+ All Categories
Home > Documents > Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der...

Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der...

Date post: 06-Aug-2019
Category:
Upload: lamkhue
View: 214 times
Download: 0 times
Share this document with a friend
40
Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des bonum commune MICHAEL SCHEFCZYK «Fifteen dollars for every black brother and sister in the United States is only a beginning of a reparations due us as people who have been exploited and degraded, brutal- ized, killed and persecuted.» (The Black Manifesto) 1. Einleitung Der Begriff des Gemeinwohls sieht sich nicht nur der Kritik Libertärer aus- gesetzt, die in ihm die Idee eines über den Individuen und ihren Interessen stehenden Kollektivs am Werk sehen – eine Idee, die sie als metaphysisch ablehnen. Immer wieder werden auch Bedenken gegenüber seiner ideolo- gischen, den tatsächlichen Gegebenheiten nicht entsprechenden Verwen- dung geäussert, ohne dass der Begriff als solcher in Frage gestellt werden würde. Die Rede vom Gemeinwohl unterstellt politische Einheit und Gleichheit. In einem von gravierender Ungleichheit und innerer Zerrissen- heit geplagten Land wird sie zu einer interessenpolitischen Formel oder einfach zu einer hohlen Floskel. Benjamin Disraeli hatte in den Vierziger- jahren des 19. Jahrhunderts in diesem Sinne davon gesprochen, dass Gross- britannien aufgrund seiner tief greifenden sozialen Ungleichheiten in «two nations» zerfalle. Zwischen zwei Nationen kann es wohl gleichgerichtete Interessen und Gemeinsamkeiten, aber kein Gemeinwohl geben. Disraelis Slogan war einprägsam und blieb in dem historischen Gedächtnis so sehr haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent- wicklung wichtigen Education Act von 1944 hoffte, nun werde aus Gross- britannien endlich eine Nation «instead of the two nations as Disraeli talked about.» 1 Die soziale, rechtliche und wirtschaftliche Hierarchie war in Grossbritannien so undurchdringlich, dass die Mitglieder der unteren Klas-
Transcript
Page 1: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des bonum commune

MICHAEL SCHEFCZYK

«Fifteen dollars for every black brother and sister in theUnited States is only a beginning of a reparations due usas people who have been exploited and degraded, brutal-ized, killed and persecuted.» (The Black Manifesto)

1. Einleitung

Der Begriff des Gemeinwohls sieht sich nicht nur der Kritik Libertärer aus-gesetzt, die in ihm die Idee eines über den Individuen und ihren Interessenstehenden Kollektivs am Werk sehen – eine Idee, die sie als metaphysischablehnen. Immer wieder werden auch Bedenken gegenüber seiner ideolo-gischen, den tatsächlichen Gegebenheiten nicht entsprechenden Verwen-dung geäussert, ohne dass der Begriff als solcher in Frage gestellt werdenwürde. Die Rede vom Gemeinwohl unterstellt politische Einheit undGleichheit. In einem von gravierender Ungleichheit und innerer Zerrissen-heit geplagten Land wird sie zu einer interessenpolitischen Formel odereinfach zu einer hohlen Floskel. Benjamin Disraeli hatte in den Vierziger-jahren des 19. Jahrhunderts in diesem Sinne davon gesprochen, dass Gross-britannien aufgrund seiner tief greifenden sozialen Ungleichheiten in «twonations» zerfalle. Zwischen zwei Nationen kann es wohl gleichgerichteteInteressen und Gemeinsamkeiten, aber kein Gemeinwohl geben. DisraelisSlogan war einprägsam und blieb in dem historischen Gedächtnis so sehrhaften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944 hoffte, nun werde aus Gross-britannien endlich eine Nation «instead of the two nations as Disraeli talkedabout.»1 Die soziale, rechtliche und wirtschaftliche Hierarchie war inGrossbritannien so undurchdringlich, dass die Mitglieder der unteren Klas-

Page 2: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

404 Black Reparations

sen keine gleichberechtigten und gleichwertigen Teilhaber der Gesellschaftwaren. Sie waren in der Regel nicht gemeint, sondern nur betroffen, wennes um das Wohl des Landes ging. Entsprechend waren Frauen nichtgemeint, sondern nur betroffen, wenn über das Gemeinwohl gesprochen,ihnen aber das Wahlrecht verweigert wurde.

Die Aufhebung rechtlicher Diskriminierungen, so sind sich wohl alleBeobachter einig, reicht nicht aus, um die innere Spaltung einer Gesell-schaft aufzuheben. Ein Land kann in «zwei Nationen» zerfallen, langenachdem formal gleiche Rechte gewährt wurden. Um wirkliche und nichtnur formale Gleichheit und Einheit herzustellen, muss ein Land Anstren-gungen unternehmen, die über die Korrektur der Gesetzbücher hinausge-hen. Es muss versuchen, soziale Berichtigungen vorzunehmen an Gepflo-genheiten, Empfindungsweisen und wirtschaftlichen Gegebenheiten.

Wohlfahrtsstaatliche Sicherungs- und Umverteilungsinstitutionen, För-derprogramme für Frauen und Mitglieder ethnischer Minderheiten sind aufder einen Seite Einlösungen individueller Rechte auf gleiche Teilhabe. Siesind aber auch und vor allem Voraussetzung dafür, dass in gehaltvollerWeise von dem Gemeinwohl eines Landes gesprochen werden kann.

Überlegungen wie diese haben seit jeher in der Rechtfertigung von Affir-mative-Action-Programmen eine massgebliche Rolle gespielt. Es ist abernie unumstritten gewesen, ob diese Programme wirklich geeignet sind, umdie innere Spaltung eines Landes zu überwinden. Zum einen ist betontworden, dass sie neue Spaltungen produzieren können, insofern sie selbstdiskriminierend wirken. Zum anderen ist aber daran erinnert worden, dasssie hinsichtlich der geschichtliche Dimension nationaler Einheit wenig lei-sten. Diese Dimension ist insbesondere dann vordringlich, wenn einegesellschaftliche Gruppe Opfer massiven und erniedrigenden Unrechtsgeworden ist. Die Erinnerung an dieses Unrecht kann die Vorstellung vonGemeinschaft und Gemeinwohl auch dann stören, wenn es vergleichsweiselange zurückliegt. Eine solche Erinnerung ist etwa die der afroamerikani-schen Bevölkerung der Vereinigten Staaten an die Sklaverei. Die verstören-de und die Einheit der Nation immer wieder in Frage stellende Wirkunghistorischen Unrechts an Teilen der Bevölkerung verleiht dem Gedankender Wiedergutmachung in Gestalt von Reparationen besondere Bedeutung.Zwar sind in den Vereinigten Staaten auch Affirmative-Action-Programmeunter der Bezeichnung reparations geführt worden. Ihnen fehlen aberwichtige symbolische Merkmale von Reparationen, insbesondere die aus-drückliche Anerkennung des Unrechts als Unrecht. Sie werden daher vonden Begünstigten vielleicht auf materieller Ebene, aber wohl kaum aufsymbolisch-psychischer Ebene als Wiedergutmachung erlebt.

Im Folgenden werde ich erörtern, ob (und wenn ja: in welcher Weise) diein jüngster Zeit erhobenen Reparationsforderungen zugunsten der afro-

Page 3: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

MICHAEL SCHEFCZYK 405

amerikanischen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten gerechtfertigtwerden können. Die Geschichte der neueren Reparationsdiskussionbeginnt 1969. Damals postulierte der Bürgerrechtler James Forman, dassder schwarzen Bevölkerung der Vereinigten Staaten Reparationszahlungenin Höhe von $ 500 Mio. für das Unrecht von Sklaverei, Segregation undAusbeutung zustünden. Der Betrag sollte nach seiner Vorstellung von Kir-chen und Synagogen aufgebracht und für verschiedene afroamerikanischeEinrichtungen verwendet werden. Formans Vorstoss fand unter demBegriff «Black Reparations» Eingang in die politische und wissenschaftli-che Diskussion.2 Einer der ersten philosophischen Beiträge zum Themawar Bernard Boxills «The Morality of Reparation». Während FormansForderung nach Art und Höhe ad hoc wirkte, bestimmte Boxill genauer,welches Unrecht Gegenstand der Reparationen sein sollte und wie dieHöhe des Schadens zu kalkulieren wäre. Die Versklavten – so Boxill – sindum die Früchte ihrer Arbeit betrogen worden. Der von den Sklavenhalterngeraubte Reichtum wurde nach der Emanzipation nicht zurückerstattet.Vielmehr kam er der weissen Bevölkerung der Vereinigten Staaten zugute.Die weisse Bevölkerung ist daher im Besitz von Vorteilen, die sie nicht hättehaben dürfen. «Thus, it is the white community as a whole that prevents thedescendants of slaves from exercising their rights of ownership, and thewhite community as a whole that must bear the cost of reparation.»3

Es liegen unterschiedliche Schätzungen darüber vor, was es die weisseBevölkerung kosten würde, diese Reparationen zu leisten. Die Summeliegt im Bereich von $ 500 bis 1000 Mrd. In den folgenden Abschnittenverfolge ich vier Ziele. Erstens möchte ich einen (sehr kurzen) Überblicküber den historischen und politischen Kontext geben, in dem die Black-Reparations-Debatte steht (2); zweitens werde ich allgemeine Überlegun-gen über die Bedeutung wiedergutmachender Gerechtigkeit anstellen (3);drittens – eher kursorisch – einige generelle Einwände gegen Reparationenund die «Einholung der Geschichte ins Recht» zurückweisen (4); und vier-tens werde ich im letzten Abschnitt einen an Boxills Grundgedankenanknüpfenden Reparationsanspruch gegen Kritik verteidigen (5).

2. Zum politischen und historischen Kontext

Forman war Sozialist und radikaler Politiker. Die in den vergangenen Jah-ren neu entbrannte Reparationsdebatte wird jedoch durch Vertreter des eta-blierten schwarzen Amerika bestimmt, wie den Publizisten Randall Robin-son, den ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Jesse Jackson oder denHarvard Law School Professor Charles Ogletree. Robinsons leidenschaftli-che Schrift «The Debt: What America Owes to Blacks» – ein wichtiger

Page 4: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

406 Black Reparations

Bezugspunkt der Debatte – betont vor allem einen Zug von Reparations-zahlungen, der über die Wiedergutmachung des beklagten wirtschaftlichenSchadens hinausgeht. Reparationen als Akte korrektiver Gerechtigkeithaben die Aufgabe «to make the victim whole»; sie sollen die Verletzungdes Rechts, aber auch die des Opfers heilen und so dessen Integrität undSelbstwertgefühl wiederherstellen. Diesem Ziel sind Affirmative-Action-Programme nicht oder nur unvollkommen gerecht geworden, weil sie dieGeförderten mit dem Makel versehen, nicht aus eigener Kraft im Wettbe-werb bestehen zu können. Sie belasten daher tendenziell deren Selbstwert-gefühl. Aus Sicht der weissen Bevölkerung erscheint die Bevorzugungdagegen als ungerechte Diskriminierung von Personen, die selbst keinUnrecht gegen Angehörige von Minderheiten begangen haben. Die Pro-gramme perpetuieren insofern unter neuem Vorzeichen die Segregation.Dem neokonservativen Kolumnisten Charles Krauthammer leuchtet dieursprünglich von dem Sozialisten Forman erhobene Forderung aus diesenGründen ein: Reparationszahlungen könnten ein Weg sein, das andauerndeÜbel der die Bevölkerung spaltenden Affirmative-Action-Programme zubeenden und das Unrecht in mehr als symbolischer Weise zu heilen. Kraut-hammer nennt Black Reparations daher «the cornerstone of a Grand Com-promise». Er sieht in ihnen die Chance eines grossen, die amerikanischeGesellschaft einigenden Kompromisses, bei dem weder das an den Afro-amerikanern begangene Unrecht mit seinen noch gegenwärtigen Konse-quenzen geleugnet noch neues Unrecht durch fortlaufende Diskriminie-rung verübt wird. 4

Und Randall Robinson hält fest: «Until America’s white ruling classaccepts the fact that the book never closes on massive unredressed socialwrongs, America can have no future as one people.»5

Wiederbelebt wurde das Interesse am Black-Reparations-Gedankennicht nur durch negative Erfahrungen mit Affirmative-Action-Programmen,sondern auch durch eine wachsende Zahl von Präzedenzfällen. In denAchtzigerjahren haben die Vereinigten Staaten Reparationen an japanisch-stämmige Amerikaner gezahlt, die während des Zweiten Weltkrieges ausGründen der nationalen Sicherheit interniert worden waren. Im Rückblickerschien diese Vorsichtsmassnahme unverhältnismässig und ungerecht,eine Ungerechtigkeit, die der Kongress mit einer öffentlichen Entschul-digung an die Betroffenen eingestand und mit einer Zahlung von jeweils $ 20 000 zumindest symbolisch zu korrigieren suchte. In der Folge erlebtendie Neunzigerjahre eine historisch wohl einzigartige Einholung derGeschichte durch die Moral. Gegen Ende der Dekade konnte Richard Joy-ce davon sprechen, es sei ein Gemeinplatz, dass wir im Zeitalter der Ent-schuldigung lebten. «The Portuguese president has apologized for an epi-sode in the fifteenth century, wherein thousands of Jewish refugees were

Page 5: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

MICHAEL SCHEFCZYK 407

forced to flee or convert (December, 1996). The American president hasapologized to American victims of radiation tests (October, 1995), to vic-tims of the ‹Tuskegee› medical experiments conducted between the 1930sand 1970s (May, 1997), and to African leaders for the whole slave trade(March, 1998).»6

In vielen Fällen blieb es nicht bei dem Ausdruck des Bedauerns oderdem Eingeständnis von moralischen Fehlern durch politische Repräsentan-ten. Man könnte vielmehr von einer Einholung der Geschichte ins Rechtsprechen. Sowohl im Fall der von Joyce erwähnten «Tuskegee» medicalexperiments7 als auch bei den radiation tests haben die amerikanischenSteuerzahler Reparationen finanziert.

Während hier Verletzungen der Person kompensiert wurden, galt einReparationsgesetz aus dem Jahre 1997/98 den Nachfahren von Eigentü-mern, deren Grundbesitz nach dem amerikanisch-mexikanischen Kriegnicht respektiert wurde. Bemerkenswert an diesem Fall ist vor allem, dassdas in Frage stehende Unrecht bereits einhundertfünfzig Jahre zurücklag.

Ein Fall von Black Reparations ist hingegen ein Gesetz des BundesstaatsFlorida von 1994, das den Überlebenden und Nachfahren der Bewohnervon Rosewood Beträge zwischen $ 350 und $ 150 000 zugesprochen hat. Inder afroamerikanischen Gemeinde Rosewood waren 1923 zahlreicheBewohner von einem weissen Mob in mehrtägiger Heimsuchung verletztund getötet worden, ihre Häuser verwüstet.8

Die Aufzählung liesse sich noch erweitern; um den globalen Charakterder «Einholung der Geschichte ins Recht» in den Neunzigerjahren zu ver-deutlichen, seien nur noch die japanischen Reparationen (1995/96) ankoreanische Frauen erwähnt, die von der Okkupationsarmee zwangsprosti-tuiert worden waren, sowie die Waikato-Raupatu Claims Settlement Bill,mit der Wiedergutmachung (1995) für ein 1863 an den neuseeländischenMaori begangenes Unrecht geleistet wurde.

