten hierzu wurden von Mihailo Markovic („Revizija filozofskih osnova marksizma u SSSR-u", 1952) und von Gajo Petrovic verfasst. Siehe: Popov, Drustveni sukobi, S. 115.

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diese auch nicht über eindeutige Kriterien um Grenzüberschreitungen zu definieren. Ähnlich wie in den parteiinternen Debatten über Dilas war es daher ein permanenter Diskussionsprozess, was nun zu verbieten sei und was nicht — außer es handelte sich um sogenannten „revanchistischen Nationalismus". Das bedeutete wiederum für jüngere Intellektuelle Risiko und größere Handlungsspielräume zugleich. Diese konnten zunehmend dazu genutzt werden, eine systematische Rezeption undogma-tischer marxistisch orientierter Philosophie einzuleiten. Eine solche konnten die Parteifunktionäre schwerlich unterbinden, sprachen sie doch selbst von der Notwen-digkeit einer Neuorientierung. Tatsächlich war der Bund der Kommunisten auf der Suche nach neuer ideologischer Legitimation. Diese konnte aber auch ganz unbeab-sichtigt in der Neukonstituierung der Formen von Gesellschaftskritik resultieren.

Zentral für diese Neuorientierung in der Kritik stehen die Begriffe „Entfrem-dung" und „Praxis ". Bis 1948 folgten die jugoslawischen Parteitheoretiker der These der dogmatischen Marxisten, dass das Phänomen der Entfremdung aus-schließlich an kapitalistische Gesellschaften gekoppelt sei, in denen der Arbeiter von seinen Produktionsmitteln getrennt sei und weder über seine Arbeitskraft noch ihr Produkt frei verfügen könne. Im Sozialismus hingegen verfüge der Produzent frei über Produktionsmittel und den erzielten Mehrwert, so dass sich das Problem der Entfremdung nicht mehr stelle. Entfremdung als Analysekategorie wurde nun von einem Teil der jugoslawischen Marxisten wieder aufgegriffen, mittels derer die Verselbstständigung des stalinistischen bürokratischen Apparats kritisiert wurde, welcher die Freiheit des Produzenten negiere. Nun sei es nicht mehr die Bour-geoisie, sondern der Staat, der sich Produktionsmittel und Mehrwert aneigne.

Der Begriff Entfremdung sollte nicht nur die Entstehung und Hinnahme sozialer Ungleichheit beschreiben. Sie bezog sich ebenso auf erkenntnistheoretische Pro-

blemstellungen, wie sie von Georg Lucäcs und Ernst Bloch formuliert worden waren. Die Begriffe Entfremdung, bzw. genauer, Verdinglichung beschrieben dabei Bewusstseinsformen in kapitalistischen wie realsozialistischen Gesellschaften, in denen durch die jeweilige Herrschaftsform vermittelte Erfahrungen von Hetero-nomie und Ohnmacht des Individuums in einer atomisierten Gesellschaft als natur-gegeben und notwendig begriffen werden konnten. Der Begriff der Verdinglichung bot in den Augen jener Theoretiker, die dem dogmatischen Marxismus gegenüber distanziert blieben, die Möglichkeit, die Ursachen solcher Bewusstseinsformen zu analysieren. 15

Es wird deutlich, wie weiter oben kurz angedeutet wurde, dass es sich um keinen Kausalnexus zwischen dem ideologischen Legitimationsbedarf der Partei und den theoretischen Entwürfen des Praxis-Kreises handelte. Im Mittelpunkt stand die Frage danach, wie sich stalinistische Herrschaft mit einer materialistischen Begriff-lichkeit kritisieren ließ. Dies war der Impuls, der in einer jugoslawischen Konstel-

15 Siehe dazu: Lucäcs, Georg: Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische

Dialektik, Darmstadt 1986 (9. Aufl.).

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lation ganz unterschiedliche Theoretiker aus unterschiedlichen Denktraditionen zusammenbrachte.

Aus der spezifischen jugoslawischen Diskussion formierte sich der Begriff der „Praxis". Im Unterschied zum stalinschen Diamat (Dialektischer Materialismus), wonach die gesamte Geschichte nach objektiven Gesetzmäßigkeiten verläuft, in denen das Individuum in seinem Handeln jeweils subjektiver Ausdruck dieser objektiven Gesetze ist und Revolutionen und der Aufbau des Sozialismus aus einer solchen überindividuellen Notwendigkeit resultieren ib, ging es einem Teil der jugoslawischen Sozialwissenschaftler und Philosophen darum, einen theoretischen Gegenentwurf zu einer solchen Determiniertheit von geschichtlichen Prozessen zu entwickeln, über die zugleich die sowjetischen Theoretiker ausschließliche Deu-tungshoheit für sich in Anspruch nahmen. Damit sollte einerseits die systematische Möglichkeit unterschiedlicher Interpretationen marxscher Theorie begründet wer-den. Andererseits sollte so eine theoretische Grundlegung für die nun proklamierte Arbeiterselbstverwaltung als den authentischen Weg des jugoslawischen Sozia-lismus geschaffen werden. Alles zielte darauf ab, Bedingungen der Möglichkeit freien Handelns in den Vordergrund zu rücken. Man begriff „den Menschen" als freies, schöpferisches Wesen, das in seinem Handeln immer neue gesellschaftliche Wirklichkeiten prägen und realisieren würde.

Die Einleitung der Redaktion für die erste Ausgabe der Zeitschrift lautete somit folgendermaßen:

„Der Titel Praxis wurde deshalb ausgewählt, weil ,Praxis` dieser zentrale Begriff des marxschen Denkens adäquat die skizzierte Konzeption der Philosophie zum Ausdruck bringt. [ ... ] Dieser Begriff dient auch dazu, uns vom pragmatistischen und vulgärmaterialistischen Verständnis der Praxis zu distanzieren und zu zeigen, dass wir auf den ursprünglichen Marx zielen." 17

Desweiteren zielte der Begriff von „Praxis" auf die Veränderbarkeit und damit insbesondere auf das Handeln:

„Der Hauptmangel allen vorangegangen Materialismus, einschließlich Feuerbachs, liegt darin, dass die Außenwelt (Gegenstand, Wirklichkeit, Sinnlichkeit) nur als Objekt begriffen wird, dem gegenüber das Subjekt steht, nicht aber sinnliche und menschliche Tätigkeit, nicht als Praxis, d.h. nicht als subjektive Tätigkeit." 18

Praxis bedeute vor allem, dass der Mensch nicht kontemplativ den Gegenständen gegenüberstehe, sondern diese durch sein Handeln verändere. Dieser Aspekt ver-

16 Siehe dazu: Ziherl, Boris: Dyalekticki i istorijski mater~alizam, Bd. 2, (Biblioteka Prosvetnih radnika Jugoslavije, 12), Beograd 1952.

17 Redaktion Praxis: „ Cemu Praxis?", in: Praxis 1 (1964, S. 3-6, hier S. 4. 18 Bosnjak, Branko: „hne i pojam Praxis", in: Praxis 1 (1964), S. 7-20, hier: S. 17. Petrovid,

Gajo: „Praksa i Bistvovanje", in: Praxis 1 (1964), S. 21-31, hier: S. 20.

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ändernder Gestaltung beinhaltet in der Interpretation der Praxis-Philosophen, dass Praxis zugleich revolutionäres wie auch praktisch kritisches Handeln sei.

Erst nach dem Jahre 1960 konnte sich diese Strömung zumindest als gleich-berechtigt neben jenen jugoslawischen Theoretikern des Marxismus-Leninismus durchsetzen, die immer noch an der leninschen Widerspiegelungstheorie fest-hielten, d.h., an der notwendigen Determiniertheit jeder Erkenntnis und damit auch jeden subjektiven Handelns durch die Gesetze „objektiver Wirklichkeit". 19 Doch es wuchs die Anziehungskraft der Praxis-Philosophie, erweiterte sich das Terrain philosophischer Diskussion.

Die Kritik der Praxis-Gruppe zielte vor allem auf all jenes, was die Entfaltung des Menschen als „freies schöpferisches Wesen" verhindere. Konkret bedeutete dies in der jugoslawischen Situation die Kritik an der Verselbständigung des Staates als einem selbstbezogenen bürokratischen Apparat. Diese Kritik wurde immer auf die Sowjetunion hin formuliert, in Hinblick auf Jugoslawien aber als eine bedrohliche Tendenz unter anderen abgeschwächt. Jedoch war in den Diskussionen und Arbeiten der Mitglieder der Praxis-Gruppe klar, wer der eigentliche Adressat dieser Kritik war: Es war dies der aus der Revolution hervorgegangene sozialistische Staat per se, der mit seinem Machtanspruch die Errungenschaften der Revolution gefährden würde. Stalinismus zeige, so Ljubomir Tadid 1963 in einer Diskussion über „Humanismus und Sozialismus"20, dass die „bürokratische Konterrevolution" ebenso bedrohlich für das Proletariat sei wie jene der Bourgeoisie. Die Macht der Bürokratie wachse vor allem dort, wo sich das Proletariat dieser unkritisch füge, es unreflektiert auf den Staat und seine Instrumente vertraue .21 In diesen Beschrei-bungen der Herrschaftsverhältnisse in sozialistischen Gesellschaften wurden „Ent-fremdung" und „Praxis" zu zentralen Begriffen. Während ersterer den proklamierten freien Menschen in Frage stellte, enthielt letzterer den Entwurf von Emanzipation und Freiheit.

