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200 Jahre Deutsche Turner- und Turnverbandssymbolik als Spiegel der politischen Geschichte deutscher...

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Vorwort ........................................................................................................................ 7 Ingomar Weiler Rezeptionsgeschichtliches (nicht nur) zum antiken Griechensport. Einige grundsätzliche Überlegungen zum interkulturellen Austausch sportlicher Phänomene .................................................................................................................. 9 Jan Schlürmann 200 Jahre Deutsche Turner- und Turnverbandssymbolik als Spiegel der politischen Geschichte deutscher Staaten und politischer Ideologien, 1813–2013 ..41 Lorenz Peiffer & Henry Wahlig “Heute gilt es, allen jüdischen Sportlern, die heimatlos geworden sind, unsere Reihen zu öffnen”. Die Selbstorganisation des jüdischen Fußballs im Schatten von Diskriminierung und Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland, 1933–1938 ................................................................................................................. 63 Nils Havemann Fußball um jeden politischen Preis: Ideologie oder Ökonomie? – Über die Vereinbarkeit scheinbar gegensätzlicher Erklärungsansätze am Beispiel des „bürgerlichen“ Fußballsports im 20. Jahrhundert............................................. 83 Jürgen Court Die Versuchsanstalt der Deutschen Hochschule für Leibesübungen ...................... 101 Günther Bäumler H.O. Kluges physischer Eignungstest für die Feuerwehr (1860) ............................ 121 Autoren- und Herausgeberverzeichnis .................................................................... 155
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Vorwort ........................................................................................................................ 7  Ingomar Weiler Rezeptionsgeschichtliches (nicht nur) zum antiken Griechensport. Einige grundsätzliche Überlegungen zum interkulturellen Austausch sportlicher Phänomene .................................................................................................................. 9  Jan Schlürmann 200 Jahre Deutsche Turner- und Turnverbandssymbolik als Spiegel der politischen Geschichte deutscher Staaten und politischer Ideologien, 1813–2013 .. 41  Lorenz Peiffer & Henry Wahlig “Heute gilt es, allen jüdischen Sportlern, die heimatlos geworden sind, unsere Reihen zu öffnen”. Die Selbstorganisation des jüdischen Fußballs im Schatten von Diskriminierung und Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland, 1933–1938 ................................................................................................................. 63  Nils Havemann Fußball um jeden politischen Preis: Ideologie oder Ökonomie? – Über die Vereinbarkeit scheinbar gegensätzlicher Erklärungsansätze am Beispiel des „bürgerlichen“ Fußballsports im 20. Jahrhundert ............................................. 83  Jürgen Court Die Versuchsanstalt der Deutschen Hochschule für Leibesübungen ...................... 101  Günther Bäumler H.O. Kluges physischer Eignungstest für die Feuerwehr (1860) ............................ 121  Autoren- und Herausgeberverzeichnis .................................................................... 155  

200 Jahre Deutsche Turner- und Turnverbandssymbolik als Spiegel der politischen Geschichte deutscher Staaten und politischer Ideologien, 1813–2013

Jan Schlürmann

1 Vorüberlegungen und Einleitung

Gertrud Pfister, die zu den wenigen Sportwissenschaftlern gehört, die sich intensiv mit der Symbolik des Sports und insbesondere mit der Symbolik der Turnerbewegung beschäftigt hat, leitet ihren Beitrag zu Hagen Schulzes und Etienne François‘ mehrbändigem Werk über deutsche Erinnerungsorte mit der Feststellung ein, dass die Turnbewegung insgesamt eine „besondere symbolische Form“ des deutschen Nationalismus sei.1 Ihre daran anschlie-ßenden Ausführungen über die Symbole der deutschen Turner ordnen sich in diesen Grundgedanken ein: Sie alle – Farben, Turnerkreuz, das „Gut Heil!“ und das „Frisch, fromm, fröhlich, frei!“ – sind konstituierende Symbole des deutschen Erinnerungsortes „Turnerbewegung“, der selbst wiederum für sich ein eingängiges Symbol der deutschen Geschichte darstellt.2

Diese Interpretation des Turnens als eine „besondere symbolische Form“ des deutschen Nationalismus ist bestechend einfach und klingt auf den ersten 1 Gertrud Pfister: „Frisch, fromm, fröhlich, frei“, in: Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 2, hrsg. von Etienne François u. Hagen Schulze, München: 2009, S. 202-219. – Eine gute Darstellung der Turnersymbolik findet sich bei Lothar Wieser: Sinnbilder und Farben der deutschen Turnbewegung im 19. Jahrhundert. Symbole: bildhafter Ausdruck gemeinschaftlicher Ideale, in: Cornelia Kessler, Hans-Joachim Bartmuß (Red.): Friedrich Ludwig Jahn und die Gesell-schaften der Turner – Wirkungsfelder, Verflechtungen, Gruppenpolitik. Beiträge des Jahn-symposiums vom 03. bis 05. Oktober 2003 in der Friedrich-Ludwig-Jahn-Ehrenhalle in Frey-burg a. d. Unstrut. Halle 2004, S. 145-157 sowie in kürzerer Form bei Harald Braun: Die Turnbewegung und ihre Symbole, in: Jahn-Report, Sonderausgabe Januar 2011, S. 16-21, Mi-chael Krüger: Fahnen und Farben, in: Sport as Symbol, Symbols in Sport. Proceedings of the 3rd ISHPES Congress in Cape Town 1995, hrsg. von Floris van der Merwe, Sankt Augustin: 1996, S. 283-291, Lothar Wieser: Formenschatz und Farbenspiel, in: Illustrierte Geschichte der Deutschen Turnerjugend, hrsg. von L. Pfeiffer, Essen: 1992, S. 206-209 und Peter Hüt-tenberger: Symbole, Embleme, Bezeichnungen, in: Die Gründerjahre des Deutschen Sport-bundes. Bd. 1, Deutscher Sportbund (Hrsg.), Schorndorf: 1990, S. 277–280.

42 Jan Schlürmann Blick überzeugend. Zutreffend ist sie bei genauerer Betrachtung des eigent-lichen Gegenstandes von Gertrud Pfisters Ausführungen, nämlich der Sym-bolwelt des deutschen Turnens, nicht in jeder Hinsicht.

Grafik 1: Vereinfachte Stammtafel deutscher Turnerdachverbände ca. 1848–2013.

