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Ein Künstler, der nicht Englisch spricht, ist kein Künstler. Zehn Jahre postdramatisches Theater.

Date post: 18-Jan-2023
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7 Was kommt nach der POSTDRAMATIK? Das «postdramatische Theater» ist die erfolgreichste Marke der jüngeren Theatergeschichte. Seit zehn Jahren spukt der Begriff, den das gleichnamige Buch von Hans-Thies Lehmann in die Welt gesetzt hat, durch die Köpfe und Debatten. Manchen gilt er als Glaubensbe- kenntnis, anderen als die Achse des Bösen. Er spaltet Schauspielschulen, polarisiert zwischen Freier Szene und Öffentlichen Bühnen, lässt die einen Kritiker jubeln und andere vor Wut aufheulen. Über wenig kann sich die Theaterwelt mehr aufregen – als hätte man keine anderen Probleme. Die erstaunliche Karriere verdankt sich nicht nur verschiedenen Theaterformen und -schulen, sondern auch seiner einzigartigen Unschärfe. Denn was das postdramatische Theater wirklich ist – und vor allem was nicht –, klärt Lehmanns Buch in seinen facettenreichen Widersprüchen kaum. Das muss fürs Theater kein Nachteil sein, denn was wäre langweiliger als ein uniformes Regelwerk? Trotzdem kann es nie schaden, wenn man weiß, wovon man redet. Florian Malzacher wirft seinen zugewandten Blick auf das, was heute als postdramatisch gilt und fragt nach, wie sich dieses Theater in den letzten zehn Jahren verändert hat. Bernd Stegemann geht die Diskussion theoretisch an: Ist das Postdramatische ein Sonderfall von Theater, oder erweitert es seine Grenzen, oder bleibt es eher eine Schwundstufe? Das Pro und Contra begleiten die Bilder von David Baltzer, der die jüngste Produktion der (post?-)dramatischen Performer der Gruppe Signa in Odessa dokumentiert: «Black Sea Oracle Games». Vom Schwarzen Meer ist es auch nicht mehr weit zum Orakel nach Delphi – Erleuchtungen nicht ausgeschlossen. TH 10_08 06-21 Postdrama:TH-R 07 Muster 1 19.09.2008 16:12 Uhr Seite 7
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7Was kommtnach der

POSTDRAMATIK?

Das «postdramatische Theater» ist die erfolgreichste Marke der jüngeren Theatergeschichte.Seit zehn Jahren spukt der Begriff, den das gleichnamige Buch von Hans-Thies Lehmannin die Welt gesetzt hat, durch die Köpfe und Debatten. Manchen gilt er als Glaubensbe-kenntnis, anderen als die Achse des Bösen. Er spaltet Schauspielschulen, polarisiertzwischen Freier Szene und Öffentlichen Bühnen, lässt die einen Kritiker jubeln und anderevor Wut aufheulen. Über wenig kann sich die Theaterwelt mehr aufregen – als hätteman keine anderen Probleme.

Die erstaunliche Karriere verdankt sich nicht nur verschiedenen Theaterformen und -schulen,sondern auch seiner einzigartigen Unschärfe. Denn was das postdramatische Theaterwirklich ist – und vor allem was nicht –, klärt Lehmanns Buch in seinen facettenreichenWidersprüchen kaum. Das muss fürs Theater kein Nachteil sein, denn was wärelangweiliger als ein uniformes Regelwerk?

Trotzdem kann es nie schaden, wenn man weiß, wovon man redet. Florian Malzacher wirftseinen zugewandten Blick auf das, was heute als postdramatisch gilt und fragt nach,wie sich dieses Theater in den letzten zehn Jahren verändert hat. Bernd Stegemann geht dieDiskussion theoretisch an: Ist das Postdramatische ein Sonderfall von Theater, odererweitert es seine Grenzen, oder bleibt es eher eine Schwundstufe?

