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Völkerrecht und Sozialismus: Sowjetische versus jugoslawische Perspektiven

Date post: 27-Feb-2023
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Dietmar Müller, Adamantios Skordos (Hg.) Leipziger Zugänge zur rechtlichen, politischen und kulturellen Verflechtungsgeschichte Ostmitteleuropas Leipziger Universitätsverlag 2015
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Dietmar Müller, Adamantios Skordos (Hg.)

Leipziger Zugänge

zur rechtlichen, politischen und

kulturellen Verflechtungsgeschichte

Ostmitteleuropas

Leipziger Universitätsverlag 2015

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Das dieser Publikation zugrunde liegende Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01UG1410 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt liegt bei den Autoren.

© Leipziger Universitätsverlag 2015 Satz: K & M, Leipzig Druck: docupoint GmbH, Barleben Cover: berndtstein | grafikdesign, Radebeul ISBN 978-3-86583-914-5

Arno Trültzsch

Völkerrecht und Sozialismus. Sowjetische versus jugoslawische Perspektiven

Das Verhältnis des Rechts zu seinen ideologischen Prämissen, zum politischen Handeln und seiner gesellschaftlichen Rückbindung scheint ein ewiges, aber immer wieder lohnen-des Sujet für Politikwissenschaftler, Historiker und Juristen zu sein. Gerade was die Ent-wicklung einer internationalen Rechtsordnung betrifft, sollte der Nexus zwischen Außen- und Innenpolitik, Völkerrecht und Gesellschaftsmodell immer wieder bewusst gemacht werden.1 Diesen Nexus zu untersuchen und kritisch zu hinterfragen, dazu mahnen auch die neuesten Entwicklungen im Ukraine-Konflikt, gerade die Annexion der Krim durch Russ-land. Sie befeuern wiederum die Debatten um souveränes Staatshandeln, Selbstbestimmung und Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten als Grundlagen des heutigen internationalen Systems. In der Rückschau hilft uns die Geschichte dabei, heutige Entwicklungen im Völkerrecht besser nachvollziehen und einordnen zu können.

So stellt das sowjetmarxistische Postulat eines eigenständigen (inter-)„sozialistischen Völkerrechts“ ein interessantes historisches Phänomen dar, bei dem die sowjetische Völker-rechtswissenschaft das Scharnier zwischen politischen Anforderungen und Rechtsverständ-nis- bzw. -praxis der Staatsführung bildete, indem sie zwischen außenpolitischem Pragma-tismus und ideologischer Strenge changierte. Obwohl man jede Einmischung der westlichen Mächte in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten aus Gründen der Souve-ränitätswahrung ablehnte und die Befreiungsbewegungen der ehemaligen Kolonien und Protektorate im Sinne des Selbstbestimmungsrechts der Völker aktiv unterstützte,2 ver-teidigten die Sowjetführer und ihre Völkerrechtstheoretiker auch die offen aggressiven Interventionen in andere sozialistische Staaten im eigenen Machtbereich. Wie ging das theoretisch und praktisch zusammen? Darauf sollen hier einige mögliche Antworten gege-ben werden.

Dass ein sozialistischer Staat aber auch anders mit der internationalen Rechtsordnung in

spe für seine Zwecke umzugehen wusste, wobei er außenpolitisch sehr erfolgreich jenseits der sowjetischen Sphäre agierte, beweist das Beispiel Jugoslawiens. Seine politische Elite legitimierte den Vielvölkerstaat besonders durch außenpolitische Erfolge zu Zeiten der Blockkonfrontation, und schaffte es durch Konferenzdiplomatie viele kleine und junge Staaten der Welt in die friedliche Fortentwicklung des internationalen Systems einzubezie-hen.3 Die Blockfreienbewegung war der Ausdruck dieser Anstrengungen. Die jugoslawi-schen Völkerrechtler verfolgten dabei eine stark auf Legitimität und Verrechtlichung der globalen Beziehungen ausgerichtete Lehrmeinung. In ein ebenso staatssozialistisches Sys-tem eingebettet, orientierten sie sich viel stärker an klassischen Lehren und reagierten gleichzeitig auf progressive Entwicklungen. In welchem Zusammenhang standen dabei die unterschiedlichen Völkerrechtstheorien der beiden realsozialistischen Staaten Sowjetunion

1 Vgl. dazu prominent Martti Koskenniemi: The Politics of International Law, Oxford 2011. 2 Vgl. Stefan Troebst: Sozialistisches Völkerrecht und die sowjetische Menschenrechtsdoktrin, in: Nor-

bert Frei/Annette Weinke (Hg.): Toward a New Moral World Order. Menschenrechtspolitik und Völker-recht seit 1945, Jena 2013, S. 94-104, hier: S. 102.

3 Vgl. Robert Niebuhr: Nonalignment as Yugoslavia’s Answer to Bloc Politics, Journal of Cold War

Studies 13 (2011) 1, S. 146-179, hier: S. 147f., 178f.

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und Jugoslawien zwischen 1945 und 1991? Welche Kontraste und Konfliktlinien lassen sich dabei ausmachen?

Blockkonfrontation und Völkerrechtssysteme

Die Definition besonderer völkerrechtlicher Beziehungen im Einflussbereich der Sowjet-union, d. h. in den Staaten des Warschauer Pakts bzw. den (pro-)sozialistischen Staaten ging von der ideologischen Anführerschaft des sowjetischen Gesellschaftssystems und seiner Politik aus, die Moskau für sich in Anspruch nahm. Als „Avantgarde der Weltrevolu-tion“ betrachtete die sowjetische Völkerrechtslehre die Souveränität der sozialistischen Staaten letztlich in Abhängigkeit von ihrem politischen System bzw. ihrer ideologischen Ausrichtung. Dabei wurde die Linientreue zum sowjetischen Modell des sogenannten „pro-letarischen Internationalismus“ immer wieder als maßgeblich dargestellt, sodass die Souve-ränität im Falle einer „Abkehr vom Sozialismus“ (z. B. durch Reformen oder stärkere au-ßenpolitische Unabhängigkeitswünsche) de-facto eingeschränkt wurde.4 Dabei ist diese Doktrin nicht einheitlich ausgelegt oder formuliert worden, sondern stand immer in Abhän-gigkeit zu den entsprechenden politischen Rahmenbedingungen. Die sowjetische Völker-rechtslehre machte, im Unterschied zur westlichen Lesart, und ganz im Sinne des histo-risch-dialektischen Materialismus, keine scharfe Trennung zwischen Außenpolitik und internationaler Rechtsordnung auf: „Der Standpunkt eines Staates zu völkerrechtlichen Fragen wird dabei als Teil seines außenpolitischen Standpunktes angesehen“.5 Aus dieser Grundhaltung heraus wird auch verständlich, warum gerade die Beziehungen zwischen sozialistischen Staaten immer wieder kontroversen Diskussionen unterworfen waren, so-wohl auf tagespolitischer als auch auf akademischer Ebene. Auslöser dieser immer wieder aufflammenden Debatte war in erster Linie der Bruch zwischen der Sowjetunion und Ju-goslawien 1948.6

Neben der politischen Dimension handelte es sich im strikt völkerrechtlichen Sinne hierbei um einen Normenkonflikt zwischen der postulierten „Solidarität der sozialistischen Staaten“ in der Übergangsphase vom Kapitalismus zum Kommunismus und dem anderer-seits zentralen Prinzip der Achtung der Souveränität. Dieser Normenkonflikt übte wieder-um Einfluss auf die Lesarten des Selbstbestimmungsrechts von Völkern und Staaten aus. Dabei stand die Wahrung der Souveränität als äußerer Ausdruck dieser Selbstbestimmung im Fokus. Jugoslawiens Präsident Tito favorisierte diese eindeutig: „Lieber verhungern wir und gehen barfuß, als unsere Unabhängigkeit zu opfern“.7 Auch die jugoslawische Völker-rechtslehre wandelte sich nach 1948 entsprechend. Trotz gleicher ideologischer Rahmenbe-dingungen war sie viel „internationaler“ und vertrat im Sinne der außenpolitischen Block-freiheit immer wieder klassische Ansichten zur Staatensouveränität, zur Nichteinmischung

4 Bekannt unter dem notorischen, aber historisch auf den Prager Frühling verengten Begriff „Brežnev-Doktrin“. Vgl. Stefan Troebst: Speichermedium der Konflikterinnerung. Zur osteuropäischen Prägung des modernen Völkerrechts, Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 61 (2012) 3, S. 405-432, hier: S. 415ff.; Theodor Schweisfurth: Sozialistisches Völkerrecht? Darstellung, Analyse, Wertung der sowjetmarxistischen Theorie vom Völkerrecht „neuen Typs“, Berlin u. a. 1979, S. 567-580.

5 Grigorij Ivanovi Tunkin, 1972, zit. n. Klaus Fritsche: Blockfreiheit aus sowjetischer Sicht. Weltwirt-schaft und internationale Beziehungen, München/London 1986, S. 182; Vgl. auch Schweisfurth, Sozialisti-sches Völkerrecht?, S. 34ff.

6 Vgl. ebd., S. 107. 7 Tito: Govori i lanci, Bd. V, S. 21 zit. n. Leo Mates: Nonalignment: theory and current policy, Bel-

grade/Dobbs Ferry, NY 1972, S. 207.

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und zum Gewaltverbot. Existierte hier also im Gegensatz zur UdSSR ein „ideologiefreier“ Raum? Die Lesart des Völkerrechts unterschied sich zwar deutlich, jedoch hielt man jugos-lawischerseits an gewissen marxistisch-leninistischen Prämissen fest. Wie verstand man in diesem Kontext das Postulat eines eigenständigen „sozialistischen Völkerrechts“ über-haupt?

