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Genealogie der Säkularisierungstheorie. Zur Historisierung einer großen Erzählung der Moderne

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Genealogie der Säkularisierungstheorie Zur Historisierung einer großen Erzählung der Moderne * von Manuel Borutta Die Wahrheit ist ein Irrtum, der nicht mehr abgewiesen werden kann, weil er durch eine lange Geschichte hartgesotten wurde. 1 Abstract: As a master narrative of modernity, secularization was a product of the European Culture Wars. It was invented inthe 1840s by male progressive elites who witnessed conflicts over the place and meaning of religion. Instead of acknowledging the new religiosity of this period as a product of modernity, they described it as a medieval revival. At the same time, they began to narrate and to visualize the rise of modernity as a process of secularization: as a differentiation of religion from other ‘spheres’, a privatization of religion, or a disenchantment of the world. While secu- larization failed in practice, it succeeded on a theoretical level by influencing Western conceptions of modernity. Die Entstehung der Moderne wurde im Westen lange als Säkularisierung er- zählt: 2 als Differenzierung der Religion von anderen Sphären, als Privatisie- rung der Religion oder als Entzauberung der Welt. 3 Mit der sogenannten Rückkehr der Religion 4 hat diese große Erzählung an Überzeugungskraft verloren. 5 Sie eignet sich zwar weiterhin zur Beschreibung spezifischer Gruppen und Trends in modernen Gesellschaften, nicht mehr aber zur Be- schreibung der Moderne. Diese Erkenntnis speist sich nicht nur aus der Plu- * Wertvolle Anregungen, Hinweise und Kommentare verdanke ich Frank Adloff, Volker Barth, Pascal Eitler, You Jae Lee, Hans-Peter Ullmann und Nina Verheyen, den Teil- nehmern der von Otto Kallscheuer und Claus Leggewie organisierten „Conversations with Charles Taylor“ am 14. Juni 2010 am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen sowie den anonymen Gutachtern von Geschichte und Gesellschaft. 1 Michel Foucault, Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: ders. Von der Subversion des Wissens, hg.v. Walter Seitter, Frankfurt 1987, S. 69–90, hier S. 72. 2 Vgl. dazu auch schon Jeffrey Cox, Secularization and Other Master Narratives of Reli- gion in Modern Europe, in: Kirchliche Zeitgeschichte 14. 2001, S. 24 – 35. 3 Zur Unterscheidung dieser drei zentralen Varianten der Säkularisierungstheorie vgl. JosȖ Casanova, Public Religions in the Modern World, Chicago 1994. 4 Vgl. dazu Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004 2 . 5 Zur Delegitimierung großer Erzählungen des 19. Jahrhunderts vgl. allgemein Jean- FranÅois Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 2009 6 . Geschichte und Gesellschaft 36. 2010, S. 347 – 376 # Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2010 ISSN 0340-613X
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Genealogie der Säkularisierungstheorie

Zur Historisierung einer großen Erzählung der Moderne*

von Manuel Borutta

Die Wahrheit ist ein Irrtum,der nicht mehr abgewiesen werden kann,

weil er durch eine lange Geschichte hartgesotten wurde.1

Abstract: As a master narrative of modernity, secularization was a product of theEuropean Culture Wars. It was invented in the 1840s by male progressive elites whowitnessed conflicts over the place and meaning of religion. Instead of acknowledgingthe new religiosity of this period as a product of modernity, they described it as amedieval revival. At the same time, they began to narrate and to visualize the rise ofmodernity as a process of secularization: as a differentiation of religion from other‘spheres’, a privatization of religion, or a disenchantment of the world. While secu-larization failed in practice, it succeeded on a theoretical level by influencing Westernconceptions of modernity.

Die Entstehung der Moderne wurde im Westen lange als Säkularisierung er-zählt:2 als Differenzierung der Religion von anderen Sphären, als Privatisie-rung der Religion oder als Entzauberung der Welt.3 Mit der sogenanntenRückkehr der Religion4 hat diese große Erzählung an Überzeugungskraftverloren.5 Sie eignet sich zwar weiterhin zur Beschreibung spezifischerGruppen und Trends in modernen Gesellschaften, nicht mehr aber zur Be-schreibung der Moderne. Diese Erkenntnis speist sich nicht nur aus der Plu-

* Wertvolle Anregungen, Hinweise und Kommentare verdanke ich Frank Adloff, VolkerBarth, Pascal Eitler, You Jae Lee, Hans-Peter Ullmann und Nina Verheyen, den Teil-nehmern der von Otto Kallscheuer und Claus Leggewie organisierten „Conversationswith Charles Taylor“ am 14. Juni 2010 am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essensowie den anonymen Gutachtern von Geschichte und Gesellschaft.

1 Michel Foucault, Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: ders. Von der Subversiondes Wissens, hg. v. Walter Seitter, Frankfurt 1987, S. 69 – 90, hier S. 72.

2 Vgl. dazu auch schon Jeffrey Cox, Secularization and Other Master Narratives of Reli-gion in Modern Europe, in: Kirchliche Zeitgeschichte 14. 2001, S. 24 – 35.

3 Zur Unterscheidung dieser drei zentralen Varianten der Säkularisierungstheorie vgl.Jos� Casanova, Public Religions in the Modern World, Chicago 1994.

4 Vgl. dazu Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernenKultur, München 20042.

5 Zur Delegitimierung großer Erzählungen des 19. Jahrhunderts vgl. allgemein Jean-FranÅois Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 20096.

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ralisierung unserer Vorstellung von Modernität, aus globalhistorischen Be-funden einer Expansion der Weltreligionen im 19. Jahrhundert6 und aus derpostkolonialen Kritik abstrakter, universeller Religionsbegriffe als ahistorischund eurozentrisch.7 Selbst für den Okzident fällt es schwer, in der Moderne einbloßes Schwinden der Religion, deren Rückzug ins Private oder eine strikteTrennung von Politik und Religion zu konstatieren.8 Denn auch hier gab esgegenläufige Tendenzen:9 religiöse Erweckungsbewegungen und Revivals,Transfers,10 Entgrenzungen und Diffusionen des Religiösen, Fusionen mit demPolitischen wie im politischen Katholizismus, im modernen Nationalismus11

oder in den politischen Religionen des 20. Jahrhunderts12 sowie vielfältigeAnzeichen einer Wiederverzauberung der Welt.13 Deshalb stellt sich die Frage,warum Sozialwissenschaftler so lange an die Säkularisierungstheorie geglaubthaben (oder dies immer noch tun):14 Wie konnte diese Theorie zu einemregelrechten Definiens von Modernität werden?15

6 Vgl. dazu Christopher A. Bayly, The Birth of the Modern World 1780 – 1914. GlobalConnections and Comparisons, Oxford 2004, S. 325 – 365.

7 So die Kritik von Talal Asad, The Construction of Religion as an Anthropological Ca-tegory, in: ders. (Hg.), Genealogies of Religion. Discipline and Reasons of Power inChristianity and Islam, Baltimore 1993, S. 27 – 54, an Clifford Geertz, Religion als kul-turelles System, in: ders. , Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kulturellerSysteme [1983], Frankfurt 1995, S. 44 – 95.

8 Zwar postulierten einige Religionssoziologen und -historiker zuletzt einen religiösenSonderweg Europas – und beschrieben diesen wiederum als Prozess der Säkularisie-rung. Vgl. etwa Grace Davie, Europe. The Exceptional Case. Parameters of Faith in theModern World, London 2002; Hartmut Lehmann, Säkularisierung. Der europäischeSonderweg in Sachen Religion, Göttingen 2004. Allerdings bezogen sich diese Überle-gungen vornehmlich auf die christlich geprägten Bewohner Nord- und Westeuropas –kaum auf Ost- und Südeuropa oder auf die komplexe Beziehung von Religion undIdentität bei europäischen Juden und Muslimen. Wider säkularistische DefinitionenEuropas vgl. dagegen jetzt Jos� Casanova, Europas Angst vor der Religion, Berlin 2009.

9 Vgl. Hartmut Lehmann (Hg.), Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisie-rung im neuzeitlichen Europa. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 1997.

10 Vgl. dazu Edward I. Bailey, Implicit Religion in Contemporary Society, Kampen 1997;Daniele Hervieu-L�ger, La religion pour m�moire, Paris 1993.

11 Vgl. etwa Heinz-Gerhard Haupt u. Dieter Langewiesche (Hg.), Nation und Religion inder deutschen Geschichte, Frankfurt 2001.

12 Vgl. dazu Eric Voegelin, Die politischen Religionen, Wien 1938; Emilio Gentile, Lereligioni della politica. Fra democrazie e totalitarismi, Rom 2001.

13 Vgl. dazu demnächst Alexander C.T. Geppert u. Till Kössler (Hg.), Wunder. Poetik undPolitik des Staunens im 20. Jahrhundert, Berlin [2010].

14 Vgl. etwa Detlef Pollack, Säkularisierung. Ein moderner Mythos? Studien zum reli-giösen Wandel in Deutschland, Tübingen 2003.

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Als Antwort auf diese Frage plädiert der vorliegende Beitrag für eine Histo-risierung der Säkularisierungstheorie. Er sucht zu zeigen, dass die zentralenVarianten der Säkularisierungstheorie (Differenzierung, Privatisierung, Ent-zauberung) bereits in den Kulturkämpfen des 19. Jahrhunderts entstanden,und zwar in intensiver Wechselwirkung mit diesen Konflikten, um dann nach1900 von Religionssoziologen systematisiert und zur Selbstbeschreibung derwestlichen Moderne erhoben zu werden.16 Dieser Transfer einer Theorie (be-ziehungsweise ihrer Vorformen) von der Gesellschaft in die Wissenschaft wäregenauer zu untersuchen.17 Er steht ausdrücklich nicht im Zentrum der fol-genden Überlegungen. Stattdessen soll die Bedeutung jenes umfassendengesellschaftlichen Konflikts für die Genese der Säkularisierungstheorie ver-deutlicht werden, der diese als große Erzählung der Moderne überhaupt erstermöglicht hat.Der Zusammenhang zwischen den Kulturkämpfen und der Säkularisie-rungstheorie wurde bislang kaum erforscht. Die Religionssoziologie ignorierteihn vielleicht auch deshalb, weil er ihr Selbstverständnis als objektive, neutraleWissenschaft berührt.18 Auch Historiker trugen zur Bestimmung des Ver-hältnisses wenig bei, zumal sie die Kulturkämpfe oft selbst säkularisierungs-theoretisch erklärten. Kulturkämpfe galten als Folge eines in der Natur derModerne liegenden Trends zur Differenzierung, zur Privatisierung oder zumBedeutungsverlust der Religion, als Resultat einer funktionalen, in der Logikder Geschichte angelegten Trennungs- oder Rationalisierungsdynamik. Sieerschienen so als zwar repressiv und intolerant geführte, vom Ergebnis heraber gerechtfertigte, zudem unvermeidliche „Modernisierungskonflikte“.19

15 In den Kulturwissenschaften wird das Verhältnis von Glauben und Moderne schonlänger komplexer gedacht. Zu denken wäre hier etwa an die Arbeiten von Walter Ben-jamin, Roger Caillois oder Mircea Eliade.

16 Vgl. dazu Olivier Tschannen, Les th�ories de la s�cularisation, Genf 1992.17 Dabei wären auch jene privaten und öffentlichen Kulturkämpfe zu berücksichtigen, in

welche die jeweiligen Religionssoziologen selbst verwickelt waren. Weiterführendhierzu Joachim Radkau, Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München 2005;Hartmann Tyrell, Kulturkämpfe in Frankreich und Deutschland und die Anfänge derReligionssoziologie, in: Matthias Koenig u. Jean-Paul Willaime (Hg.), Religionskon-troversen in Frankreich und Deutschland, Hamburg 2008, S. 97 – 181.