Das Pro und Contra begleiten die Bilder von David Baltzer, der die jüngste Produktionder (post?-)dramatischen Performer der Gruppe Signa in Odessa dokumentiert:«Black Sea Oracle Games». Vom Schwarzen Meer ist es auch nicht mehr weit zumOrakel nach Delphi – Erleuchtungen nicht ausgeschlossen.

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eit entfernt in der Dämmerung tapern Figuren übersbrache Land, kommen zueinander und verlassen sich,kaum erkennbar erschlägt da wer wen, andere habenSex (sieht nicht einvernehmlich aus), hier und da meintman, den Faden einer brutalen, aber völlig stummen Ge-

schichte in dieHand zubekommen, greift daneben oder hält ihn kurz,bevor er durch die Finger rutscht ... Safariblick des Publikums unterfreiem Himmel auf die natürliche Bühne eines künftigen Industrie-geländes irgendwo am Rande von Antwerpen: Nach und nach stür-zen die Figuren in eineGrube,werden zuErde, verschwinden imBild.Ein leichterHerbstregen lässt denZuschauer frösteln, während er dasDrama sich auflösen sieht.

Selbstverständliche SkepsisWo fängt das Drama an, wo hört es auf? Für die Freiluft-Insze-

nierung «Braakland» der jungenholländischenRegisseurin Lotte vanden Berg ist die Prosa J. M. Coetzees zwar ein Ausgangspunkt, aberviel mehr als Motive und etwas Atmosphäre ist davon nicht geblie-ben. Kein Wort, keine klar benennbare Geschichte. Immer wiederbegibt sich van denBergmit ihrenArbeiten auf das diffuseGrenzlanddes Genres Theater. Schauspielerisches Agieren, Sprache, Narrationreduziert sie auf ein Minimum – und schaut dabei doch in eine an-

dere Richtung als noch die Generationen vor ihr, die sich vomDramaerstmal befreien mussten. Derzeit kehren etliche junge freie Thea-termacher zurück an die Grenzen, die längst überschritten sind, undüberqueren sie aus entgegengesetzter Richtung für kurze Exkursio-nen.DasMisstrauen gegenüber demRepräsentationssystemdesDra-mas haben sie verinnerlicht; aber dieses Misstrauen braucht keineKampfansage mehr, keine Provokation, keine Demonstration. Es istselbstverständlich geworden.

So ist in den letzten Jahren im nicht-dramatischen Theater eineskeptische Sympathie für die Ränder des Dramatischen entstanden,die grundlegende Zweifel aber eher betont als vergisst: Wie viel Nar-ration erträgt das Theater noch, anwie viel Kausalpsychologie können

wir noch glauben, wo wir dochseit über hundert Jahren lernen,dass wir nicht die Herren im ei-genen Haus der Psyche sind?

Und wo das Kino doch ohnehin viel besser ist im Behaupten großerGeschichten – weil es perfekter lügen kann als das Theater, das beialler Technik immer durchschaubar bleibt: viel mehr Medium zumDenken als zum Glauben.

Das Misstrauen gegenüber dem dramatischen Theater gilt nachwie vor in erster Linie dem «Als ob» des konventionellen theatralenPaktes (also der Bereitschaft, dem Schauspieler seinen Hamlet fürdie Dauer des Abends zu glauben oder zumindest als Denkkonstruktzuzulassen):DieRepräsentationskritik, vor allemdespsychoanalytischgeprägten französischen Poststrukturalismus, hat zwangsläufig auchdie Repräsentationsmaschine des Theaters problematisiert. Als Reak-tion darauf entstanden Bühnenformen, die nicht primär eine andereWirklichkeit zeigen, sondern vor allem selbst eine Wirklichkeit seinwollen und dafür eine eigene, nicht unbedingt verbale Sprache ent-wickeln. So zerfließen die Grenzen zwischen Schauspiel und Perfor-mance, zwischen Repräsentation und Präsentation. Im Mittelpunktsolcher Auseinandersetzungen stehen zwangsläufig der dramatischeText und der Rollen spielende Schauspieler.