In diesem Beitrag sollen daher die wichtigsten Unterschiede in einzelnen zentralen Punkten sowjetischer und jugoslawischer Rechtstheorie, -auffassung und -praxis kontrastiv aufgeführt werden. Dabei werden die wichtigsten Lehrmeinungen konzise dargestellt; auf Evolution und Theoretiker wird indes nur punktuell eingegangen. Überblicksdarstellungen zur Entwicklung der sowjetischen Völkerrechtslehre gibt es bereits mehrere; sie stellen eine wichtige Quelle für diese Untersuchung dar.8 Für den jugoslawischen Fall liegen hingegen auf Deutsch und Englisch keine vergleichbaren Studien oder Rechtskommentare vor. Die entsprechenden Vergleichspunkte wurden daher aus autoritativen jugoslawischen Völker-rechtslehrbüchern herausgearbeitet,9 gerade auch ihre Darstellungen zur sowjetischen Inter-ventionsdoktrin.10 Die Lehrmeinungen zur Blockfreiheit wurden ebenso zeitgenössischen politik- und rechtswissenschaftlichen Werken entnommen.11 Zu einzelnen kontroversen Themen und grundlegenden Fragen wurden entsprechende Einzeluntersuchungen herange-zogen, so z. B. zum sowjetischen Rechtspositivismus,12 oder zur jugoslawischen Sicht auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker.13 Auf diese Phänomene soll dann im Hinblick auf den Bruch zwischen Jugoslawien und der Sowjetunion eingegangen werden. Vor allem ist die Frage zu klären, wie Jugoslawiens Ausscheren aus dem sozialistischen Lager in der sowjetischen Völkerrechtslehre als Präzedenzfall für spätere Abweichler wie Ungarn oder die Tschechoslowakei in den Krisenjahren 1956 bzw. 1968 behandelt wurde. Die ostmittel-europäischen Beispiele sind hier einschlägig, um den schon erwähnten Normenkonflikt zwischen staatlicher Souveränität bzw. Selbstbestimmung und dem Postulat des „proletari-schen Internationalismus“ zu bewerten. Schließlich soll der Bruch mit China trotz seiner Komplexität nicht außer Acht gelassen werden, gerade um gewisse Ansätze der „dritten Welt“, ergo der Blockfreienbewegung und Jugoslawiens in diesen Fragen zu verstehen.

Das Wesen des „sozialistischen Völkerrechts“

Was machte das „sozialistische Völkerrecht“ nunmehr aus? Diese Frage kann nur vor dem Hintergrund der historischen Genese der Sowjetunion und ihrer Beziehungen zu anderen

8 Kazimierz Grzybowski: Soviet legal institutions. Doctrines and social functions, Ann Arbor 1962; Schweisfurth: Sozialistisches Völkerrecht?; konzise auch bei Herbert Küpper: Einführung in die Rechtsge-schichte Osteuropas, München u. a. 2005.

9 Juraj Andrassy: Me unarodno pravo, 6Zagreb 1976; Branimir M. Jankovi : Public International Law, Dobbs Ferry, NY 1984. Dabei ist das Buch von Andrassy bis heute, natürlich in entsprechenden Neufas-sungen, eines der Standardwerke in der universitären Juristenausbildung in Kroatien.

10 Jankovi , Public International Law, S. 60-65. 11 Roy Allison: The Soviet Union and the Strategy of Non-Alignment in the Third World, Cambridge

1988; Fritsche, Blockfreiheit aus sowjetischer Sicht; Lars Nord: Nonalignment and Socialism. Yugoslav foreign policy in theory and practice, Stockholm 1974.

12 Bill Bowring: Positivism versus self-determination. The contradictions of Soviet international law, in: Susan Marks (Hg.): International Law on the Left. Re-examining Marxist Legacies, Cambridge 2008, S. 133-168.

13 Ivo Škrabalo: Pravo naroda na samoodre enje i me unarodna zajednica, Jugoslovenska Revija za

Me unarodno Pravo 23 (1976) 1, S. 47-59.

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Staaten gesehen werden. So spiegelte sich die Teilung der Welt in ein kommunistisches und ein kapitalistisches Lager prominent in der Völkerrechtslehre der Sowjetunion wider, die aus den Beziehungen zwischen den sozialistischen Staaten letztlich einen eigenen Rechts-raum mit besonderen Rechten und Pflichten ableitete, also das eigentliche „sozialistische Völkerrecht“ mit der postulierten eigenständigen rechtsnormativen Existenz.14 Das allge-meine Völkerrecht hingegen wurde zwar als grundlegende Norm der Beziehung zu allen anderen Staaten akzeptiert, und daraus erwuchsen auch hier verbindliche Regeln und Pflichten, jedoch entstand diese Rechtsordnung nach sowjetischer Lesart aus den bourgeoi-sen Klassenverhältnissen der kapitalistischen Großmächte, es war also „imperialistisch“ ge-färbt. Es unterschied sich daher qualitativ von den besonderen, engeren und dezidiert ideo-logisch-politisch geprägten Beziehungen zwischen den Staaten des sozialistischen Lagers, was einerseits die „gegenseitige, selbstlose Hilfe“ zwischen sowjetsozialistischen Staaten begründete15, und andererseits zu rechtsdogmatischen Kuriositäten führte, wie z. B. dass Vereinbarungen zwischen den herrschenden kommunistischen Parteien der Bruderländer völkerrechtlichen Verträgen gleichgestellt wurden.16 Jedoch entstammt diese Unterschei-dung nicht den unmittelbaren außenpolitischen Bedingungen nach 1945, sondern geht auf die Entstehungszeit des ersten sozialistischen Staates der Welt im Nachgang der Oktoberre-volution zurück, den man durchaus als Wendepunkt in der Völkerrechtsentwicklung be-zeichnen kann, so auch der jugoslawische Autor Branimir Jankovi in seinem Lehrbuch.17

Mit der völligen Neuausrichtung der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Herrschafts-form wurde auch ein neues Staats- und Staatenbeziehungsverständnis begründet, das schließlich in einer ideologisch angelegten Teilung der Welt in zwei „Völkerrechtskreise“ mündete, die aber durch universelle, allgemein verbindliche Regeln des Völkerrechts zu-sammengehalten würden.

Zu Beginn stand die 1922 konstituierte Sowjetunion mit der Position der zwei „Völker-rechtskreise“ ziemlich allein da. Die Schwierigkeiten, die entstanden, wenn man internatio-nale Beziehungen vor allem durch das Raster des weiter andauernden Klassenkampfes betrachtete, waren beim Aufbau diplomatischer Verbindungen von Beginn an offenbar. Da Klassengegensätze zur eigentlichen Triebkraft aller menschlichen Entwicklung erklärt wurden, stellte sich schon die Frage, ob und wie man überhaupt mit „imperialistischen“ bzw. bourgeoisen Staaten nachhaltige Beziehungen aufbauen konnte. Man ging in der Früh-phase davon aus, dass Sowjetrussland am Anfang einer allumfassenden Weltrevolution stehe, nach deren Durchsetzung andere Akteure im internationalen Geschehen jenseits des Weltpro-letariats ohnehin weitgehend überflüssig sein würden. Hier liegt die Kernidee des schon von Marx projektierten „proletarischen Internationalismus“.18 Die Revolutionäre um Vladimir Il’i Lenin konnten jedoch angesichts der drängenden Probleme, speziell des anhaltenden Kriegszustandes im Jahre 1917 und der militärischen Schwäche ihrer Streitkräfte, diese welt-revolutionäre Linie in den Außenbeziehungen nicht lange durchhalten. Der Separatfrieden von Brest-Litowsk mit dem „imperialistischen“ Deutschen Reich zeigte dieses Dilemma

14 Dabei gab es natürlich immer wieder graduelle Unterschiede und Gegenmeinungen, welche die ge-samte Geschichte der sowjetischen Völkerrechtsdoktrin durchziehen. Nach 1968 hat aber kein sowjetischer Jurist oder Politiker den Sondercharakter des Völkerrechts zwischen sozialistischen Staaten mehr bestritten. Vgl. Schweisfurth, Sozialistisches Völkerrecht?, S. 216f.

15 Ebd., S. 281f. 16 Ebd., S. 354ff. 17 Jankovi , Public International Law, S. 84. 18 Schweisfurth, Sozialistisches Völkerrecht?, S. 49f.

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zwischen Ideologie und Pragmatismus deutlich19 – ein Dilemma, das schließlich den benann-ten Normenkonflikt befeuern sollte. Der Krieg gegen Polen und der Bürgerkrieg gegen die Weißgardisten führten Lenin und seine Mitstreiter schließlich dazu, ihre außenpolitische Position zu modifizieren. Die „Atempause“ in der Weltrevolution ermöglichte eine gewisse Koexistenz neben den kapitalistischen Staaten und somit auch Beziehungen zu ihnen, wenn auch widerwillig.20 Handel und Wirtschaft stellten hierbei die Hauptkommunikationskanäle dar. Mit dem Deutschen Reich nahm die RSFSR durch den Vertrag von Rapallo 1922 die ersten diplomatischen Beziehungen auf, nach Gründung der UdSSR folgten weitere. Die UdSSR selbst betrachteten ihre Gründer anfangs als bloße Keimzelle einer „Weltsowjetrepu-blik“, also einer freien Gemeinschaft freier Völker (sodružestvo), die „Pfeiler der kommenden Weltrevolution“.21 Beziehungen zu kapitalistischen Staaten könnten daher nur pragmatisch und temporär sein.22

Die sowjetmarxistische Völkerrechtstheorie war folglich anfänglich durch die pragmati-sche Außenpolitik Lenins geprägt. Ihr erster, später als „bürgerlich“ disqualifizierter Theo-retiker Andrej Vladimirovi Sabanin plädierte für eine prinzipielle Fortgeltung des tradier-ten Völkerrechts, die der junge Sowjetstaat anzuerkennen habe, wenn er Außenbeziehungen und Verpflichtungen einginge. Für die Beziehungen zu neu entstehenden, unabhängigen Sowjetstaaten sollten nur einige grundlegende Völkerrechtsinstitute wie Fremden- und Diplomatenrecht aus der Tradition her fortgelten, ansonsten aber völlig neue Formen der Zusammenarbeit gefunden werden.23 Dem entgegen sahen Theoretiker wie Evgenij Aleksandrovi Korovin für die Zeit des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus eine Zweiteilung in ein vorerst intersowjetisches und ein allgemeines Völkerrecht.24 Andere Völ-kerrechtler, wie etwa Evgenij Bronislavovi Pašukanis, plädierten für eine Einhaltung tradier-ter Formen (Gewohnheitsrecht und diplomatisches Protokoll), mit denen die UdSSR ihre Interessen der Verbreitung des Sozialismus und der Unterstützung des Befreiungskampfes der unterdrückten Klassen und Völker im althergebrachten Sinne vertreten könne.25 Diese nach der Herrschaftsübernahme Jossif Visarionovi Stalins als „bürgerlich“ gebrandmarkte Lehrmeinung verschwand schließlich mit Beginn des Kalten Krieges nach 1945. Das Ent-stehen des sozialistischen Lagers und der gemeinsamen Verteidungsgemeinschaft des War-schauer Paktes untermauerten zunehmend die sowjetische Doktrin eines völkerrechtlichen Sonderweges und -raumes, wobei die nachfolgenden Theoretiker den Akzent immer mehr auf das außenpolitische Leitbild des „proletarischen Internationalismus“ verschoben.