18 Vgl. dazu Casanova, Public Religions, S. 18.19 Rudolf Lill u. Francesco Traniello (Hg.), Der Kulturkampf in Italien und in den

deutschsprachigen Ländern, Berlin 1993, S. 8. Ähnlich Hans-Ulrich Wehler, DeutscheGesellschaftsgeschichte, 5 Bde., München 1987 – 2008, hier Bd. 3: Von der „DeutschenDoppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges, S. 892; Heinrich A. Winkler,Der lange Weg nach Westen, 2 Bde., hier Bd. 1: Deutsche Geschichte 1806 – 1933,München 2000, S. 222; Peter Stadler, Cavour. Italiens liberaler Reichsgründer, München2001, S. 92.

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Indirekt und implizit legitimierte die Säkularisierungstheorie so nachträglichdie Kulturkämpfe.Abgesehen von ihrer Teleologie verdeckt diese Sichtweise den historischenZusammenhang beider Phänomene: Das Explanans „Säkularisierungstheo-rie“ war mit dem Explanandum „Kulturkämpfe“ verknüpft. Es kann dahernicht umstandslos zur Analyse der Kulturkämpfe herangezogen werden,sondern muss selbst als Teil dieser Konflikte verstanden und entsprechendhistorisiert werden: Im Sinne eines historischen Projekts, das in den Kultur-kämpfen des 19. Jahrhunderts entstand und ihren Verlauf maßgeblich beein-flusste.20

Im Folgenden wird daher die „Genealogie“ der Säkularisierungstheorie,21 ihrWandel vom Produkt zum Motor und schließlich Explanans der Kulturkämpfeuntersucht. Nach einer Definition des Zeitalters der Kulturkämpfe und derdamit verbundenen Theorien und Praktiken der Säkularisierung (I.) wird dasAufkommen der Säkularisierungstheorie anhand einzelner KulturkämpfeDeutschlands und der Schweiz zwischen Vormärz und liberaler Ära exem-plarisch beleuchtet: Deutungs- und Erzählmuster, Bilder und Modelle einerDifferenzierung (II.) und Privatisierung der Religion im Vormärz (III.) und inder liberalen Ära (IV.) sowie einer Entzauberung der Welt im Nachmärz (V.).Nach dem Resümee werden im Rahmen eines Ausblicks epistemologischeBedingungen und Folgen einer Genealogie der Säkularisierungstheorie re-flektiert (VI.).

I. Projekte der Säkularisierung im „Zeitalter derKulturkämpfe“

Der Begriff „Kulturkampf“ stammt weder von Rudolf Virchow, wie immerwieder zu lesen ist, noch überhaupt aus Preußen, sondern wurde bereits 1840in der im schweizerischen Fribourg erschienenen Zeitschrift für katholischeTheologie geprägt, in der ein anonymer Verfasser die Schrift des RadikalenLudwig Snell über „Die Bedeutung des Kampfes der liberalen katholischenSchweiz mit der römischen Kurie“ rezensierte und den transnationalen Kon-flikt innerhalb der katholischen Kirche als „Kulturkampf“ bezeichnete.22

20 Ähnlich bereits Hermann Lübbe, Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischenBegriffs, München 1965. Zur Begriffsgeschichte: Werner Conze u. a., Art. Säkularisati-on, Säkularisierung, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Historisches Lexikon zur poli-tisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. v. Otto Brunner u. a., Bd. 5, Stuttgart 1984,S. 789 – 829.

21 Zur Definition des genealogischen Verfahrens vgl. Foucault, Nietzsche, S. 69 u. S. 73 ff.22 Zeitschrift für Theologie 4. 1840, S. 176. Zur Begriffsgeschichte vgl. Adalbert Wahl, Vom

Bismarck der 70er Jahre, Tübingen 1920, S. 6 f.; Isolde Baur, Die Geschichte des Wortes„Kultur“ und seiner Zusammensetzungen, Phil. Diss. München 1951, S. 429 – 466.

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Ausgehend von diesem begriffshistorischen Befund lässt sich das 19. Jahr-hundert als „Zeitalter der Kulturkämpfe“ definieren:23 In räumlich-zeitlicherHinsicht stellten Kulturkämpfe ein konfessionen- wie nationenübergreifendesPhänomen dar, wie es etwa in der Schweiz bereits im Vormärz seinen Anfangnahm und in Ländern wie Spanien, Portugal, Frankreich oder Italien bis ins20. Jahrhundert andauerte. Ihre stärkste Ausprägung erreichten die Kultur-kämpfe im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, als Liberale in vielen LändernRegierungsverantwortung übernahmen. Deshalb begannen in jener Zeit etwaauch in Brasilien, Mexiko und Japan Kulturkämpfe. In der katholischen Kirchesetzte sich gleichzeitig der Ultramontanismus durch, der für Länder katholi-scher Prägung von besonderer Bedeutung war.24

Inhaltlich ging es in den Kulturkämpfen um den Ort und die Bedeutung derReligion in der Moderne. Die Liberalen wollten eine Differenzierung von Po-litik und Religion, eine Privatisierung der Religion, eine Unterordnung derKirche unter den Staat und eine Verweltlichung öffentlicher Institutionen wieder Schule, aber auch eine Befreiung von kirchlichem Zwang und religiöserDiskriminierung erreichen. Demokraten und Radikale, später auch Sozialistenund Anarchisten, Freidenker und Positivisten forderten mehr: Staat undKirche sollten getrennt, Glauben durch Wissen ersetzt werden. All diesen –zum Teil verfeindeten – Kräften ging es um eine Säkularisierung der Gesell-schaft, unter der sie freilich Unterschiedliches verstanden: eine Privatisierungder Religion, ihre Differenzierung von anderen Sphären, eine Rationalisierungder Welt.

23 Der Begriff stammt von Albert Ehrhard, Der Katholizismus und das zwanzigste Jahr-hundert im Lichte der kirchlichen Entwicklung der Neuzeit, Stuttgart 1902, S. 290, wirdim Folgenden aber weiter gefasst.

24 Vgl. dazu Christopher Clark u. Wolfram Kaiser (Hg.), Culture Wars. Secular-CatholicConflict in Nineteenth-Century Europe, Cambridge 2003. Die transnationale Dimensionder Kulturkämpfe wurde in der Forschung zwar schon thematisiert, jedoch meist aufBasis einer zu engen Definition, die sich auf den Konflikt zwischen Staat und katholi-scher Kirche oder auf den „Weltanschauungskampf“ liberaler Ideen und ultramontanerDogmen in der liberalen Ära beschränkte. Vgl. etwa Georg Franz, Kulturkampf. Staatund Kirche in Mitteleuropa von der Säkularisation bis zum Abschluß des preußischenKulturkampfes, München 1954; Hubert Jedin (Hg.), Handbuch der Kirchengeschichte,Bd. 6/1 – 2, Freiburg 1971; Winfried Becker, Der Kulturkampf als europäisches und alsdeutsches Phänomen, in: HJ 101. 1983, S. 422 – 446. Den Begriff „Weltanschauungs-kampf“ prägte Johannes B. Kißling, Geschichte des Kulturkampfes im Deutschen Rei-che, Bd. 2, Freiburg 1913, S. 272 – 309. Zu Brasilien und Mexiko vgl. schon AttilioBrunialti, Prefazione. Lo stato e la chiesa in Italia, in: ders. (Hg.), Biblioteca di ScienzePolitiche, Bd. 8: Lo stato e la chiesa, Turin 1892, S. VII-CCCXXV, hier S. VII. DenHinweis auf die antibuddhistischen Kulturkämpfe im Japan der Meji-Zeit verdanke ichSebastian Conrad.

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Diese heterogenen Projekte der Säkularisierung riefen den Konfessionenübergreifenden Widerstand religiöser Kräfte hervor, die für eine Persistenzoder Expansion des Religiösen in Öffentlichkeit und Politik, für einen Primatvon Kirche und Religion über Staat und Wissenschaft eintraten. Kulturkämpfesind deshalb nicht allein als bikonfessionelle Konflikte zwischen Protestantenund Katholiken zu verstehen, sie wurden vielmehr auch innerhalb dieser undanderer Konfessionen geführt, so dass sie gleichermaßen mehr- wie mono-konfessionelle, christliche wie nichtchristliche Gesellschaften und Milieuserfassten.Dennoch stand oftmals der Katholizismus im Brennpunkt, widersprach dieserdoch der Unterscheidung von Politik beziehungsweise Öffentlichkeit einer-seits und Religion andererseits in besonders eklatanter Weise. Denn seineSymbole und Rituale beanspruchten von jeher öffentlichen Raum. Der Kir-chenstaat und die weltliche Herrschaft des Papstes verkörperten geradezu dieVermischung von Staat und Kirche. Zugleich kam es seit den 1830er Jahren zueiner Erneuerung und Expansion katholischer Symbole, Rituale und Institu-tionen. Nach 1850 wurde die Kirche konsequent auf Rom und auf den Papstausgerichtet. Die Kurie beantwortete ihre weitgehende Deterritorialisierungim Zuge der italienischen Annexion des Kirchenstaats mit einer Zentralisie-rung, Medialisierung und Globalisierung kirchlicher Strukturen.Dieser meist als Ultramontanisierung bezeichnete Prozess, der im Wider-spruch zu allen Varianten der Säkularisierungstheorie stand, wurde im Zei-chen dieser Säkularisierungstheorie entweder übersehen oder als von oben,von Rom aus gesteuerter Vorgang gedeutet, der aus einer klerikalen Mani-pulation der Laien resultierte. Tatsächlich ging diese Dynamik aber aus demkonfliktreichen Wechselspiel rivalisierender theologischer Schulen, religiöserZentren und Peripherien hervor. Die Kurie war darin nur ein Akteur untervielen, wenngleich ein zunehmend mächtiger. Die Gründung von katholischenZeitungen, Parteien und Vereinen, Klöstern und Kongregationen, die Femi-nisierung der Religion, die Ausweitung der katholischen Mission – all dieseProzesse konnte Rom zwar beeinflussen, jedoch nie vollends steuern. WichtigeImpulse zur Veränderung wurden vielmehr auch von unten und den Ränderngegeben, etwa im Fall der Marienvisionen oder der Entstehung des politischenKatholizismus. Insgesamt kann man den „neuen Katholizismus“, der alsSumme dieser miteinander verwobenen, oft gegenläufigen Entwicklungenentstand, als eine Variante „multipler Modernitäten“ fassen.25

Da „Moderne“ im 19. Jahrhundert jedoch meist im Singular gedacht und mitProjekten der Aufklärung, des Liberalismus, der bürgerlichen Gesellschaft und

25 Als Synthese der neueren europäischen Katholizismusforschung: Christopher Clark,The New Catholicism and the European Culture Wars, in: ders. u. Kaiser, Culture Wars,S. 11 – 46. Zum Konzept „multipler Modernitäten“ vgl. Shmuel N. Eisenstadt, MultipleModernities, in: Daedalus 129. 2000, S. 1 – 29.

