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Zwischen Exegesesammlung und Ordnungsentwurf: Zur Kommentarliteratur des gelehrten Rechts in der...

Date post: 10-Dec-2023
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Digitaler Sonderdruck des Autors mit Genehmigung des Verlages Kommentare in Recht und Religion
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I

Digitaler Sonderdruck des Autors mit Genehmigung des Verlages

Kommentare in Recht und Religion

II

Digitaler Sonderdruck des Autors mit Genehmigung des Verlages

III

Digitaler Sonderdruck des Autors mit Genehmigung des Verlages

Kommentarein Recht und Religion

Herausgegeben von

David Kästle undNils Jansen

In Zusammenarbeit mit

Reinhard Achenbach undGeorg Essen

Mohr Siebeck

IV

Digitaler Sonderdruck des Autors mit Genehmigung des Verlages

Gedruckt mit Unterstützung der Fritz-Thyssen-Stiftung

ISBN 978-3-16-152879-8

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbib-liographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abruf-bar.

© 2014 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mi kro-verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Das Buch wurde von Computersatz Staiger in Rottenburg/N. aus der Minion gesetzt, von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

Nils Jansen ist Inhaber des Lehrstuhls für Römisches Recht und Privatrechtsgeschichte sowie Deutsches und Europäisches Privatrecht an der Universität Münster.

David Kästle ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Institut für Rechtsge-schichte der Universität Münster.

V

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Vorwort

Der vorliegende Band geht auf ein Symposion von Theologen und Rechtshistori-kern zurück, das im März 2012 stattgefunden hat und an ein Vorgängerprojekt zu „Dogmatisierungsprozessen in Recht und Religion“ anschließt1. Bekanntlich verbindet Rechtswissenschaft und Theologie, dass es sich um exegetisch textbe-zogene normative Wissenschaften handelt. Es erschien uns deshalb naheliegend, Kommentare als ein spezifisches Medium dieser Wissenschaften aus einer inter-disziplinär und historisch vergleichenden Perspektive zu analysieren. Wir haben die Tagung und die Forschungsfragen, die die Tagung strukturieren und einen interdisziplinären Vergleich überhaupt erst möglich machen sollten, gemeinsam mit Reinhard Achenbach (Münster) und Georg Essen (Bochum) konzipiert; na-turgemäß haben sich unsere Fragestellungen im gemeinsamen Tagungsgespräch weiterentwickelt.

Ein gut Teil der Mitarbeiter an diesem Band war bereits an dem früheren Pro-jekt beteiligt; eine Reihe neuer Kollegen konnten wir für das zweite Projekt hin-zugewinnen. Wieder waren sämtliche Beteiligten von Anfang an mit bewunde-rungswürdiger Offenheit bereit, ihre jeweilige Disziplin aus der Perspektive der Forschungsfragen unserer Tagung gleichsam von außen in den Blick zu nehmen. Wir möchten allen Teilnehmern deshalb sehr herzlich danken: nicht nur für ihre Tagungsbeiträge, sondern insbesondere auch für die konstruktiv-kritischen Dis-kussionen und für die Bereitschaft, interdisziplinäres Neuland zu betreten.

Dank gebührt aber auch dem Münsteraner Exzellenzcluster „Religion und Po-litik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne“, aus dem das Projekt ur-sprünglich hervorgegangen ist, und der Fritz-Thyssen-Stiftung, die sowohl die Ta-gung als auch den Band finanziert hat. Die Lehrstuhlmitarbeiter Christian Israel, Lukas Kämper, Kim Kießling, Paul Philipp Kirchhoff, Viviana Kutz, Dorothea Müller, Isabel Wendeburg, Johannes Wendland und Thomas Wiesch haben mit großer Umsicht zur Vorbereitung und Durchführung der Tagung sowie zur an-schließenden Vorbereitung dieses Tagungsbandes beigetragen. Ihnen allen dan-ken wir ebenso wie dem Verlag Mohr Siebeck sowie Herrn Dr. Franz-Peter Gillig für die, wie immer, ausgesprochen angenehme Zusammenarbeit.

Münster, im Mai 2013 Nils Jansen, David Kästle

1 G. Essen/N. Jansen (Hg.), Dogmatisierungsprozesse in Recht und Religion (2012); siehe auch N. Jansen, Methoden, Institutionen, Texte: Zur diskursiven Funktion und medialen Präsenz dogmatisierender Ordnungsvorstellungen und Deutungsmuster im normativen Dis-kurs, ZRG Germ. Abt. 128 (2011), 1–71.

VI

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V

Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX

Nils JansenKommentare in Recht und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Ulrike BabusiauxDer Kommentar als Haupttext.Zur Gattung der libri ad edictum Ulpians . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

Bernhard LangDie Bibelkommentare der Kirchenväter (ca. 200–600).Kleines Kompendium mit Forschungsstand und Beispieltexten . . . . . . . . . . 57

Ronen ReichmanKommentare als diskursive Einheiten in der rabbinischen Literatur.Beispiele aus Midrash, Mishna und Talmud . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

Mechthild DreyerDie Kommentare zu den Sentenzen des Petrus Lombardus.Eine Literaturgattung im Spannungsfeld theologischer Kontroverse und Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

Susanne LepsiusFließende Grenzen juristischer Kommentierungstätigkeit im Spätmittelalter.Glosse – Kommentar – Repetitio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

Peter OpitzVon der annotatio zum commentarius – Zur Wiedererfindung des Bibelkommentars in der Reformation . . . . . . . . . 187

Andreas ThierZwischen Exegesesammlung und OrdnungsentwurfZur Kommentarliteratur des gelehrten Rechts in der Frühen Neuzeit . . . . . 207

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Tilman RepgenDer Summenkommentar des Francisco de Vitoria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

Jan RohlsSchöpfung und Fall.Das Wechselspiel von historisch-kritischer Exegese und Dogmatik anhand der Genesiskommentare im 18. und frühen 19. Jahrhundert . . . . . . 277

Georg EssenKommentieren ohne Kommentar.Konzeptionen katholischer dogmatischer Theologie in der Moderne . . . . . . 297

Thomas HenneDie Entstehung des Gesetzeskommentars in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

Michael BöhnkeDie „armen Verwandten“.Kanonistische Kommentare in der Moderne, dargestellt am Beispiel des Münsterischen Kommentars zum Codex Iuris Canonici . . . . . . . . . . . . . 331

Eckart OttoKommentieren in den Bibelwissenschaften.Ein ökumenischer Dienst an der Theologie im 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . 347

Roman A. SiebenrockDem Ereignis verpflichtet – in Treue zu Text und Gestalt des Konzils.Systematische Erwägungen zu „Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363

Gralf-Peter CalliessKommentar und Dogmatik im Recht.Funktionswandel im Angesicht von Europäisierung und Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381

David KästleJuristische Kommentare – theologische Kommentare.Von der Farbe des Chamäleons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393

Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459

Inhaltsverzeichnis

IX

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Abkürzungen

2 Comp. Compilatio secunda (Dekretalensammlung)3 Comp. Compilatio tertia (Dekretalensammlung)a.a.O. am angegebenen OrtAbb. AbbildungAbt. Abteilungad ed. ad edictumad l. ad legemad tit. ad tituluma.E. am EndeAnm. Anmerkungart., Art. articulus, ArtikelAufl. AuflageAusg. Ausgabeb Babylonischer TalmudBd., Bde., Bdn. Band, Bände, Bändenbes. besondersBGB Bürgerliches GesetzbuchBSB Bayerische Staatsbibliothek (München)bspw. beispielsweiseC. Codex Iustinianusca. circacan. canon, canonescap. caput, capita, capitulum, capitulaCard. CardinalisCIC (1917/1983) Codex Iuris Canonici (in der Fassung von 1917 bzw. 1983)CO Calvini Opera = J. Calvin, Opera quae supersunt omnia,

hg. v. G. Baum, E. Cu nitz u. E. Reuss (Braunschweig, 1863–1900)

Comp. Compilatio ComSTh Commentaria in Summam Theologi(c)am Thomae Aquinatiscor. corpus articuli (Kern des Artikels; scholastische Gliederung)CSEL Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum D. Digesta Iustinianiders., dems., dens., dies. derselbe(n), demselben, denselben, dieselbe(n)DFG Deutsche Forschungsgemeinschaftd.h. das heißtd.i. das istdisp. disputatioDiss. Dissertationdist. distinctiodt. deutsch

X

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DV Dei Verbum (Dogmatische Konstitution über die Göttliche Offenbarung des II. Vatikanischen Konzils)

ebd. ebendaed. edictumet al. et alii (aliae)f., ff. folgendeff. Digesta Iustiniani (mittelalterliche Zitierweise)FAZ Frankfurter Allgemeine ZeitungFn. Fußnote(n)fol. foliumGesamthg. Gesamtherausgeber(in, -innen)GG Grundgesetzgl. glossaHg. Herausgeber(in, -innen)hg. v. herausgegeben vonHRG1 A. Erler et al. (Hg.), Handwörterbuch zur deutschen

Rechtsgeschichte (1. Aufl., 1971–1998)HRG2 A. Cordes et al. (Hg.), Handwörterbuch zur deutschen

Rechtsgeschichte (2. Aufl., 2008 ff.), online: http://www.hrgdigital.de

hl. heiligHs. Handschrifti.e. id estin. initioinsbes. insbesondereInst. Institutiones IustinianiJh. Jahrhundertl. lexL.F. Libri feudorumlib. liber, libroLMA R. Auty et al. (Hg.), Lexikon des Mittelalters (1977–1999)loc. cit. loco citato (am angegebenen Ort)m MishnaMO Melanthonis Opera = P. Melanchthon, Opera quae supersunt

omnia, hg. v. C.G. Bretschneider (Halle, 1834–1860; ND 1963)MPI Max-Planck-InstitutMs(s). Manuskript(e)m.w.N. mit weiteren Nachweisenn., nn. nota, notaen.Chr. nach Christi GeburtND Nachdruck, NeudruckNJW Neue Juristische Wochenschriftno. numero (Rubrik bei frühneuzeitlichen Drucken)Nr./nr. Nummer(n)/numeruso.J. ohne JahrOP Ordo fratrum Praedicatorum (Ordenskürzel der Dominikaner)o.P. ohne PaginierungPal. O. Lenel, Palingenesia Iuris civilis Iuris consultorum reliquiae

quae Iustiniani Digestis continentur (1889; ND 1960)

Abkürzungen

XI

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PG J.P. Migne (Hg.), Patrologia Graeca (Paris, 1856–1866)PL J.P. Migne (Hg.), Patrologia Latina (Paris, 1844–1865)PP. Pastor Pastorum (Hirte der Hirten)pr. principium (Beginn eines Digestenfragments)qu. quaestior (a)/(b) recto (linke Spalte)/(rechte Spalte)rep. repetitiorez. rezensiertRez. v. Rezension vonRn. Randnummer(n)S. Seite(n)saec. saeculumsc. scilicetSC Senatusconsultumsect. sectioSign. SignaturSJ Societas Jesu (Ordenskürzel der Jesuiten)s.o. siehe obensog. sogenannt Sp. Spalte(n)StGB StrafgesetzbuchSTh I, I-II, II-II Thomas von Aquin, Summa Theologiae, prima pars –

prima pars secundae partis – secunda pars secundae partiss.u. siehe untens.v. sub voceSVD Societas Verbi Divini (Ordenskürzel der Steyler Missionare)Teilbd. Teilbandtit. titulustract. tractatusTRE G. Müller/G. Krause (Hg.), Theologische Real-Enzyklopädie

(1977–2004)u. undu.a. unter anderemübers. übersetztUlp. Ulpianusw. und so weiterv (a)/(b) verso (linke Spalte)/(rechte Spalte)v.a. vor allemv.Chr. vor Christi Geburtvgl. vergleicheX Liber Extra (Dekretalen Gregors IX.)WA Weimarer Ausgabe = Martin Luthers Werke: Kritische

Gesamtausgabe (Weimar, 1883–2009)WA DB Weimarer Ausgabe, Abt. Deutsche BibelZ Huldreich Zwinglis sämtliche Werke (= Corpus Reformatorum,

Bde. 88–101), hg. v. E. Egli et al. (1905 ff.)Z. Zeilez.B. zum Beispiel zit. zitiert

Abkürzungen

XII

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ZRG Germ. Abt. Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung

ZRG Kan. Abt. – Kanonistische AbteilungZRG Rom. Abt. – Romanistische AbteilungZS H. Zwingli, Schriften, 4 Bde., hg. v. T. Brunnschweiler u. S. Lutz

(1995)

Die Abkürzungen der biblischen Bücher orientieren sich an den Loccumer Richtlinien, wie sie sich etwa in der Lutherbibel 1984 und der Einheitsübersetzung finden.

Abkürzungen

207Zwischen Exegesesammlung und Ordnungsentwurf

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Zwischen Exegesesammlung und Ordnungsentwurf

Zur Kommentarliteratur des gelehrten Rechts in der Frühen Neuzeit

Andreas Thier

I. Rechtswissenschaftliche Kommentare als Speicher des Rechtswissens und die Erfindung des Buchdrucks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208

II. Kommentare im Übergang zwischen Exegese und Abstraktion: Beobachtungen zu den frühhumanistischen Kommentierungen des römischen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 1. Kontinuitäten der mittelalterlichen Tradition: Philippus Decius . . . . . . . . . . . 213 2. Programmatischer Neuansatz und kommentierende Praxis: Andreas Alciatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 3. Neuansätze der Kommentargestaltung: Guilielmus Budaeus . . . . . . . . . . . . . . 218

III. Von der Ordnung der Vielfalt zur Vielfalt der Ordnungen: Kommentierungen des römischen Rechts im 16. und 17. Jahrhundert . . . . . . . . 219 1. Neuordnungen des kommentierten Textes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 2. Die Ordnung des Kommentars als Produkt des Kommentierens: Hugo Donellus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 3. Die Textgeschichte als Ordnungskategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 4. Verdichtete Vielfalt des Kommentierens: Das Werk von Jacobus Cuiacius . . 227 5. Legalordnung und Topik: Matthäus Wesenbeck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

IV. Positives Recht und systematische Ordnungsentwürfe in der frühneuzeitlichen Kanonistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 1. Die Dekretalen „Olim causam“ und „Cum canonicis“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 2. Erosionen der mittelalterlichen Tradition: Agostinho Barbosa und Prospero Fagnani . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 3. Der Einbruch der humanistischen Textkritik in die kanonistische Kommentierung: Manuel González Téllez . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 4. Der Neuansatz von Ehrenreich Pirhing und seine traditions- begründende Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

V. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246

208 Andreas Thier

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I. Rechtswissenschaftliche Kommentare als Speicher des Rechtswissens und die Erfindung des Buchdrucks

Der Kommentar als Typus juristischer Literatur bildet einen besonders wichti-gen, wenn nicht den wichtigsten Speicher von Rechtswissen für Rechtskulturen1, die abstrakt-generelle Normen in ihr Zentrum gerückt und hierzu durch Gerichte und eine Rechtswissenschaft Auslegungs- und Deutungsansätze entwickelt ha-ben. Im Ausgangspunkt der Erläuterung eines Textes verpflichtet – regelmäßig (aber nicht stets) eines Gesetzestextes –, bewahrt der Kommentar immer auch be-reits vorhandenes, akademisches Wissen über die Auslegung und Anwendung der je kommentierten Normen, das dann häufig mit neuen Deutungsansätzen des Kommentators angereichert wird. Damit bleibt Rechtswissen für das kollektive Gedächtnis einer Rechtskultur – also insbesondere für die Gerichtsbarkeit und für die Rechtswissenschaft – dauerhaft verfügbar; neu entwickelte Deutungen wer-den gerade durch ihre Aufnahme in oder ihre Entfaltung durch den Kommentar zum fixierten Bestandteil des juristischen Diskurses. Aus der Perspektive des His-torischen ist der Kommentar in seinen einzelnen Texten deswegen eine wichtige Quelle für zeitspezifische Kontroversen und Konsensbildungen über die Deutung und die Anwendung von Rechts-, vor allem von Gesetzestexten. Darüber hinaus aber bilden sich in der Strukturierung des Kommentars und in der Binnengliede-rung seiner Kommentierungen die Ordnungselemente zeitgenössischen Rechts-wissens ab: Kommentare erfüllen ihre Speicherfunktion für Rechtskulturen nicht allein in der schlichten Konservierung, sondern auch und gerade in der Organisa-tion je zeitgenössischen Rechtswissens. Denn erst durch seine Auffindbarkeit wird die Verfügbarkeit von Rechtswissen vollends sichergestellt. In den schon deswegen notwendigen Ordnungsstrukturen wird allerdings auch die Beziehung des Kom-mentars zum je kommentierten Text erkennbar, sei es, dass der Kommentar un-eingeschränkt den Ordnungsvorgaben des von ihm erläuterten Normtextes folgt, sei es, dass der Kommentar und die Kommentierungen autonome Ordnungskon-

1 Die perspektivische Einordnung des Kommentars als Speicher von Rechtswissen schließt an bei kulturwissenschaftlichen Konzeptionen zu Phänomenen des kollektiven Erin-nerns; instruktive Einführung hierzu bei M. Sandl, Historizität der Erinnerung/Reflexivität des Historischen: Die Herausforderung der Geschichtswissenschaft durch die kulturwissen-schaftliche Gedächtnisforschung, in: G. Oesterle (Hg.), Erinnerung, Gedächtnis, Wissen: Stu-dien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung (2005), 89–119, 95–111 und passim. Für einen knappen Überblick zum Paradigma des kollektiven Gedächtnisses siehe H. Welzer, Gedächtnis und Erinnerung, in: F. Jaeger/J. Rüsen (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaf-ten, Bd. 3: Themen und Tendenzen (2004), 155–174, 167–169; umfassend: A. Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen (2. Aufl., 2011). Dass in diesem Theorieansatz unter-schiedliche Ebenen von Gedächtnis und Erinnerung zu unterscheiden sind und die Ebene der Wissenschaft deswegen von anderen Formen des kollektiven Gedächtnisses abzugren-zen ist, sei hier nur angedeutet, kann aber im vorliegenden Fragenzusammenhang allerdings auch unberücksichtigt bleiben, geht es hier doch allein um die Deutung des Kommentars als Speichermedium überhaupt.

209Zwischen Exegesesammlung und Ordnungsentwurf

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zeptionen entfalten. In dieser Hinsicht ist der Kommentar für die historische Ana-lyse eine zentrale Quelle, um die Entwicklung und den Wandel von Ordnungs-konfigurationen von Rechtswissen im konkreten Vollzug seiner Entfaltung wie seiner Speicherung zu untersuchen. Das gilt erst recht, wenn die Masse des grund-sätzlich verfügbaren Rechtswissens und damit die vom Kommentar zu bewälti-gende Ordnungsaufgabe besonders groß ist oder besonders groß wird.

Schon von dieser Perspektive aus ist die Zeit des späten 15., des 16. und des 17. Jahrhunderts eine besonders interessante Phase in der Geschichte des rechts-wissenschaftlichen Kommentars. Denn es zählt seit Langem zu den zentralen Be-funden nicht nur der Geschichtswissenschaften, dass die Ausbreitung des Buch-drucks2 Konsequenzen für die Ordnung aller Wissensbestände hatte3. Durch die massenhafte Verfügbarkeit von Texten einerseits und durch die Bindung an das Medium Buch andererseits stellte sich für alle Wissensbereiche die Frage, wie mit diesen ungeheuren Mengen von Information umzugehen sei, wie sie zu ordnen seien. Selbstverständlich hatte sich diese Frage schon im Zusammen-hang mit handschriftlich erstellten Texten gestellt4 und sie hatte auch mit der Einführung etwa von Rubriken5, Indizierungen6, frühen Formen der Enzyklo-

2 E.L. Eisenstein, The Printing Press as an Agent of Change: Communications and Cul-tural Transformations in Early-Modern Europe (1979, hier benutzt: Ausg. 1997), 3–159; M. Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit: Eine historische Fallstudie über die Durch-setzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien (1991; 2. Aufl.: 2007); zur Positionierung des Buchdrucks in umfassendere Deutungszusammenhänge siehe die Auf-satzsammlung von H. Wenzel, Mediengeschichte vor und nach Gutenberg (2007); für einen instruktiven Überblick zur kontroversen Diskussion über diese Entwicklungen im Einzelnen siehe A. Menzel-Reuters, Das Nebeneinander von Handschrift und Buchdruck im 15. und 16. Jahrhundert, in: U. Rautenberg (Hg.), Buchwissenschaft in Deutschland: Ein Handbuch, Bd. 1: Theorie und Forschung (2010), 411–442, 412–434 und passim m.w.N.; für eine Übersicht aus der Perspektive der Rechtswissenschaft siehe S. Lepsius, Buchdruck, in: A. Cordes et al. (Hg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (2. Aufl.), Bd. 1 (2008), Sp. 700–702, online: http://www.hrgdigital.de/HRG.buchdruck (abgerufen am 24.12.2012).