Die jugoslawische Völkerrechtslehre, die nach dem Krieg und dem sozialistischen Um-bau weiterhin von bürgerlichen Juristen wie Juraj Andrassy26 geprägt blieb, war ent-sprechend flexibler und bezog sich mehrfach auf die Anerkennung der Partisanenarmee

19 Ebd., S. 59f. 20 Ebd., S. 63f. 21 Ebd., S. 80. 22 Stalin änderte dies mit seinem „Sowjetpatriotismus“ in der neuen Unionsverfassung von 1936, wel-

che den territorialen Bestand auf das alte russische Reich als „wahres Vaterland des internationalen Proleta-riats“ (sic!) beschränkte und mittelfristig eine Konföderationslösung der Sowjetunion mit anderen zukünfti-gen proletarischen Staaten vorsah (die nie realisiert wurde). Ebd., S. 87f.

23 Ebd., S. 183f. 24 Ebd., S. 186f. 25 Ein „sozialistisches Völkerrecht“ zu postulieren, erschien Pašukanis „scholastisch“ und zutiefst un-

praktisch und spekulativ. Vgl. Bowring, Positivism versus self-determination, S. 153. 26 Zoran Pokrovac: Juraj Andrassy, in: Michael Stolleis (Hg.): Juristen – ein biographisches Lexikon.

Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 2001, S. 35-36.

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Titos als Kriegspartei,27 um den politischen Vertretungsanspruch der aus der Partisanenar-mee hervorgegangenen Volksfrontregierung zu legitimieren. Darüber hinaus hatten auch die Alliierten auf den Erhalt Jugoslawiens als Gesamtsstaat bestanden und die Partisanen bzw. den Antifaschistischen Rat zur Volksbefreiung (AVNOJ) auf der Konferenz von Jalta als legitime Verbündete anerkannt.28 Dem König wurde die Rückkehr aus dem Londoner Exil verweigert und die Volksfrontregierung konnte ihre Arbeit ab 1945 vollends aufneh-men.29 Eine staatsrechtliche Kontinuität zum ersten Jugoslawien war also effektiv vorhan-den.30 Entsprechend reibungslos verlief die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen, auch unter Einsatz verdienter Diplomaten aus dem Vorgängerregime. Dieser pragmatische Neuanfang in der Außenpolitik spiegelte sich in den weitgehend klassischen Ansichten zum Völkerrecht durch Regierung und Fachleute im zweiten Jugoslawien. Besondere Beziehungen zur Sowjetunion waren bis 1948 natürlich auch vorrangiges Anliegen der jugoslawischen Regierung unter Tito, jedoch wirkte sich das nicht auf das grundlegende Völkerrechtsver-ständnis aus. Jugoslawien betonte von Beginn an die Gleichberechtigung der souveränen, sozialistischen Staaten, was eine „Beachtung der allgemein anerkannten Grundsätze betref-fend die Beziehungen zwischen den Nationen“31 voraussetzte. Der grundlegend marxisti-sche Gestus des Antiimperialismus verband sich hier mit klassischen Vorstellungen eines universellen Völkerrechts zwischen souveränen Staaten und Völkern. Dieser sollte maßgeb-lich für die jugoslawische Lesart von Selbstbestimmungsrecht, Souveränität und Nichtein-mischung werden.32 Das Ausscheiden aus dem Kominform und damit aus dem (sowjet-) sozialistischen Lager befeuerte gleichzeitig die erwähnte Akzentverschiebung innerhalb der sowjetischen Doktrin hin zu einer auch völkerrechtlichen Zweiteilung der Welt.33

Jugoslawien als Präzedenzfall: „Proletarischer Internationalismus“, Souveränität und Selbstbestimmungsrecht

Ausgehend von der schon länger vertretenen außenpolitischen Leitlinie eines „antiimperia-listischen, demokratischen Lagers“ postulierten sowjetische Völkerrechtler immer stärker eine besondere Schutzverantwortung für die gesellschaftlichen Systeme in den sozialisti-schen Staaten. Im Stalinismus fand die ausgeprägte Zwei-Lager-Theorie der Außenpolitik dennoch nicht sofort Eingang in die Völkerrechtsdoktrin. Der „proletarische Internationa-

27 Jankovi , Public International Law, S. 361f.; mit Einschränkungen und ohne konkreten Hinweis auf Jugoslawien auch bei Andrassy: Me unarodno pravo, S. 67f.

28 Marie-Janine Calic: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 154. 29 Im Einzelnen dazu ebd., S. 174-178. 30 Die jugoslawische Volksfrontregierung wurde auf der Jalta-Konferenz kollektiv von den Alliierten

anerkannt. Die Staatennachfolge zum ersten Jugoslawien wurde dadurch unterstützt, dass die Volksrepublik Jugoslawien auch von vielen weiteren Staaten zwischen 1945 und 1946 anerkannt wurde. Jankovi , Public International Law, S. 110f.

31 Schweisfurth, Sozialistisches Völkerrecht?, S. 105. 32 Dabei blieb die Trennung von Völkerrecht und Außenpolitik gewahrt. Eine aktive Koexistenz und in-

ternationale Zusammenarbeit hatte keinen Einfluss auf die Rechtsverbindlichkeit der Staatensouveränität. Blockfreiheit wurde aus jugoslawischer Perspektive nie als völkerrechtlich bindende Position betrachtet. Vladimir Bilandži , Stanko Nick: The Policy of Non-Alignment of Yugoslavia, in: Karl E. Birnbaum (Hg.): Neutrality and Non-Alignment in Europe, Laxenburg 1982, S. 168-200, hier: S. 170ff.

33 Schweisfurth, Sozialistisches Völkerrecht?, S. 100-107, 198f.

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lismus“ blieb vorerst ein politischer Grundsatz und ein ideologisches Rechtfertigungsmittel zur Disziplinierung der kommunistischen Bruderparteien durch die KPdSU und Stalin.34

Die Erhebung des Prinzips in eine völkerrechtliche Sphäre hängt eng mit dem Bruch zwischen Tito-Jugoslawien und der Sowjetunion zusammen. Die Ursachen für den Bruch waren vielschichtig, aber im Grunde verlangte die jugoslawische Parteiführung von der Sowjetunion, sich nicht weiter durch Berater in den Aufbau des Sozialismus im eigenen Land einzumischen. Dazu kamen ungeklärte Fragen zur Stationierung von jugoslawischen Truppen in Albanien und zur weiteren Unterstützung der griechischen und mazedonischen Partisanen im Griechischen Bürgerkrieg35 sowie der ungeklärte Triest-Konflikt, der die Beziehungen zum Westen (v. a. dem NATO-Mitglied Italien) schwer belasteten.36 Jugosla-wien befand sich 1948 aus eigener Perspektive in einer Art doppelten Isolation, die schließ-lich Ausgangspunkt für eine Neuorientierung jenseits der Machtblöcke und Lager wurde.37

Die absolute Achtung der Souveränität im Sinne der Nichteinmischung, wie immer wieder von Tito selbst und auch von einflussreichen jugoslawischen Völkerrechtlern betont wurde, war ein zentrales Prinzip der jugoslawischen Außenpolitik und auch der Völkerrechtslehr-meinung. Ähnlich wie im sowjetischen Fall, wird hier der Zusammenhang zwischen außen-politischem Kurs und den vertretenen völkerrechtlichen Lehrmeinungen mehr als deut-lich.38

In Anbetracht der jugoslawischen Autonomiebestrebungen schlossen sich sowjetische Theoretiker einmütig ihrem Staatschef an, indem sie der „kulakisch-nationalistischen Re-negatenclique Titos“ einen Bruch des Prinzips des „proletarischen Internationalismus“ vorwarfen. Das Ausscheren aus dem „Lager des Sozialismus“ konnte ihres Erachtens nur darin enden, dass Jugoslawien ins „imperialistische Lager“ abdriftete.39 In der Spätphase des Stalinismus lieferte der Tito-Stalin-Bruch damit eine Bestätigung der Zwei-Lager-Theorie: das „Lager des Sozialismus“ musste sich auf eine „friedliche Koexistenz“ langer Dauer ein-stellen, statt eine neue Welle revolutionärer Entwicklungen zu antizipieren. Allgemeine Rechtsgrundsätze der internationalen Beziehungen wurden so einerseits wieder wichtiger,40

andererseits bestärkte diese Feststellung eine weitere ideologische Unterfütterung der Rechtstheorie, z. B. durch Stalins späte Schrift von einer „aktiven Rolle des Überbaus“. Die intersozialistischen Beziehungen wurden nun von „besonderen Beziehungen“ zu solchen eines „prinzipiell neuen Typs“, so die Völkerrechtler David Bencionovi Levin und Fëdor Ivanovi Koževnikov, welche einen „neue[n] rechtliche[n] Überbau“ zeitigten, das eigentli-che sozialistische Völkerrecht.41

34 Ebd., S. 199, 263. 35 Friederike Baer: Zwischen Anlehnung und Abgrenzung. Die Jugoslawienpolitik der DDR 1946 bis

1968, Köln/Weimar 2009, S. 51-55. 36 Mates, Nonalignment, S. 195-199. 37 Ebd., S. 207. 38 In der prinzipiellen Kopplung von Außenpolitik, Ideologie und Völkerrecht liegt Pašukanis’ Ver-

mächtnis, auch nach seiner Verbannung aus den akademischen Kadern. Diese Lehrmeinung begründete auch den ausgesprochenen sowjetischen Rechtspositivismus, der nur noch gesetztes Recht in Verträgen, Übereinkünften und Deklarationen als solches verstand. Bowring: Positivism versus self-determination, S. 152ff.; Jankovi , Public International Law, S. 61.

39 Schweisfurth, Sozialistisches Völkerrecht?, S. 199f. 40 Hier sei ergänzend angemerkt, dass diese „allgemeinen Rechtsgrundsätze“ laut Art. 38 IGH-Statut von

der Mehrheit der sowjetmarxistischen Theoretiker als Völkerrechtsquelle abgelehnt wurden, ganz im Sinne des vorrangigen Rechtspositivismus (Vertragswerke, Gewohnheitsrecht durch Praxis). Norman Paech/Gerhard Stuby: Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen, Hamburg 2013, S. 316.

