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Recht gegenüber dem (herrschenden) Recht. Zur Geschichte und Bedeutung des Asyls (Vortrag auf der...

Date post: 02-Dec-2023
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Dr. Peter Zeillinger Universität Wien, 22. April 2016 Tagung »Flucht & Asyl. Sozialphilosophische Perspektiven« Recht gegenüber dem (herrschenden) Recht Zur Geschichte und Bedeutung des Asyls Zitate zum Thema [1] »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« vom 10.12.1948, Art. 14: „Jeder Mensch hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genie- ßen. Dieses Recht kann jedoch im Falle einer Verfolgung wegen nicht politischer Verbrechen oder wegen Handlungen, die gegen die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen verstoßen, nicht in An- spruch genommen werden.“ [2] Asylrechtserklärung der Vereinten Nationen / United Nations Declaration on Territorial Asylum, 14.12.1967, Art. 1: „Das Asyl, das ein Staat in Ausübung seiner Souveränität den Personen gewährt, die sich auf Art. 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte berufen können, einschließlich derjenigen Personen, die gegen den Kolonialismus kämpfen, soll von allen anderen Staaten respektiert werden. Auf das Recht, Asyl zu suchen und zu genießen, können sich diejenigen nicht berufen, die im begrün- deten Verdacht stehen, ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der diesbezüglichen internationalen Instrumente begangen zu haben. Die asylgewährenden Staaten sind befugt, die Gründe für die Asylberechtigung in eigener Zuständigkeit zu bewerten.“ [3] O. Kimminich zur Europäischen Menschenrechtskonvention vom 11.11.1950: „Die Autoren der Europäischen Menschenrechtskonvention vom 11. 11. 1950 erklärten ausdrücklich, daß sie die »vagen Formulierungen der UNO-Deklaration« vermeiden wollten. Aber in bezug auf das Asyl- recht nutzten sie die Gelegenheit zu einer Präzisierung nicht. Die Europäische Menschenrechtskonven- tion schweigt über das Asylrecht vollständig. Weder enthält sie eine ausdrückliche Bestimmung darüber, noch läßt sich in anderer Weise aus ihr ein Individualrecht auf Asylgewährung ableiten. (So ausdrücklich das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 10.4.1956, BVerwGE 3, 235.)“ (Kimminich, Geschichte 62) [4] »Erklärung über das territoriale Asyl in den Mitgliedstaaten des Europarats« vom 5.12.1977: „In Erfüllung ihrer humanitären Pflichten bekräftigen die Mitgliedstaaten des Europarats ihre Absicht, ihre liberale Haltung in bezug auf die Personen, die auf ihrem Staatsgebiet Asyl suchen, beizubehalten. Die Mitgliedstaaten des Europarats, die zugleich Signatarstaaten der Konvention über den Rechts- status der Flüchtlinge vom Jahre 1951 sind, bekräftigen ihr Recht, Asyl jeder Person zu gewähren, die eine begründete Furcht vor Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung hegt und zugleich die ande- ren Voraussetzungen für den Schutz dieser Konvention erfüllt, sowie an jede andere Person, der sie aus humanitären Gründen Asyl gewähren wollen. Die Mitgliedstaaten des Europarats halten daran fest, daß die Asylgewährung ein friedlicher und humanitärer Akt ist, der von allen Staaten respektiert werden muß und von keinem anderen Staat als unfreundlicher Akt betrachtet werden darf.“ (zit. n. Council of Europe, Press Release vom 8. 12. 1977 Nr. B (77) 81. Vgl. O. Kimminich 63) [5] „Das Asylrecht ist ein Recht der Berufung, der Berufung an Gott als Urheber des Rechts, Berufung gegen die menschliche Gerechtigkeit, gegen den menschlichen Rechtsmißbrauch. Es ist deshalb dem gemeinen Recht übergeordnet, nicht um es zu bekämpfen, sondern um es zu bewahren, zu ergänzen und zu berich- tigen.“ (Henri Wallon, frz. Historiker und Staatsmann, 1837) 1 1 Henri WALLON, Du Droit d’Asyle (Paris 1837), hier 1: „Le droit d’asyle est un droit d’appel: appel à Dieu de la justice humaine; à l’auteur du droit, de l’abus que les hommes en font. C’est donc un droit placé au dessus du droit commun, non pour le combattre, mais pour le garder: pour le suppléer, quand il fait défaut, le redresser quand il dévie.“ – Übers. zit. n.
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Dr. Peter Zeillinger Universität Wien, 22. April 2016 Tagung »Flucht & Asyl. Sozialphilosophische Perspektiven«

Recht gegenüber dem (herrschenden) Recht Zur Geschichte und Bedeutung des Asyls

Zitate zum Thema

[1] »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« vom 10.12.1948, Art. 14: „Jeder Mensch hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genie-ßen. Dieses Recht kann jedoch im Falle einer Verfolgung wegen nicht politischer Verbrechen oder wegen Handlungen, die gegen die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen verstoßen, nicht in An-spruch genommen werden.“

[2] Asylrechtserklärung der Vereinten Nationen / United Nations Declaration on Territorial Asylum, 14.12.1967, Art. 1: „Das Asyl, das ein Staat in Ausübung seiner Souveränität den Personen gewährt, die sich auf Art. 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte berufen können, einschließlich derjenigen Personen, die gegen den Kolonialismus kämpfen, soll von allen anderen Staaten respektiert werden.

Auf das Recht, Asyl zu suchen und zu genießen, können sich diejenigen nicht berufen, die im begrün-deten Verdacht stehen, ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der diesbezüglichen internationalen Instrumente begangen zu haben. Die asylgewährenden Staaten sind befugt, die Gründe für die Asylberechtigung in eigener Zuständigkeit zu bewerten.“

[3] O. Kimminich zur Europäischen Menschenrechtskonvention vom 11.11.1950: „Die Autoren der Europäischen Menschenrechtskonvention vom 11. 11. 1950 erklärten ausdrücklich, daß sie die »vagen Formulierungen der UNO-Deklaration« vermeiden wollten. Aber in bezug auf das Asyl-recht nutzten sie die Gelegenheit zu einer Präzisierung nicht. Die Europäische Menschenrechtskonven-tion schweigt über das Asylrecht vollständig. Weder enthält sie eine ausdrückliche Bestimmung darüber, noch läßt sich in anderer Weise aus ihr ein Individualrecht auf Asylgewährung ableiten. (So ausdrücklich das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 10.4.1956, BVerwGE 3, 235.)“ (Kimminich, Geschichte 62)

[4] »Erklärung über das territoriale Asyl in den Mitgliedstaaten des Europarats« vom 5.12.1977: „In Erfüllung ihrer humanitären Pflichten bekräftigen die Mitgliedstaaten des Europarats ihre Absicht, ihre liberale Haltung in bezug auf die Personen, die auf ihrem Staatsgebiet Asyl suchen, beizubehalten.