3 Zusammenfassend P. Burke, Papier und Marktgeschrei: Die Geburt der Wissensgesell-schaft (2002, dt. Übersetzung von „A Social History of Knowledge“, 1997), 101–138; H. Zedel-maier, Buch und Wissen in der Frühen Neuzeit, in: Rautenberg, Buchwissenschaft I (Fn. 2), 503–533, 503–512.

4 Aus der Perspektive des kanonischen Rechts: C.H.F. Meyer, Ordnung durch Ordnen: Die Erfassung und Gestaltung des hochmittelalterlichen Kirchenrechts im Spiegel von Tex-ten, Begriffen und Institutionen, in: B. Schneidmüller/S. Weinfurter (Hg.), Ordnungskonfi-gurationen im hohen Mittelalter (2006), 303–411; A. Thier, Hierarchie und Autonomie: Re-gelungstraditionen der Bischofsbestellung in der Geschichte des kirchlichen Wahlrechts bis 1140 (2011), 343–346 m.w.N., wo die Frage nach der Verfügbarkeit von Textlichkeit in den Vordergrund gerückt wird.

5 Für das kanonische Recht siehe etwa G. Fransen, Les collections canoniques (1973), wie-der abgedruckt in: ders., Canones et Quaestiones: Évolution des doctrines et système du droit canonique, hg. v. A. García y García, Bd. I.1: Manuscrits juridiques et collections canoniques, (2002), 313*–365*, 343*, 346*–348*.

6 Dazu insbesondere A.D. van den Brincken, Tabula alphabetica: Von den Anfängen al-phabetischer Registerarbeiten zu geschichtlichen Werken (Vincenz von Beauvais OP, Johan-nes von Hautfuney, Paulinus Minorita OFM), in: Festschrift für Hermann Heimpel, Bd. 2

210 Andreas Thier

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pädie7 und nicht zuletzt des Kommentars weit verbreitete Lösungen gefunden. Die Ausweitung des durch den Buchdruck verfügbaren Wissens führte indes zu neuen Herausforderungen. So gewannen überkommene Techniken des Kompilierens8, Indizierens9 und Bibliographierens10 eine neue Qualität, die mit der Entstehung von Zeitschriften11 und mit dem Aufstieg der Enzyklopädie12 ihre literarische Ent-sprechung fand.

Im Blick auf solche Entwicklungen ist die These formuliert worden, dass der Buchdruck die mediale Grundlage für den Aufstieg des Systemdenkens nicht nur, aber auch im Recht schuf, galt es doch jetzt, angesichts der unübersehbaren, vor al-

(1972), 900–923, 915–923 und passim; siehe auch M.B. Parkes, The Influence of the Concepts of „Ordinatio“ and „Compilatio“ on the Development of the Book, in: Medieval Learning and Literature : Essays presented to Richard William Hunt (1976), 115–141, wieder abgedruckt in: J. Roberts et al. (Hg.), The History of the Book in the West: A Library of Critical Essays, Teilbd. 1 (2010), 123–158.

7 C. Meier, Organisation of Knowledge and Encyclopaedic Ordo: Functions and Pur-poses of a Universal Literary Genre, in: P. Binkley (Hg.), Premodern Encyclopaedic Texts (1997), 103–126; dies., (Hg.), Die Enzyklopädie im Wandel vom Hochmittelalter bis zur frü-hen Neuzeit: Akten des Kolloquiums des Projekts D im Sonderforschungsbereich 231 (29.11.–1.12.1996) (2002).

8 Dazu im Überblick: M. Gierl, Kompilation und Produktion von Wissen im 18. Jahr-hundert, in: H. Zedelmaier/M. Mulsow (Hg.), Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frü-hen Neuzeit (2001), 63–94, 64–69 und passim; Zedelmaier, Buch und Wissen (Fn. 3), 522–527.

9 Als vielzitiertes Beispiel sei hier nur verwiesen auf K. Gessner, Pandectarum sive par-titionum universalium libri XXI (Zürich, 1548; Exemplar der ZB Zürich, Sign.: Alte Drucke 5.13,2, online: http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-1936; abgerufen am 23.12.2012), wo in lib. 1, tit. 9, pars 2 im Zusammenhang mit dem Abschnitt „de grammatica“ die Frage „de indici-bus librorum“ untersucht wurde (fol. 19v–23v , die Überschrift a.a.O., 19v). Näher zu die-sem Phänomen A. Blair, Reading Strategies for Coping with Information Overload ca. 1550–1700, Journal of the History of Ideas 64 (2003), 11–28, 25 f. (auch online: http://www.jstor.org/ stable/3654293; abgerufen am 23.12.2012); H. Zedelmaier, Bibliotheca universalis und Biblio-theca selecta: Das Problem der Ordnung des gelehrten Wissens in der frühen Neuzeit (1992), 99–107. Allgemein zum Aufschwung von Indizierungstechniken (auch im Verhältnis zu ihren mittelalterlichen Vorläuferinnen) ders., Facilitas inveniendi: Zur Pragmatik alphabetischer Buchregister, in: T. Stammen/W.E.J. Weber (Hg.), Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung: Das europäische Modell der Enzyklopädien (2004), 191–203, 194–199 und passim.

10 Im Überblick: Zedelmaier, Buch und Wissen (Fn. 3), 518–522; grundlegend das mo-numentale Werk von A. Serrai, Storia della bibliografia, Bde. 1–10 (1988–1999), Bd. 11: In-dici (2001). Überblick zu den juristischen Bibliographien bei Lepsius, Buchdruck (Fn. 2). Siehe auch die Übersicht bei H.E. Troje, Bemerkungen zur Bibliotheca realis juridica, Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 35 (1967), 125–128, wieder abgedruckt in: ders., Humanistische Ju-risprudenz (1993), 1*–4*, mit Addendum, a.a.O., 321*.

11 Im Überblick: Gierl, Kompilation (Fn. 8), 71–84; näher insbesondere die Beiträge in: M. Stolleis (Hg.), Juristische Zeitschriften: Die neuen Medien des 18.–20. Jahrhunderts (1999), wie etwa O. Dann, Die Zeitschriften im Rahmen der deutschen Aufklärungsgesellschaft, loc. cit., 1–13; zu den juristischen Zeitschriften aus jüngster Zeit: O.M. Brupbacher, Die Zeit des Rechts: Experimente einer Moderne in Zeitschriften (2009).

12 Dazu die Beiträge in: Stammen/Weber, Wissenssicherung (Fn. 9); zur juristischen En-zyklopädie insbesondere siehe R.M. Kiesow, Die Ordnung des juridischen Wissens, loc. cit., 59–70, mit dem Schwerpunkt bei den französischen Entwicklungen.

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lem aber grundsätzlich stets verfügbaren Vielfalt des Wissens im Buch zu ordnen und zu systematisieren13. Zwar lässt sich die Evolution von Wissen nicht auf die Evolution seiner Medialität reduzieren14, setzt doch alle Medialität – und damit auch die Medialität von Recht und Rechtswissen – immer auch materiale Substrate des Medialen im Recht, also insbesondere Normen und Normwissen, voraus. Aber die stetig wachsende Masse dauerhaft verfügbaren juristischen Wissens15 förderte sicherlich auch die rechtswissenschaftlichen Bemühungen, die überkommenen und die neu entstehenden Wissensbestände ordnend zu erfassen. In solchen Be-strebungen spiegelte sich aber auch der frühneuzeitliche Neuansatz des rechtswis-senschaftlichen Umgangs insbesondere mit den Corpora des römischen und des kanonischen Rechts16 wie auch mit den dazu entwickelten Lehrtraditionen des ge-lehrten mittelalterlichen Rechts und der Ausformung neuartiger Methodologien und Perspektiven von Dogmatik und Normbildung17.

Die Evolution des rechtswissenschaftlichen Kommentars in der Phase zwischen dem späten 15. und dem 17. Jahrhundert lässt, so soll im Folgenden zu zeigen ver-sucht werden, dieses Zusammenspiel von mediengeschichtlichen Umbrüchen und rechtswissenschaftlichen Neuansätzen besonders plastisch werden. Auch die Au-toren von Kommentaren dieser Zeit standen nämlich je länger, desto mehr vor dem Problem, die stetig wachsende Masse rechtswissenschaftlichen Wissens zu

13 T. Vesting, Rechtstheorie (2007), § 7; siehe auch N. Luhmann, Die Wissenschaft der Ge-sellschaft (3. Aufl., 1998), 602–607, bes. 606.

14 Auf der gleichen Linie mit allerdings wesentlich grundsätzlicherem Zuschnitt: R.M. Nowzad, Zeit der Medien – Medien der Zeit (2011), 20 m.w.N.

15 Dazu insbesondere die monumentale Zusammenstellung von D. Osler, Bibliographica iuridica, Bd. 1: Catalogue of Books printed on the Continent of Europe from the Beginning of printing to 1600 in the Library of the Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt am Main (2000); Bd. 2: Catalogue of Books printed in Spain, Portugal and the Southern and Northern Netherlands from the Beginning of printing to 1800 in the Library of the Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt am Main (2000). Für die Verbreitung gedruckter rechtswissenschaftlicher Werke am Beginn der Frühen Neuzeit siehe U. Neddermeyer, Juristische Werke auf dem spätmittelalterlichen Buchmarkt. Marktan-teil, Buchhandel, Preise und Auflagen, in: V. Colli (Hg.), Juristische Buchproduktion im Mit-telalter (2002), 633–676.

16 U. Manthe, Corpus Iuris Civilis, in: HRG2 I (Fn. 2), Sp. 901–907, online: http://www.hrgdigital.de/HRG.corpus_iuris_civilis (abgerufen am 23.12.2012); A. Thier, Corpus Iuris Canonici, in: HRG2 I (Fn. 2), Sp. 894–901, online: http://www.hrgdigital.de/HRG.corpus_ iuris_canonici (abgerufen am 23.12.2012).

17 Grundlegend: D. Maffei, Gli inizi dell’ umanesimo giuridico (1956); J. Schröder, Recht als Wissenschaft: Geschichte der juristischen Methodenlehre in der Neuzeit (1500–1933) (2. Aufl., 2012), 9–96. Für einen Überblick: D.R. Kelley, Law, in: J.H. Burns, M. Goldie (Hg.), The Cambridge History of Political Thought 1450–1700 (1991), 66–94, 75–80, 91–94; P. Stein, Legal Humanism and Legal Science, in: ders., The Character and Influence of the Roman Civil Law: Historical Essays (1988); siehe neuerdings auch E. Peters, The Sacred Muses and the Twelve Tables: Legal Education and Practice, Latin Philology and Rhetoric, and Roman History, in: Law as Profession and Practice in Medieval Europe: Essays in Honor of James A. Brundage (2011), 137–151, 141–150, der für eine differenzierende Bewertung der humanisti-schen Kritik an der mittelalterlichen Tradition argumentiert.

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erfassen. Deswegen und im Zeichen der fortlaufenden methodischen und per-spektivischen Neuorientierung der rechtswissenschaftlichen Dogmatik entstand ein immer breiter werdendes Spektrum unterschiedlicher Ordnungsmuster von Kommentierungen. Die – vorliegend als Referenz benutzten – Texte des römi-schen und des kanonischen Rechts blieben dabei zwar durchgehend materialer Bezugspunkt der Kommentierung. Aber die Legalordnung der kommentierten Texte verlor zeitweise stark an Bedeutung, auch wenn für lange Zeit die Orientie-rung an den Ordnungsebenen „Buch“ und „Titel“ prägend blieb. Streckenweise ging allerdings die Einheit des Gesetzesganzen in der Kommentierung verloren, die sich stattdessen eigene Ordnungsmuster schuf. Solche Entwicklungen ließen eine Kommentarlandschaft entstehen, die in ihrer Vielfalt zwar sehr reizvoll, in ihrer Komplexität aber nur sehr schwer als Ganzes zu erfassen ist. Wenn nachfol-gend trotzdem versucht werden soll, die eben skizzierten Befunde und Überlegun-gen zu konkretisieren und zu belegen, dann sind dabei Vereinfachungen und Zu-spitzungen nicht immer zu vermeiden. Das gilt gerade für den ersten Abschnitt, in dem sich der Blick auf die römischrechtlichen Kommentare vor allem des frü-hen 16. Jahrhunderts richtet, die insgesamt der Einzelexegese verpflichtet sind, die Legalordnung zwar zum Dreh- und Angelpunkt der Analyse machen, aber teilweise bereits Tendenzen der Abstraktion zeigen (unten II.). In einem zweiten Schritt rücken dann die Kommentare des späten 16. und des 17. Jahrhunderts in den Blickpunkt, deren Entstehungsorte zugleich die Tendenz zur Wanderung von Rechtswissen von Italien nach Frankreich und in die Niederlande erkennen lassen. Sie sind teilweise regelrechte Laboratorien, die Autoren wie Matthäus Wesenbeck (1531–1586)18 oder Hugo Donellus (1527–1591)19 dazu dienen, mit Entwürfen für eine Neuordnung des Rechtswissens zu experimentieren, auch wenn solche Ex-perimente – die teilweise auch in die Unterrichtspraxis ausstrahlen – dann doch nicht immer ganz konsequent zu Ende geführt werden (unten III.). Länger als die römischrechtlichen Kommentarwerke bleibt dagegen die Kanonistik im Grund-satz der überkommenen Legalordnung verpflichtet, wie in einem letzten Abschnitt deutlich gemacht werden soll (unten IV.).

18 H. Lück, Matthäus Wesenbeck (1531–1586). Professor der Jurisprudenz in Wittenberg, in: W. Freitag (Hg.), Mitteldeutsche Lebensbilder (2004), 235–251; mit stark bibliographi-schem Schwerpunkt: R. Feenstra, Matthäus Wesenbeck (1531–1586) und das römisch-hollän-dische Recht (mit einer Bibliographie seiner juristischen Schriften), in: H. Lück/H. de Wall (Hg.), Wittenberg: Ein Zentrum europäischer Rechtsgeschichte und Rechtskultur (2006), 175–243.

19 M.J.A.M. Ahsmann, Collegium und Kolleg: Der juristische Unterricht an der Univer-sität Leiden, 1575–1630, unter besonderer Berücksichtigung der Disputationen (2000), 343–376; V. Heise, Der calvinistische Einfluss auf das humanistische Rechtsdenken: Exempla-risch dargestellt an den „Commentarii de iure civili“ von Hugo Donellus (1527–1591) (2004); C. Strohm, Calvinismus und Recht (2008), 78–126. Bis heute grundlegend A.P.T. Eyssell, Doneau, sa vie et ses ouvrages: l’école de Bourges; synthèse du droit romain au XVIe siècle; son influence jusqu’à nos jours (Dijon, 1860).

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II. Kommentare im Übergang zwischen Exegese und Abstraktion:

Beobachtungen zu den frühhumanistischen Kommentierungen des römischen Rechts

Am Beginn des 16. Jahrhunderts war die mittelalterliche Tradition des Kommen-tars zunächst noch stark präsent (dazu unten 1.). Gleichwohl setzen bereits in die-ser Phase erste Bemühungen um eine grundsätzliche Neuausrichtung der Kom-mentierung ein, die teilweise sogar programmatisch verdichtet werden (unten 2.), teilweise aber auch ganz konkret mit neuen Instrumenten der Ordnungsbildung experimentieren (dazu unten 3.).

1. Kontinuitäten der mittelalterlichen Tradition: Philippus Decius

Es ist kein Zufall, dass der regionale Schwerpunkt der Kommentierungen des, wie er in der Literatur genannt worden ist, „älteren Typs“20 vor allem in Italien und auch in Spanien liegt, war hier doch die Tradition der mittelalterlichen Kommen-tierung besonders ausgeprägt21. Ein typischer Vertreter und auch repräsentativ für diese ältere Tradition ist das Kommentarwerk des Philippus Decius (1454–1535), das sowohl dem römischen wie auch dem kanonischen Recht gewidmet ist22. Sein Kommentar zum Digestum vetus und zum Codex Iustinianus23 ist ebenso wie seine Kommentierung zu den regulae iuris24 inhaltlich noch ganz der älte-

20 E. Holthöfer, Literaturtypen des mos italicus in der europäischen Rechtsliteratur der frühen Neuzeit (16.– 18. Jahrhundert), Ius Commune 2 (1969), 130–166, 145–147 und passim; ders., Die Literatur zum gemeinen und partikularen Recht in Italien, Frankreich, Spanien und Portugal, in: H. Coing (Hg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. II.1: Neuere Zeit (1500–1800). Das Zeitalter des gemeinen Rechts – Wissenschaft (1977), 103–499, 107 f.

21 Holthöfer, Literaturtypen (Fn. 20), 146 f.; ders., Literatur (Fn. 20), 108–113.22 A. Belloni, Professori giuristi a Padova nel secolo XV: Profili bio-bibliografici e catte-

dre (1986), 190–193; M. Kriechbaum/H. Lange, Einzelne Kommentatoren und ihre Werke, in: dies., Römisches Recht im Mittelalter, Bd. 2: Die Kommentatoren (2007), 435–892, 874–881; A. Mazzacane, Decio, Filippo, in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 33 (1987), 554–560, online: http://www.treccani.it/enciclopedia/filippo-decio_(Dizionario-Biografico) (abgeru-fen am 23.12.2012); P. Weimar, Philippus Decius, in: R. Auty et al. (Hg.), Lexikon des Mittel-alters, Bd. 6 (1993), 2085 f.

23 P. Decius, In primam ac secundam Digestum Veteris nec non in primam et secundum Codicis commentaria amplissima (erstmals Lyon, 1538; vgl. etwa das Exemplar in der BSB München, Sign.: 2 J.rom.c. 129); diese Ausgabe bündelte die Einzelkommentierungen zum je-weils ersten und zweiten Teil des Digestum vetus und des Codex Iustinianus, die jeweils erst-mals 1523/24 erschienen; vgl. zur Bibliographie von Decius Holthöfer, Literatur (Fn. 20), 156, 160, 162, sowie den Überblick bei Weimar, Decius (Fn. 22), 2086; im Einzelnen: Belloni, Pro-fessori (Fn. 22), 191–193.

24 P. Decius, Lectura in titulo ff. de regulis iuris (erstmals Lyon, 1521); vgl. Belloni, Profes-sori (Fn. 22), 191 mit der Liste der Ausgaben.

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ren Tradition verpflichtet25: Grundsätzlich folgt Decius dem Schema der lectura, also der exegetischen Auslegung, die mit den notabilia wichtige allgemeine Ge-sichtspunkte an die Erklärung der kommentierten Textstelle anschließt, mit den oppositiones mögliche Gegenstimmen diskutiert und mit den quaestiones weitere Problemfelder anspricht26. Das zeigt sich im Vergleich der kommentierenden Aus-einandersetzung mit einem Text des Codex Iustinianus zur Frage nach der Klag-barkeit von pacta (C. 2,3,10) mit dem Incipit „Legem“27 durch Bartolus einerseits und durch Decius andererseits: Bartolus setzte an den Beginn der Kommentierung einen kurzen Hinweis zu den Kernaussagen der lex und kündigte dann an, dass sich die Betrachtung auf die vestimenta pactorum, auf die „Kleider“, die Typen der Verträge28 ausrichten werde. Dem folgte eine intensive Auseinandersetzung der le-gistisch-kanonistischen Debatte über die Klagbarkeit von pacta nuda29, an die sich eine Darstellung der vestimenta pactorum anschloss. Mit der Formel „sed quero“ („aber ich frage“) – etwa „quod sit pactum nudum“ („was ist ein nackter Vertrag“) oder „sed quero exemplum de pacto nudo“ – wurde die Phänomenologie des pac-tum nudum ausgeleuchtet30. Decius begann die Kommentierung mit einem kur-zen Hinweis zum Verständnis der Begriffe alumna im Gesetzestext31, um dann in eine Reihe von Erklärungen zu den pacta nuda überzuleiten, die innerhalb der Kommentierung mit dem Hinweis „noto“ eingeführt wurden und insbesondere (aber nicht nur) Bartolus und Baldus allegierten32. Freilich wurden auch bei De-cius bereits die Grenzen des überkommenen Kommentierens erkennbar, musste er sich doch wie die meisten zeitgenössischen Kommentatoren auch33 angesichts

25 So die Bewertung bei Holthöfer, Literatur (Fn. 20), 110.26 Zu dieser Struktur N. Horn, Die legistische Literatur der Kommentatoren und der Aus-

breitung des gelehrten Rechts, in: Coing, Handbuch der Quellen (Fn. 20), Bd. I: Mittelalter (1100–1500). Die gelehrten Rechte und die Gesetzgebung (1973), 261–364, 324–326; näher und differenzierend M. Kriechbaum, Literaturformen, in: dies./Lange, Römisches Recht II (Fn. 22), 355–434, 356–374.