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der Säkularisierung identifiziert wurde, stellte der Katholizismus für vieleZeitgenossen das Andere dieser Moderne dar. Liberale und Ultramontanedeuteten den Kulturkampf daher als Krieg zwischen Moderne und Mittelalter,zwischen Fortschritt und Tradition. Einerseits resultierte ihre dichotomeWahrnehmung aus echten Gegensätzen, vertraten doch Liberale in ihremFortschrittsglauben und Ultramontane mit der Idealisierung des Mittelalterskonträre Konzepte von Kultur und Zeit.26 Auf der anderen Seite zeugte dieseWahrnehmung von einem blinden Fleck: Beide Kontrahenten blendeten diespezifische Modernität des neuen Katholizismus, für die sie im Fall der Ul-tramontanen sogar mitverantwortlich waren, aus.Nach 1850 erwirkte der Ultramontanismus eine Marginalisierung liberalerKräfte innerhalb der Kirche. Als „katholischer Fundamentalismus“ kämpfte ersowohl für die Einheit von Staat und Kirche – unter kirchlichem Primat – alsauch für das päpstliche Definitionsmonopol in Glaubensfragen und eine Re-katholisierung der Welt.27 Als die italienische Einigungsbewegung den Kir-chenstaat beanspruchte und die weltliche Herrschaft des Papstes attackierte,machte sich die Kurie das ultramontane Programm zu eigen und erklärte derModerne 1864 im Syllabus Errorum den Krieg. Dieses Verzeichnis der„hauptsächlichsten Irrtümer unserer Zeit“, das die Bischöfe mit der päpstli-chen Enzyklika Quanta Cura erhielten, bestand aus achtzig Thesen zu zehngeistigen Strömungen, die Pius IX. teilweise bereits zuvor verurteilt hatte. Derletzte Satz verlautbarte, dass sich der Papst „mit dem Fortschritt, mit demLiberalismus und mit der modernen Kultur“ nicht versöhnen dürfe.28

Die Liberalen sahen ihr Vorurteil vom Katholizismus als dogmatische, un-zeitgemäße Religion nun vom Papst selbst bestätigt. Progressive Journalistenstellten den Syllabus als lächerlichen Versuch dar, der „Naturgewalt“ desFortschritts zu trotzen. Die Berliner Wespen zeichneten Pius IX. 1870 alsWiedergänger Don Quichottes, der mit dem Syllabus – als Schriftzug auf derTiara – versuchte, den reißenden „Strom der Zeit“ aufzuhalten, der auf seinemWeg ins Tal Luther, Lessing, Kant, Goethe und Humboldt als Wegmarken derkulturellen Nationenbildung Deutschlands passierte. Die Bildunterschriftstilisierte den Syllabus zum Bubenstück eines tumben Tors (Abb. 1).Noch häufiger war ein anderes Motiv zu sehen: Um die Unaufhaltsamkeit desFortschritts und die Lächerlichkeit der klerikalen Reaktion zu veranschauli-chen, wurden der Papst und seine Getreuen, allen voran die Jesuiten, immerwieder beim Versuch gezeigt, fahrende Lokomotiven – das Symbol des Fort-

26 Vgl. dazu etwa Armin Heinen, Umstrittene Moderne. Die Liberalen und der preußisch-deutsche Kulturkampf, in: GG 29. 2003, S. 138 – 156, v. a. S. 144 ff. u. S. 150 f.

27 Christoph Weber, Ultramontanismus als katholischer Fundamentalismus, in: WilfriedLoth (Hg.), Deutscher Katholizismus im Umbruch zur Moderne, Stuttgart 1991,S. 20 – 45.

28 Zit. nach Heinrich Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichenLehrentscheidungen, Freiburg 1991, S. 809.

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Abb. 1: „Der Strom der Zeit. / Ein reisender Handwerksbursche steckte einst einen Stein indie Quelle eines gewaltigen Stromes und freute sich sehr, denn er glaubte, dadurch unfehlbardem Lande das Wasser abgeschnitten zu haben. Ei verflucht! Sagte der Papst und versuchtedasselbe Kunststück.“, in: Berliner Wespen, 13. 2. 1870.

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schritts im 19. Jahrhundert schlechthin – zu stoppen.29 Die päpstliche Eisen-bahn, die im Kirchenstaat seit 1856 unterwegs war, glänzte dagegen in fort-schrittsfreundlichen Medien durch Abwesenheit.Als zunehmend global denkender und handelnder Akteur suchte die römischeKurie fortan die nationalen Katholizismen stärker zu beeinflussen und derSäkularisierungspraxis liberaler Regierungen auch außerhalb Italiens ver-stärkt entgegenzuwirken.30 Die Kulturkämpfe innerhalb anderer Konfessionenwurden danach zwar fortgesetzt, traten aber in den Hintergrund. Die Konflikteliberaler Staaten mit der katholischen Kirche rückten hingegen ins Zentrumder Aufmerksamkeit und wurden regelrecht zum Synonym für die Kultur-kämpfe: „In ganz Europa“, schrieb der katholische Reformtheologe AlbertEhrhard 1902 in Wien, „erhoben sich und bestehen zum Teil noch jene Kon-flikte zwischen den Regierungen und der katholischen Kirche, die unserer Zeitvielleicht einmal die Bezeichnung als ,Zeitalter der Kulturkämpfe‘ eintragenwerden.“ Das 19. Jahrhundert trage dabei „nicht bloß einen antireligiösenCharakter an sich“, sondern auch einen „spezifisch antikatholischen“. Die„katholische Kirche allein“ erschien Ehrhard daher als „das eigentliche Boll-werk des Christentums“.31 Auch in der allgemeinen historiographischenWahrnehmung war die Säkularisierungspraxis kulturkämpferischer Regie-rungen in erster Linie gegen den Katholizismus gerichtet. So geriet jedoch dertranskonfessionelle Charakter dieser Konflikte aus dem Blickfeld, der schondie Entstehung der Säkularisierungstheorie im Vormärz prägte.Die hier unternommene Analyse von konfessionell so heterogenen Gebietenwie der katholischen Rheinprovinz, dem reformierten Kanton Zürich sowiedem protestantisch dominierten Preußen und dem Deutschen Reich soll dieKulturkämpfe daher zum einen als transkonfessionelles Phänomen ausweisen,das nicht nur aus den Gegensätzen der Bekenntnisse, sondern auch aus solchender Klasse und des Geschlechts gespeist wurde. Darüber hinaus wird beab-sichtigt, das Zusammenspiel privater und öffentlicher Faktoren bei der Geneseder Säkularisierungstheorie zu verdeutlichen.

II. Die Natur der Moderne: Die Trierer Wallfahrt, der politischeKatholizismus und das liberale Sphärenmodell

Die Vorstellung einer Differenzierung der Religion von Politik, Kunst undWissenschaft war Teil einer umfassenden Theorie der Modernisierung, welchedie Differenzierung autonomer Sphären der Gesellschaft nicht nur zur Naturder Moderne, sondern auch zum telos der Geschichte erhob. „Die Sonderung“,

29 Vgl. etwa Lo Spirito Folletto 381. 1868; Pasquino 51. 1907.30 Weber, Ultramontanismus als katholischer Fundamentalismus.31 Ehrhard, Katholizismus, S. 290 u. S. 232.

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schrieb der Staatsrechtler Johann Caspar Bluntschli etwa 1861 in der Histori-schen Zeitschrift über das Verhältnis von Staat und Kirche, „ist das Strebenunsers Jahrhunderts“.32 Dieses liberale Credo, das die religionspolitischen und-soziologischen Debatten bis heute prägt,33 war bereits im Vormärz entstan-den, und zwar im Zuge heftiger Kontroversen über religiöse Fragen.Ein Beispiel hierfür ist die Trierer Wallfahrt, die größte „organisierte Mas-senbewegung des deutschen Vormärz“.34 1844 wurde in der Trierer Domkircheder sogenannte Heilige Rock ausgestellt. In fünfzig Tagen pilgerten etwa einehalbe Million Menschen dorthin, um die Reliquie zu sehen. Liberal-demo-kratische Zeitungen stellten das Ereignis als Einbruch des Mittelalters in dieNeuzeit, als letztes Aufflackern alter, bald verlöschender Reminiszenzen dar.35

Zugleich verglichen sie die Wallfahrt mit „barbarischen“ Kulten außerhalbEuropas: mit der Anbetung des goldenen Kalbs, den Kinderopfern an denMoloch, den „Gräuelthaten der Thugs“, dem „Venusdienst in Babylon“, dermexikanischen Vitzliputzli-Verehrung und der Krokodil- und Katzenvereh-rung der Ägypter. Da diese Manifestationen „religiösen Gefühls“ die Gesetzeder Vernunft verletzt und das Bildungsideal des 19. Jahrhunderts verhöhnthätten, seien sie zu Recht attackiert worden. Ebenso sei die Trierer Wallfahrtmit den Waffen des Geistes zu bekämpfen.36

Zwei liberalprotestantische Bonner Professoren kamen dieser Forderungumgehend nach. In einer „historischen Untersuchung“ der Reliquie wiesen derOrientalist Johannes Gildemeister und der Historiker Heinrich von Sybel dieExistenz zwanzig anderer „heiliger Röcke“ nach und entlarvten die kirchlicheLegende der Herkunft des Trierer Rocks als „willkürliche Mönchserfindung“des 12. Jahrhunderts. Die Gelehrten begründeten ihre Intervention mit derGleichgültigkeit vieler Bürger gegenüber der Echtheit der Reliquie, denn siesahen Religion und Wissenschaft damit zu Unrecht auf eine Stufe gestellt.Herausgefordert fühlten sich Gildemeister und Sybel zudem durch den Ver-

32 Johann Caspar Bluntschli, Kirchenfreiheit und Kirchenherrschaft in der Geschichte, in:HZ 5. 1861, S. 46 – 88, hier S. 87.

33 Jos� Casanova etwa will an der Differenzierungstheorie festhalten, weil sie den Kern desSelbstverständnisses der Sozialwissenschaften bilde. Vgl. ders. , Public Religions,S. 19 – 49. Im Gegensatz dazu plädiert Talal Asad dafür, auch diese Variante zu verab-schieden und sich stattdessen der Genealogie des ,Säkularen‘ zuzuwenden: als binärerOpposition des ,Religiösen‘ und als epistemologischer Kategorie, die der Doktrin des,Säkularismus‘ vorgängig sei: ders. , Formations of the Secular. Christianity, Islam,Modernity, Stanford 2003, S. 182 f.

34 Wolfgang Schieder, Religion und Revolution. Die Trierer Wallfahrt von 1844, Vierow1996, S. 15.

35 Vgl. Heil.-Rock-Album. Eine Zusammenstellung der wichtigsten Aktenstücke, Briefe,Adressen, Berichte und Zeitungsartikel über die Ausstellung des heiligen Rockes inTrier, Leipzig o. J. , S. 51 f. , S. 79 u. S. 82 f.

36 Ebd., S. 123 f.

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such des ultramontanen Theologen Jakob Marx, die Echtheit des Rocks wis-senschaftlich zu beweisen, was als illegitime Grenzüberschreitung gedeutetwurde. Hätte Marx sich damit begnügt, auszusprechen: Dieser Rock ist zuverehren, weil er, wie andere Röcke, päpstlich bestätigt und weil er früherverehrt ist, so wären zwei streng geschiedene Gebiete, das kirchliche und dashistorische, auch streng geschieden geblieben und von denselben Vorausset-zungen aus keine Widerlegung möglich gewesen. Stattdessen habe er sich aufdas „Feld der historischen Kritik“ begeben und an gebildete Leser gewandt.„[A]ngenagt“ vom „fressenden Gift der Aufklärung“, habe er sich „aufge-klärten Raisonnements“ und „rationalistischer, vom Glauben unabhängigerGründe und Wahrscheinlichkeiten“ bedient, um die Echtheit des Trierer Ro-ckes „für den vernünftigen Standpunkt“ zu erhärten. Die Strafe für diesePreisgabe der „kirchlichen Unfehlbarkeit“ sei auf dem Fuße gefolgt, denn „aufdiesem Felde“ habe Marx „unfehlbar“ scheitern müssen. Eine Anrufung derVernunft vom religiösen Standpunkt aus erschien Gildemeister und Sybelunmöglich. Sie warfen Marx einen „Mangel an Wahrheitssinn“ vor, der in derReligion zwar erlaubt, in der Wissenschaft aber verboten sei.37

Allerdings überschritt Sybel die geforderte Grenze sogleich selbst, indem erden katholischen Reliquienkult – als Wissenschaftler – pathologisierte.38 Be-reits in seiner Habilitationsschrift von 1841 hatte er den ersten Kreuzzug alskuriale Instrumentalisierung fanatischer Gläubiger dargestellt.39 Die TriererWallfahrt sei hinter diese finsteren Zeiten noch zurückgefallen: Während des„ganzen Mittelalters“ habe sich zu einem derartigen „Schauspiele“ „wederStoff noch Stimmung“ gefunden. Die Untersuchung schloss mit GildemeistersHinweis, dass nicht einmal die „Muhammedaner“ Reliquien anbeteten. DerTrierer Katholizismus schien „sogar“ dem Islam unterlegen zu sein.40 DieAssoziationen und Gleichsetzungen katholischer Frömmigkeit mit außer-europäischen Religionen standen in der Tradition einer seit der Aufklärung zubeobachtenden Orientalisierung (Exotisierung, Enthistorisierung, Essentiali-sierung) des Katholizismus, der als Ausdruck von Rückständigkeit und Bar-barei dargestellt wurde.41

37 Johann Gildemeister u. Heinrich von Sybel, Der Heilige Rock zu Trier und die zwanzigandern Heiligen Ungenähten Röcke. Eine historische Untersuchung, Düsseldorf 1845,S. 48, S. Vu. S. XIII. Eine erste Fassung war bereits 1844 erschienen. In der hier zitiertenVersion antworteten Gildemeister und Sybel ihren katholischen Kritikern.