Diese hatte keine geschlossene Symbolwelt, weil sie eben nicht geschlossen war. Sie war vielfältigen politischen Strömungen verpflichtet, die sich in der

200 Jahre Deutsche Turner- und Turnverbandssymbolik 43 institutionellen Aufspaltung ihrer Dachverbände widerspiegeln (s. Grafik 1: Vereinfachte Stammtafel deutscher Turnerdachverbände ca. 1848–2013). Die vermeintlich Einheit der Turner, wie sie sich wiederkehrend seit 1848 im frühen Deutschen Turnerbund und schließlich seit 1990 im Deutschen Turnverband darstellt, war über lange Strecken der deutschen Turngeschich-te die Ausnahme, nicht die Regel. Schon der erste Bund bestätigte mit der Abspaltung der radikalrepublikanischen Turner noch im Jahr seiner Grün-dung die Erkenntnis, dass die besondere Verquickung von Leibesübungen und Politik nicht dazu geeignet war, Einheit herzustellen. Auch der Blick auf die österreichische Turnerlandschaft bestätigt diese Erkenntnis und wird im Laufe dieses Beitrages noch Ergebnisse beisteuern, die bisher – Gertrud Pfis-ter etwa ließ in ihren Arbeiten den deutschösterreichischen Raum aus – nicht im Zusammenhang mit der Betrachtung „deutscher Turnersymbolik“ be-rücksichtig wurde.

Die Symbolwelt der deutschen Turnbewegung war nicht geschlossen, aber sie griff in zweihundert Jahren doch auf eine überschaubare Anzahl von Symbolen zurück, die sich entweder allgemein bei allen politischen Strömungen als Turnersymbol durchsetzten oder aber Randerscheinungen blieben, oder ganz in Vergessenheit gerieten.

Zum einen gibt es die Symbole, die bei den Turnfesten verwendet wurden. Auch das Turnfest an sich muss man als wichtiges Symbol der Turn-bewegung begreifen.3 Seine zumeist integrierende Funktion führte dazu, dass im Rahmen dieser Feste weniger Verbands- und Vereinssymbolik ver-wendet wurde, als vielmehr nach Zeichen gesucht wurde, die alle oder zumindest die allermeisten Turner teilten. Die wichtigsten Quellen für diesen Bereich sind Plakate, für das 19. Jahrhundert aber auch die zahlreichen Grußkarten, die die Teilnehmer verschickten. Die Bandbreite der hier gezeigten Symbolik ist nicht allein der gelegentlichen Unsicherheit oder Un-kenntnis der Postkartengrafiker geschuldet, sondern das Ergebnis einer bis 1933 insgesamt unentschiedenen Frage, welche politischen Farben und Far-bkombinationen denn nun „turnerisch“ waren. Über Statuten geregelte Sym-bolik – also angeordnete Symbolik – findet sich bei den Dachverbänden der deutschen Turner. Sie machen die stete Erweiterung der politischen Band- 3 Vgl. dazu Herbert Neumann: Deutsche Turnfeste. Spiegelbild der Deutschen Turnbewe-gung, Bad Homburg: 1985 sowie Dieter Düding: Organisierter gesellschaftlicher Nationalis-mus in Deutschland (1808-1847). Bedeutung und Funktionen der Turner- und Sängervereine für die deutsche Nationalbewegung, München: 1984.

44 Jan Schlürmann breite der Turnerbewegung, wie sie seit 1848 erkennbar wird, gut nachvoll-ziehbar. Als Grundlage der nachfolgenden Darstellung empfiehlt sich eine vereinfachte schematische Darstellung der Entwicklung deutscher Turn-dachverbände (s. Grafik 1).

2 Die Symbolik der deutschen Turnerbewegung von den Anfängen bis 1871

Mit Jahn fing auch bei der Turnersymbolik alles an – und diese „Ursymbo-lik“ der „Urturner“ war bescheiden. Jahn legte zunächst keinen Wert auf Elemente einer klassischen politischen Symbolik, also auf farbige Fahnen, Kokarden oder Wappen. Das hätte durchaus nahe gelegen, denn unter den bereits seit dem 18. Jahrhundert bestehenden studentischen Verbindungen, den Orden und Landsmannschaften, gab es diese Symbolik bereits. Es waren allerdings im Verborgenen benutzte Zeichen. Jahn aber wollte die Öffent-lichkeit, er wollte die Massen- und Volksbewegung, und dass zu einer Zeit, in der Berlin samt der Hasenheide noch zum französischen Machtbereich gehörte. Hier verboten sich eindeutige Zeichen. Jahns Turnersymbolik war deshalb subtiler und entsprach seinen Vorstellungen von einem einheitlichen Auftreten „der Deutschen“ in einem zu schaffenden deutschen Einheitsreich. Die Turnerkluft aus grauem Leinen und „deutsche“ Bäume wie Buchen oder Eichen, die auf den Turnplätzen gepflanzt wurden oder besser noch dort bereits seit Jahrhunderten wuchsen waren die ersten Wahrzeichen der frühen Turner.4

Bald nach 1813 gesellten sich die schwarz-rot-goldenen „deutschen“ Farben hinzu. Sie sollten ein Dauerbrenner der deutschen und deutschöster-reichischen Turnersymbolik werden. Diese „deutschen Farben“ umgab damals der Mythos, die wiederbelebten alten deutschen Reichsfarben aus dem Mittelalter zu sein. Tatsächlich bestand eine enge Verbindung zwischen den Farben der schwarzen, rot und golden verzierten Uniformen der Lüt-zower, die Jahn selbst als Leutnant – wenig erfolgreich – mitkommandierte und den ersten Farben der Jenaer Urburschenschaft.5 Man kann deshalb die 4 Vgl. Friedrich Ludwig Jahn/Ernst Eiselen: Die Deutsche Turnkunst zur Einrichtung der Turnplätze […], Berlin: 1816, S. 226: „Die Turntracht muß eine Gleichtracht von gleichem Stoff und gleichem Schnitt sein.“ sowie S. 229: „In der Mitte [= des Turnplatzes, J. S.] muß eine erhabene Dingstatt sein, und ein Dingbaum (…).“ 5 Zur Geschichte der schwarz-rot-goldenen deutschen Fahne ist viel geschrieben worden.

200 Jahre Deutsche Turner- und Turnverbandssymbolik 45 deutschen Farben eher als politische Parteifarben interpretieren, die Studen-ten und Turner als intellektuelle Speerspitze für einen deutschen Ein-heitsstaat in den Jahren zwischen 1813 und 1816 ins Leben riefen.

Die Farben waren jedenfalls keine Anspielungen auf das mittelalterliche Reichspanier, den schwarzen, rot bewehrten Adler auf goldenem Grund. Jahn, der in seiner Schwanenrede von 1848 behauptet, er habe maßgeblich diese Farben nach den Befreiungskriegen den Jenaer Urburschen ans Herz gelegt und damit den alten deutschen Farben zu neuem Ansehen verholfen, ging gleich mehrfach fehl.6 Erstens ist sein symbolkundlicher Expertenrat allein durch ihn und damit höchst zweifelhaft überliefert, und zweitens ist er falsch. Ein mittelalterliches Reichspanier gab es nicht, sondern nur die sogenannte Reichssturmfahne, die ein weißes Kreuz auf rotem Grund zeigte. Schwarz, Rot und Gold waren also ganz neue, keine alten deutschen Farben, aber sie hatten sich spätestens 1819 in der Burschenschaft und ebenso unter den Turner etabliert. Die Anordnung stand dabei zunächst nicht fest.7 Erst-mals ist sie uns aus dem Lied von August von Binzer („Wir hatten gebauet ein stattliches Haus“) von 1819 überliefert: „Das Band ist zerschnitten, war schwarz, rot und gold“, heißt es darin.