Diese Beispiele zeigen, dass Reparationsdebatten keineswegs eine leichtdurchschaubare «exercise in futility» (Sowell 2002) darstellen. Ein Blick indie Geschichtsbücher bestätigt diesen Eindruck: Formans «Black Manife-sto» ist zwar der Ausgangspunkt der jüngeren Debatte über Reparationen andie schwarze Bevölkerung. Der Gedanke, dass das an ihr begangeneUnrecht wieder gutgemacht und dadurch den befreiten Sklaven die unein-geschränkte Teilhabe an der amerikanischen Gesellschaft ermöglicht wer-den müsse, ist jedoch keineswegs neu. Bereits im Jahre 1866 brachte einRepublikaner und Mitglied des Repräsentantenhauses, Thaddeus Stevens,den Vorschlag einer Slave Reparation Bill vor den Kongress, die «fortyacres to each head of a family and a sum equal to fifty dollars» vorsah.9 DerVorstoss scheiterte ebenso wie andere Initiativen nach 1865 – teilweise amVeto des Präsidenten Andrew Johnson.10 Stattdessen behielten gesetzgebe-

Page 6: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

408 Black Reparations

rische Bestrebungen die Oberhand, die auf einen dauerhaften Ausschlussder Afroamerikaner von massgeblichen Positionen und auf die Fortsetzungder Ausbeutung ihrer Arbeitskraft abzielten. Die formale Beendigung derSklaverei führte im Süden der Staaten phasenweise sogar zu einer Ver-schlechterung der Situation der Afroamerikaner, weil sie in Formen derSchuldknechtschaft gezwungen wurden, in denen sie nicht mehr durchjenes Interesse geschützt wurden, das Sklavenhalter typischerweise an derErhaltung ihres «human cattle» haben. In den Zusammenhang einer ver-weigerten Aufnahme in die Gesellschaft der Vereinigten Staaten gehört dieForderung nach einer Repatriierung von Afroamerikanern. Präsident Grantsoll zweimal einen – in beiden Fällen knapp gescheiterten – Gesetzesent-wurf vor den Kongress gebracht haben, der eine Abschiebung aller Afro-amerikaner nach Haiti vorsah. Selbst Abraham Lincoln wird nachgesagt, erhabe die so genannte Back-to-Africa-Option favorisiert.

Die amerikanische Geschichte zwischen 1865 und den 1950ern istgeprägt von der Segregation und dem Ausschluss der Schwarzen von deretablierten amerikanischen Gesellschaft. Wenn Gegner von Black Repara-tions die Meinung vertreten, das Unrecht der Sklaverei sei zu lange verstri-chen, um noch sinnvoll Wiedergutmachung fordern zu können, so setzen sieimplizit oder (seltener) explizit das formale Ende der Sklaverei mit demBeginn einer vollen Integration in den politischen Körper gleich.11 Wäredies der Fall gewesen, fragte sich tatsächlich, ob rund vierzehn Jahrzehntenach einem blutigen Bürgerkrieg, der auf die Beendigung der Sklavereizielte und dies auch erreichte, ein moralisch begründeter Reparationsan-spruch gegen die gesamte weisse Bevölkerung bestünde – also auch gegendie Nachkommen derer, die ihr Leben riskiert oder gelassen haben, um dieAfroamerikaner zu befreien. Das Argument, Reparationen seien bereitsdurch den entrichteten Blutzoll und die Kriegskosten geleistet, hätte danneiniges für sich.12 Doch dies ist nicht die Geschichte, die sich wirklichereignete. Die ersten hundert Jahre nach ihrem formalen Ende wurden keineausreichenden Anstrengungen unternommen, die ökonomischen, sozialenund psychologischen Auswirkungen der Sklaverei zu korrigieren. 1896verlieh das Supreme Court im Fall «Plessy vs. Ferguson» der SegregationVerfassungsstatus, als es urteilte, es sei mit dem Gleichheitssatz des Four-teenth Amendment vereinbar, dass Schwarze und Weisse in Eisenbahnab-teilen getrennt sitzen müssen.13 Die damals geprägte Formel «separate butequal» bedeutete faktisch, dass Schwarzen zu der politisch und wirtschaft-lich bestimmenden weissen Gesellschaft der Vereinigten Staaten derZugang verwehrt werden durfte. Dadurch blieb die Sklaverei für die sozia-le, vor allem auch sozialpsychologische Verfassung der schwarzen Bevöl-kerung bis tief ins letzte Jahrhundert wirksam.

Page 7: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

MICHAEL SCHEFCZYK 409

Von den Gegnern wird häufig übersehen, dass wahrscheinlich die Mehr-zahl der Befürworter von Black Reparations eine Kompensation für dasUnrecht der Segregation fordert, nicht für das der Sklaverei. Insofernberuht es auf einem Missverständnis, wenn gegen reparations for slaveryargumentiert wird, ohne zu beachten, dass die meisten Befürworter vonReparationen die Sklaverei zwar für einen wirksamen kausalen Faktor imLeben heutiger Afroamerikaner halten, dass die Zahlungen aber für dasUnrecht der Segregation geleistet werden sollen. Dies war auch die Emp-fehlung einer der bedeutendsten Studien zum Thema, Boris Bittkers «TheCase For Black Reparations».14 Es ist aber nicht diese Linie, der ich imFolgenden folgen möchte. Vielmehr werde ich in Kapitel 4 die These ver-teidigen, dass unter bestimmten Bedingungen die Forderung nach repara-tions for slavery als gerechtfertigt betrachtet werden kann.

3. Wiedergutmachende Gerechtigkeit

Es gehört zu den tiefsten moralischen Überzeugungen, dass die Verletzungoder Übertretung moralischer Rechte nicht einfach stehen bleiben darf,sondern in geeigneter Weise korrigiert werden muss. Um ein belanglosesBeispiel zu nehmen: Wenn ihnen jemand versehentlich auf den Fuss tritt, soerwarten sie, dass er um Verzeihung bittet. Verweigert er dies, so verweigerter ihnen den Respekt als einer Person, die Anspruch darauf hat, von ande-ren keinen Schmerz zugefügt zu bekommen. Lässt jemand aus Unachtsam-keit, Ungeschicklichkeit oder mit Absicht ihre geliebte Vase fallen, soschuldet er ihnen etwas. Wer dies nicht sieht, wer nicht erkennt, dass diePflicht besteht, angerichteten Schaden und begangene Verletzungen mora-lischer Rechte wieder gutzumachen, ruft in uns Irritation, in schweren Fäl-len aber Empörung oder Abscheu hervor. Die Irritation oder Empörungüber eine solche moralische Indolenz kann andauern, wenn der Schmerzschon lange vergangen ist. Im fünften Buch der «Nikomachischen Ethik»hat Aristoteles davon gesprochen, die Wiedergutmachung sei als «Wieder-herstellung der Gleichheit» zu verstehen. Der Schädiger hat die geschädig-te Partei nicht als gleich behandelt, indem er ihre Rechte überschritten undverletzt hat; und eben diese Gleichheit der Parteien, nicht nur der materielleSchaden, will wiederhergestellt sein. Daher ist kompensatorische Gerech-tigkeit ein besonderes moralisches Verhältnis zwischen der schädigendenund der geschädigten Seite.15 Die explizite oder stillschweigende Anerken-nung des moralischen Fehlers, der Ausdruck des Bedauerns oder die Bitteum Entschuldigung gehören daher, neben dem Ausgleich des materiellenSchadens, zur Wiedergutmachung.16 Wenn eine reiche Person absichtlichihre Autotür zerkratzt, um ihnen anschliessend hohnlächelnd ein Vielfa-

Page 8: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

410 Black Reparations

ches des Schadens in bar zu überreichen, würden sie dies wohl kaum alsWiedergutmachung gelten lassen, eben weil nicht Gleichheit hergestellt,sondern Ungleichheit demonstriert wird. Eine Kompensationszahlung istkein Preis, zu dem eine Person bereit ist, eine bestimmte Handlung zuerdulden.

Begriffsbestimmung I: Wiedergutmachung dient der Wiederherstel-lung der durch die Schädigung gestörtenmoralischen Ordnung. (W1) Die Gleichheitzwischen Schädiger und Geschädigten mussdurch Anerkennung des moralischen Feh-lers wiederhergestellt und (W2) der ange-richtete Schaden – soweit möglich – kom-pensiert werden.

Wiedergutmachung kann sich auf die vorangegangene Verletzung (a)des Eigentums oder (b) der Person beziehen. Zunächst zur Verletzung desEigentums.

(a) Der einfachste Typ wiedergutmachender Gerechtigkeit betrifftersetzbare Gegenstände, die keinen grossen Wertschwankungen ausgesetztsind. Wenn P Qs Füller verliert, so ist P moralisch verpflichtet, Q einenneuen zu kaufen; und bei dem einfachsten Typ von Wiedergutmachung istQ der neue ebenso recht wie der alte. Dies ist Robert Nozicks Definition füreine volle Kompensation. Sie liegt vor, wenn der Geschädigte mit ihr nichtschlechter dasteht als er dastehen würde, wenn es zu keiner Verfehlung und– folglich – zu keiner Kompensation gekommen wäre.17 Wenn der Geschä-digte vor der Schädigung indifferent gewesen wäre zwischen X (der Ersatz-leistung) und Y (dem, wofür Ersatz geleistet wird), dann kann X als volleKompensation von Y gelten. Der neue Füller kompensiert Q voll für denVerlust des alten, wenn Q die Tatsache nicht stört, dass der neue Füller ebennicht der alte ist. Ist die volle Kompensation von einem aufrichtigen Wortder Entschuldigung von P begleitet, so ist der moralische Schaden wiedergutgemacht.

Ob ein Gegenstand ersetzbar ist, hängt bis zu einem gewissen Grade vonden Einstellungen des Geschädigten ab. Der alte Füller könnte einebestimmte Geschichte haben, an der Q liegt, während der neue Q vor allemdaran erinnert, dass der alte fort ist und dass P es war, der ihn verloren hat.Möglicherweise ist Q aber auch froh, den alten Füller und die mit ihm ver-bundene Geschichte los zu sein.

Wenn P einen objektiv ersetzbaren Gegenstand von Q verliert, an dessenGeschichte Q (ohne dass P davon wusste) nichts liegt, dann hat P mora-lisch Glück gehabt, weil P Q dann voll kompensieren kann. Liegt Q indes-

Page 9: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

MICHAEL SCHEFCZYK 411

sen (ohne dass P davon wusste) an der Geschichte eines Gegenstands, fürdessen Verlust P verantwortlich ist, so hat P moralisch Pech, weil Q blei-benden Grund hast, P zu grollen.

Ein komplizierterer Fall wiedergutmachender Gerechtigkeit betrifftGegenstände, die starken Wertschwankungen ausgesetzt sind. Auf denersten Blick scheint die beste denkbare Wiedergutmachung darin zu beste-hen, dass genau derselbe Gegenstand wiederbeschafft wird, der demGeschädigten durch den Schädiger entzogen worden war: also in der Resti-tution. Das gilt aber nicht unbedingt bei Gegenständen, die starken Wert-schwankungen ausgesetzt sind. Wenn P erst unmittelbar vor dem Konzertauffällt, dass P nicht – wie versprochen – Qs Eintrittskarte, sondern einenWerbeprospekt eingesteckt hat, so kann P zwar am nächsten Tag den ver-sprochenen Gegenstand überreichen; nur wird er dann nichts mehr wertsein. Die Kompensation für den Fehler kann hier nicht durch den Gegen-stand geleistet werden, sondern indem das verschafft wird, wozu derGegenstand gut ist. Nicht immer ist die Bestimmung der angemessenenKompensationsleistung so einfach wie hier. Angenommen, jemandem wirdeine – zum Tatzeitpunkt – wertlose Tulpenzwiebel gestohlen. Kurz daraufsteigt der Preis für Tulpenzwiebeln ins Unermessliche – als es schliesslichgelingt, die Zwiebel wiederzubeschaffen, bewegt sich ihr Preis wieder aufdem ursprünglichen Niveau. Wie werden der Verlust und die Kompensa-tionssumme angemessen bestimmt? Kann der Geschädigte die Differenzzwischen dem Höchstpreis und dem jetzigen Preis vom Schädiger verlan-gen? Oder zumindest die Differenz zwischen jetzigem Preis und Durch-schnittspreis? Oder ist er bereits voll kompensiert, da er ja den Gegenstandwieder in seiner Gewalt hat?

(b) Ebenfalls schwierig zu beantworten ist die Frage, wie Schädigungendes Körpers kompensiert und wieder gutgemacht werden können. Die aus-gleichende Gerechtigkeit verlangt – wenn möglich – volle Kompensationfür den angerichteten Schaden. Angenommen, Q ist Schuld an Ps Bein-bruch. Wenn nun volle Kompensation darin besteht, dass der Geschädigtevor der Schädigung indifferent gewesen wäre zwischen X (der Ersatzlei-stung) und Y (dem, wofür Ersatz geleistet wird), dann hiesse dies: Die volleKompensation für den Beinbruch besteht in dem Betrag, für den P bereitgewesen wäre, sich von Q das Bein brechen zu lassen. Im Normalfall dürftedie Antwort auf die Frage nach der Höhe dieses Betrags lauten: Um keinenPreis! Der Gedanke an starken Schmerz ruft in den meisten Menscheneinen unwiderstehlichen Widerwillen hervor. Heisst das, für Verletzungendieser Art seien keine vollen Kompensationen denkbar? Das Schmerzens-geld hat eher symbolischen Charakter und dient dazu, den Ausdruck desBedauerns seitens des Schädigers zu unterstreichen. Selbst bei Schädigun-gen des Körpers, die wieder heilen können, muss die Wiederherstellung der

Page 10: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

412 Black Reparations

moralischen Ordnung, um die es bei der ausgleichenden Gerechtigkeitgeht, oft mit weniger als voller Kompensation auskommen. Dass in vielenFällen die Möglichkeit voller Kompensationen nicht offen steht, solltenicht zur Folge haben, dass wiedergutmachende Gerechtigkeit nur dann fürmöglich (und entsprechend für nötig) gehalten wird, wenn volle Kompen-sationen geleistet werden können.