27 Zum Kontext im Überblick: M. Kaser, Das römische Privatrecht, Abschnitt 2: Die nach-klassischen Entwicklungen (2. Aufl., 1975), 364 f.; allgemein zu diesem Problemkreis: A. Thier, in: M. Schmoeckel/J. Rückert/R. Zimmermann (Hg.), Historisch-kritischer Kommentar zum BGB (2003 ff.), § 311 I Rn. 10 m.w.N.

28 Dazu HKK/Thier (Fn. 27), § 311 I Rn. 10.29 Zur Debatte über die Klagbarkeit von pacta im gelehrten mittelalterlichen Recht im

Überblick: HKK/Thier (Fn. 27), § 311 I Rn.12–14.30 Bartolus de Sassoferrato, In Primam Codicis partem (Ausgabe Venedig, 1581), ad l. Le-

gem, Codex de pactis, C. 2,3,10, fol. 43vb–44ra.31 Der Text von C. 2,3,10 lautet „Legem, quam dixisti, cum dotem pro alumna dares, ser-

vari oportet, nec obesse tibi potuit, quod dici solet ex pacto actionem non nasci: tunc enim hoc iure utimur, cum pactum nudum est: alioquin cum pecunia datur et aliquid de reddenda ea convenit, utilis est condictio“.

32 P. Decius, In primam ac secundam Digestum Veteris nec non in primam et secundum Codicis commentaria amplissima (Ausgabe Venedig, 1572), ad l. Legem, Codex de pactis, C. 2,3,10, fol. 138vb–139vb.

33 Zu diesem Aspekt Holthöfer, Literaturtypen (Fn. 20), 137.

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der enormen Materialfülle auf die Auswahl von Digesten- und Codexstellen be-schränken, also auf eine vollständige Kommentierung verzichten.

2. Programmatischer Neuansatz und kommentierende Praxis: Andreas Alciatus

Zumindest dem Anspruch nach wird Distanz zur Tradition des Mittelalters for-muliert im Werk des Andreas Alciatus (1492–1550)34, in dessen Person sich zu-gleich auch die Oszillation der gelehrten Rechtstradition zwischen Italien und Frankreich biographisch verdichtete. Alciat nämlich formulierte Opposition zum überkommenen Schema des Kommentars. Der Ort dafür war eine „Epistola ad lectorem“ in seinem 1522 entstehenden und 1530 erstmals gedruckten Kommentar zu Titeln aus den ersten beiden Büchern des Codex. Hier lässt er sich durch seine Studenten darum bitten:„Du sollst nicht gar zu sehr besorgt sein um die Worte des Bartolus, … uns wird es genü-gen, dass kurz dargestellt wird, was er meint, und dies in einer klareren Ordnung, als er selbst es getan hat, und dass nicht nur die Aussagen von ihm, sondern auch aller anderen (so) gelehrt werden“35.

Hier wird also die ältere Tradition nicht grundsätzlich in Frage gestellt, vielmehr werden Verbesserungen in ihrer Präsentation eingefordert. Diese Verbindung von Traditionellem und vorsichtig Innovativem wird dann auch im Kommentarwerk von Alciatus greifbar36: So wird in der Kommentierung des bereits erwähnten

34 R. Abbondanza, Alciato (Alciati), Andreas, in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 2 (1960), 69–77, online: http://www.treccani.it/enciclopedia/andrea-alciato_(Dizionario-Bio-grafico) (abgerufen am 24.12.12); A. Belloni, Alciatus, Andreas (1492–1550), in: HRG2 I (Fn. 2), 139 f. m.w.N., online: http://www.hrgdigital.de/HRG.alciatus_andreas_1492_1550 (abgerufen am 23.12.2012).; H. Jaumann, Handbuch Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit, Bd. 1: Bio-biblio-graphisches Repertorium (2004), 20–22 mit umfangreichen Nachweisen; E. v. Moeller, Andreas Alciat, 1492–1550: Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der modernen Jurisprudenz (1907; ND 2010). Übersicht zur älteren Literatur bei H.E. Troje, Die Literatur des gemeinen Rechts un-ter dem Einfluss des Humanismus, in: Coing, Handbuch II.1 (Fn. 20), 615–795, 632 f.; eine kom-pakte Übersicht zum methodologischen Zugriff von Alciatus bei Maffei, Inizi (Fn. 17), 132–136; im Einzelnen: D.R. Kelley, Foundations of Modern Historical Scholarship: Language, Law, and History in the French Renaissance (1970), 93–100.

35 A. Alciatus, Ad rescripta principum commentarii (1530), hier Ad lectorem, in: ders., Opera omnia, Bd. 3 (Basel, 1558; ND 2004), nach Sp. 177 (fol. 2v): „De Bartoli verbis non ad-modum sis solicitus… nobis satis erit, quid sentiat, breviter admoneri, clarioreque ordine, quam ipse fecerit, non illius tantum, sed caeterorum sententias edoceri“. Zur Bibliographie dieses Kommentars siehe Troje, Humanismus (Fn. 34), 777, sowie Osler, Bibliographica I (Fn. 15), Nr. 151.

36 Auf der gleichen Linie wie hier auch die Analyse bei M. Monheit, Guillaume Budé, Andrea Alciato, Pierre de l’Estoile: Renaissance Interpreters of Roman Law, Journal of the History of Ideas 58.1 (1997), 21–40, 27–31, online: http://www.jstor.org/stable/3653986 (abge-rufen am 25.12.12), sowie H.E. Troje, Alciats Methode der Kommentierung des „Corpus Iuris Civilis“, in: A. Buck/O. Herding (Hg.), Der Kommentar in der Renaissance (= Mitteilungen der Kommission für Humanismusforschung, Bd. 1) (1975), 47–61, wieder abgedruckt in: Troje,

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Codextextes C. 2,3,10 (Incipit „Legem“)37 gleich zu Beginn nach den Vorausset-zungen für eine Klage aus einem pactum nudum gefragt, um dann verschiedene Typen und Fälle eines klagbaren pactum darzustellen. Anders als Bartolus und Decius gliedert Alciatus seine Darstellung allerdings nicht durch Regieanweisun-gen wie „quero“ oder „noto“, sondern präsentiert einen durchgehenden Text, der durch Überleitungen wie „sicut“, „caeterum“ oder auch Aufzählungen gegliedert ist38. Mit dieser Form eines mehr oder minder geschlossenen Textes, der auf die überkommenen Strukturierungsmittel verzichtete, schien Alciat offenbar die Er-wartungen erfüllen zu wollen, die in der epistola ad lectorem formuliert worden waren; bezeichnenderweise beschränkten sich auch die Allegationen auf eine ein-zelne Stelle, an der freilich eine dogmatische Position explizit kritisiert wurde39. Allerdings galt das nur für die Allegationen innerhalb des Kom men tar textes selbst. Denn bereits in der ersten gedruckten Ausgabe des Kommentars waren je-weils am linken und rechten Blattrand kurze Quellenangaben für Texte des Cor-pus iuris civilis oder andere Autoren aufgeführt, auf die jeweils im Kommentar-text selbst mit je hochgestellten Buchstaben verwiesen wurde40. So gesehen könnte man sagen, dass Alciat auf die Technik der Marginalglosse41 zurückgriff, um auf diese Weise seinen Kommentartext von Allegationen zu entlasten und dessen Les-barkeit zu verbessern.

Diese Verbindung von überkommenen Techniken und dem Bemühen um eine Neugestaltung kommentierender Textlichkeit wird aber auch in anderen Zusammenhängen sichtbar. Das zeigt sich in der vergleichenden Betrachtung einer anderen Kommentierung: Eine Bestimmung des gleichen Titels, „De pac-tis“, mit dem Incipit „Creditori“ (C. 2,3,5) gab ein Reskript wieder, das sich auf eine Vereinbarung über den hälftigen Erlass einer zur anderen Hälfte bezahlten Schuld bezog42. Bartolus beschränkte sich in seiner Kommentierung im Wesent-

Jurisprudenz (Fn. 10), 215*–237*, mit Addendum a.a.O., 324*. Siehe weiterhin die Skizze bei dems., Humanismus (Fn. 34), 757–759.

37 Oben bei und in Fn. 31.38 Alciatus, Ad rescripta principum commentarii (Fn. 35), ad l. Legem, Codex de pactis,

C. 2,3,10, Sp. 345–347: N. 6 leitet ein mit sicut, n. 10 beginnt mit caeterum einen neuen Ab-schnitt über contractus qui re contrahunt, und n. 17 kündigt an, dass eine Aussage tribus exemplis verdeutlicht werden soll, die dann ihrerseits in der Folge die Darstellung gliedern.

39 Alciatus, Ad rescripta principum commentarii (Fn. 35), ad l. Legem, Codex de pactis, C. 2,3,10, Sp. 345–347, 347 n. 20: „atque ita ego communem Iac. Pet. Alb. Bart. Angel. aliorum quam sententiam declaro, Alexandri … dissentientis rationes submovendas censeo“. Bezeich-nenderweise wurde hier also darauf verzichtet, auf die Position Alexanders (de Imola, 1424–1477) näher einzugehen.

40 Vgl. für die Kommentierung zur lex Legem die Ausgabe Lyon 1530 der BSB München, Sign.: 2 J.rom.m. 1 m, online: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nb n:de:bvb:12–bsb10146704–1 (abgerufen am 26.12.12), Sp. 181–183.

41 Zur Technik der Glossierung und insbesondere der Glossierung am Rand eines Textes als Marginalglosse siehe B. Meineke, Glossen, in: HRG2 (Fn. 2), Bd. 2 (2012), Sp. 412–415, on-line: http://www.hrgdigital.de/HRG.glossen (abgerufen am 23.2.2013).

42 „Creditori tuo si partem pecuniae exsolvisti, de parte vero non petenda inter te et eum convenit ob causas negotiaque eius tuo patrocinio fideque defensa, ea obligatione partim iure

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lichen auf einen Verweis auf die Glosse und den Hinweis, dass pacta über den Er-lass einer Schuld keiner causa43 bedurften44. Anders und vor allem breiter fiel da-gegen die Kommentierung bei Alciat aus: Ganz im Stil der lectura begann die Er-läuterung mit einer Skizzierung des casus und des damit verbundenen Problems, dass nämlich „das pactum von der causa selbst alle Kraft und Wirksamkeit emp-fängt“ („pactum enim a causa ipsa vim & efficaciam omnem accipit“), um dann auf die gegenteilige Entscheidung des Kaisers zu verweisen. Im Folgenden baut die Architektur der Kommentierung auf bei glossenartigen Kommentierungen einzelner Begriffe des kommentierten Textes (causas, patrocinio, honorario), die dann allerdings eher den Ausgangspunkt für zusammenhängende Texte bilden, in denen Einzelfragen zu diesen Begriffen erörtert wurden. Die Verweise auf an-dere Autoren sind wiederum sehr zurückhaltend gestaltet, Bartolus etwa wird im Text selbst einmal genannt45, doch finden sich auch hier wiederum an den Blatträndern umfangreiche Allegationen von Gesetzestexten und anderen Au-toren46. Der Kommentartext folgte in seiner Struktur also durchaus dem kom-mentierten Text, löste sich allerdings weitgehend vom überkommenen Schema der lectura und wurde damit zur gestrafften Darstellung, die freilich aufgrund der Auswahl der kommentierten Lemmata umfangreicher ausfallen konnte als, wie das Beispiel des Textes „Creditori“ zeigt, die älteren Texte. Prägender Unter-schied zu den älteren Kommentaren war der Verzicht auf die erschöpfende Dar-stellung kontroverser Debatten, für die jetzt auf die Monographie, insbesondere den Traktat oder die observatio zurückgegriffen wurde47.

civili partim honorario liberatus es. nam exceptio perpetua pacti conventi vel doli residui pe-titionem repellit, cum et solutum per ignorantiam repeti potuisset“.

43 Zum Problem der causa im Zusammenhang der legistischen Vertragslehre siehe auch HKK/Thier (Fn. 27), §§ 780–782 (im Druck) Rn. 9–11 (mit dem Schwerpunkt bei der stipula-tio) sowie bereits HKK/Thier (Fn. 27), § 311 I Rn. 12–14.

44 Bartolus de Sassoferrato, In Primam Codicis partem (Fn. 30), ad l. Creditori, Codex de pactis, C. 2,3,5 fol. 43ra, mit der bezeichnenden Rubrik „causa in pactis liberatoriis non consi-deratur, sed in pactis obligatoriis“, also dem Hinweis, dass auf die causa nur bei verpflichten-den, nicht aber bei befreienden Verträgen zu achten sei.

45 Alciatus, Ad rescripta principum commentarii (Fn. 35), ad l. Creditori, Codex de pactis, C. 2,3,5, Sp. 327–330; der Verweis auf Bartolus a.a.O., 328.

46 Auch diese Technik ist bereits in der Druckausgabe Lyon 1530 (oben Fn. 40) greifbar, vgl. dort Sp. 161–165; verwiesen wird vor allem auf Bartolus, Baldus und Texte des Corpus iuris civilis.

47 Im Überblick: Holthöfer, Literatur (Fn. 20), 316–318; siehe auch Troje, Humanismus (Fn. 34), 672 f.

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3. Neuansätze der Kommentargestaltung: Guilielmus Budaeus

Lässt sich Alciats kommentierender Zugriff damit insgesamt als vorsichtige Fort-bildung der überkommenen Tradition beschreiben48, so wies der Pandektenkom-mentar von Guilielmus Budaeus (1467–1540)49 ungleich deutlicher über den bis-herigen Kommentartypus hinaus: Die erstmals 1508 erschienenen „Annotationes ad 24 Pandectarum libros“50 verzichteten bereits in ihrem Titel ausdrücklich auf Vollständigkeit. Budaeus konzentrierte darüber hinaus die Kommentierung von vornherein auf einzelne Fragmente und auch einzelne Titel: Das erste Buch der Digesten etwa wurde nur bis Titel 18 kommentiert, die verbleibenden vier Titel be-handelte Budaeus nicht. Aber auch innerhalb der Titel wählte Budaeus nicht selten gezielt aus: Bei der Behandlung von D. 1,5 („De statu hominum“) etwa wurden le-diglich zwei der insgesamt 27 Texte näher behandelt, und auch diese Kommentie-rung wurde von vornherein lediglich auf einen Auszug des Fragments beschränkt. Im Fall des Texts mit dem Incipit „Cum igitur“51 kündigte Budaeus eine Kom-mentierung „ex lege secunda de statu hominum“ an, an deren Anfang als Orien-tierung der aus der lex entnommene Wortblock „ac post de ceteris ordinem edicti perpetui secuti“ gesetzt wurde. Diesem so gebildeten Lemma folgte dann eine – als durchgängiger Text verfasste – Erläuterung der Funktionen des edictum praeto-rium und des edictum perpetuum52. Damit knüpfte Budaeus in gewisser Weise bei der Tradition des Accursius an, der dem Begriff edictum perpetuum ebenfalls eine Glosse gewidmet hatte53, die von Budaeus allerdings kritisiert wurde. Die Leitbe-griffe edictum praetorium und edictum perpetuum waren auch am Rand der Seite aufgetragen und firmierten als Orientierungshilfe; dem entsprach auch ihre Auf-nahme in einen Wortindex54, dem einzigen Verzeichnis des Werkes, das lange Zeit auch keine Inhaltsübersicht enthielt, die erst in späteren Ausgaben hinzugefügt

48 Auf dieser Linie wohl auch W. Vogt, Franciscus Duarenus, 1509–1559: Sein didakti-sches Reformprogramm und seine Bedeutung für die Entwicklung der Zivilrechtsdogmatik (1971), 48–50.

49 Knappe Übersicht bei Jaumann, Handbuch (Fn. 34), 140; für einen Überblick zu metho-dologischen Grundpositionen siehe Maffei, Inizi (Fn. 17), 129–131; grundlegend nach wie vor: Kelley, Foundations (Fn. 34), 53–80; aus neuerer Zeit L. Katz, Guillaume Budé et l’art de la lec-ture (2009); Übersicht zur älteren Literatur bei Troje, Humanismus (Fn. 34), 633.

50 G. Budaeus, Annotationes ad 24 Pandectarum libros (Paris, 1508; das Exemplar der BSB München, Sign.: 2 J.rom.c. 89, online: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10145931-2 [abgerufen am 26.12.12]). Für eine Übersicht zur Bibliographie siehe Holthöfer, Literatur (Fn. 20), 174.

51 „Cum igitur hominum causa omne ius constitutum sit, primo de personarum statu ac post de ceteris, ordinem edicti perpetui secuti et his proximos atque coniunctos applicantes titulos ut res patitur, dicemus.“; näher zu dieser Stelle (und ihren ideellen Kontexten) etwa R. Quadrato, Hominum Gratia, in: Studi in onore di Remo Martini, Bd. 3 (2010), 273–288.

52 Budaeus, Annotationes (Fn. 50), fol. 42r.53 Accursius, Glossa ordinaria (Ausgabe Venedig, 1488; ND 1969), gl. „perpetuum“

ad l. Cum igitur, ff. de statu hominum, D. 1,5,2, fol. 10rb–10va.54 Budaeus, Annotationes (Fn. 50), o.P. als Tabula alphabetica zwischen praefatio und

fol. 1.

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wurde55 und damit die Benutzbarkeit des Buchs erheblich erleichterte. Nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass Budaeus’ Kommentierung auch zeittypische Veränderungen der kommentierenden Darstellung auswies: Denn die in Neuzeit und Moderne so berühmte Textstelle mit dem Incipit „Princeps legibus solutus“ (D. 1,3,31)56, die etwa Accursius nur eine knappe Glosse wert gewesen war57, wurde bei Budaeus zum Ausgangspunkt eines umfangreichen Textes, der im Rückgriff insbesondere auf Aristoteles und die römische Geschichtsschreibung Notwendig-keit und Inhalt dieser Lösung des Herrschers von den Gesetzen erörterte58. Inhalt-lich löste sich damit der Zusammenhang zwischen Gesetzestext und Kommentar weiter auf, auch wenn die Ordnung des Gesetzes selbst immerhin noch die Leit-linie für die diskursartige Textarbeit bildete59. Dabei wurde, wie der Einsatz von abstrakten Leitbegriffen wie edictum perpetuum als Orientierungshilfen und Re-gistereinträgen zeigt, auch mit neuen Indizierungsformen experimentiert, die sich allerdings nicht durchsetzen sollten. Dagegen sollte die Tendenz zur Abstraktion des Kommentars vom Text im Lauf der Zeit an Stärke gewinnen, wie nachfolgend deutlich werden wird.

III. Von der Ordnung der Vielfalt zur Vielfalt der Ordnungen: Kommentierungen des

römischen Rechts im 16. und 17. Jahrhundert

Bereits seit etwa dem zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts gewannen zuneh-mend abstrahierende Ordnungsmuster auch in der Praxis der Kommentierung an Raum (dazu unten 1.). Vor allem im Werk von Hugo Donellus werden solche Ord-nungsstrukturen aus der Kommentierung des Textes selbst entwickelt (unten 2.), in anderen Kommentargattungen wird die Geschichte des kommentierten Textes zur Ordnungskategorie (unten 3.). Die in solchen Entwicklungen erkennbare For-menvielfalt des Kommentars verdichtet sich im Werk von Cuiacius, der regelrecht mit verschiedenen Kommentartypen zu spielen scheint (unten 4.). In Mitteleuropa

55 Vgl. etwa die Übersicht „Capita iurisconsultorum“ in Budaeus’ Opera omnia, Bd. 3 (Basel, 1557), o.P., das Exemplar der BSB München, Sign.: 2 Opp. 11–3, online: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10929058-4 (abgerufen am 26.12.12).

56 Zur Geschichte und Tradition nicht nur der Formel, sondern auch der damit verbunde-nen Diskurse in der Zeit seit dem späten Mittelalter siehe K. Pennington, The Prince and the Law, 1200–1600: Sovereignty and Rights in the Western Legal Tradition (1993).

57 Accursius, Glossa ordinaria (Fn. 53), gl. „Princeps legibus“ ad l. Principus legibus solu-tus, ff. de legibus, D. 1,3,31, fol. 9rb.

58 Budaeus, Annotationes (Fn. 50), fol. 41r–42r.59 In der Bewertung des Kommentarwerks von Budaeus insgesamt ähnlich wie hier auch

Holthöfer, Literatur (Fn. 20), 124 f., mit der Qualifizierung als „frei-exegetische(r) Kommentar des Frühhumanismus” (a.a.O., 124).

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wird der topisch angeleitete Zugriff von Matthäus Wesenbeck im Lauf des 16. und 17. Jahrhunderts dominierend (unten 5.).

