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Franz Brentano in Würzburg: Die Anfänge der deskriptiven Psychologie

Date post: 08-Feb-2023
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Franz Brentano in Würzburg: Die Anfänge der deskriptiven Psychologie Guillaume Fréchette Dass die deskriptive Psychologie zu den Entwicklungen aus Brentanos Wiener Periode gehört, ist eine weitverbreitete Meinung in der Rezeption des Aschaf- fenburger Philosophen. Mein Anliegen im folgenden Aufsatz ist es, diese An- sicht kritisch zu untersuchen. Anhand einer Neubewertung der relevanten Text- stellen aus der Psychologie von 1874 und einer kritischen Untersuchung der spä- teren Quellen und rückblickenden Bemerkungen einiger Schüler und Enkelschü- ler Brentanos möchte ich einige Belege für die These anbieten, dass Brentano über die Unterscheidung zwischen deskriptiver und genetischer Richtung der Psychologie schon als junger Professor in Würzburg verfügte. Die Bedeutung dieser Unterscheidung mag nicht unmittelbar einleuchten. Der Zeitpunkt der Einführung dieser Unterscheidung spielt jedoch eine zentrale Rolle, wenn man für die These plädieren will, dass in Brentanos Philosophie der Ansatz der psychologischen Deskription konstant bleibt. Ändere sich zu einem späteren Zeitpunkt in Brentanos Theorie des psychischen Lebens die Beziehung der deskriptiven Analyse zur genetischen Erklärung, dann hätte dies zur Folge, dass erst durch diese Unterscheidung die deskriptive Psychologie ihren Status als unabhängige Wissenschaft gewinnt. Anders gesagt: die Psychologie vom empirischen Standpunkt wäre nicht imstande, die Unabhängigkeit ihres deskrip- tiven Ansatzes zu etablieren. Ist dies der Fall, müsste man die Reichweite des in der Psychologie und in späteren Werken vertretenen methodologischen Stand- punktes (die vierte Habilitationsthese von 1866) hinterfragen, nach welchem die Methode der Philosophie (und somit der Psychologie) nichts anderes ist als die der Naturwissenschaften. 1 Mit anderen Worten: Sind die deskriptiven und gene- tischen Ansätze der Psychologie vor den 1880er-Jahren nicht klar unterschieden, muss die vierte Habilitationsthese hinsichtlich der deskriptiven Psychologie der Wiener Periode geschwächt werden. Ich möchte hier zeigen, dass Brentano die Unterscheidung zwischen deskriptiver und genetischer Psychologie schon früh erkannt hat: Somit gibt es keinen Grund, die vierte Habilitationsthese zu schwä- chen bzw. umzudeuten. Im ersten Teil (Sektionen 1. und 2.) dieses Aufsatzes werde ich die These der späteren Unterscheidung der deskriptiven Psychologie von der genetischen Psychologie (kurz gesagt: die Spätemanzipierungsthese, auch (ST) genannt) 1 Brentano (1929, S. 133).
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Franz Brentano in Würzburg: Die Anfänge der deskriptiven Psychologie

Guillaume Fréchette

Dass die deskriptive Psychologie zu den Entwicklungen aus Brentanos Wiener Periode gehört, ist eine weitverbreitete Meinung in der Rezeption des Aschaf-fenburger Philosophen. Mein Anliegen im folgenden Aufsatz ist es, diese An-sicht kritisch zu untersuchen. Anhand einer Neubewertung der relevanten Text-stellen aus der Psychologie von 1874 und einer kritischen Untersuchung der spä-teren Quellen und rückblickenden Bemerkungen einiger Schüler und Enkelschü-ler Brentanos möchte ich einige Belege für die These anbieten, dass Brentano über die Unterscheidung zwischen deskriptiver und genetischer Richtung der Psychologie schon als junger Professor in Würzburg verfügte.

Die Bedeutung dieser Unterscheidung mag nicht unmittelbar einleuchten. Der Zeitpunkt der Einführung dieser Unterscheidung spielt jedoch eine zentrale Rolle, wenn man für die These plädieren will, dass in Brentanos Philosophie der Ansatz der psychologischen Deskription konstant bleibt. Ändere sich zu einem späteren Zeitpunkt in Brentanos Theorie des psychischen Lebens die Beziehung der deskriptiven Analyse zur genetischen Erklärung, dann hätte dies zur Folge, dass erst durch diese Unterscheidung die deskriptive Psychologie ihren Status als unabhängige Wissenschaft gewinnt. Anders gesagt: die Psychologie vom empirischen Standpunkt wäre nicht imstande, die Unabhängigkeit ihres deskrip-tiven Ansatzes zu etablieren. Ist dies der Fall, müsste man die Reichweite des in der Psychologie und in späteren Werken vertretenen methodologischen Stand-punktes (die vierte Habilitationsthese von 1866) hinterfragen, nach welchem die Methode der Philosophie (und somit der Psychologie) nichts anderes ist als die der Naturwissenschaften.1 Mit anderen Worten: Sind die deskriptiven und gene-tischen Ansätze der Psychologie vor den 1880er-Jahren nicht klar unterschieden, muss die vierte Habilitationsthese hinsichtlich der deskriptiven Psychologie der Wiener Periode geschwächt werden. Ich möchte hier zeigen, dass Brentano die Unterscheidung zwischen deskriptiver und genetischer Psychologie schon früh erkannt hat: Somit gibt es keinen Grund, die vierte Habilitationsthese zu schwä-chen bzw. umzudeuten.

Im ersten Teil (Sektionen 1. und 2.) dieses Aufsatzes werde ich die These der späteren Unterscheidung der deskriptiven Psychologie von der genetischen Psychologie (kurz gesagt: die Spätemanzipierungsthese, auch (ST) genannt)

1 Brentano (1929, S. 133).

kurz vorstellen und ihre Voraussetzungen sowie ihre Konsequenzen untersu-chen. Es wird sich herausstellen, dass (ST) nicht ohne Weiteres angenommen werden darf. Im zweiten Teil (Sektionen 3. – 5.) werde ich weitere Argumente der Vertreter von (ST) besprechen und Belege für Brentanos frühe Unterschei-dung von deskriptivem und genetischem Ansatz in der Psychologie einsetzen, d. s. Manuskripte aus der Würzburger Periode und aus der frühen Wiener Periode. Ich zeige schließlich, dass die Umdeutung der vierten Habilitationsthese nicht mehr notwendig ist bzw. eine Umdeutung eigentlich mehr Schwierigkeiten mit sich bringt, als sie lösen kann.

