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Beeinflussung muskul�rer Gesichtsschmerzen durch Botulinumtoxin�A

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Originalien H. Seedorf 1 · R. Leuwer 2 · A. Bussopulos 3 · C. Fenske 1 · H.D. Jüde 1 1 Abteilung für zahnärztliche Prothetik, Klinik und Poliklinik für Zahn- Mund- und Kieferheilkunde der Univ.-Klinikums Hamburg-Eppendorf 2 Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, Univ.-Klinikum Hamburg-Eppendorf 3 Klinik und Poliklinik für Neurologie, Univ.-Klinikum Hamburg-Eppendorf Beeinflussung muskulärer Gesichtsschmerzen durch Botulinumtoxin A Schmerz 2005 · 19:18–25 DOI 10.1007/s00482-003-0296-9 Online publiziert: 21. Januar 2004 © Springer-Verlag 2004 Bedeutung muskulärer Gesichtsschmerzen Angesichts der hohen Prävalenz musku- loskelettaler Gesichtsschmerzen – den nach den Zahnschmerzen zweithäufigs- ten orofazialen Schmerzen überhaupt [5] – der häufig erheblichen Beeinträchtigung der Betroffenen und den daraus resultie- renden hohen gesellschaftlichen Kosten ist die Bedeutung dieser Schmerzen als hoch einzustufen (Übersicht bei [45]). In- nerhalb der muskuloskelettalen Gesichts- schmerzen wiederum nimmt die Gruppe der persistierenden, muskulär verursach- ten Schmerzen eine Sonderrolle ein, da für diese Gruppe einvernehmlich akzep- tierte Therapiestandards fehlen [38]. An- gesichts des oft hohen Leidensdrucks der unter diesen Schmerzen leidenden Pati- enten ist eine Behandlung jedoch unum- gänglich. Die Forderung nach einer „mul- timodalen“ Therapie dieser Patienten [30] ist zu begrüßen, der Therapiealltag ist auf- grund fehlender Standards allerdings oft eher durch Polypragmasie gekennzeich- net. Ziel dieser Untersuchung ist es daher zu prüfen, ob erste Literaturmitteilungen über die Wirksamkeit von Botox A bei muskulären Schmerzen auf den muskulä- ren Gesichtsschmerz übertragen werden können, bzw. ob erste Erfahrungen mit der Injektion von Botox A in schmerzhaf- te Gesichtsmuskeln die Durchführung randomisierter, doppelblinder, prospek- tiver, placebokontrollierter Studien recht- fertigen. Pathophysiologie muskulärer Gesichtsschmerzen Die Modellvorstellungen über die Patho- physiologie muskulärer Gesichtsschmer- zen waren in den letzten Jahren Gegen- stand kontroverser Betrachtungen. Seit den 60er Jahren werden muskuläre Ge- sichtsschmerzen als Funktionserkran- kung des Kauorgans angesehen, die auf einem veränderten Aktivitätszustand der Kaumuskulatur beruhen [8]. Nach diesen Vorstellungen führen Änderungen im sto- matognathen System wie z. B. veränder- te (insbesondere zu hohe) Zahnkontakte oder Änderungen der Lagebeziehung zwi- schen Ober- und Unterkiefer zunächst zu einer Herabsetzung der maximalen Mus- kelaktivität, um so störende bzw. trauma- tisierende Zahnkontakte zu vermeiden [25, 29]. Diese Minderung der muskulä- ren Maximalaktivität gehe dann erst mit einer Erhöhung der Ruheaktivität einher [9, 22, 24, 33], die in einem sekundären Stadium in eine parafunktionelle Hype- raktivität münde [7], deren phylogeneti- scher Sinn darin liege, die okklusale Stö- rung durch Knirschen zu beseitigen []. Bereits 942 stellten Travell et al. [43] die Hypothese auf, dass andauernde Hype- raktivität von Muskeln zu Schmerzen füh- re und dieser Schmerz umgekehrt wiede- rum die Hyperaktivität unterhalte. Die- se These schien insbesondere für die Kie- fermuskulatur schlüssig zu erklären, wie Muskelschmerzen sich im Sinne eines Circulus vitiosus gegenseitig verstärken und unterhalten und ist seit den späten 60er Jahren [9] als „Schmerz-Spasmus- Schmerz-Hypothese“ in der Literatur an- zutreffen [6, 37]. Dieser Hypothese wer- den zunehmend differenziertere Betrach- tungen kritisch entgegen gestellt. Zwar ist unbestritten, dass maximale Muskel- anspannung unter experimentellen Be- dingungen zu schmerzhaften Mikrotrau- mata in der Muskulatur führen kann [4], allerdings wird in Frage gestellt, ob jede starke Muskelanspannung zwangsläufig zu Schmerzen führt [23]. Insbesondere für submaxmimale Muskelkontraktio- nen, wie sie unter realen Bedingungen vorkommen, ist fraglich, ob auch hier ei- ne erhöhte Muskelaktivität über Mikro- traumata zu Schmerzen führt, die dann wiederum die Muskelkontraktion beein- flussen können [2]. Über einen solchen Zusammenhang bei starken experimen- tell verursachten Schmerzen z. B. nach Applikation von Senföl in trepanierten Molaren bei Ratten wurde zwar berich- tet [3], er entspricht der sprichwörtli- chen Beobachtung, dass Menschen in solchen Situation dazu neigen, „die Zäh- ne zusammenzubeißen“. Für moderate Muskelschmerzen konnte diese These jedoch nicht erhärtet werden [40], oder es wurde zwar eine kurze, jedoch keine lang anhaltende Erhöhung der Ruheak- 18 | Der Schmerz 1 · 2005
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Originalien