Verletzungen der Person oder des Eigentums unterscheiden sich zudemhinsichtlich der Übertragbarkeit und Dauerhaftigkeit der Kompensationsan-sprüche. Wenn Q P in moralisch vorwerfbarer Weise das Bein bricht, so ist erverpflichtet, für die Behandlungskosten, den Verdienstausfall und dasSchmerzensgeld aufzukommen. Angenommen, im Normalfall ergäbe dieseinen Gesamtbetrag G. Kommt P während des Transports ins Krankenhausbei einem Verkehrsunfall um (in den Q nicht verwickelt ist), so erlischt damitauch der Anspruch auf G. Er geht nicht auf die Angehörigen von P über.

Normative These I (NTI): Kompensationsansprüche aus Verletzungender Person sind nicht zwischen Generatio-nen übertragbar.

Kompensations- und Wiedergutmachungsanspruch sind aber zu unter-scheiden. (W1), also die Wiederherstellung der Gleichheit zwischen Schä-diger und Geschädigten durch Anerkennung des moralischen Fehlers kanngeboten sein, auch wenn kein Kompensationsanspruch (W2) besteht. Ent-sprechend scheint es moralisch keineswegs abwegig, sondern gefordert,dass jemand, der einem Verstorbenen körperliches oder seelisches Unrechtzugefügt hat, dessen Witwe gegenüber seinen moralischen Fehler einbe-kennt und um Vergebung bittet. Betrachtet man die bereits zitierten Bei-spiele für Entschuldigungen von Staatsoberhäuptern, die sich zum Teil aufbereits Jahrhunderte zurückliegendes Unrecht beziehen, so wird deutlich,dass Wiedergutmachungsansprüche noch nicht einmal an den oder dieTäter gerichtet sein müssen. Es wird mitunter als ausreichend erachtet, dasseine Person eine Körperschaft repräsentiert, die für ein Unrecht verant-wortlich gemacht oder – noch loser – mit ihm in Verbindung gebracht wird.Darüber, wie eng die kausale und symbolische Verbindung zwischenUnrecht, Täter und Opfer sein muss, damit eine sinnvolle Entschuldigungüberhaupt möglich ist, herrschen unterschiedliche Auffassungen. Mancheschliessen kategorisch die Möglichkeit aus, für die Wiedergutmachung vonUnrecht herangezogen werden zu können, das sie nicht begangen habenoder verhindern konnten. Dafür lässt sich geltend machen, dass wir Perso-nen Verantwortung gewöhnlich nur für Dinge zuschreiben, die durch siekausal beeinflusst werden können. Personen haften für ihr Verschulden, für

Page 11: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

MICHAEL SCHEFCZYK 413

Risiken, die sie setzen, oder für Umstände, deren Bestehen sie anderenzusichern. Verschuldens-, Garantie- und Gefährdungshaftung sind auf jeunterschiedliche Weise bezogen auf die Möglichkeit, kausal Einfluss zunehmen. Wir haben diesem Verständnis zufolge Wiedergutmachungs-pflichten nur in Bezug auf Umstände, an deren Eintreten wir mitgewirkthaben. Auf vergangenes Unrecht kann man jedoch definitionsgemäss nichtkausal Einfluss nehmen. Wir können nicht an seinem Eintreten mitgewirkthaben. Also haben wir auch keine Wiedergutmachungspflichten für ver-gangenes Unrecht. In dieser Weise hat etwa ein Präsident der deutschenMax-Planck-Gesellschaft die Weigerung gerechtfertigt, eine Entschuldi-gung für verbrecherische Menschenversuche auszusprechen, die imNamen der durch ihn geführten Institution während des Naziregimesbegangen worden waren. Ihm zufolge können sich nur die Täter entschul-digen. Der Versuch, eine stellvertretende Entschuldigung auszusprechen,führe notwendigerweise zu einem fehlschlagenden Sprechakt. Dagegenspricht freilich, dass es nichts Ungewöhnliches ist und zu sein scheint, dasssich Repräsentanten für Handlungen entschuldigen, die für oder im Namenvon Organisationen begangen wurden. Wir schreiben Körperschaften zahl-reiche Handlungen und Pflichten zu, und nicht ihren Organen, also denausführenden Individuen. Insofern würden es wohl die meisten nicht fürsinnlos, sondern für angemessen halten, wenn sich der Präsident einer wis-senschaftlichen Vereinigung für verbrecherische Versuche entschuldigte,die im oder unter dem Namen dieser Vereinigung begangen wurden – auchwenn er persönlich keine solchen Handlungen begangen hat oder verhin-dern konnte. Eine solche Entschuldigung scheint weniger dringlich, aberdoch nicht sinnlos, wenn die unmittelbaren Täter verstorben sind.

Gemäss der NTI sind Kompensationsansprüche aus Verletzungen derPerson nicht zwischen Generationen übertragbar. Die Nachkommen vonSklaven können dieser These entsprechend keine Kompensation für Verlet-zungen verlangen, die ihre Vorfahren an Körper und Psyche erlitten haben.Wie steht es aber mit Kompensationsansprüchen aus Verletzungen desEigentums?

Normative These II (NTII): Kompensationsansprüche aus Verletzungendes Eigentums sind zwischen Generationenübertragbar.

NTII ist sicherlich unproblematisch, wenn erstens die Eigentumsverlet-zung noch nicht lange zurück liegt und zweitens das Eigentum restituiertwerden kann. Die Erben einer Person haben dabei nicht nur gegen denunmittelbaren Täter einen Herausgabeanspruch, sondern auch gegenüberDritten, die durch das Unrecht einen Vorteil erlangen. Schwerer sind Fälle

Page 12: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

414 Black Reparations

zu beurteilen, bei denen das beklagte Unrecht schon viele Jahrzehntezurückliegt und die unmittelbaren Opfer des Unrechts verstorben sind.Zunächst zu den vergleichsweise unproblematischen Aspekten:

Fall I: Angenommen, der Witwer Q hat eine einzige Erbin, seine Toch-ter T. P tötet Q mit dem Luxusauto, das er ihm einige Minutenzuvor gestohlen hat. Bevor er gefasst wird, schenkt er das Autoseiner über alles geliebten Mama.

Es dürfte unstrittig sein, dass Ps Mutter keinen moralischen Anspruchauf das Auto hat, auch wenn sie selbst arglos ist und Ps Motiv ihr gegenübermoralisch nicht zu beanstanden ist. Moralisch gesehen muss sie das Autovielmehr an die Erbin T übergeben.18

Anders ist die Lage einzuschätzen, wenn die dritte Partei den Vorteilnicht mehr herausgeben kann oder über ihn nicht mehr verfügt.

Fall II: Angenommen, Ps Mutter konnte im obigen Fall die Herkunft desWagens nicht kennen. In der Zwischenzeit hat sie den Wagenverkauft und das Geld für eine dringend nötige medizinischeBehandlung verausgabt.

Unter diesen Bedingungen scheint es moralisch nicht angemessen, PsMutter zur Herausgabe eines Geldbetrags aufzufordern, der dem Markt-wert des Wagens entspricht.

Normative These III (NTIII): Unschuldige Dritte können kompensations-pflichtig sein, wenn sie zum fraglichen Zeit-punkt über einen ungerechtfertigten, heraus-gebbaren Vorteil verfügen.

NTIII besagt, dass Personen zur Wiedergutmachung von Unrecht ver-pflichtet sein können, das sie weder begangen haben, noch verhindernkonnten; dann nämlich, wenn sie einen ungerechtfertigten Vorteil aus demUnrecht ziehen. Aus der Verbindung von NTII und NTIII gelangt man zueiner weiteren These:

Normative These IV (NTIV): Zur Wiedergutmachung historischen Unrechtsaus Verletzungen des Eigentums könnenunschuldige Dritte verpflichtet sein, wenn siezum fraglichen Zeitpunkt über aus demUnrecht resultierende, herausgebbare Vorteileverfügen.

Page 13: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

MICHAEL SCHEFCZYK 415

NTIV wird in der Debatte um Black Reparations implizit häufig in Fragegestellt. Die Tatsache, dass weder sie selbst noch ihre Vorfahren Sklavenbesessen haben, halten viele Gegner für ausreichend, um zumindest sichselber von einer moralischen Verpflichtung auszunehmen. Für eine Exkul-pation ist aber sicher mehr erforderlich als nur dies, wie folgende Überle-gung einleuchtend machen soll. Staatsverträge sind auch für nachgeboreneGenerationen bindend. Die steuerpflichtige Alterskohorte muss die sichaus ihnen ergebenden finanziellen Verpflichtungen erfüllen, auch wenn sieselbst jene nicht eingegangen ist und vielleicht auch niemals eingegangenwäre. Aus den schuldrechtlichen Handlungen vorangegangener Generatio-nen können also nach geübter Praxis moralische (und rechtliche) Verpflich-tungen erwachsen. Wenn dies bei schuldrechtlichen Handlungen möglichist, warum sollte es dann nicht auch bei deliktischen möglich sein? DieGegner von Black Reparations stellen die Frage anders – und zwar: ver-kehrt – herum. Es ist nicht so, dass Personen grundsätzlich nur für ihr eige-nes Handeln (und gegebenenfalls für das ihrer Vorfahren) aufzukommenhätten. Vielmehr folgt aus der Zugehörigkeit zu einem politischen Körperdie Pflicht, für historische Verbindlichkeiten einzustehen. Soll die Mög-lichkeit solcher Verpflichtungen grundsätzlich in Frage gestellt werden, sobedeutet dies, die Legitimität politischer Herrschaft in Frage zu stellen;und das wollen Gegner von Black Reparations in der Regel nicht tun.

Man kann den Einwand jedoch als berechtigten Hinweis darauf ausle-gen, dass die Ausgestaltung von Reparationen nicht ohne den Versuchgeschehen darf, die Zahlungslast in legitimierbarer Weise zu verteilen.Eine Minimalanforderung besteht darin, dass Unschuldige nicht belastetwerden. In der Bundesrepublik Deutschland ist dieses Prinzip bei denReparationszahlungen an jüdische Organisationen und den Staat Israelnicht beachtet worden. Sie wurden aus dem Steueraufkommen finanziert,ohne dass der Versuch unternommen worden wäre, zwischen Regimegeg-nern und ehemaligen Angehörigen der SS zu differenzieren.

Analog ist mit Blick auf Black Reparations berechtigterweise gefragtworden, ob es legitimiert werden kann, Steuerzahler zur Finanzierung her-anzuziehen, die (oder deren Familien) erst lange nach Ende der Sklaverei indie Vereinigten Staaten eingewandert sind.19

Es handelt sich hierbei jedoch nicht – wie viele Gegner meinen – umeinen grundsätzlichen Einwand gegen Reparationen, sondern um eine Frageder Ausgestaltung dieser. NTIV fordert, auch bei Immigranten, die langenach 1865 einwanderten, zu prüfen, ob sie über Vorteile verfügen, die ausdem fraglichen Unrecht resultieren.

Page 14: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

416 Black Reparations

4. Generelle Einwände gegen Reparationen

Der Begriff reparations ist im amerikanischen Sprachgebrauch weiterals im deutschen. Im Deutschen bezieht sich der Begriff der Reparation aufdas Verhältnis zwischen Staaten. Dem entspricht das Urteil des deutschenBundesgerichtshofs (BGH), die Schadenersatzklage der Hinterbliebeneneines SS-Massakers im griechischen Dorf Distomo sei zurückzuweisen,weil nur Staaten, nicht aber Privatpersonen Anspruch auf Reparationszah-lungen wegen Kriegsverbrechen hätten.20 Der amerikanische Sprachge-brauch ist offener, so dass die von Japan an zwangsprostituierte Koreane-rinnen geleisteten Entschädigungszahlungen unter den Reparationsbegrifffallen. Auch die Entschädigungsleistungen des Zwangsarbeiterfonds derdeutschen Industrie fallen unter den amerikanischen Reparationsbegriff,nicht jedoch unter den des BGH.

Ich möchte Reparationen als eine Form wiedergutmachender Gerechtigkeitverstehen, bei der das auszugleichende Unrecht durch den Staat verübt odererlaubt wurde. Staaten haben Reparationspflichten wegen ungerechter Krie-ge, wie die Weimarer Republik nach dem Ersten, oder wegen Völkermordesund verbundener Verbrechen, wie die Bonner und die Berliner Republik nachdem Zweiten Weltkrieg. In beiden Fällen haben staatliche Stellen selbst dasUnrecht massgeblich begangen. Gesetzliche Grundlagen wurden geschaffen,entsprechende Befehle erteilt, erforderliche Mittel verfügbar gemacht.

Reparationen gelten der Abgeltung historischen Unrechts, wobei damitzum einen die Grössenordnung des Unrechts angesprochen ist, zum ande-ren die Tatsache, dass die betreffenden Handlungen zum Begehungszeit-punkt rechtlich erlaubt oder geboten waren oder deren Verbot faktisch nichtdurchgesetzt wurde. Rechtlich erlaubt war beispielsweise über Hundertevon Jahren das Halten und Handeln von Sklaven; rechtlich geboten eineVielzahl von sozialen Praktiken im Zusammenhang der Judenermordungdurch das Deutsche Reich; formal illegal, aber faktisch durch das politi-sche und rechtliche System geduldet – und insofern legalisiert – war dieEnteignung von Indianerland durch Weisse in den Vereinigten Staaten.21

Die Opfer dieser Praktiken hatten zum Begehungszeitpunkt keine aner-kannte und wirksame rechtliche Grundlage, um das Unrecht als Unrecht zubeklagen. Unrecht als Unrecht nicht nur moralisch, sondern auch rechtlichzu markieren, ist daher eine Aufgabe, die erst zu einem unbestimmten spä-teren Zeitpunkt übernommen werden kann.

Als Reparationen sind daher im Folgenden nur Kompensationen zu ver-stehen, für die eigene gesetzliche Grundlagen geschaffen werden müssen;die also nach bestehendem Recht nicht verhandelt werden können, weil dieTaten nicht strafbar waren, verjährt sind oder die Schuldigen vor Strafver-folgung durch Immunität geschützt waren.