1. Neuordnungen des kommentierten Textes

Das Kommentarwerk des Ulrich Zasius (1461–1535)60 war zwar teilweise durch-aus der Autorität der spätmittelalterlichen Tradition verpflichtet, setzte aber deut-liche Akzente bei der Gestaltung der Textordnung. Dieses Miteinander von Altem und Neuem zeigte sich besonders deutlich im 1518 entstandenen Titelkommentar zum Digestum vetus, der 1537 gedruckt erschien61: So wurde der Titel „De pactis“ (D. 2,14) einleitend mit dem vorhergehenden Titel „De edendo“ verbunden, denn „es mag bisweilen geschehen, dass eine eingereichte Klage durch die Einrede ei-nes pactum zerschlagen wird, weswegen hierüber nun dieser Titel spricht“. Ebenso hieß es etwa zur Einordnung des Titels über die universitates (D. 3,4), der Gesetz-geber habe zunächst „de procuratoribus in genere“ gesprochen und nunmehr gehe es „specialiter“ um solche „qui nomine universitatis gerunt“. In der Gestaltung der vergleichsweise umfangreichen Darstellung folgte Zasius einem relativ deutlich fi-xierten Schema, indem er eingangs mehre puncta aufzählte oder ankündigte, man werde eine bestimmte Zahl von Aspekten zu sehen bekommen, um dann in der Folge die so angekündigten Ebenen systematisch abzuarbeiten. Stilistisch näherte er sich dabei zuweilen der mittelalterlichen Tradition an, arbeitete er doch immer wieder mit dem Ausdruck „nota“. Auch in seinen Allegationen bewegte sich Zasius in der Tendenz auf der Linie des Überkommenen, wurden doch regelmäßig neben Texten des Corpus iuris civilis Autoritäten wie Bartolus oder Baldus allegiert62.

Doch das änderte nichts daran, dass in der Auseinandersetzung mit den je kommentierten Titeln ein eigenständiges Ordnungsschema zugrunde gelegt wurde, das einer gegenüber der Legalordnung autonomen Struktur folgte. Im Fall der universitates63 wurde das besonders deutlich, wenn auch die gegenüber dem römischen Recht fundamental erweiterte Konzeption der, wie Zasius es formu-lierte, universitas als „quaedam repraesentata communitas“64 sicher lich zusätzlich die Distanz zum römischen Gesetzestext förderte. Denn Zasius lieferte eine syste-

60 S.W. Rowan, Ulrich Zasius: A Jurist in the German Renaissance, 1461–1535 (1987). 61 Rowan, Zasius (Fn. 60), 234, 247.62 Zum Ganzen U. Zasius, Paratitla in primam Digesti veteris partem, in: ders., Opera om-

nia, hg.v. J.U. Zasius, J.M. v. Frundeck (Lyon, 1550; ND 1964), Bd. 1, 68–75, 93–96. Das erste Zitat im Text a.a.O., 68: „Fit aliquando, ut actio edita per exceptionem pacti elidatur, unde de eis hic titulus loquitur“; das zweite Zitat a.a.O., 93.

63 Personenverbände, dazu vgl. Kaser, Privatrecht (Fn. 27), Abschnitt 1: Das altrömische, das vorklassische und klassische Recht (2. Aufl., 1971), 304.

64 Vgl. dazu im Überblick A. Thier, Klassische Kanonistik und kontraktualistische Tradi-tion, in: F. Roumy/ M. Schmoeckel/O. Condorelli (Hg.), Der Einfluss der Kanonistik auf die europäische Rechtskultur, Bd. 2: Öffentliches Recht (2011), 61–80, 77–80 m.w.N.; das Zitat im Text bei Zasius, Paratitla (Fn. 62), ad tit. Quod cuiusque universitatis, S. 94.

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matische Darstellung der Doktrin von der universitas, die bei deren Bezeichnung und Phänomenologie ansetzte, um dann zur Willensbildung und zu Problemen der Verbandszurechnung fortzuschreiten und schließlich bei den Problemen zu enden, die sich aus der Auflösung einer privilegierten universitas ergaben. Diese Systematik hatte mit der Binnenstruktur von D. 3,4 kaum etwas gemeinsam.

Dagegen verfuhr Zasius teilweise zumindest in stilistischer Hinsicht etwas kon-servativer in der Einzelexegese. In der Auseinandersetzung mit D. 1,1 („De iustitia et iure“) etwa, die 1520 entstand und 1537 publiziert wurde65, verzichtete er zwar ähnlich wie andere humanistische Kommentatoren auf eine durchgängige Erläu-terung jeder einzelnen Textstelle. Doch in der Analyse der von ihm zur Kommen-tierung ausgewählten Gesetze und Fragmente griff er bisweilen zumindest ansatz-weise auf das Schema der lectura zurück. So begann etwa die Kommentierung von D. 1,1,9, eines Textes mit dem Incipit „Omnes populi“66, nach einem kurzen Hin-weis auf die umfassende Kommentierung des Bartolus („Bartoli commentatus est multum extense“) mit einer systematischen Aufgliederung („habet tres partes“) des Gesetzes („differentiam in iuris in omni populo – de iure proprio populi – de iure communi omnium gentium“) und einer summa, dass nämlich „omnes po-puli aut proprio, aut communi iure utuntur“, also alle Völker entweder das eigene oder ein allen gemeinsames Recht anwendeten67. Dem Ansatz nach entsprach die-ses Vorgehen der Präsentation in der lectura mit summarium und divisio am An-fang68; auch die Allegation zumindest der großen Autoritäten wie Bartolus, Al-ciat oder der Glossa ordinaria folgte diesem Schema wie auch – zumindest dem Wortlaut nach – die Verwendung des Ausdrucks „collige“ als Aufforderung, et-was aus dem Text abzuleiten69. Trotzdem werden deutliche Unterschiede sicht-bar: Auch wenn Zasius durchaus stilistische Instrumente wie die Anweisung „tu dic“ verwendete, so folgte er in erster Linie einer Kette von sieben conclusiones wie etwa der These „Über das, was göttlichen Rechts ist und zu den spiritualia zählt, haben Gesetze keine Macht“70. Solche Schlussfolgerungen wurden in der Auseinandersetzung mit dem Normtext erarbeitet und gliederten die Gedanken-führung, bildeten sie doch Referenzpunkte für weitere Konsequenzen oder auch die Bestimmung von Ausnahmen zu diesen conclusiones. Auf diese Weise gewann der ohnehin flüssig geschriebene Text eine zusätzliche eigene Struktur, während

65 Rowan, Zasius (Fn. 60), 234, 248.66 „Omnes populi, qui legibus et moribus reguntur, partim suo proprio, partim communi

omnium hominum iure utuntur. Nam quod quisque populus ipse sibi ius constituit, id ipsius proprium civitatis est vocaturque ius civile, quasi ius proprium ipsius civitatis: quod vero na-turalis ratio inter omnes homines constituit, id apud omnes peraeque custoditur vocaturque ius gentium, quasi quo iure omnes gentes utuntur“.

67 Zasius, Commentaria ad l. Omnes populi, n. 1, in: Opera omnia I (Fn. 62), 260.68 Vgl. zur lectura oben II.1. bei und in Fn. 26.69 Zu diesem Aspekt von colligere in der spätmittelalterlichen Kommentarliteratur siehe

Kriechbaum, Literaturformen (Fn. 26), 362 f.70 Zasius, Commentaria ad l. Omnes populi, n. 15, in: Opera omnia I (Fn. 62), 262: „super

his quae sunt iuris divini et respiciunt spiritualia, non valent statuta“.

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quaestiones und nota keine strukturierende Bedeutung hatten. So verbinden sich bei Zasius formale Elemente der überkommenen Tradition mit dem durchgehend zu beobachtenden Bemühen, im Umgang mit dem kommentierten wie auch mit dem dazu entstehenden Text eigene Ordnungsmuster zu entwickeln.

Einen deutlichen Schritt weiter ging der Schüler von Alciat und führende Re-präsentant des französischen Humanismus Franciscus Duarenus (1509–1559)71. Seine entschiedene Abkehr von den Ordnungsvorstellungen der überkommenen Tradition pointierte er 1544 in einer programmatischen „Epistola ratione docendi discendique“72. Im Kern ganz auf die Lehre ausgerichtet, wandte sich Duarenus hierin auch und gerade gegen die „ungeheure Masse der Kommentare, durch die das ganze Recht eher verdeckt wird“73. Denn die Obsession der Kommentatoren für die Wiedergabe von anderen Autoritäten und für dogmatische Einzelprobleme lasse sie „commentariis magis, quam Legibus interpretandis occupati“, also mehr dem Kommentieren von Kommentaren als dem Verstehen des Gesetzes verpflich-tet sein74. Hinzu kam der Umstand, dass „Tribonian bei der Behandlung des Ge-genstandes des einzelnen Titels keine vernünftige Ordnung oder Methode gehabt hat“, dass also auch die Ordnung des zu kommentierenden Gesetzestextes selbst alles andere als nachvollziehbar war75. Schon deswegen musste sich jedenfalls die didaktische Erläuterung des Gesetzes von den Strukturen des Gesetzes selbst lösen und stattdessen „das, was so weit verstreut ist, allgemein beschreiben und durch Definitionen wie durch Aufteilungen“ verständlich machen, indem der Stoff „in certa eademque paucissima cogantur genera“ gebracht, also in möglichst wenige Gattungsbegriffe gebracht werde76.

In seiner konkreten Textpraxis experimentierte Duarenus regelrecht mit ver-schiedenen Formen der Kommentierung: So findet sich die Kombination zwi-schen systematischer Einführung und lemmatischer Kommentierung einzelner Textstellen in der gesetzgeberisch vorgegebenen Ordnung wie im Fall der 1554 erschienenen Kommentierung zum Digestentitel D. 45,1 („De verborum obliga-tionibus“) zu den sogenannten „Verbalkontrakten“, insbesondere der stipulatio, dem Leistungsversprechen des römischen Rechts77. Hier beginnt die Kommen-tierung mit einem knappen Überblick, an den sich dann die Analyse der einzel-

71 Kelley, Foundations (Fn. 34), 103–106; Vogt, Duarenus (Fn. 48), passim.72 F. Duarenus, Epistola de ratione docendi discendique Juris conscripta, an André Guil-

lart; Abdruck etwa in: ders., Omnia quae quidem hactenus edita fuerunt Opera (Frankfurt, 1607), 1100–1105. Im Einzelnen hierzu Vogt, Duarenus (Fn. 48), 40–47, sowie in der Übersicht Kelley, Foundations (Fn. 34), 104.

73 Duarenus, Epistola (Fn. 72), 1101: „… ingentem illam commentariorum molem, qua totum pene ius obrutum est“.

74 Duarenus, Epistola (Fn. 72), 1102.75 Duarenus, Epistola (Fn. 72), 1103: „… Tribonianum in tractando cuiusque tituli argu-

mento, nulla ordinis, aut methodi rationem habuisse“.76 Duarenus, Epistola (Fn. 72), 1103. „… quae sic diffusa ac dissipata sunt generatim

describere, & tum diffinitionibus, tum divisionibus…“.77 Allgemein dazu etwa Kaser, Privatrecht I (Fn. 63), 538–543 (§ 128).

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nen Fragmente anschließt, die ihrerseits teilweise mit einem knappen Hinweis eingeleitet wird wie etwa zu D. 45,1,1 pr.78, zu dem Duarenus erläuternd erklärt, „Da aus der Stipulation der Verbalkontrakt entsteht, daher lehrt Ulpian am An-fang, wie die Stipulation abgeschlossen wird“79. Häufig folgen dann aber Kom-mentierungen in lemmatischer Form zu einzelnen Textstellen. In der 1544 erst-mals publizierten Kommentierung zum Titel D. 2,14 („De pactis“) dagegen kom-binierte Duarenus eine abgesonderte „Partitio et enarratio methodica tractatus de pactis“ mit einer Kommentierung, die sich wiederum grundsätzlich an der justinianischen Legalordnung orientierte. Die Partitio dagegen bot in sechs Ka-piteln eine systematische Darstellung der pacta, angefangen von der Frage „quid sit pactum“ bis hin zur Darstellung „de effectu et potestate pactorum“80. Hier-bei allerdings griff Duarenus auch auf Texte des Codex (C. 2,3) zurück, die er in seiner Darstellung mit Texten aus den Digesten kombinierte81. In den posthum publizierten Kommentaren schließlich wurde die Legalordnung innerhalb der je einzelnen Titel aufgegeben und die Erläuterung folgte jetzt weitgehend dem Schema der Partitio, gliederte sich also in einzelne Kapitel, die zudem (soweit möglich) die jeweiligen Texte aus Codex und Digesten zusammenfassten82. Un-abhängig hiervon bildete allerdings die Titelfolge für Duarenus eine weitgehend feste Größe83, behielt also die formale Struktur des Textes in diesem Punkt ihre Autorität.

Das änderte sich bei einem seiner Zeitgenossen, Franciscus Connanus (1508–1551)84. In den „Commentarii iuris civilis“ (posthum seit 1553)85 nämlich wurde

78 Der Text lautet (Ulpian libro 48 ad Sabinum): „Stipulatio non potest confici nisi utroque loquente: et ideo neque mutus neque surdus neque infans stipulationem contrahere possunt: nec absens quidem, quoniam exaudire invicem debent. Si quis igitur ex his vult stipulari, per servum praesentem stipuletur, et adquiret ei ex stipulatu actionem. Item si quis obligari velit, iubeat et erit quod iussu obligatus“.

79 F. Duarenus, Commentarius in lib. XLV. Pandectarum, Tit. de verborum obligationi-bus (Lyon, 1554), Exemplar der BSB München, Sign.: 2 J.rom.m. 37#Beibd.1, online: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12–bsb10146754–7 (abge-rufen am 2.1.2013), fol. 1v: „Quia ex stipulatione nascitur verborum obligatio, ideo Ulpianus in initio docet, quo modo stipulatio contrahatur“. Die Einleitung a.a.O., 1r–1v.

80 F. Duarenus, Partitio et enarratio methodica tractatus de pactis, in: ders., Opera omnia tam recentia quam prius edita in iure civili (Lyon, 1554), Exemplar der BSB München, Sign.: 2 Decis. 54#Beibd.2, online: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nb n:de:bvb:12–bsb10797722–8 (abgerufen am 2.1.2013), fol. 36r–39v, die Zitate im Text a.a.O., 36r, 38v.

81 Dazu Vogt, Duarenus (Fn. 48), 52. 82 Dazu Vogt, Duarenus (Fn. 48), 55–57. Dazu zählt wohl auch die Referenz der Analyse

von Troje, Humanismus (Fn. 34), 759–763 (C. 4,19/D. 22,3 – de probationibus); dem entspricht Trojes Benutzung einer von Duarenus nicht mehr selbst verantworteten Ausgabe von 1608.

83 Vogt, Duarenus (Fn. 48), 62 mit dem Hinweis auf eine vereinzelte Ausnahme.84 C. Bergfeld, Franciscus Connanus, 1508–1551: Ein Systematiker des römischen Rechts

(1968); M. Schmoeckel, François Connan (1508–1551), das Synallagma und die Föderaltheo-logie, in: Mélanges Anne Lefebvre-Teillard (2009), 963–990.

85 Zur Bibliographie Holthöfer, Literatur (Fn. 20), 207.

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das dreigliedrige Schema der Institutionen, also die Einteilung nach persona, res und actio86, zum Ordnungsrahmen gemacht87. Innerhalb dieses Ordnungsgefü-ges lehnte Connanus sich zwar grundsätzlich an die Titelfolge Justinians an, auch wenn er dabei Texte aus den Digesten und dem Codex zusammenzog. Doch nicht selten wurden auch die Titelabfolgen selbst verändert88, so dass jetzt nur mehr die Kategorie des Titels selbst verbindlich blieb, deren Anordnung dagegen veränder-bar wurde.

2. Die Ordnung des Kommentars als Produkt des Kommentierens: Hugo Donellus

Es war Hugo Donellus (1527–1591)89, der vollends den Übergang zu einer neuen Ordnungsbildung vollziehen sollte, in der sich der Bezug zwischen der Struktur des Kommentars und der formalen Gestaltung des Textes endgültig auflöste. In den seit 1589 erscheinenden „Commentarii de iure civili“90 nämlich verknüpften sich Exegesen einzelner Textstellen und systematische Darstellung des Gesetzes-ganzen zu einer Einheit. Offen kritisch gegenüber der Legalordnung des römi-schen Rechts91, unternahm Donellus in den „Commentarii“ den großangelegten Versuch, eine eigene Ordnung einzuführen92, die sich konkret am Institutionen-aufbau orientierte93. Auf diese Weise löste er sich dem Anspruch nach von der römischrechtlichen Legalordnung, die zum lediglich abstrakten Referenzrahmen wurde. Das zeigt sich bereits im Blick auf die Gliederung seines Werkes: So han-delte Band 1 der „Commentarii“ vor allem „de iure quid sit“ und entfaltete dabei zum Teil eine Rechtsquellenlehre, während Band 2 mit der Frage nach dem finis iuris einsetzte, um dann nach der Einführung des Institutionenschemas zur Un-terscheidung von ius publicum, ius privatum und ius divinum fortzuschreiten und

86 Als einführender Überblick: M. Kaser/R. Knütel, Römisches Privatrecht (19. Aufl., 2008), § 2 Rn. 27 m.w.N.

87 Dazu Bergfeld, Connanus (Fn. 84), 45 f., 152, 207, sowie Vogt, Duarenus (Fn. 48), 59–61.88 Im Einzelnen Bergfeld, Connanus (Fn. 84), 45 ff.89 Für Hinweise zu Literatur über Donellus s.o. Fn. 19. 90 Zur Bibliographie siehe Eyssell, Doneau (Fn. 19), 347 f. sowie Holthöfer, Literatur

(Fn. 20), 207 f.91 Dazu näher etwa Heise, Einfluss (Fn. 19), 187–189. 92 Aus jüngster Zeit M. Avenarius, „Neque id sine magna Servii laude…“: Historisierung

der Rechtswissenschaft und Genese von System und Methode bei Donellus, Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 74 (2006), 61–93, 78–88, sowie C.A. Cannata, Systématique et dogma-tique dans les Commentarii iuris civilis de Hugo Donellus, in: B. Schmidlin/A. Dufour (Hg.), Jacques Godefroy (1587–1652) et l’Humanisme juridiques à Genève: Actes du colloque Jacques Godefroy (1991), 217–230, 222–226 und passim.

93 Vgl. H. Donellus, Commentarii de iure civili, Bd. 2, cap. 2/III, hier benutzt in der Aus-gabe der Opera omnia, Bd. 1 (Lucae, 1762), 191 f., wo Donellus mit Bezug auf die gaianische Unterscheidung seinerseits betont, „ius omne vel ad personas, vel ad res, vel ad actiones perti-nere“, um daraus auch das weitere Vorgehen abzuleiten.

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schließlich die iura personae in den Blick zu nehmen94, also auf die erste Ebene des Institutionenschemas einzuschwenken.

Die Orientierung am Ordnungsmuster der Institutionen war aber für Donellus kein Selbstzweck, sondern folgte aus seiner Sicht einer Vorgabe des Rechts (und insofern der von ihm kommentierten Texte) selbst. Denn Donellus stellte an den Ausgangspunkt seiner Ordnungsüberlegungen die (methodisch wohl der Dihai-rese verpflichtete95) Frage nach dem finis iuris, nämlich der iustitia. Deren Inhalt bestimmte Donellus im unmittelbaren Rückgriff auf Inst. 1,1,1: „Iustitia est con-stans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi“96. Diese Regel des suum cuique tribuere bildete für Donellus das normative Postulat für alle Bereiche, wo de iure agitur. Das hieß im Blick auf das ius Dei zu untersuchen, quod Deo tribui-tur. Im Blick auf die Menschen bedeutete das die Suche nach dem, quod reipubli-cae und was den privatis & singulis zusteht97, womit Donellus die Unterscheidung zwischen ius publicum und ius privatum einführte. Doch das ordnungsbildende Potential der Regel suum cuique tribuere war damit noch nicht erschöpft. Denn sie ließ sich insbesondere im Privatrecht ihrerseits differenzieren in das, quod vere & proprie nostrum sit und in das, quod nobis debeatur98. Diese Unterscheidung, zwi-schen dem, was „wahrhaft und wirklich das Unsrige ist“ und dem, „was uns ge-schuldet wird“, wurde für Donellus zum Ansatzpunkt für die Gliederung des Pri-vatrechts99: Bildete das nostrum die Grundlage für die Auseinandersetzung mit der Person, ihren Vermögensrechten und den dazu erforderlichen actiones100, so war das quod nobis debeatur die Basis des Obligationenrechts. Dem entsprach es, dass Donellus die Darstellung der obligationes einleitete mit dem Rückgriff auf die „duabus partibus eius, quod suum cuique est“. Denn auch die Regel, das zu leis-ten, was jemandem geschuldet wird, zählte zur praecepto illo summo von Recht und Gerechtigkeit, auf der alle Rechtswissenschaft aufruhte101. Von hier aus kam

94 Donellus, Commentarii, Bde. 1, 2, in: Opera omnia I (Fn. 93), 2–374. 95 Zur Dihairese, also der systematischen klassifizierenden Aufgliederung von Begriff-

lichkeiten, im Zusammenhang der humanistischen Rechtswissenschaft siehe Schröder, Recht als Wissenschaft (Fn. 17), 82–88.