H. Seedorf1 · R. Leuwer2 · A. Bussopulos3 · C. Fenske1 · H.D. Jüde1

1 Abteilung für zahnärztliche Prothetik, Klinik und Poliklinik für Zahn- Mund- und Kieferheilkunde der Univ.-Klinikums Hamburg-Eppendorf 2 Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, Univ.-Klinikum Hamburg-Eppendorf 3 Klinik und Poliklinik für Neurologie, Univ.-Klinikum Hamburg-Eppendorf

Beeinflussung muskulärer Gesichtsschmerzen durch Botulinumtoxin A

Schmerz 2005 · 19:18–25DOI 10.1007/s00482-003-0296-9Online publiziert: 21. Januar 2004© Springer-Verlag 2004

Bedeutung muskulärer Gesichtsschmerzen

Angesichts der hohen Prävalenz musku-loskelettaler Gesichtsschmerzen – den nach den Zahnschmerzen zweithäufigs-ten orofazialen Schmerzen überhaupt [5] – der häufig erheblichen Beeinträchtigung der Betroffenen und den daraus resultie-renden hohen gesellschaftlichen Kosten ist die Bedeutung dieser Schmerzen als hoch einzustufen (Übersicht bei [45]). In-nerhalb der muskuloskelettalen Gesichts-schmerzen wiederum nimmt die Gruppe der persistierenden, muskulär verursach-ten Schmerzen eine Sonderrolle ein, da für diese Gruppe einvernehmlich akzep-tierte Therapiestandards fehlen [38]. An-gesichts des oft hohen Leidensdrucks der unter diesen Schmerzen leidenden Pati-enten ist eine Behandlung jedoch unum-gänglich. Die Forderung nach einer „mul-timodalen“ Therapie dieser Patienten [30] ist zu begrüßen, der Therapiealltag ist auf-grund fehlender Standards allerdings oft eher durch Polypragmasie gekennzeich-net.

Ziel dieser Untersuchung ist es daher zu prüfen, ob erste Literaturmitteilungen über die Wirksamkeit von Botox A bei muskulären Schmerzen auf den muskulä-ren Gesichtsschmerz übertragen werden können, bzw. ob erste Erfahrungen mit der Injektion von Botox A in schmerzhaf-te Gesichtsmuskeln die Durchführung randomisierter, doppelblinder, prospek-

tiver, placebokontrollierter Studien recht-fertigen.