Internationale Ausgabe und Sommerschule auf Korcula Im Jahre 1964 erschien die erste Ausgabe der Zeitschrift Praxis, die sich dieser beschriebenen Ausrichtung programmatisch verpflichtete. Ein Jahr später begann die Herausgabe einer parallelen internationalen Ausgabe, die zunächst Übersetzungen der Texte der jugoslawischen Ausgabe in englischer, französischer und deutscher Sprache enthielt. 22 Diese machten 70 bis 80 Prozent der Texte aus, hinzu kamen Aufsätze aus anderen wichtigen kritischen Zeitschriften aus den verschiedenen

19 Ebd. 20 Bo"snjak, Branko / Supek, Rudi: Humanizam i socüalizam, Zagreb 1963, S. 36-65. Zit. nach:

Popov, Drustveni sukobi, S. 119. 21 Ebd. 22 Petrovie, Gajo: „O medunarordnom izdanju ,Praxis` (1970-1973). Lwjestaj Redakcije ,Praxis`

podnesen na godisnjoj skupstini Saveza filozofskih dru"stava Jugoslavije 29.6.1973 u Ljubljani", in: Praxis 10 (1973), Nr. 6, Septembar—Decembar, S. 745-758.

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u.a. Die Geschichte der Zeitschrift lässt sich auch als Prozess jugoslawischer

Verflechtungen darstellen, insbesondere unter dem Aspekt einer nicht von staat-licher Seite eingeleiteten, sondern einer selbstständig initiierten Verschränkung, die den Republik-Funktionären nicht besonders genehm war.za

Zunächst manifestierte sich in der Zeitschrift — herausgegeben von der Kro-atischen Philosophischen Gesellschaft — die theoretischen Entwürfe der „Zagreber Schule", verkörpert von Milan Kangrga, Gajo Petrovid, Rudi Supek und Predrag Vranicki. Die wachsende Relevanz der Zeitschrift führte dazu, dass nicht mehr nur wie bisher Aufsätze vor allem aus den Belgrader Zeitschriften übernommen wurden, sondern auch ein gemeinsamer Redaktionsrat aus Zagreber und Belgrader Philo-sophen gebildet wurde. Diesem gehörten aus Belgrad Veljko Korad, Zagorka Golu-bovid, Ljubomir Tadid und Mihailo Markovid an. Die Zeitschrift selbst wurde daraufhin von der jugoslawischen Philosophischen Gesellschaft mitherausgegeben.

Zagreb und Belgrad standen teilweise für unterschiedliche Theorietraditionen. Zagreb stand wie angedeutet für eine stärkere Orientierung auf kritische Theorie und Phänomenologie, während in Belgrad zunehmend Wissenschaftstheorie, amerikani-scher Pragmatismus und in diesem Kontext Gegenwartskritik rezipiert wurde. Allerdings trägt eine solche Verallgemeinerung nicht weit, schließlich gab es bei den einzelnen Philosophen zahlreiche verzweigte Interessensgebiete, die sich sowohl auf Phänomenologie als auch auf Logik beziehen konnten und damit auf ganz unter-schiedliche Theorietraditionen verwiesen. Darin, westliche Kritikformen aufzu-nehmen und zu überlegen, inwieweit sich damit auch die Widersprüche der jugo-slawischen Gesellschaft herausarbeiten ließen, bestand der grundsätzliche gemein-same Ausgangspunkt. Divergenz darf dabei nicht an den beiden Städten und damit vermittelt Republiken als unterschiedlichen „serbischen" bzw. „kroatischen" Wegen der Gesellschaftskritik festgemacht werden. Dazu waren die Milieus in beiden Städten in sich viel zu heterogen. Deswegen ist Praxis eine allgemeine Klammer für die sehr spezifischen Präferenzen der einzelnen Intellektuellen, die sich durchaus auch widersprechen konnten. Erst post festum kam der Versuch bei nationalistischen Kritikern dieser Denkschule zum Tragen, die „nationale Geheimgeschichte" des Kreises freizulegen. So kritisierten kroatische Nationalisten, bei den Zagrebern wie Petrovid und Kangrga handele es sich eigentlich um Serben, womit das zutiefst „urkroatische" dieser „kosmopolitischen" und „großserbischen" Philosophie bewie-sen sei.25 Der ehemalige Belgrader Praxis-Theoretiker und gewendete Nationalist

23 Ebd., S. 747. 24 Rudi Supek in einem Rückblick auf Zeitschrift und Sommerschule: „Sie hatte einen wirklich

allgemein jugoslawischen Charakter, obwohl die Teilnahme daran explizit freiwillig war und ausschließlich von dem Wunsch und der Fähigkeit des Einzelnen geleitet war, persönlich zur theoretischen und Bildungsarbeit beizutragen." Supek, Rudi: „Deset godina KoKulanske Letnje Skole", in: Praxis 10 (1973), Nr. 5-6, S. 563-574.

25 Petrovic, Asja: „Gajo Petrovid", in: Flego, Gvozden (Hg.): Zbi ja i kritika. Posveceno Gaji

Teilen des Landes wie Nase Teme (Zagreb), Gledista (Belgrad), Pregled (Sarajevo), 23

~u~

168 Nenad Stefanov

Mihailo Markovid war seit den 1990er Jahren der festen Überzeugung, dass seine Zagreber Kollegen nichts anderes als kroatische Nationalisten seien, die die berech-tigte serbische nationale Bewegung mit ihrer Kritik zu torpedieren versucht hätten.26

Die Ausrichtung auch auf eine Leserschaft und auf Diskussionspartner außerhalb Jugoslawiens war ein genuiner Bestandteil des Konzepts von Preis. Kritik und Emanzipation waren im Verständnis der Praxis-Theoretiker universelle Prozesse. Die Möglichkeit der Kritik an den herrschenden Verhältnissen in Jugoslawien war geradezu die Selbstverständigung, über die Begriffe in einer universellen Per-spektive, mit denen diese Kritik zu verfahren hatte:

„Der Zweck der internationalen Ausgabe ist nicht die ,Repräsentierung` des jugoslawischen Denkens im Ausland, sondern die Stimulierung inter-nationaler philosophischer Zusammenarbeit in der Debatte um die entschei-denden Fragen unserer Zeit. [ ... ] Auf diese Weise präsentieren wir sie als Teilnehmer an den globalen Geschehnissen und nicht als nationale Spezialität, die sich dem Blick des Exzentrikers bietet. r27

Es ging demnach weniger um jene Form von Repräsentation oder Leistungsschau, wie sie zumeist auf internationalen wissenschaftlichen Konferenzen zwischen Ost und West einschließlich der Demonstration der „reinen Lehre" üblich waren. Die Redaktion strebte etwas anderes an. Sie war an einem Austausch darüber inter-essiert, die Möglichkeiten auszuloten, gesellschaftliche Prozesse kritisch zu analy-sieren. Sie wollte eine Diskussion darüber, wie dies mit welchen Begriffen am besten zu fassen sei. Praxis verstand sich als ein Staatenübergreifendes Forum für all jene Intellektuellen, die sich in dieser Perspektive mit Gesellschaftstheorie befassten und sich nicht jeweils als „Vertreter" einer „nationalen Schule" begriffen. Was der Begriff „transnational" heute kennzeichnen soll, war integraler Bestandteil intellek-tuellen Handelns: nationale Denkschulen übergreifend sollte über gesellschaftliche Veränderungen diskutiert werden.

Der internationale Redaktionsrat dokumentierte dieses Interesse an Beziehungen über Ost und West hinweg. Nahezu alle relevanten Intellektuellen, die unabhängig von einem stalinistisch zugerichteten Marxismus an marxscher Philosophie interessiert waren bzw. für die dieser zumindest einen Ausgangspunkt auch in einer kritischen Revision in deren Reflexion über Gesellschaft darstellte, fanden sich im Editorial Board der Zeitschrift wieder: von Herbert Marcuse, Jürgen Habermas über

Lucien Goldmann bis hin zu später auch Zygmunt Bauman. Die gleichsam sinnliche — oder dionysische — Erfahrungsbasis der Zeitschrift

fand sich in den Treffen anlässlich der Sommerschule auf der Adria-Insel Korcula, die zwischen 1963 und 1974 jährlich im August stattfand. Über die Mitglieder des

Petrovicu, Zagreb 2001, S. 1-9, hier: S. 3. 26 Markovid, Mihailo / Jak"sid, Boiidar: „Neobjavljeni intervju: Praxis — kriticko misljenje i

delanje", in: Filozofzja i drustvo 1 (2010), S. 3-16. 27 Petrovid, „O medunarordnom izdanju ,Praxis"`, S. 751.