96 Donellus, Commentarii, Bd. 2, cap. 1/III, in: Opera omnia I (Fn. 93), 183.97 Donellus, Commentarii, Bd. 2, cap. 3/I, in: Opera omnia I (Fn. 93), 193. Zur Rolle des ius

divinum siehe auch Heise, Einfluss (Fn. 19), 273 f. mit der These, dass die Ordnungsbildung bei Donellus wesentlich auf das ius divinum gestützt wird.

98 Donellus, Commentarii, Bd. 2, cap. 8/I, in: Opera omnia I (Fn. 93), 227.99 Ebenso wie hier Avenarius, Historisierung (Fn. 92), 80–82, der dabei auf die Individual-

ausrichtung von Donellus abhebt; Heise, Einfluss (Fn. 19), 195–197; P. Stein, Donellus and the Origins of the Modern Civil Law, in: Mélanges Felix Wubbe (1993), 439–452, 448–450. Der im Text skizzierte methodische Zugriff von Donellus bestätigt auch die Zuordnung seiner Kom-mentierung in den Zusammenhang der frühhumanistischen dihairetischen Tradition, vgl. Schröder, Recht als Wissenschaft (Fn. 17), 88.

100 So auch Avenarius, Historisierung (Fn. 92), 82. 101 Donellus, Commentarii, Bd. 12, cap. 1/I, II, in: Opera omnia (Fn. 93), Bd. 3 (Lucae,

1763), 411, 413.

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Donellus dann auch zwanglos zur Auseinandersetzung mit ortu, effectu, interitu obligationis, also mit Entstehung, Wirkung und Ende des Schuldverhältnisses102.

Damit hatte die Beziehung zwischen Text und Kommentar eine neue Quali-tät gewonnen: Vollends hatte sich die Kommentierung von der formalen Struk-tur des Textes gelöst. Doch die jetzt entstehende Ordnungsbildung war trotzdem nicht textunabhängig, sie folgte vielmehr der Deutung des Textes durch ihren Kommentator: Donellus entfaltete den Ordnungsrahmen seiner Kommentierung in der Auseinandersetzung mit dem kommentierten Text des römischen Rechts. Anders ausgedrückt könnte man sagen, dass Donellus aus seiner Sicht die mate-rielle Ordnungsvorstellung des römischen Rechts in die Architektur seines Tex-tes übertrug. Man mag darüber streiten können, ob und inwieweit dieser Ansatz auch erfolgreich war103, denn immerhin war Donellus dazu gezwungen, die den Zeitgenossen so vertraute formale Gestalt des römischen Rechts in den Hinter-grund zu drängen. Doch das ändert nichts daran, dass es Donellus gelang, das Corpus iuris civilis im Vollzug seiner Kommentierung als sinnhafte Einheit zu erfassen.

3. Die Textgeschichte als Ordnungskategorie

War der Ordnungsentwurf des Donellus abgeleitet gewesen aus seiner Deutung der systematischen Strukturen des römischen Rechts, so wurde für einen ande-ren Typus von Ordnungskonzepten die Entstehungsgeschichte des Corpus iuris civilis zur Grundlage der Kommentarsystematik: Franciscus Balduinus (François Bauduin, 1520–1573)104 publizierte 1556 einen Kommentar über die Gesetze Kon-stantins I. (306–337)105 im Codex Iustinianus106. 1560 folgte eine ebenfalls chrono-logisch angelegte Erläuterung der justinianischen Gesetzgebung. Gerade hier war der historisch-genetische Zugriff kein Selbstzweck, sondern folgte einem klar de-finierten normativen Prinzip: Denn, so erklärte Balduinus seinen Lesern, „Da das spätere Gesetz das frühere beseitigt oder abändert, ist es notwendig, die Abfolge

102 Donellus, Commentarii, Bd. 12, cap. 2/I, in: Opera omnia III (Fn. 101), 423.103 Kritisch etwa Troje, Humanismus (Fn. 34), 767 m.w.N. Positiver dagegen die Wertung

bei Avenarius, Historisierung (Fn. 92), 82.104 R. Baier, Baudoin (oder Balduinus), François, in: Biographisch-Bibliographisches

Kirchenlexikon, Bd. 22 (2003), 61–64, aktualisierte Version online: http://www.bbkl.de/b/baudoin_f.shtml (abgerufen am 10.2.2013); Kelley, Foundations (Fn. 34), 118–136; umfassend M. Erbe, François Bauduin, (1520–1573): Biographie eines Humanisten (= Quellen und For-schungen zur Reformationsgeschichte, Bd. 46) (1978).

105 M. Lätzel, Konstantin I. (der Große), in: Biographisch-Bibliographisches Kirchen-lexikon 23 (2004), 841–845, aktualisierte Version online: http://www.bbkl.de/k/konstan tin_d_g_k.shtml (abgerufen am 10.2.2013).

106 F. Balduinus, Constantinus Magnus: sive de Constantini Imp. Legibus Ecclesiasticis atque civilibus Commentariorum libri duo (Basel, 1556), das Exemplar der BSB München, Sign.: J.rom.c. 19, online: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn: de:bvb:12–bsb10181834–6 (abgerufen am 10.2.2013).

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der Gesetzeszeiten (legum tempora) zu beobachten“107. Aber da die Gesetz bücher Justinians „conflati ex multiplici varietate Iuris novi et veteris“, also durch die Viel-falt von altem und neuem Recht verderbt waren, war es im Blick auf das Prioritäts-prinzip unverzichtbar zu klären, „quid prius, quid posterius sit“108. Die Ermittlung der genetischen Ordnung der justinianischen Gesetzgebung diente also nicht le-diglich der „Gesamterkenntnis des justinianischen Rechts“109, sondern sie war da-rüber hinaus rechtlich geboten, um überhaupt über die Anwendbarkeit von Recht entscheiden zu können. Balduinus deutete also den Codex Iustinianus nicht als gesetzgeberische Einheit, sondern als – ungenügend redigierte – Kompilation von unterschiedlichen Gesetzen, die, war ihre konkrete Gültigkeit erst einmal geklärt, dabei durchaus einer dogmatischen Analyse zugänglich waren110. Ungleich inten-siver wurde dagegen der spezifisch rechtsgeschichtliche Zugriff eine Generation später bei Jacobus Gothofredus (junior, 1587–1652)111, der nicht nur die berühmte Edition des Codex Theodosianus schuf, sondern darüber hinaus auch systema-tisch kommentierte – und das in immerhin sechs Bänden. Hier wurde das spät-antike Recht als historische Quelle, nicht als Text des geltenden Rechts zum Objekt der Kommentierung, die damit als Speicher auch des rechtsgeschichtlichen Wis-sens genutzt wurde112.

4. Verdichtete Vielfalt des Kommentierens: Das Werk von Jacobus Cuiacius

Im Werk des Jacobus Cuiacius (1520–1590)113 zeigt sich die typologische Breite der humanistischen Kommentare besonders eindrucksvoll. Der 1556 erstmals er-schienene Kommentar zu den Institutionen114 folgte noch einem strikt lemmati-

107 F. Balduinus, Iustinianus: Sive de iure novo, commentariorum libri IIII (Basel, 1560), das Exemplar der BSB München, Sign.: J.rom.c. 20, online: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12–bsb10181836–7 (abgerufen am 10.2.2013), hier 5: „Cum ergo posterior lex priori derogat, atque eam quoque abroget, valde est necesse legum tempora observare“.

108 Balduinus, Iustinianus (Fn. 107), 5.109 So aber Troje, Humanismus (Fn. 34), 785.110 Zu diesem Aspekt siehe H.E. Troje, „Peccatum Triboniani“: Zur Dialektik der „inter-

pretatio duplex“ bei François Balduinus, Studia et Documenta Historia et Iuris 36 (1970), 341–358, wieder abgedruckt in: ders., Humanistische Jurisprudenz (Fn. 10), 125*–142*, 138* f. und passim; ein konkretes Beispiel dogmatischer Analyse bei Balduinus a.a.O., 134*–138*; siehe im Übrigen auch dens., Humanismus (Fn. 34), 785 f.

111 Vgl. die Beiträge bei Schmidlin/Dufour, Godefroy (Fn. 92)112 Zusammenfassend Holthöfer, Literatur (Fn. 20), 152 f. und 179 zur Bibliographie des

Kommentars zum Codex Theodosianus.113 Knapper Überblick bei K. Stapelfeldt, Jacques Cujas (1520–1590), in: G. Kleinheyer/

J. Schröder (Hg.), Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten (5. Aufl., 2008), 106–109; siehe auch J. Otto, Cujas (Cujacius), Jacques (1522–1590), in: M. Stolleis (Hg.), Ju-risten: Ein biographisches Lexikon von der Antike bis zum 20. Jahrhundert (2001), 152 f. Zur Methode von Cuiacius siehe Kelley, Foundations (Fn. 34), 112–115.

114 Zur Bibliographie Holthöfer, Literatur (Fn. 20), 171.

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schen Muster: Einzelne Ausdrücke wurden in Glossenform erläutert, auf längere Darlegungen wurde verzichtet: Zu Inst. 3,13 pr., wo die Unterscheidung der obliga-tiones eingeführt wurde115, setzte die Glossierung ein bei dem Ausdruck „obligatio est“ und hob hervor, dass sich diese Definition allein auf Obligationen iure civili beziehe; zum Ausdruck „necessitate adstringimur“ wurde zur Abgrenzung auf die fehlende necessitas der Verpflichtung von Kindern ohne Mitwirkung des tutor und von Vereinbarungen zwischen dem Sklaven und seinem Herrn hingewiesen. Dem folgte eine knappe Kennzeichnung der obligatio civilis als „iuris civilis vinculum“ und der obligatio naturalis als „aequitatis vinculum“. Vier knappe glossenartige Sätze zu den Ausdrücken „solvendae“, „summa“, „aut certo“ und „in quattuor spe-cies dividitur“ schlossen diese Kommentierung ab116.

Doch Cuiacius konnte auch anders: Der Kommentar zu den letzten drei Bü-chern des Codex (1562)117 folgte zwar der Legalordnung der justinianischen Ge-setzgebung und erläuterte dabei grundsätzlich jede lex. Aber nun erweiterte sich die Gestaltungspalette seiner Kommentierungen. Denn neben die weiterhin be-nutzten glossenförmigen Erläuterungen einzelner Begriffe traten jetzt auch län-gere Ausführungen zum Text insgesamt, die auf die Darstellung des jeweils er-fassten Regelungsproblems zielten. Hinzu kamen einleitende Kommentierungen des je behandelten Titels. So begann etwa die Kommentierung des Titels „De iure fisci“ (C. 10,1)118 mit einer Erklärung des Begriffs ius fisci, während die erste lex des Titels im Wesentlichen in der Form von Glossen zu einzelnen Ausdrücken kom-mentiert wurde. Die zweite lex des Titels wird dagegen mit einem weitgehend ge-schlossenen Text erläutert, der den Regelungszweck der Norm erklärt, während die dritte lex des Titels wiederum mit Glossen zu einzelnen Begrifflichkeiten kom-mentiert ist. Die Kommentierungen beziehen regelmäßig andere Teile des Cor- pus iuris civilis ein, teilweise werden aber auch andere Autoren angeführt und manchmal auch kritisiert wie etwa mit der nüchternen Bemerkung, „errat Alciatus

115 „Nunc transeamus ad obligationes. obligatio est iuris vinculum, quo necessitate ad-stringimur alicuius solvendae rei, secundum nostrae civitatis iura. § 1. Omnium autem obli-gationum summa divisio in duo genera deducitur: namque aut civiles sunt aut praetoriae. ci-viles sunt, quae aut legibus constitutae aut certe iure civili comprobatae sunt. praetoriae sunt, quas praetor ex sua iurisdictione constituit, quae etiam honorariae vocantur. § 2. Sequens di-visio in quattuor species deducitur: aut enim ex contractu sunt aut quasi ex contractu aut ex maleficio aut quasi ex maleficio. prius est, ut de his quae ex contractu sunt dispiciamus. harum aeque quattuor species sunt: aut enim re contrahuntur aut verbis aut litteris aut consensu. de quibus singulis dispiciamus.“ Dazu im Überblick etwa Kaser, Privatrecht I (Fn. 63), 479, 484.

116 J. Cuiacius, Ad Libros Quatuor Institutionum Dn. Iustiniani Notae Priores & Pos-teriores, zu Inst. 3,13 pr. (Ausgabe Köln, 1592), Exemplar der BSB München, Sign.: J.rom.c. 93#Beibd.2, online: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn: de:bvb:12–bsb10314379–3 (abgerufen am 27.12.12), hier 171 f.

117 Zur Bibliographie Holthöfer, Literatur (Fn. 20), 177.118 Zum Folgenden vgl. J. Cuiacius, Ad Tres Postremos Lib. Cod. Dn. Iustiniani Commen-

tarii (Ausgabe Lyon, 1562), Exemplar der BSB München, Sign.: 2 J.rom.c. 115, online: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12–bsb10145987–2 (abge-rufen am 27.12.12), hier 1 f.

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in lib(ello) de magistratibus“119. In den 1570 publizierten „Paratitla ad Digesta“120 schließlich wechselte Cuiacius die Referenzebene der Kommentierung. Hier wie dann auch in den 1579 publizierten Kommentierungen der ersten neun Bücher des Codex121 beschränkte sich die Kommentierung auf die Titel von Digesten und Codex. Das bedeutet konkret eine eher summarische Darstellung der Rechtsinsti-tute, die im jeweiligen Titel geregelt sind. So wird der Titel „De pactis“ (C. 2,3) in seinem Regelungsansatz erläutert und der Ausdruck pactum nudum erklärt. An diese Darlegung knüpft die Kommentierung des folgenden Titels „De transacti-onibus“ an (C. 2,4), um dann den nächsten Titel „De errore calculi“ (C. 2,5) mit den Worten anschließen zu lassen, „nach dem Titel ‚De transactionibus‘ wird dieser Titel gegeben, gleichsam als Teil von jenem, damit verständlich wird, dass eine transactio korrigiert werden kann, wenn in der Berechnung geirrt wurde…“. Die Kommentierung des folgenden Titels „De postulando“ wird dann wiederum mit einer systematischen Bemerkung eingeleitet, „mit Recht folgt den pacta und transactiones der Titel ‚De postulando‘. Denn wenn die Parteien zwischen sich die Sache nicht durch ein pactum entscheiden, was bleibt dann anders übrig, als dass sie ihr Begehren beim Richter entweder selbst oder durch einen Advokaten vorbringen…“122. Hier rückt also die Gesamtordnung des Codex (und dies in er-klärt didaktischer Absicht123) in den Vordergrund, die erläuternden Texte rich-ten sich neben der Erklärung der systematischen Positionierung vor allem auf die Darlegung des Regelungszwecks. Dieser Typus des, wie er auch genannt worden ist, „titularaccessorischen Kommentars“ wird im Frankreich des 16. und 17. Jahr-hunderts sehr erfolgreich124. Man mag Vorläufer dieser Literaturform in der mit-telalterlichen Titelsumme125 sehen wollen, doch in der Abstraktion von der Le gal-ordnung und im Bemühen, die Abfolge der Titel systematisch zu deuten ist eine neue Qualität erreicht126.

Freilich belegt das Werk von Cuiacius ebenso wie schon die Kommentierung von Budaeus127, dass der Konsens über die Form des Kommentierens im frühen

119 Cuiacius, Ad Tres Postremos Lib. Cod. (Fn. 118), zu C. 10,1,3, S. 2. Knappe Hinweise zu diesem 1529 publizierten Werk Alciats bei Abbondanza, Alciato (Fn. 34).

120 Übersicht zur Bibliographie bei Holthöfer, Literatur (Fn. 20), 175.121 Zur Bibliographie im Überblick siehe Holthöfer, Literatur (Fn. 20), 177. 122 J. Cuiacius, Paratitla in libros novem Codicis Justiniani repetitae prelectionis, ad tit.

De postulando, C. 2,6 (Ausgabe Paris, 1584), Exemplar der BSB München, Sign.: 2 J.rom.c. 117–4, online: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12- bsb10797077-6 (abgerufen am 27.12.12), hier 27: „Post titulum de transactionibus datur hic ti-tulus, quasi pars illius, ut intelligatur corrigi transactionem si erratum sit in computa tionem … Recte sequitur pacta et transactiones titulus de postulando. Nam si rem pacto non deci-dant inter se partes, quid aliud superest, quam ut desideria sua exponant apud iudicem per se vel advocatum …“.

123 Kennzeichnend der Untertitel „repetitae prelectionis“ (vgl. Fn. 122).124 Holthöfer, Literatur (Fn. 20), 129 f., der im Text zitierte Ausdruck 129.125 Horn, Literatur (Fn. 26), 352; Schröder, Recht als Wissenschaft (Fn. 17), 93.126 Auf der gleichen Linie auch Holthöfer, Literatur (Fn. 20), 129 f. mit weiteren Beispielen.127 Vgl. oben II.3.

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16. Jahrhundert offensichtlich zerbrochen ist, oder, positiv ausgedrückt, die Ab-kehr von der spätmittelalterlichen Tradition in der Tendenz zur Formenvielfalt der Kommentare sichtbar wird.

Das zeigt sich vollends in der Hinwendung von Cuiacius auch zu einer Form des historisch angeleiteten Kommentierens. Hier scheint seit 1570 das Bemühen sichtbar zu werden, gezielt die Fragmente von Autoren wie Africanus, Papinian, Ulpian oder Scaevola in ihrem systematischen Zusammenhang und damit, so hat Franz Wieacker das ausgedrückt, als „Werkschöpfung einer Individualität“128 zu deuten129. Blickt man allerdings näher hin, dann wird diese Aussage fragwür-dig. Denn es hat eher den Anschein, als ob für Cuiacius weniger die Werkschöp-fung der juristischen Autoren als vielmehr der normative Gehalt ihrer in die Di-gesten überführten Aussagen im Vordergrund steht: In der Auseinandersetzung mit dem Quästionenwerk des Papinian130 etwa begann Cuiacius seine Würdi-gung zwar durchaus mit einführenden biographischen Bemerkungen zur Per-son Papinians131. Doch bei der Analyse einzelner Quaestionentexte selbst orien-tierte sich Cuiacius, soweit ersichtlich, in erster Linie an der Ermittlung des Rege-lungsgehaltes der papinianischen Aussagen im Zusammenhang des Corpus iuris civilis132. Die Aussage Papinians, „in multis juris nostri articulis deterior est con-ditio foeminarum, quam masculorum“, also die Feststellung der grundsätzlichen rechtlichen Benachteiligung von Frauen in vielen Regeln des römischen Rechts133, wurde von Cuiacius nicht etwa darauf befragt, was sie über Papinian aussage oder inwiefern sie Entsprechungen in anderen papinianischen Quaestionen fand. Statt-dessen erläuterte der französische Humanist die papinianische Feststellung gera-dezu Wort für Wort aus der Perspektive anderer römischer Rechtsregeln. Dabei kam Cuiacius wegen der Vielzahl konkreter rechtlicher Benachteiligungen von Frauen zum Ergebnis, „verum esse quod Papinianus ait ‚in multis‘“, bestätigte also die rechtliche Richtigkeit von Papinians Befund134. Gerade diese Bewertung von Papinians Aussage als „wahr“ oder anderer papinianischer Aussagen als recte, also

128 F. Wieacker, Textstufen klassischer Juristen (1960; ND 1975), 9 mit Fn. 2. 129 Zur Bibliographie und Datierung dieser Werke von Cuiacius im Überblick siehe Troje,

Humanismus (Fn. 34), 786 f.130 Grundlegend nunmehr U. Babusiaux, Papinians Quaestiones: Zur rhetorischen Me-

thode eines spätklassischen Juristen (2011).131 J. Cuiacius, Commentaria accuratissima in libros quaestionum summi inter veteres

jurisconsulti Aemilii Papiniani, Opus postumum, hier benutzt in der Ausgabe: ders., Opera omnia, ad Parisiensem Fabrotianam editionem diligentissime exacta in tomos XI distributa auctiora atque emendatiora, Bd. 4 (Venedig, 1776), 1–766, hier 1–4.

132 Im Ergebnis wie hier auch H.E. Troje, Humanistische Kommentierungen klassischer Juristenschriften, Ius Commune 4 (1972), 51–72, wieder abgedruckt in: ders., Humanistische Jurisprudenz (Fn. 10), 173*–194*, 184*–194*, mit Ergänzungen a.a.O., 324*, mit weiteren Ein-zelbeispielen; zusammenfassend ders., Humanismus (Fn. 34), 787.