1. Die Spätemanzipierungsthese (ST) (ST) taucht in der Sekundärliteratur unter verschiedenen Formulierungen auf, wie z. B. bei Kamitz (1988):

„Die deskriptive Psychologie soll die grundlegendere der beiden (Psychologien) sein [...] Die Unterscheidung wird erst ab ca. 1885 durchgeführt; von da ab kommt ihr in seiner Philosophie jedoch ein sehr hoher Rang zu“.2

Die Aufgabe der deskriptiven Psychologie, so Kamitz, sei die Beschreibung und Klassifikation der inneren psychischen Prozesse durch innere Wahrnehmung. Es ginge darum, die einfachsten psychischen Bestandteile darzustellen, aus deren Kombination sich die Gesamtheit der psychischen Erscheinungen wie die Ge-samtheit der Worte aus den Buchstaben ergibt, also darum, das Inventar unseres Bewusstseins aufzunehmen. Die genetische Psychologie dagegen solle „die phy-siologischen Ursachen für das Entstehen und den Verlauf der psychischen Pro-zesse erforschen und so zu allgemeinen psychophysischen Gesetzen führen“.3 In Anlehnung an diese Unterscheidung beruft sich Kamitz auf Kraus (1919), des-sen Diagnose für (ST) grundlegend ist:

„Ein gewisser Hochstand des deskriptiven psychologischen Wissens ist Vorbedin-gung für eine gedeihliche Inangriffnahme der genetischen Psychologie. Dies hat man vor Brentano und auch heute noch nicht genügend erkannt. Er selbst kam erst in der Wiener Zeit zur klaren Erkenntnis der Wichtigkeit dieser Trennung“.4

Diese Diagnose führt Kraus weiter: „In der Psychologie vom empirischen Standpunkte hatte Brentano diese Scheidung noch nicht durchgeführt. Mit der erkannten Notwendigkeit einer solchen Trennung deskriptiver und genetischer Fragen hängt es zusammen, daß der 1. Band der Psy-

2 Kamitz (1988, S. 60). 3 Ebda. 4 Kraus (1919, S. 21).

chologie keine Fortsetzung gefunden hat. Brentano scheute vor einer vollständigen Umarbeitung zurück und zog es vor, Einzeluntersuchungen zu veröffentlichen. Von diesen behandeln wohl nur der Vortrag über das Genie und die Abhandlung über das optische Paradoxon genetische Fragen, jener Probleme der Assoziationslehre, diese die Ursachen der betreffenden Urteilstäuschungen. Übrigens war schon der weitaus überwiegende Teil der Psychologie deskriptiver, ‘psychognostischer’ Natur.“5

Auf Kraus’ Bericht aufbauend, fasst Kamitz die sogenannte ursprüngliche Posi-tion so zusammen: 1874 setzte nach Brentanos Verständnis die Philosophie im großen Umfang die Psychologie voraus und diese setze gleichermaßen im gro-ßen Umfang die Physiologie voraus. Ab 1885 habe sich dann die deskriptive Psychologie emanzipiert: Ab dann setze die Philosophie die deskriptive Psycho-logie im großen Umfang voraus, während die genetische Psychologie im großen Umfang die deskriptive voraussetze (und die Philosophie im geringen Umfang die genetische Psychologie voraussetze).

Diese Voraussetzungsrelationen sind kaum im Sinne einer Begründung zu verstehen. Denn so würde durch Transitivität der Voraussetzungsrelation die Philosophie 1874 letzten Endes ihre Begründung in der Physiologie finden. Und es ist schwer ersichtlich, wie die Relation der ‘Voraussetzung im geringen Um-fang’ zu verstehen ist. Weder in der Psychologie vom empirischen Standpunkt noch in der Deskriptiven Psychologie hielt Brentano die Grenze zwischen physi-schen und psychischen Phänomenen für überschreitbar. Weder vor 1874 noch danach war Brentano der Ansicht, dass die Gesetze psychischer Sukzession aus Gesetzen physiologischer oder physischer Phänomene abgeleitet werden kön-nen. Hier von einer ‘Voraussetzung im großen Umfang’ zu sprechen, tut Brentanos Verständnis der Relation zwischen Physiologie und Psychologie Un-recht.

Anstatt von Voraussetzung sollte hier eher von Komplementarität gespro-chen werden. Diese Komplementarität ist durch die Beziehung zwischen psychi-schem und physischem Phänomen bedingt. Man kann die psychischen Phäno-mene nicht in Isolation studieren, so Brentano schon 1874: Weder eine wissen-schaftliche Psychologie (nach der Beschreibung von 1874) noch eine deskriptive Psychologie (nach der Beschreibung von 1887) kann dies tun. Da ihre eigentli-chen Gegenstände in innerer Verbindung stehen, müssen die genetische und die deskriptive Psychologie auch in Komplementarität ausgeführt werden. In dieser Hinsicht ist kein signifikanter Unterschied in Brentanos Ansichten zwischen 1874 und 1890 zu erkennen.