Es geht auch mit Text: das Nature Theater of OklahomaDabei ist nicht-dramatisches Theater keineswegs notwendig ein

Theater ohne Text und ohne Schauspieler: Die New Yorker Off-Off-Broadway-TruppedesNatureTheater ofOklahoma ist derzeit auchdes-halb bei einem breiten Publikum so beliebt, weil hier Leute mit soliderTheaterausbildung auf der Bühne stehen. Die sprechen, dass man siebis in die letzte Reihe versteht, die tanzen und singen und spielen,dass es landläufigeQualitätskriterien erfüllt.Mit etwasOffenheit kannmanerkennen, dass das schlechtGeschauspielerte hier gerade deshalbso kunstvoll ist, weil die Truppe ihrHandwerk beherrscht und doch et-was wagt, das über Könnerschaft und Dekor-Trash, wie er längst zumInszenierungsrepertoire des Regietheaters gehört, hinausgeht.

Denn hinter der klamaukigen Fassade steht der dreieinhalbstün-dige Theaterabend «No Dice» zwar sehr eigenwillig, aber doch mitbeiden Füßen in der Tradition epischen Geschichtenerzählens. Derzuweilen schwer greifbarenarrative Strangbasiert auf über einhundertStunden aufgezeichneter Telefongespräche der Akteure, die im Ge-spräch mit Freunden, Verwandten und Kollegen letzten Fragen vonKunst, ReligionundArbeit ebenso auf denGrund gehenwie ganz per-

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Ein Künstler,der nicht Englischspricht,ist kein KünstlerWeil die Produktionsform das Produktbestimmt, ist nichtdramatischesTheater nach wie vor nur außerhalb desStadttheaters möglich, findetFLORIAN MALZACHER

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PROsönlichenSorgen: «Sollte ich vielleichtweniger trinken?», «Werde ichgefeuert?» und «Wie kommen wir an das große Hollywood-Geld?».Das Textmaterial, das die Performer über Kopfhörer zugespielt be-kommen, wird dabei mit Dialogen eines Amateur-Dinnertheaterskontrastiert. Zwischen geradezu transzendentenHöhenund ziemlichalbernen Abgründen entsteht so ein durchaus literarischer Text, denman in seinem künstlichen Realismus auch fast in der Nachfolge desNaturalismus sehen könnte. Mit einem wesentlichen Unterschied:Die Geschichten des Nature Theater behaupten keine geschlosseneWirklichkeit.

Gisèle Viennes Spiel mit Imagination und WirklichkeitAuch die junge französische Regisseurin Gisèle Vienne arbeitet

in «Jerk»mit einemText: Ein fahler jungerMannmitEmo-Frisur (Jona-than Capdevielle) – nicht unsympathisch, aber eindeutig Typ SchwereJugend – hockt zumGreifen nah auf einem Stuhl und erzählt, anfangsunsicher und verlegen, als würde er es selbst nicht glauben, von sexu-ell aufgeladenen Gewaltverbrechen, an denen er als Teenager beteiligtwar. Eine imaginierte Rekonstruktion der tatsächlichen Verbrecheneines Serienkillers, der mit der Hilfe zweier Kids in den siebziger Jah-ren in Texasmehr als zwanzig Jungen zu Tode folterte. Eine Geschich-te, die auf Fakten basiert und doch nicht wahr zu sein scheint.

Weil das eigentlich gar nicht zu erzählen ist, spielt der jungeMann es vor mit Puppen oder lässt die Zuschauer minutenlang stillin verteilten Textbüchern weiterlesen. So zwingt er das nicht Vorstell-bare in die einsame Vorstellung jedes Einzelnen. Am Ende liegen diePuppen reglos vor seinen Füßen. Ebenso reglos spricht er den letztenMonolog ohne jede Mundbewegung. Gisèle Viennes Theater – dassie zur Zeit gemeinsam mit dem umstrittenen White-Trash-AutorDennis Cooper entwickelt – spielt virtuos und radikal mit den Gren-zen derMöglichkeiten theatraler Repräsentation, jongliertmit denRe-

zeptionenund lässt denHorror der Fantasie unddenHorror derWirk-lichkeit ununterscheidbar werden.