„Dialektische Phantasie” unter Bedingungen autoritärer Herrschaft 169

Editorial Board hinaus kamen auf Korcula auch Intellektuelle und Philosophen zusammen, die nicht unbedingt einen Nexus zu marxistischer Philosophie auf-wiesen, wie etwa vor allem Eugen Fink sowie z.B. auch Hans-Georg Gadamer oder Karl Löwith.

Gegründet wurde die Sommerschule ursprünglich von den philosophischen und soziologischen Lehrstühlen in Zagreb und Belgrad als Programm für graduierte Soziologie-Studenten für eine weitere Vertiefung ihres Wissens.28 Aufgrund der engen Verflechtung zwischen den Lehrstühlen und den Protagonisten der Praxis-Philosophie schien es naheliegend, mit der Gründung der Zeitschrift die Sommer-schule zu einem Forum der Praxis zu erweitern. So wurde die ursprüngliche Struktur mit Kursen beibehalten und um ein offenes Nachmittagsprogramm ergänzt. Die klassische Grundstruktur einer Sommerschule für Studenten blieb damit bestehen. Sie wurde vor aber eine größere Zahl von Teilnehmern, insbesondere Studenten wie Dozenten aus dem Ausland, erweitert. Für die Praxis-Philosophen bestand die zentrale Bedeutung von Korcula insbesondere darin, dass sie mit ihren inter-nationalen Kollegen nicht nur brieflich korrespondieren, sondern eben auch leib-haftig miteinander diskutieren konnten .29 Dieser Kontakt wurde dadurch verstetigt, dass der Großteil der Beiträge zur Sommerschule daraufhin in der Zeitschrift veröffentlicht wurde. Zugleich wurde — meist am Ende der Sommerschule —jeweils ein Thema für die kommende Sommerschule ausgewählt, das sich aus den Debatten während der acht bis zehn Tage herauskristallisiert hatte.

Dabei verblieb die Sommerschule nicht im Rahmen des akademischen Betriebs, oder wie es Supek formulierte:

„Anstelle akademischer Unterweisung in Fragen der Bildung im engeren Sinne wurde Korcula zum gesellschaftlichen Ereignis, Ursprung einer denkerischen Aktion, die weit über ihre formellen Grenzen hinausging." 30

Dies war den „Prinzipien", wie es Supek nannte, inhärent, denen die Sommerschule folgte. Darin kam ein Selbstverständnis der Teilnehmenden als „tief engagierte Persönlichkeiten und nicht disziplinierte Funktionäre i31 zum Tragen. Wesentlich für dieses Selbstverständnis war die Offenheit gegenüber unterschiedlichsten theo-retischen Orientierungen sowie für „neue Ideen", die sowohl in Westuropa als auch in Osteuropa zum Vorschein kamen.32 Daraus folgte auch, dass Einzelpersonen eingeladen wurden, nicht aber wie es sonst bei den offiziösen Kongressen der Brauch war, nationale/staatliche Delegationen. Damit erklärte Supek, weshalb in den zehn Jahren der Sommerschule zwar Theoretiker aus Polen, der CSSR, Rumänien

28 Supek, „Deset godina Korculanske Letnje Skole", S. 563. 29 „Diese Schule entstand auch aus dem Wunsch, uns weiter den denkerisch entwickelten

Gegenden anzunähern, Verbindungen aufzunehmen mit den bekanntesten und progressivsten Denkern und Wissenschaftlern." Ebd., S. 567.

30 Ebd., S. 564. 31 Ebd., S. 565. 32 Ebd., S. 569.

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und Ungarn teilgenommen hatten, nicht aber aus der Sowjetunion und Bulgarien. 33

Für Supek sollte Korcula nicht nur zu einem besseren Verständnis neuerer Trends in der Gesellschaftstheorie in Jugoslawien beitragen, sondern auch den ausländischen Teilnehmern die Philosophie des Praxis-Kreises nahebringen.

Ebenso wichtig war den Organisatoren, dass Vertreter von unterschiedlichen Strömungen, die sich in ihrem gesellschaftlichen Kontext vor allem als Kontra-henten begriffen, auf der Adriainsel miteinander — zur gegenseitigen Verblüffung —ins Gespräch kommen konnten. Milan Kangrga kolportierte gerne solche Anek-doten, etwa von französischen Linkskatholiken, die sich beim Abschied bedankten, dass sie endlich auch einmal mit ihren französischen Kontrahenten zivilisiert debattiert hätten, wozu sie in Frankreich nie Gelegenheit hätten. Dazu trug womö-glich auch die Form bei, trotz der unterschiedlichen Sprachen und der wenigen Übersetzer Verständigung zu ermöglichen. So gab es nach Sprachen organisierte Sektionen. Diese neigten dazu, regionale Debattenkulturen in diesem transnationalen Kontext — wenigstens am Nachmittag (vormittags fanden gemeinsame Plena statt) —

zu reproduzieren, wie es Arnold Künzli während der Sommerschule 1970 festhielt:

„So kam es, dass in der französischsprachigen Sektion leidenschaftlich diskutiert wurde, während die englischsprachige Sektion in aller Gelassenheit Fragen des Positivismus und Leninismus diskutierte und die deutsch-sprechende Sektion sich mit dem Thema Hegel herumschlug."

34

Bedingungen von Herrschaftskritik Die Geschichte der Sommerschule — und damit auch der Zeitschrift — lässt sich in drei Phasen einteilen. In den Jahren 1965 bis 1968 stand noch ein „humanistischer Marxismus" aus jugoslawischer Perspektive im Vordergrund und hatte einen sehr starken Bezug auf Ernst Bloch. 1968 bildete gleichsam ein Scharnier und war zum einen geprägt von dem Widerspruch gradueller Ernüchterung. Die Teilnehmer, unter ihnen Habermas und Marcuse, erfuhren auf Korcula vom Einmarsch sowjetischer Truppen in Prag. Zum anderen zeigte sich ein steigendes Interesse an dem Potential der neuen Protestformen im Umfeld der Studentenrevolten. Dieser Widerspruch zwischen der Skepsis im Hinblick auf eine Selbstbefreiung innerhalb der real-sozialistischen Gesellschaften und der Auseinandersetzung mit neuen emanzipa-torischen Strömungen, die auch den Rahmen der althergebrachten Klassenkampf-Muster verließen, prägte die darauffolgenden Treffen auf Korcula bis zu deren Einstellung nach 1974. In den einzelnen Ausgaben der Zeitschrift sowie auf der Sommerschule rückte einerseits die Auseinandersetzung über die neuen sozialen Bewegungen als globalem Phänomen stärker in den Mittelpunkt. Es profilierte sich eine jüngere Generation, etwa Nebojsa Popov und Bozidar Jaksic, mit Beiträgen in

33 Ebd. 34 Künzli, Arnold: „Verstörter Weltgeist auf Korcula. Zur 7. Internationalen Sommerschule der

jugoslawischen ,Praxis` Philosophen", in: Gewerkschaftliche Monatshefte 10 (1970), S. 608-

614, hier S. 610.

„Dialektische Phantasie" unter Bedingungen autoritärer Herrschaft 171

der Zeitschrift, die aus soziologischer Perspektive die Konflikte und Widersprüche der jugoslawischen Gesellschaft analysierten. Gegenüber der bisherigen Dominanz der Selbstverständigung über die Möglichkeit einer Philosophie der Praxis wuchs der Anteil jener Texte, die sich mit der gegenwärtigen Struktur der jugoslawischen Gesellschaft auseinandersetzten und auf diese Weise etwa den neu aufkommenden Nationalismus zu begreifen versuchten. Letztlich spitzte sich der immer schon existierende Konflikt mit der Partei gerade in der Phase nach 1968 zu.

Einer solchen groben thematisch-inhaltlichen Periodisierung steht jene gegenüber, die das Verhältnis zwischen dem Praxis-Kreis und dem Bund der Kommunisten erfasst. Auch diese deckt sich ungefähr mit 1968 als Umbruchsjahr.