Neuere lesenswerte Beiträge sind Harald Lönnecker: Rebellen, Rabauken, Romantiker. Schwarz-Rot-Gold und die deutschen Burschenschaften, in: Flagge zeigen? Die Deutschen und ihre Nationalsymbole, hrsg. vom Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bielefeld, Leipzig: 2008, S. 27-33 sowie Jörg Hormann/Dominik Plaschke: Deutsche Flag-gen. Geschichte, Tradition, Verwendung, Hamburg: 2006, Falk Grünebaum: Deutsche Far-ben. Die Entwicklung von Schwarz-Rot-Gold unter besonderer Berücksichtigung der Bur-schenschaft, Essen: 2005, Phil. Diss. und Peter Kaupp: Von den Farben der Jenaischen Urburschenschaft zu den deutschen Farben, in: Einst und Jetzt, Jahrbuch 1989 des Vereins für corpsstudentische Geschichtsforschung, S. 77-106. 6 Zur Thematik vgl. insbesondere Peter Kaupp: Mehr Vermutungen als gesicherte Erkenntnis-se: „Turnvater“ Jahn und die deutschen Farben, in: Jahn-Report 28 (Mai 2009), S. 14-22. – Kaupp analysiert auch eingehend die Rolle der Jenaer Burschenschaft, der Lützower Jäger und der Turner bei der Entstehung der deutschen Farben. Zur „Schwandenrede“ vgl. Friedrich Ludwig Jahns Werke, hrsg. von Carl Euler, Bd. 2, 2. Hälfte, Hof: 1887, S. 1056. 7 Bis heute führt z. B. die Jenaer Urburschenschaft die Farben in der zur deutschen National-flagge umgekehrten Reihenfolge.

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Tafel 1: Abwandlungen des Turnerkreuzes von Felsing.

Die deutschen Farben wurden – ebenso wie Turner und Burschenschaften – in der Folgezeit der Restaurationspolitik verboten.8 An ihre Stelle trat in den 8 Aus Hamburg allerdings, das sich auch nach 1819 weitaus liberaler geben konnte als die

200 Jahre Deutsche Turner- und Turnverbandssymbolik 47 1840er Jahren als neues und erfolgreiches Symbol das Turnerkreuz (Tafel 1, Abb. 1). Jahn hatte die berühmten vier „Fs“ aus einem mittelalterlichen Studentenreim entnommen und bereits zu frühen Hasenheidener Zeiten und in seinen Schriften immer wieder benutzt.9 Der Kupferdrucker Johann Hein-rich Felsing legte einen Entwurf des Kreuzes 1846 im Rahmen des Heil-bronner Turnfestes vor: „Den Spruch in seinen vier Anfangsbuchstaben habe ich zusammengestellt 4 F. Ich habe sie zum Zeichen vereint, (…) sie bilden – wie die Turnerschaft – gleiche Kraft, gleiche Form und Stärke nach allen Seiten. Es ist das Viereck überall gleich stark, fest in den vier Ecken stehend. (…) Vergeßt nur nicht, dass es auch das Christenzeichen ist.“10

Letzteres wurde nicht vergessen, sondern aufmerksam zur Kenntnis ge-nommen: Der Mannheimer Turner-Delegierten Dr. Elias Eller, einem Mann jüdischen Glaubens, protestierte gegen die Verwendung eines religiösen Symbols. Diesen Bedenken wurden aber beiseite geschoben und es begann langsam eine verhängnisvolle Entwicklung. Die Kreuzform setzte sich durch und schloss damit Nicht-Christen, also vor allem Juden, zunächst symbol-isch, bald auch ganz real aus der nationalen deutschen Turnerbewegung aus.

Mit Schwarz-Rot-Gold und Turnerkreuz erschöpfte sich das Symbol-Arsenal der frühen Turnbewegungen nicht. Zumindest zeitweilig waren auch Eule, Schwert und Fackel als Zeichen der Kampfbereitschaft und des auf-klärerischen Gedankens in Gebrauch. Sie tauchen auf einigen Fahne-nentwürfen von 1847/48 auf, auf die Lothar Wieser in seinem Aufsatz über Turnsymbolik verweist.11 Beide Fahnen sind schwarz-rot-goldene Trikoloren mit der gekreuzten Fackel- und Schwertsymbolik im Zentrum; einer der meisten anderen deutschen Staaten, ist für 1840 die wohl älteste erhaltene Turnerfahne be-kannt: ein waagerecht schwarz-rot-schwarzes Tuch mit goldenem Eichenkranz im roten Strei-fen, darin in goldenen Buchstaben „F.F.F.F.“ (Abb. bei Wieser, Sinnbilder, S. 149); sie war damit explizit den Farben der Burschenschaft nachempfunden (ebd.). 9 Vgl. hierzu u. im Folgenden Ernst Erich Metzner: „Frisch - Fromm - Fröhlich - Frei“. Zur Entstehung und zum Verständnis des deutschen Turnerwahlspruchs und Turnerwahrzeichens, in: Deutsches Turnen (1990), H. 3, S. 26-29 sowie Ders.: „Frisch, frei, fröhlich, fromm“ als artifizielles Frühzeit-Zitat in der Vorstellung F. L. Jahns. Zur Sprache, Gestalt und Geschichte des ursprünglichen Turnerwahlspruchs seit dem Mittelalter, in: Cornelia Kessler, Hans-Joachim Bartmuß (Red.): Friedrich Ludwig Jahn und die Gesellschaften der Turner – Wir-kungsfelder, Verflechtungen, Gruppenpolitik. Beiträge des Jahnsymposiums von 03. bis 05. Oktober 2003 in der Friedrich-Ludwig-Jahn-Ehrenhalle in Freyburg a. d. Unstrut. Halle 2004, S. 158-170. 10 Zit. nach Wilhelm Krampe: Heinrich Felsing, in: DTZ 31 (1886), S.21. 11 Wieser, Sinnbilder, S. 147 u. 153. – Vgl. auch Tafel 1, Abb. 4.