41 Schweisfurth, Sozialistisches Völkerrecht?, S. 202.

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Diese Radikalisierung der Rechtstheorie im sowjetischen Machtbereich hob auch die Prinzipien des „proletarischen Internationalismus“ und der „gegenseitigen Hilfe“ auf eine neue Stufe in der Normenhierarchie. Sie wurden eindeutig zu einem Faktor, mit dem völ-kerrechtlich „sauber“ (zumindest aus sowjetischer Perspektive mit Blick auf die sozialisti-sche Staatenwelt) die viel älteren Grundsätze von Souveränität, souveräner Gleichheit der Staaten und des Selbstbestimmungsrechts ausgehebelt werden konnten. Jugoslawiens Aus-scheren und unabhängiger Entwicklungsweg sollte keine Nachahmer finden, wobei diese veränderten Rechtsauffassungen schließlich dazu beitrugen, die Interventionen der Sowjet-union bzw. ihrer Bündnispartner 1953 in der DDR, 1956 in Polen und Ungarn sowie 1968 in der Tschechoslowakei zu rechtfertigen. Die rechtsdogmatischen Herleitungen für diesen neuen Grundsatz, um damit neues positives Recht zu begründen, blieben über die „interso-zialistischen Bündnispakte“ (und den schon erwähnten Parteivereinbarungen) hinaus „auf-fallend unscharf“.42 Der Ausdruck des „sozialistischen bzw. proletarischen Internationalis-mus“ wurde in vielen Fällen nie direkt erwähnt; in den wichtigen Verträgen wie dem über den RGW oder im Warschauer Vertrag wurde er mit Gemeinplätzen wie „Kooperation“, „Freundschaft“ oder „gegenseitiger Hilfe“ umschrieben, woraus die meisten Völkerrechtler dann ableiteten, dass der „sozialistische Internationalismus“ als Grundprinzip dahinter stünde. Es sei in den Verträgen damit indirekt zutage getreten und nunmehr für die Völker und Nationen im sozialistischen Lager bindend.43 Die Doktrin lief im Laufe der Jahre einen Wandlungsprozess durch, der es erlaubte immer mehr Rechtsinhalte daran zu binden, wo-von am brisantesten natürlich die der „gegenseitigen Hilfe“ und der „Einheit und Geschlos-senheit“ wirken sollten. Sie halfen dabei, die sowjetische Praxis des Einschreitens gegen „Konterrevolution“ und „Reaktion“ zu rechtfertigen, jenseits staatlicher Souveränität und des Gebots der Nichteinmischung. So findet sich in einem albanisch-sowjetischen Kommu-niqué von 1957 der Grundsatz des „proletarischen Internationalismus“ erstmals vor den (universal akzeptierten) VN-Grundsätzen der territorialen Integrität und Nichteinmi-schung.44

Die sowjetische „Oktoberdeklaration“ von 1956 und die Erklärung zur Besetzung der Tschechoslowakei 1968 nahmen politisch vorweg, was später zu Rechtsprinzipien erhoben wurde – dass die jeweiligen KPs um „Hilfe“ gebeten hatten, um die sozialistische Staats-ordnung gegen die „Konterrevolution“ zu verteidigen.45 Diese Einschätzungen waren dabei ideologischer Konsens und führten noch im gleichen Jahr, 1968, schließlich zur berüchtig-ten „Moskauer Doktrin“, welche den sozialistischen Staaten aufgrund ihres weltrevolutio-nären Auftrags im Falle eines „Abweichens“ vom Kurs des sowjetischen Modells nur noch beschränkte Souveränität zugestand.46 Implizit wurde hier eine Intervention legalisiert, um

42 Ebd., S. 265. 43 Der Theoretiker Tunkin unterstellte im Nachgang der Invasion in die Tschechoslowakei, dass es sich

hierbei um ius cogens handele. Vgl. Thomas D. Grant: Doctrines (Monroe, Hallstein, Brezhnev, Stimson), Oxford 2013, http://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690-e697# law-9780199231690-e697-div1-1 (10.6.2014). Zur Genese des Prinzips in intersozialistischen Verträgen siehe ausführlich Schweisfurth: Sozialistisches Völkerrecht?, S. 267-70.

44 Ebd., S. 127. Dass Albanien schließlich im sino-sowjetischen Konflikt auf der Seite Chinas stand, zeigt die anfängliche Unbestimmtheit dieses Prinzips, das in der Praxis ein Auseinanderdriften des sozialis-tischen Lagers nicht verhindern konnte.

45 Hier hat Stefan Troebst berichtigend angemerkt, dass die postulierte Doktrin auf die Tschechoslowa-kei faktisch gar nicht zutraf, da die Reformen Dub eks in keiner Weise eine „Abkehr vom Sozialismus“ bedeuteten, noch ein Austritt aus dem sozialistischen Lager (im Gegensatz zu Jugoslawien) geplant war. Troebst, Sozialistisches Völkerrecht und die sowjetische Menschenrechtsdoktrin, S. 97.

46 Vgl. umfassend Schweisfurth, Sozialistisches Völkerrecht?, S. 126ff., 144-150.

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den Staaten im eigenen Machtbereich endgültig die Möglichkeit zu nehmen, eine Art „ju-goslawischen Weg“ einzuschlagen.

Bis 1958 hatten der „Renegat“ Jugoslawien und die UdSSR ihre Beziehungen wieder normalisiert, diesmal unter dem Vorzeichen einer stärker propagierten „friedlichen Koexis-tenz“, die später auch für das Verhältnis zur Blockfreiheit und ihrer völkerrechtlichen Ein-schätzung wichtig wurde. Unter (aktiver) „friedlicher Koexistenz“ verstanden die Länder der späteren Blockfreien-Bewegung, allen voran die jugoslawischen Politiker, vornehmlich eine außenpolitische Leitlinie47, während diese Doktrin entsprechend ins Gefüge der sowje-tischen Völkerrechtslehre eingepasst wurde. Normenhierarchisch stellte die Moskauer Doktrin den „sozialistischen Internationalismus“ im Lager des (Sowjet-)Sozialismus mit allen seinen Teilbereichen über dieses Prinzip48. Es regelte weiterhin, implizit im Sinne der Zwei-Lager-Theorie, nur die Beziehungen zwischen Staaten unterschiedlicher Gesell-schaftsordnung, im Sinne eines universalen Völkerrechts „in der Übergangsphase vom Kapitalismus zum Sozialismus“, wenn diese „Phase“ auch länger dauern mochte, als einst von Lenin vorhergesehen.49

Wichtige VN-Grundsätze, wie das Interventionsverbot, die Nichteinmischung und allen voran das Selbstbestimmungsrecht der Völker, welches u. a. auf Lenins frührevolutionäres Denken zurückgeht,50 galten nun vorrangig im Rahmen eines „intersystemaren“ Völker-rechts. Die „neuen Beziehungen“ der Länder des Ostblocks zueinander hatten sich gewan-delt zu einem sowjetischen Hegemonialraum, der nun auch dogmatisch durch die Existenz eines partikularen Rechtsraumes begründet wurde. Allerdings blieb dessen Abgeschlossenheit im Sinne eines „regionalen Völkerrechts“ immer umstritten,51 denn die darin postulierten Normen wichen von den grundlegenden Rechtsauffassungen der sowjetischen Theoretiker zum Staatenverhältnis ab.52 Die Widersprüche wurden besonders bei den als grundlegend erachteten Prinzipien der Souveränität und des Selbstbestimmungsrechts deutlich, die in der sowjetsozialistischen Völkerrechtstheorie als absolut und unverletzlich galten.53 Die manifes-ten Interessenwidersprüche zwischen kapitalistischen und sozialistischen Staaten ließen sich eben nicht durch globale Vereinheitlichung des Weltsystems, und damit latent bourgeoiser Herrschaftsformen überwinden, sondern nur durch die Stärkung fortschrittlicher Prinzipien der zwischenstaatlichen Beziehungen, wozu u. a. die erwähnte „friedliche Koexistenz“ zählte. Diese sahen die sowjetischen Akteure und Theoretiker aber nur durch die Unverletz-

47 Dragan Bogeti : Jugoslovensko-sovjetski odnosi po etkom 60ih godina. Razlika u Titovom i Hruš ovljevom poimanju na ela miroljubive koegzistencije, Istorija 20. veka 29 (2011) 3, S. 205-220, hier: S. 216ff.

48 Kurioserweise war die Doktrin nie förmlicher Bestandteil sowjetischer Völkerrechtsauffassung, sondern wurde, wie bereits gezeigt, aus anderen Inhalten abgeleitet bzw. in die Verträge hinein interpretiert. Troebst, Sozialistisches Völkerrecht und die sowjetische Menschenrechtsdoktrin, S. 96.

49 Fritsche, Blockfreiheit aus sowjetischer Sicht, S. 216. 50 Bowring, Positivism versus self-determination, S. 141-145; Lenins Ideen dazu stehen auch in der

Darstellung der jugoslawischen Autoren am Anfang der Entwicklung eines über das VN-System nunmehr abgesicherten Rechts auf Selbstbestimmung. Jankovi , Public International Law, S. 219f.

51 Paech/Stuby, Völkerrecht und Machtpolitik, S. 318f. 52 Die inhärenten Widersprüche, die ein solch postuliertes Partikularrecht (das nur dem Namen nach

„Völkerrecht“ ist) hervorruft, konnten auch die großen Völkerrechtler wie Tunkin nicht auflösen. Die Auto-rität der KPdSU in außenpolitischen Fragen verhinderte hier eine juristisch saubere positive Herleitung, die völkervertragsrechtlichen Grundsätzen z. B. aus der Charta der Vereinten Nationen Rechnung getragen hätte. Hier von „regionalem Völkerrecht“ zu sprechen, würde dessen fundamentale Gebundenheit an Ver-tragsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze ignorieren. Schweisfurth, Sozialistisches Völkerrecht?, S. 390-395.

53 Paech/Stuby: Völkerrecht und Machtpolitik, S. 316f.

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lichkeit der Souveränität, dem Verbot der Gewaltanwendung und der Intervention gebo-ten.54 Stellte dies nicht einen offenbaren Widerspruch zur Moskauer Doktrin dar? Ja und nein, wie ein Blick in die Genese eines verwandten Prinzips zeigt, das Selbstbestim-mungrecht der Völker.