Die Mitgliedstaaten des Europarats, die zugleich Signatarstaaten der Konvention über den Rechts-status der Flüchtlinge vom Jahre 1951 sind, bekräftigen ihr Recht, Asyl jeder Person zu gewähren, die eine begründete Furcht vor Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung hegt und zugleich die ande-ren Voraussetzungen für den Schutz dieser Konvention erfüllt, sowie an jede andere Person, der sie aus humanitären Gründen Asyl gewähren wollen.

Die Mitgliedstaaten des Europarats halten daran fest, daß die Asylgewährung ein friedlicher und humanitärer Akt ist, der von allen Staaten respektiert werden muß und von keinem anderen Staat als unfreundlicher Akt betrachtet werden darf.“ (zit. n. Council of Europe, Press Release vom 8. 12. 1977 Nr. B (77) 81. Vgl. O. Kimminich 63)

[5] „Das Asylrecht ist ein Recht der Berufung, der Berufung an Gott als Urheber des Rechts, Berufung gegen die menschliche Gerechtigkeit, gegen den menschlichen Rechtsmißbrauch. Es ist deshalb dem gemeinen Recht übergeordnet, nicht um es zu bekämpfen, sondern um es zu bewahren, zu ergänzen und zu berich-tigen.“ (Henri Wallon, frz. Historiker und Staatsmann, 1837)1

1 Henri WALLON, Du Droit d’Asyle (Paris 1837), hier 1: „Le droit d’asyle est un droit d’appel: appel à Dieu de la justice

humaine; à l’auteur du droit, de l’abus que les hommes en font. C’est donc un droit placé au dessus du droit commun, non pour le combattre, mais pour le garder: pour le suppléer, quand il fait défaut, le redresser quand il dévie.“ – Übers. zit. n.

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[6] „Jeder Versuch, das Verhältnis von Recht und Gewalt zu verstehen, muss von zwei Feststellungen ausge-hen, die zueinander in Spannung, wenn nicht im Widerspruch stehen. Die erste Feststellung besagt: Das Recht ist das Gegenteil der Gewalt; rechtliche Formen des Entscheidens werden eingeführt, um die end-lose Abfolge von Gewalt und Gegengewalt und Gegengegengewalt zu unterbrechen, den Bann des Antwortenmüssens auf Gewalt mit neuer Gewalt zu lösen. Die zweite Feststellung besagt: Das Recht ist selbst Gewalt; auch rechtliche Entscheidungen üben Gewalt aus – äußere Gewalt, die am Körper angreift, ebenso wie innere Gewalt, die die Seele, das Sein des Verurteilten versehrt.“ (Christoph Menke)2

[7] „Die Idee eines natürlichen Rechts ist paradox, weil sie die Idee eines Rechts vor dem Recht ist. »Rechte vor dem Recht« sind aber entweder (i) gar keine Rechte, oder (ii) sie bestehen in Wahrheit gar nicht vor dem Recht. […]

Entweder die natürlichen, dem Recht vorhergehenden Rechte bringen keine Verpflichtungen hervor, sie sind daher in Wahrheit gar keine Rechte und also nicht der Grund des Rechts. Oder die natürlichen, dem Recht vorhergehenden Rechte sind tatsächlich verpflichtende Rechte, aber dann sind sie durch eine rechtliche Regel konstituiert und also wiederum nicht der Grund des Rechts.“ (Christoph Menke)3

Vorbemerkungen

1. Bei der Vorbereitung dieses Vortrags war ich erstaunt, wie schnell bei der Beschäftigung mit der scheinbar begrenzten Thematik des Asylrechts meine Aufmerksamkeit auf die gesamte abend-ländische Rechtsgeschichte wie auch auf die Struktur und Argumentation traditioneller philo-sophischer Grundlegungen des Rechts und des Politischen gelenkt wurde. Ich werde daher an dieser Stelle nur die Spitze eines Eisbergs andeuten können – möchte aber dennoch zugleich einen Überblick geben über den Ansatz einer Relecture abendländischer Vorstellungen von Recht, Politik und Gemeinschaft, den wir im Anschluss diskutieren können. Methodisch erwarte ich mir für eine solche Relecture dabei seit geraumer Zeit – neben meiner ersten Liebe, der Dekonstruk-tion – am ehesten etwas von der philosophischen Archäologie Giorgio Agambens. Wenn ich es recht sehe, so kommt dieser Ansatz jedoch nur in wenigen seiner Werke tatsächlich zum Tragen (vor allem in Das Sakrament der Sprache4 und in Herrschaft und Herrlichkeit5).

Doch zum Thema: Der Blick auf die geltenden gesetzlichen Bestimmungen bzw. Formulierungen – der Menschenrechtserklärung von 1948, der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950, der Asyl-rechtserklärung der Vereinten Nationen von 1967 oder der Erklärung des Europarates von 1977 zum territo-rialen Asyl in den Mitgliedsstaaten [Zitate 1-4] – hat zu meinem Erstaunen und Erschrecken gezeigt, dass es heute auf internationaler Ebene gar kein »Asylrecht« im Sinne eines Rechts auf Asyl gibt, das Einzelne oder Gruppen in bestimmten Situationen in Anspruch nehmen könnten. Es gibt lediglich ein souveränes Recht von Staaten zur Gewährung von Asyl. – Das sog. Asylrecht themati-

Otto KIMMINICH, Die Geschichte des Asylrechts, in: Bewährungsprobe für ein Grundrecht. Art. 16 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz: »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht« (Amnesty International Publications; Baden-Baden: Nomos, 1978), 19-65, hier: 23.

2 Christoph MENKE, Recht und Gewalt (Berlin: August, 22011), hier: 7. 3 Christoph MENKE, Kritik der Rechte (Berlin: Suhrkamp, 2015), hier: 25f. 4 Giorgio AGAMBEN, Das Sakrament der Sprache. Eine Archäologie des Eides (Homo Sacer II.3) (Berlin: Suhrkamp, 2010 [ital.

2008]). 5 Giorgio AGAMBEN, Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung (Homo Sacer II.2) (Aus

dem Ital. v. Andreas Hiepko; Frankfurt/M.-Berlin: Suhrkamp, 2010 [ital. 2007]).