5 Ebda.

2. Die rückblickende Begründung von (ST) Andere Erklärungen für (ST) basieren meistens auf der eben zitierten Stelle aus Kraus (1919). So z. B. bei Hugo Bergmann, einem Enkelschüler Brentanos, der in seinen späteren Jahren auf Brentanos Psychologie rückblickend folgende Zu-sammenfassung der Sachlage zur deskriptiven Psychologie liefert:

„Die Methode der genetischen Psychologie ist die der Naturwissenschaft, vorwie-gend also induktiv und in diesem Sinn empirisch. Die Methode der beschreibenden Psychologie ist ‘empirisch’ in einem ganz anderen Sinn, und diese Doppeldeutigkeit des Wortes ‘empirisch’ ist wohl Brentano noch nicht bewußt gewesen, als er seinem Werke den Titel gab.“6

Einige Zeilen später radikalisiert Bergmann seine Ansicht: „Die beschreibende Psychologie ist also eine apriorische Wissenschaft, und wenn sie dennoch als empirisch bezeichnet wird, so geschieht es, weil sie auf der inneren Erfahrung beruht [...] Der Gegenstand der beschreibenden Psychologie gehört der Erfahrung an, ihre Methode ist aber von der naturwissenschaftlichen völlig ver-schieden. Ich glaube, daß dies Brentano nicht bewußt war, als er sein Psychologie vom empirischen Standpunkt schrieb, bald nachdem er die oben erwähnte These von der naturwissenschaftlichen Methode der Philosophie verteidigt hatte. Aber der Un-terschied wurde der Schule Brentanos bewußt...Dies ist wohl dem Einfluß von Husserls Phänomenologie zuzuschreiben.“7

Folgt man dieser Diagnose, liegt das Problem etwas tiefer als bei Kraus. Zum einen sei sich Brentano der Reichweite seiner These zur Methode der Philoso-phie und der Naturwissenschaften nicht ganz bewusst geworden:8 Zum anderen werde die Trennung zwischen deskriptiver und genetischer Psychologie in der Wiener Periode auch retrospektiv durch Husserls Phänomenologie bestätigt. Diese, so Bergmann, war nichts anderes als die deskriptive Psychologie Brenta-nos. Dazu kommt, dass die deskriptive Psychologie eine apriorische Wissen-schaft sei, die methodologisch von den Naturwissenschaften grundverschieden ist. Die deskriptive Psychologie, so Bergmanns Schluss, ist letztendlich über-haupt nicht empirisch.

Die Rezeption und die Reinterpretation Brentanos im XX. Jahrhundert durch seine Enkelschüler (z. B. durch Kraus, Mayer-Hillebrand, Bergmann) scheint nicht nur von Brentanos methodologischer These abzurücken. Sie degradiert Brentanos eigene Behauptungen zur deskriptiven Psychologie und bemüht sich sogar, Husserls Phänomenologie als die eigentliche deskriptive Psychologie zu krönen. Welche auch immer die Motive dieser zweifelhaften Krönung sein mö-

6 Bergmann (1966, S. 361). 7 Bergmann (1966, S. 362). 8 Ebda.

gen, erscheint (ST) und ihre Weiterentwicklung aus dieser Perspektive nicht mehr so unproblematisch.

Neuerdings hat Mauro Antonelli versucht, (ST) durch neue Argumente zu bekräftigen: Nach ihm solle (1) 1874 der deskriptive Teil der Psychologie mit dem genetischen Teil eingebunden sein in das Projekt einer Psychologie (sowohl genetisch als auch deskriptiv verstanden) als empirische ‘Einheitswissenschaft’. (2) Die Psychologie von 1874 versuche eine Verbindung der beiden For-schungsperspektiven herzustellen und (3) eine Vermittlung zwischen aristoteli-schem Gedankengut und dem Positivismus zu präsentieren. Jedoch wurde das Gesamtprojekt später aufgegeben, hauptsächlich wegen der Schwierigkeiten die-ser Vermittlung. (4) Bezeichnend für den methodologischen Unterschied zwi-schen der Psychologie von 1874 und der deskriptiven Psychologie sei letztlich Brentanos Behauptung, die deskriptive Psychologie erreiche „ihre Gesetze „oh-ne jede Induktion, mit einem Schlage“.9 Auf diese einzelnen Thesen kommen wir gleich zurück.

Ein weiterer Beleg für die fehlende oder mangelhafte Unterscheidung de-skriptiver und genetischer Psychologie in 1874 besteht laut Antonelli darin, dass Brentano als Unterstützung für die psychologische Methode die sprachliche Äu-ßerung psychischer Phänomene und die unwillkürlichen physischen Verände-rungen, die die Veränderungen psychischer Phänomene begleiten, in Betracht zieht (z. B. bei Kindern, Tieren oder geistesgestörten Menschen). Inwieweit kann dieser breit angelegte methodische Ansatz als eine ‘Bestätigung’ für die fehlende Unterscheidung zwischen deskriptivem und genetischem Ansatz ange-sehen werden? Die Breite dieses Ansatzes belegt doch nur, dass eine Untersu-chung des Verhaltens für die Psychologie relevant ist, und dass diese Untersu-chung mit der Physiologie nicht viel zu tun hat. Einen ähnlichen Ansatz in dieser Hinsicht findet man übrigens bei vielen Schülern und Enkelschülern Brentanos, die auch die deskriptive von der genetischen Psychologie unterscheiden.10 Die Breite des Ansatzes aus 1874 kann also als Grund für die sogenannte fehlende Unterscheidung nicht gelten.

Im Bezug auf die einzelnen nummerierten Thesen sei nun zu bemerken, dass (1) das Projekt der Psychologie als Einheitswissenschaft keinesfalls eine Auffas-sung der deskriptiven Psychologie als Spezialgebiet ausschließt. In der Tat, und das bemerken sowohl Kraus als auch Antonelli, die Mehrheit der Untersuchun-gen im Werk von 1874 sind deskriptiv-psychologischer Natur. Diese Untersu-chungen finden nicht erst dadurch ihren Sinn, dass sie als Beitrag zum Projekt einer psychologischen Einheitswissenschaft stehen. Vielmehr sind für eine Ein-

9 Vgl. Antonelli (2008, S. XVII). 10 Vgl. Utitz (1925) und Bühler (1922).

heitswissenschaft beide Teile notwendig. Dass der zweite Teil für ein weiteres Buch vorgesehen war, das am Ende doch nicht erschien, ist kein Zeichen dafür, dass das Projekt einer Einheitswissenschaft aufgegeben wurde. Das von ihm lang ersehnte Laboratorium für Experimentellpsychologie hat Brentano nie er-halten, was natürlich eine beeinträchtigende Schwierigkeit für das Fortsetzen des ursprünglichen Projektes darstellte.11

Zu (2): Dass die Psychologie als Einheitswissenschaft eine Verbindung zwi-schen deskriptivem und genetischem Ansatz herzustellen pflegt, bedeutet nicht, dass die Psychologie in ihrer deskriptiven Richtung keinen Platz in diesem Pro-gramm zugewiesen bekommt. Es ist keine ‘Überbewertung der Kontinuitätsfak-toren’, zu behaupten, dass diese Unterscheidung schon da war. Es stimmt zwar, dass Brentano sein Projekt einer Einheitswissenschaft in seiner Wiener Zeit langsam aufgegeben hat, und es stimmt auch, dass die deskriptive Psychologie nach und nach eine doppelt zentrale Rolle gewann: Daraus kann man aber nicht schließen, dass die Unterscheidung 1874 nicht vorhanden war.