Vermittels der Geschichte von Sommerschule und Zeitschrift lässt sich auch über die Möglichkeit von Handlungsspielräumen jenseits der von der Partei vorgeschriebenen Bahnen diskutieren. Dadurch kann ein differenziertes Verständnis der Herrschaftsform des jugoslawischen Staatssozialismus entwickelt werden, für den Wolfgang Höpken den Begriff der „reglementierten Freiheit" geprägt hat. In einer unlängst veröffentlichten Fallstudie profiliert Dubravka Stojanovic diesen Begriff aus der Perspektive der Räume für unabhängiges Handeln. 35

Rudi Supeks Beschreibung des Selbstverständnisses des Praxis-Kreises als „engagierte Persönlichkeiten und keine disziplinierten Funktionäre", trifft auch deren Ort im Machtgefüge Jugoslawiens. Der Großteil dieser Intellektuellen war durch die oder im Umfeld der Partei politisch sozialisiert worden. Die Generation von Mihailo Markovic und Gajo Petrovic hatte sich während der deutschen Besatzung dem Widerstand der kommunistischen Jugendorganisation (SKOJ) angeschlossen und war nach dem Krieg in die Partei eingetreten. Während der Großteil der „bürgerlichen" Opposition offen unterdrückt wurde, gab der Bruch mit der Sowjetunion nach 1948 den Kritikern des sowjetischen Autoritarismus die Möglichkeit, Zeitschriften zu gründen und zu publizieren. Dennoch blieb selbst-bewusste, individuelle Kritik im Einzelnen ein riskantes Unterfangen. Wegen angeb-licher „subjektivistischer Überheblichkeit und Unaufmerksamkeit gegenüber stali-nistischen Tendenzen" wurde Gajo Petrovic schon 1952 aus der Partei ausge-

35 „Es sind insbesondere die Probleme der Beziehungen zwischen Herrschaft und Gesellschaft, der Gesellschaft und dem Individuum. Die zentrale Frage lautet: worauf gründen autoritäre Ordnungen, die sich in unserer Geschichte reproduzieren? Reduzieren diese die gesellschaftlichen Freiheiten oder fordern die Individuen und die Gesellschaft umgekehrt gegenüber den autoritären Ordnungen nicht mehr Freiheiten ein? Wären diese Regime repressiv, wenn sie jemals auf starken Widerstand der Gesellschaft gestoßen wären? Oder nähren sich solche Regime an den Schwächen der Gesellschaft, an deren Konformismus, Angst, mangelnder Bereitschaft, nicht einmal zu minimalem Risiko? Wer hat hier wen in der Hand? Bremsen die politischen Ordnungen gesellschaftliche Entwicklungen oder ist es umgekehrt eine schwache Gesellschaft, die solche Ordnungen hervorbringt, die es der Gesellschaft verunmöglichen, sich zu emanzipieren? Ordnungen die sich einschmeicheln, in Sicherheit wiegen, die Individuen davor bewahren, die Verantwortung Erwachsener zu übernehmen?" Stojanovic, Dubravka: Noga u vratima, Prilozi za politicku biografiju Biblioteke XX vek, Beograd 2011, S. B.

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schlossen (um später wieder aufgenommen zu werden und 1968 erneut ausge-schlossen zu werden). 36 Mit Ausnahme von Milan Kangrga, der nie Mitglied des Bundes der Kommunisten gewesen war, blieben die anderen Mitglieder dennoch in den Augen der Partei „unzuverlässige Weggefährten". Die Initiative zur Gründung der Zeitschrift stieß in der Partei auf großes Misstrauen, zumal sich hier „Individu-alisten" zu einem Forum zusammenschlossen, das nicht unmittelbar von der Partei kontrolliert wurde. Von Beginn an versuchte die parteiinterne Ideologische Kommission die Zeitschrift zu diskreditieren. Mit der Gründung der Zeitschrift erschien in den wichtigsten Tageszeitungen eine Serie von Artikeln, in denen die Redaktion in Misskredit gebracht werden sollte. Edvard Kardelj, Chef-Theoretiker der jugoslawischen Selbstverwaltung, nahm sich höchstpersönlich die „destruktiven Kritiker" vor und sprach von einer „alchemistischen Mixtur abstrakter Wahrheiten über Humanismus und Freiheiten". 37 Der Chef der kroatischen Kommunisten,

Vladimir Bakarid, ging noch weiter: man müsse diesen verwirrten Gestalten „eins mit einer Eisenstange über den Kopf ziehen", damit diese wieder zur Vernunft kämen. 38

Letztlich griffen die Parteifunktionäre zu indirekteren Maßnahmen, um die „rücksichtslose Kritik alles Bestehenden" auszubremsen. Die Zeitschrift wie die Sommerschule wurden aus Mitteln der Republik Kroatien sowie des Bundes finanziert. Die prestigeträchtige Veranstaltung sollte angesichts der Anerkennung im Ausland aber nicht einfach eingestellt werden, ihre Abhaltung jedoch so schwer wie möglich gemacht werden. Dabei kam es oft zu Kürzungen des Etats oder der Zeitschrift bzw. der Sommerschule, wobei die einzige Regel darin bestand, dass diese unregelmäßig und ohne Begründung und in unklarer Zuständigkeit erfolgten. Doch gerade die unterschiedlichen Kompetenzen und Zuständigkeiten innerhalb der Partei und Staatsadministration konnten die Organisatoren in beständiger Impro-visation wiederum zu ihrem Vorteil nutzen. In den immer wieder verschiedenen Interessenkonstellationen zwischen der Gemeinde- der Republiks- und der Bundes-ebene gelang es immer wieder, kleine Handlungsspielräume zu eröffnen und auf diese Weise das Erscheinen der Zeitschrift sowie die Sommerschule zu gewährleis-ten. Darin war ebenso wenig eine stringente Politik eines Zentrums sichtbar, dass seine Order nach „unten" durchreichte, wie es in der Fallstudie von Dubravka Stojanovid sichtbar wird. Vielmehr wird deutlich, dass Funktionäre über Spielraum verfügten, Entscheidungen in unterschiedliche Richtungen zu treffen. Zumeist dominierte jedoch — wie es auch schon Bozidar Jakgid thematisiert hat — voraus-eilender Gehorsam. Dabei meinten die unteren Kader vor allem dadurch Zuver-

36 Petrovid, „Gajo Petrovid", S. 4. 37 Sher, Gerson S.: Praxis. Marxist Criticism and Dissent in Socialist Yugoslavia, Bloomington/

London 1977, S. 199. 38 Petrovid, „Gajo Petrovid", S. 4.

„Dialektische Phantasie" unter Bedingungen autoritärer Herrschaft 173

lässigkeit zu demonstrieren, indem sie die neue Linie gleichsam vorwegnahmen und „im Sinne der zukünftigen Direktiven" handelten.39

Letztlich wurde Praxis dennoch geduldet, nicht wegen möglicher Sympathie in einigen Kreisen der Partei, sondern vor allem unter dem Aspekt, dass es aus der Sicht der Partei zu ihrem Selbstverständnis von Jugoslawien als einer undog-matischen und liberalen Alternative zu den Staaten des Warschauer Paktes passte. Die Studentenrevolte von 1968 allerdings beunruhigte Tito und die führenden Kader .40 Jene, die sich für eine weitere Tolerierung aussprachen, gerieten in die Minderheit. In der Wahrnehmung der Partei gingen die Studentenproteste im Belgrader Juni mit ihrer landesweiten Wirkung letztlich auf das Konto einer „Grupa profesora", einer „Gruppe Professoren". Diese hätten die engagierten Studenten zur Rebellion verführt. Seither waren die „Gruppe" und die „Anarcho-Liberalen", wie die theoretische Ausrichtung von Praxis seitens der Funktionäre zusammengefasst wurde, im Fokus der Partei.

Der Bund der Kommunisten versuchte die Belgrader Mitarbeiter der Zeitschrift von ihren Stellen an der Belgrader Universität zu entfernen. Allerdings zog sich dies bis zum Januar 1975 hin. Während in Belgrad die Gegnerschaft der Partei nach fünf Jahren Auseinandersetzung in der Entlassung der sieben Dozenten von ihren universitären Positionen resultierte, waren die Maßnahmen der Republiksorgane in Sarajevo drastischer: Bozidar Jaksid, wie kurz erwähnt Autor einer kritischen Bestandaufnahme der gesellschaftlichen Entwicklung in Jugoslawien,41 wurde aus diesem Grund 1972 zu zwei Jahren Haft wegen feindlicher Propaganda sowie zu einem Veröffentlichungsverbot mit der Dauer von vier Jahren verurteilt.

Während es die Strukturen der Selbstverwaltung an der Belgrader Universität der Partei erschwerten, die Solidarisierung mit den stigmatisierten Professoren zu sprengen, wurde umgekehrt Selbstverwaltung funktionalisiert, um Praxis definitiv einzustellen. Praxis wurde nicht einfach verboten, vielmehr weigerte sich im Februar 1975 der Selbstverwaltungsrat der Druckerei-Arbeiter die Zeitschrift weiterhin zu drucken, weil sie deren marxistisch-leninistischen Überzeugungen

39 Dubravka Stojanovid erläutert Zuständigkeiten und Spielräume der einzelnen Parteiebenen plastisch anhand der Formen von Repression gegenüber dem Verlag „20. Vek": „Hier zeigen sich zusätzliche Schwierigkeiten in der Interpretation und dem Verständnis des Systems des damaligen Jugoslawien. Einerseits sehen wir den eindeutigen Druck des Gemeinde-Komitees gegenüber dem Verlag, doch gleichzeitig auch entschiedenen Widerstand dagegen seitens zweier Parteifunktionäre, die sich demnach durch ihr Handeln sowohl dem übergeordneten Parteiorgan als auch dem Direktor der Einrichtung widersetzten, in der der Verlag angesiedelt war. All das war die Partei. Damit kehren wir zur Frage der „Kommandokette" zurück, über die Verbote erlassen wurden. [ ... ] Es wird deutlich, dass dies nicht einfach durchzusetzen war, und die Partei kein homogener Organismus, der nur Befehle weitergab, sondern es auf den einzelnen Ebenen, sogar auf den untersten, die Möglichkeit für autonome Entscheidungen gab." Stojanovid, Noga u vratima, S. 44.