48 Jan Schlürmann Entwürfe aus der Hand des Revolutionärs Gustav Struve war als „Bundes-fahne“ einer zu gründenden Allgemeinen Deutschen Turnerschaft gedacht und verzichtete wohl bewusst auf das christlich inspirierte Felsing-Kreuz – Struve war ein Freund des oben erwähnten Elias Eller – nicht aber auf die Devise „frisch, fröhlich, frei“.12

Dem Verbot der deutschen Farben über weite Strecken der Zwanziger und Dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts hinweg verdanken die Turnerfarben Rot und Weiß ihre Geburt. 1835 hob sie – soweit wir wissen – der säch-sische „Turnvater“ Otto Heubner aus der Taufe. Der Ursprung dieser Farben, die mit der jüngsten Logo-Reform des Deutschen Turner-Bundes noch ein-mal als verbindliches Turnerzeichen festgelegt wurden, ist unklar. Man hat über ihren regionalen Charakter spekuliert, wobei Rot-Weiß eigentlich hes-sische oder thüringische, nicht aber sächsische Farben sind.13 Carl Philipp Euler nannte die Wahl „einen Akt der Klugheit“, weil die der Obrigkeit verdächtigen deutschen Farben vermieden wurden.14 Waren die Turner-farben also ein Zufallsprodukt? Gertrud Pfister folgt der Erklärung Heubers, nach der das Rot für „frisch und fröhlich“ – für die Freude – und Weiß für „frei und fromm“ – die Unschuld stünden. Rot und Weiß aber waren auch die alten Reichsfarben der Reichssturmfahne, präsent in vielen Wappen ehemaliger Reichsstädte wie Hamburg, Lübeck, Bremen, Danzig und Frank-furt am Main.

1848/49 setzte sich im Zuge der Revolution und auch der militärischen Be-teiligung von Turnern an Feldzügen in Baden und Schleswig-Holstein Schwarz-Rot-Gold wieder durch, vor allem als Feldzeichen der militärischen Turnerkorps.15 Gerade weil sie hier in direktem Zusammenhang zu repub-likanischen und demokratischen Ideen standen, wurden die Farben nach 1849 fast überall im Reich verboten. Erst langsam, in den späten 1850er Jah-ren, lockerten einzelne deutsche Bundesstaaten das Verbot. Beim berühmten 12 Wieser, Sinnbilder, S. 147. 13 Ein von 1843 überliefertes und als „Darmstädter“ Fahne bezeichnetes Tuch zeigt das gol-dene Felsing-Kreuz auf einem weiß-roten Tuch und wird von Wieser (Turnersymbolik, S. 147) insgesamt als Entwurf Felsings zugeschrieben. Die Farben wären somit die Hessen-Darmstädter Farben; diese Herkunft widerspricht indes der bereits 1835 Otto Heubner zuge-schriebenen Urheberschaft der Farben. 14 Carl Euler: Encyclopädisches Handbuch des gesamten Turnwesens, Bd.1, Wien und Leipzig: 1894, S. 296. 15 Jan Schlürmann: Die Schleswig-Holsteinische Armee 1848-1851, Tönning: 2004, S. 474-478.

200 Jahre Deutsche Turner- und Turnverbandssymbolik 49 Turnerfest 1860 in Coburg waren die deutschen Farben vereinzelt wieder zu sehen, 1863 in Leipzig ist sogar von einem „Fahnenmeer aus Schwarz-Rot-Gold“ die Rede.16 Damit waren die Farben neben dem Turnerkreuz von Fel-sing zu den Turnersymbolen schlechthin geworden – auch und insbesondere in Österreich. Die Farben hätten nun weiterhin und ungetrübt die Turnerbewegung repräsentieren können. Sie taten es aber bald nicht mehr und zwar wesentlich deshalb, weil es im Zuge der Politisierung und der parteipolitischen Polarisierung der deutschen Gesellschaft bald eine einheit-liche Turnerbewegung nicht mehr gab.

3 Die Symbolik deutscher Turnbewegungen von 1871 bis 1936

3.1 Die Entwicklung der bürgerlichen Turnersymbolik im Deutschen Reich seit 1871

Diese Bruchlinien, die sich bald auch in der Symbolik ausdrückten, waren mit unterschiedlicher Ausprägung nach 1871 im Deutschen Reich und in der Habsburger Monarchie die gleichen. Das liberale Lager, der ursprüngliche Kern der deutschen Turnerbewegung, zerfiel zwischen Nationalliberalen, die sich mit der preußisch-deutschen Monarchie arrangierten, und den Linkslibe-ralen alter Prägung. In Österreich-Ungarn gab es kaum einen Turner, der ei-ne österreichisch-habsburgische Gesinnung entwickelte. Österreichs Turner blieben selbst im sich bildenden Arbeiterlager gesamtdeutsch orientiert.

Stärker als im Deutschen Reich traten hier die völkisch-alldeutschen Turner hervor, die sich in mehreren Schritten erst vom nationalbürgerlichen und dann vom christlichen Turnen abspalteten (s. Grafik). Die völkischen Turner betrieben bereits seit den 1890er Jahren den Ausschluss sogenannter „nicht-arischer“ Mitglieder und bildeten später mit dem Aufkommen des Na-tionalsozialismus in Deutschland und Österreich eine wichtige ideologische Keimzelle des NS-Sports – übrigens maßgeblich auch mit dem völkischen Turnverband der Sudetendeutschen in der 1918 gegründeten Tschecho-slowakei.

16 Wieser, Sinnbilder, S. 150. – Zum Turnfest in Coburg vgl. Josef Ulfkotte. „Nicht bloß, daß wir mit Fahnen herumziehen…“: Vor 150 Jahren feierten Turner aus ganz Deutschland „Das erste deutsche Turn- und Jugendfest zu Coburg“, in: Jahn-Report 30 (Mai 2010), S. 6-12.

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Die Arbeiterturn- und Sportvereine bildeten Ende des 19. Jahrhunderts sehr mitgliedsstarke Verbänden und waren eine Ausprägung der Turn-bewegung, die sich im Stile der Zeit durchaus auch als patriotisch empfanden. Als „besondere symbolische Form“ des deutschen National-ismus aber kann man sie aber kaum bezeichnen. Hier standen diese Vereine schon wegen der häufigen Verwendung roter Fahnen in der Tradition des In-ternationalismus der Arbeiterschaft. Dennoch blieb auch ihr Fundus an Symbolen, wie noch gezeigt wird, durchaus auf Abwandlungen älterer deutscher Turnersymbolik angewiesen. Die deutsche Turnbewegung war damit spätestens um 1880 deutlich in politische Lager zerfallen; dass diese jeweils eigene Symbole schufen oder zumindest aus dem Bestehenden Sym-bole auswählten, übernahmen, veränderten oder verwarfen, liegt auf der Hand.