38 Das mittelalterliche „Aufblühen des Reliquienglaubens“ sei einer krankhaften „Sehn-sucht“ entsprungen, die sich stets gewaltsam habe äußern können, ebd., S. 32.

39 Vgl. dazu Volker Dotterweich, Heinrich von Sybel. Geschichtswissenschaft in politi-scher Absicht, 1817 – 1861, Göttingen 1978, S. 44 – 48.

40 Gildemeister u. Sybel, Rock, S. VII, S. 50 f. u. S. 97 f.41 Vgl. dazu Manuel Borutta, Der innere Orient. Antikatholizismus als Orientalismus in

Deutschland 1783 – 1924, in: Monica Juneja u. Margrit Pernau (Hg.), Religion und

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Ebenfalls mit Unbehagen sahen Liberale wie Sybel die zunehmende politischeOrganisation der Katholiken. Angesichts der im Rheinland mit den „KölnerWirren“ (1837 – 1841)42 beginnenden Konfessionalisierung von Parlament undWahlen, Presse und Vereinen43 veröffentlichte Sybel 1847 über „[d]ie politi-schen Parteien der Rheinprovinz in ihrem Verhältniß zur preußischen Ver-fassung“ eine Studie, die seine in der Kritik der Trierer Wallfahrt angedeuteteDifferenzierungstheorie ausweitete und den historischen Prozess als stetigfortschreitende Sonderung von Politik, Religion, Wissenschaft und Kunstdefinierte: Auch Staat und Kirche seien „Zweige eines Stammes“, die – soimplizierte die Logik dieser Allegorie – mit der Zeit auseinanderwachsenwürden. Wie bei Ästhetik und Moral handele es sich um „getrennte aberverwandte Gebiete“, die auf ihrem „Gebiete, eine reine Behandlung undDurchführung“ erfahren sollten. Dann könne „der Staat nach seinen politi-schen, die Wissenschaft und Kunst nach ihren intellectuellen und ästhetischenGesetzen unabhängig sich fortbilden“, während die Kirche „durch die göttli-che Kraft ihres Geistes die Welt allmälig von innen heraus zu durchdringen“vermöge. Der mittelalterliche Irrweg der Kirche, die „äußerliche Herrschaftüber Staat, Sitte und Bildung“ ergreifen zu wollen, sei von der Reformationkorrigiert worden, die den Staat wieder „auf eigene Füße gestellt“ und den„Irrglauben“, dass „Sitte, Recht und Bildung zusammenexistiren“, beendethabe. Das „weltgeschichtliche Verdienst“ der Reformation liege darin, „dieKirche auf ihre geistige Sphäre beschränkt, und den Staat in seinen äußerli-chen Kreisen befreit zu haben“.44

Die ultramontane Vermischung beider Sphären widersprach hingegen ausSybels Sicht „der modernen Natur“. Der Ultramontanismus gehörte aus seinerSicht nicht „der Gegenwart“ an, sondern stand „der Zeit in tiefer Feindselig-keit“ gegenüber. Zum einen sei er vom „Haß gegen die Industrie“ geprägt, die„den Sinn der Menschen vom Wunderbaren auf das Irdische gelenkt, und andie Stelle des Mirakels oder der Magie die wissenschaftliche Beherrschung derNatur gesetzt“ habe. Hier nahm Sybel in Ansätzen bereits Max Webers Theseeiner „Entzauberung der Welt“ als Prozess der Verwissenschaftlichung undRationalisierung vorweg.45 Zum anderen wolle er den Staat der Kirche unter-werfen. Da es zum staatlichen „Wesen“ gehöre, souverän zu sein, ziele der

Grenzen in Indien und Deutschland. Auf dem Weg zu einer transnationalen Historio-graphie, Göttingen 2008, S. 245 – 274.

42 Zu diesem ersten Kulturkampf Preußens vgl. Friedrich Keinemann, Das Kölner Ereignis,sein Widerhall in der Rheinprovinz und in Westfalen, 2 Bde., Münster 1974.

43 Vgl. dazu Karl-Egon Lönne, Politischer Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert,Frankfurt 1990, S. 79 ff.

44 Heinrich von Sybel, Die politischen Parteien der Rheinprovinz in ihrem Verhältniß zurpreußischen Verfassung, Düsseldorf 1847, S. 31, S. 6, S. 8 f. u. S. 32.

45 Zu diesem Begriff Max Webers vgl. Hartmut Lehmann, Die Entzauberung der Welt.Studien zu Themen von Max Weber, Göttingen 2009.

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Ultramontanismus auf eine „Vernichtung des Staates zu Gunsten der Kirche“.Dagegen forderte Sybel die „Einschränkung der Kirche auf das Gebiet desreligiösen Glaubens“ sowie die „Autonomie der Politik in allen Verhältnissender bürgerlichen Gesellschaft“.46

Sybel forderte nicht nur eine Entpolitisierung der Kirche, sondern auch einePrivatisierung der Religion. Der Gläubige solle „dem Staate in äußerlichenDingen gehorchen, aus der Litteratur sich in das Heiligthum eines gotterfülltenHerzens zurückziehn und beiden ohne Unterlaß das Bild einer demüthigen,festen und durch innerliche Kraft heranwachsenden Gemeinde entgegenstel-len.“ Er untermauerte seine Forderung mit einem gendering von Staat undKirche: Der Staat müsse zeigen, wer „Herr im eigenen Hause“ sei.47 Auf dieAllegorien des Hauses und der Ehe sollten nach der Reichsgründung vieleLiberale zurückgreifen, um das Verhältnis von Staat und Kirche zu beschrei-ben. Bei Sybel standen sie 1847 noch gleichberechtigt neben dem organizis-tischen Bild der Modernisierung als Verästelung und Verzweigung einesBaumes.Die Entstehungsgeschichte von Sybels Narrativ war auch durch seine Biografiegeprägt. Die Erzählung von der Herausbildung der Moderne als Differenzie-rung von Politik und Religion kann als Spiegelbild seiner kulturprotes-tantischen Familiengeschichte gelesen werden, deren patrilinearer Strangdurch Entkirchlichung gekennzeichnet war. Sybel wuchs im „aufgeklärt-protestantischen“, „dogmatisch indifferente[n] Milieu“ einer liberalen Düs-seldorfer Beamten- und Pastorenfamilie auf, sein Elternhaus stand im „Mit-telpunkt der gebildeten städtischen Gesellschaft“.48 Emanzipation von Reli-gion und Kirche durch Bildung und Fortschritt – so lassen sich sowohl SybelsFamilienhistorie als auch seine Säkularisierungserzählung zusammenfassen.Religion und Kirche blieben darin stets den „Anderen“ vorbehalten: Un-mündigen, Frauen und Unterschichten. Sie wurden nicht nur aus dem Öf-fentlichen und Politischen ausgeschlossen, sondern auch aus der „Geschichte“,die den kirchenfernen, liberalen, männlichen Bürgern vorbehalten blieb.Verbunden damit war ein reduktives Katholizismus-Bild, das die agency ka-tholischer Laien, wie in der Kritik der Trierer Wallfahrt, unterschätzte. Esverleitete dazu, die Modernität des neuen Katholizismus und die religiösenDynamiken der Moderne zu verkennen und die Popularität katholischerSymbole, Rituale und Institutionen nur als Ergebnis einer klerikalen Mani-pulation rückständiger Massen zu deuten, statt als Ausdruck einer der Ent-

46 Sybel, Die politischen Parteien, S. 31, S. 19, S. 34, S. 5 u. S. 87.47 Ebd., S. 11 f. u. S. 85.48 Norbert Schloßmacher, Entkirchlichung, Antiultramontanismus und „nationalreligiö-

se“ Orientierungen im Liberalismus der Kulturkampfära. Der deutsche Verein für dieRheinprovinz, in: Olaf Blaschke u. Frank-Michael Kuhlemann (Hg.), Religion im Kai-serreich. Milieus, Mentalitäten, Krisen, Gütersloh 1996, S. 474 – 502, hier S. 475. ZuSybels Religionsbegriff und Familiengeschichte: Dotterweich, Sybel, S. 19 – 22.

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kirchlichung und dem Glaubensverlust zuwiderlaufenden Hinwendung zuKirche und Religion. Sybel sah in der Wallfahrt bloß ein weiteres Argument fürdie Trennung von Politik und Religion in eine öffentliche Sphäre der Vernunftund ein privates Reich religiöser Gefühle. Sein eigenes, kulturprotestantischesReligionsverständnis galt ihm dabei als universeller Maßstab.Die Folgen dieses liberalen Denkens in Differenzen waren beträchtlich undkönnen hier nur angedeutet werden. Es legitimierte den Abbau der kirchlichenSondergerichtsbarkeit, die partielle Enteignung des kirchlichen Vermögens,den epistemologischen Monopolanspruch der Wissenschaft und die Ver-staatlichung öffentlicher Institutionen, zum Beispiel im Bildungswesen. Zu-gleich motivierte und rechtfertigte dieses Denken die vielfältigen liberalenVersuche einer Trennung von Politik und Religion, in deren Rahmen Religionals Privatsache definiert wurde. Diese Versuche empfanden viele Gläubige alsstaatliche Anmaßung. Sie lösten entsprechend starke Widerstände aus undbrachten vielfältige neue Vermischungen von Politik und Religion hervor.49

III. Der männliche Staat: Züriputsch, Geschlechterdualismus,Feminisierung der Religion und Bluntschlis Modell einer Ehevon Staat und Kirche

Die Vorstellung von einer sich auf dem Weg in die Moderne automatischvollziehenden Privatisierung der Religion entstand ebenfalls im Vormärz. Sieging, wie bei Sybel, meist mit einer diskursiven und visuellen Feminisierungvon Religion und Kirche einher, die den privaten Lebenswelten männlicherBürger entlehnt war : dem polaren Geschlechtermodell50 und der „Feminisie-rung der Religion“.51 In Reden, Texten und Bildern wurden dem Staat eine

49 Vgl. dazu Manuel Borutta, Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter dereuropäischen Kulturkämpfe, Göttingen 2010.

50 Die Frage, inwiefern und wann es in der bürgerlichen Gesellschaft zu einer Trennungvon Öffentlichem und Privatem kam, die sich im Leben der Geschlechter widerspiegelte,oder ob es sich nur um eine Konstruktion handelte, ist umstritten. Unzweifelhaft da-gegen ist, dass es seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in normativen Schriften zu einer„Polarisierung der Geschlechtscharaktere“ kam, die sich im Laufe des 19. Jahrhundertszu einem hegemonialen Geschlechterdualismus verfestigte, der die institutionelle undpraktische Differenzierung der Geschlechter im Zuge der zunehmenden Arbeitsteilungbürgerlicher Männer und Frauen in Beruf und Familie teils motivierte, teils legitimierte.Vgl. dazu Karin Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiege-lung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hg.), Sozi-algeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart 1976,S. 363 – 393.