Zu (3): Brentanos Ansatz in der Psychologie vom empirischen Standpunkt zeichnet sich aus durch den originalen Versuch, die positivistische Philosophie von Comte und Mill mit der aristotelischen Psychologie zu vereinbaren. Zwar wird dieser Versuch später nicht in derselben Form weitergeführt, jedoch hat dies keine unmittelbare Auswirkung auf die Unterscheidung zwischen deskripti-vem und genetischem Ansatz. Dass die Vermittlung zwischen aristotelischer Psychologie und Positivismus mit der fehlenden Unterscheidung zwischen de-skriptivem und genetischem Ansatz zusammenhängt, muss erst bewiesen wer-den.

Zu (4): Dass die deskriptive Psychologie deshalb nicht ‘empirisch’ zu nen-nen ist, weil sie die Gesetze psychischer Phänomene ‘ohne jede Induktion, mit einem Schlage’ erfasse (so Bergmann und Antonelli), scheint eigentlich auf ei-nem Missverständnis zu fußen. Dieses Zitat stammt aus dem Ursprung sittlicher Erkenntnis von 1889, bezieht sich aber nicht auf die deskriptive Psychologie im Ganzen, sondern nur auf Akte der Liebe und des Hasses, wo ein allgemeiner Begriff im Spiel ist:

„Auch Akte des Liebens und Hassens, denen in solcher Weise ein allgemeiner Be-griff unterliegt, sind oft als richtig charakterisiert. Und natürlich muß dann mit der Erfahrung des betreffenden Aktes der Liebe oder des Hasses mit einem Schlage und ohne jede Induktion besonderer Fälle die Güte oder Schlechtigkeit der ganzen Klas-se offenbar werden. So kommt man z. B. zur allgemeinen Erkenntnis, daß die Ein-sicht als solche gut ist. Man begreift, wie nahe die Versuchung liegt, bei solchen Er-kenntnissen einer allgemeinen Wahrheit ohne die anderwärts bei Erfahrungssätzen erforderliche Induktion von Einzelfällen die vorbereitende Erfahrung der als richtig

11 Vgl. Brentano (1895, S. 35).

charakterisierten Gemütstätigkeit ganz zu übersehen und das allgemeine Urteil für eine unmittelbare synthetische Erkenntnis a priori zu erklären.“12

Wenn dieses Zitat die besondere nicht-empirische Methode der deskriptiven Psychologie belegen würde, würde die deskriptive Psychologie sich ausschließ-lich mit Akten beschäftigen, die zum Inhalt einen allgemeinen Begriff haben. Dies ist natürlich nicht der Fall.

Die Argumente der Vertreter von (ST) überzeugen also nur insofern, als die Kontinuitätsthese die Gefahr birgt, von einer schon 1874 fertigen Konzeption der deskriptiven Psychologie und ihrer Beziehung zur genetischen Psychologie auszugehen. Die Entwicklung der Physiologie und der Naturwissenschaften im Allgemeinen spielt eine Rolle in der Entwicklung der Ansichten Brentanos zu dieser Zeit, und deshalb ist es schwer, plausibel zu behaupten, dass sich Brenta-nos Konzeption der Unterscheidung zwischen deskriptiver und genetischer Psy-chologie zwischen 1874 und 1887 überhaupt nicht verändert hat. Jedoch muss die Kontinuitätsthese diese Behauptung nicht unbedingt unterstützen.

Andererseits müssen die Vertreter von (ST) mit einigen Konsequenzen le-ben. So ist z. B. die Einmündung der deskriptiven Psychologie in die (husserl-sche) Phänomenologie schwer zu vermeiden. Das hat schon Kraus mehrfach be-hauptet, und wie schon oben bemerkt, ist diese Tendenz nicht sehr glücklich. Zum anderen müssen die Vertreter von (ST) damit leben, dass die spätere Ent-wicklung der Psychologie brentanoscher Manier, wie etwa bei Utitz und Bühler, oder auch zum Teil bei Stumpf und zu einem gewissen Umfang bei einigen sei-ner Berliner Schüler, einen nur schwer nachvollziehbaren Bezug zu der Lehre des Meisters finden kann. Wie kann man denn den Einfluss Brentanos auf die Entwicklungs- und Verhaltenspsychologie erklären, wie kann man denn Brenta-nos Einfluss auf die Gestaltpsychologie erklären, wenn sich der Methodenein-satz in der Deskriptiven Psychologie so drastisch verändert hat? Die (relative) Kontinuitätsthese hat zumindest den Vorteil, die Einflussgeschichte und die Re-zeption des Werkes Brentanos übersichtlicher zu machen. Der ‘interne Paradig-menwechsel’, den (ST) mit sich zieht, maskiert viele Elemente, die für die Re-zeption der Psychologie Brentanos tatsächlich eine wichtige Rolle gespielt ha-ben. 3. Eine Alternative Die Bemerkungen, Argumente und Einwände, die ich in der letzten Sektion an-geführt habe, haben gezeigt, dass die Vertreter von (ST) eigentlich keinen klaren Fall für sich haben. Ihre Argumente zeigen höchstens, dass sich Brentanos Inte- 12 Brentano (1889, S. 62).

ressen zwischen Würzburg und Wien geändert haben. Angesichts der verschie-denen Verteidigungsstrategien von (ST) kann man einen gemeinsamen Nenner identifizieren – die eigentlich plausible Voraussetzung, dass Brentano 1874 un-ter ‘Psychologie’ eine andere Wissenschaft verstand als das, was er später 1887 als ‘deskriptive Psychologie’ präsentiert. Diese These kann (ST) jedoch nur in-sofern unterstützen, als Brentanos Interessen sich ab den achtziger Jahren haupt-sächlich der deskriptiven Psychologie zuwandten, sie impliziert nicht, dass die deskriptive Psychologie sich mit einer anderen Form von Empirie beschäftigt. Diese Voraussetzung impliziert aber nicht, dass die Methode sich ändert.