Die älteste Turnsymboltradition der liberalen bürgerlichen Mitte der deutschen Turner sah sich im Zweiten Kaiserreich vor eine grundsätzliche Frage gestellt. Diese Hauptrichtung des deutschen Turnens hatte das „urtur-nerische“ Schwarz-Rot-Gold über die preußisch-deutsche, also die „schwarz-weiß-rote Reichsgründung“ von 1871 hinweg gerettet. Aber je gefestigter dieses Reich wurde, das ja immerhin die turnerische Ur-Forderung nach nationaler Einheit weitgehend verwirklicht hatte, desto schwieriger war der Stand von schwarz-rot-goldenen Turnersymbolen.17 Bismarck, der Übervater der Reichsgründung, hatte wegen seiner persönli-chen Erlebnisse während der Revolution von 1848 bei allem Desinteresse an Nationalsymbolik doch Schwarz-Rot-Gold stets als neues Symbol des Reiches von 1871 abgelehnt. „Sonst ist mir das Farbenspiel einerlei. Meinetwegen grün und gelb und Tanzvergnügen, oder auch die Fahne von Mecklenburg-Strelitz“ – nur nicht, so Bismarck, die mit Republik und Dem-okratie in Verbindung gebrachten Farben von 1848.

17 Wieser erwähnt bereits für 1861 einen Streit innerhalb des Breslauer Turnvereins, der sich an den zu führenden Vereinsfarben entzündet: Eine Mehrheit wollte die Abkehr von Schwarz-Rot-Gold zum „Turnerischen“ – und unpolitischeren Rot-Weiß. Im Ergebnis spaltete sich der Verein (Wieser, Sinnbilder, S. 150-151).

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Tafel 2: Symbolik der Deutschen Turnerschaft 1871–1933 im Spiegel der Turnfeste.

Der Übergang von Schwarz-Rot-Gold zu Schwarz-Weiß-Rot vollzog sich in etwa bis 1891 (vgl. Tafel 2, Abb. 1), wie Hans-Georg John in seiner Ar-

52 Jan Schlürmann beit über die Deutsche Turnerschaft als nationale Bewegung nachgewiesen hat. Eine Umfrage der Deutschen Turnerzeitung ergab zu diesem Zeitpunkt, dass von 6.501 Vereinen weniger als 100 noch die alten schwarz-rot-goldenen Farben führten.18 Dabei blieb zudem unberücksichtigt, dass viele Vereine, die erst nach 1871 gegründet worden waren, ohnehin von Beginn an zur schwarz-weiß-roten Symbolik griffen. Da auch die studentischen Verbindungen, namentlich die Burschenschaft, sowie zahlreiche Kriegerver-eine in der Zeit des Zweiten Kaiserreiches vielfältige Vereinsfahnen mit schwarz-weiß-roter und kaiserlich-hohenzollernscher Symbolik verwende-ten, verwundert das nicht. In der liberalen Turnbewegung hatten sich analog zum Richtungsstreit der liberalen Führung die Nationalliberalen durchge-setzt. Sinnbild dafür, dass die „Deutsche Turnerschaft“ im wilhelminischen Kaiserreich auch symbolisch angekommen war, war das zum 5. Deutschen Turnfest in Frankfurt am Main gestiftete Bundesbanner der Deutschen Turnerschaft.19 Es zeigte auf der Vorderseite das vollständige Reichswap-pen, also Kaiseradler mit aufgelegtem preußischem Adler und Hohenzollern-schild, auf der Rückseite Fackel, Schwert und ein Kreuz, auf dem die vier „F“ abgebildet wurden.20 Die Farbgebung des mit seinen drei „Schwänzen“, Fransen und Troddeln an ein Kirchenbanner erinnernden Symbols zeigte zwar neben Rot, Weiß und Schwarz – den neuen Reichsfarben – auch Gold; die dominante und wohl auch beabsichtigte Analogie bestand aber eindeutig zu den preußisch-deutschen Nationalfarben von 1871. Immerhin blieb auf den Turnfesten ein buntes, non-konformes Element bestehen. Die zahlrei-chen Grußkarten der Turnfeste zwischen 1890 und 1914 zeigen immer wie-der auch die Turnerfarben rot-weiß, dazu das Turnerkreuz, „Turnvater“ Jahns Abbild sowie gelegentlich regionale, dynastische Farben, also z. B. das bayerische Blau-Weiß. Nur wenige Abbildungen zeigen die weiß-rote oder schwarz-weiß-rote Fahne mit einer kleinen schwarz-rot-goldenen Schleife an der Spitze.

18 Hans-Georg John: Politik und Turnen. Die Deutsche Turnerschaft als nationale Bewegung im deutschen Kaiserreich, Ahrensburg: Czwalina 1976. 19 Ingo Peschel: Das Banner der Deutschen Turnerschaft, in: Jahn-Report 28 (Mai 2009), S. 8-12 sowie Wieser, Turnersymbolik, S. 151. 20 Dies geschah nicht nach Art des Felsingkreuzes, sondern nach Art der aus Österreich Jahr-zehnte später aufkommenden „Hakenkreuz“-ähnlichen Variante; hierin eine völkische Um-formung bereits für 1880 zu sehen, ist eher abwegig.

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Die „Weimarer Republik“ war der Ort des wohl bekanntesten Flag-genstreits unserer Geschichte. Die daraus resultierenden Flaggenkompromis-se, die letztlich das demokratische Schwarz-Rot-Gold nur neben dem alten monarchistischen Schwarz-Weiß-Rot gelten ließen, zeigen, wie sehr das Zweite Kaiserreich das einstige Symbol deutschen Einheitsstrebens von 1848 und damit auch eines der ältesten Turnersymbole diskreditiert hat.

Die deutschen Turner der bürgerlichen Mitte und natürlich die Rechten vermieden deshalb die neuen schwarz-rot-goldenen Nationalfarben und zeig-ten weiterhin ihre alten Farben aus der Zeit von vor 1918. Die Deutsche Turnerschaft als wichtigster Verband der bürgerlichen Turner ging um 1920 noch einen Schritt weiter, indem sie das alte Felsingkreuz durch ein neues Verbandssignet ersetzte. Die schlichten Frakturbuchstaben „DT“ wurden teils noch in Rot auf Weiß an alte Turnerfarben erinnernd gezeigt, oft aber auch Gold auf Rot (Tafel 2, Abb. 2). Auch das Felsingsche Turnerkreuz war weiterhin in Gebrauch, hatte aber den Rang eines offiziellen Signets eingebüßt.