Page 15: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

MICHAEL SCHEFCZYK 417

Man sollte meinen, das Empfinden, moralische Fehler müssten wiedergutgemacht werden, nehme mit deren Grösse zu. Doch das ist offenbar nichtder Fall. Dieselben Leute, die empört wären, wenn jemand einen Fremdenungestraft ohrfeigen dürfte, sind häufig keineswegs empört, wenn Verbre-chen gegen die Menschlichkeit ungeahndet bleiben. Dieselben Leute, diesich nicht moralisch echauffieren, wenn jemand eine Entschuldigung erwar-tet, weil ihm ein anderer auf den Fuss getreten ist, echauffieren sich, wennjemand eine offizielle Entschuldigung dafür erwartet, dass er und seineFamilie von einem Staat beraubt oder misshandelt wurden. Folgendes Zitateines amerikanischen Akademikers, Thomas Sowell, bietet hierfür ein Bei-spiel: «First of all, slavery is not something like stepping on someone’s toeaccidentally, where you can say excuse me. If the people who actually ensla-ved their fellow human beings were alive today, hanging would be too goodfor them. If an apology would make no sense coming from those who werepersonally guilty, what sense does it make for someone else to apologize. Anational apology also betrays a gross ignorance of history. Slavery existed allover the planet, among people of every color, religion and nationality. Whythen a national apology for a worldwide evil? Is a national apology for mur-der next?»22 In dieser Passage wird nicht ganz klar, ob Sowell erstens eine«national apology» für unangemessen hält, weil die Sklaverei über Jahrhun-derte weltweit praktiziert und nicht als Verbrechen erachtet wurde, oder ob erzweitens der Meinung ist, eine Entschuldigung wäre ohnehin unangebrachtvon Leuten, die – wie Sklavenhalter – verdienten, gehängt zu werden. Letz-teres würde bedeuten, dass Sowell vertreten müsste, dass Präsident ThomasJefferson (1801-1809) verdient hätte, gehängt zu werden; denn Jeffersonwar nicht nur Rassist, sondern auch Eigentümer zahlreicher Sklaven. AuchPräsident Andrew Johnson (1865-1869) hatte Sklaven besessen, und dieListe liesse sich sicher um einiges verlängern. Ersteres brächte eine ihrer-seits eigenwillige Geschichtslektüre zum Ausdruck, denn dass SklavereiUnrecht darstellt, war im 19. Jahrhundert eine verbreitete moralische Über-zeugung, die beim Verbot des Sklavenhandels (das in Grossbritannien undden Vereinigten Staaten einige Jahrzehnte früher erfolgte als das Verbot derSklaverei) bereits zum Tragen gekommen war.

Klar wird jedoch aus dieser Passage, dass der Appell der Black-Repara-tions-Bewegung an die tiefe moralische Intuition, Unrecht müsse wiedergutgemacht werden, auf Widerstand stösst, auch wenn dessen Gründe häu-fig alles andere als durchsichtig sind.

Kaum jemand bestreitet, dass Sklaverei und Sklavenhandel furchtbaremoralische Fehler waren. Viele tun sich aber schwer damit, zu sehen, dassdaraus Pflichten der Wiedergutmachung entspringen könnten. Im Gegen-teil, sie finden eine derartige Ansicht abwegig, haarsträubend, weltfremd.Die folgende Liste gibt einige der geläufigsten Reaktionen wieder:

Page 16: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

418 Black Reparations

(1) Enormitätseinwand: Manche verweisen auf die Enormität der vorge-tragenen Forderungen, um zu begründen, dass sie unrealistisch und unge-recht sind. In den Vereinigten Staaten sind zur Wiedergutmachung derSklaverei Reparationssummen in Höhe von $ 500 Milliarden und mehr ein-gefordert worden. Viele sind überzeugt, dass diese Nennungen allein schonausreichten, um die Forderung nach Wiedergutmachung der Sklaverei zudiskreditieren. Transferprogramme dieser Grössenordnung sind zwarselbst für ein Land wie die Vereinigten Staaten beträchtlich, aber keines-wegs untragbar. Ähnlich dimensionierte Zahlungsströme sind auch schon inwesentlich kleineren Ländern ausgelöst worden. Die Gesamtsumme derNettotransfers von West- nach Ostdeutschland hat allein für die Jahre1991-1997 rund DM 926 Mrd. (ca. 470 Mrd.) betragen. Die Bundesbür-ger haben anfangs 7,5 %, später 5,5 % ihrer Einkommenssteuer zusätzlichfür den so genannten «Aufbau Ost» aufgewendet. Dabei wurde unter ande-rem daran appelliert, dass die Menschen in der ehemaligen DDR in höhe-rem Masse die Kosten des verlorenen Angriffskrieges getragen hätten; dassalso der begünstigte Westen dem Osten etwas schulde. Der «Solidarpakt»ist und war gleichsam ein Ausgleich der ungleich verteilten Lasten derKriegsschuld. Weder die Summe von $ 500 Milliarden noch die Begrün-dung von Transfers dieser Grössenordnung durch geteilte historischeErfahrungen ist so abstrus, wie es dem Bauchgefühl vieler Gegner vonBlack Reparations erscheint.

(2) Präzedenzfalleinwand: «There is neither wealth nor wisdom enough inthe world to compensate in money for all the wrongs in history», schrieb dieNew York Times in Reaktion auf Formans «Black Manifesto» im September1969.23 Das Argument ist bemerkenswert. Warum sollte es gegen Sklaverei-Reparationen sprechen, dass nicht genug Geld und Weisheit vorhandensind, um alle Fehler der Geschichte zu korrigieren. Es reicht, wenn Geldund Weisheit vorhanden sind, um den in Frage stehenden Fall zu beurteilenund zu kompensieren. An der zitierten Stelle der New York Times kommt dieFurcht zum Ausdruck, dass durch die Anerkennung und Wiedergutmachunghistorischen Unrechts Präzedenzfälle geschaffen würden und dass diesunabsehbare Folgen für die Kalkulierbarkeit des Wirtschaftssystems, desLebens insgesamt hätte. Würde man mit einem Fall anfangen, so müssteman sich am Ende mit allen beschäftigen – und dafür reicht weder Geldnoch Weisheit. Versuchte man historisches Unrecht konsequent zu kompen-sieren, gerieten die grossen und weniger grossen Wirtschaftsnationen Euro-pas, (und in geringerem Masse) Japan und die Vereinigten Staaten in einenunabsehbaren Strudel von Wiedergutmachungsforderungen. Jamaika hatbereits Reparationen von Grossbritannien für Sklaverei und Sklavenhandeleingefordert. Auf der UNO-Konferenz in Durban sind astronomische

Page 17: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

MICHAEL SCHEFCZYK 419

Ansprüche zugunsten der afrikanischen Staaten gestellt worden. Reparatio-nen an Afroamerikaner würden diese und ähnliche Vorstösse ermutigen.

Dieser Einwand ist inakzeptabel. Erstens gibt es bereits zahlreiche Prä-zedenzfälle; zweitens ist es keine Rechtfertigung ungerechten Handelns,dass man – handelte man in diesem Falle gerecht – dann auch in anderenFällen gerecht handeln müsste. Angenommen, in einer Gesellschaft, in derKorruption verbreitet ist, wird ein Fall von Bestechung öffentlichkeitswirk-sam verfolgt. Niemand würde es für ein gutes Argument halten, wenn maneinen solchen Prozess kritisierte, weil durch ihn ein «gefährlicher Präze-denzfall» geschaffen und die Kalkulierbarkeit des Wirtschaftssystemsgestört werden würde. Die Störung eines auf ungerechten Praktiken beru-henden Systems ist ja das Ziel des Prozesses. Ähnliches gilt für Repara-tionsforderungen. Manche scheinen indes der Meinung zu sein, die Kostenwiedergutmachender Gerechtigkeit seien prohibitiv hoch, weil sie – konse-quent durchgeführt – zu einem untragbaren Einbruch der Weltproduktionführen müsste. Abgesehen davon, dass für diese Behauptung keine Belegevorgelegt werden, wäre es nichts Ungewöhnliches, wenn Forderungen derGerechtigkeit und solche der Effizienz gegeneinander abgewogen werdenwürden. Wenn bestimmte Formen von Wiedergutmachung historischenUnrechts das globale System unkalkulierbar machen würden, dann wäredies bei deren Ausgestaltung zu berücksichtigen. Aber um dies beurteilenzu können, müsste die Bereitschaft bestehen, das Thema überhaupt ange-messen zu würdigen.

(3) Verjährungseinwand: «The whole notion of untangling the ‹debts› ofhistory smacks of fantasy. Would the descendants of an Athenian helot ofthe fifth century B.C., assuming that such a relationship could be establis-hed, have a claim today on the Greek government? [...] The whole thing isa grisly farce.»24 Das Unrecht der Sklaverei wurde in den Vereinigten Staa-ten vor vierzehn Jahrzehnten beendet. Verschiedene Menschen haben ver-schiedene Intuitionen darüber, ob und wann Unrecht vergeht. Aber esscheint klar zu sein, dass ab einem gewissen Zeitpunkt keine vernünftigenWiedergutmachungsforderungen mehr gestellt werden können. Reparatio-nen für Verbrechen, die fünfzig Jahre zurückliegen, dürften die meisten fürannehmbarer halten, als für solche, die vor fünfhundert Jahren begangenwurden. Wo wäre hier eine vernünftige Grenze zu ziehen? Die nahe lie-gende Lösung scheint zu sein, dass nur unmittelbare Opfer Wiedergutma-chungsansprüche haben und nur unmittelbare Täter Wiedergutmachungs-pflichten. Da in den Vereinigten Staaten weder ehemalige Sklavenhalternoch ehemalige Sklaven leben, sind die Ansprüche haltlos.

Dies ist ein populäres, aber nicht besonders überzeugendes Argument.Wenn es konsequent angewendet werden würde, dann wäre auch das deut-

Page 18: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

420 Black Reparations

sche «Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen», das auf Enteignun-gen in der ehemaligen DDR bezogen ist, in Teilen illegitim oder das öster-reichische Bundesgesetz über die «Rückgabe von Kunstgegenständen ausden Österreichischen Bundesmuseen und Sammlungen», das Opfern desNationalsozialismus und deren Nachkommen gilt. Wenn es aber dem com-mon sense entspricht, nicht nur die Ansprüche der unmittelbaren Opfer zuwürdigen, sondern solche auch mittelbaren Opfern zuzugestehen, dann istweit weniger klar, dass Sklaverei-Reparationen haltlos sind, als dies vonmanchen unterstellt wird.

(4) Chance auf Neuanfang: Manche sorgen sich auch um die Lebensbe-dingungen derjenigen, die für die Reparationen aufzukommen hätten.Menschen haben ein Recht auf einen moralischen Neuanfang. Selbst beischwersten Vergehen gewähren viele Rechtssysteme den Verurteilten nacheiner gewissen Zeit wieder die Freiheit. Eine ähnliche Überlegung kommtbei der Frage der Reparationen in Betracht. Viele meinen, es müssen histo-rische Schlussstriche gezogen werden, um Staaten und ihren Bevölkerun-gen zu erlauben, ihre Geschichte in besseren Bahnen fortzusetzen. Auchdieses Argument ist kein grundsätzlicher Einwand gegen Reparationen,sondern betrifft deren Ausgestaltung. Trotz der schier unbegreiflichen Ver-wüstung, die Nazi-Deutschland mit ungeteilter Schuld über Europagebracht hat, haben die westlichen Alliierten den Deutschen die Chanceauf einen politisch-moralischen Neuanfang gewährt. Es dürfte aber unstrit-tig sein, dass die an Israel und die jüdischen Opfer des Systems gerichtetenKompensationsleistungen integraler Bestandteil dieses Neuanfangs waren.Chance auf Neuanfang und Reparationen haben sich in diesem Fall ergänztund nicht widersprochen; und es gibt wenig Anlass, zu vermuten, es han-dele sich hier um einen Einzelfall.

(5) Willküreinwand: «The New York Times recently interviewed RichardBarret on ‹reparations›, in which Barret stated that the focus should be onWest Africa, where Negroes had been enslaved by their own people. ‹Letthe descendants of the tribal chieftains pay the descendants of their ownslaves.›»25 Vor vielen Akten historischen Unrechts steht anderes Unrecht.Jeder Versuch, die Ursachen sorgfältig zu erforschen, so meinen manche,verliert sich im Unbestimmten. Waren die Bene_-Dekrete nicht eine Reak-tion auf die Nazi-Barbarei, die ihrerseits eine Reaktion war auf Versailles,das seinerseits eine Reaktion war auf die verbrecherische Kriegführung derDeutschen im Ersten Weltkrieg und immer so fort? Jeder Anfang – so derEinwand – ist der Sache nach willkürlich. Welche Forderungen letztlichzum Zuge kommen, sei eine Angelegenheit der Macht und nicht derGerechtigkeit.

Page 19: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

MICHAEL SCHEFCZYK 421

An dem Einwand ist so viel richtig, dass es Beispiele für reaktivesUnrecht geben mag und dass es unangemessenen wäre, solche Formen desUnrechts unter Absehung vom historischen Kontext zu betrachten. Dieskann aber kein Argument gegen Reparationsforderungen schlechthin abge-ben, weil es eindeutige Fälle nicht-reaktiven Unrechts gibt, zu denen zwei-fellos die Ermordung der europäischen Juden, aber auch Sklaverei undSklavenhandel gehören.

(6) Konservatismuseinwand: «Compensatory justice», schreibt RobertGoodin, «is profoundly conservative. Across its diverse range of applica-tions, it usually serves to restore some status quo ante. The emphasis uponrestoring the preexisting state obviously flies in the face of ideals of redis-tributive justice.» 26 In vielen Fällen wird man erwarten, dass Theorien kor-rektiver und distributiver Gerechtigkeit zu ähnlichen normativen Aussagenführen. Wenn eine Bevölkerungsgruppe systematisch diskriminiert wurde,so erwachsen ihr Wiedergutmachungsansprüche; da zu den Wirkungen vonDiskriminierungen typischerweise auch materielle Nachteile gehören undTheorien distributiver Gerechtigkeit diese Nachteile aufzuheben fordern,weisen korrektive und distributive Ansprüche in dieselbe Richtung. Diesmuss aber nicht notwendigerweise der Fall sein. Angenommen, die beste-hende Verteilung sei einer Theorie distributiver Gerechtigkeit zufolgeungerecht. Nun ändert jemand durch eine unrechtmässige Handlung dieVerteilung so, dass sie der fraglichen Theorie der Gerechtigkeit besser ent-spricht. Beispielsweise könnten die am schlechtesten gestellten Mitgliederder Gesellschaft die Häuser und den Grundbesitz der am besten Gestelltenplündern und besetzen, so dass eine – im Sinne der Theorie – wünschens-wertere Verteilung resultierte. In diesem Fall scheinen die Aussagen kor-rektiver und distributiver Gerechtigkeit in unterschiedliche Richtungen zuweisen. Korrektive Gerechtigkeit fordert in jedem Falle zunächst dieBerichtigung des begangenen Unrechts. Darüber hinaus verlangt sie abereine Restitution oder Kompensation der Geschädigten. An dieser Stellesetzt nun der Dissens zwischen Vertretern korrektiver und distributiverGerechtigkeit ein. Denn in dem Beispiel haben die Geschädigten – laut derTheorie distributiver Gerechtigkeit – keinen gerechten Anspruch auf ihrEigentum. Ihr zufolge vermögen sie daher auch nicht, gerechterweise des-sen Restitution oder anderweitige Kompensation zu verlangen. Wir könntenim Sinne distributiver Gerechtigkeit daher versucht sein, so erwägt JulesColeman, Kompensation, Reparation oder Restitution nicht als eine Forde-rung der Gerechtigkeit zu betrachten, solange das zugrunde liegendeSystem von Eigentumsrechten nicht dem als gerecht ausgezeichneten Ver-teilungsmuster entspricht.27 Kompensatorische Gerechtigkeit ist dagegenkonservativ, insofern sie die Berechtigung des Zustands vor dem unrecht-

Page 20: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

422 Black Reparations

mässigen Eingriff als gegeben annimmt. Besser sei es, einen Schlussstrichunter das Geschehene zu setzen und einen Neuanfang auf Grundlagegerechter Regeln und Organisationen zu versuchen. Der Blick der Gerech-tigkeit müsse sich auf die Zukunft und nicht auf die Vergangenheit richten.