Text als Summe der TheaterzeichenDoch anders als in «Jerk» und «NoDice» ist Text imnicht-drama-

tischen Theater meist nicht vorgängig. Er wird entwickelt im Prozess,hat mal zu folgen, mal schubst er an. Und meint ohnehin mehr alsnur das geschriebene oder gesprochene Wort, das eben nicht isolier-bar ist von dem, was es umgibt. Text wird definiert als die Summe al-ler Theaterzeichen: Körper (ihre physische Eigenart, ihre Bewegung,ihre Stimme, ihre psychische und soziale Konnotation), Raum, Licht,Ton. Jede Gewichtung ist möglich. Und jeder dieser Ausgangspunk-te eröffnet wiederum weitere künstlerische Optionen. Auch deshalbwaren viele Arbeiten vor allem der 90er Jahre in ihremWesen selbst-referenziell: Erst einmal mussman sich vergewissern, was die Fragensind, bevor man sich ans Antworten machen kann.

Inzwischen steht diese Selbstbeschäftigung weniger im Vorder-grund – aber das Bewusstsein um die Bedingungen des eigenen Me-diums ist eines der wichtigstenMerkmale avancierten nicht-dramati-schenTheaters geblieben: RenéPolleschs Stücke handeln oft vomhie-rarchischen Theater-Apparat und dem neoliberalen Kulturmarkt, indem sie entstehen (z.B. «Hallo Hotel»), Rimini Protokolls Dramatur-gien sindwesentlich vondenBedürfnissen ihrer Performer bestimmt,ForcedEntertainmentsArbeitenhandeln fast immer auchvomVerhält-nis zwischen Zuschauerraum und Bühne, die slowenisch-kroatisch-serbische Gruppe Via Negativa beginnt «Viva Verdi» mit einer ironi-schenAnklage desRegisseurs darüber, wie das Eurokaz-Festival inZa-greb mit dem Produktionsauftrag auch den Inhalt bestimmt habe,Jérôme Bel ließ sich von seinemKollegen Xavier Le Roy eine Choreo-grafie in seinem Sinne schreiben, die er als seine eigene signierte –und in Xavier Le Roys «Projekt» ist die Sichtbarmachung vonArbeits-

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werden sie erfüllt? Aber natürlich auch: Hält man diese Spielregelnfür sinnvoll, brauchbar, interessant? Mehr noch als das dramatischeist das freie Theater nicht ohne Kontext lesbar, ist in Diskurse einge-bunden, bezieht sich auf andereArbeiten, auf Theorien, Auseinander-setzungen, Freunde, Feinde.

Liaisons und VernetzungenWas aber strukturell und ästhetisch als freies Theater genau zu

begreifen ist, lässt sich so leicht nicht definieren: Dassmit Stefan Kae-gis «Mnemopark» beim letzten Festival «Politik im Freien Theater»eineProduktiondesStadttheatersBasel ausgezeichnet (undüberhaupteingeladen)wurde, sagtmanchesüber dieVerwirrungnicht nur inner-halb von Jurys aus. Grenzen zwischen institutionell und frei sindschwerer zu ziehen, seit viele freie junge Künstler versuchen, ihre je-weiligeNähe zu verschiedenartigen Institutionen (Stadttheatern, so ge-nannten freien Theatern, d.h. Gastspielhäusern mit kleinen Produk-tionsetats, internationalen Festivals, aber auch Galerien und Museen)projektabhängig von Fall zu Fall neu zu justieren. Doch so schön dasBild vom selbstbewussten Künstler und seinen unabhängigen Ent-scheidungen klingt: Meist bleibt es eine neoliberale Freiheitslüge.Künstler veränderndieGesellschaft eben leidernicht unbedingt so,wiesie es gerne täten. Sondern vor allem als Modell für unbedingte Flexi-bilität, angewandte Kreativität, Selbstausbeutung und Billiglohn.