51 Die Literatur zur Feminisierung der Religion ist umfassend. Vgl. zuerst Barbara Welter,„Frauenwille ist Gottes Wille“. Die Feminisierung der Religion in Amerika 1800 – 1860,

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männliche und der Kirche eine weibliche Natur zugeschrieben. Dieses gen-dering von Staat und Kirche, das einige Politiker und Medien zum Modell einerEhe erhoben, legte eine Abgrenzung beider Institutionen entlang der Linie desÖffentlichen und Privaten nahe.Erstmals formuliert wurde dieses Modell 1844 in den „Psychologischen Stu-dien über Staat und Kirche“ des in Zürich geborenen und nach 1848 auch inMünchen und Heidelberg lehrenden Staatsrechtlers Bluntschli. Ausgangs-punkt war ein anthropomorphes, maskulines Staatsverständnis: Der Staat seiein „Abbild des menschlichen Organismus“. Da die Menschheit gespalten sei„in die große Zweiheit des Mannes und des Weibes“, könne der Staat „nichtMann und Weib zugleich sein“, sondern müsse entweder „den Mann oder dasWeib wiederbilden“. Der „ursprüngliche Gegensatz“ der Geschlechter ent-spreche dem „Gegensatz von Staat und Kirche“. Beide erhöben den Anspruch,„in ihrer höchsten Vollendung die ganze Menschheit zu umfassen.“ Hierausfolge „die Natur des Staates und der Kirche und ihr wechselseitiges Verhältnißzu einander“. Staat und Kirche bildeten „beide den Organismus derMenschheit nach“, aber auf je verschiedene Weise: „der Staat die Mannheit,die Kirche die Weibheit.“ Das sei der Grund, „weßhalb die Männer vorzugs-weise vor den Weibern in dem politischen Leben des Staates Befriedigungsuchen und finden, und hinwieder die Weiber gewöhnlich inniger als dieMänner sich durch die Kirche angezogen fühlen“.52 Bluntschli zufolge warenMänner deshalb keineswegs ungläubig.53 Der „ganze Mann“ war vielmehr stetsauch religiös und emotional, während die Frau ausschließlich über diese Ei-genschaften definiert wurde. Mann und Staat galten als universal, Frau undKirche als partikular.54

Eine dynamisierende Rolle spielte in diesem Modell die Kategorie des Alters.In Anknüpfung an Friedrich Rohmers organizistisch-psychologische Lehreerhob Bluntschli die Verwirklichung des Geschlechterdualismus zum Maßstabdes Reifegrades einer Kultur. Von den asiatischen Religionen als „Kindheits-stufen“ der Menschheit habe sich das Verhältnis von Staat und Kirche stetigweiterentwickelt. Das Mittelalter habe ihre Gleichstellung erstrebt, die Päpste

in: Claudia Honnegger u. Barbara Heintz (Hg.), Listen der Ohnmacht. Zur Sozialge-schichte weiblicher Widerstandsformen, Frankfurt 1981, S. 325 – 355, sowie HughMcLeod, „Weibliche Frömmigkeit – männlicher Unglaube?“ Religion und Kirchen imbürgerlichen 19. Jahrhundert, in: Ute Frevert (Hg.), Bürgerinnen und Bürger. Ge-schlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988, S. 134 – 156.

52 Johann Caspar Bluntschli, Psychologische Studien über Staat und Kirche, Zürich 1844,S. 22, S. 28 f. u. S. 37 ff. Zur Genese vgl. ders. , Denkwürdiges aus meinem Leben, 3 Bde.,Nördlingen 1884, Bd. 1, S. XI u. S. 316 – 325.

53 Ebd., S. 67.54 Zum zeitgenössischen Ideal des „ganzen Mannes“ vgl. Martina Kessel, Das Trauma der

Affektkontrolle. Zur Sehnsucht nach Gefühlen im 19. Jahrhundert, in: Claudia Benthienu. a. (Hg.), Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, Köln 2000, S. 156 – 177.

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eine Unterordnung des Staates unter die Kirche, die Reformation eine Unter-ordnung der Kirche unter den Staat. Alle diese Versuche seien widernatürlichgewesen. Denn das Ziel des Reifeprozesses der Menschheit sei die Ehe vonStaat und Kirche. Erst in der Gegenwart werde diese Ehe, die der Natur beiderentspreche, „vollzogen“. Erst jetzt werde der männliche Staat die weiblicheKirche „erkennen“.55

Das mit Begriffen wie „vollzogen“ und „erkennen“ sexuell aufgeladene ModellBluntschlis von einer Ehe des Staates mit der Kirche stellte eine Reaktion aufden Züriputsch, einen Volksaufstand gegen die radikale Regierung des Kan-tons Zürich von 1839, dar. Den Anlass für diesen regionalen Kulturkampf botdie Berufung des rationalistischen Theologen David Friedrich Strauß auf denLehrstuhl für Neues Testament. In seiner Pionierstudie „Das Leben Jesu, kri-tisch betrachtet“ hatte dieser die Wunder des Evangeliums als Mythen und dieVorstellung eines menschgewordenen Gottessohns als vernunftwidrig darge-stellt. Damit begründete er nicht nur die Leben-Jesu-Forschung, sondern lösteauch einen Skandal aus, der ihn seine Tübinger Repetentenstelle kostete. ImGrossen Rat begründete Bürgermeister Hirzel die Berufung dieses umstritte-nen Gelehrten mit der Notwendigkeit einer Kirchenreform. Dagegen wandtensich nicht nur Konservative und gemäßigte Liberale, die Mehrheit der theo-logischen Fakultät und des Klerus, sondern, wie Bluntschli in seinen Me-moiren schrieb, auch „das Volk selber“: Ein Komitee konservativer Geistlicherund Bürger forderte außer der Rücknahme der Berufung auch die „sorgfältigeBeachtung des religiösen Elements“ in der Volksschule und den Lehrersemi-naren. Bei der Abstimmung über diese Petition in den Kirchengemeinden, ander 80 Prozent aller stimmberechtigten Bürger teilnahmen, votierten 97 Pro-zent dafür. Der Grosse Rat widerrief daraufhin seine Entscheidung und pen-sionierte den soeben gewählten Professor. Beflügelt durch diesen Erfolg, for-derte das Komitee den Schutz des traditionellen Glaubens und die Wieder-einführung der geistlichen Schulaufsicht. Im September 1839 versammeltensich in Kloten über zehntausend Demonstranten. Als aus anderen KantonenGerüchte über einen Staatsstreich und einen Truppeneinmarsch laut wurden,kam es im Zürcher Oberland zum Aufstand. Etwa viertausend Menschenzogen, mit Gewehren und Stöcken bewaffnet, ins Stadtzentrum, wo sie aufTruppen trafen. Der Kampf forderte fünfzehn Todesopfer, zog die Auflösungder Regierung, die Konstitution eines provisorischen Staatsrats und dieNeuwahl des Grossen Rates nach sich.56 In seiner Autobiographie bemerkteBluntschli, dass er hier „dem Ausbruch einer Revolution in’s Angesicht ge-schaut“ und erfahren habe, „wie mächtig die natürlichen Leidenschaften

55 Bluntschli, Studien, S. 85 ff.56 Bluntschli, Denkwürdiges, Bd. 1, S. 205 u. S. 217 f. Zum Züriputsch vgl. Bruno Fritzsche

u. Max Lemmenmeier, Das Jahrhundert der Revolutionen, in: Niklaus Flüeler u. Mari-anne Flüeler-Grauwiler (Hg.), Geschichte des Kantons Zürich, Bd. 3, 19. und 20. Jahr-hundert, Zürich 1994, S. 137 ff.

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aufwallen“. Er sah seine „von der geschichtlichen Rechtsschule anerzogeneAbneigung gegen Revolutionen“ bestätigt und zeigte sich überzeugt von derNotwendigkeit der Religion für „Unmündige“, also Ungebildete, Arme undFrauen.57 Als gemäßigter Liberaler trat er fortan für eine hierarchisierte, aberfriedliche Koexistenz von Staat und Kirche ein.Als Vorbild diente Bluntschli dabei das polare Geschlechtermodell desSchweizer Bürgertums.58 Es bestimmte nicht nur seine Definition der Rollenvon Staat und Kirche, sondern auch seine Suche nach einer Ehepartnerin. ImDezember 1829 verliebte sich Bluntschli in eine Deutsche namens Clementine,die aufgrund ihres scharfen Verstandes jedoch nicht als Gattin infrage kam.Seine Wahl fiel vielmehr auf die Jugendliebe Emilie Vogel, die seinem patri-archalischen Weiblichkeitsideal eher entsprach. Gleichwohl hatte Bluntschlieine „hohe Idee von der Ehe“: Er sah darin die „vollkommenste Darstellung derMenschennatur“, die „persönliche Einigung der in die beiden Geschlechtergespaltenen Menschheit und daher die Ergänzung und Verbindung der ein-seitigen Mannes- und der einseitigen Frauennatur zu Einem zweiseitigenMenschenleben“.59 Diese Komplementarität sollte aus Bluntschlis Sicht auchdie Beziehung von Staat und Kirche prägen.Dass die Kirche für Bluntschli weiblich sein musste, hing mit der „Femini-sierung der Religion“ im Schweizer Bürgertum zusammen, das Frömmigkeitals unverzichtbares Element weiblicher Tugenden verstand.60 Die daraus fol-gende Trennung weiblich-religiöser und männlich-säkularer Lebensweltenzeigte sich etwa im Vereinswesen. Parallel zu den Männersozietäten widmetensich Frauenvereine der Wohltätigkeit und der Kulturpflege. Unter Berufung aufNächstenliebe und Christenpflicht dienten die Frauen wohlhabender Bürger inArmenfürsorge und Volksbildung den Zielen männlicher Sozialpolitiker undPfarrherren.61 Bluntschli wurde diese Aufgabenteilung nicht zuletzt von deneigenen Eltern vorgelebt, die aus seiner Sicht in verschiedenen – aufgeklärt-modernen beziehungsweise religiös-mittelalterlichen – Zeitaltern zu lebenschienen.62 Vergleicht man seine Charakterisierung der Eltern mit dem Ver-hältnis von männlichem Staat und weiblicher Kirche in den „PsychologischenStudien“, frappiert die Ähnlichkeit der binären Oppositionen: Verstand/

57 Bluntschli, Denkwürdiges, Bd. 1, S. 220 u. S. 223.58 Vgl. dazu Beatrix Mesmer, Ausgeklammert, eingeklammert. Frauen und Frauenorga-

nisation in der Schweiz des 19. Jahrhunderts, Basel 1988; Albert Tanner, ArbeitsamePatrioten – wohlanständige Damen. Bürgertum und Bürgerlichkeit in der Schweiz1830 – 1914, Zürich 1995.

59 Bluntschli, Denkwürdiges, Bd. 1, S. 87. Vgl. ebd., S. 53 f. u. S. 97 f.60 Fritzsche u. Lemmenmeier, Jahrhundert, S. 154 f.61 Vgl. Christoph Mörgeli, Dr. med. Johannes Hegetschweiler, 1789 – 1839. Opfer des

„Züriputsches“. Wissenschaftler und Staatsmann zwischen alter und modernerSchweiz, Zürich 1986, S. 51 – 58, S. 73 – 79 u. S. 153.