3.2 Die Entwicklung der Turnersymbolik in (Deutsch-)Österreich 1868–1938

In Österreich war die Entwicklung der Turnersymbolik vor 1918 und danach anders und wären nicht aus den eben erwähnten 6.501 von der Turnerzeitung 1891 befragten Vereinen die österreichischen ausgenommen gewesen, hätte die Zeitung ein anderes Bild erhalten.21 Die völkischen und christlichen Turnverbände und ihre Vereine zeigten allesamt Schwarz-Rot-Gold. Im Vielvölkerstaat und in der anschließenden österreichischen Republik standen die Turner stets an der Spitze der gesamtdeutschen Bewegung, deren Sym-bole die Kornblume22 und die schwarz-rot-goldenen Farben waren. Mit 21 Zur Geschichte und Symbolik des österreichischen Turnens und seiner organisatorischen Entwicklung auf Verbandsebene vgl. Ingolf Wöll: Nur wenn man die Vergangenheit kennt, kann man das Heute verstehen. Turnen und Sport: Zurück für die Zukunft, in: Sportunion Niederösterreich (http://sportunion.at/club/3535/doc/Union_Turn_und_Sportgeschichte.pdf sowie Hajo Bernett: Turnerkreuz und Hakenkreuz - Zur Geschichte politischer Symbolik, in: Spectrum der Sportwissenschaften 4 (1992), H.1, S. 14-36, R. Krammer: Die Turn- und Sportbewegung, in: Erika Weinzierl, Kurt Skalnik (Hrsg.): Österreich 1918-1938. Geschichte der Ersten Republik, Graz/Wien: 1983, S. 731–743 22 Die Kornblume galt als Sinnbild der während der Befreiungskriege gegen Napoleon ste-henden preußischen Königin Louise; in der Folge wurde die Kornblume zur inoffiziellen

54 Jan Schlürmann der Revolution von 1848 oder gar demokratischen Bestrebungen wurden die Farben in Österreich nicht in Verbindung gebracht. Das führte dazu, dass die frühe NS-Bewegung in Österreich und im Sudetenland gelegentlich mit schwarz-rot-goldenen Fahnen warb, die ihre reichsdeutschen Gesinnungsge-nossen zur gleichen Zeit als „Schwarz-Rot-Senf“ abqualifizierten.

Die Christliche Deutsche Turnerschaft Österreichs, die z. T. dem Austro-faschismus gegenüber aufgeschlossen war, veränderte die Form des Felsing-kreuzes derart, dass es vom sogenannten „Kruckenkreuz“ der Austro-faschisten kaum zu unterscheiden war (Tafel 1, Abb. 6 u. 7). Hier war also bereits bestehende Parteisymbolik das Vorbild für die Turner. Die völk-ischen Vereine hingegen waren maßgeblich an der Schöpfung des „Turner-hakenkreuzes“ (Tafel 1, Abb. 5) beteiligt, indem die vier F des Felsing-kreuzes in abgerundeter und jeweils nach rechts gewendeter Form ein Ha-Hakenkreuz ergaben. Dieses Symbol wurde das Erkennungszeichen des „Deutschen [d. h. österreichisch-völkischen] Turnbundes 1919“ und von vielen Turnvereinen insbesondere im an die Tschechoslowakei abgetretenen Sudetenland übernommen.23

preußischen Nationalblume. Die österreichischen Gesamtdeutschen verbanden also ihren Wunsch nach einem Gesamtreich explizit mit dem Anschluss an preußische Herrschaftstradi-tionen, eine aus konfessioneller Sicht höchst überraschende Position. 23 Vgl. zur Thematik des deutschen Turnverbandes in der Tschechoslowakei Andreas Luh: Der Deutsche Turnverband in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Vom völkischen Vereinsbetrieb zur volkspolitischen Bewegung (= Veröffentlichungen des Collegium Caroli-num, Bd. 62), München: 1988.

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Grafik 2: Vereinfachte Stammtafel deutschösterreichischer Turnerdachverbände 1868–1938.

Um eine Vorstellung für die zahlenmäßigen Dimensionen dieser politischen Turnerspaltung zu erhalten, können folgende Mitgliederzahlen dienen: Der konservativ-völkische Deutsche Turnerbund von 1919 zählte 1932 115.000 Mitglieder, die Arbeiter Turn- und Sportbewegung 1931 etwa 90.000 Mit-glieder und die Christliche Turn- und Sportbewegung um 1933/35 ungefähr

56 Jan Schlürmann 70.000 Mitglieder (s. Grafik 2: Vereinfachte Stammtafel deutschösterreichi-scher Turnerdachverbände 1868–1938).24

3.3 Die Symbolik der Symbolik des deutschen Arbeiterturnens25

Parallel zum Erstarken der Arbeiterbewegung setzten sich im deutschspra-chigen Raum also separate Arbeiterturn- und Sportvereine und mit ihnen entsprechende Dachverbände durch. Vorläufer waren bereits 1848 vor allem in Sachsen und im südwestdeutschen Raum aktiv gewesen, damals noch un-ter Schwarz-Rot-Gold. Bei den deutschen (und deutsch-österreichischen) Arbeiterturnern der 1890er Jahre aber waren dann einfarbig rote Fahnen nicht mehr wegzudenken, sie traten vielfach an die Stelle von Schwarz-Rot-Gold. Die Devise der bürgerlichen Turnvereine. Das Motto „Frisch, fromm, fröhlich, frei“ war ebenso wenig kompatibel mit dem neuen Selbstverständ-nis der Arbeiterbewegung wie der Gruß „Gut Heil!“. Man ersetzte das eine durch die Vierheit „frisch, frei, stark und treu“, das andere durch „Frei Heil!“. Aus den Initialen „FFST“ entstand ein Signet (Tafel 1, Abb. 3) das auf den ersten Blick von Felsingkreuz nicht zu unterscheiden war.26 Die be-vorzugten Farben, das goldene Signet auf rotem Untergrund, knüpften an sozialdemokratische und später sozialistische Farbkombinationen an.

4 Die Symbolik des deutschen Turnens in der NS-Zeit 1933/35–1945

Obwohl der Wehrsport – und zumindest mit Blick auf die Vereinnahmung von Jahns völkischen Ideen auch das Turnen – einen hohen Stellenwert bei

24 Zahlen nach Wöll, S. 10. 25 Vgl. zur Thematik insgesamt Gerhard Hauk: Kollektive Symbole, Mythen und Körperbil-der in Filmen und Festen der Arbeiterkultur- und –Sportbewegung, in: J. Teichler (Hrsg.): Arbeiterkultur und Arbeitersport, Clausthal-Zellerfeld: 1985. – Jochen Teichler/Gerhard Hauk: Illustrierte Geschichte des Arbeitersports, Berlin/Bonn: 1987. – Klaus Achilles: „Dem Volke gilt es, wenn wir zu spielen scheinen“ – Arbeitersport in Bremen. In: Harald Braun (Hrsg.): Illustrierte Geschichte von Turnen und Sport im Land Bremen. Ein gesellschaftskriti-scher Beitrag zur Kulturgeschichte. Bremen: 1999. – Eike Stiller: Literatur zur Geschichte des Arbeitersports in Deutschland von 1892 bis 2005, Berlin: 2006. 26 Dieses Signet verwendeten auch – aber wohl nicht ausschließlich – die ausgewanderten deutsche Turner in den USA, so z. B. nachgewiesen für das 30. (deutsche) Bundes(-Turn-)fest in Cincinnati im Jahre 1909 (Tafel 1, Abb. 4). – Vgl. auch Braun, Turnbewegung, S. 18.