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siert auf überstaatlicher Ebene also nicht die Ansprüche von Menschen, sondern die Ansprüche von souveränen Staaten. Es scheint also als ob der staatliche Souverän auch gegenüber dem Asyl und seiner konkreten rechtlichen Ausgestaltung »souverän« wäre.

2. Ein völlig anderes Bild zeigt sich allerdings, wenn man rechtsgeschichtliche Untersuchungen heranzieht oder die geschichtliche bzw. archäologische Frage stellt, worum es sich beim Thema Asyl eigentlich handelt. Ich möchte daher im Folgenden zunächst noch gar nicht nach dem Asyl-Recht fragen, sondern mich zunächst dem Verständnis des Phänomens »Asyl« nähern. Ist das Asyl ein Phänomen, das innerhalb der rechtlichen Ordnung verhandelt wird – wie es die zeitgenössischen Herangehensweisen nahelegen – oder muss seine Beziehung zum Recht anders beschrieben werden? Immerhin ist das Phänomen des Asyls historisch älter als das Phänomen geregelter Rechtsprechung. Einen ersten Hinweis geben in diesem Zusammenhang jüngere rechtsgeschicht-liche Arbeiten, aus denen ich im Folgenden, im ersten Teil meines Vortrags, referieren werde. – Doch zunächst ein Zitat aus dem 19. Jahrhundert, aus einer Untersuchung zum Asylrecht, die mehr als ein Jahrhundert lang das Standardwerk zu diesem Thema bleiben sollte.6 Der französi-sche Historiker und Staatsmann Henri Wallon eröffnete 1837 diese Untersuchung mit einer ein-leitenden Umschreibung des spezifischen Charakters des Asylrechts, den er aus den geschichtli-chen Gestalten des Asyl-Phänomens und des Umgangs mit diesem Phänomen ableitete:

[5] „Das Asylrecht ist ein Recht der Berufung, der Berufung an Gott als Urheber des Rechts, Berufung gegen die menschliche Gerechtigkeit, gegen den menschlichen Rechtsmißbrauch. Es ist deshalb dem ge-meinen Recht übergeordnet, nicht um es zu bekämpfen, sondern um es zu bewahren, zu ergänzen und zu berichtigen.“ (Henri Wallon, frz. Historiker und Staatsmann, 1837)

Wallon beschrieb das Asylrecht also als Berufungsrecht – und damit von einer Opposition gegen-über der aktuell herrschenden Rechtsgestalt oder Rechtspraxis her. Dass er dabei dessen Herkunft in der Sphäre des Göttlichen verortete, wird uns heute nicht mehr überzeugen. Selbst wenn man (wie es immer noch zu lesen ist) von einer frühen, sogenannten »magischen« Phase der Mensch-heitsgeschichte ausginge, in der eine Vorstellung von Göttern oder vom Göttlichen noch gesell-schaftlich wirksam werden konnte, – so bliebe auch für diese frühe Zeit menschlicher Kultur den-noch die Frage zu beantworten, woher genau diese Wirksamkeit ihre Kraft letztlich tatsächlich bezo-gen habe. Denn: die Götter gibt es nicht und es hat sie auch früher nicht gegeben. Inwiefern kann also eine Berufung auf Götter überhaupt eine Wirkung entfalten? Giorgio Agamben ist dieser Frage mit großer Konsequenz im Kontext seiner Archäologie des Eides in »Das Sakrament der Sprache«7 nachgegangen. Auch beim Eid werden ja die Götter angerufen und das sogar zweimal: Zur Bekräftigung der eigenen Aussage sowie zur Bestrafung im Falle des Meineids. Allerdings ist noch nie jemand von einem Gott bestraft worden, wenn er einen Meineid geleistet hat. Daher stellt sich schon beim Eid die Frage, inwiefern dort die Anrufung der Götter jemals wirksam sein konnte. Die Antwort mit der »magischen Frühphase« greift hier zu kurz und droht selbst einem magischen Verständnis auf den Leim zu gehen.

6 Kimmich, Geschichte 23. 7 Agamben, Sakrament.

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Nun taucht aber dieselbe Frage auch im Kontext des Asyls auf – und wir werden sehen, dass wir sie nicht so leicht los werden. Wovon redet Wallon? Inwiefern sollte von den Göttern oder vom Göttlichen als »Urheber des Rechts« gesprochen werden können? Und inwiefern könnte darüber-hinaus das Asyl als Berufung auf diese göttliche Herkunft verstanden und noch dazu gegen die jeweilige soziale Situation wirksam werden? Das scheint ja der zentrale Punkt zu sein: Wie kann die Berufung auf die Götter sogar in der Opposition zur jeweiligen sozialen oder politischen Situation ihre Wirksamkeit entfalten? Wer lässt sich das gefallen?

Aber ist Wallons Bezug des Asyls auf die göttliche Sphäre überhaupt korrekt? Und was hätte das mit der Gegenwart zu tun? Auf den ersten Blick jedenfalls scheint seine allgemeine Bestimmung des Wesens des Asylrechts nicht mehr zeitgemäß. Ich werde daher nicht auf ihr aufbauen können und stattdessen selbst die Geschichte nach der Herkunft des Asylverständnisses befragen.

I. Geschichtliche »Archäologie« des Asyls

Bei der Rekonstruktion der Geschichte des Asyls beziehe ich mich im Folgenden vor allem auf historische Einzelstudien, die seit Mitte der 1990er-Jahre von Althistorikern, Rechtshistorikern und zum Teil Philologen bzw. Bibelwissenschaftlern publiziert wurden. Eine Auswertung der dabei zutage tretenden Erkenntnisse im Feld der Rechtsphilosophie, der Politischen Philosophie oder der abendländischen Kulturgeschichte ist mir noch nicht bekannt. Das überrascht, da die Nachzeichnung der Bedeutung und Entwicklung des Asyl-Phänomens die traditionellen Darstel-lungen der Grundlegung und Entstehung des Rechts und des Zusammenhalts politischer Gemein-schaften bis hin zum Verständnis von »Souveränität« zu hinterfragen beginnt. Ansätze zu einer solchen Relecture der abendländischen Geistesgeschichte finden sich beim späten Foucault, in Texten von Giorgio Agamben und in einigen Aspekten des Werks von Jacques Derrida. Doch diese Ansätze sind hier nicht mein Thema …