62 Bluntschli, Denkwürdiges, Bd. 1, S. 6 f.

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Gemüt, Bildung/Aberglaube, Fortschritt/Tradition, öffentlich/verborgen,überlegen/unterlegen. Auch die diskursiven Strategien der Verzeitlichung undEssentialisierung sind analog. Die Beziehung der Geschlechter wird in beidenFällen polar, hierarchisch und komplementär gedacht, allerdings nicht es-sentialistisch, sondern prozessual: Bluntschli zufolge verstärkt die Erziehungnatürliche Dispositionen. Die Parallelen zwischen Bluntschlis Darstellung derelterlichen und der eigenen Ehe einerseits und seiner Konzeption eines idealenVerhältnisses von Staat und Kirche andererseits sind keineswegs zufällig. Wiebei Sybel waren Privates und Öffentliches – politisch-religiöse Konflikte, dieBeziehungen der Klassen und der Geschlechter – mit der Theoriebildungverbunden. Diese Verflechtung privat-lebensweltlicher und politisch-öffent-licher Faktoren stellte keinen deutsch-schweizerischen Sonderfall dar. Sieprägte etwa auch die Genese von Cavours berühmter Formel „freie Kirche imfreien Staat“.63

IV. Ehe, Hausrecht, Scheidung: Das gendering von Staat undKirche in den Kulturkämpfen der liberalen Ära

Das gendering von Staat und Kirche spielte in den Kulturkämpfen der liberalenÄra eine wichtige Rolle. Es ließ die Verdrängung von Kirche und Religion ausPolitik und Öffentlichkeit als natürliche Lösung erscheinen, etwa beim Verbotvon politischen Kanzelreden, Orden und Prozessionen oder bei der Verwelt-lichung öffentlicher Institutionen. Das Modell der Ehe im Besonderen botdarüber hinaus ein positives Ziel des Kulturkampfes: Analog zum „ganzenMann“ sollte der Staat die kirchliche Sphäre umfassen und kontrollieren. DieseEssentialisierung eines politisch-religiösen Konflikts wird im Folgenden an-hand einiger Beispiele aus den preußisch-deutschen Kulturkämpfen der1870er Jahre verdeutlicht.64

In der Debatte über den Kanzelparagraphen, das erste reichsweite Kultur-kampfgesetz, das Geistlichen untersagte, „Angelegenheiten des Staates“ ineiner den „öffentlichen Frieden“ störenden Weise zu erörtern,65 nannte derAntragsteller Johann von Lutz, Kultusminister der liberalen Regierung Bay-erns, als „Kern der Sache“ die Frage, „wer Herr im Staate sein soll, die Re-gierung oder die römische Kirche“. Zur Zurückweisung kirchlicher Ansprü-che, die von einigen Abgeordneten als „keck“ bezeichnet wurden, berief sichLutz mehrmals auf die „Natur“ des Staates. Es sei „undenkbar, daß der Staat auf

63 Vgl. dazu Borutta, Antikatholizismus, S. 283 – 287.64 Zum deutschen Antikatholizismus der liberalen Ära vgl. auch Michael B. Gross, The War

against Catholicism. Liberalism and the Anti-Catholic Imagination in Nineteenth-Century Germany, Ann Arbor 2004.

65 Stenographische Berichte des Deutschen Reichstags (=SBDR) 1871, Anlagen, Akten-stück Nr. 103, S. 267.

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seinem Gebiete der Kirche als solcher ein Wort mitzusprechen gestatte. Er mußsein Gebiet abgrenzen, er muß es schützen“.66 Auch für den NationalliberalenHeinrich von Treitschke wahrte der Kanzelparagraph das „Hausrecht“ desStaates: „die Mündigkeit des Staates, seine Unabhängigkeit der Kirche ge-genüber, sein Recht sich selber zu leiten nach seinem Willen“. Daher müsse derGesetzgeber Grenzen ziehen, welche die Kirche nicht überschreiten dürfe.Allerdings fiel es gerade kirchenfreundlichen Protestanten wie ihm schwer, die„rechten Grenzen hier zu finden“. Da die Religion „alle Höhen und Tiefen desmenschlichen Lebens“ berühre, sei es „Unsinn“, der Kirche zu verbieten, „überPolitik zu reden“. Treitschke erinnerte in diesem Zusammenhang an das na-tionale Engagement des Klerus im Krieg von 1870/71: „Da haben alle unsereGeistliche[n] von Politik gesprochen […], und wir waren dessen froh“. Dahersei es „ein Unglück, wenn dieses junge Reich damit begänne, den Theologendie Politik zu verbieten“.67

Diese Ambivalenz kennzeichnete viele Reden. Zwar erkannten selbst katholi-sche Zentrumsabgeordnete das Prinzip der Trennung von Politik und Religionan, obwohl sie es durch die Mitwirkung geistlicher Mitglieder in Fraktion undPartei sowie durch die Erörterung religiöser Fragen in Parlament und Wahl-kampf faktisch unterliefen.68 Gleichwohl wurden Politik und Religion aber innahezu allen Reden vermischt – ein unvermeidlicher performativer Wider-spruch, denn wer den Glauben als Privatsache begrenzen wollte, musste ihnzunächst im politischen Raum definieren. Die „Glühhitze religiöser Leiden-schaftlichkeit“ erfasste dabei auch Protestanten:69 Treitschke etwa bezeichnetesich als „Protestant von Grund aus“, der Nationalliberale Rudolf Gneist be-schwor „die innerliche Seite der Religion“ und das „protestantische Gewis-sen“, und der Konservative Hans von Kleist-Retzow sprach als „evangelisches“Mitglied eines in „wesentlichen Bestandtheilen“ evangelischen Staates.70

Zeitweilig ähnelte der Reichstag einer theologischen Versammlung. Vor die-sem Hintergrund stellte Zentrumsführer Ludwig Windthorst die Trennbarkeitkirchlicher und staatlicher Angelegenheiten grundsätzlich infrage:

Was sind ,Angelegenheiten des Staates‘? Wir haben heute von den verschiedensten Seitenhier Gegenstände aufzählen gehört, die man als zur Erörterung der Geistlichkeit nichtge-hörig bezeichnet hat, welche dessenungeachtet unzweifelhaft kirchlichen und theologischenCharakters sind. Sollen nun alle diese Gegenstände ,Angelegenheiten des Staates‘ sein, dann

66 SBDR 23. 11. 1871, S. 465 f. Zur „kecken Anmaßung“ der Kirche vgl. etwa Joseph Völkvon der Liberalen Reichspartei, SBDR 28. 11. 1871, S. 575.

67 SBDR 25. 11. 1871, S. 468.68 Der Mainzer Bischof und Reichstagsdelegierte Wilhelm von Ketteler etwa forderte, das

Parlament nicht in ein „Koncil“ oder eine „theologische Versammlung“ zu verwandeln.SBDR 23. 11. 1871, S. 479.

69 Eduard Lasker zit. nach Walter Grasser, Johann Freiherr von Lutz. Eine politischeBiographie. 1826 – 1890, München 1967, S. 89.

70 SBDR 25. 11. 1871, S. 468, S. 584 u. S. 537.

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wäre es vielleicht rathsam, die Kanzel ganz abzuschaffen, denn dann wüsste ich kaum nochGegenstände, die auf der Kanzel verhandelt werden dürfen.71

Der Fraktionsführer der Fortschrittspartei, Wilhelm Loewe, zog aus der De-batte den umgekehrten Schluss und forderte die „absolute Trennung von Staatund Kirche“: „Denn was noch viel schlimmer ist als die bloße Theologie, das istdie politische Theologie oder die theologische Politik, die wir hier mitmachenmüssen. Diese politische Theologie oder theologische Politik müssen wir aberlos werden, loswerden um jeden Preis.“72

Das Sphärenmodell barg für die Liberalen allerdings auch Gefahren, weil esden Kanzelparagraphen als staatlichen Übergriff auf kirchliches Terrain er-scheinen lassen konnte. Peter Reichensperger etwa mahnte, dass ein Über-schreiten der Grenzen von „innerlich abgeschlossenen Rechtssphären“ alleVerhältnisse „krank, trüb und verwirrt“ mache, wie schon einmal in denKölner Wirren geschehen. Der Kanzelparagraph nehme nun erneut „mitrauher Hand das an sich zarte und doch hochwichtige Verhältniß zwischenStaat und Kirche in Angriff“ und verletze „das Princip der gleichen, wahren,männlichen Freiheit“.73 Auch Windthorst griff das liberale gendering von Staatund Kirche auf, um es gegen seine liberalen Urheber zu kehren: Die Kirchewolle den Staat nicht beherrschen, sondern nur „Herrin sein in ihrem Hauseund innerhalb der Grenzen ihres Hauses.“ Er drohte mit einer Auflösung der„Ehe“ von Staat und Kirche und stellte seine Zustimmung zur Trennung vonStaat und Kirche nach nordamerikanischem Vorbild in Aussicht, bezweifelteaber, dass seine „protestantischen Freunde orthodoxen Glaubens“ diese„Scheidungsbasis“ akzeptieren würden. Und tatsächlich wandte der Freikon-servative Wilhelm von Kardorff sogleich ein, dass Staat und Kirche „Jahr-hunderte hindurch viel zu sehr miteinander verwoben“ gewesen seien, „alsdaß sie mit einem Schnitte getrennt werden könnten“.74 Auch die Nationalli-beralen wollten, teils aus Rücksicht auf die evangelische Kirche, teils aus ei-gener religiöser Überzeugung, keine ,Scheidung‘ von Staat und Kirche. Ihnenging es lediglich um die Hoheit (das „Hausrecht“) des Staates über die Kirche.„Seid unterthan der Obrigkeit“, rief Gneist den katholischen Geistlichen imReichstag zu. Nur Fortschrittsliberale wie Carl Herz forderten eine „voll-ständige Trennung von Staat und Kirche“.75

Dass das Modell der Ehe von Staat und Kirche im Kulturkampf den Konfliktauch abschwächte, war letztlich ganz im Sinne seines Schweizer Erfinders. Alsdas preußische Schulgesetz, das außer der Verstaatlichung der Schulaufsichtauch einen gemeinsamen Religionsunterricht für katholische, jüdische und

71 SBDR 25. 11. 1871, S. 531.72 SBDR 23. 11. 1871, S. 483.73 Ebd., S. 469 – 474.74 SBDR 25. 11. 1871, S. 527 f. u. S. 534.75 SBDR 28. 11. 1871, S. 585 u. S. 577.

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protestantische Kinder vorsah, den erbitterten Widerstand beider christlicherKirchen und die wahrscheinlich größte Petitionsbewegung Mitteleuropas nach1848 auslöste,76 beschwor Bluntschli 1872 in der Zeitschrift Die Gegenwartnoch einmal sein Ideal eines „friedlichen und freundlichen Zusammenwirkensvon Staat und Kirche, wie des Vaters und der Mutter in der Erziehung der nochunreifen Kinder der Nation“. Während der Staat für die „intellectuelle und dieleibliche Erziehung der Jugend“ sorge, sei es „naturgemäße“ Aufgabe derKirche, die religiös-sittliche Entwicklung „mit liebevoller Pflege“ zu fördern.Ziel sei daher keine Vernichtung von Kirche und Religion, sondern derenfriedliche Koexistenz mit Staat und Gesellschaft.77

Illustriert wurde dieses patriarchalische Ehe-Ideal unter anderem in WilhelmBuschs populärer Bildergeschichte „Pater Filucius“, die 1872 anlässlich desJesuiten-Verbots, des zweiten reichsweiten Kulturkampfgesetzes, erschien.Der Jesuit Filucius bändelt darin mit Tante Petrine (katholische Kirche) an,wird jedoch von Gottlieb Michael (deutscher Michel und Staat) aus dem Hausgeworfen (Jesuitenverbot). Daraufhin sucht er Gottlieb erst zu vergiften, dannmithilfe der „Lumpen“ Inter-Nazi (die sozialistische Internationale) und JeanLecaq (der französische Erbfeind) zu erdolchen. Die Verschwörer werdenindes durch Wächter Hiebel, Meister Fibel und Bullerstiebel (Soldat, Lehrer,Bauer) gestellt und vertrieben. In Buschs Allegorie des Kulturkampfes kom-men die christlichen Kirchen in Gestalt frommer Tanten – die barocke, sin-nenfrohe Petrine und die hagere, freudlose Pauline (katholische und evange-lische Kirche) – für Gottlieb als Bräute nicht infrage, dafür jedoch, zu PaulinesVerdruss, die Base Angelika (Staatskirche): „hübsch gestaltet, kluggelehrig“und: devot. Ihr gegenüber zeigt sich der Hausherr von Beginn an wohlwollend,allerdings auch bevormundend:

Sie besorgt die Abendsuppe / Still und sorgsam und geschwind / Gottlieb zwickt sie in dieBacke: / ,Danke sehr, mein gutes Kind!‘ / Grimmig schauen itzt die Tanten / Dieses liebeMädchen an: ,Ei, was muß man da bemerken? / Das thut ja wie Frau und Mann!‘

Als Dank für die Warnung vor dem Mordkomplott umarmt Gottlieb Angelikabesitzergreifend. Den Entschluss zur Heirat fasst er allein. Bei der Verkündi-gung führt er seinen Gehilfen die scheu und demütig nach unten blickendeBraut wie eine Trophäe vor.78 Wie Bluntschli imaginiert Busch das Verhältnisvon Staat und Kirche im Einklang mit dem polaren, komplementär-hierar-

76 Margaret L. Anderson, Practicing Democracy. Elections and Political Culture in Im-perial Germany, Princeton 2000, S. 96.