133 D. 1,5,9 = Papinian, Quaestiones, Buch 31. Zu diesem Befund allgemein etwa Kaser, Privatrecht I (Fn. 63), 277 f.

134 Cuiacius, Commentaria accuratissima (Fn. 131), zu Papinian, Quaestiones, Buch 31, 731 f., das Zitat 732.

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als „richtig“135, belegt besonders deutlich die Perspektivenbildung von Cuiacius: Entscheidende Referenz war ihm nicht etwa die individuelle Position Papinians und deren Kohärenz, sondern der Gesamtzusammenhang der – von Cuiacius auch immer wieder allegierten – Digesten, der aus der Perspektive Papinians ge-deutet und erschlossen werden sollte. Das ändert allerdings nichts an dem Befund, dass sich Cuiacius in Arbeiten wie seinem Kommentar zu Papinians Quaestio-nen einen weiteren Zugang zur Kommentierung des römischen Rechts erschlos-sen und damit das perspektivische Spektrum seines Kommentarwerks nochmals erweitert hatte.

5. Legalordnung und Topik: Matthäus Wesenbeck

Doch die Mehrzahl der Kommentare blieb dem geltenden Recht und seiner Lehre verpflichtet. Dabei setzte sich auch jenseits des französischen Raums immer mehr die Tendenz zu einer vorsichtigen Lockerung der Legalordnung durch. Prägend sollte dabei der Entwurf von Matthäus Wesenbeck werden, dessen Biographie136 (Wesenbeck verließ die Niederlande und war zunächst in Jena und seit 1569 als Pro-fessor in Wittenberg tätig) den mitteleuropäischen Raum stärker in den Vorder-grund treten lässt. Mit den erstmals 1563 erschienenen „Paratitla in Pandectas iuris civilis“ legte Wesenbeck eine seit 1575 um die Erläuterung des Codex Iusti nianus er-weiterte Kommentierung137 vor, die in der Folgezeit auch für die Universitätslehre beispielhaft oder sogar verpflichtend (Ingolstadt 1647, Ferrara 1741)138 wurde. Die-ser Erfolg war möglicherweise nicht zuletzt auch Ausdruck einer gewissen Sehn-sucht der Zeitgenossen nach einer Re-Formalisierung der Kommentierung139. We-senbecks Kommentierungen orientierten sich nämlich im Ausgangspunkt zwar lediglich an der Titelfolge der Digesten, während die Legalordnung der Einzelfrag-mente ziemlich großzügig behandelt wurde140. Das entsprach einer Überlegung, die er erstmals im Anhang zu seinen „Paratitla“ entwickelte und später unter dem Titel „Prolegomena de studio iuris recte constituendo“ separat pub lizierte141: Hier-

135 Vgl. etwa die Kommentierung zu D. 35,1,75 = Papinian, Quaestiones, Buch 34 („Dies incertus condicionem in testamento facit.“). Hier hieß es dann etwa, es sei „recte“ von Papi-nian, die Deutung eines ungewissen Tages als Bedingung allein auf Testamente anzuwen-den, „nam aliud est in stipulatione vel contractu“, vgl. Cuiacius, Commentaria accuratissima (Fn. 131), zu Papinian, Quaestiones, Buch 34, 743.

136 Zu Wesenbecks Biographie siehe die Nachweise oben, Fn. 18. 137 Zur Bibliographie siehe Feenstra, Wesenbeck (Fn. 18), 213–226; zur Korrektur des üb-

licherweise genannten Ersterscheinungsjahres 1565 zu 1563 siehe auch a.a.O., 188 f.138 Dazu der Überblick bei A. Söllner, Die Literatur zum gemeinen und partikularen Recht

in Deutschland, Österreich, den Niederlanden und der Schweiz, in: Coing, Handbuch II.1 (Fn. 20), 501–614, 530.

139 In diese Richtung auch Schröder, Recht als Wissenschaft (Fn. 17), 90, 93.140 Als Überblick: Söllner, Literatur (Fn. 138), 530 f.; siehe auch die knappen Hinweise bei

Feenstra, Wesenbeck (Fn. 18), 204 f. (zu D. 2,14).141 Zur Textgeschichte dieses Traktats siehe Feenstra, Wesenbeck (Fn. 18), 226, 239. Hier

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nach galt der Grundsatz, dass jedenfalls „die Ordnung der Titel in den Pandekten und im Codex nicht ohne Not widerlegt oder verändert werden darf“, dagegen bei der Behandlung einzelner Elemente dieser Titel keine Bindung an die Reihenfolge bestehen müsse142. Denn im Codex Iustinianus sei bei der Abfolge der Einzelnor-men „magis temporum, quam rerum esse servatum“ worden, während die Anord-nung der Digesten von Personen verantwortet worden sei, die „in repub(lica) magis & aula quam in schola versatis“ gewesen wären143. Um also das, „was zerstreut und verwirrend in einzelnen Titeln der Digesten behandelt aufgefunden wird … zu ei-ner gegliederten und zusammenhängenden Einheit (corpus)“ zu fügen144, empfahl Wesenbeck ein fixiertes Schema zur Auslegung und vor allem zur Lehre des römi-schen Rechts: Am Anfang jeder Kommentierung sollte die definitio stehen, die die „propria, differentiae & accidentia cuiusque rei (sub stantialia & naturalia nostri vocant)“ beschrieb. Dem sollte eine Beschreibung von species aut gradus des be-handelten Gegenstandes folgen, an den sich eine Darstellung seiner vier causae (ef-ficiens, materia, forma, finis atque effectus) anschloss, um dann zu den interpreta-tiones, den contraria und zum Schluss zu den Klagen, den actiones, überzuleiten145.

Wesenbeck übernahm damit zeitgenössische Konzeptionen der Topik146. Er konnte auf diese Weise und zusammen mit seiner zuvor angesprochenen Ausrich-tung an die Gliederung in Bücher und Titel seinen Zeitgenossen einen transpa-renten Orientierungsrahmen anbieten, der in der Praxis der akademischen Lehre und der Gerichte im Zweifel einen leichteren Weg zum Rechtswissen anbot als die großen Ordnungsentwürfe etwa eines Donellus. Denn Wesenbeck öffnete einen systematischen Zugang zur konkreten Bewältigung des Gesetzestextes und ließ dabei doch Raum für eine Bündelung der einzelnen Textfragmente eines Titels. Dem Interesse an Transparenz entsprach auch Wesenbecks Umgang mit seiner ei-genen Methode, die er regelmäßig flexibel handhabte: In der Auseinandersetzung mit dem Digestentitel „De iustitia et iure“ (D. 1,1) etwa wurde zwar die divisio („divisio et species iustitiae particularis“) ebenso angewendet wie etwa die Kate-

wird der Text benutzt, der sich findet in: M. Wesenbeck, Prolegomena iurisprudentiae: de fini-bus & ratione studiorum librisque iuris (Ausgabe Leipzig, 1584), Exemplar der BSB München, Sign.: Jur.is. 320 k, online: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn: de:bvb:12–bsb10183623–5 (abgerufen am 19.2.2013), 81–157. Die Beschreibung dieses Bandes bei Feenstra, a.a.O., 239 (Nr. 108) ist zu ergänzen um den Hinweis auf einen knappen Auszug aus der Schrift „De libris iuris“, der in der Ausgabe von 1564 anschließt (Wesenbeck, a.a.O., 157–167); zu dieser Abhandlung siehe die Hinweise bei Feenstra, a.a.O., 214 mit Nr. 2 (Anhang zur Ausgabe der „Paratitla“ von 1566).

142 Wesenbeck, Prolegomena (Fn. 141), 99: „… Titulorum ordo in Pandectis & Codice te-mere reprehendi immutarique non debeat“.

143 Wesenbeck, Prolegomena (Fn. 141), 99 f.144 Wesenbeck, Prolegomena (Fn. 141), 100 f.: „quae sparsim ac confusè in singulis Dige-

storum titulis tractata reperiuntur … in unum corpus aptè compositeque …“.145 Wesenbeck, Prolegomena (Fn. 141), 101 f.; die Skizze im Text leicht abweichend von der

Darstellung bei Schröder, Recht als Wissenschaft (Fn. 17), 93. Aufzählung der bei Wesenbeck genannten Elemente auch bei Söllner, Literatur (Fn. 138), 530.

146 Schröder, Recht als Wissenschaft (Fn. 17), 90–93.

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gorien finis, causa efficiens („causa efficiens huius iustitiae principalis est Deus, au-thor omnis boni ordinis“) oder materia („materia in qua est est voluntas humana“) oder auch forma („forma est ipsa oboedientia, seu actionum omnium cum legibus ac ratione convenientia“)147. Doch ganz abgesehen von solchen etwas sehr knap-pen Zuschreibungen hielt sich Wesenbeck nicht unbedingt an die vorhin genannte Reihenfolge seiner Kategorien, die zudem durchaus auch mehrfach zur Anwen-dung kommen konnten. Bei der Kommentierung des Titels „De statu hominum“ (D. 1,5) etwa setzte der Überblick ein mit der Frage nach den obiecta iuris und der ordo titulorum, um dann eine triplex personarum divisio vorzunehmen, einen Ab-schnitt „de hominum divisione naturali“ folgen zu lassen und dann „de divisione hominum ex iure gentium“ zu handeln148. Anders als noch in der älteren Kom-mentierung dieses Titels etwa durch Budaeus149 lieferte Wesenbeck dann hier wie auch sonst keine Exegese einzelner Fragmente, sondern eine an den eben erwähn-ten Leitkategorien entlang laufende durchgehende Darstellung.

Freilich war Wesenbeck im Interesse der transparenten Informationsvermitt-lung im Einzelfall auch dazu bereit, ganz auf die Kategorien seines Deutungsras-ters zu verzichten: Bei der Auseinandersetzung mit den Regeln über die in diem addictio (D. 18,2)150, der Vereinbarung über das Lösungsrecht des Verkäufers im Fall eines besseren Angebotes (melior conditio), leitete Wesenbeck die Kommen-tierung wie fast immer mit der systematischen Verortung des Titels (continuatio) ein, um dann sogleich zu erklären, „quid sit addictio“. Im nächsten Schritt wurde der Entstehungstatbestand dieser Vereinbung („quomodi contrahatur in diem ad-dictio“), sodann ihre Rechtswirkung („vis et effectus huius conventionis“) und schließlich das Tatbestandsmerkmal der melior conditio erläutert. Die Kommen-tierung schloss ab mit der Antwort auf die Frage, „quid sit addicere & unde haec conventio nomen habet“151, eine in ihrer lediglich semantischen Ausrichtung für die Normstruktur der in diem addictio weniger bedeutsame und deswegen buch-stäblich nachgeordnet behandelte Fragestellung.

Diese pragmatische Flexibilität im Umgang mit den topisch gebildeten Kate-gorien des Kommentierens ging bei Wesenbecks Nachfolgern allerdings bisweilen verloren: Wolfgang Adam Lauterbach (1618–1678)152 strukturierte seine Pandek-tendarstellung im „Collegium theoretico-practicum ad Pandectas“153 „strikt und

147 M. Wesenbeck, In Pandectas Iuris Civilis et Codicis Iustinianei Libri XII Commentarii, zu D. 1,1, nn. 2, 5–8 (Ausgabe Basel, 1599), Sp. 1–6.

148 Wesenbeck, In Pandectas (Fn. 147), zu D. 1,5, Sp. 37–40.149 Vgl. oben, II.3., bes. bei Fn. 52.150 Im Überblick HKK/Thier (Fn. 27), §§ 346–359 Rn. 7 m.w.N. (zum Regelungsansatz im

antiken römischen Recht).151 Wesenbeck, In Pandectas (Fn. 147), zu D. 18,2, Sp. 445–447.152 K. Luig, Lauterbach, Wolfgang Adam, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 13 (1982),

736–738, online: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118726781.html (abgerufen am 20.2.2013).

153 Erstmals erschienen 1690. Zur Bibliographie siehe Söllner, Literatur (Fn. 138), 540.

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pedantisch“, um eine plastische Formulierung von Jan Schröder zu benutzen154, in der Form von Wesenbecks Schema. Sein „Compendium iuris“155 bestand zwar aus relativ frei strukturierten Texten im Titelschema der Digesten, verwies aber noch in der Form von Abkürzungen am Seitenrand jeweils auf Einzelkategorien von Wesenbecks Schema wie etwa mit „C“ für causa efficiens, „†“ für divisio oder „F“ für finis156.

Indirekt greifbar wird Wesenbecks Erfolg allerdings auch in einem negativen Befund: Denn im Lauf des 17. Jahrhunderts verloren auch in Mitteleuropa exe-getisch orientierte Kommentierungen wie etwa das erstmals 1571 publizierte Werk von Johann Schneidewin (1519–1568)157 zu den Institutionen des römischen Rechts158 an Einfluss. Gerade im Fall von Schneidewin zeigte sich eine andere Ent-wicklungslinie, die wohl vor allem für Mitteleuropa typisch werden sollte und zu-gleich den Erfolg Wesenbecks erklärt: Auch wenn Schneidewin grundsätzlich um die Kommentierung jeder einzelnen Textstelle bemüht war, so verselbständigte sich bei ihm doch die Darstellung mehr und mehr zu einer Abhandlung eigener Art. Bei der Auseinandersetzung mit Inst. 3,13, also der bereits angesprochenen gaianischen Erläuterung der obligatio159 etwa setzte die Kommentierung mit einer mehrseitigen Darstellung ein, die die Obligation in großer Breite skizzierte, be-vor sich die Kommentierung dann dem Text der Institutionen selbst zuwandte160. Diese Tendenz, die exegetisch angelegte Kommentierung zum Traktat werden zu lassen (der dann später auch selbständig veröffentlicht wurde), setzte sich später in der Form des allgemein so bezeichneten „Kettenkommentars“ fort, der ent-lang der Titelrubriken Disputationen bündelte161. Einzig die großen exegetischen Kommentare zu den Digesten und zum Codex von Johann Brunnemann (1608–1672)162, die beide erstmals nach der Mitte des 17. Jahrhunderts erschienen163, bil-deten eine Ausnahme.

154 Schröder, Recht als Wissenschaft (Fn. 17), 93.155 Zur Bibliographie siehe Söllner, Literatur (Fn. 138), 539. Das Werk erschien erstmals

1679.156 Vgl. dazu die in margine exteriori literarum significatio bei W.A. Lauterbach, Compen-

dium iuris brevissimis verbis: sed amplissimô sensu & allegationibus, universam ferè mate-riam iuris exhibens, hg. v. J.J. Schütze (Ausgabe Tübingen, 1711), vor Seite 1.

157 Zur Biographie: R. v. Stintzing, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, Bd. I.1 (1880; ND 1978), 309 f.

158 J. Schneidewin, In quatuor Institutionum imperialium Iustiniani libros commentarii, posthum hg. v. M. Wesenbeck, vgl. zur Bibliographie Söllner, Literatur (Fn. 138), 533.

159 Vgl. oben, III.3, bei und in Fn. 115.160 Schneidewin, Institutionum commentarii (Fn. 158) zu Inst. 3,13 (Ausgabe Argentorati/

Straßburg, 1597), Exemplar der BSB München, Sign.: 2 J.rom.c. 278e, online: urn:nbn:de:bvb: 12-bsb00029784-7 (abgerufen am 20.2.2013), 458–460.

161 Zum Ganzen Söllner, Literatur (Fn. 138), 528 f.; Schröder, Recht als Wissenschaft (Fn. 17), 90.

162 H. Lück, Brunnemann, Johann (1608–1672), in: HRG2 I (Fn. 2), Sp. 690–692, online: http://www.hrgdigital.de/HRG.brunnemann_johann_1608_1672 (abgerufen am 20.2.2013).

163 Bibliographische Übersicht bei Söllner, Literatur (Fn. 138), 539, 542.

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Freilich konnte sich zu diesem Zeitpunkt auch die an der Ordnung der einzel-nen Gesetze orientierte Kommentierung nicht mehr dem Zwang zum durchge-henden Text entziehen, wie Brunnemanns erstmals 1670 publizierter Pandekten-kommentar belegt: Brunnemann verfasste zwar grundsätzlich zu jedem Fragment eine Kommentierung. Doch dabei operierte er jeweils mit summaria der behandel-ten Textstelle: Ihnen war zwar jeweils eine knappe Gliederungsübersicht vorange-stellt, die aber vom kommentierten Text selbst abstrahierte, also die lemmatische Methode nicht mehr benutzte. Den ersten beiden Texten des bereits kurz ange-sprochenen Titels über die in diem addictio etwa stellte Brunnemann eine Gliede-rung voran, die ganz in der mittelalterlichen Tradition in Frage- oder Thesenform zentrale Elemente der nachfolgenden Kommentierung bündelte wie beispiels-weise die Frage, „an in dubio conditio resolutiva praesumatur“, ob also das Lö-sungsrecht vom Kaufvertrag im Zweifelsfall über eine auflösende Bedingung sollte konstruiert werden müssen. Der Text des Kommentars selbst war dagegen durch-gängig geschrieben und enthielt auch keine eigenständigen Gliederungsebenen. Der Leser fand freilich die Antwort zu seiner Frage gleichwohl in einer mit einer entsprechenden Ziffer markierten Passage, wo Brunnemann dann in der Tat be-merkte, „in dubio potius conditio resolutiva praesumitur“164. Doch Brunnemanns Werk fand keine wirkungsmächtigen Nachfolger mehr und blieb im ausgehenden 17. Jahrhundert letztlich eher ein Einzelfall des strikt der Legalordnung folgenden Kommentars zum römischen Recht165.

IV. Positives Recht und systematische Ordnungsentwürfe in der frühneuzeitlichen Kanonistik

Die Ausgangslage für die kirchliche Rechtswissenschaft unterschied sich von der Situation der Romanistik. Zwar war auch sie geprägt von der scholastischen Tradi-tion166. Aber ihre Textgrundlage, das 1580/82 eingeführte Corpus iuris canonici167 war nicht nur jünger168, ihr Verbindlichkeitsanspruch war im Vergleich zum rö-mischen Recht auch stärker ausgeprägt: Mit der Promulgation des Corpus iuris canonici hatte ein jahrhundertelanger Prozess seinen Abschluss gefunden, in des-sen Verlauf die kommentierende Kanonistik bisweilen durchaus mit dem Papst-

164 J. Brunnemann, Commentarius in quinquaginta libros pandectarum, zu D. 18,2,1–2 (Ausgabe Wittenberg, 1701), Exemplar der BSB München, Sign.: 2 J.rom.c. 83, online: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12–bsb10494250–8 (abge-rufen am 26.3.2013), 660 f., hier 660.

165 Ebenso Söllner, Literatur (Fn. 138), 529. 166 Dazu die Beiträge von S. Lepsius und T. Repgen in diesem Band, 141–186 bzw. 249–275.167 Im Überblick Thier, Corpus Iuris Canonici (Fn. 16); näher aus jüngerer Zeit: M.E. Som-

mar, The Correctores Romani: Gratian’s Decretum and the Counter Reformation Humanists (2009), mit einem instruktiven Vorwort von P. Landau, loc. cit., IX–XXII.

168 Diesen Aspekt betont Holthöfer, Literatur (Fn. 20), 123 f.

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tum um die Verfügungsmacht über die Textgestalt des insbesondere päpstlichen Dekretalenrechts gerungen hatte. So gesehen unterstrich Gregor XIII.169 mit der Promulgation des Corpus iuris canonici noch einmal ausdrücklich und letztlich in der Tradition der Compilatio Tertia von Innocenz III.170, dass es das Papsttum war, das abschließend über die Textgestalt des kanonischen Rechts bestimmte171. Dem entsprach auch die päpstliche Anordnung, dass Dekrete des Konzils von Tri-ent (1545–1563)172 verbindlich allein durch die Kurie ausgelegt werden durften173. Dem Grundsatz nach verdichtete sich in solchen Verpflichtungen auf das positive kanonische Recht der päpstliche Herrschaftsanspruch in der Kirche. Dem ent-sprach die prinzipielle Orientierung der Kanonistik des 16. und frühen 17. Jahr-hunderts an der Positivität des amtskirchlichen Rechts174 und die zum Teil lang-anhaltende Kontinuität der mittelalterlichen Kommentarliteratur, die seit etwa dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts allmählich vorsichtigen Neuansätzen der Kommentierung zu weichen begann.

Um diesen Befund zu konkretisieren, soll im Folgenden die Auseinanderset-zung einiger frühneuzeitlicher Kommentierungen mit zwei Dekretalen betrachtet werden, die ihrerseits zu den wichtigsten Textgrundlagen der mittelalterlichen ka-nonistischen Debatte über die Risikoverteilung im Fall von Geldwertänderungen und Währungswechseln zählten (näher unten 1.). Die spätmittelalterlich begrün-dete Kommentierungstradition sollte im Lauf des 17. Jahrhunderts zu erodieren

169 Zur Biographie im Überblick: F.W. Bautz, Gregor XIII., in: Biographisch-Bibliographi-sches Kirchenlexikon, Bd. 2 (1990), 323–325, aktualisierte Version online: http://www.bbkl.de/g/gregor_xiii.shtml (abgerufen am 7.1.2013).