Dieses war anfangs ein wichtiges Element der sowjetmarxistischen Theorie zur Durch-setzung der Revolution und bildete die Legitimationsbasis des nationalen Befreiungskamp-fes, der Selbstbestimmung und Klassenkampf erst ermöglichen sollte. Der erste große The-oretiker, der Lenin und Stalin zu ihren Überlegungen inspirierte und von diesen auch kritisiert wurde, war der österreichische Sozialist Karl Renner, der die bestehenden Natio-nalitätenprobleme in die Sphäre des Völkerrechts erhob.55 Im Gegensatz zum liberalen Denken eines Woodrow Wilson, der bei seiner Deklaration zum Selbstbestimmungsrecht der Völker wahrscheinlich immer noch die civilised nations, ergo Staaten bzw. deren hete-rogene Staatsvölker im Hinterkopf hatte, bildete dieses marxistische Verständnis von Selbstbestimmung einen Teil der revolutionären Ideologie. Stalin selbst verband in seiner einzigen frühen theoretischen Schrift, „Marxismus und nationale Frage“, mit dem Volks-begriff eindeutig das Vorhandensein eines Siedlungsraumes, im Gegensatz zu den Austro-marxisten Karl Renner und Otto Bauer sowie den pro-zionistischen Kreisen in der Arbei-terbewegung. „Kristallisierte Völker“ gelänge es nur über regionale bzw. kulturelle Autonomie Selbstbestimmung zu erlangen, gerade in überkommenen multinationalen Impe-rien wie dem alten Russland.56 Lenin legte in seiner Polemik zum Thema dann nach, indem er meinte, dass das „Recht auf Selbstbestimmung“ nicht in seiner unmittelbaren „Zweck-dienlichkeit“ [expediency] allein läge, also seine Verwirklichung nicht unmittelbar in Se-zession und Zersplitterung enden müsse. Es sei vielmehr eine Vorbedingung für die Befrei-ung der unterdrückten Klassen, die bisher nicht in einem Nationalstaat als gesellschaftlicher Organisationsform leben konnten.57 Jenseits dieser ideologischen Begründung, ist die Ein-schränkung im Sinne der „Zweckdienlichkeit“ nach der Anerkennung des Selbstbestim-mungsrechts in der VN-Charta und in diversen Deklarationen und Pakten allgemeiner Kon-sens. Ebenso wird dessen zwingender Charakter (ius cogens) nach herrschender Meinung nur durch das Gewaltverbot und die Staatensouveränität normenhierarchisch eingeschränkt, wenn Selbstbestimmung im Inneren verwirklicht ist. Ist dies nicht der Fall, so greift erst dann das äußere Verwirklichungsgebot.58

Allerdings wurde diese Entwicklung hin zu einem universalen Rechtsgrundsatz in der sowjetischen Völkerrechtslehre eingeschränkt, trotz seiner Zentralität in Lenins außenpoli-tischem Denken. Einerseits definierte Korovin 1923, wahrscheinlich angesichts der turbu-lenten Nachkriegsjahre, nunmehr die einmal etablierte staatliche Souveränität als einzigen „legalen Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts“, den er im Gegensatz zur „bourgeoisen“ Forderung nach Selbstbestimmung sah, die zu „Balkanisierung“ durch Sezession führe.59

Andererseits bewirkte der stark positivistische und politische Zugang zum Völkerrecht, wie er von Pašukanis geprägt wurde, eine Zurückdrängung prinzipieller Fragen jenseits von außenpolitischen und ideologischen Vorgaben in der sowjetischen Völkerrechtslehre. Die später erfolgte Hierarchisierung der Grundprinzipien zugunsten zweier Völkerrechtskreise

54 Ebd., S. 317. 55 Otto Kimminich/Stefan Hobe: Einführung in das Völkerrecht, Basel/Tübingen 72000, S. 116. 56 Bowring, Positivism versus self-determination, S. 140f. 57 Ebd., S. 141ff. 58 Kimminich/Hobe, Einführung in das Völkerrecht, S. 116ff. Diese Unterscheidung wurde auch in der

jugoslawischen Völkerrechtslehre geteilt. Škrabalo, Pravo naroda na samoodre enje, S. 50. 59 Bowring, Positivism versus self-determination, S. 157.

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und des „sozialistischen Internationalismus“ hat darin ihren Ursprung. Sie ging zu Unguns-ten von Souveränität und Selbstbestimmungsrecht aus, welche als Rechtsgrundsätze nur noch im Zusammenhang mit der Dekolonisierung und dem Systemgegensatz nach 1945 eine Rolle spielen sollten, nicht aber im Rechtsverkehr zwischen den nur nominell gleich-berechtigten sozialistischen Staaten.60 Ihre Souveränität galt nur insofern als „absolut“, als ihre innenpolitische Entwicklung hin zum Sozialismus führte, ohne dass sich „Klassenfein-de“ in imperialistischer Manier in die inneren Angelegenheiten der sozialistischen Staaten einmischen dürften. Nur im Kontext des intersystemaren Völkerrechts vertrat die sowjeti-sche Außenpolitik und auch ihre Völkerrechtslehrer eine dezidiert souveränitätsorientierte Leitlinie, wenn es also um die eigenen Interessen und die des eigenen Lagers ging.

„Blockfreiheit“ und Sozialismus: Ansichten der sowjetischen Völkerrechtslehre

Die Blockfreiheit als besondere außenpolitische Ausrichtung der SFRJ, also eines sozialis-tischen Staates in Europa außerhalb des sowjetischen Lagers, blieb auch in den Augen der sowjetischen Völkerrechtler lange eine deviante, ja konterrevolutionäre Haltung, die unter dem Terminus „Neutralität“ eine völkerrechtliche Entsprechung fand. Neutralität wurde sowohl im diplomatischen Verkehr als auch in juristischen Kreisen nur am Rande behan-delt, und war eher negativ konnotiert, denn Unparteilichkeit hätte im Kriegsfall (hier war die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs ausschlaggebend) immer dem Feind in die Hände gespielt. Parteilichkeit für die „gerechte Sache“ war dagegen die strikte Forderung der Sowjetunion gerade an neu gegründete Staaten.61 Ironischerweise dürfte diese ideologisier-te Grundhaltung der UdSSR ein Grund für die vielen postkolonialen (durchaus pro-sozialistisch ausgerichteten) Staaten gewesen sein, dem Beispiel Jugoslawiens, Ägyptens, Indiens und Indonesiens zu folgen und sich der Blockfreien-Bewegung anzuschließen. Bis Ende der 1960er Jahre sah die sowjetische Lehrmeinung in der Blockfreiheit keinen beson-deren völkerrechtlichen Status. Sie wurde auch nicht als Teil einer echten (auf Kriege be-zogenen) Neutralität (jenseits der „klassischen“ Einzelfälle Schweiz und Österreich) bewer-tet, sondern letztlich als rein außenpolitischer „Neutralismus“ abgetan, aus dem kein anderer Rechtsstatus erwachse.62 Langsam setzte sich aber aus dieser „dauerhaften“ Positio-nierung einiger Staaten, gerade aus den Reihen der Blockfreien-Bewegung, eine neue Be-trachtungsweise durch, welche sich vom klassischen Neutralitätsbegriff abhob.63 Die sowjeti-schen Völkerrechtler änderten, wahrscheinlich auch angesichts der entspannteren innen- und weltpolitischen Lage, ihre Lehrmeinung. Neben der politischen Agenda der Ostblockstaa-ten, die „Nichtpaktgebundenen“ (so die offiziöse Bezeichnung) stärker in die Prozesse von Friedenssicherung und Abrüstungskontrolle einzubinden,64 ging man in diesem Zusam-menhang daran die Blockfreiheit jenseits des Neutralitätsbegriffs zu verorten. Das Problem

60 Ebd., S. 164. 61 Fritsche, Blockfreiheit aus sowjetischer Sicht, S. 184f. 62 Ebd., S. 1865f. 63 Ebd., S. 187f. 64 So beispielhaft in folgendem Kompendium: DDR und Jugoslawien kämpfen gemeinsam für Frieden

und europäische Sicherheit. Reden und Dokumente zum Staatsbesuch des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Walter Ulbricht, in der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien vom 26. September bis 2. Oktober 1966. Aus der Tätigkeit der Volkskammer und ihrer Ausschüsse, Berlin 1966; sowie bezeichnend auch Harald Lange vom Berliner Institut für internationale Politik der DDR in: Internationales Institut für den Frieden (Hg.): Die Rolle der Neutralen und Blockfreien im Entspannungsprozess. Wien, 26.-29. März 1980, Wien 1980, S. 53-58.

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der Anerkennung eines eigenen Völkerrechtsinstituts lag darin, dass es keine verbindliche vertragliche Ordnung gab, die einen solchen Status begründen würde – denn auch die Blockfreien waren zu Beginn ein rein politischer Zusammenschluss ohne multilaterale Vertragsgrundlage. In bewusster Abkehr von den „Blöcken“ stand hinter der Blockfreien-Bewegung ja gerade keine formale internationale Organisation mit Vertragsgrundlage.65

Bis heute handelt es sich um außenpolitische Absichtserklärungen der souveränen Teil-nehmerstaaten, deren gemeinsames Handeln über Konferenzen und ein Koordinationsbüro organisiert wird. Das Koordinationsbüro stellt den einzigen Bereich dar, der zum Zwecke der Kooperation institutionalisiert worden ist. Die sowjetische Völkerrechtslehre behandelte die Blockfreien-Bewegung dennoch als „neuen Typ“ einer internationalen Organisation mit noch ungeklärter Völkerrechtssubjektivität.66

Somit ging ein Teil der sowjetischen Völkerrechtslehre ab den 1970er Jahren letztlich von einer „souveränen Willensäußerung“ eines Staates aus, die seine Blockfreiheit verbind-lich bekundete, und dies als einziger Geltungsgrund anzunehmen sei.67 Aus sowjetischer Sicht waren daraus entstehende Rechte und Pflichten anfangs stark an das bekannte Völkerrechtsin-stitut der Neutralität angelehnt; die Autoren sprachen dementsprechend von „positiver Neutra-lität“, die jedoch durch ihren politischen Ausdruck in Form der Nichtpaktgebundenheit völlig anders entstanden wäre.68 Noch in späteren Zeiten gab es Gegenmeinungen dazu, sodass nicht von einer einheitlichen Einschätzung der sowjetischen Völkerrechtler ausgegangen werden darf. So meinte z. B. der Völkerrechtler Rais Abdul’chakovi Tuzmuchamedov noch 1981, dass die völkerrechtliche Interpretation zu einseitig auf Friedenssicherung als Geltungs-grund verengt sei,69 obgleich sich daraus das „natürliche Bündnis“ mit den Staaten des sowjetischen Lagers ergebe.70