Pathophysiologie muskulärer Gesichtsschmerzen

Die Modellvorstellungen über die Patho-physiologie muskulärer Gesichtsschmer-zen waren in den letzten Jahren Gegen-stand kontroverser Betrachtungen. Seit den 60er Jahren werden muskuläre Ge-sichtsschmerzen als Funktionserkran-kung des Kauorgans angesehen, die auf einem veränderten Aktivitätszustand der Kaumuskulatur beruhen [8]. Nach diesen Vorstellungen führen Änderungen im sto-matognathen System wie z. B. veränder-te (insbesondere zu hohe) Zahnkontakte oder Änderungen der Lagebeziehung zwi-schen Ober- und Unterkiefer zunächst zu einer Herabsetzung der maximalen Mus-kelaktivität, um so störende bzw. trauma-tisierende Zahnkontakte zu vermeiden [25, 29]. Diese Minderung der muskulä-ren Maximalaktivität gehe dann erst mit einer Erhöhung der Ruheaktivität einher [9, 22, 24, 33], die in einem sekundären Stadium in eine parafunktionelle Hype-raktivität münde [7], deren phylogeneti-scher Sinn darin liege, die okklusale Stö-rung durch Knirschen zu beseitigen []. Bereits 942 stellten Travell et al. [43] die Hypothese auf, dass andauernde Hype-raktivität von Muskeln zu Schmerzen füh-re und dieser Schmerz umgekehrt wiede-rum die Hyperaktivität unterhalte. Die-

se These schien insbesondere für die Kie-fermuskulatur schlüssig zu erklären, wie Muskelschmerzen sich im Sinne eines Circulus vitiosus gegenseitig verstärken und unterhalten und ist seit den späten 60er Jahren [9] als „Schmerz-Spasmus-Schmerz-Hypothese“ in der Literatur an-zutreffen [6, 37]. Dieser Hypothese wer-den zunehmend differenziertere Betrach-tungen kritisch entgegen gestellt. Zwar ist unbestritten, dass maximale Muskel-anspannung unter experimentellen Be-dingungen zu schmerzhaften Mikrotrau-mata in der Muskulatur führen kann [4], allerdings wird in Frage gestellt, ob jede starke Muskelanspannung zwangsläufig zu Schmerzen führt [23]. Insbesondere für submaxmimale Muskelkontraktio-nen, wie sie unter realen Bedingungen vorkommen, ist fraglich, ob auch hier ei-ne erhöhte Muskelaktivität über Mikro-traumata zu Schmerzen führt, die dann wiederum die Muskelkontraktion beein-flussen können [2]. Über einen solchen Zusammenhang bei starken experimen-tell verursachten Schmerzen z. B. nach Applikation von Senföl in trepanierten Molaren bei Ratten wurde zwar berich-tet [3], er entspricht der sprichwörtli-chen Beobachtung, dass Menschen in solchen Situation dazu neigen, „die Zäh-ne zusammenzubeißen“. Für moderate Muskelschmerzen konnte diese These jedoch nicht erhärtet werden [40], oder es wurde zwar eine kurze, jedoch keine lang anhaltende Erhöhung der Ruheak-

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zum M. masseter profundus und der oft ähnlichen Anamnese von Patienten mit persistierenden Gelenkschmerzen [2] sind auch diese differenzialdiagnostisch auszuschließen.

Material und Methoden

In einer offenen Studie sind 20 Patienten (7 männliche, 3 weibliche; Mittelwert des Al-ters: 43,3 Jahre) betrachtet worden, bei de-nen anhand eines standardisierten Untersu-chungsbogens (. Abb. 1) eine kranioman-dibuläre Dysfunktion (CMD) mit musku-lär bedingten Gesichtsschmerzen unter Be-teiligung mindestens eines Kaumuskels di-agnostiziert wurde. Die Diagnose „mus-

Diagnose muskulärer Gesichtsschmerzen

Die Diagnose muskulärer Gesichtsschmer-zen erfolgt in der klinischen Praxis durch Palpation, passive Dehnung oder isometri-sche Kontraktion der betreffenden Mus-keln, wobei die Angaben über die Unter-sucherübereinstimmung bei diesen Tests stark schwanken, in neueren Untersuchun-gen jedoch bei Kalibrierung der Untersu-cher als gut bezeichnetet werden [4, 4]. Differenzialdiagnostisch ist die Abgren-zung zum atypischen Gesichtsschmerz oder zur somatoformen Schmerzstörung schwierig (Übersicht bei [32]). Aufgrund der räumlichen Nähe des Kiefergelenks

tivität durch Muskelschmerzen beobach-tet [42]. Außerdem ist gerade angesichts der Ergebnisse neuerer Untersuchun-gen höchst unsicher, ob Schmerzen über-haupt eine Überaktivität der Kaumus-keln verursachen [34]. Einige Untersu-chungen deuten darauf hin, dass die Kau-muskeln in schmerzhaften funktionellen Kompartimenten im Gegenteil mit einer Hemmung reagieren [4, 44].