170 Dazu näher A. Thier, Die päpstlichen Register im Spannungsfeld zwischen Rechtswis-senschaft und päpstlicher Normsetzung: Innocenz III. und die Compilatio Tertia, ZRG Kan. Abt. 119 (2002), 44–69.

171 Zu diesem Aspekt näher A. Thier, Ius canonicum positivum, demonstratio und Ver-nunftrecht: Wandlungen in der Ordnung des kirchlichen Rechtswissens im Zeitalter der Auf-klärung, in: Festschrift für Jan Schröder (2013), 169–185, 172 f.

172 Text der tridentinischen Dekrete in: J. Wohlmuth (Hg.), Dekrete der ökumenischen Konzilien: Conciliorum Oecumenicorum Decreta, Bd. 3: Konzilien der Neuzeit (2002), 660–799. Zur neueren Diskussion siehe die Beiträge in: P. Prodi/W. Reinhard (Hg.), Das Konzil von Trient und die Moderne (2001).

173 Bulla „Benedictus Deus“ (Rom, 26.2.1564), im Abdruck in: C. Mirbt/ K. Aland (Hg.), Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus, Bd. 1 (6. Aufl., 1967), 255 f.; abgestützt und konkretisiert wurde diese Anordnung in der Bulla „Immensa aeterni“ (Rom, 22.1.1588), in: C. Cocquelines (Hg.), Bullarum Privilegiorum Ac Diplomatum Romanorum Pontificum Amplissima Collectio, Bd. 4.4 (Rom, 1747); das Exemplar der BSB München, Sign.: 2 J.can.f. 21–4,4, online: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10488367-2 (abgerufen am 7.1.2013), 392–401, hier 396, wo die Kompetenzen der Kongregation pro executione der tridentinischen Beschlüsse ausgeweitet werden auf die Kompetenz pro interpretatione. Näher dazu etwa P. Landau, Methoden des ka-nonischen Rechts in der frühen Neuzeit zwischen Humanismus und Naturrecht, Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte 21 (1999), 7–28, 10–12 m.w.N.

174 Auf der gleichen Linie P. Landau, Spanische Spätscholastik und kanonistische Lehr-buchliteratur, in: F. Grunert/K. Seelmann (Hg.), Die Ordnung der Praxis: Neue Studien zur Spanischen Spätscholastik (2001), 403–425, 404 f.

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beginnen, wie sich im Blick auf die Werke von Barbosa und Fagnani zeigt (unten 2.). Das galt umso mehr im Zusammenhang der humanistisch geprägten Arbeiten eines González Téllez (unten 3.), doch erst mit Ehrenreich Pirhing kam es zu einem mehr oder weniger grundsätzlichen Neuansatz (unten 4.).

1. Die Dekretalen „Olim causam“ und „Cum canonicis“

Die im Jahr 1200 durch Innocenz III. erlassene Dekretale mit dem Incipit „Olim causam“175 setzte sich – in starker Verkürzung ausgedrückt – im Kern mit der Frage auseinander, ob im Fall einer kirchlichen Abgabe die Risiken einer Münz-verschlechterung vom Gläubiger oder vom Schuldner zu tragen waren; das Ri-siko wurde dem Schuldner zugewiesen176. In einer Dekretale Gregors IX. mit dem Incipit „Cum canonicis“177 wurde der umgekehrte Fall entschieden: Die bei Ent-stehung einer pensio maßgebliche Münze war durch eine ihrem Wert nach hö-here Währung ersetzt worden und der Gläubiger verlangte jetzt die Zahlung der seit jeher geschuldeten Summe, dies aber in der neu eingeführten Münze. Gre-gor IX. entschied gegen den Gläubiger und erklärte, geschuldet sei weiterhin der ursprüngliche Wert der Schuldverpflichtung178.

In der mittelalterlichen Kanonistik bildete vor allem179 die Dekretale „Olim causam“ den Anknüpfungspunkt der Kommentierung etwa eines Hostiensis (um 1200–1271)180: In seiner Kommentierung knüpfte er bei einzelnen Worten des De-

175 Bei A. Potthast (Hg.), Regesta Pontificum Romanorum, inde ab a. post christum na-tum MCCXVIII ad a. MCCCIV (Berlin, 1874 f.; ND 1957), Nr. 1207 = 3 Comp. 3,37,5 = X (Li-ber Extra) 3,39,20.

176 Im Überblick: W. Ernst, The Glossators’ Monetary Law, in: J.W. Cairn/P.J. du Ples-sis (Hg.), The Creation of the Ius Commune: From Casus to Regula (2010), 219–246, 240 f.; P. Landau, Die Bedeutung des kanonischen Rechts in der Geschichte der Geldschuld, in: G. Dilcher/N. Horn (Hg.), Sozialwissenschaften im Studium des Rechts, Bd. 4: Rechtsge-schichte (1977), 165–172, nunmehr wieder abgedruckt in: ders., Europäische Rechtsgeschichte und kanonisches Recht im Mittelalter (2013), Nr. VIc, 805–814. Eingehend H. Dondorp, Moli-naeus und die kanonistische Geldlehre, in: ZRG Kan. Abt. 99 (2013), 418–432, 423–426; eine zusammenfassende Darstellung der kanonistischen Überlegungen zum Geldrecht ist im Zu-sammenhang mit dem von Wolfgang Ernst und David Fox geleiteten Projekt „Money in the Western Legal Tradition“ in Vorbereitung und soll 2014 publiziert werden.

177 Potthast (Fn. 175), Nr. 9657 = X 3,39,26.178 Dondorp, Molinaeus (Fn. 176), 429 f. 179 Im Kontext der mittelalterlichen Geldrechtsdebatte nahm eine Dekretale von In-

nocenz III. mit dem Incipit „Quanto personam tuam“ (Potthast [Fn. 175], Nr. 656 = 3 Comp. 2,15,4 = X 2,24,18) eine wichtige Position ein. Zu dieser Dekretale, ihren Inhalten, ihrem his-torischen Kontext und ihren frühen Kommentierungen siehe T.N. Bisson, „Quanto Perso-nam Tuam“ (X 2,24,18): Its Original Significance, abgedruckt u.a. in: ders., Medieval France and Her Pyrenean Neighbours: Studies in Early Institutional History (1989), 303–324; siehe auch F. Wittreck, Conservare monetam: Geldwertstabilität im hochmittelalterlichen Aragon im Lichte der Dekretale „Quanto personam tuam“ (1199), in: Währung und Wirtschaft: Fest-schrift für Hugo J. Hahn (1997), 103–120.

180 K. Pennington, Enrico da Susa, detto l‘Ostiense (Hostiensis, Henricus de Segusio o Se-

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kretalentextes an und setzte sich hier wie auch im Zusammenhang mit der Kom-mentierung von „Cum canonicis“ auf der Ebene einer einzelnen Glosse mit dem Problem des Währungswechsels auseinander181. Panormitanus (Nicolaus de Tu-deschis) (1386–1445)182 folgte seinerseits ebenfalls ganz den mittelalterlichen Tra-ditionen: Die Kommentierung von „Olim causam“ setzte ein mit einer kurzen Zusammenfassung der Regel („solvendi sunt census ad antiquam monetam“)183, strukturierte den Text der Dekretale und wandte sich dann dem casus zu. Mit dem Hinweis „nota“ wurde in der Folge auf weitere Einzelprobleme hingewiesen und teilweise die Glossa ordinaria zum Ausgangspunkt weiterführender Erläuterun-gen benutzt, also ihrerseits zum Gegenstand des Kommentierens gemacht184. Die Kommentierung von „Cum canonicis“ knüpfte teilweise bei einem Ausdruck des Normtexts selbst an, der allerdings lediglich den Ausgangspunkt für die Darstel-lung des casus bildete185. Auch hier wurde zudem wiederum die Glossa ordinaria zum Ausgangspunkt einer weiterführenden Kommentierung gemacht186. Sowohl bei Hostiensis wie auch bei Panormitanus war also der Text der Norm selbst nicht ausschlaggebend für die Strukturierung des Kommentierens gewesen, doch folgte

gusia), in: Dizionario biografico degli Italiani, Bd. 42 (1993), 758–763, in englischer Fassung abgedruckt unter dem Titel: Henricus de Segusio (Hostiensis), in: ders., Popes, Canonists, and Texts 1150–1550 (1993), Nr. XVI; online: http://faculty.cua.edu/Pennington/1140d-h.htg/HOSTIENSIS.html (abgerufen am 8.1.2013).

181 Hostiensis (Henricus de Segusio), ad Olim causam (X 3,39,20), n. 8 (pro sinodatico) (Ausgabe Venedig, 1581; ND 2009), fol. 155rb, sowie ad Cum canonicis (X 3,39,26), prioris, fol. 158va.

182 I. Riedel-Spangenberger, Nicolaus de Tudeschis, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 6 (1993), 696–701, aktualisierte Version online: http://www.bbkl.de/n/nicolaus_d_t.shtml (abgerufen am 13.9.2013); K.W. Nörr, Kirche und Konzil bei Nicolaus de Tudeschis (Panormitanus) (1964).

183 Panormitanus, Commentaria in Tertium Decretalium Librum, ad Olim causam (X. 3,39,20), n. 1 (Ausgabe Venedig, 1588), fol. 314vb.

184 Die Glossa ordinaria zu dieser Dekretale (in ihrer Fassung im Liber Extra) hatte im Anschluss an Innocenz III. unter anderem die Frage thematisiert, „quod praescriptum es-set“, ob nämlich die Verpflichtung zur Zahlung in der ehemals geschuldeten Münze verjährt sei (zu dieser Frage Dondorp, Molinaeus, [Fn. 176], 426 f. m.w.N.); vgl. Bernardus Parmensis, gl. „Trigintasex“, ad Olim causam (X 3,39,20): „Ex hoc colligit quod si lucenses recepti fuis-sent pro Papiensis xl annis quod praescriptum esset in solutione papiensibus“ (Ausgabe Paris, 1501), fol. 231rb; Lucenser und Papienser kennzeichnen die beiden unterschiedlichen Münz-sorten, über deren Leistung gestritten wurde. Panormitanus, Commentaria (Fn. 183), ad Olim causam (X 3,39,20), n. 5, fol. 315ra allegierte den Ausdruck „quod praescriptum esset“ aus der Glosse von Bernardus Parmensis und leitete dann eine umfangreiche Darlegung verschiede-ner Punkte ein mit der verheissungsvollen Ankündigung, „ex hac glossa potes notare multa“.

185 Panormitanus allegierte aus der päpstlichen Aussage in der Dekretale „tibi damus nostris literis in mandatis“ das Wort damus, dem aber lediglich die Darstellung des Falls selbst folgte; vgl. Panormitanus, Commentaria (Fn. 183), ad Cum canonicis (X 3,39,26), fol. 317ra–rb.

186 Die Glossierung des Bernardus Parmensis (vgl. Fn. 184) hatte in der Glosse „aliquot an-nis“ (ad Cum canonicis, X 3,39,26, fol. 232ra) unter anderem erklärt, „argumentum quod duo sufficiant“. Panormitanus, Commentaria (Fn. 183), ad Cum canonicis (X 3,39,26), fol. 317rb, allegierte diese Formel und erläuterte sie mit einem einleitenden „dic quod in casu…“.

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die Kommentierung einem relativ festen Schema, das gerade bei Panormitanus gut sichtbar war.

2. Erosionen der mittelalterlichen Tradition: Agostinho Barbosa und Prospero Fagnani

Diese Tradition blieb bis ins 17. Jahrhundert hinein sehr einflussreich. Das zeigt die in ihrem Materialreichtum geradezu monumentale Kommentierung des portu-giesischen Kanonisten Agostinho Barbosa (1590–1649)187, die erstmals 1626/1636 publiziert wurde188. Hier wurden die lemmatischen Elemente sogar noch stärker als bei Hostiensis und Panormitanus: Zu „Olim causam“ wurde eingangs der Kern-gehalt der Dekretale ähnlich wie beim casus der mittelalterlichen Tradition der lectura189 zusammengefasst, um dann die allgemeine Regel über die Verpflichtung des Gläubigers zur Zahlung in der ursprünglichen Münze (oder des entsprechen-den Wertes) zu erläutern und zu begründen. Dem folgten drei Kommentierungen einzelner Textblöcke, um dann als Ausnahme die Regel einzuführen, dass auch mit der neuen Münze gezahlt werden könne, falls dies „ex generali … consuetu-dine“ gestattet sei. Dabei verstand Barbosa seine Kommentierung offensichtlich als Bündelung des mittelalterlichen wie des zeitgenössischen kanonistischen Wis-sens, wie die umfangreichen Allegationen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Autoren sowie von Entscheidungen der römischen Rota nahelegen190.

Knapper fiel die Kommentierung von „Cum canonicis“ aus, der ebenso wie bei „Olim causam“ ein summarium, nicht aber der Text der Dekretale selbst voran-gestellt war. Barbosa setzte wiederum ein mit einer Zusammenfassung des Falles, der dann die Formulierung einer Regel zur Zahlungsverpflichtung auf der Grund-lage der Währung „in usu tempore contractae obligationis“ folgte, die ihrerseits mit der ebenfalls aus der mittelalterlichen Tradition vertrauten Formel „collige ex textu“191 einsetzte. Dem folgte die Formulierung der Regel für die Situation, in der die ursprüngliche Münze nicht mehr existierte und in der nunmehr durch die „moneta nova aestimata juxta valorem antiquae“ geleistet werden musste, was mit dem Verweis auf die (frühneuzeitliche) herrschende Meinung und eine Ent-scheidung der Rota begründet wurde (ut docent…). Der nächste Abschnitt war der

187 L. Sinisi, Le „imprudenze“ di un grande canonista della prima metà del Seicento: Agos-tinho Barbosa e la Congregazione dell’Indice, in: Itinerari in comune: Ricerche di storia del diritto per Vito Piergiovanni (2011), 307–385.

188 Für einen bibliographischen Überblick siehe Holthöfer, Literatur (Fn. 20), 180.189 Vgl. oben, bei Fn. 26, 44.190 A. Barbosa, Collectanea Doctorum, Tam Veterum Quam Recentiorum, In Jus Pon-

tificium Universum, Bd. 2: In Quo Tertius Et Quartus Decretalium Libri Continentur, ad Olim causam (X 3,39,20) (Ausgabe Lyon, 1716), Exemplar der BSB München, Sign. 2 J.can.u. 29–1/2, online: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb: 12-bsb10628607-6 (abgerufen am 8.1.2013), 387 f., das Zitat im Text 388 (n. 6).

191 Vgl. oben, bei und in Fn. 69.

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Begründung dieser Position gewidmet und deswegen auch mit einem „enim“ ver-sehen. Auch im Zusammenhang mit dem jetzt vorgetragenen Argument – dem Verweis auf die Maßgeblichkeit des Geldwertes bei vertraglichen Verpflichtun-gen im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses – wird wiederum mit einem „ut docent plures“ auf die Positionen von anderen Autoritäten verwiesen, bevor dann zwei Konkretisierungen dieser Argumentation folgen. Der letzte Abschnitt der Kom-mentierung greift über das Thema der Dekretale hinaus, enthält er doch eine Fülle von Allegationen zur Frage, „weswegen das Geld so genannt wird und in welcher Zeit es begonnen hat“192. Das hier sichtbar werdende geradezu typische humanis-tische Interesse an Semantiken und der Historisierung von rechtlichen Phänome-nen hebt Barbosa materiell deutlich ab von der mittelalterlichen Tradition. Dem entspricht es, dass bei aller gelegentlichen Orientierung an der Tradition lemma-tischer Kommentierungen ein weitgehend durchgängiger Text entsteht, der nur sehr selten durch Hinweise wie „nota“ oder „collige“ strukturiert wird. So lässt sich Barbosas Kommentar als Ausdruck eines allmählichen Übergangs von der älteren Tradition begreifen, der auf legistischer Seite Entsprechungen am ehesten bei Au-toren wie Alciat findet193.

Der seit 1659 publizierte Dekretalenkommentar194 des Prospero Fagnani († 1678)195 ging noch einen Schritt weiter196: Zwar blieb die vorgegebene Legal-ordnung auch jetzt noch verbindlich. Doch die überkommenen Wissensbestände wurden jetzt stärker gebündelt und zudem in eine neue Ordnung gebracht: Fag-nani verzichtete darauf, beide Dekretalen zum Bezugspunkt der Kommentierung zu machen und beschränkte sich stattdessen auf „Olim causam“. Die umfang-reiche Kommentierung wurde jetzt vollends zum flüssig geschriebenen Traktat, der auf Lemmata verzichtete und einer durch den Autor selbst geschaffenen Ord-nung folgte, die dem Bestreben geschuldet war, die „ingens opinionum varietas“ zu meistern und damit das eingangs skizzierte Problem der fortschreitenden Wis-sensvermehrung zu meistern: „Pro clariori explicatione distinguendi sunt duo ca-sus principales“ – mit dieser – vom Text der Dekretale losgelösten – kategorialen Unterscheidung in zwei Problemkreise gliederte Fagnani die Abfolge seiner Dar-stellung197. Das schloss auch die Auseinandersetzung mit einzelnen kontrovers

192 Barbosa, Collectanea Doctorum (Fn. 190), ad Cum canonicis (X 3,39,26), 390 f., hier 391: „Moneta unde sic dicta, & a quo tempore inceperit, vide…“; die übrigen Zitate a.a.O., 390 f.

193 Auf dieser Linie wohl auch Holthöfer, Literatur (Fn. 20), 128, der Barbosa als Reprä-sentanten des „(frei-) exegetischen Fragmenten-Kommentars“ der jüngeren Tradition sieht.

194 Bibliographische Übersicht bei Holthöfer, Literatur (Fn. 20), 181.195 D. Quaglioni, Fagnani, Boni Prospero, in: Dizionario biografico degli italiani, Bd. 44

(1994), 187–189, online: http://www.treccani.it/enciclopedia/prospero-fagnani-boni_(Dizio-nario_Biografico) (abgerufen am 8.1.2013).

196 Ähnlich wie hier auch die Einschätzung bei Landau, Methoden (Fn. 173), 16 f., der sich mit mehreren anderen Kommentierungen Fagnanis auseinandersetzt.

197 P. Fagnani, Commentaria In Primam Partem Tertii Libri Decretalium, ad Olim cau-sam (X 3,39,20), n. 3 (Ausgabe Rom, 1661), fol. 272, das Exemplar der BSB München, Sign.: 2 J.can.u. 66–2/3, online: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn: de:bvb:12-bsb10489493-0 (abgerufen am 9.1.2013). Fagnani unterschied einerseits die Situa-

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diskutierten Positionen ein, die dann im jeweiligen Sachzusammenhang geson-dert angesprochen wurden198. Dem entsprach es, dass Fagnani das ganze Spek-trum der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Autoritäten allegierte. Freilich verwies er dabei immer wieder auch auf eine umfangreiche Sentenzensamm-lung199 und machte damit deutlich, dass die Fülle der Meinungen kaum mehr in einem einzelnen Kommentar Platz hatte.

3. Der Einbruch der humanistischen Textkritik in die kanonistische Kommentierung: Manuel González Téllez

Geradezu wie der Versuch, die unübersehbare Vielfalt des Wissens durch neue Ordnungsmittel zu bewältigen, wirkt die Gestaltung des großen Dekretalenkom-mentars von Manuel González Téllez († 1649)200, der als „Commentaria perpetua in singulos textos quinque librorum Decretalium Gregorii IX.“ erstmals im Jahr 1673 erschien201: Ganz auf der Linie der humanistischen Tradition war González Téllez nämlich darum bemüht, nicht allein die normativen Elemente der von ihm kommentierten Dekretalen, sondern auch deren Geschichte und textliche Über-lieferung zu untersuchen und darzustellen. Dem entsprach es, dass er bei der Aus-einandersetzung mit der Dekretale „Olim causam“ einzelne hierin erwähnte Na-men und Orte erklärte und zudem die im Liber Extra überlieferte Fassung mit ih-rer Textgestalt in der Compilatio tertia verglich202. Diese Art der Information, die

tion, in der die Münze in ihrem Wert intrinsece geändert wurde, indem etwa ihr Metall oder ihr Gewicht verändert wurden; im anderen Fall blieben diese Komponenten unverändert, stattdessen änderte der Münzwert „extrinsece ob Principis voluntatem, vel aliam causam ex-trinsecam, vel accidentalem“. Mit dem Verweis auf die Verfügungsmacht des Herrschers über den valor monetae bezog Fagnani in Teilen einen Diskurs ein, der im Zusammenhang mit der Dekretale „Quanto personam tuam“ entstanden war, vgl. dazu oben, Fn. 179 m.w.N.

198 Vgl. etwa die Auseinandersetzung mit einer Position des Hostiensis über die Anwend-barkeit der praescriptio auf eine Geldsortenschuld im Zusammenhang von kirchlichen Ab-gaben, die eingeleitet wurde mit „verum Hostiensis…“; vgl. Fagnani, Commentaria (Fn. 197), ad Olim causam (X. 3.39.20), n. 16, fol. 273.