77 Die Gegenwart 17. 2. 1872; 2. 3. 1872.78 Wilhelm Busch, Pater Filucius, Heidelberg 1872, S. 2 u. S. 4. Vgl. ebd., S. 30: Gottlieb

umarmt Angelika, S. 39: Gottliebs Verkündigung der Ehe mit Angelika. Die Auf-schlüsselung der Figuren nach Buschs Brief an den Verleger Otto Bassermann, in:Wilhelm Busch, Die Bildergeschichten. Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bd. 2:Reifezeit, Hannover 20072, Sp. 1334.

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chischen Geschlechtermodell der bürgerlichen Gesellschaft. Der Staat be-herrscht die Kirche, ist aber auf sie angewiesen, denn beide haben verschie-dene Rollen zu erfüllen. Die Grenze ihrer Tätigkeitsfelder verläuft wie jene derGeschlechter zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten: Während Gottliebdas Haus befehligt und nach außen hin vertritt, verlässt Angelika dieses nicht.Busch visualisiert die ersehnte Unterwerfung, Beschränkung und Einhegungder Kirche als deren Feminisierung und Privatisierung. Er formuliert so zu-gleich ein Ziel und eine Grenze des Kulturkampfes: die Bedingungen eines„häuslichen“ Friedens von Staat und Kirche unter dem gemeinsamen „Dach“der Nation.Das Motiv der Ehe war nicht nur im deutschsprachigen Raum ein beliebtesMotiv liberaler Karikaturisten, sondern etwa auch in Italien.79 Im Gegensatzzur „Liebesheirat“ von Staat und konfessionsloser Kirche bei Bluntschli undBusch glich die „erste Civil-Ehe“ auf der Karikatur, die der Kladderadatsch1874 anlässlich der gesetzlichen Einführung der Zivilehe in Preußen zeigte,eher einer „Zwangsheirat“ (Abb. 2).„Angemeldet“ zur standesamtlichen Trauung sind „Kirche und Staat“. Rechts,als stolzer, aufrechter, männlicher Vertreter Preußens, der liberale Kultusmi-nister Falk, der seine künftige Braut mit strengem, herrischem Blick ins Visiernimmt: Die katholische Kirche, eine beleibte Dame mit hängenden Mund-winkeln und traurigem Gesichtsausdruck, scheint über die Verbindung nichtglücklich zu sein. Als Trauzeugen dienen ein zorniger Bismarck und einMönch – das Ordensverbot folgte ein Jahr später. Von oben bringt ein Engeleinen Korb weiterer „Kirchengesetze“. Die „Güter-Gemeinschaft“ liegt zer-rissen am Boden. Es ist offenkundig, wer in dieser Ehe das Sagen haben wird.Zu sehen ist das Modell eines universalen Staates, der die partikulare Kircheauf das private Reich des Glaubens beschränkt. Auch hier wird die Naturbemüht, um einen selbst herbeigeführten Akt der Säkularisierung zu legiti-mieren.

V. Die Ästhetik der Entzauberung in der frühen Gartenlaube

Die dritte Variante der Säkularisierungstheorie, die sich in den Kulturkämpfendes 19. Jahrhunderts formierte, war die Vorstellung einer Entzauberung derWelt. Sie äußerte sich nicht nur in der polemischen Kritik religiöser Ritualeoder in den Organen von Freidenkern und Sozialisten, sondern auch inscheinbar unpolitischen Medien wie der Gartenlaube. Die 1853 gegründeteillustrierte Familienzeitschrift war ein Seismograph und Motor kulturellerVeränderungen im liberal-protestantischen Bürgertum. Über Leseranzeigenund -zuschriften hielt sie engen Kontakt zum Publikum. Gleichzeitig vermit-telte sie liberale Positionen und materialistische Ideen, zelebrierte den indu-

79 Vgl. etwa das Bologneser Satiremagazin La Rana 8. 2. u. 20. 9. 1867, 17. 6. 1887.

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Abb. 2: „Die erste Civil-Ehe. / Altarblatt für das Bureau eines Standesbeamten.“, in: Klad-deradatsch 11. 10. 1874.

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striellen Kapitalismus, beteiligte sich an der Popularisierung der Wissenschaftund erklärte dem „Aberglauben“ den Kampf.80 Als Gegenentwurf ihres welt-lich-bürgerlichen Selbstentwurfs fungierte der Katholizismus. Dabei vollzogdie frühe Gartenlaube eine Ästhetisierung und Musealisierung des Katholi-zismus, die dem grand r�cit einer Entzauberung der Welt bereits äußerst nahekam und mit der Entfremdung bürgerlich-protestantischer Schichten vontraditioneller Kirchlichkeit und Religiosität zusammenhing.Häufig zeigte die Gartenlaube materielle Überreste mittelalterlicher Kirchenund Klöster,81 die an Caspar David Friedrichs romantische Kloster- und Kir-chenruinen erinnerten: verwunschen und schaurig schön, aber stets verfallenund menschenleer. Auf seinem in den 1820er Jahren entstandenen Gemälde„Der Kirchhof“ war der Weg zur Kirche durch morsche Holzlatten versperrt,die Friedhofsmauer mit Gras und Moos überwuchert, die Kirche von Kultur zuNatur „regrediert“. Auch andere Ruinenbilder Friedrichs, wie etwa „Mönch imSchnee“ (1800), „Ruine Eldena bei Nacht“ (1802/03), „Kloster Eldena“ (1806/24), „Abtei im Eichwald“ (1810), „Klosterfriedhof im Schnee“ (1817/19),„Ruine Eldena“ (1825) oder „Winter“ (1834), stellten den Katholizismus äs-thetisch still und suggerierten ein Aussterben der kirchlichen Frömmigkeit:Indem sie die Überreste mittelalterlicher Kirchen und Klöster meist verlassenund in klirrender Kälte zeigten, die allenfalls von Wanderern oder von kaummehr wahrnehmbaren, weil winzig gezeichneten Mönchen aufgesucht wur-den, nicht aber von katholischen Laien.In diesem Sinne beschrieb auch die Schriftstellerin Malvina von Humbracht inder Gartenlaube 1860 ihre Reise zum sächsischen ZisterzienserklosterSt. Marienthal: Je tiefer man in das reizende Neißetal eindringe, „desto stillerund einsamer“ werde es. Auf der gesamten Strecke sei kein „lebendes Wesen“zu sehen, kein Geräusch zu hören. Die Natur stehe in völligem Einklang mit der„friedlichen“ Lage des Klosters: Marienthal „eins der wenigen noch übriggebliebenen Denkmale mittelalterlicher Frömmigkeit“ mache einen „gren-zenlos melancholischen Eindruck.“ Außer einigen zerlumpten Bettlern zeigesich hier „kein lebendes Wesen“. Die Verfasserin verschwieg allerdings, dassdas Kloster zu jener Zeit in vollem Betrieb war. 1838 waren ein Waisenhausund eine Schule gegründet worden. Auf dem Klosterhof wurden selbst her-gestellte Waren verkauft. Dennoch zeichnete Humbracht ein Bild des „tiefstenheiligsten Friedens“, der „Ruhe und Abgeschlossenheit“. Zugleich erschiendas Kloster als ein locus terribilis, über dem „namenlose Trauer“ und „un-aussprechliche Wehmut“ lagen.82

80 Vgl. etwa Die Gartenlaube 1860, S. 601 ff. Zum materialistisch-liberalen Weltbild derGartenlaube und ihrer Zelebration der industriellen Arbeitswelt vgl. zuletzt Gross, TheWar against Catholicism, S. 142 – 147.

81 Neben den folgenden Beispielen vgl. etwa Die Gartenlaube 1860, S. 308 ff. ; 1861, S. 605.82 Die Gartenlaube 1860, S. 92 ff.

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Regelrecht mumifiziert wurden in der Gartenlaube die Beginen, eine im12. Jahrhundert in Belgien entstandene Frauengemeinschaft. Der SchriftstellerLudwig Storch zählte sie 1863 zu den „wunderlichen Exuvien des Mittelalters“und zu „auffallenden Gegensätzen“, die in konstitutionellen katholischenStaaten den „Kampf einer untergegangenen Zeit mit der Gegenwart und derZukunft“ führten. Belgien etwa zeuge zwar einerseits von „großartigen Fort-schritten der Neuzeit, von Preßfreiheit, Redefreiheit, Eisenbahnen und voneinem auf republikanische Grundlagen erbauten Königsthron“, berge aberandererseits eine Vielzahl „mittelalterlicher matt und schwach gewordenerLebenseinrichtungen“: „Institutionen, Mumien und Versteinerungen auslängst vergangener Zeit, denen nur noch ein Scheinleben“ innewohne. Einsolcher „versteinerter Zug im Greisenantlitz des Landes“ sei das Beginentum.Ein Maler, dessen Zeichnungen den Artikel illustrierten, habe bei den Begineneine „Todtenstadt“ gefunden, in der das „Gespenst des Mittelalters, verblei-chend im Sonnenstrahl der Neuzeit, umherschlich oder sich vielmehr scheuverkroch.“ Die „Ruhe des Kirchhofs“ habe über der „seltsamen kleinen Stadt“gelagert, die, als „Schöpfung längst vergangener Zeit“, „so fremdartig in unsreTage“ hineinrage, dass sich ein „Künstler der Gegenwart“ darin „wie in einemräthselhaften Irrgarten der religiösen Romantik“ bewege, die „uns ,ein Buchmit sieben Siegeln‘ geworden“ sei.83 Im Unterschied zu Humbracht unter-schlug Storch zwar nicht die religiöse Geschäftigkeit des Ortes, stilisierte dieBeginen aber ebenfalls zum Relikt einer kuriosen Vergangenheit.Die Gartenlaube ließ ihre Leser mit der Entzifferung der materiellen Über-bleibsel dieser offenkundig fremd gewordenen Glaubenswelten nicht allein. ImBericht über einen bildungsbürgerlichen Ausflug zum säkularisierten Zister-zienserkloster Maulbronn führte sie vielmehr exemplarisch geeignete ästhe-tische und wissenschaftliche Distanzierungsverfahren vor. Malerische Doku-mentation und kunsthistorisches Wissen korrigieren und „entzaubern“ hierdie religiösen Legenden eines einfältigen Kirchendieners, der den Ausflüglerndie „Geißelkammern“ des „Gespensterklosters“ zeigt und sie in der „Geister-und Gespenster-Sphäre und Atmosphäre“ des ehemaligen Klosters mitSchauergeschichten unterhält. Theodor Pixis’ Illustration zeigt die Gruppe inentspannter Körperhaltung beim Rauchen, Plaudern und Lesen (Abb. 3).Für diese Bürgerinnen und Bürger hat ein Kloster keine religiöse Bedeutungmehr. Sie nehmen es nur noch ästhetisch oder kunsthistorisch wahr, ergötzensich am Niedergang einer unzeitgemäßen Lebensform, huldigen der pitto-resken Schönheit und entfliehen ihrer gepflegten Langeweile, indem sie Ge-spenstergeschichten lauschen. Das Kloster dient nur mehr als Hintergrund-kulisse für gruselige Mittelalterphantasien, die willkommene Abwechslungvom Alltag bieten.84

83 Die Gartenlaube 1863, S. 396 ff. u. S. 412 ff.84 Die Gartenlaube 1864/65, S. 4 – 8.

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Allerdings manifestierte sich in den Klosterruinen der Gartenlaube auch eineambivalente Haltung gegenüber dem – vermeintlich – alten Zauber : Einerseitsließen die Illustratoren über katholische Kirchen und Klöster buchstäblichGras wachsen. Darunter ruhte, so die implizite Botschaft, der Katholizismusselbst. Bruno Latour zufolge neigen Modernisten dazu, die Vormoderne als

Abb. 3: „Kloster Maulbronn. Originalzeichnung von Theodor Pixis in München“, in: DieGartenlaube 1864, S. 757.