40 Vgl. Kanzleiter, Rote Universität, 235ff. 41 Jaks§"i6, Bozidar: „Yugoslav Society between Revolution and Stabilization", in: Praxis

(Internationale Ausgabe) 1971, Nr. 3-4, S. 439-450.

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widersprach.42 Je nach Republik und spezifischer Konstellation, unterschieden sich der Grad und die Auswirkung der Repression. Insgesamt aber resultierte diese vorläufig in der drastischen Einschränkung der intellektuellen Handlungsmöglich-keiten insbesondere durch den Verlust des Forums der Zeitschrift. Das stellte die Intellektuellen um Praxis vor enorme Schwierigkeiten. Nicht nur innergesellschaft-lich wurde es äußerst schwer, noch in irgendeiner Form präsent zu sein. Ebenso schwierig wurde es, die Beziehungen zu westeuropäischen Intellektuellen weiterhin in einer Qualität aufrecht zu erhalten, wie sie der Kontext von Praxis gewährleistet hatte und sich im Editorial Board der Zeitschrift manifestierte.

Insulare Reflexionen oder (Selbst-)Spiegelungen: Grenzen der Verflechtung Allerdings bleibt es eine Frage, in welchem Maße sich angesichts des imposanten Editorial Boards auf Korcula auch eine Diskussion entwickeln konnte. Neben dem Interesse der jugoslawischen Philosophen an den Entwürfen aus Westeuropa, gab es bei den Philosophen aus der westlichen Welt bewusst auch eine Bezugnahme auf die jugoslawische Gesellschaft. Zumindest lässt sich diagnostizieren, dass Korcula nicht unberührt von den Auseinandersetzungen in Westeuropa blieb. Der oben erwähnte Arnold Kiün71i diagnostizierte 1970 unter dem Titel „Verstörter Weltgeist" einen eigentümlichen Transfer der Auseinandersetzungen an den bundesrepublikanischen Universitäten auf die Adria-Insel.

„Die List der Vernunft schlägt merkwürdige Wege ein. 25 Jahre nach dem Ende des tausendjährigen Reiches ist die dalmatinische Insel Korcula in Titos Jugoslawien gleich dreifach von Deutschen erobert worden: vom beängsti-gend wachsenden Schwarm konsumfreudiger deutscher Feriengäste, vom Weltgeist des deutschen Philosophiepatriarchen Hegel und von einer statt-lichen Gruppe diesen interpretierender deutscher Professoren von Rang und Namen. Ja, die Eroberer brachten, nicht unbedingt zu ihrem Vergnügen, in der Gestalt sich radikal gebärdender Studenten auch gleich noch ihrer Universität Opposition mit, so dass man sich gelegentlich eher am Main oder an der Spree denn an der Adria wähnte. „43

Im Verlauf der Sommerschule kam es dann zunehmend zu einem Konflikt über deren Ausrichtung. Teile der Studenten aus der Bundesrepublik forderten eine Ausrichtung an aktuellen Problemen und keine Hegel-Gelehrsamkeit. Künzli beobachtete darin auch eine Differenz in dem Verständnis von Theorie, zwischen Praxis als philosophischem Begriff und unvermitteltem Praktizismus. Diese war einerseits kennzeichnend für die Konflikte zwischen Studenten und Dozenten seit 1968, in denen die rebellierenden Studenten ihren eigentlichen Vorbildern die Absenz einer praktischen Dimension ihrer kritischen Theorie vorwarfen, was etwa in Frankfurt am Main in der Besetzung des Instituts für Sozialforschung gipfelte.

Andererseits gab es offenbar keine genauere Vorstellung davon, was für die Veranstalter wie etwa Milan Kangrga die Betonung der philosophischen Dimension innerhalb eines historischen Materialismus in Jugoslawien bedeutete. Kangrga ging es vornehmlich um die Rückgewinnung der Möglichkeit, Philosophie nicht auf Leerformeln von „Gesetzmäßigkeiten" zu reduzieren, sondern vielmehr Schritt für Schritt Räume zu erweitern, um über Philosophie als Philosophie zu diskutieren. Philosophie — von Hegel bis Marx — sollte nicht einfach nur als historischer Ausgangspunkt für die praktische Veränderung der Gesellschaft, wie es die marxistisch-leninistische Orthodoxie vorsah, reflektiert werden. Revolutionär war demnach aus der Perspektive von Kangrga die Möglichkeit einer philosophischen Kritik der Gesellschaft.

Die Debatte zwischen den linksdogmatischen Studenten aus der Bundesrepublik mit den Professoren aus Westdeutschland und Jugoslawien zeigte, dass der Ort an dem die Debatte stattfand, für das Verständnis der unterschiedlichen gesellschaft-lichen Bedingungen von Theoriebildung für die Studenten aus Deutschland nicht von Belang war. Das mangelnde Interesse und Verständnis für den jugoslawischen Kontext illustrierte die inquisitorische Frage der Studenten, ob es denn wahr sein könne, dass die jugoslawische Sommerschule „abhängig" sei ausgerechnet von Geldern aus dem Westen, dazu ausgerechnet von der Alexander von Humboldt- Stiftung. Qa

So lässt sich vorläufig resümieren, dass die Sommerschule nicht unbedingt bedeutete, dass sich bei den Teilnehmern auch ein Interesse für den gesellschaft-lichen Kontext artikulierte, in dem die Sommerschule organisiert wurde. Es blieb oft bei einem schematischen Universalismus. Forderung nach Emanzipation wurde in Begriffe gefasst, die eben nicht im Hegelschen Sinne vom Abstrakten zum Kon-kreten führten, sondern auf der Stufe ideologischer Abstraktion verharrten. Aller-dings handelte es sich dabei nicht um westliche Indifferenz gegenüber „dem Osten", sondern möglicherweise eher um ein Strukturmerkmal der Neuen Linken, in der für viele Gruppen Originalität vor allem die theoretische Abgrenzung von anderen Strömungen und weniger die Vermittlung der vielfältigen Schattierung einer abstrakt gemeinsamen Begrifflichkeit innerhalb unterschiedlicher Diskussionstexte bedeu-tete. Innere Kohärenz als Beitrag zu einer positiven Gruppendynamik schien in den Nachfolge-Gruppen des SDS von primärerer Bedeutung zu sein als Neugier für jeweils differierende Reflexionsformen.

Während mit dem Blick auf die Studenten die Indifferenz gegenüber der jugoslawischen Gesellschaft deutlich wird, zeigte sich bei der älteren Generation der teilnehmenden Dozenten Interesse in einer anderen, nicht weniger ambivalenten Form. Diese erschließt sich, wenn zunächst umgekehrt auf das Interesse der jugo-slawischen Kollegen an Theoriebildung im Westen eingegangen wird.

42 Sher, Marxist Criticism and Dissent in Socialist Yugoslavia, S. 239. 43 Künzli, „Verstörter Weltgeist auf Kor6ula", S. 608.

44 Künzli, „Verstörter Weltgeist auf Korcula", S. 612.

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Aneignung und Modifikation in der Theoriebildung Der wachsende Druck der Partei minderte bis 1974 allerdings den Einfluss sowie die Beziehungen des Praxis-Kreises zu westlichen Intellektuellen kaum, im Gegenteil. Für die Darstellung dieser Wechselbeziehungen oder Ideentransfers eignet sich der Blick auf Biographien und Lebenswege, wie es hier nur kurz anhand von Gajo Petrovi6 angedeutet werden kann. Der Verweis auf die Biographie und intellektuelle Karriere Gajo Petrovids erfolgt nicht allein deshalb, weil dieser über die gesamte Dekade Redakteur der Zeitschrift blieb. Ebenso kann ein biographischer Zugang die Unterschiedlichkeit der Impulse, Erfahrungen und Diskussionen andeuten, die auf die jugoslawischen Intellektuellen einwirkten bzw. sich diese aneigneten. Es handelte sich weniger um eine stetige Beziehung zu einem immer gleichen Kontext. Es wird vielmehr ein Geflecht von Beziehungen sichtbar, in denen einzelne Knotenpunkte für eine bestimmte Zeit an Bedeutung gewannen. Hier steht insbe-sondere im Vordergrund, auf welche Weise die Kontakte und Beziehungen zu Intel-lektuellen und Wissenschaftlern in Westeuropa zustande kamen.

Im Jahre 1946 wurde Gajo Petrovi6 (1927-1993), ein junger vielversprechender Student und vormaliger Aktivist im Widerstand gegen die deutsche Besatzung, für ein zweijähriges Studium nach Leningrad und danach nach Moskau geschickt. Ursprünglich als Gelegenheit gedacht, Kenntnisse über dialektischen Materialismus zu „festigen", erlebte Petrovi6 in Moskau den sich zuspitzenden Konflikt zwischen Jugoslawien und der Sowjetunion, der im Ausschluss Jugoslawiens aus der Kom-inform gipfelte. Er verließ die Sowjetunion kurz vor der Eskalation des Konflikts, doch seine Briefe und später veröffentlichten Beobachtungen über das Leben in der Sowjetunion zeigen schon davor eine wachsende Distanz zur sowjetischen Gesellschaft, die doch das Vorbild für den Aufbau des Sozialismus in Jugoslawien sein sollte .45 Bevor sich also der spätere Austausch mit Kollegen aus dem Westen entwickelte, stand demnach eine intensive Erfahrung der sowjetischen Gesellschaft — und dies just zur Zeit der Doktrinen der Zdanovstina.