Der moderne Begriff »Asyl« geht auf das lateinische Nomen asylum zurück.8 Bei den Römern wird mit asylum eine Zufluchtsstätte für Verfolgte bezeichnet. Diesem Ort wurde einerseits ein sakraler Charakter zugestanden, andererseits musste dieser Charakter erst staatlich anerkannt werden. Die römischen Kaiser mussten offensichtlich eine Asylpraxis aus hellenistischer Zeit übernehmen, ver-suchten sie aber zugleich einzudämmen oder ihrer Herr zu werden. Römisches Asylrecht ist daher von Anfang an der Versuch, das Asyl zu begrenzen und nicht zu entfalten. Das heißt natürlich auch, dass die Römer das Phänomen und das Rechtsinstitut des Asyls nicht erfunden haben. Sie gliederten vielmehr Asylstätten mit einer langen Tradition in ihr Rechtssystem ein. – Um nun aber zu verstehen, was Asyl ursprünglich bedeutet hat, wie es zu dieser Möglichkeit der Zuflucht und des Schutzes kam und welche gesellschaftliche Bedeutung ihr zukam, sodass sie von den Römern übernommen werden musste –, dafür wird man weiter zurückfragen müssen in die Geschichte.

8 Martin DREHER, Das Asyl in der Antike von seinen griechischen Ursprüngen bis zur christlichen Spätantike, in: Tyche, 11.

Jg. (1996), 79-96, hier: 80ff; ausführlicher: Eilhard SCHLESINGER, Die griechische Asylie (Gießen: Töpelmann, 1933).

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In der griechischen Sprache und Kultur gibt es kein Nomen, das dem lat. asylum entspricht. Das griechische Wort asylos ist vielmehr ein Adjektiv, es bezeichnet eine Eigenschaft. Es ist aus einem Alpha privativum und der Wurzel syl- zusammengesetzt – mit der Grundbedeutung „gewaltsam wegreißen“ oder „wegnehmen“. A-sylos bedeutet somit: von einem Gewaltakt nicht betroffen zu sein, also „unversehrt, unverletzt“ zu sein. Der daraus resultierende Zustand wird als asylía bezeichnet. – Von welcher Art Gewaltakte war man im Zustand der Asylie nun aber verschont? Der Rechtshistoriker Manfred Dreher formuliert dies wie folgt:

„Das Wort bezeichnet nämlich in einem engeren Sinn die [jene] Gewaltanwendung, die sich auf einen Rechtstitel beruft, also die Selbsthilfe zur Durchsetzung von Rechtsansprüchen, wie sie sich aus einem vorher erlittenen Unrecht, vor allem aber aus Schuldverhältnissen, immer wieder ergaben.“9

Die Asylie gehört damit in die Sphäre des Rechts und stellt einen Schutz gegenüber Übergriffen von Bürgern oder auch des Staates dar. Es ist damit also eine Art Rechtsschutz bezeichnet. In die-sem Sinne war dann die Asylie (das »Geschütztsein«) auch etwas, das man jemanden garantieren, ihm als Schutz verleihen konnte – vergleichbar einem Schutzbrief oder der Gewährung von Immu-nität. Die Historiker sprechen in diesem Sinn von der persönliche Asylie. Sie spielte in zwischenstaat-lichen Handelsbeziehungen oder in der Diplomatie eine Rolle. Ein Fremder, dem sie gewährt oder verliehen worden war, hatte damit im Ausland Anrecht auf Schutz und Aufnahme. Diese Form der Schutzgewährung setzt somit ein bereits entwickeltes Rechtssystem voraus und es stellt sich erneut die Frage, ob diese Praxis bereits den Ursprung des Asylgedankens markiert. Mit dem Aspekt der Flucht oder Zuflucht – mit einem Zufluchtsort wie er vom lat. asylum bezeichnet wird – hat diese persönliche Asylie zunächst nichts zu tun.

Tatsächlich gibt es im Alten Griechenland aber auch noch eine zweite, weitaus ältere Form der Asylie, die u.a. auch in der griechischen Dichtung Erwähnung findet. Ein nachträglicher Rückver-weis auf diese Frühform findet sich Ende des 6. Jh.s. bei Aischylos, wenn dieser das Verbum sylān, „gewaltsam wegreißen“, auf den Ort des Tempels bezieht und die Asylie damit auf den Schutz, den in Griechenland das Heiligtum oder der Tempel bot, vor dem Zugriff von Feinden und staatlichen Organen. Diese Form der Zuflucht, die die Historiker auch als sakrale Asylie bezeichnen, war in der griechischen Kultur seit langem bekannt und findet sich in Vorstufen auch in den homeri-schen Epen. Vergleichbare Phänomene finden sich auch in Ägypten und im Alten Israel, sowie in asiatischen Kulturen. Stets ist ein sakraler Ort mit dem Phänomen einer Asylflucht verbunden. In der griechischen Frühzeit wird dieses Phänomen jedoch nicht mit asylos, sondern mit einer ande-ren Wortfeld zum Ausdruck gebracht. Die Grundbedeutung zum Phänomen der sakralen Asylie lieferte das Verb hiknéomai, „kommen, (hin-)gelangen“;10 also: ankommen an einem bestimmten Ort, der Schutz bietet. Diejenigen, die einen solchen Zufluchtsort erreicht hatten, wurden entspre-chend als hikétai bezeichnet. Der einzelne Hiketes stand – so die griechische Vorstellung – an die-sem Ort unter dem Schutz der jeweiligen Gottheit bzw. – wie alle Fremden – unter dem Schutz des Zeus, in diesem Fall des Zeus Hikesios.11 In dieser Hikesie findet sich also die Vorlage für das 9 Dreher, Asyl 82. 10 Vgl. Dreher, Asyl; sowie: Susanne GÖDDE, Hikesie, in: Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike 5 (1998), 554-555. 11 Gödde, Hikesie; Martin P. NILSSON, Geschichte der griechischen Religion I: Die Religion Griechenlands bis auf die griechische

Weltherrschaft (Handbuch der Altertumswissenschaft V,2.1; München: Beck, 31967), 417-420; Robert MUTH, Einführung in

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römische asylum, den Zufluchtsort. In römischer Zeit wurden demnach die griechische Hikesie, also die sakrale Asylie, und die persönliche Asylie bereits zusammengedacht. Es gab die Zuflucht an einen Ort, diesem Ort musste jedoch sein Zufluchtscharakter erst staatlich gewährt werden. Welcher der beiden Aspekte dabei im Vordergrund stand, war von Fall zu Fall verschieden.