Weiterhin umstritten blieben die daraus resultierenden Fragen, welche verbindlichen Rechte und Pflichten der „Neutralismus“ bzw. die Blockfreiheit nach sich zöge, wenn sie denn als Völkerrechtsinstitut interpretiert würde. Der „neue revolutionäre Inhalt“ ergäbe ein im Vergleich zur Neutralität verschiedenes Verhalten und somit auch einen anderen Rechtsstatus, so die Völkerrechtler A. A. Davydov und B. G. Chabirov, was aber u. a. von den Kollegen in der DDR abgelehnt wurde.71 Zumindest bei der Einschätzung der Block-freiheit, so klingt es an, scheiterte der sonst stark wirkende und dogmatisch abgesicherte Rechtsexport in die Satellitenländer,72 da hier die Lehrmeinungen offensichtlich auseinan-der gingen. Die gängigste sowjetische Interpretation war jedoch letztlich, dass die Nicht-paktgebundenheit ähnlich einer vertraglich geregelten „klassischen“ Neutralität zu bewer-ten sei, da Selbsterklärungen und Staatenpraxis durchaus Konsequenzen im internationalen

65 Bilandži /Nick, The Policy of Non-Alignment of Yugoslavia, S. 170. 66 Mohammad Salah-uddin Eid: Die blockfreien Staaten in den Vereinten Nationen, München-Pullach/

Berlin 1970, S. 37-40, 54f.; Fritsche, Blockfreiheit aus sowjetischer Sicht, S. 211; No-Hyoung Park: The Third World as an International Legal System, Boston College Third World Law Journal 7 (1987) 37, S. 37-60, hier: S. 48-51.

67 Chabirov, zit. n. Fritsche, Blockfreiheit aus sowjetischer Sicht, S. 193. 68 Ebd., S. 190. 69 Ebd., S. 191. 70 Ebd., S. 190. Diese Haltung entsprach dem bereits auf dem XX. Parteitag der KPdSU von 1956 be-

schlossenen außenpolitischen Kurswechsel hin zu einer langfristigen „friedlichen Koexistenz“ aller Lager, wobei das sozialistische Lager und die „Dritte Welt“, verstanden als „sowohl sozialistische als auch nicht-sozialistische friedliebende Staaten“, eine neue „Zone des Friedens“ über die Lagergrenzen hinweg bilden sollten. Ebd. S. 69ff.

71 Ebd., S. 191f. zur Abweichenden Lehrmeinung in der DDR vgl. bes. Fn. 13. 72 Küpper, Einführung in die Rechtsgeschichte Osteuropas, S. 579f.

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Rechtsverkehr hätten, die aber im Falle der Blockfreiheit bzw. „positiven Neutralität“ nicht reines Gewohnheitsrecht darstellen, sondern durchaus von einer Reihe bilateraler Verträge und gegenseitiger Verpflichtungen flankiert würden, die ein solches Verhalten begründeten bzw. nahelegten.73 Verbindlich erschien den meisten sowjetischen Theoretikern die Einhal-tung der Prinzipien der friedlichen Koexistenz, die von vornherein eine „antisowjetische Haltung“ blockfreier Länder in ihrem internationalen Gebaren ausschlösse und das erwähn-te „natürliche Bündnis“ mit der Sowjetunion gar formalrechtlich begründete.74 Den realpo-litischen Hintergrund solcher Ansichten bildete die Hoffnung der sowjetischen Strategen, den radikalen antikolonialen und antiimperialistischen Impetus der Anfangsjahre in der Blockfreien-Bewegung, gerade durch die (pro-)sozialistischen Mitgliedsstaaten und ihre Regierungen getragen, langfristig strukturell zu etablieren und einen antiwestlichen und latent kapitalismuskritischen Bündnispartner zu gewinnen.75 Am klarsten trat dies in der offen prosowjetischen Haltung Kubas als Mitglied der Blockfreien-Bewegung zutage. Kuba war daher auch das beste Beispiel dafür, was Tuzmuchamedov in diesem Fall mit dem postulierten „natürlichen Bündnis“ meinte:

It is possible not to be a member of the military-political unions of the socialist states, but it is impossible to set oneself outside the bounds of socialist internationalism regulating the relations between all socialist states.76

Der offiziöse sowjetische Ausdruck „Nichtpaktgebundenheit“ verrät daher schon, dass „Blockfreiheit“ sich auf Blöcke im Sinne von (Militär-)Pakten bezog, jedoch nicht auf das „Lager“ im Sinne des Sozialismus. Tuzmuchamedov meinte gar, dass zwischen dem au-ßenpolitischen „Klassenstandpunkt“ und der Nichtbeteiligung an Bündnissen gar kein Wi-derspruch bestünde.77 Laut der sowjetischen Doktrin ergäben sich allein schon aus ideologi-schen Gründen keine Widersprüche oder Antagonismen zwischen sozialistischen Staaten. Daraus musste folgen, dass ein solcher Staat im Falle eines Konflikts mit einem anderen sozialistischen Staat seinen sozialistischen Charakter im Kern verlöre und erst mit Beendi-gung des Konflikts wieder erlange.78 Ein „eigener Weg zum Sozialismus“ sei daher schon doktrinär nicht zulässig, trotz anderslautender Erklärungen aus der Sowjetunion, wie Jankovi aus jugoslawischer Perspektive kritisch feststellt.79

Angesichts dieser Implikationen des „sozialistischen Internationalismus“ blieb aus Sicht der unabhängigen und kleineren sozialistischen Staaten wie Jugoslawien immer ein Restri-siko, dass die Sowjetunion und ihre Verbündeten unter Berufung auf diese Lehrmeinung sich ermächtigt sehen könnten, auch ihnen die gefürchtete „brüderliche Hilfe“ angedeihen zu lassen. Daher wird auch verständlich, warum diese Doktrin, trotz Vorstößen seitens Kubas u. a., von der Blockfreien-Bewegung nie als legitim erachtet wurde, trotz des sowje-tischen Engagements in den antikolonialen Befreiungsbewegungen. Gerade Jugoslawien blockierte hier eine stärkere Annäherung an sowjetische Haltungen, die den sozialistischen

73 Fritsche, Blockfreiheit aus sowjetischer Sicht, S. 193ff. 74 Allison, The Soviet Union and the Strategy of Non-Alignment in the Third World, S. 35f. 75 Ebd., S. 45. 76 Tuzmuchamedov [Tuzmukhamedov] zit. n. ebd., S. 49. 77 Ebd., S. 50. 78 den Wortlaut der Brežnev-Doktrin bezüglich der „anti-sozialistischen Kräfte in der Tschechoslowa-

kei“, die es real nie gegeben hat, sondern nur eine reformsozialistische Fraktion innerhalb der KP . Deren kritische Haltung gegenüber dem Sowjetmodell und ihre eigenen Vorstellungen zur außenpolitischen Orientie-rung der Tschechoslowakei reichten jedoch, um sie derart zu brandmarken. Vgl. Grant, Doctrines (MPEPIL), Abs. 22; sowie Troebst, Sozialistisches Völkerrecht und die sowjetische Menschenrechtsdoktrin, S. 96.

79 Jankovi , Public International Law, S. 65.

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Staaten innerhalb der Blockfreien-Bewegung nolens-volens die Rolle eines Erfüllungsgehil-fen sowjetischer Interessen suggerierten.80

Realpolitisch hatte sich der Mythos vom „natürlichen Bündnis“ mit dem sozialistischen Lager jedoch bereits im Verlauf der 1960er Jahre überlebt, als die chinesische KP der Sow-jetunion wiederholt „Revisionismus“ vorwarf und schließlich sogar auf Konfrontationskurs gegen sie ging.81 Die „Einheit des Lagers des Sozialismus“ war endgültig dahin, was sich auch in der Ablehnung des „Völkerrechts als imperialistisches Herrschaftsinstrument“ seitens der maoistischen Parteilinie zeigte.82 Der Bruch mit China scheint jedoch die Ängste in Moskau vor einem weiteren Auseinanderdriften seiner Einflusssphäre soweit geschürt zu haben, dass man die postulierten Prinzipien bis hin zur Moskauer Doktrin weiter radikali-sierte.

Jugoslawische Sichtweisen: Rückkehr zu „klassischen“ Lehren des Völkerrechts?

Demgegenüber spricht die jugoslawische Lehrmeinung eine deutlich klarere Sprache. Wie auch im völkerrechtswissenschaftlichen Mainstream wurde der Blockfreiheit zwar ein Be-zug zur internationalen Rechtsordnung zugesprochen, die für eine Neuordnung und Neu-ausrichtung der internationalen Beziehungen stand (Antikolonialismus, globale soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit).83 Jedoch beschränkt z. B. Vladimir Ibler den Begriff auf das Feld der internationalen Politik, und spricht ihm eine originär rechtliche Bedeutung ab:

Vom Standpunkt des Völkerrechts aus ist es unumgänglich zu betonen, dass die Blockfreiheit weder ein Völkerrechtsinstitut noch eine Völkerrechtsnorm, sondern eine explizit außenpolitische Orientierung ist.84

Bei Andrassy wird die Blockfreiheit nur indirekt erwähnt, als Ausdrucksform stärkerer politischer Unabhängigkeit gegenüber den Großmächten, indem viele kleine und junge Staaten außerhalb der Machtblöcke und Bündnisse an einer internationalen Friedens- und Rechtsordnung arbeiten85 bzw. als Komponente der grundlegenden Ausrichtung der Orga-nisation für afrikanische Einheit, die im Abschnitt zu regionalen Organisationen behandelt wird.86 Neutralität definiert wiederum dieses Lehrbuch klassisch als Teil des Kriegsrechts,87

bzw. als dauernde Neutralität historischer Provenienz einzelner gesonderter Völkerrechts-subjekte und Staaten.88 Die jugoslawische Außenpolitik im Sinne der Blockfreiheit (nes-

vrstanost)89 ist dabei an keiner Stelle Gegenstand der Erörterungen zu Fragen der Nicht-

80 Allison, The Soviet Union and the Strategy of Non-Alignment in the Third World, S. 50ff. 81 Schon 1954 klammerte Chinas KP-Führung in der Fünf-Punkte-Deklaration zur Beendigung des

Grenzkonflikts mit Indien die „Pflicht zur Kooperation“ aus ihrer Auffassung der „friedlichen Koexistenz“ aus und entfernte sich in der Folge doktrinär immer nachhaltiger von der UdSSR bzw. der KPdSU. Vgl. Nord, Nonalignment and Socialism, S. 67.