Wie früher bemerkt, behaupten die Vertreter von (ST), dass der Ansatz der Deskription in der Psychologie vom empirischen Standpunkt „überhaupt nicht vorkommt“.13 Historisch stimmt dies nicht ganz. Die Etappen der deskriptiven Psychologie, die Brentano 1887 in seinen Vorlesungen bespricht, stimmen zum Teil mit der Methode der empirischen Wissenschaften überein und kommen in der Psychologie von 1874 auch schon zum Vorschein, wenn auch in etwas ande-rer Form.14 Eigentlich kommt die Unterscheidung des deskriptiven und des ge-netischen Ansatzes der Psychologie schon in den Würzburger Vorlesungen von 1868/69 zur Sprache. In diesen Vorlesungen unterscheidet Brentano zwischen deskriptiven und erklärenden Wissenschaften, d. h. jenen, die die Phänomene durch ihre kausal zusammenhängenden Wirkungen erklären. So z. B. in dem folgenden Manuskript:

Einteilung der Wissenschaften

a. in engsten Sinne: nach den Begriffen.... b. im allgemeinen Sinne.

1. beschreibende (Geschichte, Geographie, Naturbeschreibungen von Thie-ren, Pflanzen, Astronomie)

2. nach Ursachen (Physik, Metaphysik) 3. nach Wirkungen forschende... Aber die Mathematik? Sie schien fast be-

schreibende zu werden und der Unterschied von Praktischem und Theore-tischem scheint ein anderer.15

13 Antonelli (2008: XVII) 14 Vgl. Brentano (1982). 15 Brentano (o.J., S. 12921-12). Übrigens ist diese Seite der Handschrift auf der Rückseite

einer Einladung zur Disputation einer Würzburger Habilitationsschrift über die Geogno-sie des Steigerwaldes geschrieben worden. Brentanos spätere Analogie zwischen deskrip-tiver Psychologie und Geognosie (bzw. zwischen genetischer Psychologie und Geogra-phie) greift möglicherweise auf Überlegungen aus dieser Periode zurück.

Dazu muss auch betont werden, dass Brentanos Würzburger Zeit von Schriften beeinflusst ist, die sich stark mit einer solchen Unterscheidung befassen. Die Philosophy of the Inductive Sciences von Whewell hatte Brentano in seiner Bib-liothek und kannte das Werk sehr gut. Darin ist eine wichtige Unterscheidung zwischen deskriptiven und erklärenden Wissenschaften aufgestellt, und selbst die Unterscheidung zwischen Geographie und Geognosie kommt in diesem Werk explizit vor.16 Übrigens ist bekannt, dass Whewell die deskriptiven Wis-senschaften als Phänomenologie bezeichnet, während die erklärenden Wissen-schaften unter die Ätiologie fallen. Brentano übernimmt diese Unterscheidung in der Deskriptiven Psychologie, und sie ist auch im Hintergrund der Vorlesungen von 1868/69 zu spüren.

Zwar kommt in den Vorlesungen von 1868/69 die Unterscheidung zwischen deskriptiven und erklärenden Wissenschaften zum Vorschein: Sie wird aber auch in den Entwürfen zum dritten Buch der Psychologie angesprochen. Einiges deutet darauf hin, dass diese Entwürfe schon ab 1875 weitgehend geschrieben worden waren. Z. B. schreibt Brentano am 1. März 1875 in einem Brief an Stumpf:

„Ich bin nun stark hinter meiner Psychologie. Zum 2. Buch habe ich schon 3 Kapitel gefügt. X. Über die Enge des Bewußtseins und die Erschöpfung. XI. Über Bains Ge-setz der Relativität und Mills Gesetz der Beziehung auf kontradiktorische Gegensät-ze, XII. von der Gewohnheit und dem Gesetze der Selbstförderung.“17

Interessanterweise enthalten diese Kapitel Vielfaches über die Aufgaben der De-skription. Dazu findet man schon eine dreiteilige Unterscheidung der deskripti-ven Methode, die Brentano im Großen und Ganzen von Mill übernimmt. Es stimmt also nicht ganz, wenn die Vertreter von (ST) die Thematisierung der de-skriptiven Methode als eine Frucht von späteren Wiener Untersuchungen be-zeichnen. Sie war schon 1875 deutlich thematisiert, wie aus diesem Entwurf zum dritten Buch der Psychologie zu entnehmen ist:

„Zweifach ist die Aufgabe, die wir hinsichtlich der Vorstellungen zu lösen haben. Wir müssen sie beschreiben und die Gesetze feststellen, welchen sie in ihrer Entste-hung und in ihrem Verlaufe unterworfen sind. Die Beschreibung scheint die relativ leichte Aufgabe. Dennoch weichen auch hier die Philosophen weit voneinander ab; ja die Uneinigkeit ist so groß, daß über die Existenz ganzer Classen gestritten wird. Was die Untersuchung besonders schwierig macht, ist die Undeutlichkeit oder man-gelhafte Deutlichkeit der Vorstellung. Jede Beschreibung enthält, wie John Stuart

16 Whewell (1840 , S. 101). Brentano besaß die deutsche Übersetzung dieses Werkes. 17 Brentano (1989, S. 58).

Mill mit Recht hervorhebt, mehr als die Wahrnehmung, sie enthält Vergleich und Deutung.“18