Doch noch einmal zurück zur griechischen Hikesie in den homerischen Epen: In der älteren Ilias werden mit dem Wortfeld um hiknéomai ganz allgemein Bittsteller und Hilfesuchende bezeichnet, die sich direkt an andere Menschen wenden. Später, in der Odyssee spielt bereits der Kontext des Verfolgtseins eine Rolle, und der Schutz, um den es geht, wird im Rahmen des Gastrechts ge-währt: Der Verfolgte konnte Zuflucht finden an einem Herd, dem heiligen Mittelpunkt eines Hau-ses. Dabei wurde der Herd auch mit der Göttin Hestia identifiziert,12 die eine der griechischen Urgottheiten war. Mit der Ankunft am Herd, war dem Verfolgten schließlich die Gastfreundschaft des Hausherrn und der Schutz der Gottheit sicher.13

All diese Elemente spielen eine Rolle beim Versuch einer zusammenfassenden Deutung, worum es beim Asyl-Phänomen im Alten Griechenland eigentlich ging. Einem solchen Versuch möchte ich mich im zweiten Teil meines Vortrag widmen. In späterer Zeit wurde diese Form der sakralen Zuflucht, die man auch Hiketia oder Hikesie nennt, nur noch mit den Altären in den offiziell eingerichteten Heiligtümern verbunden. Derjenige, der an das Heiligtum floh, war dem Zugriff seiner Feinde oder der staatlichen Macht entzogen.

II. Erste strukturelle Beobachtungen und Konsequenzen zum Asyl-Phänomen

1. Das Phänomen der Asyl-Flucht erweist sich im archäologischen Rückgang tatsächlich als eine Form der Berufung gegenüber einer aktuell herrschenden Rechtspraxis bzw. Rechts-anwendung. – Zunächst entzieht sich der Asylsuchende einer unmittelbaren Rechtsfolge. Dies wird bei der Flucht in einen Tempel wie auch bei der Anwendung eines gewährten Schutzes er-kennbar. Allerdings ist nicht der negative Aspekt des Sich-Entziehens das zentrale Merkmal der Hikesie bzw. der Asylie. Es handelt sich nicht um den Aspekt des Sich-Versteckens, der Auswan-derung oder des freiwilligen Exils, sondern um einen positiven Aspekt: den eines Hingelangens bzw. eines In-Anspruch-nehmens. In dieses Schema passen auch die homerischen Bezüge auf den Herd und die Gastfreundschaft.

2. Die Hikesie/Asylie findet zugleich innerhalb wie außerhalb der Rechtsordnung statt. – Einer-seits gibt es ein geschichtlich gewachsenes und kulturell geprägtes Recht auf Asylie (dessen Her-kunft immer noch zu klären ist). Andererseits agiert die Asyl-Flucht aber nicht innerhalb der praktizierten Rechtsordnung, sondern in gewisser Hinsicht gegen sie.

die griechische und römische Religion (durchges. u. erw. Aufl.; Darmstadt: WBG, 21998), 64f. 75. 139; Jean-Pierre VERNANT, Mythos und Religion im alten Griechenland (Aus dem Franz.v. Eva Moldenhauer; Edition Pandora 26; Frankfurt/M.-New York: Campus, 1995 [engl. 1987]), 40; Jean-Pierre VERNANT, Mythos und Gesellschaft im alten Griechenland (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1987 [fr. 1974]), 99.

12 Muth, Religion 120; Dreher, Asyl; Vernant, Mythos und Religion, 40. 13 Siehe zur Thematik: Dreher, Asyl; Martin DREHER, Die Hikesie-Szenen der Odyssee und der Ursprung des

Asylgedankens, in: Andreas LUTHER (Hg.), Geschichte und Fiktion in der homerischen »Odyssee« (München, 2006), 47-60.

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3. Wofür plädiert die Asylflucht – und an wen appelliert sie eigentlich? – Die Asylflucht plädiert an die Grundlagen des Zusammenhalts der Gemeinschaft. (Dazu eine vorgreifende Anmerkung: Zum vollen Verständnis des Phänomens des Asyls wird es letztlich notwendig sein, die breite Zustimmung zu der These zu hinterfragen, dass die Grundlage des Rechts die Überwin-dung einer primordialen Gewalt sei. Diese zumeist in rechtsphilosophischen Kontexten formulierte These, macht in rechtshistorischer Hinsicht wenig Sinn. Das Recht ist älter als es die Philosophie normalerweise in den Blick bekommt.)14 – Wofür und an wen appelliert also die Asylflucht?

– Mit der griechischen Flucht in den Tempel oder an den Altar des Tempels wird nicht an irgendwelche überirdischen Mächte appelliert, die es letztlich gar nicht gibt. Mit dieser Flucht bindet sich der Hiketes vielmehr an das, was nach gemeinsamer Überzeugung das Zusam-menleben der Gemeinschaft gewährleistet und deshalb auch von allen respektiert werden muss, da ansonsten das soziale Band gefährdet ist.

– Die soziale Funktion der griechischen Götter (wie aller Gottheiten in polytheistischen Religionen – dies gilt für die griechisch-römische Religion ebenso wie für die ägyptische oder die altorientalischen Religionen – mit Ausnahme der monotheistischen Traditionen, da es dort keine identifizierbare Gottheit gibt) [Die soziale Funktion der Gottheiten polytheistischer Tra-ditionen] liegt in der Repräsentation der Ordnung und des Zusammenhalts der Gemein-schaft.15 – Oder anders ausgedrückt: Die Gottheiten legitimieren und stützen die »herr-schende Ordnung« der Gesellschaft. In diesen Religionen gibt es daher auch keine religiöse Kritik an dieser Ordnung, kein Einklagen von etwas prinzipiell Neuem und auch keine For-derung nach Veränderung – außer im Sinne der Rückkehr zu den alten Gewohnheiten. Wenn ich es recht sehe, bezeugt das geschichtliche Phänomen des Asyls – genauer: der Hikesie, also die Existenz von Zufluchtstätten – daher etwas Besonderes: Es ist das einzige Phänomen einer Kritik an der Durchführung bzw. Verwirklichung der herrschenden Ordnung in diesen Kulturen. Ob es tatsächlich das einzige Phänomen ist – dieser These müsste allerdings nochmals eigens nachgegangen werden.16