200 Jahre Deutsche Turner- und Turnverbandssymbolik 57 den Nationalsozialisten genoss, vertrugen sich die individuellen Strukturen der deutschen Turnvereine überhaupt nicht mit dem totalen Kontrollan-spruch der NSDAP. Die Gleichschaltung machte ab 1933/34 vor den bürger-lichen Turnvereinen nicht halt, während die christlichen, sozialdemokrati-schen und kommunistischen Vereine aufgelöst wurden und ihre führenden Mitglieder in Haft genommen wurden. Bis 1936 die Deutsche Turnerschaft im NS-Reichsbund für Leibesübungen aufging, behielten die Vereine und die Deutsche Turnerschaft ihre nach 1918 in der Zeit der Weimarer Republik geführten Symbole. Darüber hinaus waren das Felsingkreuz und der Be-zugspunkt Jahn immer wieder Bestandteil von Reminiszenzen der National-sozialisten, die sich als traditionsbewusste Erneuerer gerierten (Tafel 2, Abb. 3):27 Das Alte sollte im Neuen aufgehen, so wie sich die monarchistischen Farben Schwarz-Weiß-Rot eben auch in der ab 1935 als alleinige National-flagge verordneten Hakenkreuzflagge wiederfanden. Die von Nationalsozia-listen eingeführte neue Symbolik für die deutschen Turner kann mit Recht als Bruch mit allen bis dahin bestehenden Traditionen bezeichnet werden. Wenngleich die bürgerlichen Turner im Kaiserreich gezeigt hatten, dass sie bereit dazu waren, sich neuer nationaler und hoheitlicher Symbolik anzupas-sen, und während der Weimarer Republik nicht wieder zu Schwarz-Rot-Gold zurückgekehrt waren, so war die Turnersymbolik doch bis zur NS-Zeit von individuellen und vielfältigen Formen geprägt gewesen. Das Turnen im Nationalsozialismus aber war nicht mehr als eine von vielen Sportarten, kei-ne politische Einzelpositionsbestimmung, sondern Bestandteil eines gewalti-gen Organisationsgebäudes, das Alternativen oder Sonderrollen nicht vor- 27 Als Bildbelege für diese Übergangszeit können angeführt werden: Eine Briefmarke zum „1. Gaufest der Nordmark“ des Reichsbundes für Leibesübungen in Lübeck 1933, das neben der Stadtsilhouette Lübecks eine Kombination aus rotem Turnerkreuz und aufgesetztem weißen Hakenkreuz zeigt, sowie ein Plakat zum 15. Deutschen Turnfest von 1933 in Stuttgart (Tafel 2, Abb. 3), das gleich fünf verschiedene Flaggen zeigt: die schwarz-gelben Stadtfarben von Stuttgart, das 1933 zur Nebennationalflagge wiederernannte Schwarz-Weiß-Rot, die Haken-kreuzflagge, einen weißen Wimpel mit rotem Turnerkreuz sowie eine weiße Fahne mit roten Frakturbuchstaben „DT“ (Deutsche Turnerschaft). – Am ausführlichsten setzte sich Karoline Wellner mit der Jahn-Rezeption (Der „Turnvater“ in Bewegung Die Rezeption Friedrich Ludwig Jahns zwischen 1933 und 1990, Dachau: 2008, Phil. Diss.); vgl. dazu auch Winfried Speitkamp: Friedrich Ludwig Jahn - Zu Rezeption und Verständnis nationaler Symbolik in der Erinnerungskultur, in: Cornelia Kessler, Hans-Joachim Bartmuß (Red.): Friedrich Ludwig Jahn und die Gesellschaften der Turner – Wirkungsfelder, Verflechtungen, Gruppenpolitik. Beiträge des Jahnsymposiums vom 03. bis 05. Oktober 2003 in der Friedrich-Ludwig-Jahn-Ehrenhalle in Freyburg a. d. Unstrut. Halle 2004, S. 129-144.

58 Jan Schlürmann sah: Das Turnen hatte sich unterzuordnen. Folgerichtig war die Symbolik des NS-Reichsbundes für Leibesübungen nichts anderes, als die wiederholte Variation der wenigen den Nationalsozialisten zur Verfügung stehenden Symbolelemente wie der roten Tuchfarbe mit weißen und goldenen Elemen-ten und dem schwarzen Hakenkreuz sowie dem Adlermotiv. Diesen Grunds-ätzen folgte auch die 1938 verliehene Standarte des NS-Reichsbundes für Leibesübungen.

5 Die Symbolik der Turn- und Sportverbände in der DDR 1948/49–1990

Die Anfänge des Turnens und vor allem die Anfänge einer geregelten Ver-bandsarbeit für Turner im sowjetisch besetzten Mitteldeutschland lassen sich mit dem 1948 gegründeten Deutschen Sportausschuss recht präzise bestim-men. Der Ausschuss ging 1957 schließlich im Deutschen Turn-Verband auf und wurde Teil des Deutschen Turn- und Sportverbandes, dem DDR-Sportdachverband.

200 Jahre Deutsche Turner- und Turnverbandssymbolik 59

Tafel 3: Symbolik DDR und Sportabzeichen.

Ähnlich wie im Nationalsozialismus erwies es sich, dass die Variationsfor-men sportlicher Symbolik im Lichte einer dominanten politischen Ideologie begrenzt waren. Rückgriffe auf die Vergangenheit – vom alten Schwarz-Rot-

60 Jan Schlürmann Gold einmal abgesehen – waren nicht möglich. Eine besondere sozialistische Heraldik und Flaggengestaltung nach sowjetischen Vorbildern entstand, die sich vor allem durch die Verwendung von Lettern auszeichnete (Tafel 3, Abb. 1 u. 2).

6 Die Symbolik der Turn- und Sportverbände in der Bun-desrepublik Deutschland 1947/49 bis heute

Beim Neuanfang der Verbandsarbeit im deutschen Westen durch den Deut-schen Arbeitsausschuss von 1947 und den Deutschen Turnerbund von 1950 stellte sich auch die Frage nach einem Anknüpfen an die Turnersymbolik äl-terer Zeit. Zunächst war man offiziellerseits verhalten und beschritt den Weg des geringsten Widerstandes:28 Die Buchstaben „DTB“ in den Turnerfarben rot auf weiß waren das erste verwendete Signet. Da bereits 1949 die schwarz-rot-goldenen Farben als offizielle Nationalflagge sowohl in West- als auch in Ostdeutschland festgelegt worden waren, fanden diese zwar im Rahmen von Turn- und Sportfesten Verwendung, konnten aber wegen ihres nun hoheitlichen Charakters nicht mehr als typische Turnerfarben dienen. Rasch setzte sich deshalb das Felsing-Turnerkreuz als spezifisches Zeichen der deutschen Turner wieder durch und war ab 1953 zusammen mit den rot-weißen Turnerfarben wieder in den Kanon der Turnersymbolik aufgenom-men (Tafel 1, Abb. 2).29 Inoffiziell war es bereits 1948 beim Frankfurter Turnfest gezeigt worden. Mit erstaunlicher Ausdauer hat sich damit das Tur-nerkreuz und mit ihm die bekannte Turnerdevise bis heute erhalten; in neu-em Gewand aber in den alten Farben ist sie bis heute das Kennzeichen des DTB geblieben.