Zudem ist es notwendig, Schmerzen als ein Geschehen zu betrachten, bei dem ne-ben lokalen Faktoren auch Mechanismen der peripheren und zentralen Chronifizie-rung von Bedeutung sind [36].

Abb. 1 9 Untersuchungsbogen zur Dokumentation von Muskel-schmerzen und Mundöffnung

Abb. 2 8 Auszug aus EMG-Protokoll während der Injektion

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kulärer Gesichtsschmerz“ wurde gestellt, wenn der Patient angab, unter „Schmer-zen bei der Mundöffnung“ oder „Schmer-zen beim Zubeißen bzw. Kauen“ zu leiden, und der Untersucher die Schmerzen durch Palpation der Muskulatur in der vom Pati-enten angegebenen Region objektivieren konnte. Für die Standardisierung der Palpa-tion wurde anstelle einer starren Druckmes-sung eine individuelle Schmerzschwelle beim jeweiligen Probanden ermittelt. Hier-für wurde die Region des Foramen fronta-le gewählt. Es wurden nur Patienten einbe-zogen, deren Schmerzen seit über 6 Mona-ten bestanden. Ausschlusskriterium war der Verdacht auf das Vorliegen somatofor-mer oder arthrogener Schmerzen.

Unter EMG-Kontrolle (. Abb. 2) wur-den 25–50 U Dysport® in den/die betreffen-den Muskel(n) injiziert. Bei 5 Patienten war der M. masseter profundus beidseitig, bei den übrigen 5 Patienten einseitig betrof-fen. Bei 0 Patienten erfolgte zusätzlich ei-ne Injektion in den M. masseter superficia-lis einseitig oder beidseitig, bei 7 Patienten eine Injektion in den M. temporalis anteri-or beidseitig. Die Kontrolle und Befragung der Patienten erfolgten in Zweiwochenin-tervallen über einen Zeitraum von 8 Wo-chen. Die Schmerzreduktion wurde an-hand einer visuellen Analogskala (VAS) be-wertet. Zur Bewertung der Funktion zogen wir die maximale aktive Mundöffnung, al-so die durch den Patienten maximal will-kürlich durchzuführende, und die maxi-male passive, d. h. unter zusätzliche Sprei-zung des Unterkiefers gegen den Ober-kiefer durch den Untersucher (. Abb. 3) durchgeführte Mundöffnung heran.

Nullhypothese war, dass. der VAS-Wert vor und 8 Wochen

nach Injektion des Toxins unverän-dert ist und

2. ein Vergleich der Mundöffnung zu diesen 2 Zeitpunkten weder hinsicht-lich der aktiven noch passiven Mund-öffnung einen Unterschied ergibt. Bei normal verteilten Differenzen kam der t-Test für paarweise angeordnete Mess-werte (Paired-t-test) zur Anwendung, bei nicht normal verteilten Differen-zen der Wilcoxon-Test für Paardiffe-renzen (Wilcoxon-signed-rank-Test).

Zusammenfassung · Abstract

Schmerz 2005 · 19:18–25DOI 10.1007/s00482-003-0296-9© Springer-Verlag 2004

H. Seedorf · R. Leuwer · A. Bussopulos · C. Fenske · H.D. Jüde

Beeinflussung muskulärer Gesichtsschmerzen durch Botulinumtoxin A

ZusammenfassungFragestellung. Lassen sich muskuläre Ge-sichtsschmerzen durch die Gabe von Botuli-numtoxin A (BTX A) günstig beeinflussen?Methodik. Bei 20 Patienten mit persistie-renden muskulären Gesichtsschmerzen wurden nach Injektion von 25–50 U Dys-port® in den/die betreffenden Muskel(n) in 2-Wochen-Intervallen über einen Zeitraum von 8 Wochen eine Befragung und Untersu-chung durchgeführt.Ergebnisse. Der Vergleich der Schmerzbe-urteilung vor und nach BTX-A-Applikati-on nach 4 Wochen ergab eine signifikan-

te Schmerzreduktion. Danach blieben die Schmerzen weitgehend konstant.Schlussfolgerungen. Die eigenen Erfah-rungen lassen vermuten, dass Literaturmit-teilungen über die Wirksamkeit von BTX A bei Patienten mit muskulären Schmerzen auch für muskuläre Gesichtsschmerzen gül-tig sind.