199 Zu diesem gerade im 16. Jahrhundert sehr weit verbreiteten Literaturtypus siehe Holthöfer, Literatur (Fn. 20), 418 f.; konkret handelte es sich um die Sammlung des Antonio Ga brielli († 1555), die als „Communes conclusiones et opiniones“ erstmals 1570 publiziert wurde, siehe Holthöfer, a.a.O., 421; die von Fagnani häufig allegierte Fundstelle handelte de solutio nibus et liberationibus und beschäftigte sich in der conclusio I mit dem Argument, „mo-neta valor, si decrescat ob deteriorationem materia, vel forma, quomodo solvi debeat“; vgl. A. Ga brielli, Communes conclusiones et opiniones (Ausgabe Frankfurt, 1616), das Exemplar der BSB München, Sign.: 2 Decis. 351-1/2#Beibd.1, online: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10811016-5 (abgerufen am 9.1.2013), fol. 276–278.

200 Knappe Hinweise bei J.F. v. Schulte, Die Geschichte der Quellen und Literatur des Canonischen Rechts, Bd. III.1: Von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zur Gegenwart (Stutt-gart, 1880; ND 1956/2000), 742; anders Holthöfer, Literatur (Fn. 20), 182 („1590/1605– ca. 1673“).

201 Vgl. die bibliographische Übersicht bei Holthöfer, Literatur (Fn. 20), 182.202 E. González Téllez, Commentaria perpetua in singulos textus quinque librorum

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ähnlich wie Glossen zum – jeweils abgedruckten – Text der Dekretale gestaltet wa-ren, trennte González Téllez (wenn auch nicht immer ganz konsequent203) von der Auseinandersetzung mit den normativen und dogmatischen Themenkreisen der Dekretale. Diese Unterscheidung zwischen notae und commentarium wurde über-brückt mit der durchgehenden Zählung der so entstehenden Textblöcke.

Im commentarium selbst folgte im Fall von „Olim causam“ eine eingehende Skizze des komplexen Sachverhaltes, González Téllez verwies allerdings für die nähere Erläuterung auf den Kommentar zu „Cum canonicis“204. Die Kommentie-rung zu dieser Dekretale folgte im Grundsatz dem gleichen Schema. In Richtung auf die für González Téllez kennzeichnende Textkritik205 wies der Hinweis in den notae, dass der gregorianischen Dekretale ein „valde similis“ Text Urbans III.206 vorausgegangen war, der allerdings nicht den Weg in den Liber Extra gefunden hatte207. Im commentarium folgte dagegen eine traktatähnliche Auseinanderset-zung mit der überkommenen dogmatischen Tradition. González Téllez begann mit der allgemein verbreiteten „assertio“, die „ex hoc textu sequens communiter deducitur“ und für die eine Fülle von – vor allem frühneuzeitlichen – Autoritäten angeführt wurde. Im nächsten Schritt der Kommentierung, die ebenso wie bei „Olim causam“ mit Hilfe von Randtiteln die Übersicht erleichtern sollte, wurde diese Behauptung zunächst in Frage gestellt, bevor dann, wie es im Randtitel hieß, „diversi casus circa moneta proponuntur“, denen im nächsten Abschnitt „alii ca-sus“ folgten. Damit war die Basis für die Einordnung des kommentierten Textes geschaffen, an den sich eine kurze Abgrenzung der Regel von „Cum canonicis“ zu zwei anderen Konstellationen anschloss208. In der Transparenz der Textstruktur blieb González Téllez damit hinter Fagnani zurück, auch wenn er ähnlich umfang-reiche Wissensbestände wie der große italienische Kanonist verarbeitete. Mit den notae hatte sich dabei zwar eine zweite mögliche Ebene der Darstellung ergeben,

decretalium, ad Olim causam (X 3,39,20), notae, Bd. 3 (Venedig, 1699), Exemplar der BSB München, Sign.: 2 J.can.u. 213–3/5, online: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10628868-3 (abgerufen am 9.1.2013), 611. So wurde gleich ein-gangs in einer Glosse „Spolet(o)“ nicht allein betont, „ita etiam legitur in tertia collectione“, womit Bezug genommen wurde auf die Fassung in 3 Comp. 3,37,5. Es folgte eine kurze Erklä-rung über Spoleto als „antiquissima civitas Umbriae“.

203 Vgl. die Glosse „quadraginta“ zu „Olim causam“: González Téllez, Commentaria (Fn. 202), 611: Hier wurden nämlich die unterschiedlichen Regeln über die praescriptio im Zusammenhang mit der Leistung unterschiedlicher Geldmünzen erläutert.

204 González Téllez, Commentaria (Fn. 202), ad Olim causam (X 3,39,20), 612: „eius (sc. dieses Textes) decisionem exponemus infra in cap. cum canonici(s)“.

205 Dieser Aspekt wird besonders betont und an mehreren Beispielen belegt bei Landau, Methoden (Fn. 173), 15.

206 Dekretale „Querelam P. Presbyteri“ (1185/1187) = P. Jaffé/S. Löwenfeld et al. (Hg.), Re-gesta pontificum Romanorum: ab condita ecclesia ad annum post Christum natum MCXC VIII (2. Aufl., Leipzig, 1885–1888; ND 1956; Sigle JL), Nr. 15745 (9884) = 2 Comp. 3,25,3. Dazu im Überblick Ernst, Monetary Law (Fn. 176), 239 m.w.N.

207 González Téllez, Commentaria (Fn. 202), ad Cum canonicis (X 3,29,26), 616.208 González Téllez, Commentaria (Fn. 202), ad Cum canonicis (X 3,29,26), 616–618, die

Zitate im Text 616 f.

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die aber, wie zu zeigen versucht wurde, in ihrer kommentierenden Funktionalität nicht immer ganz eindeutig bestimmt war.

4. Der Neuansatz von Ehrenreich Pirhing und seine traditionsbegründende Wirkung

Das gewaltige Werk von González Téllez stand bereits am Ende der großen De-kretalenkommentare. Bereits 1645 hatte der an der Universität Dillingen lehrende Kanonist Ehrenreich Pirhing (1606–1679)209 nämlich ein Werk erscheinen lassen, dessen Titel eine dem Anspruch nach fundamentale Neuausrichtung im kommen-tierenden Umgang mit dem kanonischen Recht deutlich werden ließ: Hiernach sollte das kanonische Recht „nova methodo explicatum“ werden. Dazu sollten, weil „alle Kapitel der Titel vermischt und konfus gestellt waren, (diese) in die Ord-nung der Lehre (doctrina)“ gebracht werden, die durch „Fragen“ (quaestiones) ver-bunden war, die sich ihrerseits „auf die volle Erkenntnis dieses Titels oder seiner Materie … erstrecken“210. Damit wurde also die Legalordnung des kommentierten Textes, die bis dahin für alle Kommentatoren verbindlich gewesen war, zum Ge-genstand der Kritik und diese zum Ausgangspunkt einer neuen Ordnungsbildung gemacht211. Die Irrationalität der Gesetzesfolge innerhalb der Titelebene verlangte aus der Sicht Pirhings die so entstehende ungeordnete Vielfalt „ad ordinatam me-thodum, seu in ordinem doctrinae reducere“212. Damit wurde also auch in der Ka-nonistik die Ordnungsvorstellung des Kommentierenden auf der Ebene des Titels an die Stelle der Legalordnung gesetzt.

Bei näherer Betrachtung sind die Unterschiede zu den Werken etwa eines Pro-spero Fagnani gleichwohl nicht ganz so groß, wie die wortgewaltige Titelformulie-rung Pirhings vermuten lassen würde: Pirhing unterschied am Beginn seines Wer-kes drei modi in der Behandlung des kanonischen Rechts. Die Institutionendar-stellung orientierte sich an der mittelalterlichen Tradition der Summe. Ein anderer

209 Knappe Hinweise zur Biographie bei J. Weier, Pirhing, Ehrenreich, in: Biographisch-bi-bliographisches Kirchenlexikon, Bd. 7 (1994), 633 f. m.w.N., online: http://www.bbkl.de/p/pirhing_e.shtml (abgerufen am 10.1.2013); näher S. Dusil, Pirhing, Ehrenreich, in: J. Otaduy Guerín/J. Sedano Rueda/A. Viana Tomé (Hg.), Diccionario General de Derecho Canonico, Bd. 6 (2012), 228–230.

210 Vgl. E. Pirhing, Jus Canonicum In V. Libros Decretalium Distributum, nova Me-thodo explicatum: Omnibus Capitulis Titulorum (qui in Antiquis, & novis Libris Decreta-lium continentur) promiscue & confuse positis, in ordinem doctrinae digestis. Adjunctis Aliis Quaestionibus Connexis, Quae Ad Plenam Cujusque Tituli, Aut Materiae Cognitionem, Et Expositionem Pertinent. Apposito Quoque Duplici Indice In Fine Cuiusque Libri: uno re-rum, seu quaestionum; altero Capitulorum, quo in loco singula sint posita, & explanata, Bd. 1 (Dillingen, 1674), Exemplar der BSB München, Sign.: 2 J.can.u. 166–1, online: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10489633-3 (abgerufen am 10.1.2013).

211 Zum Folgenden siehe Thier, Ius canonicum (Fn. 171), 172–179.212 Pirhing, Jus Canonicum I (Fn. 210), Prooemium, 10 (§ 6).

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Modus dagegen entsprach ganz der auch vorliegend verfolgten Tradition, war er doch „allgemein verbreitet und in den Universitäten von alters her benutzt wor-den, bei dem nämlich alle Capitula einzeln nach ihrer Abfolge und Ordnung, wie sie in den Büchern und Titel der Dekretalen eingesetzt worden sind, erklärt wer-den und wobei sorgfältig dargelegt wird, was bei ihnen umstritten oder unklar ist“213. Ein dritter Modus schließlich wurde als „arbitraria fere“ bezeichnet, wurde hierbei doch die Ordnung nach Büchern und Titeln vernachlässigt. Seine Anhän-ger stellten stattdessen das, „quae ad doctrinam Canonicum pertinent … ad certa capita et quaestiones“, zusammen und benutzten dabei die älteren Traktate und Darstellungen. Pirhing selbst favorisierte einen modum mixtum, der „servato or-dine Librorum et Titulorum“, also unter Bewahrung der Ordnung von Büchern und Titeln, die überkommenen Wissensbestände zusammenfasste214.

Die Praxis dieses Ansatzes sei an unserem Geldschuldbeispiel verdeutlicht: Pirhing behandelte diese Frage im dritten Buch seines Werkes, das dem dritten Buch des Liber Extra gewidmet war. Die Darstellung orientierte sich in diesem Band wie auch in den anderen Teilen des Werkes an der Titelfolge des Gesetzes. In den so gebildeten Abschnitten führte der Dillinger Kanonist allerdings in der Tat eine neue Ordnungsstruktur aus sectiones und einzelnen quaestiones ein, die untereinander durch die durchgehende Nummerierung von Sinnabschnitten ver-bunden waren. So fand sich in sectio I unter § III die als Überschrift formulierte quaestio, „in welcher Münze (moneta) müssen Zinsen oder Entschädigungen (pen-siones) oder andere Geldschulden erfüllt werden?“. Die Erörterung dieser „schwie-rigen und komplexen Frage, die viele und schwerwiegende Klagen vor ungefähr 50 Jahren bei vielen Gerichten in Deutschland ausgelöst hat“215, war sehr klar struk-turiert: Sie gliederte sich entlang von vier assertiones, von Thesen, die dann ihrer-seits entweder erweitert oder begrenzt wurden. So stand am Anfang die bereits mehrfach erwähnte These der communis opinio von der Verbindlichkeit der al-ten Münze, sollte sich deren valor intrinsecus geändert haben. Dafür wurde auf „Olim causam“ verwiesen und dann „Cum Canonicis“ für den Fall der Wertver-besserung hinzugezogen216. Die zweite assertio war der Veränderung des valor ex-

213 Pirhing, Jus Canonicum I (Fn. 210), Prooemium, 9 (§ 6): „Secundus modus tractandi Canonicum est communis, & in scholis ab antiquo usitatus, quo omnia & singula Capitula, iuxta seriem, & ordinem a quo in Libris, & Titulis Decretalium sunt posita, explicantur, & ac-curate declarantur, quae in iis controversa, vel obscura sunt“.

214 Pirhing, Jus Canonicum I (Fn. 210), Prooemium, 9 (§ 6).215 Pirhing, Jus Canonicum (Fn. 210), Bd. 3 (Dillingen, 1676), Exemplar der BSB Mün-

chen, Sign.: 2 J.can.u. 166–3, online: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10489635-4 (abgerufen am 10.2.2013), Buch 3, tit. 39, nr. III (S. 645): „In qua moneta solvendi sunt census, seu pensiones, & alia debita pecuniaria?“. A.a.O., Buch 3, tit. 39, nr. XXI (S. 645) setzte ein mit dem im Text angesprochenen Hinweis auf die kontroverse Debatte über die „solutione huius difficilis, intricatae quaestionis, quae plurimas, & gravissimas lites ante annos circiter 50. in multis Tribunalibus per Germaniam excitavit“.

216 Pirhing, Jus Canonicum III (Fn. 215), Buch 3, tit. 39, nr. XXII–XXVI (S. 646 f.).

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trinsecus gewidmet, doch musste Pirhing hier einen Dissens der Meinungen da-rüber vermerken, „quomodo solutio fieri debeat“. In der Folge wurde diese Kontro-verse in großer Breite dargestellt217, bevor dann in assertiones 3 und 4 Sonderfälle der Wertveränderung (etwa die „intrinsecam monetarum depravationem valde enormem“ und die dadurch ausgelöste Erhöhung des „extrinsecus valor bonarum monetarum“) behandelt wurden218.

Hier hatte sich also die Darstellung in der Tat völlig von der Erläuterung eines bestimmten Textes gelöst und war zur gegliederten Problemerörterung geworden, die frei auf das ganze Spektrum von kirchlichen Normtexten und Autoritäten zu-rückgriff. In der Sache hatten sich solche Tendenzen bereits bei Fagnani gezeigt, war doch dort der Text von „Olim causam“ eher Ausgangspunkt als Gegenstand der Kommentierung gewesen. Trotzdem setzte Pirhing eine markante Zäsur in der Geschichte der kanonistischen Kommentierungen. Denn er war es, der sich be-wusst von den überkommenen Traditionen absetzen wollte und damit auf einen Neubeginn der kanonistischen Wissensrepräsentation zusteuerte. Dabei blieb der Verbindlichkeitsanspruch der vom Papst gesetzten Legalordnung durchaus wirk-sam. Aber mit Pirhings nova methodus nahm die Kanonistik endgültig Abschied von der mittelalterlichen Tradition des Kommentars, an deren Stelle jetzt vollends die großen Institutionenwerke etwa eines Anaclet Reiffenstuel (1642–1703)219 oder das „Jus ecclesiasticum universum“ eines Zeger Bernard van Espen (1647–1728)220 treten sollten.

Das zeigt besonders deutlich das Beispiel Reiffenstuels: Hatte Pirhing die Frage nach der geschuldeten Münze bei zwischenzeitlich eingetretenen Münzänderun-gen noch im Zusammenhang von Titel 39 des dritten Buchs des Liber Extra behan-delt und sich in diesem Punkt an die Positionierung der maßgeblichen Normtexte durch den päpstlichen Normgeber gehalten, so rückte Reiffenstuel diese Frage in den Zusammenhang eines anderen Titels, „De solutionibus“ (X 3,23). Hier wurde dann die Frage nach den Erfüllungsmodalitäten einer Schuld zum Gegenstand ei-ner systematischen Analyse, als deren Teilelement dann die „controversia de casu

217 Pirhing, Jus Canonicum III (Fn. 215), Buch 3, tit. 39, nr. XXVII–XXX (S. 647–649), das Zitat im Text nr. XXVII, S. 647.

218 Pirhing, Jus Canonicum III (Fn. 215), Buch 3, tit. 39, nr. XXXI–XXXV (S. 649 f.), die Zi-tate im Text nr. XXXI und XXXII (S. 649).

219 S. Haering, Reiffenstuel, Anaklet, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 7 (1994) 1512–1514 m.w.N., online: http://www.bbkl.de/r/reiffenstuel_a.shtml (abgerufen am 10.1.2013). Siehe im Übrigen S. Dusil, Reiffenstuel, Anaklet, in: Diccionario General de Derecho Canonico VI (Fn. 209), 848–850.

220 G. Leclerc, Zeger-Bernard van Espen (1646–1728) et l’autorité ecclésiastique (1964); M. Nuttinck, La vie et l’œuvre de Zeger-Bernard Van Espen: un canoniste janseniste, gallican et regalien a l’Université de Louvain (1646–1728) (1969); G. Cooman et al. (Hg.), Zeger-Ber-nard Van Espen at the Crossroads of Canon Law, History, Theology and Church-State Rela-tions (2003). Zusammenfassend: A. Thier, Van Espen, Bernhard, in: Diccionario General de Derecho Canonico (Fn. 209), Bd. 7 (2012), 798–801.

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mutatae monetae“ auf breitem Raum untersucht wurde221. Die systematische Neu-strukturierung der dogmatischen Analyse griff also anders als bei Pirhing über den durch die Titelfolge gesetzten Rahmen hinaus und löste sich damit noch stär-ker vom ursprünglichen Schema des kanonistischen Kommentars. Inhaltlich be-wegte sich Reiffenstuel freilich auf den überkommenen Pfaden und setzte an den Anfang seiner Abhandlung die Frage, „quid solvi debeat“, um dann im Kontext der hierzu entwickelten responsiones die überkommene Tradition darzustellen. Allerdings unterschied sich der Zugriff Reiffenstuels in einem Punkt von seinen Vorgängern, war er doch auch darum bemüht, seine Schlussfolgerungen nicht al-lein auf die Autorität der Lehrmeinungen zu stützen, sondern auch die Lösungen des positiven Rechts zusätzlich mit überpositiven Wertungen222 zu rechtfertigen: So wurde der zentrale Regelungsansatz des päpstlichen Rechts wie der herrschen-den Lehre, die Verpflichtung der Parteien auf den materiellen Münzwert im Zeit-punkt der Schuldentstehung (und nicht auf den Materialwert der neu ausgegebe-nen Münze), auch mit dem Rückgriff auf die „justitia commutativa“ als der „ratio principalis“ begründet223. In der Auseinandersetzung mit den konkreten Rege-lungsinhalten der von ihm analysierten Texte akzeptierte Reiffenstuel damit die gesetzgeberische Autorität ungleich stärker als im Umgang mit den Ordnungs-strukturen des Corpus iuris canonici, die ihm mehr Richtlinie als verbindlicher Darstellungsplan waren.

V. Schluss

Die Kommentarliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts war, so lässt sich bilanzieren, gekennzeichnet von der Tendenz zu einer regelrechten Pluralität der Ordnungs-konzepte. Der Buchdruck und die dadurch bewirkte Fülle von gedrucktem und damit unendlich viel leichter verfügbarem Rechtswissen stellte das Gedächtnis der europäischen Rechtskultur in der Tat vor eine harte Belastungsprobe. Das fand seinen Ausdruck in immer wieder neuen Bemühungen, der drohenden Unüber-sichtlichkeit und damit Unverfügbarkeit des überkommenen wie des zeitgenössi-schen Rechtswissens durch neue Ordnungsstrukturen zu begegnen. Aber damit allein lässt sich die Vielfalt der Systematisierungsansätze nicht erklären, zumal die überkommenen Gesetzestexte einen Grundbestand an Ordnungskategorien anboten. Maßgeblich wurde vielmehr die zunehmend entschiedener werdende Distanz zur Tradition der mittelalterlichen Exegese- und Ordnungsschemata wie

221 A. Reiffenstuel, Ius canonicum universum, clara methodo iuxta titulos quinque li-brorum in quaestiones distributum, Bd. 3 (Ausgabe Ingolstadt, 1729), Buch 3, tit. 23, § 2, nn. 29–40, S. 528–531, das Zitat im Text 528 (zu n. 29).

222 Allgemein zu diesem Aspekt in Reiffenstuels Werk auch Thier, Ius canonicum (Fn. 171), 172–179.

223 Reiffenstuel, Ius canonicum (Fn. 221), Buch 3, tit. 23, § 2, n. 27, 30 (S. 529).

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auch zur gesetzgeberisch geschaffenen Ordnung selbst, die nachhaltig zur Expe-rimentierbereitschaft eines Alciat, eines Cuiacius oder eines Donellus beitragen sollte. So gesehen könnte man die hier beschriebenen Phänomene als Zeichen für die Suche nach einer neuen Ordnung des Rechts sehen, die erst mit den Systement-würfen des Vernunftrechts und dann der historischen Rechtsschule224 zu ihrem (wenn auch eher vorläufigen) Ende kommen sollte.

224 Dazu Schröder, Recht als Wissenschaft (Fn. 17), 169–190, 247–277.

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