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Anderes zu konstruieren und von der Gegenwart abzulösen: „Die Modernenhaben die Eigenart, den Lauf der Zeit so zu verstehen, daß er tatsächlich dieVergangenheit hinter sich abschafft. Sie halten sich alle für Attila, hinter demkein Gras mehr wächst.“85 Im Unterschied dazu riss das moderne Bürgertumdie ,Denkmale der mittelalterlichen Frömmigkeit‘ jedoch keineswegs ab,sondern pflegte sie behutsam: In Württemberg wurden außer Maulbronn auchandere säkularisierte Klöster konserviert.86 Dass zeitgleich zur Entkirchli-chung auch eine bürgerliche Hinwendung zur Religion und (eher außerhalbdes Bürgertums) zu Klöstern und Kongregationen stattfand,87 dass Bürger-lichkeit und Religion also koexistieren und sich auf neue Weise verbindenkonnten, war dagegen in der frühen Gartenlaube nicht zu sehen. Ihre Ästhetikder Entzauberung beruhte auf einem blinden Fleck. Sie zeigte nur die kir-chenfernen Ausschnitte der bürgerlichen Gesellschaft.Andererseits verrieten solche Repräsentationen auch Spuren der Trauer undMelancholie angesichts der vermeintlichen Unumkehrbarkeit der eigenenEntzauberung. Denn im linearen, teleologischen Fortschrittsverständnis derGartenlaube gab es für das moderne Bürgertum kein Zurück hinter Ratio undReflexivität. Die Ästhetisierung sollte die Religion daher nicht nur depoten-zieren; sie lieferte auch eine Strategie, der Entfremdung gegenüber religiösenArtefakten und Phänomenen kreativ zu begegnen. Visualisiert wurde dieunüberbrückbare Distanz männlicher Bürger zur populären Frömmigkeit1864 in einer Zeichnung von Theodor Pixis. Sie zeigt einen bürgerlichenWanderer und Maler am Rande einer Fronleichnamsprozession im ober-bayerischen Brannenburg (Abb. 4).Der Bürger ist vom religiösen Ritual durch den Mauervorsprung räumlichgetrennt. Die aufrechte Körperhaltung, der scharfe Blick und sein Äußeres(Hut und Vollbart als Kennzeichen liberal-demokratischer Gesinnung) un-terscheiden ihn von der devot knienden, vorwiegend weiblichen Pilgerschar.Die Blicke des männlich-bürgerlichen Subjekts und der frommen Frau be-gegnen sich nicht. Als in doppelter, sowohl religiöser als auch geschlechtlicherWeise Andere wird die gläubige Frau zum Objekt eines unerfüllbaren Begeh-rens. Die männliche Kritzelei im Skizzenbuch erscheint dagegen als bloßeKompensation einer unwiederbringlich verlorenen religiösen Leidenschaftund Naivität.

85 Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthro-pologie, Frankfurt 1998, S. 93.

86 Für Württemberg vgl. Karin Stober, Denkmalpflege zwischen künstlerischem Anspruchund Baupraxis. Über den Umgang mit Klosteranlagen nach der Säkularisation in Badenund Württemberg, Stuttgart 2003.

87 Vgl. dazu etwa Gross, The War against Catholicism, S. 130 – 136.

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VI. Resümee

Die Säkularisierungstheorie war nicht das Werk einiger weniger Religions-soziologen des 20. Jahrhunderts. Ihre maßgeblichen Varianten entstandenvielmehr bereits in den Kulturkämpfen des 19. Jahrhunderts. Schon im Vor-

Abb. 4: „Die Fronleichnamsprocession in Brannenburg. Nach der Natur gezeichnet vonTheodor Pixis“, in: Die Gartenlaube 1864/63, S. 21.

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märz entwickelten liberale Politiker und Wissenschaftler angesichts gesell-schaftlicher Kontroversen um den Ort und die Bedeutung der Religion Modelleund Narrative einer Privatisierung und Differenzierung der Religion von an-deren Sphären, die sie zum Gesetz der Moderne erklärten. Sie analogisiertendie gewünschte Sonderung oft mit dem bürgerlichen Geschlechterdualismus.Im Rahmen eines gendering schrieben sie Staat und Kirche konträre Ge-schlechtscharaktere zu: Aus der männlichen Natur des Staates und derweiblichen Natur der Kirche wurde ein komplementär-hierarchisches Ver-hältnis beider abgeleitet. Der Kirche kam darin eine private Rolle zu, währendder Staat beide Sphären umfassen und beherrschen sollte. Als regulative, malden Konflikt verschärfende, mal ihn abmildernde Idee prägte dieses Modellauch die Kulturkämpfe der liberalen Ära. Zuvor wurde es im Nachmärz inbürgerlichen Massenmedien wie der Gartenlaube um Bilder und Narrativeeiner Entzauberung der Welt ergänzt, die den Verlust religiöser Überzeu-gungen und kirchlicher Bindungen als natürliche Folge der Modernisierungdarstellten. In den Kulturkämpfen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundertssuchten liberale Politiker ihr säkularistisches Politikverständnis auf legislati-vem und administrativem Wege umzusetzen und Politik und Religion – etwaim Bildungswesen oder im Kanzelparagraphen – zu trennen. Sie provoziertendamit indes nur neue Vermischungen von Politik und Religion in Gestaltpolitischer Geistlicher und Laien, die den staatlichen Versuch einer Definitiondes Religiösen als anmaßend empfanden, sich organisierten und die politischeVorherrschaft der Liberalen untergruben. Die Liberalen fielen ihrem Säkula-risierungsglauben somit letztlich selbst zum Opfer. Da sie über kein alterna-tives Narrativ zur Beschreibung der Religion in der Moderne verfügten, warensie außerstande, die soziale Dynamik und die politische Bedeutung von Reli-gion zu erfassen.Während die praktische Umsetzung der Säkularisierung – nicht nur inDeutschland – scheiterte, hatte sie auf einer anderen Ebene Erfolg: Von einerSelbstbeschreibung progressiver, bürgerlich-männlicher Eliten wurde sie nach1900 zur Selbstbeschreibung der westlichen Moderne, zum Definitionsmerk-mal moderner westlicher Gesellschaften. Als wissenschaftliche Theorie wurdedie große Erzählung von der Säkularisierung durch die Religionssoziologieinstitutionalisiert, wo sie noch immer viele Anhänger hat. Klassiker wie MaxWeber und �mile Durkheim erklärten Säkularisierung, unter der sie Ver-schiedenes verstanden, zum Kern des Modernisierungsprozesses. Es folgteeine kaum noch zu überblickende Zahl weiterer Varianten. Indem die Säku-larisierungstheorie mit den Sozialwissenschaften letztlich auch die historischeKulturkampf-Forschung prägte, verwischte sie ihre Spuren.Kulturkämpfe sind in der Folge oft als säkular-religiöse Konflikte aufgefasstworden.88 Allerdings kämpften darin nur wenige Liberale gegen die Religion an

88 Vgl. etwa Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 892.

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sich. Die meisten traten stattdessen für ein bestimmtes Verständnis von Religionein, das dieser einen spezifischen Platz und eine definierte Bedeutung zuord-nete. Sie erklärten die Religion zur Privatsache und forderten eine Trennung vonPolitik und Religion in autonome Sphären, in denen Vernunft und Wissenbeziehungsweise Glauben herrschen sollten. Sie beriefen sich auf die Logik derGeschichte (Differenzierung) oder auf die (männliche) Natur des Staates. Pa-radoxerweise erzeugten jedoch gerade die hieraus folgenden Gesetze neueVermischungen von Politik und Religion: Kanzelpredigten, in denen für geist-liche Wahlkandidaten geworben oder gegen antiklerikale Gesetze agitiert wurde,Prozessionen für verhaftete Geistliche, religiös motivierte Demonstrationen,Petitionsbewegungen, Partei- und Vereinsgründungen. Ein blinder Fleck desliberalen Projekts der Differenzierung von Politik und Religion bestand darin,dass Religion zunächst im politischen Raum definiert werden musste. Bereits amBeginn des Vorhabens stand also eine Vermischung beider Bereiche, die demSphärenmodell widersprach. In dem Moment, in dem Wissenschaftler oderPolitiker die Religion zu definieren suchten, überschritten sie die errichteteGrenze selbst. Insofern prallten im Kulturkampf weniger Glaube und Unglaubeaufeinander, sondern eher rivalisierende Konzeptionen des Religiösen (jeweilsverstanden als öffentliche oder private Sache). Übersehen wurde dies nicht nurvon den katholischen Kritikern, die den Liberalen zu Unrecht Atheismus oderMaterialismus vorwarfen, sondern auch von jenen Historikern, die das liberaleReligionsverständnis einfach übernahmen, anstatt es zu historisieren. Die kul-turkämpferische Dimension der Definition des Politischen als Nichtreligiöses(und des Religiösen als Nichtpolitisches) ist von der historischen Politikfor-schung bisher zu wenig beachtet worden, auch aufgrund eines säkularistischenBias.89 Erst der Plausibilitätsverlust der Säkularisierungstheorie hat den nor-mativen Charakter dieses genuin liberalen Religionsbegriffs und die narrativen,fiktionalen Elemente der Säkularisierungstheorie wieder erkennbar gemacht.Wer sich als Sozialwissenschaftler weiterhin auf den – zunehmend schwan-kenden – Boden der Säkularisierungstheorie stellen will, sollte also wissen, dassund für wen er Partei ergreift.

Dr. Manuel Borutta, Historisches Seminar, Philosophische Fakultät,Universität zu Köln, Albertus-Magnus-Platz, D-50923 KölnE-Mail: [email protected]

89 Zumindest in der deutschen Debatte über die „neue Politikgeschichte“ beziehungsweise„Kulturgeschichte des Politischen“ war Religion bisher nicht zentral. Vgl. ThomasMergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: GG 28. 2002,S. 574 – 606; Achim Landwehr, Diskurs – Macht – Wissen. Perspektiven einer Kultur-geschichte des Politischen, in: Archiv für Kulturgeschichte 85. 2003, S. 71 – 117; UteFrevert, Neue Politikgeschichte. Konzepte und Herausforderungen, in: dies. u. Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Neue Politikgeschichte, Perspektiven einer historischen Politik-forschung, Frankfurt 2005, S. 7 – 27.

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