Gleichwohl bleibt freien Theatermachern auf dem internationa-len Markt nichts anderes übrig, als das Spiel zu spielen – wie überall:Die wenigen Künstler, die tatsächlich so begehrt sind, dass jeder siehaben will, diktieren die Bedingungen, diemeisten aber bleiben trotzihres vielleicht gar nicht so geringen Erfolgs angewiesen auf die Be-reitschaft der Institutionen, künstlerisch produktive Prozessewirklichzu ermöglichen. Und arbeitenmal in großen,mal in kleinenHäusern,mal in Angestelltenverhältnissen und mal auf eigene Faust.

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strukturen der ganze Inhalt: Die Performer spielen drei Ballspielegleichzeitig in drei verschiedenenMannschaften; und wer noch in ei-nem Spiel Verbündeter ist, ist im anderen schon der Gegner.

Postdramatischer GrenzverkehrDie Freiheit eines Theaters, das je nach Lesart mal als postdrama-

tisch, nicht-dramatisch, experimentell, als Performative Kunst, DevisedTheatre, Live Art oder zuweilen sogar noch immer als Avantgarde be-zeichnetwird, ist nicht nur eine institutionelle: Es ist vor allemdieFrei-heit, jedes mögliche künstlerische Mittel wählen zu können, um demjeweiligen Zweck gerecht zu werden. Schließlich ist das Theater ja ei-gentlich eine Metakunstform, die alle Künste integrieren kann. Dasses sich der Literatur unterzuordnen hat, ist eine vergleichsweise neueIdee. So gesehen – und in Anbetracht der Begriffsverwirrung – ist dieangestaubte Bezeichnung Freies Theater vielleicht doch wieder genaudie richtige: für ein Theater, das sich nicht einengen lässt von Zwangs-dramaturgien, Text- undNarrationsdominanz, wohltemperiert besetz-ten Ensembles, Schauspiel- und Zuschaukonventionen.

Solche Freiheit birgt allerdingsUnübersichtlichkeit:WährenddasBedienen, Deuten oder auch Zertrümmern von Texten das künstleri-sche Prozedere meist mehr oder weniger auf Auswahl, Strichfas-sung, Besetzung und dann sechs, acht Wochen Probenzeit reduziert,beginnt die Arbeit im Freien Theater stets bei Null – für die Künstlerim Entstehungsprozess ebenso wie für die Zuschauer in der Vorstel-lung: Die Kriterien des Verstehens und Bewertens einer jeden Auf-führung müssen erst aus der Aufführung selbst generiert werden.Was sind die Spielregeln, die behauptet und verwendet werden? Wie

Künstler verändern die Gesellschafteben leider nicht unbedingt so,

wie sie es gerne täten

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Mögen die Grenzen auch hier und da durchlässigsein: Theater, das grundsätzlich andere Wege gehtoder zumindest sucht, entsteht kaum je auf städti-schen Bühnen – auch wenn in Deutschland para-doxerweise das kommunale Theater zuweilenmehrdavon aufzusaugen scheint als die freie Szene inihrer Gesamtheit. Zwar sind die großen Theater-tanker selten beweglich genug, Experimente im frü-hen Stadium zu ermöglichen oder auch nur zuzu-lassen. Aber sie integrieren Künstler oder zumin-dest ästhetische Entwicklungen, sobald sie relevantgeworden sind oder ausreichend vereinfacht wer-den können, um publikumswirksam zu sein. Dassdas deutschsprachige dramatische Theater auf ho-hem Niveau immer in der Lage war, sich weiterzu-entwickeln, unterscheidet es von den meisten an-dern Theaterlandschaften der Welt. Zugleich drohtes die freie Szene zu erdrücken, die daneben nichtnur finanziell kaum eine Chance hat.