Gajo Petrovic erhielt 1957 ein einjähriges Stipendium nach England, wo er von Alfred Ayser eingeladen wurde und auf diese Weise näher in Kontakt mit Logik und analytischer Philosophie kam. Es folgte 1961 ein „grant" der Ford Foundation für einen längeren USA-Aufenthalt, die es Petrovic ermöglichte, dauerhafte Kontakte zu amerikanischen Philosophen zu entwickelten. In diesem Zusammenhang lernte Petrovic den Psychoanalytiker und das ehemalige Mitglied des Instituts für Sozial-forschung Erich Fromm kennen. Zwischen beiden entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft .46 Stipendien der Alexander-von-Humboldt-Stiftung ermöglichten Gajo Petrovi6 insbesondere in den 1970 Jahren eine Reihe von Aufenthalten in der Bundesrepublik.47

45 Petrovic, „Gajo PetrovW', S. 2. 46 Ebd., S. 5. 47 Ebd., S. 7. Es zeigt sich, dass eine oben kurz angesprochene Aufteilung in eine Zagreber eher

nach Deutschland neigende Ausrichtung und einer Belgrader Schule, die sich vor allem an

„Dialektische Phantasie" unter Bedingungen autoritärer Herrschaft 177

Neben der großen Bedeutung solcher „grants" für die Etablierung von Kontakten, konnte ein scheinbar eher unauffälliges Mittel besondere Wirkungen entfalten: die Rezension. Der amerikanische Philosoph Robert C. Tucker beschreibt, wie er in Kontakt mit dem Praxis-Kreis kam:

„Die Neugierde wurde durch Praxis geweckt, eine jugoslawische Zeitschrift für Philosophie, die sich aber mit Themen befasste, die weit darüber hinaus gingen. Als ich die Ausgabe für das Jahr 1965 aufschlug, fand ich zu meiner großen Überraschung eine Rezension meines Buches ,Philosophy and Myth in Karl Marx`, das 1961 veröffentlicht worden war. Zu meiner weiteren Überraschung war das Verhältnis des Rezensenten Gajo Petrovic von Sympathie geprägt, wenn er auch nicht unkritisch war. [ ... ] Als ich intel-lektuell also Gajo Petrovi6 schon kannte, lernte ich ihn im nächsten Jahr dann persönlich kennen, als wir beide an einer Konferenz an der Notre Dame University in den USA teilnahmen.`~48

Auch dies war der Beginn eines stetigen Austausches zwischen den beiden Philosophen. Dieser knappe Überblick steht stellvertretend für die Art und Weise, wie auch die übrigen Mitglieder der Redaktion mit westlichen Kollegen ins Ge-spräch kamen.

Von besonderer Bedeutung war dabei das Interesse an der Ausprägung von Gesellschaftskritik in Form der fiühen kritischen Theorie seitens der jugoslawischen Theoretiker in Zagreb und Belgrad. Es waren vor allem die Arbeiten von Herbert Marcuse und Max Horkheimer bzw. Theodor W. Adorno, die seit Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre zunehmend rezipiert wurden .49 Dieses Interesse blieb nicht auf einen kleinen Zirkel beschränkt .50 Der Praxis-Kreis initiierte auch die Übersetzung und Publikation dieser Texte in serbokroatischer Sprache. Ab 1965 erschienen, angefangen mit „Eros and Civilization", vor allem Werke von Herbert Marcuse.51 Der „Eindimensionale Mensch" erschien dann gleichsam pünktlich zu

Erkenntnistheorie und Logik aus dem englischen Kontext sowie Pragmatismus aus dem US-amerikanischen Kontext orientierte, als zu stark schematisiert. Vielmehr konnten diese unterschiedlichen Ausrichtungen auch in einer Person zusammenkommen.

48 Tucker, Robert C.: „Gajo Petrovic i humanisticki marxizam", in: Flego, Zbi ja i kritika, S. 27. 49 Petrovic, Gajo: „Die Frankfurter Schule und die Zagreber Philosophie der Praxis", in: Honneth,

Axel / Wellmer, Albrecht (Hg.): Die Frankfurter Schule und die Folgen, Berlin/New York 1986, S. 59-88, hier S. 61.

50 „Insgesamt muss man aber konstatieren, dass die ,Frankfurter Schule` in Jugoslawien auf offene Türen gestoßen ist. Die Verbindung von Marxismus und Psychoanalyse hat uns neue Einsichten gebracht." Interview mit Hodzi6, Alija: „Die Interpretation allein ist schon ein Ereignis", in: Kanzleiter/Stojakovic, 1968 in Jugoslawien, S. 60.

51 Marcuse, Herbert: Eros and Civililisation, Zagreb 1965; Ders.: Reason and Revolution, Sarajevo 1966; Ders.: One-Dimensional Man, Sarajevo 1968. Ders.: Das Ende der Utopie — An Essay on Liberation, Zagreb 1972; Ders.: Kultur und Gesellschaft, Beograd 1977; Ders.: Counterrevolution and Revolt, Beograd 1979; Ders.: Estetska dimezjja (Ästhetische Dimension, 10 Texte zur Kunst und Kultur), Zagreb 1981; Ders.: Hegels Ontologie und die Grundlegung

178 Nenad Stefanov „Dialektische Phantasie" unter Bedingungen autoritärer Herrschaft 179

den Studentenprotesten 1968. Eine intensivere Rezeption von Horkheimer und Adorno und deren fundamentaler Kritik an dem klassischen Verständnis der Aufklärung vollzog sich während der 1970er Jahre. 52

In einem vorläufigen Rückblick fasste Gajo Petrovic 1982 die Beziehung zu den verschiedenen Vertretern kritischer Theorie als asymmetrisches Verhältnis wie folgt zusammen:

mit Herbert Marcuse und Jürgen Habermas, 54 die beide auch an der Sommerschule teilnahmen. Allerdings kam mit Theodor W. Adorno 55 und vor allem mit Alfred Schmidt als Adorno-Schüler kein Dialog zustande. Vor allem Alfred Schmidt blieb gegenüber dem philosophischen Ansatz des Praxis-Kreises reserviert, obwohl schon in der ersten Nummer der Internationalen Ausgabe Milan Kangrga vermittels einer Rezension der Dissertation von Alfred Schmidt versuchte, einen Dialog herzu-stellen:

„Innerhalb dieser Optik wurde Ende der fünfziger und am Beginn der sechziger Jahre auch die Frankfurter Schule als die zunächst übersehene ältere Schwester entdeckt, eine bewundernswerte Schwester mit vielfältigen Begabungen, die schon längst manche wichtige Probleme gesehen hat, die die jüngere erst vor kurzem wahrgenommen hat, und die zu vielen bedeuten-den Einsichten vor geraumer Zeit gekommen war, zu denen sich die Zagreber durch große Anstrengungen selbst durchzuarbeiten hatten. Die Faszination war außerordentlich groß, vergleichbar nur mit derjenigen, die die Ent-deckung von Ernst Bloch in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre begleitete. Seitdem ist die Frankfurter Schule für die Zagreber Praxis-Philosophen (wie auch für andere Philosophen in Jugoslawien) eine ständige Quelle der Belehrung und der Anregung geblieben. „53

Das Bild der Schwestern, das Gajo Petrovic hier verwendete, deutete die Identifikation mit dem gemeinsamen Ausgangspunk an, einer kritischen Revision des klassischen Marxismus, wies aber zugleich auf die unterschiedlichen Wege hin, auf denen eine solche angestrebt wurde. Ein Austausch ergab sich dabei vor allem

„Mit mehr Zuneigung als Verständnis hat die ältere Schwester die Denkversuche der jüngeren verfolgt. Mit liebevoller Besorgtheit hat sie bei der jungen die Wiederholung eigener Jugendirrtümer (und speziell des so genannten Irrtums des jungen Marcuse) erkannt. So hat man in der Zagreber Philosophie der Praxis manchmal eine phänomenologische Spielart des Marxismus' gesehen, manchmal eine ,heideggerisierende` Marx-Interpretation und manchmal auch eine ,anthropozentrische` Philosophie, bei der ,unter dem Vorwand einer Entstalinisierung wesentliche Positionen des Marxismus über Bord geworfen werden`."56

Die Gründe für diese Asymmetrie lagen nach Gajo Petrovic demnach in Differenzen im Verständnis von Philosophie, insbesondere in der Bewertung der Bedeutung phänomenologischer Theorie. Grob verkürzt lässt sich diese Differenz u.a. als Auseinandersetzung über die Zeitlichkeit/Historizität von Theorie zusammenfassen. Insbesondere Alfred Schmidt war ausgesprochen skeptisch gegenüber dem Postulat der unveränderbaren Gültigkeit anthropologischer Grundannahmen zu Grundlagen menschlichen Seins. Theoriebildung sollte seiner Meinung nach nicht mehr auf die Etablierung in sich geschlossener, kohärenter Denksysteme abzielen. Vielmehr stand

einer Theorie der Geschichtlichkeit, Sarajevo 1981; Ders.: Prilozi za fenomenologiju

historyskog mater~alizma (Beiträge zu einer Phänomenologie des Historischen Materialismus, 8 frühe Aufsätze), Beograd 1982; Ders.: Soviet Marxism, Zagreb 1982; Ders.: A Critique of