Auch dieser Einwand ist nicht überzeugend, wenn er im Sinne einergrundsätzlichen Ablehnung der Frage nach wiedergutmachender Gerech-tigkeit gemeint ist. Gerechtigkeit hat eine historische Seite, wie die libertäreTheorie deutlicher als die egalitaristische betont hat. Es reicht nicht aus, zuwissen, dass es einer bestimmten Bevölkerungsgruppe oder den Bewoh-nern eines bestimmten Landes schlecht ergeht, um sagen zu können, siehätten einen Gerechtigkeitsanspruch auf Transfers. Die Ursachen ihrerSituation sind vielmehr relevant. Ob eine Theorie den Ausgleich «unver-dienter Nachteile» fordert oder eine Wiedergutmachung von Unrecht: inbeiden Fällen ist historisches Wissen erforderlich. Der Versuch einer stren-gen Unterscheidung zwischen vergangenheitsorientierten und zukunftsori-entierten Theorien ist insofern irreführend.

(7) Ungerechtigkeitseinwand: «The notion of collective guilt for whatpeople did [200-plus] years ago, that this generation should pay a debt forthat generation, is an idea whose time has gone. I never owned a slave. Inever oppressed anybody. I don’t know why I should have to pay forsomeone who did [own slaves] generations before I was born.»28 DieserEinwand könnte einerseits auf der anarchistischen Annahme beruhen, dasseine Person nur dann verpflichtet ist, für eine Verbindlichkeit aufzukom-men, wenn sie diese Verbindlichkeit selbst eingegangen ist. Diese Annahmeist anarchistisch, weil sie die Legitimität politischer Autorität in Fragestellt. Politische Autorität ist durch die Pflicht der Herrschaftsunterworfe-nen definiert, den hoheitlichen Anweisungen zu folgen. Wenn eineGemeinde einen Radweg anlegt und dies aus Steuermitteln finanziert, sokann sich kein Steuerpflichtiger mit der Begründung entziehen, er habekein Fahrrad oder sei gegen den Radweg gewesen. Wird die Gerechtigkeitdieses Zwangs bezweifelt, so wird das Recht der politischen Körperschaftinsgesamt bezweifelt.

Hinter dem Einwand könnte andererseits die spezifischere These stehen,dass zwischen Personen wie Henry Hyde und dem Unrecht der Sklavereikeine Relation bestünde, die rechtfertigen würde, diese Personen zu Kom-pensationszahlungen zu zwingen. Um diese These zu begründen, reicht esaber sicher nicht aus zu sagen, man habe nie selbst einen Sklaven besessen.Mit derselben Begründung könnte Ps Mutter in Fall I sich weigern, dasAuto herauszugeben, weil sie selbst ja kein Unrecht begangen hat. Dies istaber nach NTIII für das Bestehen von legitimen Kompensationspflichtennicht zwingend erforderlich. Der Ungerechtigkeitseinwand müsste daher

Page 21: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

MICHAEL SCHEFCZYK 423

lauten, dass die Voraussetzungen von NTIII nicht gegeben sind, also Perso-nen wie Henry Hyde (und vermutlich ist mit ihm die gesamte weisseBevölkerung gemeint) zum fraglichen Zeitpunkt über keinen ungerechtfer-tigten, herausgebbaren Vorteil verfügen.29 Da der Ungerechtigkeitsein-wand den rationalen argumentativen Kern der Kritik am Gedanken vonBlack Reparations bildet, ist es nun Zeit, die generellen Einwände zu ver-lassen und zu den spezifischen Argumenten überzugehen.

5. Boxills Argument für Sklaverei-Reparationen

Die meisten Advokaten von Black Reparations stützen die Forderung nichtauf das Unrecht der Sklaverei, sondern auf das der Segregation und Diskri-minierung. Einer der ersten philosophischen Beiträge zu dem Thema, Ber-nard Boxills «The Morality of Reparation», hat sich allerdings in eineandere Richtung bewegt und eine Kompensation für unterschlageneArbeitslöhne gefordert.30 Der Kern seiner Argumentation zunächst imWortlaut: «Dick steals the bicycle from Tom and gives it to Harry; in themeantime Tom dies, but leaves a will clearly conferring his right to owner-ship of the bicycle to his son, Jim [1]. Here again we should have little hesi-tation in saying that Harry must return the bicycle to Jim [2]. Now, thoughit involves complications, the case for reparation under consideration isessentially the same as the one last mentioned: the slaves had an indisputa-ble moral right to the products of their labour [3]; these products were sto-len from them by the slave master who ultimately passed them on to theirdescendants [4]; the slaves presumably have conferred their rights ofownership to the products of their labour to their descendants [5]; thus, thedescendants of slave masters are in possession of wealth to which the des-cendants of slaves have rights [6]; hence, the descendants of slave mastersmust return this wealth to the descendants of slaves with a concession thatthey were not rightfully in possession of it [7].»31

[1] und [2] entsprechen NTII und NTIII. Tom kann an Jim nicht nur seineHabe vererben, sondern auch seinen Restitutionsanspruch gegen denunrechtmässigen Besitzer (NTII). Selbst wenn Harry arglos ist, ist er ver-pflichtet, das Rad an Jim herauszugeben (NTIII). Die Forderung nach Skla-verei-Reparationen beruht auf der Anwendung dieser normativen Thesen.Denn zweifellos hatten die Sklaven das moralische Recht, nicht versklavt zusein, sondern für ihre Arbeit übliche Löhne zu erhalten [3]. Die Vorausset-zungen von NTIV – so nimmt Boxill an – sind erfüllt: Die Nachfahren derTäter haben einen aus dem Unrecht resultierenden, herausgebbaren Vorteilempfangen [4]. Es kann auch vernünftigerweise angenommen werden,dass die Sklaven ihren Kompensationsanspruch an die Nachfahren vererbt

Page 22: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

424 Black Reparations

haben [5]. Folglich sind die Nachfahren der Sklavenhalter verpflichtet, denNachfahren der Sklaven die ungerechtfertigten Vorteile herauszugeben. Indieser ersten Fassung scheint der Black-Reparations-Anspruch Folgendeszu fordern:

Black Reparations Claim (BRCB): Jeder Nachfahre von Sklaven hatAnspruch auf Reparationen. Die Höhedes Anspruchs Ri ergibt sich aus demGegenwartswert der aggregierten Löh-ne, die in Normalarbeitsverhältnissenjener Zeit gezahlt worden wären,geteilt durch die Zahl der heute leben-den Nachfahren von Sklaven N.

David Horowitz und andere Gegner haben argumentiert, Black Repara-tions seien rassistisch, insofern sie den Anspruch nicht an dem Opferstatus,sondern an der Rassenzugehörigkeit festmachen würden. BRCB wirddurch diesen Vorwurf offensichtlich nicht getroffen, da Boxill davonspricht [5], dass die Sklaven ihren Kompensationsanspruch an ihre Nach-fahren übertragen haben. Der Anspruch wird von BRCB folglich nicht andem ethnischen Hintergrund, sondern an der Zugehörigkeit zu einer Fami-lienlinie festgemacht. Er hängt auch in keiner Weise davon ab, dass dieNachfahren genetisch mit den Sklaven verwandt sind. Entscheidend istvielmehr, dass vernünftigerweise unterstellt werden kann, dass der Kom-pensationsanspruch nach dem Tod des unmittelbaren Opfers an (angenom-mene oder gezeugte) Kinder vererbt wird.

An dem Rassismusvorwurf ist Boxill allerdings nicht ganz unschuldig,weil er im Anschluss an die zitierte Passage dazu übergeht, nicht mehr vonden «descendants of slaves» und «descendants of slave masters» zu spre-chen, sondern behauptet, «that the white community as a whole, consideredas a kind of corporation or company, owes reparation to the black commu-nity.»32

Abgesehen von der Frage, ob und inwiefern die weisse Bevölkerung alseine Körperschaft betrachtet werden kann, ist die Ansicht unhaltbar, dassdie schwarze Bevölkerung insgesamt Anrecht auf Sklaverei-Reparationenhätte. Boxill geht hier – im Gegensatz zu BRCB – davon aus, dass (a) jederheute lebende Afroamerikaner, (b) in gleicher Weise vom Unrecht vorent-haltener Löhne betroffen ist. Doch das ist nicht der Fall.

(a) Nicht jeder Afroamerikaner ist Nachfahre von amerikanischen Skla-ven. Denn zum einen sind viele schwarze Amerikaner erst nach der Eman-zipation zugewandert;33 zum anderen gab es laut Zensus von 1830 immer-hin 3775 freie Schwarze, die 12740 Negersklaven hielten.34 Es sind also

Page 23: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

MICHAEL SCHEFCZYK 425

nicht nur keineswegs alle heutigen Afroamerikaner Nachkommen vonamerikanischen Sklaven; einige von ihnen sind vielmehr Nachkommenvon Sklavenhaltern. Wenn die Gruppe der Afroamerikaner nicht mit derGruppe der Nachkommen von Versklavten kongruent ist, so kann der Kom-pensationsanspruch nicht daran festgemacht werden, dass jemand Afro-amerikaner ist. BRCB trägt dem Rechnung und stellt klar, dass die Repara-tionen denen zugute kommen müssen, deren Vorfahren das Unrecht derVersklavung angetan wurde, und dass die Nachkommen ehemaligerschwarzer Sklavenhalter Reparationen zu leisten hätten und nicht etwaempfangen würden.

(b) Die zitierte Formulierung von Boxill unterstellt ferner, dass jederAfroamerikaner in gleichem Masse von dem Unrecht der Sklaverei betrof-fen ist. Doch auch dies ist nicht der Fall. Angenommen, eine Person seierwiesenermassen väterlicherseits Nachfahre von Versklavten. Ihre Mutterstamme jedoch aus einer schwarzen Familie, die um 1900 aus der Karibikeingewandert ist. Wie würde sich dies auf ihren individuellen Reparations-anspruch auswirken? Und was wäre, wenn unter den Vorfahren väterlicher-seits eine reiche Weisse wäre? Oder ein schwarzer Sklavenhalter?

Eine verbesserte Version der Forderung von Boxill geht also nicht pau-schal davon aus, dass alle Nachfahren von Sklaven in gleichem Masseeinen Anspruch auf Sklaverei-Reparationen besitzen, sondern macht die-sen von der jeweiligen Familiengenealogie abhängig.

Black Reparations Claim (BRCFG): Jeder Afroamerikaner, jede Afroameri-kanerin hat Anspruch auf Reparatio-nen zur Wiedergutmachung desUnrechts der Sklaverei entsprechendder jeweiligen Familiengenealogie.

Boxill supponiert in [5], individuelle Kompensationsansprüche seienkontrafaktisch als Schuldscheine S zu betrachten, die 1865 an die ehemali-gen Sklaven ausgegeben wurden. Da die Schuld nicht beglichen wurde,haben die unmittelbaren Opfer die Schuldscheine zu gleichen Teilen anihre Nachkommen weitergegeben (Normalisierungsannahme). Selbst mitdieser Normalisierungsannahme bliebe die Lage jedoch unüberschaubar.Angenommen, Adam und Eva hätten 1865 jeweils einen Schuldschein Serhalten und an das einzige überlebende Kind, Abel, weitergegeben. Abelhätte Esther geheiratet, die – wie ihre Schwester Ruth – einen SchuldscheinS nach dem Tod ihrer Eltern geerbt hätte. Würden Abel und Esther sechsKinder gehabt haben, so hätte jedes von ihnen jeweils einen halben Schuld-schein S erhalten. Eines dieser Kinder, Judith, heiratet nun den aus derKaribik stammenden Jim, mit dem sie zwölf Nachkommen zeugt, die alle

Page 24: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

426 Black Reparations

überleben. An diese vererbt sie jeweils einen gleichen Teil ihres Schuld-scheins S, also 1/24 S.

Dieses Beispiel kann hier abgebrochen werden, weil deutlich wird, dassfür eine individuelle Bestimmung des Reparationsanspruchs auf Grundlageder Erbfolge eine schier unüberschaubare Zahl von Möglichkeiten besteht.Da seit Ende des beklagten Unrechts bereits vierzehn Jahrzehnte vergangensind, dürften die relevanten Informationen in der Regel kaum zu ermittelnsein. Eine Anwendung von BRCFG im grossen Umfang droht insofern anInformationsmangel zu scheitern. Zwar sind nach NTII Kompensationsan-sprüche aus Verletzungen des Eigentums zwischen den Generationen über-tragbar. Insofern kann grundsätzlich bejaht werden, dass die Nachkommenvon Sklaven über einen Prima-Facie-Anspruch auf Wiedergutmachungverfügen. Würde nun gefordert, die Reparationsforderung für jede Personindividuell zu bestimmen und zu belegen, so führte dies mit hoher Wahr-scheinlichkeit zu einem äusserst geringen Reparationsvolumen, sicherlichweit diesseits dessen, was den Befürwortern von Black Reparations vor-schwebt. Im Recht ist es jedoch nicht unüblich, schwer einlösbare Infor-mationsanforderungen durch Präsumtionen zu umgehen. Entsprechendkönnte man rechtlich von einer generellen Abstammungspräsumtion aus-gehen, also den vollen Anspruch aufgrund leicht verifizierbarer Merkmaleimmer dann zusprechen, wenn nicht entgegenstehende Evidenzen vorlie-gen. Minimalbedingung für eine annehmbare Auslegung von BRCFG wäreaber, dass zwischen der Lage der Empfänger und dem Unrecht eine Bezie-hung zumindest vernünftigerweise unterstellt werden kann.

5.1 Fragwürdigkeit des Opferstatus

BRCFG setzt voraus, dass Personen mittelbar Geschädigte der Sklavereisein können, und zwar in dem Masse, in dem sie in verwandtschaftlicherBeziehung zu den unmittelbar Geschädigten stehen. Diese Voraussetzungversteht sich nicht von selbst. Zwei Hauptlinien möglicher Kritik lassen sichunterscheiden: (c) Zum einen wird bemängelt, dass BRCFG unterstellt, dieNachfahren von afroamerikanischen Sklaven seien durch die Sklavereigeschädigt. Dies sei nicht der Fall. (d) Zum anderen wird gegen BRCFGargumentiert, dass nur zwei Klassen von Personen Ansprüche auf Kompen-sation haben können: die unmittelbaren Opfer eines Unrechts sowie mittel-bare Opfer, die in einer moralisch relevanten Beziehung zum unmittelbarenOpfer stehen. Die Anspruchsberechtigten von BRCFG stünden aber nicht ineiner moralisch relevanten Beziehung zu den unmittelbaren Opfern.