– Die spätere Entwicklung des abendländischen Rechts bis hin zur Gegenwart tendiert zu dem Anspruch, diese kritische Funktion in sich aufgenommen zu haben. Das Fortbestehen von Phänomenen der Asyl-Flucht mar-kiert allerdings jeweils jene Stelle in der juridischen und politischen Ordnung, an der dieser Anspruch noch nicht eingelöst ist. Das Asyl wird so zum Anspruch des Noch-Nicht-Rechts bzw. zum Recht gegenüber dem jeweils herrschenden Recht bzw. Rechtsverständnis. Da das Phänomen der Asyl-Flucht von niemandem, auch von keiner Kultur »erfunden« wurde, ist es – wie schon die Struktur des Eids, auf die Agamben hinge-wiesen hat – älter als das Recht. (Gegen Menke in Zitat 6+7)

Doch nochmals zurück zur griechischen Hikesie und ihrem Plädoyer an die Grundlagen des Zusammenhalts der Gemeinschaft:

– Der »Herd« in den homerischen Epen bzw. seine Bedeutung in der Frühzeit der griechi-schen Kultur symbolisiert sehr konkret das Zentrum dieses Zusammenhalts. Die damit ver-bundene Praxis der Gastfreundschaft gibt dieser Symbolisierung zugleich einen wirksamen

14 Vgl. zur Geschichte und Herkunft des Rechts: Uwe WESEL, Frühformen des Rechts in vorstaatlichen Gesellschaften. Umrisse einer

Frühgeschichte des Rechts bei Sammlern und Jägern und akephalen Ackerbauern und Hirten (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1985); ebenso: Uwe WESEL, Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zur Gegenwart (München: Beck, 32006).

15 Nilsson, HAW V.2.1, 417-427; Muth, Religion 159: „[Zeus] schützt die Bindungen menschlichen Zusammenlebens“. 16 Gödde, Hikesie 554: „die Hikesie [stellt] ein wichtiges Regulativ im gesellschaftlichen und zwischenstaatlichen Machtgefüge

dar.“

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Ausdruck. Es wäre interessant in diesem Sinne die historischen Grundlagen der Asylflucht mit jenen politischen Ansprüchen zusammenzulesen, die Jacques Derrida aus der Struktur der Gastfreundschaft ableitet.

4. Strukturell hat die Asyl-Flucht – die Flucht an den Herd, die Flucht in die Gastfreundschaft, die Flucht an den Ort der Symbolisierung der Götter, sowie die spätere Flucht in den Tempel und dort in die Nähe des Altars – [Strukturell hat diese Flucht] eine doppelte Funktion bzw. es wird mit ihr ein Zweifaches zum Ausdruck gebracht:

1. [Erstens:] Diese Form der Zuflucht bringt – von Seiten des Asylanten – eine Akzeptanz und Unterwerfung unter die gesellschaftlichen Grundlagen zum Ausdruck, die von die-sem Ort repräsentiert werden: Man flieht nie bloß weg von etwas, sondern immer auch wohin. Und bei dieser Form der Asyl-Flucht ist das Wohin entscheidend. Dies kommt auch in der Grundbedeutung von hiknéomai, „kommen, (hin)gelangen“ zum Ausdruck.

2. Die Asylflucht ist aber [zweitens] auch das Anzeichen dafür, dass außerhalb des Zufluchtsorts diese gesellschaftliche Grundlage nicht angemessen umgesetzt ist.

– Phänomenal und strukturell ist die Asylflucht demnach ein Einklagen der Verwirklichung von gemeinsam geteilten und akzeptierten sozialen Grundlagen gegenüber einer ungenügen-den Umsetzung der damit angezeigten Ordnung. Von daher ist die zusammenfassende Umschreibung des Asyls als »Berufungsrecht«, die Henri Wallon 1837 formuliert hat, in ihren Grundzügen durchaus zutreffend.

5. Die abendländische Geschichte des Asyl-Rechts, also des juridischen und politischen Um-gangs mit dem Asyl-Phänomen, bestätigt und differenziert die ursprüngliche Bedeutung des Asyls noch – allerdings auf eine zumeist negative Art und Weise: nämlich im Versuch der Abwehr des Berufungsaspekts des Asyls. In der Mühe dieser Abwehr wird allerdings zugleich seine ursprüngli-che Struktur indirekt bestätigt. – Einige Aspekte dieser Geschichte des Asyl-Rechts möchte ich hier hervorheben:

– Ich habe es schon erwähnt: Das Asyl wurde niemals erfunden. Es macht beim Asyl – ebenso-wenig wie beim Eid – irgendeinen Sinn, von einer individuellen oder kollektiven »Erfindung« oder bewussten Einführung des Asylphänomens auszugehen. Das ist jedoch anders beim Begriff des Asyl-Rechts, das in seiner historischen Gestalt nur als eine Re-aktion auf das Phä-nomen des Asyls verstehbar ist. (••• vgl. Eid … siehe Manuskript, S.2 •••)

– Anders ausgedrückt: Das Asyl-Recht stellt keine Grundlegung des Asyls oder des Asyl-anspruchs, sondern eine Form des Umgangs mit diesem Phänomen. Wenn das Asyl-Phänomen eine Form der Berufung auf die (nicht-gesatzten) gemeinsamen sozialen Grund-lagen ist, so ist das Asyl-Recht die Form des juridischen Umgangs mit der Berufung auf diese Grundlagen (bzw. der Anrufung dieser Grundlagen).

– Man könnte im Kontext der abendländischen Asylrechtsgeschichte daher formulieren: „Zeige mir, nach welchen Prinzipien Dein Asylrecht bzw. Deine Asylpraxis funktioniert – und Du sagst mir damit, worin das Selbstverständnis Deiner Gemeinschaft besteht.“

Zeillinger, Recht gegenüber dem (herrschenden) Recht Flucht & Asyl-Tagung Wien, 22. April 2016 v0.6 9

– Damit stehen Recht (Rechtspraxis) und Asyl einander als zwei Seiten einer Medaille gegen-über – im Sinne von Anspruch und Verwirklichung.

[ Anmerkungen zur Geschichte des Asylrechts ] – nicht vorgetragen

Für eine Zusammenfassung der abendländischen Geschichte des Asylrechts muss ich mich hier auf einige wenige und sehr allgemein formulierte Bemerkungen beschränken:17

– In der Spätantike wird am Umgang der römischen Kaiser mit dem Asyl die politische Problematik des Asyl-Rechts deutlich: Da es auf der einen Seite offensichtlich nicht möglich war, die Asyl-Praxis zu negieren, versuchte man sie möglichst einzudämmen und zu regle-mentieren, das heißt ihrer Herr zu werden. Die bestehenden Zufluchtsstätten, zumeist Tempel oder ganze Städte, die aus historischen Gründen das Privileg als Asylorte besaßen, mussten sich dieses Privileg von der römischen Zentralinstanz bestätigen lassen.