Pure Tolerance (hg. mit R. P. Wolff and B. Moore), Zagreb 1984; Adomo, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik, Beograd 1968; Ders.: Drei Studien zu Hegel, Sarajevo 1972;

Ders.: Jargon der Eigentlichkeit, Beograd 1978; Ders.: Negative Dialektik, Beograd 1979;

Ders.: Filozofsko-socioloski eseji o knjizevnosti (Philosophisch-soziologische Essays über die Literatur), Zagreb 1985; Horkheimer, Max: Eclipse of Reason, Sarajevo 1963; Ders.: Traditionelle und kritische Theorie, Beograd 1976; Ders.: Kritische Theorie, I-11, Zagreb 1982;

Ders. / Adomo, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, Sarajevo 1974; Dies.: Soziologische

Exkurse, Zagreb 1980. Benjamin, Walter: Eseji (Essays), Beograd 1974. Horkheimer, Max: Zur

Kritik der Gewalt, Zagreb 1976; Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Beograd

1969; Ders.: Erkenntnis und Interesse, Beograd 1975; Ders.: Theorie und Praxis, Beograd

1980; Ders.: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Zagreb 1982; Ders.: Zur

Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Sarajevo 1985. Schmidt, Alfred: Geschichte

und Struktur, Beograd 1976; Ders.: Begriff der Natur in der Lehre von Marx, Beograd 1981;

Ders. / Rusconi, G. E.: Die Frankfurter Schule, Beograd 1974; Neumann, Franz: The

Democratic and the Authoritarian State, Zagreb 1980. Zit. n. Petrovic, „Die Frankfurter

Schule". 52 Vgl. Cacinovic-Puhovski, Nadezda: „Die Dialektik der Aufklärung und die aufgeklärte

Dialektik", in: Praxis 10 (1973), Nr. 2-3, S. 253-270. 53 Petrovic, „Die Frankfurter Schule und die Zagreber Philosophie der Praxis", S. 68.

54 Dabei ist oftmals umstritten, inwieweit die spezifische Form der Theoriebildung von Habermas genuin in der Tradition Kritischer Theorie steht.

55 „In einem Gespräch, das ich im Institut für Sozialforschung in Frankfurt im Dezember 1967 oder im Januar 1968 mit Adorno führte und das einen ziemlich diplomatischen Charakter hatte, weil sich Adomo bemühte, sich möglichst höflich und liebenswürdig dem Gast gegenüber zu zeigen, und ich mich meinerseits bemühte, ihn für die Teilnahme an der Sommerschule von Korcula zu gewinnen, versicherte Adomo, daß er die Zeitschrift Praxis mit großem Interesse liest und sehr gerne an der Sommerschule von Korcula teilnehmen möchte. Dabei entschuldigte er sich sofort für die folgende Tagung (im Sommer 1968), indem er behauptete, er möchte zunächst seine ästhetischen Studien zu einem vorläufigen Abschluß bringen, um sich danach wieder mehr den Problemen widmen zu können, die, wie er meinte, den in Korcula diskutierten näherstanden. Dabei hat er mir als fast sicher versprochen, im Jahre 1969 nach Korcula zu kommen. Ich kann mich nicht genau erinnern, ob er im Jahre 1969 eingeladen wurde und was er eventuell antwortete. Jedenfalls hat er im Jahre 1969 an der Sommerschule von Korcula nicht teilgenommen (noch konnte er teilnehmen), weil er am 6. August 1969, zwei Wochen vor dem Beginn der Tagung, starb." Zit. n. Petrovic, „Frankfurter Schule".

56 Kangrga, Milan: „Rezension zu: Alfred Schmidt, Der Begriff der Natur in der Lehre von Karl Marx", in: Praxis (Internationale Ausgabe) 1 (1965), S. 113-118.

180 Nenad Stefanov

im Sinne eines kritischen Historischen Materialismus die Analyse der jeweils immer historisch besonderen Genese von Bewusstseinsformen im Vordergrund. 57

Gajo Petrovid dagegen charakterisierte ein anderer Zugang. Er ging von einem schematischen Set Marxismus-Leninismus aus, in dem die philosophische Dimen-sion marxschen Denkens unsichtbar geworden sei. Von dieser doktrinären Konstruk-tion sollte das eigentliche Denken von Karl Marx entkoppelt werden. Auf diese Weise sollte zweierlei geleistet werden: Philosophie sollte gerade in ihrer revolu-tionäre Perspektive, wie sie für Marx grundlegend sei, reaffirmiert werden. 58 Re-volution erlangt dadurch umgekehrt bei Petrovid die Dignität eines philosophischen Begriffs. Revolution bezeichnet dabei nicht ein an eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Ort gebundenes konkretes einmaliges Geschehen. Revolution ist in dieser Interpretation vielmehr eine Art Grundeigenschaft menschlichen Handelns, die beständige Veränderung, die aus diesem Handeln hervorgeht. Revolution wird als überzeitliche Form der Artikulation der Kreativität des Menschen verstanden.

Habermas bestätigt in einem Rückblick diese spezifische Ausrichtung:

„Die Philosophie der Praxis, die ich damals kennenlernte, erinnerte mich an den jungen Marcuse, der sich in den 1930er Jahren an Husserl orientierte, um die transzendentale Lesart von Sein und Zeit zu verbinden mit der Interpretation der damals gerade entdeckten Pariser Manuskripte von Marx."59

Habermas stellt danach die Überlegung an, wie und ob ein solcher „heideggerisierender Marxismus" vermittels Sartre in den 1940er Jahren oder aber über Karl Kosik (der in den 1930er Jahren in Paris studierte) über Prag nach Jugoslawien gekommen sei, um dann dennoch zu dem Schluss zu kommen:

„Allerdings, in Zagreb hatte ich sofort den Eindruck, dass die Praxis-Philosophen in einem ganz anderen gesellschaftlichen Umfeld auf eine sehr originelle Weise einen anthropologischen Zugang eines phänomenologischen Marxismus entwickelt hatten.a60

Oskar Negt, ein weiterer Teilnehmer der Sommerschule und Mitglied der Redaktion von Praxis International pointierte in einer Rückbetrachtung die wesentlichen

57 „Anstatt über das Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand, Anschauung und Begriff, Subjekt und Objekt allgemeine Reflektionen anzustellen, versenkt sich Marx, darin guter Hegelianer, in materiale Geschichte; sie liefert im die konkreten, jeweils anderen Gestalten jenes Verhältnisses [Mensch — Natur; N.S.]." Schmidt, Alfred: Emanzipatorische Sinnlichkeit. Ludwig Feuerbachs anthropologischer Materialismus, München 1988, S. 66.

58 Vgl., Sekulid, Gajo: „Spekulativno prevladavanje filozofije kao metafizike", Nachwort in: Kangrga, Milan (Hg.): SpekulacUa i filozofija — od Fichtea do Marra, (Sluzbeni glasnik), Beograd 2010, S. 421-450, hier S. 444.

59 Habermas, Jürgen: „U spomen na Gaju Petrovica", in: Zbornik 2008, S. 12. Zit. n.: Sekuli6, „Spekulativno prevladavanje filozofije", S. 432.

60 Ebd.

„Dialektische Phantasie" unter Bedingungen autoritärer Herrschaft 181

Unterschiede zwischen einer von Horkheimer und Adorno geprägten kritischen Theorie der Gesellschaft und den jugoslawischen Praxis-Philosophen — wohlgemerkt — der ersten Generation. Diese stünden in eher einer Tradition geprägt von „objekti-vistischen Tendenzen des Begreifens, des Willens zur Veränderung der Welt". Vor allem aber:

„Und das macht schon seit früher Zeit für mich ein Beziehungsproblem zu Praxis aus, besonders was zum Beispiel die psychoanalytische Dimension der veränderten Subjektivität angeht. Dieses psychoanalytische Erkenntnis-problem dringt in den Praxis-Begriff nie wirklich ein. Und wenn ich das nachträglich überlege, gehört das zu diesem gespaltenen Verhältnis aus Nähe und Distanz, das ich zu der Praxis-Gruppe immer bewahrt habe."61

Hier bezieht sich Oskar Negt insbesondere auf die Studien zum autoritären Charakter zu Beginn der 1930er Jahre, ebenso auf die „Studies in Prejudice", die die Verbindung zwischen avancierter Sozialforschung in Amerika und kritischer Theorie beinhalteten. Der Praxis-Kreis sei auf diese Erweiterungen nicht einge-gangen:

„Diese Untersuchungen weisen darauf hin, dass ein Revolutionär nicht nur ein Revolutionär ist, sondern irgendwo auch in Spießer sein kann, ein Mensch mit Vorurteilen, der es sich zu Hause so einrichtet, dass er überhaupt ununterscheidbar ist von dem rechtesten Menschen. [ ... ] Dieses Problem wird von der Praxis-Gruppe überhaupt nicht thematisiert. [ ... ] Mit anderen Worten, auf dieser Ebene ist auch selbst die Praxis-Gruppe, die ja sonst die durch das Subjekt verknüpften Konstitutionsprobleme ins Zentrum rückt, objektivistisch verengt. .62

Negt betont einerseits, dass diese Differenzen vor allem in Hinblick auf die erste Generation im Verständnis von Gesellschaftstheorie sichtbar wurden. Andererseits betont er doch die für ihn wichtige Funktion der Praxis-Gruppe als Mittler zwischen Ost und West:

„Trotz alledem bedeutet sie sehr viel für meine politische Sozialisation in der Orientierung eines demokratischen Weges des Sozialismus, der eng mit der Selbstverwaltung verknüpft ist. Stojanovid, Markovid, auch Tadid standen mir da sehr nahe. Zentral war die Frage des Dritten Weges für diejenigen Sozialisten der sechziger Jahre, die aus dem SDS kamen und die sich in dieser Welt zwischen den Blöcken zu orientieren versuchten. «63

Für die jugoslawischen Intellektuellen stand die Rezeption sowie Einbeziehung einzelner Begriffe aus dem Kontext Kritischer Theorie in ihre Vorstellung philo-

61 Rütten, Am Ende der Philosophie?, S. 174. 62 Ebd., 176. 63 Ebd., 174.

182 Nenad Stefanov

sophischer Systematik im Vordergrund. Insbesondere interessierte sie aber ein Dialog über die Möglichkeiten einer eigenständigen Aneignung und Interpretation, der aber, nach Petrovic zu urteilen, nicht zustande gekommen war. Die Theoretiker aus Westdeutschland reizte dagegen weniger eine affirmative Auseinandersetzung mit dem Praxis-Begriff. Das Interesse war, wie es bei Negt anklingt, viel stärker praktisch-politisch ausgerichtet. Letztlich erwuchs dieses aus der spezifischen jugo-slawischen Situation, die in dem Konzept der Selbstverwaltung zum Ausdruck kam. Allerdings legte sich diese Neugier auch rasch mit dem Scheitern der Selbst-verwaltung, das spätestens Mitte der 1970er Jahre offenbar wurde. Es hat den An-schein, dass viele Fragen von den westdeutschen Kollegen, auf die ihre jugoslawischen Kollegen philosophisch antworteten, konkreter Natur waren. Allerdings sollte solche „konkrete" Neugier nicht mit einem Interesse an der jugo-slawischen Gesellschaft insgesamt verwechselt werden. Sie hing vor allem vom Gelingen des Experiments ab. Die Frage warum dieses in Jugoslawien scheiterte, beschäftigte danach nur wenige.64

Was blieb, war vor allem politische Unterstützung für die jugoslawischen Freunde, die in offenen Briefen und Petitionen von Ernst Bloch, Jürgen Habermas, Oskar Negt und anderen zum Ausdruck kam, als die Zeitschrift eingestellt wurde oder aber die sieben Professoren und Dozenten von der Belgrader Universität suspendiert wurden.

Transfers: Open End Die Einstellung von Zeitschrift und Sommerschule bedeutete nicht, dass nun alle Kontakte gekappt wurden. Zugespitzt formuliert, haftete der Etablierung der Beziehungen in den 1960er Jahren noch das Außerordentliche, Besondere des Zusammentreffens von Intellektuellen aus West und Ost in Zeiten zunehmender Blockkonfrontation an. In den 1970er und 1980er Jahren gewann dieser Austausch graduell an Selbstverständlichkeit — und auch an Intensität. Diese Wechselbeziehung und Diskussion bündelte sich aber nicht mehr in einem institutionellen Zentrum wie der Zeitschrift, was den jugoslawischen Intellektuellen bis dahin eine besondere gesellschaftliche Sichtbarkeit verliehen hatte. Ihr Spielraum schränkte sich nach innen nun massiv ein. Nach außen wurden die Beziehungen weiterhin von den einzelnen Intellektuellen aufrechterhalten. Jeweils geprägt von einem unterschied-lichen Grad der Reglementierung der Reisemöglichkeiten, die den Belgradern gegenüber zunächst stärker ausgeprägt war. Aber die Herausgeber von Praxis initi-ierten zugleich durch die Übersetzungen vieler Arbeiten aus dem Kontext Kritischer Theorie eine breitere Wahrnehmung dieser Strömung innerhalb Jugoslawiens und leiteten damit auch eine Rezeption unabhängig vom Begriff der Praxis ein. Viele aus der jüngeren Generation sahen weniger eine Anknüpfungsmöglichkeit an dem

64 Vgl. Fenner, Christian: „Die deutsche Studentenrevolte und das Modell der jugoslawischen Arbeiterselbstverwaltung", in: Flechtheim, Ossip K. / Grassi, Ernesto (Hg.): Marxistische Praxis, München 1973, S. 185.

„Dialektische Phantasie" unter Bedingungen autoritärer Herrschaft 183

Praxis-Begriff ihrer Lehrer, sondern orientierten sich unmittelbar — auch vermittels längerer Studienaufenthalte in Frankfurt und Konstanz — an den Theorie-Diskus-sionen in der Bundesrepublik.65

Schließlich bahnte sich in den 1980er Jahren, als die Zeitschrift Praxis International neu gegründet wurde, eine neue Zusammenarbeit an.66 Diese kann im Rahmen dieses Beitrages nicht weiter dargestellt werden, bildet allerdings ein großes Desiderat in der Analyse von Wechselbeziehungen und Verflechtungen über Ost und West hinaus. Es zeigt sich, dass gerade eine Wirkungsgeschichte des Praxis-Kreises noch in den Anfängen steckt und dass dies nur erste Stichworte sein können. Die — notwendige — Fokussierung auf die Protagonisten des Nationalismus in den letzten beiden Jahrzehnten bringt die Schwierigkeit mit sich, dass vorschnell von einer kompletten Absenz zivilgesellschaftlicher oder kritischengagierter Praxis in Jugoslawien ausgegangen wird.67 Die Auseinandersetzung mit deren Trägern, wie sie hier angedeutet wurde, führt aber zur Anerkennung von dessen Vorhandensein und zwingt zu einem genaueren Blick auf das Verhältnis zwischen Gesellschafts-kritik, normativen Orientierungen und der sich darin vollziehenden Aneignung und Modifikation von Ideen aus einem westeuropäischen Kontext. Schließlich kamen alle relevanten Ansätze für eine friedlichen und zivile Lösung, sowie wichtige Impulse für eine kritische Analyse von der jugoslawischen Krise, von Nationalismus und Krieg68 gerade aus dem hier beschriebenen Zusammenhang, der sich u.a. im Februar 1989 in der „Vereinigung für eine Jugoslawische Demokratische Initiative" (Udruzenje za Jugoslovensku Demokratsku Inicüativu) konstituierte. Transfers von Ideen, deren Aneignung und Modifikation setzten in einer intensiven Form mit der Herausgabe der Zeitschrift Praxis ein und blieben ein Prozess — mit einem „open end".

65 Zarko Puhovski etwa gehörte zur jüngeren Generation und wurde 1973 Redakteur der Zeitschrift: „Mein Argument war, dass die Mitglieder der Praxis ihre Positionen längst definiert hatten und nicht mehr imstande waren etwas neues zu bringen. Das eigentliche Problem aber war, dass es praktisch keine neue Praxis-Generation gab. Die jüngeren Leute, die Assistenten waren nicht bereit, sich als Praxis-Philosophen zu verstehen. [ ... j Damals war das bereits ganz klar das wussten meine älteren Kollegen, dass ich mich der Praxis nur im politischen Sinne, nie im philosophischen Sinne zugehörig fühlte. Das heißt natürlich, dass ich politisch und moralisch ungeachtet dessen stets solidarisch war." Interview: „Über Fossile und Mutanten, Ansichten von Zarko Puhovski", in: Rütten, Am Ende der Philosophie?, S. 79.

66 Diese war in der alten Redaktion umstritten und wurde vor allem von dem Belgrader Teil betrieben, der dadurch versuchte, seine publizistische Isolation seit der Entfernung von der Universität zu überwinden.

67 Vgl. Popov, Nebojsa: „Kuda die postagrarno drustvo?", in: Knjiievne Novine 15.11.1987. Peäic, Vesna: „Civilno drustvo i Socijalizam: problem redefinicije drustvene jednakosti", in: Knjiievne Novine, 15.1.1987.

68 Popov, Nebojäa (Hg): Srpska strana rata. Trauma i katarza u istoriyskom pamcenju, Beograd 1996, vgl. die Übersetzungen: Gojkovic, Drinka / Popov, Nebojsa: The road to war in Serbia. Trauma and catharsis, Budapest/New York 1998, sowie Bremer, Thomas / Popov, Nebojsa / Stobbe, Heinz-Günther (Hg.): Serbiens Weg in den Krieg. Kollektive Erinnerung, nationale Formierung und ideologische Aufrüstung, Berlin 1998.


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