Zunächst zu (c), also zur Behauptung, die Nachfahren der afroamerika-nischen Sklaven seien durch die Sklaverei nicht geschädigt. In einer naive

Page 25: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

MICHAEL SCHEFCZYK 427

Variante (c1) lautet die Überlegung folgendermassen: Einem geläufigenVerständnis voller Kompensation entspricht es, dass sie einen Zustand her-stellt, wie er geherrscht haben würde, wenn es zu dem Unrecht gar nicht erstgekommen wäre. In welchem Zustand würden sich nun die Afroamerikanerohne das Unrecht der Sklaverei befinden? Vertreter von (c1) antworten aufdiese Frage: Ohne das Unrecht der Sklaverei wären die AfroamerikanerSchwarzafrikaner und würden folglich schlechter dastehen als ohne dasvon ihren Vorfahren erlittene Unrecht. Die Sklaverei stellt daher für sie alsNachkommen keinen Schaden dar, sondern einen Gewinn. Würde man dieEinkommen der afroamerikanischen Bevölkerung aggregieren und alsBruttosozialprodukt eines Landes behandeln, so fände es sich in der Rang-liste der reichsten Nationen an 13ter Stelle, hat der Ökonom Walter Wil-liams von der George Mason University berechnet. Vor diesem Hinter-grund halten es viele für schwer, an der Ansicht festzuhalten, es sei für dieheutigen Afroamerikaner ein Nachteil, dass ihre Vorfahren verschleppt undversklavt wurden. Besonders emotional hat dies ein langjähriger Afrika-korrespondent der Washington Post, Keith Richburg, zum Ausdruckgebracht: «Keith Richburg [...] wrote after three years of covering Africa forthe Washington Post. Africa is nightmarish, he concluded bluntly – a land ofcruelty, disease, dictatorship, and death. As a black American, he condemnsthe slave trade that kidnapped his ancestors four centuries ago and shippedhim west in chains. But he also knows that slavery made his American lifepossible. He is pained whenever he sees yet another scene of modern Afri-ca in misery. ‹But most of all›, he writes, ‹I think: Thank G-d my ancestorgot out, because, now, I am not one of them.›» 35 Die Betrachtungsweise vonKeith Richburg und anderen Vertretern von (c1) beruht aber auf einem Mis-sverständnis der Natur von Kompensationsansprüchen.

Fall III: Angenommen, B zündet in Ps Abwesenheit dessen Haus undKiosk an. Aus lauter Verzweiflung tut P daraufhin etwas, was ersonst nie tut und auch nie getan haben würde: Er kauft ein Lotte-rielos. Zufälligerweise gewinnt P damit den Hauptpreis, der weitgrösser ist als der von B verursachte Verlust. Mit dem Gewinnkann P ein neues, weitaus befriedigenderes Leben beginnen.

Selbst wenn wir mit absoluter Sicherheit wüssten, dass ohne den Brand-stifter all diese Dinge nicht geschehen wären, scheint es wenig plausibel zubehaupten, dass P keinen Anspruch auf Wiedergutmachung gegen B hätte.Der Grund ist darin zu suchen, dass Kompensationen mit Leistungsan-sprüchen aus Schuldverträgen vergleichbar sind.36 B schuldet P die Wie-dergutmachung des angerichteten Schadens so, wie ein Darlehensnehmerdie Rückerstattung des Darlehens schuldet. Um den Schaden zu bestim-

Page 26: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

428 Black Reparations

men, wird nicht die vermutete Gesamtwohlfahrt in der Lebenssituationohne Unrecht mit der Gesamtwohlfahrt in der Lebenssituation mit Unrechtzu einem beliebigen späteren Zeitpunkt verglichen; vielmehr betrachtetman die Situation unmittelbar vor und nach dem Unrecht und fixiert aufdieser Grundlage die Höhe des entstandenen Schadens. Der resultierendeKompensationsanspruch gegen den Rechtsbrecher besteht unbeschadetaller weiteren kausalen Konsequenzen, die das Unrecht haben mag. Esberuht insofern auf einem Missverständnis des Kompensationsgedankens,wenn Ellen Frankel Paul argumentiert, würde man das restaurative Ele-ment kompensatorischer Gerechtigkeit wörtlich nehmen, so schuldete dasweisse Amerika dem schwarzen ein schlechteres Leben, weil die typischeVertreterin eines schwarzafrikanischen Landes die Situation einer «blackteenage mother on welfare in one of this country’s worst inner cities» nurbeneiden könne.37 Denn sie vergleicht hier globale Wohlfahrtsszenarienstatt die Schadenssumme des begangenen Unrechts zu fixieren. Damit istnoch nicht die Frage geklärt, ob die Nachfahren von Sklaven einenAnspruch auf die Schadenssumme der unmittelbaren Opfer haben. Ichkomme auf diese Frage unter (d).

Zunächst jedoch zu (c2). Während Vertreter von (c1) annehmen, ohneSklaverei wären die heute lebenden Afroamerikaner Schwarzafrikaner,weist (c2) darauf hin, dass es einen heute lebenden Afroamerikaner, sagenwir: Keith Richburg, ohne Sklaverei mit an Sicherheit grenzender Wahr-scheinlichkeit gar nicht gäbe. Denn wären diejenigen, die durch den Skla-venhandel Keith Richburgs Vorfahren wurden, nicht versklavt worden, hätte es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit niemals einenMenschen mit dem genetischen Bauplan Keith Richburgs gegeben – undinsofern hat er auch keinen Grund, dafür dankbar zu sein, dass er nun nichtals Schwarzafrikaner leben muss, weil er unter anderen Umständen einfachnicht existieren würde. Allerdings folgt aus dieser Überlegung, dass sowenig Grund Keith Richburg hat, dafür dankbar zu sein, kein Schwarzafri-kaner zu sein, ebenso wenig Grund haben andere Afroamerikaner, dasUnrecht der Sklaverei zu beklagen. Denn eben: Wenn jemand Kompensa-tion verlangt, muss er darlegen, worin der Schaden besteht; und diesgeschieht, indem er sein tatsächliches Wohlergehen mit dem kontrafakti-schen Wohlergehen vergleicht, dass er genösse, wäre das Unrecht nichtgeschehen. Dabei wird vorausgesetzt, dass die betreffende Person in beidenZuständen existiert, eine Voraussetzung, von der wir gesehen haben, dasssie im gegebenen Fall äusserst unplausibel ist. Dieses Problem von Kom-pensation und personaler Identität in verschiedenen möglichen Welten isterstmals von George Sher analysiert worden.38 Die Frage, die hier aufge-worfen wird, lautet also, ob Personen einen Kompensationsanspruch für

Page 27: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

MICHAEL SCHEFCZYK 429

ein Unrecht haben können, das ein entscheidender kausaler Faktor ihrerExistenz ist.39 Im Folgenden werde ich dies den Identitätseinwand nennen.Zunächst ein Test auf moralische Intuitionen hinsichtlich kompensatori-scher Gerechtigkeit:

Fall IV: Angenommen, K wäre das einzige Kind von Eltern, die sich aufder Flucht vor einer furchtbaren Diktatur kennen gelernt und sichohne dieses Regime niemals getroffen hätten. In der neuen Hei-mat sind Ks Eltern, ebenso wie K. selbst, glücklich und erfolg-reich. Nach dem Tod der Eltern und dem Untergang der Diktaturermittelt K den Verbleib eines äusserst wertvollen Buches, das KsMutter im Namen des Regimes entwendet worden war. Die Kon-fiskation war der Auslöser für die Entscheidung von Ks Mutter,das Land sofort zu verlassen. Das Buch befindet sich nun imBesitz des Sohnes O eines ebenfalls verstorbenen Offiziers, dervon der Konfiskation begünstigt wurde und sie auch durchge-führt hat. Als K die Herausgabe des Werkes verlangt, weigert sichder Sohn und begründet dies folgendermassen:1. Hätten Ks Eltern das Land nicht verlassen, so hätten sie sich

nicht kennen gelernt.2. Wenn sich Ks Eltern nicht kennen gelernt hätten, so wäre K

nicht gezeugt worden.3. Die Konfiskation des Buches war unmittelbare Ursache

dafür, dass Ks Mutter das Land verlassen hat.4. Dann war aber die Konfiskation des Buches ein entscheiden-

der kausaler Faktor von Ks Existenz. (wg. 1, 2, 3)5. Folglich würde K ohne die Konfiskation des Buches nicht

existieren.6. Eine Person kann nur Kompensation verlangen, wenn sie

einen Schaden erlitten hat.7. Ob ein Schaden vorliegt, wird bestimmt, indem die bestehen-

de Situation verglichen wird mit der Situation, die ohne diefragliche Handlung bestehen würde.

8. Da es K ohne die schädigende Handlung nicht gäbe, kannnicht sinnvoll gesagt werden, K hätte einen Schaden erlitten.(wg. 5)

9. Daher hat K auch keinen Anspruch auf Kompensation. (wg. 6)10. Im vorliegenden Fall bestünde die Kompensation in der Her-

ausgabe des Buches.11. Folglich hat K keinen Grund, die Herausgabe des Buches zu

verlangen. (wg. 9, 10)

Page 28: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

430 Black Reparations

Mit einer ähnlichen Argumentation hat der Philosoph Stephan Kershnardie Rechtfertigung von Affirmative-Action-Programmen für Afroamerika-ner durch den Gedanken kompensatorischer Gerechtigkeit zurückgewie-sen. Zuweilen wird die Bevorzugung von Afroamerikanern in bestimmtenAuswahlprozeduren mit der Überlegung gerechtfertigt, dass dies eine Wie-dergutmachung des Unrechts von Sklaverei und Diskriminierung darstelle.Die Kompensation von Unrecht – so Kershnar – verlangt indes den Ver-gleich zwischen den wirklichen Umständen einer geschädigten Partei Pund einer in relevanten Hinsichten ähnlichen möglichen Welt, in der Pnicht geschädigt worden wäre. Dieser Vergleich ist nötig, um die Höhe desSchadens zu bestimmen.

«The problem is that some unjust injuring acts, particularly acts of sla-very, led to intercourse and the later creation of the ancestors of manymembers of minority groups. Hence, there is no possible world in whichthese individuals exist and in which the injustice, e.g. slavery, did notoccur. As a result, the counterfactual test does not allow us to measure oreven understand the existence of a compensatable injury to these per-sons.»40 Kershnar argumentiert hier wie der fiktive O. Wenn Unrecht Exi-stenzvoraussetzung einer Person A ist, so vermag A keine Wiedergutma-chung dafür zu verlangen, weil A durch das Unrecht nicht geschädigt seinkann. Personen können jedoch nach NTIII und NTIV für die Wiedergutma-chung von Unrecht verantwortlich sein, auch wenn sie nicht für dasUnrecht verantwortlich sind, und zwar dann, wenn sie in moralisch rele-vanter Weise von dem Unrecht profitieren. O profitiert zweifellos von demUnrecht, das sein Vater als Vertreter eines verbrecherischen Regimesbegangen hat, indem er das fragliche Buch konfiszierte. Nach NTIV ist erverpflichtet, zu der Wiedergutmachung des begangenen Unrechts beizutra-gen, von dem er profitiert hat. Die Schwierigkeit des beschriebenen Fallsbesteht aber – wie gesehen – darin, dass O argumentiert, es gebe nichtswieder gutzumachen. Es sei hier eben nicht so wie im Fall I, in dem T zumZeitpunkt der Tat bereits existierte. Ihr Opferstatus sei daher unbestreitbar.K könne aber – aus den bereits angeführten Gründen – nicht als Opfer vonUnrecht oder als mittelbar Geschädigte angesehen werden.

Das Ergebnis, zu dem Os Argumentation führt, scheint falsch zu sein –aber wo liegt der Fehler? Nehmen wir zuvor noch eine strukturell ähnlichgelagerte Situation hinzu:

Fall V: Angenommen, die Eltern von X hätten sich aus Geldnot an einemmedizinischen Experiment der Regierung beteiligt und sich beidieser Gelegenheit kennen gelernt. Ohne das Experiment wärensie sich niemals begegnet. Die Regierungsstellen wussten vordem Experiment, dass es für die Beteiligten äusserst schädlich

Page 29: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

MICHAEL SCHEFCZYK 431

sein würde – die Details waren aber unbekannt und sollten nähererforscht werden. Ziel und Risiken des Experiments wurden denProbanden in moralisch verwerflicher Weise verschwiegen. Des-sen Durchführung verletzte die moralischen Rechte der Beteilig-ten. Infolge des Experiments sind Eizellen der Mutter – ohne ihrWissen – geschädigt worden, so dass X schwer behindert zurWelt kommt.

Folgte man der Argumentation Kershnars und Os, stünde X (möglicher-weise im Gegensatz zu seiner mittlerweile verstorbenen Mutter) keineWiedergutmachung von der Regierung zu, da das Unrecht ein entscheiden-der kausaler Faktor seiner Existenz ist.

Betrachten wir nun zunächst, was in den Fällen IV und V nicht bestrittenwird: Es wird nicht bestritten, dass es zu einem Unrecht gekommen ist, dasPflichten der Wiedergutmachung begründet. Im Fall V stellt die Regierungin Abrede, gegenüber X Wiedergutmachungspflichten zu haben, gestehtaber zu, dass die Durchführung der Experimente ein kompensationspflich-tiges Unrecht an den unmittelbaren Opfern war.

Laut NTIV können solche Pflichten jedoch auch gegenüber mittelbarenOpfern vorliegen, die in einer moralisch relevanten Beziehung zu denunmittelbaren Opfern stehen. Es fragt sich also, ob dies bei X der Fall ist, obalso X die Rechte eines mittelbaren Opfers innehat.

Damit sind wir aber auf (d) verwiesen, auf den Einwand, dass dieAnspruchsberechtigten nicht in einer moralisch relevanten Beziehung zuden unmittelbaren Opfern stünden. Die Triftigkeit des in (c2) formuliertenIdentitätseinwands gegen Wiedergutmachungsleistungen hängt also vonder Frage ab, ob die Tatsache, dass Unrecht ein kausal entscheidender Fak-tor für die Existenz von jemandem ist, dazu führt, dass die betroffene Per-son nicht in einer moralisch relevanten Beziehung zum unmittelbarenOpfer stehen kann.