– Zugleich wurden vom Kaiser Regeln ausgegeben, welche Gründe als Zufluchtsgründe aner-kannt wurden und welche nicht [••••• Beispiele ••••]

– Das ist die eine Seite der Problematik des Asylrechts. – Andererseits kam es aber bereits seit hellenistischer Zeit auch immer wieder zu einem missbräuchlichen Gebrauch der Asylflucht. Beim Umgang mit solchen Missbräuchen lassen sich strukturell zwei Strategien unterscheiden: (1.) Dort, wo es noch ein Gespür gab für die ursprüngliche Bedeutung des Asyls als Anru-fung der Grundlagen der Gemeinschaft, gab es zumindest Ansätze dafür, mit einem Miss-brauch umzugehen: Eine offensichtliche Verletzung dieser Grundlagen – etwa ein Tötungs-delikt an einem Heiligtum – führte zum Ausschluss aus diesem Heiligtum und damit zum Ausschluss aus der Gemeinschaft.18 Im positiven Fall einer nicht-missbräuchlichen Asylflucht kam ihr in den meisten Fällen eine vor allem aufschiebende Wirkung zu, bis in einem geregelten Verfahren der Fluchtgrund verhandelt werden konnte oder sich eine andere Lösung finden lies.19

– Die (2.) zweite Form mit Missbrauch umzugehen lief darauf hinaus, den Zugang zum Asyl anhand von bestimmten Kriterien zu reglementieren – also eigentlich den Ausgang eines künftigen Verfahrens bereits vorwegzunehmen und damit die Funktion des Asyls mehr oder minder zu eliminieren. – Für diese Entwicklung gilt zugleich, dass der Asyl-Missbrauch im engeren Sinn eigentlich erst in dem Augenblick und in dem Maße möglich wurde, in dem

17 Vgl. dazu Kimminich, Geschichte; Otto KIMMINICH, Grundprobleme des Asylrechts (Erträge der Forschung 187; Darmstadt:

WBG, 1993), bes. Kap. II; Martin DREHER, Rom und die griechischen Asyle zur Zeit des Tiberius, in: Robert W. WALLACE / Michael GAGARIN (Hg.), Symposion 2001. Vorträge zur griechischen und hellenistischen Rechtsgeschichte (Akten der Gesellschaft für Griechische und Hellenistische Rechtsgeschichte 16; Wien: Österr. Akademie der Wissenschaften, 22005), 263-282; Gerhard FRANKE, Das Kirchenasyl im Kontext sakraler Zufluchtnahmen der Antike. Historische Erscheinungsformen und theologische Implikationen in patristischer Zeit (Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang, 2003); Richard GAMAUF, Ad statuam licet confugere. Untersuchungen zum Asylrecht im römischen Prinzipat (Wiener Studien zu Geschichte, Recht und Gesellschaft 1; Frankfurt/M.: Lang, 1999); Ortwin HENSSLER, Formen des Asylrechts und ihre Verbreitung bei den Germanen (Frankfurter wissenschaftliche Beiträge. Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Reihe 8; Frankfurt/M.: Klostermann, 1954).

18 Angelos CHANIOTIS, Die Entwicklung der griechischen Asylie. Ritualdynamik und die Grenzen des Rechtsvergleichs, in: Leonhard BURCKHARDT / Klaus SEYBOLD / Jürgen von UNGERN-STERNBERG (Hg.), Gesetzgebung in antiken Gesellschaften. Israel, Griechenland, Rom (Beiträge zur Altertumskunde 247; Berlin-New York: de Gruyter, 2007), 233-246, hier: 241f.

19 Dreher, Asyl 87.

Zeillinger, Recht gegenüber dem (herrschenden) Recht Flucht & Asyl-Tagung Wien, 22. April 2016 v0.6 10

das Asyl zur formalen Möglichkeit des Sich-Entziehens vor einem staatlichen Zugriff ver-kam und die ursprüngliche Berufungsfunktion in Vergessenheit geriet.

– Die wechselhafte, keineswegs kontinuierliche Entwicklung des abendländischen Asylrechts spiegelt so letztlich – speziell seit dem Mittelalter – den Kampf um die Macht, um die politi-sche Letztinstanz, d.h. den Kampf um die Souveränität wieder. Mit der Etablierung eines ausdrücklich Souveränitätsverständnisses in der Neuzeit schwindet zugleich die politische Akzeptanz von Zufluchtsorten. Asyl wird in dieser Entwicklung reduziert auf den Akt einer souveränen Asyl-Gewährung, die jeweils mit einem bestimmten Interesse auf Seiten des Gewährenden verbunden ist. Diese Form des Asylverständnisses knüpft nur noch an die Gestalt der »persönlichen Asylie« bei den Griechen an, die ihren ursprünglichen Ort im internationalen Handel und in der Diplomatie hatte. In dem Maße wie sich das Selbst-verständnis der politischen und juridischen Ordnung als umfassende souveräne Letztinstanz inszeniert, verschwindet auch die juridische Möglichkeit der Berufung bzw. wird die Beru-fung eingegrenzt auf die von der juridischen Ordnung in beschränktem Maße vorgegebenen Möglichkeiten.

– Allerdings muss festgehalten werden, dass mit dieser politischen und juridischen Entwick-lung nicht zugleich auch das existenzielle Phänomen der Asyl-Flucht verschwindet – wie die Geschichte des 20. Jh.s bis in die Gegenwart auf erschreckende Weise gezeigt hat und zeigt. Und so ist die Asylthematik fast zwangsläufig zu einem Dauerthema der heutigen Weltpolitik geworden.