Das Deuten erscheint in der Deskriptiven Psychologie als die dritte Etappe der Beschreibung, genauso wie in dem Entwurf zum dritten Buch der Psychologie aus dem Jahre 1875. Dort bemerkt Brentano, dass das richtige Wahrnehmen nicht bedeutet, dass der Wahrnehmungsinhalt (oder Vorstellungsinhalt) richtig gedeutet wird:

„Wer sagt: dies ist roth, sagt, daß es in Ansehung der Farbe mit gewißen früher ge-sehenen Gegenständen übereinstimme, zu einer Classe mit ihnen gehöre. Damit, daß etwas richtig wahrgenommen wird (was wegen der Evidenz der inneren Wahrneh-mung immer der Fall ist), ist nicht gesagt, daß es auch richtig gedeutet wird.“19

Hier findet man schon die Unterscheidung zwischen dem Bemerken und dem Deuten, genauso wie sie in der deskriptiven Psychologie thematisiert wird. Ein Vorstellungsinhalt kann undeutlich sein, wenn ein Gegenstand in der Entfernung wahrgenommen wird, und so können wir nicht über die Form des Gegenstandes richtig urteilen. Aber im eigentlichen Sinne sind Inhalte undeutlich in zwei Fäl-len: Sie können unmerklich sein, wenn wir beim Bemerken nicht imstande sind, sie zu unterscheiden und darüber zu urteilen, oder sie können missdeutig sein, wenn wir sie tendenziell missdeuten. Dies ist z. B. der Fall der Zöllner-Illusion.

Abb.

In diesem Falle werden die Inhalte wegen eines Klassifikationsfehlers missdeu-tet. Die Geraden sind als nicht parallel gedeutet, obwohl sie parallel sind. Die Möglichkeit einer Missdeutung ist nicht dem einfachen Existentialurteil zuge-ordnet (etwa dem durch „Geraden existieren“ kundgetanen Urteil): Ein solches Urteil gehört zur zweiten Etappe der Deskription, dem Bemerken. Es geht in der

18 Brentano (o.J.: PS 53, S. 53003). 19 Ebda.

Deutung um eine komplexere Klasse von Urteilen, die z. B. die Negation bein-haltet.

In dieser Hinsicht scheint es schwer zu bestreiten, dass diese Operation der Deutung zur Zeit der Psychologie von 1874 schon herausgearbeitet war. Sogar 1873 wird sie von Stumpf als Teil der Deskription charakterisiert:

„wir vergleichen, unterscheiden, combiniren, zählen, classificiren, abstrahiren usw. Das Resultat solcher psychischen Operationen an und mit gegebenen Inhalten sind die Begriffe von Gleichheit, Aehnlichkeit, Unterschied, Zahl, Theil u. dgl. […] [H]iedurch [werden] nicht irgendwelche neue Inhalte bezeichnet; sie besagen nur Thätigkeiten […].“20

Diese Unterscheidung zwischen dem Deuten und den anderen deskriptiven Momenten der Analyse ist auch schon in Martys Geschichte des Farbensinnes von 1879 präsent:

„von der Empfindung müsse die Beurtheilung der empfundenen Inhalte unterschie-den werden […] Durch die Empfindung ist uns eine Lichterscheinung, ein Ton u.dgl. gegenwärtig. Ein neues Phänomen tritt aber auf, wenn wir diese Erscheinung deuten oder classificiren, sie mit anderen gleichzeitigen oder früher erfahrenen Empfindungsinhalten vergleichen.“21

4. Zur Beziehung zwischen genetischer und deskriptiver Psycho-logie Wenn Brentanos eigentliche Auffassung der Psychologie schon vor 1887 so-wohl eine deskriptive als auch eine genetische Richtung unterschied, und wenn (ST) dann nur auf ihre Voraussetzung reduziert werden kann – nämlich die, dass ‘Psychologie’ in 1874 und ‘deskriptive Psychologie’ in 1887 verschiedene Wissenschaften bezeichnen, müssen wir dennoch erklären, in welcher Bezie-hung die deskriptive und die genetische Psychologie stehen. Eine mögliche Antwort liegt in einer Bemerkung Brentanos aus dem Jahr 1895, in welcher er im Zusammenhang eines Rückblickes auf seine Wiener Karriere folgende Ana-logien anbietet:

„Meine Schule unterscheidet eine Psychognosie und eine genetische Psychologie (in entfernter Analogie zur Geognosie und Geologie). Die eine weist die sämtlichen letzten psychischen Bestandteile auf, aus deren Kombination die Gesamtheit der psychischen Erscheinungen wie die Gesamtheit der Worte aus den Buchstaben sich ergibt. Ihre Durchführung könnte als Unterlage für eine Characteristica universalis, wie Leibniz und vor ihm Descartes sie ins Auge gefaßt haben, dienen. Die andere

20 Stumpf (1873, S. 281). 21 Marty (1879, S. 40).

belehrt uns über die Gesetze, nach welchen die Erscheinungen kommen und schwinden. Da die Bedingungen wegen der unleugbaren Abhängigkeit der psychi-schen Funktionen von den Vorgängen im Nervensystem großenteils physiologische sind, so sieht man, wie hier die psychologischen Untersuchungen mit physiologi-schen sich verflechten müssen.“22

In diesem Zusammenhang betont er auch, dass die Fortschritte in den Naturwis-senschaften sowohl von Philosophen als von Naturforschern erreicht werden: Er bemängelt aber die fehlende experimentelle Ausstattung vieler (österreichischer) philosophischer Fakultäten zugunsten der naturwissenschaftlichen Fakultäten. Denn „zur Naturwissenschaft gehört ja nichts als Raum, Zeit, Bewegung“.23 Da-her sind die Fortschritte in diesen Gebieten nach seiner Meinung öfter das Ver-dienst der Naturwissenschaften als der Philosophie, was aber nicht bedeutet, dass die Philosophie (und somit die deskriptive Psychologie) eben in diesen Ge-bieten keine Fortschritte realisieren kann. Die Grenzen zwischen (Natur-)Wissenschaft und Wissenschaft (der Psychologie) „können nirgends streng ein-gehalten werden“.24 Anders gesagt: Physiologische und psychologische Unter-suchungen verflechten sich, weil das Gebiet des Psychischen mit dem Gebiet der Geisteswissenschaften (und das Gebiet des Physischen mit dem Gebiet der Na-turwissenschaften) nicht zusammenfallen. Hätten die philosophischen Fakultä-ten (und somit die Psychologen) einen besseren Zugang zu experimentellen Mit-teln, würde sich nach Brentanos Meinung diese These noch deutlicher bewahr-heiten.