82 Bhupinder Chimni: Marxism, Oxford 2007, http://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/97801992 31690/ law-9780199231690-e1439?rs key=vasRQZ&result=5&prd=OPIL (10.6.2014).

83 Paech/Stuby, Völkerrecht und Machtpolitik, S. 262. 84 Vladimir Ibler: Rje nik me unarodnog javnog prava, ²Zagreb 1987, S. 13. 85 Andrassy, Me unarodno pravo, S. 366. 86 Ebd., S. 432f. 87 Ebd., S. 573-572. 88 Ebd., S. 113-117. 89 Wie sie z. B. hier beschrieben wird, Ljubomir Radovanovi : Nesvrstanost: osnovi jedne doktrine

me unarodne politike, Beograd 1973.

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einmischung (nemješanje) und Unparteilichkeit (nepristranost) im Kriegsfalle.90 Sie wird explizit nur als politische Option gegen die Blockkonfrontation der Großmächte in der historischen Genese der VN-Systems und des modernen Völkerrechts erwähnt.91 Ebenso sehen es Bilandži und Nick in ihrer Einschätzung zum Verhältnis von außenpolitischer Nichtgebundenheit und Rechtsfragen: „[N]onalignment has not been codified, neither within the framework of the movement, nor probably in the national legislation of individu-al member countries.“92

„Aktive friedliche Koexistenz“ war dabei eine der jugoslawischen Leitlinien, die jen-seits eines unterstellten „Neutralismus“93 aktive Zusammenarbeit zwischen kleinen und jungen Staaten suchte, um die Blockkonfrontation zu überwinden und über die Vereinten Nationen ein internationales System aktiver Friedenssicherung zu errichten, offen gegen-über den Machtblöcken und über diese hinaus.94 Das Ziel wurde in einer Zusammenarbeit und einem System kollektiver Sicherheit und globaler Entwicklungschancen verortet, im Grunde unabhängig von innerstaatlichen Regierungs- und Gesellschaftsformen.95 Dem Namen nach wurde dieses Konzept zwar ausdrücklich von sowjetischer Seite begrüßt, wi-dersprach aber in seinem Inhalt dem eigenen Verständnis von „friedlicher Koexistenz“. Wieder handelte es sich vorrangig um eine außenpolitische Leitlinie im Rahmen einer glo-balen Orientierung (Blockfreiheit), jedoch nicht um ein ideologisches Grundprinzip im Zeichen des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus, das für „Nichtpaktgebun-dene“ konkrete Pflichten im Rechtsverkehr nach sich zöge, wie von den sowjetischen Auto-ren behauptet wurde.96 Auch spielte der „sozialistische Internationalismus“ in der jugosla-wischen Außenpolitik keine Rolle, wenn es um die eigene blockfreie Position ging. Der Begriff selbst scheint in der jugoslawischen Völkerrechtslehre keine Legaldefinition zu haben; er taucht nur bei Jankovi auf. Das in der Brežnev- oder Moskauer Doktrin einbezo-gene Prinzip der „brüderlichen Hilfe“, das den Einmarsch in die Tschechoslowakei legiti-mierte, widersprach dem von der Blockfreien-Bewegung als grundlegend erachteten Gebo-ten der Nichteinmischung, souveränen Gleichheit der Staaten und Achtung der territorialen Integrität.97 Realpolitisch bewirkte Jugoslawiens Protest dagegen wenig;98 rechtsdogma-tisch zeigte sich aber endgültig, dass es in dieser Lesart so etwas wie ein gesondertes „sozi-alistisches Völkerrecht“ nicht gab.

90 Andrassy, Me unarodno pravo, S. 565. 91 Es gibt also einen Bezug zur Völkerrechtsentwicklung, ohne dass „Blockfreiheit“ einen völkerrechtli-

chen Charakter per se hätte. Ebd., S. 37. Siehe auch Jankovi , Public International Law, S. 75. 92 Bilandži /Nick, The Policy of Non-Alignment of Yugoslavia, S. 170. 93 Sowohl den Begriff „Neutralismus“ als auch „positive Neutralität“ lehnt z. B. Jankovi ab, da Block-

freiheit und aktive friedliche Koexistenz mit der klassischen „Neutralität“ weder rechtsdogmatisch noch inhaltlich übereinstimmten. Hier verwirft er sehr klar die sowjetischen Lehrmeinungen. Jankovi , Public International Law, S. 69f.

94 Fritsche, Blockfreiheit aus sowjetischer Sicht, S. 216f. 95 Jankovi , Public International Law, S. 72ff. 96 Diese orientierten sich mit ihrem „Pflichtenkatalog“ wiederum außerordentlich stark am außenpoliti-

schen Aktionsprogramm der UdSSR bzgl. Fragen der Abrüstung, Friedenssicherung und Koexistenz. Frit-sche, Blockfreiheit aus sowjetischer Sicht, S. 200.

97 Diese Prinzipien erwähnt z. B. Andrassy mehrfach, explizit als Teil einer blockfreien Politik und Hal-tung wiederum beim Abschnitt zur Organisation für afrikanische Einheit. Andrassy, Me unarodno pravo, S. 433.

98 Irena Reuter-Hendrichs: Jugoslawische Außenpolitik 1948–1968: Außenpolitische Grundsätze und internationale Ordnungsvorstellungen. Eine Untersuchung der überregionalen Tagespresse, Köln u. a. 1976, S. 260f.

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Der „sozialistische Internationalismus“ blieb dennoch richtungweisend für die Außen-beziehungen des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens (BdKJ), jedoch nicht in Form einer ideologischen Anführerschaft, sondern als Politik der Solidarität mit nationalen und antikolonialen Befreiungsbewegungen in der Welt bzw. mit den sozialistischen Parteien, die dahinter stünden. Den Ausschluss aus dem sowjet-sozialistischen Block nutzte die Par-teiführung, um den Grundsatz in „orthodox“-marxistischer Manier wieder zum Modus der internationalen Zusammenarbeit sozialistischer Parteien zu erklären, diesmal im Rahmen der Blockfreien-Bewegung. Daraus einen Hegemonialanspruch über Form und Inhalt des sozialistischen Staatsaufbaus und -verhaltens abzuleiten, wie es die Sowjetunion durch den Einbezug des Grundsatzes in ihr Völkerrechtsverständnis tat, lehnte man ab.99 Der jugosla-wisch-mazedonische Parteitheoretiker Kiro Hadži Vasilev lieferte dazu folgende Begrün-dung aus marxistischer Sicht:

The term “a socialist camp” is nothing but a political formula for glossing over these contradic-tions within socialism. Just as these interests of groups and individuals are not identical within so-cialist nations, so are there conflicting interests between these countries.100

Gerade um diese Kontraste und Unterschiede in den beiden Auffassungen aufzuzeigen, rezipierten spätere Autoren wie Jankovi die sowjetischen Theorien durchaus. Ein längerer Abschnitt seiner völkerrechtlichen Abhandlung setzt sich ausschließlich mit „Soviet theo-ry“ auseinander, wobei Kritik nicht lange auf sich warten lässt. Die Zweiteilung der sowje-tischen Völkerrechtslehre in eine Periode von 1917–1945 und ab 1945 entspricht der Dar-stellung von Theodor Schweisfurth,101 auch mit Blick auf die Unterteilung in die Stalin-, Chruš ëv- und Brežnev-Ära nach 1945.102 Eingehend wird die ideologische Fundierung und die positivistische Grundhaltung bzw. Rückgebundenheit der sowjetischen Völker-rechtslehre an die Politik der UdSSR behandelt.103 Wie schon in der Diskussion um die Blockfreiheit sozialistischer Staaten angeklungen ist, wird der „sozialistische Internationa-lismus“ als Norm eines sowjetsozialistischen Sondervölkerrechts eingehend kritisiert, und auch sein Widerspruch zur Staatensouveränität herausgestellt. Jankovi erwähnt dabei explizit die Intervention in der Tschechoslowakei als Beginn einer fünften Phase der sowjetischen Theorie, die einen Sonderweg zum Sozialismus, außen- wie innenpolitisch, ausschlösse.104

Der Autor stellt in diesem von Partikularnormen geprägten Sondervölkerrecht große Unge-reimtheiten dar, da z. B. das Verhältnis zum universalen Völkerrecht in bestimmten zwi-schenstaatlichen Regelungsbereichen unklar bliebe. Außerdem wird das ideologische Sen-dungsbewusstsein der sowjetischen Theorie problematisiert, welche langfristig die geltenden Normen des universalen Völkerrechts durch diese neuen Regeln abgelöst wissen möchte.105

Diesem „sozialistischen Völkerrecht“, das letztlich von tagespolitischen Gegebenheiten abhängig sei, stellen Jankovi und andere jugoslawischen Völkerrechtler ihre legaldogmati-sche Sicht auf den internationalen Rechtsverkehr gegenüber: „We hold the view that inter-national law is a legal discipline, just as every branch of law“ [Hervorhebung i. O.].106 An

99 Nord, Nonalignment and Socialism, S. 42-63. 100 Kiro Hadži Vasilev zit. n. ebd., S. 62f. 101 Schweisfurth, Sozialistisches Völkerrecht?, S. 181-220. 102 Jankovi , Public International Law, S. 60f. 103 Auch die wichtigsten Theoretiker dieser Lesart wie Pašukanis, Tunkin oder Korovin werden erwähnt.

Ebd., S. 61, 63f. 104 Ebd., S. 64f. 105 Ebd., S. 64. 106 Ebd., S. 8.

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gleicher Stelle vertritt Jankovi die Auffassung einer stetig wachsenden, echten internatio-nalen Rechtsordnung mit besonderem Charakter, die aber deren Rechtsnatur nicht beträfe, sondern deren Quellen und Subjekte, wobei die Vereinten Nationen eine besondere Rolle spielen. Aus jugoslawischer Sicht, wenn man so verallgemeinern möchte, gab es also nur das Völkerrecht. In seiner historischen Überblickdarstellung erwähnt Jankovi jedoch lo-bend die „progressiven Prinzipien“ der Oktoberrevolution, welche „property and tradition of democratic international law“ geworden seien, ohne jedoch diese näher zu benennen.107

Es klingt dabei an, dass zumindest die frühsowjetischen und marxistisch geprägten Völker-rechtsauffassungen affirmativ zur Kenntnis genommen wurden.