Unabhängig von dieser Frage lässt sich aber festhalten, dass die Profi-teure von dem Unrecht in Fall IV und V kein Recht auf die erlangten Vorteilehaben. Zwischen einer Herausgabepflicht und einem Restitutionsrecht sindAsymmetrien möglich. Dies wird an folgender Variation von Fall IV deut-lich:

Fall IV2: Angenommen, K wäre das einzige Kind von Eltern, die sich aufder Flucht vor einer furchtbaren Diktatur kennen gelernt und sichohne dieses Regime niemals getroffen hätten. In der neuen Hei-mat sind Ks Eltern, ebenso wie K selbst, glücklich und erfolg-reich. Nach dem Tod der Eltern und dem Untergang der Diktaturermittelt K den Verbleib eines äusserst wertvollen Buches, das Ks

Page 30: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

432 Black Reparations

Mutter im Namen des Regimes entwendet worden war. Die Kon-fiskation war der Auslöser für die Entscheidung von Ks Mutter,das Land sofort zu verlassen. Das Buch befindet sich nun imBesitz des Sohnes O eines ebenfalls verstorbenen Offiziers, dervon der Konfiskation begünstigt wurde und sie auch durchge-führt hat. Als K die Herausgabe des Werkes verlangt, weigert sichder Sohn und begründet dies folgendermassen: Er bedaurezutiefst das Unrecht des Regimes und schäme sich für die Tatenseines Vaters, aber K hätte kein Recht auf das Buch, da es sieohne das begangene Unrecht gar nicht geben würde. Hätte Knicht so ein glückliches und erfolgreiches Leben, würde er es alsrichtig erachten, ihr das Buch zu überlassen. Unter den gegebenenUmständen werde er es aber lieber einer geeigneten Organisationstiften. K betrachtet die Organisation zwar im Prinzip als wür-dige Empfängerin, beharrt aber auf Ihr Recht auf Rückgabe.

O bestreitet hier nicht, dass er kein Recht hat, von dem Unrecht seinesVaters zu profitieren. Er bestreitet vielmehr, dass K in einer moralisch rele-vanten Beziehung zum unmittelbaren Unrecht steht. Dass sie die einzigeTochter der Geschädigten ist, hält er aufgrund des Identitätseinwandes fürirrelevant. Entscheidend ist aus seiner Sicht, dass erstens durch seine Her-ausgabe ein moralisch falscher Zustand korrigiert wird, der darin besteht,dass er in kritikwürdiger Weise von Unrecht profitiert; und zweitens dassdiese Korrektur zugunsten moralisch unterstützenswerter Ziele geschieht,soweit möglich zugunsten der Kompensation unmittelbarer oder mittelbarerOpfer des verbrecherischen Regimes. In dem beschriebenen Fall scheintdiese Auflösung jedoch moralisch äusserst unbefriedigend. Intuitiv ist mangeneigt, K ein volles Restitutionsrecht zuzusprechen und deshalb die Auf-fassung von O zurückzuweisen. Ob sie dieses Recht hat, ist unter (d) zubetrachten.

Doch auch wenn die Tochter kein volles Restitutionsrecht haben sollte,ist Os Position fragwürdig, weil er zwar die Herausgabepflicht anerkennt,aber mit einem Entscheidungsrecht verknüpft, das er richtigerweise nichthaben sollte. Weil O kein Recht an dem Buch hat, sollte er auch nicht ent-scheiden dürfen, wer das Buch bekommt. Wer sonst eignet sich für dieseRolle? Eine nahe liegende Antwort scheint zu sein: Für diese Rolle eignensich diejenigen, die zu dem unmittelbaren Opfer in einer moralisch rele-vanten Beziehung standen. Dies trägt der intuitiven Einschätzung Rech-nung, dass es nicht in Ordnung ist, dass der Sohn des Täters und nicht dieTochter des Opfers entscheiden können soll, was mit dem Buch geschieht.

Page 31: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

MICHAEL SCHEFCZYK 433

Normative These V (NTV): Personen, die kein Recht auf erlangte Vor-teile haben, sind zur Herausgabe verpflich-tet, und zwar an diejenigen Personen, die ineiner moralisch relevanten Beziehung zumunmittelbaren Opfer stehen (ohne mittelbareOpfer zu sein).

In Fall IV2 steht K – als einzige Tochter – zweifellos in einer moralischrelevanten Beziehung zum unmittelbaren Opfer. Laut NTV gründet ihrAnspruch nicht darauf, dass sie ein mittelbares Opfer des Unrechts ist, son-dern dass sie moralisch geeignet ist, die Rolle der Eigentümerin zu über-nehmen, auf die O kein Recht hat.

Der Ertrag dieser Überlegungen für die Frage der Black ReparationClaims ist folgender: Autoren wie Stephan Kershnar sind der Auffassung,dass aus dem Identitätseinwand eine Zurückweisung von Reparationsan-sprüchen folgt. Wichtig ist aber festzuhalten, dass dies nicht heisst, dasskeine Pflicht zur Herausgabe von Vorteilen besteht, die durch die Sklavereierworben wurden. Die Proponenten des Identitätseinwandes sind in derRegel der Meinung, die Profiteure der Sklaverei hätten keine Herausgabe-pflicht, weil diese Pflicht von einem entsprechenden Recht der Empfängerabhinge; und weil sie dieses Recht bestreiten, bestreiten sie auch Pflichtender Profiteure. Dieser Schluss ist aber voreilig. Herausgabepflichten könnennach NTV auch unabhängig von konkreten Reparationsansprüchen beste-hen. NTV schlägt vor, diejenigen als Empfänger der herauszugebendenVorteile zu bezeichnen, die in einer moralisch relevanten Beziehung zu denunmittelbaren Opfern stehen. Dies ist der auf einer Herausgabepflichtberuhende Black Reparations Claim.

Black Reparations Claim (BRCH): Diejenigen Personen und Organisatio-nen, die nachweislich vom Unrechtder Sklaverei profitiert haben, sind zurHerausgabe des monetären Gegen-wartswertes der erlangten Vorteile ver-pflichtet. Die Zahlungen sollen denenzugute kommen, die in einer moralischrelevanten Beziehung zu den unmittel-baren Opfern stehen (ohne mittelbareOpfer zu sein).

(d) Lässt sich von einem Teil der heute lebenden Afroamerikanernsagen, dass sie in einer moralisch relevanten Beziehung zu den unmittelba-ren Opfern der Sklaverei stehen? Die Vertreter des Einwands (d) bestreiten

Page 32: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

434 Black Reparations

dies mit unterschiedlichen Begründungen. (d1) bezweifelt, dass vierzehnJahrzehnte nach dem Ende der Sklaverei die kausalen Verbindungen zwi-schen der Lage eines heutigen Individuums und den unmittelbaren Opferndes Unrechts ausreichen, um von «mittelbaren Opfern der Sklaverei» zusprechen; die heute lebenden Afroamerikaner stehen zudem in keinerBeziehung zu den unmittelbaren Opfern, die rechtfertigen würde, sie alsPersonen zu betrachten, die «moralisch geeignet sind, die Eigentümerrollezu übernehmen», wie die Tochter K im obigen Fall (Fall IV2). Im Zeitver-lauf lockern sich die kausalen Bindungen zunehmend, und es scheint vielenklar, dass sich dies auch auf die Stärke von Wiedergutmachungsansprüchenauswirken muss. (d1) zieht also nicht die normativen Thesen (NTI-V) inZweifel, die der Rechtfertigung von BRCH zugrunde gelegt wurden.Angezweifelt wird vielmehr deren Anwendbarkeit auf Fälle, bei denen dasfragliche Unrecht bereits viele Generationen zurückliegt.

Zuweilen wird dies damit untermauert, dass die im Recht enthaltenenVerjährungsregelungen Ausdruck der Intuition seien, Unrecht vergehe imLaufe der Zeit. Doch ist dies ein Missverständnis. Der juristische Begriffder Verjährung besagt nicht, bei Überschreiten einer bestimmten zeitlichenSchwelle sei das Unrecht nicht mehr als Unrecht zu betrachten. DasUnrecht bleibt auch nach Eintritt der Verjährung Unrecht. Verjährungbedeutet nur, dass der Geschädigte seinen Wiedergutmachungsanspruchrechtlich nicht mehr durchsetzen kann. Durch sie soll die Berechenbarkeitdes Rechts gefördert und dem Umstand Rechnung getragen werden, dasssich «die Umstände ändern». Im Sinne der Berechenbarkeit und der Flexi-bilität des Rechts kann es wünschenswert sein, dass Ansprüche aus Rechts-brüchen gerichtlich nur für einen definierten Zeitraum durchsetzbar sind.Berechenbarkeit und Flexibilität sind jedoch Gesichtspunkte, die gegen diegerechtfertigten Forderungen der Opfer abgewogen werden müssen.

Normative These VI (NTVI): Restitutions- und Kompensationsansprüchevergehen nicht. Sie können allerdings durchdie legitimen Erwartungen unschuldigerDritter oder durch geänderte Umstände ent-wertet werden.

NTVI erklärt, dass lange zurückliegendes Unrecht an Bedeutung ver-liert, nicht mit dem blossen Verstreichen der Zeit, sondern mit Veränderun-gen in der «normativen Struktur». Ändert sich die Struktur nicht, so bleibendie Ansprüche vom Verlauf der Zeit unberührt, ähnlich wie staatliche Ver-pflichtungen.41

Vergleichsweise unkontrovers sind daher zumeist Ansprüche unmittel-barer Nachkommen der direkten Opfer, insbesondere wenn es um die

Page 33: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

MICHAEL SCHEFCZYK 435

Rückgabe von beweglichen Sachen wie Kunstgegenständen geht. In dieseKategorie fällt beispielsweise das österreichische Bundesgesetz über die«Rückgabe von Kunstgegenständen aus den Österreichischen Bundesmu-seen und Sammlungen», das Opfern des Nationalsozialismus gilt. Heiklersind Forderungen nach Restitution von Haus- oder Grundbesitz, weil hier invielen Fällen das Schutzinteresse der unschuldigen Dritten stärker zugewichten ist; daher wird in der Regel, je länger das Unrecht zurückliegt,der Status der Rückgabeforderung umso schwächer.

Fall VI: Die Stämme der Passamaquoddy, der Penobscot und der Mali-seet Indianer haben auf Bitte des Generals George Washingtondie Revolutionsarmee im Unabhängigkeitskrieg unterstützt. ImGegenzug verpflichtete sich die Regierung 1790 im IndianNonintercourse Act diese Stämme vor einer unautorisiertenLandnahme zu schützen. Die Regierung hat ihre vertraglichenVerpflichtungen nicht eingehalten und die Stämme verloren zwi-schen 1794 und 1833 fast ihr gesamtes Land an den BundesstaatMaine. Das strittige Land umfasst 2/3 der Fläche von Maine; 350000 Drittparteien sind von dem Disput betroffen.42

Es scheint evident, dass sich hier nicht wie in Fall I entscheiden lässt, beidem die Mutter von P gutgläubig ein geschenktes Luxusauto in Empfangnimmt. In unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Schenkung hat sie ihrenLebensentwurf nicht darauf aufbauen können, dass sie über den Wagenverfügt. Sie hat daher kein starkes, schützenswertes Interesse an ihm, das inder Lage wäre, den Anspruch der Tochter T zu neutralisieren. Ein derartigesInteresse würde wohl auch bei längerer Dauer der Unrechtslage unter nor-malen Umständen nicht entstehen. Der Referenzpunkt für die moralischeWahrnehmung der Situation bliebe die Tatsache, dass der Wagen untermoralisch verwerflichen Umständen an Ps Mutter gelangt ist. Im Fall VI istder Referenzpunkt der moralischen Wahrnehmung ein anderer. Entschei-dend ist hier nicht, dass viel Zeit vergangen ist, seit das Unrecht begangenwurde, sondern dass sich die Umstände geändert haben und zu einer Ent-wertung des ursprünglichen Anspruchs (auf die mit dem Land verbundenetraditionelle Lebensform) führen. Die Bevölkerung der Vereinigten Staatenhat sich zwischen 1790 (4 Mio.) und 1990 (241 Mio.) mehr als versechzig-facht und wächst zurzeit pro Dekade um über 10% (Stand 2000: 281 Mio.).Der globale Bevölkerungsdruck ist keine Konsequenz des an den dreiStämmen verübten Unrechts, verändert aber den Status des Restitutionsan-spruchs. Die Forderung nach Wiederherstellung von Bedingungen, unterdenen sich die traditionelle, raumgreifende Lebensform wieder belebenliesse, ist nicht zu rechtfertigen. Das bedeutet allerdings nicht, dass die

Page 34: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

436 Black Reparations

betroffenen Stämme keine legitimen Wiedergutmachungsansprüche habenkönnten.

Normative These VII (NTVII): Unschuldige Dritte sind nicht restitutions-pflichtig, wenn sie ein gerechtfertigtes,höherrangiges Interesse an dem strittigenEigentum haben oder die Umstände nichtmehr vorliegen, unter denen der Eigen-tumsanspruch gerechtfertigt wäre.

Was bedeuten die voranstehenden Überlegungen für BRCH? Zunächsteinmal ist es richtig, wenn Vertreter von (d1) darauf hinweisen, dass sich derStatus von Reparationsforderungen im Zeitverlauf ändern kann. Es ist aberwichtig zu beachten, warum dies so ist. Nicht das Verstreichen der Zeit alssolches, sondern sich ändernde gesellschaftliche oder ökonomischeUmstände und neu hinzukommende, gerechtfertigte Ansprüche unschuldi-ger Dritter sind entscheidend. Beides ist aber im Fall von Black Reparationsnicht in einer Weise gegeben, dass BRCH zurückgewiesen werden müsste.

(d2) Wiedergutmachungsansprüche erlöschen, wenn die verpflichtetePartei den moralischen Fehler anerkannt und die entsprechende materielleLeistung erbracht hat. Gegner von Black Reparations argumentieren, dieerhobenen Forderungen seien illegitim, weil die Schuld bereits beglichenwurde. Was an Wiedergutmachung gegebenenfalls zu leisten gewesenwäre, ist im Rahmen von Affirmative-Action-Programmen bereits geleistetworden. Daher stellt BRCH eine inakzeptable, ungerechte Forderung dar(Ungerechtigkeitseinwand). Horowitz hat zudem die Frage aufgeworfen,ob nicht der Umstand berücksichtigt werden müsse, «that 350.000 Unionsoldiers [...] died to free the slaves.»

Zunächst zu dem von Horowitz aufgebrachten Punkt: Der hohe Blutzoll,der für die Beendigung der Sklaverei entrichtet werden musste, rechtfertigtsicherlich, die Nachfahren der Gefallenen (sofern sie sich bestimmen las-sen) von Reparationspflichten auszunehmen; möglicherweise ist es sogargeboten, sie ihrerseits zu entschädigen. Es will aber nicht einleuchten, dassder hohe Preis, der für die Beendigung von Unrecht zu bezahlen war, alsKompensation der Opfer gelten kann.