Brentanos Stellungnahme im letzten Zitat entspricht gänzlich seiner Auffas-sung von Vorstellungen. Danach gehören Empfindungen und Vorstellungen abs-trakter Gegenstände einer einzigen Klasse an: den Vorstellungen. Der Unter-schied zwischen Empfindungen und Vorstellungen wird konsequent als ein gra-dueller Unterschied eingestuft. Nicht umsonst: Denn nur so kann die genetische Psychologie – als eine Untersuchung der mechanischen Prozesse, die der Ent-stehung von Empfindungen unterliegen – mit der deskriptiven Psychologie in-teragieren, indem sie ein gemeinsames Material teilen.

Dass beide Psychologien ein gemeinsames Material teilen, wird von einigen Vertretern von (ST), etwa Kamitz, kaum beachtet. Denn nach ihm soll ‘die de-skriptive Psychologie...die grundlegendere der beiden (Psychologien) sein’.25 Dass sie hinsichtlich der Klassifikation psychischer Phänomene grundlegend ist, steht außer Frage. Hinsichtlich der Analyse der Inhalte dieser psychischen Phä-nomene sind die Rollen jedoch anders verteilt: Hier sind die Physiologie und die 22 Brentano (1895, S. 34). 23 Brentano (1895, S. 35). 24 Ebda. 25 Kamitz (1988, S. 61).

deskriptive Psychologie schlicht komplementär. Dass eine Analyse der kausalen Zusammenhänge (wie die Physiologie und die genetische Psychologie es tun) nicht vor einer Analyse der Phänomene selbst stattfinden kann, bedeutet nicht, dass die Inhalte dieser Phänomene zu einer der beiden mit Priorität gehören sol-len. Dies scheint eben in Kamitz’ Analyse vorausgesetzt. Es bleibt indessen fraglich, ob diese Voraussetzung Brentanos Auffassung entspricht. Zwar muss die Klassifikation psychischer Phänomene der Analyse ihrer Inhalte vorangehen, aber die Priorität der Klassifikation psychischer Phänomene bedeutet nicht ein Vorrecht der deskriptiven Psychologie auf das gemeinsame Untersuchungsmate-rial: die physischen Phänomene. Vielmehr soll das Experimentieren, die empiri-sche Forschung, ausschlaggebend sein, und ihre Methode ist sowohl die der so-genannten Naturwissenschaften als die der wissenschaftlichen Philosophie. Die Klassifikation, als die Hauptaufgabe der deskriptiven Psychologie, kann hier als eine Art kontrollierte Analyse gesehen werden. Kontrolliert wird sie einerseits durch die innere Wahrnehmung, andererseits durch die empirische Forschung. Zwar hat die innere Wahrnehmung einen privilegierten Zugang zu den psychi-schen Phänomenen, aber das Tatsachenmaterial, das die deskriptive und geneti-sche Psychologie untersucht, sind die physischen Phänomene. Daher ist die Un-abhängigkeit der deskriptiven Psychologie gegenüber der genetischen Psycholo-gie, die Kamitz unterstreicht (1988, S. 61), nur begrenzt anzuerkennen. In ihrer klassifikatorischen Aufgabe ist die deskriptive Psychologie von der genetischen unabhängig. Jedoch sind beide Psychologien hinsichtlich ihres Untersuchungs-materials komplementär, sie sind gegenseitig abhängige Teile der wissenschaft-lichen Methode als Ganzes. 5. Die vierte Habilitationsthese Es ist nunmehr verständlich, dass Kamitz in diesem Kontext eine Umdeutung der vierten Habilitationsthese Brentanos anbietet. In 1866 verteidigte Brentano unter anderen die These, dass die ‘wahre Methode der Philosophie... keine ande-re als die der Naturwissenschaften [ist]’.26 Nach Kamitz:

„[Brentanos These] ist zu verstehen als Kampfansage an den von Philosophen im-mer wieder unternommenen Versuch, das Haus der Wahrheit durch einen nur für sie zugänglichen Privateingang zu betreten, um höchste Erkenntnisse gewinnen zu kön-nen, ohne sich zuvor mit mühseligen Begriffserklärungen, langwierigen empirischen Untersuchungen und komplizierten logischen Analysen aufhalten zu müssen.“27

26 Brentano (1929, S. 133). 27 Kamitz (1988, S. 62).

Er interpretiert die vierte Habilitationsthese also nicht im Sinne einer strengen Identität, sondern glaubt vielmehr, dass diese bloß eine kritische Funktion hat: Die Philosophie solle methodisch wie die Naturwissenschaften verfahren und somit eine Art Selbstkontrolle üben, damit idealistische Konstruktionen, die Zeichen eines Verfalls seien, systematisch vermieden werden können. Damit setzt er aber voraus, dass die Philosophie und die Naturwissenschaften verschie-dene Gegenstände haben: Während die Naturwissenschaften raumzeitliche Ob-jekte zum Gegenstand haben (und sie entsprechend analysieren), soll die de-skriptive Psychologie eine Art Begriffsanalyse vorantreiben, die der axiomati-schen Analyse und Sprachkritik den Vorrang gibt.28 Diese Tendenzen der Be-griffsanalyse sind zwar in der Geschichte der analytischen Philosophie gut ver-treten, bilden jedoch sicher nicht den Kern von Brentanos Begriff der deskripti-ven Psychologie. Eine Annäherung dieser an Methoden der analytischen Philo-sophie erscheint in Hinsicht auf die vierte Habilitationsthese wenig hilfreich.