Auchdeshalb kamenundkommennachwie vordie meisten wichtigen nicht-dramatischen Impulseaus dem Ausland: Aus Belgien beispielsweise, woein anderes Fördersystem (und ein grundlegend an-

deres ästhetisches Verständnis von Theater) nicht nur freie Kompanien(Lauwers’NeedCompany,Rosas vonAnneTeresaDeKeersmaekeroderJan Fabres Troubleyn) entstehen und groß werden lässt, sondern zu-gleich auch dazu führt, dass selbst in kleinsten Städten auf demplattenLand ein beeindruckend theatergebildetes undoffenesPublikumhoch-qualifizierte und anspruchsvolle Produktionen zu sehen bekommt –weilmit denSubventionenaucheineTourverpflichtungeinhergehtundweil großartige, übers ganze (zumindest flämische) Land verteilteKunstencentren ihre Infrastruktur zur Präsentation, aber auch zur Pro-duktion und zur Förderung lokaler Szenen nutzen.

Allerdings sind umgekehrt andere ausländische Einflüsse erstdurch unter anderem deutsche Gelder möglich geworden: Gruppenwie die New Yorker Wooster Group, die Briten von Forced Entertain-ment und Lone Twin, aber beispielsweise auch libanesische KünstlerwieRabihMroué und (der inNewYork lebende)WalidRa’ad sind frühvon deutschen Koproduktionshäusern und Festivals unterstützt wor-den, die unter anderem nach belgischem Vorbild gegründet wurden.Auch viele Protagonisten lebendiger, aber armer Theaterlandschaf-tenwie etwa die vonBuenosAires finanzierenneueProduktionenmitEinkünften und Förderungen aus Europa.

Vorreiter TanzDoch die avancierte freie Theaterszene ist ohnehin nur interna-

tional zu denken. Sie trifft sich auf Festivals in aller Welt, wird inEuropa finanziell ermöglicht von Produzentennetzwerken zwischenPortugal und Finnland und arbeitet dort, wo sich gerade die bestenMöglichkeiten bieten. Beim letzten Impulse-Festival wurde (zuRecht)IvanaMüllers «WhileWeWereHolding It Together» als beste Produk-tion des deutschsprachigen Raums ausgewählt; dabei hatte die Ar-beit der in Holland lebenden Kroatin (mit ihren international zu-sammengewürfelten Performern) nur mehr oder weniger zufällig in

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13.09.2008 HAMLET William Shakespeare Inszenierung Barbara-David Brüesch 18.09.2008 DIE KAPERER Philipp LöhleInszenierung Maria Åberg 19.09.2008 REIZ UND SCHMERZ Bruce Norris Inszenierung Matthias Fontheim 11.10.2008 ÖDIPUS Sophokles Inszenierung Philip Tiedemann 05.12.2008 EINES LANGEN TAGES REISE IN DIE NACHT Eugene O’Neill Inszenierung Schirin Khodadadian 11.12.2008MENSCHEN IN KINDERGRÖSSEN Gerhild SteinbuchInszenierung Julie Pfleiderer 22.01.2009 FAMILY AFFAIRS (AT) Stéphane Bittoun Inszenierung Stéphane Bittoun 23.01.2009 RADIO UNFERTIG – DER FILM TV Texte von Johannes Schrettle Künstlerische Leitung Tim Breyvogel 14.02.2009 FRÜHLINGS ERWACHEN Frank WedekindInszenierung André Rößler 28.03.2009 LEONCE UND LENA Georg Büchner Inszenierung Hannes Rudolph 02.04.2009 DIE ILIAS Martin Oelbermann nach Homer Inszenierung Martin Oelbermann 30.04.2009 SECHS PERSONEN SUCHEN EINEN AUTOR Luigi Pirandello Inszenierung Felix Prader 17.06.2009 TOO LOW TERRAIN (AT)Lisa-Frederike DanulatInszenierung Robert Borgmann

18.06.2009 DIE MÖWE Anton Tschechow Inszenierung Matthias Fontheim

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Deutschland Premiere, bevor sie zu anderen europäischen Koprodu-zenten weiterzog.