Das andere Argument ist hingegen nicht von der Hand zu weisen. Es wärevöllig unangemessen, bei einer Forderung wie BRCH ausser Acht zu lassen,dass die amerikanische Gesellschaft bereits erhebliche Anstrengungen zurWiedergutmachung historischen Unrechts an der afroamerikanischenBevölkerung unternommen hat. Bereits die in den Siebzigerjahren intensivgeführte Debatte um die Legitimität der Affirmative-Action-Programmestand im Zeichen des Reparationsgedankens.43 Ob mit diesen die Schuld

Page 35: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

MICHAEL SCHEFCZYK 437

beglichen worden ist, lässt sich nur bestimmen, wenn konkrete Forderungenpräsentiert und entsprechend mit dem bereits Geleisteten verrechnet werdenkönnen. Charles Krauthammer hat diesen Konnex explizit hergestellt undseine Unterstützung von Black Reparations von der Einstellung aller Affir-mative-Action-Programme abhängig gemacht. Sein Vorschlag ist von Inter-essenvertretern der afroamerikanischen Bevölkerung als konservativesKomplott abgetan worden. Es lässt sich aber – wie gesagt – nicht von derHand weisen, dass bei Forderungen, die auf dem Gedanken wiedergutma-chender Gerechtigkeit beruhen, geprüft werden muss, ob eine Schuld über-haupt noch besteht. Über deren Höhe werden – wie immer – vernünftigeMeinungsverschiedenheiten möglich sein; die Weigerung, Reparationenund Förderprogramme im Kontext zu sehen und ihre Leistungen zu verrech-nen, ist aber unseriös, wenn corrective justice eingeklagt wird.44

Krauthammers Vorschlag, jedem «afroamerikanischen Haushalt» $ 50000 zuzusprechen mag ad hoc sein. Möglicherweise kommen genauereUntersuchungen der Frage, «What America Owes to Blacks» zu anderenWerten. Die Grundidee bleibt – aus den erläuterten Gründen – richtig. Hin-zukommt, dass sich der Gedanke, laufende Transferprogramme durch ein-malige Zahlungen zu ersetzen, in Beziehung setzen lässt zu einem derinteressantesten Vorstösse der sozialpolitischen Debatte in den letzten Jah-ren, Ackerman und Alstotts «The Stakeholder Society».

«As a citizen of the United States, each American is entitled to a stake inhis country: a one time grant of eighty thousand dollars as he reaches earlyadulthood. This stake will be financed by an annual 2 percent tax levied onall the nation’s wealth.»45 Es wäre denkbar, Black Reparations in ein sol-ches Programm, das an die Stelle des wohlfahrtsstaatlichen Transfersy-stems treten soll, zu integrieren.

Anmerkungen

1 Zitiert nach Timmins 1995, S. 92.2 Boxill 1972, Bittker 1972, Nozick 1974, McGray 1978, Andelson 1978, 1979, Rohatyn

1979.3 Boxill 1972, S. 120.4 «Is there a way out of this cul-de-sac? A way to recognize the debt of the past without poi-

soning the present and future? There is. Reparations. [...] In the American case, one canmake both a symbolic gesture and a real one by giving, say, every African-American fami-ly a substantial sum in the tens of thousands. For example, $50,000 per family of fourwould cost about $440 billion [rund € 440 Mrd.] – a considerable sum but manageable. (Itamounts to about one-thirteenth of the projected 10-year surplus.)» (Krauthammer 2001)

5 Robinson 2000, S. 298.6 Joyce 1999, S. 159.7 Bei den Tuskegee-Experimenten waren Personen ohne ihr Wissen mit Syphilis infiziert

worden, um verschiedene Krankheitsverläufe zu beobachten.

Page 36: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

438 Black Reparations

8 Posner und Vermeule 2003, S. 696.9 Ashford 2002.

10 Higginbotham 2003, S. 450.11 In diesem Sinne äußert sich der Politologieprofessor Edward Erler: «The Civil War, Lin-

coln believed, was fought to vindicate the central principle of the Founding that ‹all menare created equal› and that the ‹just powers› of government are based on the consent of thegoverned. The northern victory preserved the principles of the Declaration and the Recon-struction Amendments extended citizenship and civil and political rights to the newly freed slaves. The equal protection clause of the fourteenth amendment secures the equalprotection of equal rights of all citizens, regardless of race or ethnicity.» (Erler 2002)

12 Dies ist ein verbreitetes Argument und findet sich beispielsweise bei Horowitz 2002.13 Bittker 1973/2003, S. 13.14 «Applied to segregation, this approach would suggest the payment of compensation for state-

prescribed segregation in public schools and other public facilities. Compensation for vio-lations of the ‹separate but equal› doctrine is even more consonant with tradition, sincethese violations were legally wrong even when commited.» (Bittker 1973/2003, S. 136)

15 Gegen diese Anschauung hat Jules Coleman verschiedentlich argumentiert. Ihm zufolgedient kompensatorische Gerechtigkeit der Wiederherstellung eines bestimmten Vertei-lungsmusters und ist kein besonderes moralisches Verhältnis. Coleman 1994a, 1994b. Kri-tisch gegenüber einer solchen Position: Gaus 1991, Lomasky 1991.

16 Boxill 1972.17 Nozick 1974, S. 57.18 Dies dürfte auch der Rechtslage entsprechen. Für meine Überlegungen hängt aber nichts

davon ab, ob dies tatsächlich der Fall ist, da es hier um die moralischen Wiedergutma-chungsansprüche geht, die gegebenenfalls rechtliche Form haben oder annehmen können.

19 «The two great waves of American immigration occurred after 1880 and then after 1960.What logic would require Vietnamese boat people, Russian refuseniks, Iranian refugees,Armenian victims of the Turkish persecution, Jews, Mexicans, Greeks, or Polish, Hunga-rian, Cambodian and Korean victims of communism, to pay reparations to Americanblacks?» (Horowitz 2002, S. 13)

20 BGH, Az.: III ZR 245/98.21 Der Indian Nonintercourse Act von 1790 sieht vor, dass die Übereignung von indiani-

schem Grundbesitz durch den Bund genehmigt werden müsse. Verstöße gegen diesesGesetz bildeten die Grundlage für Restitutionsansprüche indianischer Stämme. Siehe:Lyons 1977.

22 zitiert nach Parker 2000, ähnlich äußert sich Sowell in Sowell 2002.23 zitiert nach Bittker 1973/2003, S. 5.24 zitiert nach Bittker 1973/2003, S. 10.25 Anonymus 2002.26 «These, the whole point is to alter those antecedent distributions that compensatory justice

is at such pains to recreate. The two notions seem unalterably at odds. Compensation stri-ves to preserve what redistribution strives to change. Redistribution alters what compensa-tion seeks to preserve.» (Goodin 1991, S. 143)

27 Coleman 1994, S. 124.28 Kongressabgeordneter Henry Hyde, zitiert nach Fullinwider 2003.29 Entsprechend müssen die Advokaten von Black Reparations zeigen: «In order to argue

that the total white community owes the total black community reparations, we must pre-sent an argument that shows how all whites, even recent immigrants benefitted from slaveryand how all blacks felt its damaging effects.» (McGray 1978, S. 253)

30 Boxill spricht von den «products of labor»; es scheint sinnvoller, davon auszugehen, dassnicht der Geldwert des Arbeitsproduktes, sondern der Arbeitslohn geschuldet wird.

31 Boxill 1972, S. 120.32 Boxill 1972, S. 120.

Page 37: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

MICHAEL SCHEFCZYK 439

33 Sklaverei und Sklavenhandel ist zwar sicherlich ein kausaler Faktor im Leben vonSchwarzen, die beispielsweise nach 1865 aus der Karibik in die Vereinigten Staatenkamen; doch wäre es unbillig, hierfür von der amerikanischen Bevölkerung Reparationenzu fordern.

34 Jacoby 2001.35 Jacoby 2001.36 Thomson 1971/1986.37 Frankel Paul 1991, S. 119.38 Sher 1979/1997, Morris 1984, Fishkin 1991.39 «The notion of compensation, as commonly employed, simply presumes some variation of

an identity-specific conception of interests. X is fully compensated for event E when X isas well off as X would have been, had E not occurred. [...] The trouble is that we cannotemploy this notion of compensation to correct injustices from a past generation, becausethe required state of affairs would entail the non-existence of those who would have to becompensated.» (Fishkin 1991, S. 91)

40 Kershnar 1999, S. 95.41 In diesem Sinne äußert sich auch Janna Thompson: «Commitments of nations are perpe-

tual. There is no temporal limitation to their scope. Nevertheless, they do not last for ever.Conditions change.» (Thompson 2002, S. 71)

42 Hill 2002, S. 412.43 Thomson 1971/1986, Bayles 1973, Cowan 1972, Shiner 1973, Taylor 1973, Nickel 1974,

Nunn 1974, Boxill 1978, Wade 1978.44 Unberührt bleibt davon die Möglichkeit, Boni bei der Auswahl von Studierenden und

Ähnliches damit zu legitimieren, dass andere Ziele als Gerechtigkeit verfolgt werden, bei-spielsweise diversity. Vielfältigkeit scheint der Gerechtigkeit ohnehin den Rang der wich-tigsten Rechtfertigung für Affirmative Actions an Universitäten abgelaufen zu haben.

45 Ackerman und Alstott 1999, S. 4.

Bibliographie

Ackerman, Bruce und Alstott, Anne 1999, The Stakeholder Society, Yale: Yale Uni-versity Press

Andelson, Robert 1978, «Black Reparations. A Study in Gray», in: Personalist Nr.59, S. 173-183

Andelson, Robert 1979, «Reply to Professor Rohatyn», in: Personalist Nr. 60, S.438-441

Anonymus 2002, «Tickets for Back-to-Africa», in: www.nationalist.org/alt/2002/aug/reparations.html

Ashford, Shannon 2002, The Reparations Debate: Should Black Americans Recei-ve Slavery Reparations?, EDGE Lecture Series

Bayles, Michael 1973, «Reparations to Wronged Groups», in: Analysis Nr. 33, S.182-184

Bittker, Boris 1973/2003, The Case for Black Reparations, Boston: Beacon PressBoxill, Bernard 1972, «The Morality of Reparation», in: Social Theory and Prac-

tice Nr. 2, S. 113-123Boxill, Bernard 1978, «The Morality of Preferential Hiring», in: Philosophy &

Public Affairs Nr. 7, S. 246-268Chapman, John W. (Hg.) 1991, Compensatory Justice, New York und London:

New York University Press

Page 38: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

440 Black Reparations

Coleman, Jules 1994a, «Corrective Justice and Property Rights», in: Social Philo-sophy & Policy, S. 124-138

Coleman, Jules 1994b, «Tort liability and the limits of corrective justice», in: Cole-man, Jules und Buchanan, Allen (Hg.), In harm»s way. Essays in honor of JoelFeinberg, Cambridge: Cambridge University Press, S. 139-158

Cowan, J. L. 1972, «Inverse Discrimination», in: Analysis Nr. 33, S. 10-12Erler, Edward J. 2002, «Would Reparations for Slavery be Just?», in: www.cla-

remont.org/writings/020505erler. htmlFishkin, James S. 1991, «Justice Between Generations: Compensation, Identity,

and Group Membership», in: Chapman (Hg.) 1991, S. 85-96Fullinwider, Robert 2000, «The Case for Reparations», in: Philosophy & Public Policy

Quarterly Nr. 20: www.puaf.umd.edu/IPPP/reports/vol20sum00/case.htmlGaus, Gerald 1991, «Does Compensation Restore Equality?», in: Chapman (Hg.)

1991, S. 45-81Goodin, Robert 1991, «Compensation and Redistribution», in: Chapman (Hg.)

1991, S. 143-177Higginbotham, F. Michael 2003, «A Dream Revived: The Rise of the Black Repa-

rations Movement», in: NYU Annual Survey of American Law Nr. 58, S. 447-455

Hill, Renée 2002, «Compensatory Justice: Over Time and Between Groups», in:Journal of Political Philosophy Nr. 10, S. 392-415

Horowitz, David 2002, Uncivil Wars. The Controversy over Reparations for Sla-very, San Francisco: Encounter Books

Jacoby, Jeff 2001, «The Reparation Calculation», in: http://jewishworldreview.com/jeff/jacoby020601.asp

Joyce, Richard 1999, «Apologizing», in: Public Affairs Quarterly Nr. 13, S. 159-173

Kershnar, Stephan 1999, «Are the Descendants of Slaves Owed Compensation forSlavery?», in: Journal of Applied Philosophy Nr. 16, S. 95-101

Krauthammer, Charles 2001, «David Horowitz and Reparations», in: www.town-hall.com/columnists/charleskrauthammer/printck20010408.shtml

Lomasky, Loren 1991, «Compensation and the Bounds of Rights», in: Chapman(Hg.) 1991, S. 13-44

Lyons, David 1977, «The New Indian Claims», in: Social Theory and Practice Nr.4, S. 249-272

McGray, Howard 1978, «Justice and Reparation», in: Philosophical Forum Nr. 9, S.250-263

Morris, Christopher 1984, «Existential Limits to the Rectification of Past Wrongs»,in: American Philosophical Quarterly Nr. 21, S. 175-182

Nickel, James 1974, «Should Reparations be to Individuals or Groups», AnalysisNr. 34, S. 154-169

Nozick, Robert 1974, Anarchy, State, and Utopia, Oxford (UK) und Cambridge(US): Blackwell Publisher

Nunn, William 1974, «Reverse Discrimination», in: Analysis Nr. 34, S. 151-154Parker, Jay 2000, «An Apology and Reparations for Slavery?», in: www.worldan-

di.com/public/2000/april/repcon.htmlPosner, Eric A. und Vermeule, Adrian 2003, «Reparations for Slavery and Other

Historical Injustices», in: Columbia Law Review Nr. 103, S. 689-747

Page 39: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

MICHAEL SCHEFCZYK 441

Robinson, Randall 2001, The Debt. What America Owes to Blacks, Harmonds-worth (UK): Plume by Penguin Books

Rohatyn, Dennis 1979, «Black Reparations: A Black and White Issue?», in: Perso-nalist Nr. 60, S. 433-437

Sher, George 1979/1997, «Compensation and Transworld Personal Identity», in:Approximate Justice. Studies in Non-Ideal Theory, Lanham et al.: Rowmanund Littlefield, S. 29-43

Shiner, Roger 1973, «Individuals, Groups, and Inverse Discrimination», in: Analy-sis Nr. 33, S. 185-187

Sowell, Thomas 2002, «The Reparations Fraud», in: www.townhall.com/colum-nists/thomassowell/ts20020104.html

Taylor, Paul 1973, «Reverse Discrimination and Compensatory Justice», in: Analy-sis Nr. 33, S. 177-182

Thompson, Janna 2002, «A Matter of Time», in: Taking Responsibility for the Past.Reparations and Historical Justice, Cambridge: Polity Press, S. 70-86

Thomson, Judith Jarvis 1971/1986, «Preferential Hiring», in: Rights, Restitution,and Risk, Cambridge: Harvard University Press, S. 135-153

Timmins, Nicholas 1995, The Five Giants. A Biography of the Welfare State, Lon-don: Fontana Press

Wade, Francis 1978, «Preferential Treatment of Blacks», in: Social Theory andPractice Nr. 4, S. 445-470

Page 40: Wiedergutmachung historischen Unrechts als Bedingung des ... · haften, dass Rab Butler, der Urheber des für die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung wichtigen Education Act von 1944

442 Black Reparations


Recommended