Einer der wichtigsten Gründerväter des DTB von 1950, der Frankfurter Oberbürgermeister Walter Kolb, sah insbesondere in der Aussöhnung des bürgerlichen und des Arbeiterturnens eine neue Hauptaufgabe des Bundes, die er auch symbolisch ausdrückte: Nachdem er 1950 noch die alte Devise des „frisch, fromm, fröhlich, frei“ bevorzugt hatte, änderte er diese 1951 zu

28 Vgl. Peter Hüttenberger, Symbole, Embleme, Bezeichnungen, in: Deutscher Sport-Bund (Hrsg.): Die Gründerjahre des Deutschen Sportbundes, Bd. 1, Schorndorf: 1990, S. 277. 29 Allerdings zeigte das erste DTB-Banner von 1953 ein schlichtes rotes Tuch mit goldenen, schwarz abgesetzten Lettern („Deutscher / Turner- / Bund“) sowie einem goldenen Eichen-laub-Emblem; das Felsingkreuz und die Turnerfarben fehlten.

200 Jahre Deutsche Turner- und Turnverbandssymbolik 61 „frei und friedlich, fromm und froh“, um den Neuanfang des deutschen Turnens im Zeichen des Friedens stärker hervorzuheben.30

7 Fünf politische Systeme – ein Symbol: Das deutsche Sportabzeichen

Trotz der hier aufgezeigten Vielfalt verwendeter Symbolik ist zumindest ein Symbol in der Geschichte des deutschen Sports – allerdings nicht des „Tur-nens“ im engeren Sinne – zu finden, das fünf politische Systeme zwischen 1912 und der Gegenwart mit nur wenigen Änderungen im Detail überstan-den hat. Das deutsche Sportabzeichen, zusammengesetzt aus ineinander verschlungenen Buchstaben und umkränzt von Eichenlaub fand und findet sowohl im späten Kaiserreich, als auch in der Weimarer Republik, der NS-Zeit, in der DDR und in der Bundesrepublik Verwendung (Tafel 3, Abb. 5). Das Eichenlaub als eines der deutschen Symbole, dessen sich alle Ideologien und Herrschaftssysteme bedienten, garantierte dem Sportabzeichen eine be-achtliche Lebensdauer von mittlerweile 100 Jahren; zugleich setzt es an der eingangs erwähnten Jahnschen Symbol-„Urform“ des deutschen Turnens an: der „deutschen“ Eiche.

8 Schluss

Welchen Gewinn können nun die Sportwissenschaft und die Geschichtswis-senschaft aus der Beschäftigung mit der Symbolik deutscher Turnverbände und Vereine ziehen? Zunächst einmal dürfte klar geworden sein, dass die in-stitutionelle Entwicklung des Turnens im Spiegel der Symbolik die Höhen und Tiefen, die Wendepunkte und Einschnitte der deutschen Geschichte der letzten 200 Jahre nachvollziehen lässt. Dabei mag man einwenden, dass Symbolik zunächst etwas Oberflächliches ist. Sie ist aber als Gruppensym-bolik immer auch Ausdruck eines tieferen Konsenses oder kollektiver Identi-täten und Auseinandersetzungen um Symbole: Diese Auseinandersetzungen – das Turnerkreuz und seine politisch motivierten Ableitungen mögen hier als Beispiel dienen – haben meist tieferliegende Gründe, die wir mit Hilfe der Symbolforschung entschlüsseln können.

30 Braun, Turnbewegung, S. 18-19.

62 Jan Schlürmann

Die Arbeiten von Gudrun Pfister und Lothar Wieser zeigen, dass die Er-forschung insbesondere der Turnersymbolik abseits des Deutschen Turner-bundes und seiner bürgerlichen Vorläuferverbände bisher zu wenig auf die Vielfalt dieses Forschungsfeldes geblickt hat. Heute als „unliebsam“ emp-fundene Verästelungen der Turnerbewegung und vor allem die öster-reichische Entwicklung, die heute aus „deutscher“ Sicht oft als etwas Fremdes wahrgenommen wird, werden dabei ausgeblendet.31 Dass die deutsche Turnbewegung ein deutscher Erinnerungsort ist, ist zweifellos richtig. Allerdings wurde durch den eingangs problematisierten Beitrag von Gudrun Pfister nicht scharf genug gesagt, welche der deutschen Turn-bewegungen hier eigentlich als Erinnerungsort konstituierend für das deutsche Geschichtsbild war. Die historische Vielfalt wird also nicht hinrei-chend zur Kenntnis genommen, in deren Ergebnis sich der Erinnerungsort „Turnbewegung“ als ein Erinnerungsort mit bürgerlich-liberaler und auch konservativer Prägung erweist und damit nur eine unter vielen Turnerbewegungen repräsentiert. Anschaulicher aber als durch einen Streifzug durch die Geschichte der Turnersymbolik kann man diese Vielfalt der Turnbewegungen kaum erfassen. Mein Ansatz ist damit zugleich ein Plädoyer dafür, dass die immer noch stark textfixierten Historiker stärker das materielle Erbe und bildliches Quellenmaterial in ihre Forschung einbezieh-en müssen.

31 Hier wäre auch die Symbolik der jüdischen Turn- und Sportvereine und Verbände in Deutschland und Österreich zu nennen, die ebenfalls wenig erforscht worden ist. Mit Blick auf die Zukunft wäre eine Arbeit zur Symbolik von deutschen Sportvereinen reizvoll, die von Migranten gegründet wurden.

Autoren- und Herausgeberverzeichnis

Prof. em. Dr. Günther Bäumler Technische Universität München  Fakultät für Sport- und Gesundheitswissenschaft  Lehrstuhl für Sportpsychologie  Georg-Brauchle-Ring 60–62  80992 München Prof. Dr. Jürgen Court Universität Erfurt Fachgebiet Sport- und Bewegungswissenschaften Nordhäuser Str. 63 99089 Erfurt Dr. Nils Havemann Universität Stuttgart Historisches Institut Abteilung Neuere Geschichte Keplerstr. 17 70174 Stuttgart Jun.-Prof. Dr. Arno Müller Universität Leipzig Fachgebiet Sportphilosophie und Sportgeschichte Jahnallee 59 04109 Leipzig Prof. Dr. Lorenz Peiffer Leibniz Universität Hannover Institut für Sportwissenschaft Am Moritzwinkel 6 30167 Hannover Dr. Jan Schlürmann Schlieffenallee 2 24105 Kiel

O.Univ.-Prof. em. Dr. Dr. h. c. Ingomar Weiler Karl-Franzens-Universität Graz Institut für Alte Geschichte und Al-tertumskunde Goethestraße 28 A-8010 Graz


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