Brentanos These hat eine viel stärkere Funktion als die einer bloßen kriti-schen Selbstkontrolle. Die Methode der Philosophie ist nichts anderes als jene der Naturwissenschaften, weil sie denselben Gegenstand als Ausgangspunkt ha-ben: die physischen Phänomene. Brentanos Position ist eine empiristische, und nicht umsonst lautet die 13. These seiner Habilitation: ‘Nichts ist im Verstande, was nicht früher in einem Sinne war, der Verstand selbst ausgenommen’.29 6. Schlussbemerkung Ein letztes Argument von den Vertretern von (ST), das von Antonelli formuliert wurde, betraf die Frage der Einheitswissenschaft. Das 1874 formulierte Projekt einer Psychologie als Einheitswissenschaft wurde später aufgegeben. Dazu soll-te man aber bemerken, dass Brentano schon vor dem Erscheinen seiner Psycho-logie 1874 das Buch nicht als das Projekt einer Einheitswissenschaft angesehen hat. Schon in Januar 1874 stellte er in einem Brief an Lotze fest, dass das Ganze ihm schon unreif erscheine. Es ist bekannt, dass Brentanos Vorbehalte gegen-über Veröffentlichungen groß waren.30 Deshalb sollte auch die Psychologie nicht wortwörtlich als das Projekt einer Einheitswissenschaft angesehen werden.

28 Ebda, S. 74. 29 Brentano (1929, S. 135). 30 Vgl. Werle (1989) für zahlreiche Belege.

Wie er selbst Lotze mitteilt: „Bis Ostern soll der erste Band meiner Psychologie erscheinen, obwohl ich viel lie-ber noch jahrelang die Veröffentlichung verschöbe. Ich gab dem Drängen von Stumpf und einigen anderen Freunden nach, da ich die Wahrheit ihrer Bemerkung, wie jetzt, so werde auch nach Jahren mir Vieles unreif erscheinen, nicht wohl in Ab-rede stellen konnte.“31

1904, als Brentano rückblickend seine Psychologie beurteilte, machte er auch eine ähnliche Bemerkung und erwähnt in einer Art Tagebuchnotiz auch densel-ben Brief an Lotze:

„Die Psychologie war damals noch nicht reif für die Herstellung solcher umfassen-den Werke. Wie der Physiker zur Zeit des Galileis nicht ein physikalisches Hand-buch zu schreiben, sondern einige Gesetze der Mechanik zu erforschen und zu si-chern hatte, so hatte damals der Psychologe nicht die Aufgabe, ein weitumfassendes Ganzes zu geben, das neben den einfachsten, allein zugänglichen Problemen das Komplizierteste behandeln wollte. Meine Bedenken gegen die Möglichkeit des Un-ternehmens hatte ich auch damals in einem inzwischen durch Falkenberg veröffent-lichten Brief an Lotze ausgesprochen.“32

Es liegt also nahe, das Projekt der Psychologie als jenes einer ‘Einheitswissen-schaft’ eher zu relativieren, und nicht, wie die Vertreter von (ST) behaupten, als ein wahres Anliegen der Psychologie zu würdigen. Zum einen werden die Er-gebnisse der Psychologie von Brentano selbst – und sogar vor der Veröffentli-chung des Werkes – durchaus als Zwischenergebnisse angesehen. Zwar ist die Formulierung des Ansatzes im Werk in diesem Sinne ausgesprochen – dass die Psychologie als Einheitswissenschaft getrieben werden sollte, aber diese Formu-lierung entspricht eigentlich viel mehr dem Usus solcher großen und umfassen-den Werke zu dieser Zeit als einem wahren Anliegen Brentanos. Brentano war schon vor der Veröffentlichung der Psychologie gegen ein solches Projekt.

Eine feste Verankerung der Begriffe ‘empirische Psychologie’ und ‘deskrip-tive Psychologie’ in Brentanos Werk sowie eine Systematisierung dieser Wis-senschaften im Sinne einer ‘allgemeinen Theorie der psychologischen Wissen-schaften’ Brentano zuzusprechen, wie die Vertreter von (ST) voraussetzen, scheint nicht nur unproduktiv für die Interpretation der Psychologie Brentanos, sondern sie entspricht auch nicht seiner Verfahrensweise. Bereits während seiner Würzburger Jahren hatte Brentano den Begriff der deskriptiven Psychologie. Dieser Begriff ist mit der vierten Habilitationsthese eng verbunden und beide haben die Entwicklung von Brentanos Denken stark geprägt. Indem sie einen Bruch zwischen dem ursprünglichen Projekt der Psychologie und der Deskripti-

31 Falckenberg (1901, S. 112). 32 Brentano (o.J., PS 25, S. 50326-50327).

ven Psychologie einführen, müssen die Vertreter von (ST) die Bedeutung von Brentanos Empirismus umdeuten. Die Konsequenzen dieser Umdeutung sind weitreichend. Die Kontinuitätsthese scheint also bessere Voraussetzungen zu bieten, um Brentanos Anliegen einer deskriptiven Psychologie gerecht zu wer-den.33 Literaturverzeichnis Antonelli, M. (2008). Einführung. In Brentano, F. Psychologie vom empirischen Standpunkt.

Frankfurt: Ontos Verlag, S. IX-LXXXVII. Bergmann, H. (1966). Brentano und Bolzano. In Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd.

48, n. 3, S. 306-311. Brentano, F. (o.J) : Handschriftlicher Nachlaß, Harvard, Houghton Library, Handschrift

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Kraus, O. (1919), Erinnerungen an Franz Brentano. Halle: Niemeyer. Marty, A. (1879). Die Frage nach der geschichtlichen Entwicklung des Farbensinnes. Wien:

Carl Gerhold’s Sohn Stumpf, C (1873). Über den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung. Leipzig: Hirzel. Utitz, E. (1925). Charakterologie. Berlin: Pan-Verlag. Werle, J. (1989). Franz Brentano und die Zukunft der Philosophie. Amsterdam: Rodopi. Whewell, W. (1840). Philosophy of the Inductive Sciences. London: 1840.

33 Für Anregungen und Diskussionen danke ich den Teilnehmern der Fachgruppentagung in

Würzburg sowie Armin Stock, der sie organisiert hat. Denis Fisette und Ion Tanasescu danke ich für weitere Kommentare zu diesem Aufsatz.


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