Was das Selbstbestimmungsrecht der Völker angeht, so liegt mit dem Text von Igor Škrabalo aus dem Jahre 1976 eine interessante Einschätzung zugrunde, die Jugoslawiens blockfreie Haltung und Solidarität mit den jungen Staaten der Welt Rechnung trägt. Der aktuelle Hintergrund einer Neubewertung bzw. Diskussion des Selbstbestimmungsrecht lag für ihn einerseits in der von Jugoslawien unterstützten Dekolonisierung, andererseits in seiner Anerkennung als Prinzip u. a. durch die VN-Charta bzw. gewohnheitsrechtlich durch die „Friendly Relations Declaration“ der Generalversammlung 1970.108 Ohne Einschrän-kung geht er von einem „universellen und ewigen Recht“ (univerzalno i trajno pravo) aus, auch wenn in der Praxis damit fast immer der Dekolonisierungsprozess gemeint sei. Die Rechtslage im Rahmen des VN-Systems stelle laut Škrabalo keine Garantie für die Umset-zung eines äußeren Selbstbestimmungsrechts dar, wie in den gegensätzlichen Fällen Biafras (keine Unabhängigkeit) und Bangladeshs (Unabhängigkeit) deutlich werde.109 Eine Reihe „außerrechtlicher Kriterien“ bestimmten immer noch das Staatenverhalten im Falle von Anerkennung oder Negation einer Unabhängigkeitserklärung. Der Wunsch nach einer stär-keren Verrechtlichung der internationalen Beziehungen über das VN-System drückt sich aus, indem mehrfach Resolutionen der Generalversammlung (also soft law) als Argumenta-tionshilfe herangezogen werden, die das Selbstbestimmungsrecht als Teil einer gleichbe-rechtigten Staatenwelt und von freundschaftlichen Beziehungen projektieren.110 Einige Jahre später meinte dann Jankovi in seinem besagten Lehrbuch, dass das Selbstbestim-mungsrecht gewohnheitsmäßig zu einem rechtlichen Grundprinzip der internationalen Be-ziehungen geworden sei und auch ein Anrecht souveräner Völker und Staaten enthielte, über Ressourcen und den eigenen natürlichen Reichtum frei und ohne Einmischung zu verfügen.111 Sowohl Škrabalo als auch Jankovi fassen das Selbstbestimmungsrecht, das prinzipiell ein kollektiv ausgeübtes Individualrecht sei,112 also sehr weit, was auch den Positionen der Blockfreien zu globaler Gerechtigkeit entsprach.113

Das Sezessionsrecht wird sehr kritisch erörtert; es findet nur als ultima ratio bei fehlen-der innerer Selbstbestimmung Anwendung, wenn diese nur noch durch äußere Unabhän-gigkeit vom Gesamtstaat erreicht werden könne. Dabei wird auch Lenins anfänglich radika-le Sicht auf dieses Problem erwähnt. Allerdings schlägt Škrabalo ein Gradualmodell vor, in dem die Sezession auf Kosten der Souveränität des Gesamtstaates nur als ein letztes Mittel in einer Kette von verschiedenen Lösungen wie Föderation, Vereinigung, Autonomie oder Kondominium betrachtet wird, und führt dabei auch den umgekehrten Weg als Teil des

107 Ebd., S. 44. 108 Škrabalo, Pravo naroda na samoodre enje, S. 47f. 109 Ebd., S. 49f. 110 Ebd., S. 51. 111 Jankovi , Public International Law, S. 220. 112 Ebd. 113 Mates, Nonalignment, S. 354.

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Selbstbestimmungsrechts an: eine freiwillige Vereinigung (wie im Falle Ägyptens und Sy-riens zu Beginn der 1960er) oder eine föderative Republik (Jugoslawien).114 Laut Škrabalo ergibt sich jedoch kein Grundrecht auf Staatlichkeit aus dem Selbstbestimmungsrecht, zumal der „Volks“-Begriff sich nur an subjektiven Faktoren, jenseits einer allgemein anerkannten Legaldefinition festmachen lasse, und damit die Träger des Selbstbestimmungsrechts zuwei-len unklar blieben, wenn man sie jenseits der bestehenden Staaten als „Subjekt in spe“ im Völkerrecht erfassen will.115 Im Fall einer schweren Verletzung der innerstaatlichen Selbst-bestimmung bestimmter Bevölkerungsteile (wie im Falle des Apartheidregimes in Südafri-ka) sei die erwähnte ultima ratio erreicht und auch fremde Hilfe gerechtfertigt, jedoch nicht militärischer Art, was der „Friendly Relations Declaration“ entspreche.116

Diese Einschätzung widerspricht grundlegend der sowjetischen Sicht zur „brüderlichen Hilfe“ zwischen sozialistischen Staaten, da sie eine militärische Option zur Erreichung der Selbstbestimmung (und sei damit aus dieser Perspektive die Erhaltung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung gemeint) prinzipiell ausschließt. Die absolute Souveränität, die vor Sezession schützt, sei jedoch zu hinterfragen, wenn der Staat sich nicht im Sinne der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker verhielte, also außerhalb der Regeln des VN-Systems agiere.117 Ein solches Verhalten, so könnte man es interpretieren, läge erst recht vor, wenn eine Intervention bzw. militärische Unterstützung zugunsten eines Bevöl-kerungsteiles oder einer fremden Regierung stattfände. Es wäre damit grundsätzlich rechtswidrig. Souveränität sei immer an die Rechte und Pflichten der Staaten geknüpft, wie sie heutzutage im VN-System niedergelegt sind, so Jankovi .118 Das Gebot zur Zusammen-arbeit mit der Staatengemeinschaft sowie die effektive Regierungsgewalt würden die Sou-veränität garantieren. Sie dürfe nicht zur Umgehung oder zur Vermeidung internationaler Verpflichtungen dienen – prinzipiell tritt die Souveränität also gerade in ihrer Verletzung zu Tage.119 Das Interventionsverbot stand daher im Mittelpunkt der jugoslawischen Auffas-sung zur Staatensouveränität, ganz im Sinne der „souveränen Gleichheit“ der Staaten.120

Die jugoslawischen Autoren vertraten also durchaus kreative und innovative Ansätze in ihrem Völkerrechtsverständnis, das zwar im Gegensatz zur UdSSR auf klassischen Lehren zu Souveränität und Staatenpraxis fußte, jedoch besonders das System der Vereinten Natio-nen und die postkoloniale Realität nach 1945 in ihre Ansichten einbezog.

„Sozialistisches Völkerrecht“ zwischen Ideologie und Realität

Wie der Vergleich mit den jugoslawischen Positionen zeigt, bewegten sich sowohl die sowjetische Staatenpraxis als auch ihre Völkerrechtstheorie entlang einer Reihe von wider-sprüchlichen Prinzipien, die aus einer bestimmten Lesart der marxistisch-leninistischen Staatslehre hergeleitet wurden. Diese Lesart war wiederum die Folge des sowjetischen

114 Škrabalo, Pravo naroda na samoodre enje, S. 54ff. 115 Ebd., S. 58. 116 Ebd., S. 55; Vgl. auch die herrschende Meinung in Deutschland bei Kimminich/Hobe: Einführung in

das Völkerrecht, S. 117. 117 Škrabalo, Pravo naroda na samoodre enje, S. 55. 118 Jankovi , Public International Law, S. 114. 119 Ähnlich der sowjetischen Auffassung sahen die jugoslawischen Autoren auch, dass sozialistische

Staaten wegen ihres „planned management“ besonders empfindlich auf der Beachtung ihrer Souveränität beharrten, da staatliche und wirtschaftliche Tätigkeit eng miteinander zusammenhingen. Ebd., S. 117.

120 Art. 2, Abs. 1 VN-Charta und die dazu herrschende Meinung bei Kimminich/Hobe, Einführung in das Völkerrecht, S. 292. Im jugoslawischen Fall ebenso bei Jankovi , Public International Law, S. 119.

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Alleinvertretungsanspruches auf die Auslegung des Sozialismus. Die propagierte Zweitei-lung in Völkerrechtskreise scheiterte an der Realität, die zeigte, dass sozialistische Gesell-schaftsordnungen auch außerhalb und gegenläufig zur sowjetisch dominierten Sphäre exis-tieren konnten. Die divergierenden Auffassungen vom sozialistischen Staatsaufbau und von der Gestaltung der internationalen Beziehungen zeigten deutlich die Grenzen des „sozialis-tischen Völkerrechts“ auf, beginnend in Jugoslawien, dann in China und später auch in Albanien. Am jugoslawischen Beispiel wird deutlich, dass sich ein sozialistisches Ein-Parteien-System trotz seiner marxistischen Grundhaltung in der Rechtstheorie an der Wei-terentwicklung des angeblich „bourgeoisen“ VN-Systems aktiv mitwirken und sich an der weiteren Verrechtlichung der internationalen Beziehungen beteiligen konnte. Vielmehr führte der ausgeprägte Rechtspositivismus, der aus der Ideologie heraus die sowjetische Interes-senpolitik durch Erklärungen, Verträge und einseitige „Rechtsauffassungen“ zu geltendem Völkerrecht „im Klassenkampf“ proklamierte, in eine doktrinäre Sackgasse, die erst in der Perestrojka wieder verlassen wurde.121

Die Moskauer Doktrin blieb der stärkste Ausdruck der sowjetischen Intention, partiku-lare Rechtsnormen jenseits des universellen Völkerrechts, wie es immer stärker im Rahmen der Vereinten Nationen hervortrat und -tritt, zu etablieren. Letztlich scheiterte dieser Ver-such aber auch am Widerspruch zu den eigenen völkerrechtlichen Prämissen und Grund-prinzipien, wie der Achtung der Souveränität und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker:

[T]he principle, then right, of self-determination played […] a much more significant role, both in its practical effects in the international order, and as the “obscene other” of Soviet positivism in international law.122

Gerade dieses hehre Prinzip, das auf einem unklaren „Volks“-Begriff und damit einer abs-trakten, ja naturrechtlichen Prämisse von Kollektivbildung beruht, war mit dem Primat von Ideologie und außenpolitischen Interessenlagen nicht ohne weiteres vereinbar. Ähnlich verhielt es sich schließlich mit dem weltrevolutionären Sendungsbewusstsein der Sowjet-führer, das den Souveränitätsgedanke und das Interventionsverbot des geltenden Völker-rechts untergrub.

121 Vgl. Bowring, Positivism versus self-determination, S. 166. 122 Ebd.


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