Für diese internationale Szene war der Tanz Vorreiter. GroßeKompanien waren schon immer mit Tänzern aus aller Welt besetzt,Sprache auf der Bühne nicht notwendig, bei der internen Verständi-gung jedoch ein Problem, das pragmatische Lösungen forderte. In-zwischen schweigenTänzer nichtmehr auf der Bühne, und auch freieTheatergruppen, diemit Text arbeiten, findenWege,mit sprachlichenBarrieren künstlerisch umzugehen. Übersetzungsprozesse sindnachgerade integraler Bestandteil des internationalenTheaters gewor-den; und nicht nur William Forsythe erzählt, dass gerade Problemein der Kommunikation großartige unerwartete Ergebnisse produzie-ren können. Vor allem aber hat – nicht immer glücklicherweise – eineArt internationales Englisch in die Theater Eingang gefunden, das zu-weilen zu merkwürdigen Ergebnissen führt: «An Artist who cannotspeak English is no artist» war der Titel einer Installation des kroati-schen Künstlers Mladen Stilinoviç bereits 1992.

Nicht nur im Hinblick auf seine Internationalität war der Tanzdem Theater voraus: Seit ungefähr Mitte der 90er Jahre hat eine jun-ge Generation von Choreografen wie Xavier Le Roy, Jérôme Bel, MegStuart in Nachfolge von Tanzneuerern wie Merce Cunningham dasGenre neu definiert und dabei unter anderem auch die Grenze zuTheater überschritten (wie es auf ganz andereWeise dreißig Jahre frü-her PinaBauschs Tanztheater tat): Choreografie ist nichtmehr nur ge-tanzte Bewegung, sondern kann auch eine Denkbewegung sein, einText, eine Raumnutzung. Die Nachhaltigkeit, mit der die Protagonis-ten des sogenannten konzeptuellen Tanzes die Szene beeinflusst ha-ben, ermöglicht neue Blicke über den Tellerrand der künstlerischenGattungen, deren Grenzen als unverrückbar gelten: VAWölfls Arbei-ten sind auchBildendeKunst, LeRoys Performances ebenfalls –wennsie nicht wie in letzter Zeit zunehmend in Konzepten der Musik auf-

gehen, Jan Lauwers und Jan Fabre bewegen sich längst undefinierbarzwischen Theater, Tanz und Bildender Kunst (wie es in besseren Zei-ten auchRobertWilson tat),HeinerGoebbels löst dieGrenzenzwischenKomposition und Regie auf, Hannah Hurtzigs Schwarzmärkte jenezwischenDiskurs, Theater und Installation. Und der Choreograf TinoSeghal verdient sein Geld sowieso nur noch in den Museen und aufden Kunstbiennalen dieser Welt.

Die Produktion bestimmt das ProduktDie finanzielle Situation der freien Häuser hat sich in den letz-

ten Jahren nicht gerade verbessert. Doch sie sind stärker in den pu-blizistischen Blickwinkel geraten: Kampnagel Hamburg, HAU undSophiensaele in Berlin, Mousonturm in Frankfurt, PACT Zollvereinin Essen, FFTDüsseldorf, GessneralleeZürich, Tanzquartier und brutin Wien. Solche flexiblen Häuser ohne eigene Ensembles, dafür abermit oft langjährigenund vertrauensvollenVerbindungen zubestimm-ten Künstlern, sind die Voraussetzung einer lebendigen lokalen Sze-ne, die sich zwangsläufig auch als international begreifen muss. Wiegut das funktionieren kann, hat im Bereich Tanz das TanzquartierWien unter der Leitung von Sigrid Gareis gezeigt, das innerhalb vonacht Jahren die gesamte lokale Szene umgekrempelt hat. Wie anfäl-lig allerdings ein solches Gefüge ist, konnte man in Frankfurt sehen,wo nach der Auflösung von Forsythes Ballett als dritter städtischerBühnensparte, der Schließung des Theaters am Turm (TAT) und einerkünstlerischen Umorientierung am Mousonturm eine fragile Szenesich in kürzester Zeit auflöste.