Einige abschließende (zusammenfassende) Bemerkungen

1. Asyl und Recht, Asyl und gesatztes bzw. praktiziertes Recht sind zwei einander entgegenste-hende und dennoch aufeinander bezogene Phänomene.20

2. Insofern die juridische Ordnung und die gelebte gesellschaftliche und politische Ordnung das existenzielle Phänomen des Asyls nicht eliminieren können, wird es für eine gegenwärtige Rechtsphilosophie und Politische Philosophie notwendig sein, die Möglichkeit einer Berufung auch in das Verständnis der Grundlagen des Rechts und des Politischen einzutragen. Vor diesem Hintergrund wird Derridas so oft kritisierter Satz »Die Dekonstruktion ist die Gerechtigkeit« – und werden sein Rekurs auf den Modus des Vielleicht im Bereich des Politischen, sowie die Temporalität des futur antérieur in seiner Rede von einer democratie à-venir zu sehr praxisnahen Forderungen für eine Relecture abendländischer philosophischer Ansätze im Bereich von Recht und Politik. Ein Denken der Souveränität dagegen ist mit dem Phänomen der Hikesie (also der Anrufung einer nicht-identifizierbaren, sondern lediglich symbolisch repräsentierten Letztinstanz) nicht vereinbar – weder mit einer herrscherlichen Souveränität, noch einer Souveränität des Volkes oder irgendeiner anderen identifizierbaren Souveränitätsinstanz. Politische und juridische Souveränität müssen vielmehr stets danach trachten, das Asyl tendenziell zu verunmöglichen, ihm zumindest den Aspekt der Berufung zu nehmen, um ihren eigenen Souveränitätsanspruch zu bewahren. Das Asyl-Phänomen, wie wir es heute vielfach erleben, stellt dagegen schon durch sein Faktum die Ent-

20 Chaniotis, Asylie 235-236.

Zeillinger, Recht gegenüber dem (herrschenden) Recht Flucht & Asyl-Tagung Wien, 22. April 2016 v0.6 11

larvung der Grenzen einer souverän legitimierten Rechts- und Sozialordnung dar. Das Asyl-Phäno-men dekonstruiert somit auf performative Weise die herrschende juridische und politische Ordnung.

3. Abschließend sei nochmals daran erinnert, dass das Asyl-Phänomen keineswegs außerhalb des Feldes des Juridischen und des Politischen steht, sondern gerade für eine solche Ordnung plädiert. Dieses Plädoyer agiert auf dem Feld des Rechts für ein Recht, für eine Rechtspraxis, deren Verwirklichung noch aussteht. Die Asyl-Flucht markiert demnach eine Gestalt des Rechts gegenüber dem herrschenden Recht. Es wird daher zu fragen sein, mit welchen Vorstellungen einer Grund-legung des Rechts oder einer Grundlegung des Politischen, diesem Anspruch, diesem Asyl-Plädoyer, entsprochen werden kann.

4. Die Erkenntnis, dass das Phänomen des Asyls (1.) älter ist als die Entfaltung dessen, was wir heute als Recht bezeichnen, und (2.) strukturell auf derselben Ebene agiert bzw. argumentiert wie das Recht, nötigt dazu, die primäre Aufgabe des Rechts nicht mehr aus der Eindämmung von Gewalt, sondern aus der Gewährleistung gesellschaftlichen Zusammenlebens abzuleiten. [gegen Menke Zitat 6+7] Das Phänomen der Asylflucht ist keineswegs ein Indikator für die Existenz von Gewalt – dafür bräuchte es keine Tempel, die gewalttätigen Übergriffen gegenüber niemals Schutz geboten haben –, [das Phänomen der Asylflucht ist vielmehr ein Indikator] für ein Problem mit dem gesell-schaftlichen Zusammenhalt und seiner juridischen und politischen Repräsentation. Das Asyl-Recht, also die Regelung des juridischen Umgangs mit dem Asyl-Phänomen, müsste sich demnach daran messen lassen, wie es sich dieser Herausforderung stellt.

Die Vorstellung vom Recht als Überwindung von Gewalt – wie es leider auch heute noch (siehe Menke) vertreten wird – setzt geschichtlich zu spät an. Nicht die Gewalt ist das erste Problem der Menschheit gewesen, sondern die Etablierung einer gesellschaftlichen Bindung. Gewalt ist – in sozialer Hinsicht – nicht Ausdruck physischer Kraft oder Macht, sondern Ausdruck des Miss-brauchs oder des Scheiterns sozialer Bindungen. Dieses Scheitern führt zu den Phänomenen der Zuflucht und des Asyls im Sinne einer Rückbesinnung und einer angestrebten Rückkehr zu den (hoffentlich immer noch geteilten) Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Ohne diese Hoffnung macht Asylflucht keinen Sinn. Dort wo das Phänomen der Asyl-Flucht auftaucht, haben nicht nur die Betroffenen, die Hiketai, die Asylanten, ein Problem – sondern es wird zu-gleich das Nicht-Funktionieren der bestehenden Ordnung angezeigt. Dies betrifft zunächst einmal die Ordnung vor der geflohen wird. Zugleich ist aber auch jene Ordnung angefragt, in deren Namen um Asyl angesucht wird. Wird die Gemeinschaft, an die appelliert wird, damit umgehen können – oder wird sie sich das Scheitern ihres Selbstverständnisses eingestehen müssen?

Dr. Peter Zeillinger Wien, 22. April 2016

Recht gegenüber dem (herrschenden) Recht Zur Geschichte und Bedeutung des Asyls

Vorbemerkungen

1. Teil: Geschichtliche »Archäologie« des Asyls

2. Teil: Erste strukturelle Beobachtungen und Konsequenzen zum Asyl-Phänomen

1. Das Phänomen der Asyl-Flucht erweist sich im archäologischen Rückgang als eine Form der Berufung gegenüber einer aktuell herrschenden Rechtspraxis bzw. Rechtsanwendung.

2. Die Hikesie/Asylie findet zugleich innerhalb wie außerhalb der Rechtsordnung statt.

3. Die Asylflucht plädiert an die Grundlagen des Zusammenhalts der Gemeinschaft.

4. Die Flucht an einen Asylort hat strukturell eine doppelte Funktion: 1. Sie bringt – von Seiten des Asylanten – eine Akzeptanz und Unterwerfung unter die

gesellschaftlichen Grundlagen zum Ausdruck, die von diesem Ort repräsentiert werden. 2. Die Asylflucht ist zugleich Anzeichen dafür, dass außerhalb des Zufluchtsorts diese

gesellschaftliche Grundlage nicht angemessen umgesetzt ist.

5. Die abendländische Geschichte des Asyl-Rechts bestätigt und differenziert die ursprüngliche Bedeutung des Asyls – allerdings auf eine zumeist negative Art und Weise: im Versuch der Abwehr des Berufungsaspekts des Asyls.

6. Asyl und Recht sind zwei einander entgegenstehende und dennoch aufeinander bezogene Phänomene.

7. Das Asyl-Phänomen dekonstruiert auf performative Weise die herrschende juridische und politische Ordnung.

8. Das Asyl-Phänomen plädiert auf dem Feld des Rechts für ein Recht, für eine Rechtspraxis, deren Verwirklichung noch aussteht – aber gerade jetzt gefordert ist.

9. Die primäre Aufgabe des Rechts ist nicht aus der Eindämmung von Gewalt, sondern aus der Gewährleistung gesellschaftlichen Zusammenlebens abzuleiten.


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