In Deutschland hat in den letzten Jahren vor allem das HAUwe-gen eines engen Budgets zwar weniger zur infrastrukturellen Stär-kung, aber dafür zu einer deutlich größeren Sichtbarkeit nichtdra-matischen Theaters und eher konzeptuell orientierten Tanzes beige-tragen –mit immensemEngagement undGespür, aber schlicht auch

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deshalb, weil plötzlich viele Theaterjournalisten erstmals bemerkten,dass es eine relevante Kunst jenseits der Stadttheater gibt, die freilichdurchaus schon früher hätte entdeckt werden können.

Die Frage der Institution ist für das Theater nun mal grundle-gend: Nur wenige Künstler können in den Stadttheatern halbwegsdie Bedingungen bestimmen, unter denen ihre Arbeiten entstehen.Mehr als viele Häuser wahrhaben wollen, prägen die Strukturen daskünstlerische Ergebnis. Nicht nur Verwaltung und Technikmit ihrenrigorosenAbläufen, ArbeitszeitenundGewohnheiten, auch die künst-lerischeVisionwird in großemMaße vonNotwendigkeiten bestimmt.Andere Theaterformenhingegen entwickeln oft gezielt wesentlich an-dere Theaterstrukturen.Modelle komplexerZusammenarbeiten in ei-ner internationalisierten Szene.

Die Suche nach angemessenen Formen der Kollaboration präg-te viele der längst berühmten freien Kompanien, die sich in denAcht-zigern oder früher auf den Weg machten. Aber auch wenn prozess-orientiertes Arbeiten, das nicht auf einem vorgefertigten Text beruht,jedem einzelnen schon deshalb einen starken und sichtbaren Anteilzuweist, weil seine «Rolle» eben nicht einfach von einem anderenSchauspieler übernommenwerden kann, haben oder hatten diemeis-ten dieser etwas älteren Kompanien einen Mittelpunkt, einen Regis-seur, der letztlich dem Werk seinen Stempel aufdrückt. Obwohl sie

weniger vom Kollektiv als Utopie sprechen undmeist vor allem prag-matisch argumentieren, rücken viele Gruppen, die in den letztenzehn, fünfzehn Jahren entstanden sind, das Gemeinsame noch stär-ker in den Vordergrund. In Nachfolge vonMittneunzigerjahre-Grün-dungen wie She She Pop, Showcase Beat LeMot oder Gob Squadmitihren hierarchiefreien Strukturen sind viele Konstellationen entstan-den, die sich nicht in einzelne Protagonisten auseinander dividierenlassen. Dazu kommen zahlreiche Regieduos und -trios wie RiminiProtokoll, LoneTwin,NatureTheater ofOklahoma,Herbordt/Mohren,Auftrag: Lorey, Signa oder Stefan Kaegi und Lola Arias, die (teilweiseauchalsLebenspartner) gleichberechtigteArbeitsmodelle erprobenundden Unterschied zwischen produzierendem und reproduzierendemKünstler verwischen.

Langsam und meist ohne ideologische Aufladung wird so die ro-mantische Idee des genialischen Künstlersubjekts (von dem das Regie-theater bisheute lebt) vonkollektiverenArbeitsmodellenabgelöst.Auchdies ist einAbschied, dermelancholischstimmenkönnte,wennernichteinStückgelebteUtopieermöglichenwürde: vonderSchicksalsgemein-schaft zu wechselnden und doch verlässlichen Partnerschaften.

Florian Malzacher ist Leitender Dramaturg beim Festival SteirischerHerbst in Graz.

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Ideale Informationsquelle für alle, die praktisch und theoretisch, schreibend oder spielend mit Theater zu tun haben. Die Chronik zeigt Schauspielkunst unter den verschiedensten politischen, historischen und ästhe-tischen Vorzeichen und enthält die wichtigsten Per-sonen und Bühnenereignisse, kulturhistorische und po-litische Hintergründe sowie Daten zum Theaterwesen. Mit umfangreicher Bibliografie.

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