SchlüsselwörterGesichtsschmerz · Orofazialer Schmerz · Kaumuskulatur · Botulinumtoxin · Therapie

AbstractObjective. Can chronic pain of the mastica-tory muscles be positively affected by low dose injection of botulinum toxin (BTX-A)?Methods. Twenty patients suffering chron-ic myofacial pain were questioned and ex-amined after injection of 25–50 U Dysport® into the affected muscles over a period of 8 weeks.Results. Four weeks after injection of BTX-A patients reported a significant reduction of pain (p <0.001, paired t-test. Power of performed test with alpha 0.050:1.000). Then the pain remained constant over the

next 4 weeks. Concurrently a significant in-crease of mandubular range of movement was observed (p <0,05, Wilcoxon signed rank test).Conclusions. Even though lacking placebo control the findings suggest that patients suffering chronic myofacial pain may ben-efit from injection of low dose BTX-A into the affected muscles.

KeywordsFacial pain · Orofacial pain · Masticatory muscles · Botulinum toxin · Therapy

Influence of botulinum toxin on myogenous facial pain

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Ergebnisse

. Abbildung 4 zeigt die VAS-Werte der 20 Patienten bei der ersten und letzten Untersuchung, sortiert nach steigenden Werten bei Erstuntersuchung. Im Zu-ge der Behandlung kam es zu einer signi-fikanten Verringerung der subjektiv emp-fundenen Beschwerden (p <0,0, Paired-t-Test). Die Schmerzreduktion für alle 20 Pa-tienten betrug im Mittel ca. 40% (. Tabel-le 1 und . Abb. 5). Lediglich bei 2 Patien-ten (Nr. 7 und 5) nahm der Wert im Zu-ge der Botulinumtoxinbehandlung zu, bei 2 weiteren (Nr. und 2) blieb der Wert un-verändert. Bei den übrigen 6 Patienten nahm der Wert für die subjektiv empfunde-

nen Schmerzen ab. Die niedrigsten mittle-ren VAS-Werte wurden von den Patienten 4 Wochen nach Applikation angegeben (. Abb. 5). Keiner der Patienten berichte-te über unerwünschte Nebenwirkungen. Innerhalb des 8-wöchigen Beobachtungs-zeitraums blieb die Schmerzreduktion nach 4 Wochen weitgehend konstant. Bei 4 der 20 Patienten nahm die Unterkieferbe-weglichkeit zu (. Abb. 6). Wie . Abb. 7 zu entnehmen ist, kam es außerdem zu einer signifikanten Änderung der Differenz zwi-schen maximaler aktiver und passiver Mun-döffnung innerhalb der ersten 8 Wochen nach Injektion des Toxins (p <0,05, Wilco-xon-signed-rank-Test). Die Nullhypothe-se konnte also hinsichtlich Schmerzreduk-

tion und Mundöffnung bei einer Irrtums-wahrscheinlichkeit von p <0,05 zurückge-wiesen werden.

Diskussion

Die Literaturmitteilungen über die Thera-pie muskulärer Gesichtsschmerzen sind für den Praktiker unbefriedigend. Zwar gibt es Berichte über eine gute Wirksam-keit von Muskelrelaxanzien, wie Mepro-bamat [2], Diazepam [5] oder Clonaze-pam [3], aber gerade bei persistierenden Schmerzen spricht abgesehen von Neben-wirkungen auch das Suchtpotenzial die-ser Substanzen gegen eine Anwendung. Auch über gute Ergebnisse durch die Be-handlung mit dem Antidepressivum Ami-triptylin [35] oder die intranasale Gabe ei-ner 40%igen Kokainlösung [26] wurde be-richtet. Placebokontrollierte, randomisier-te Studien über einen positiven Behand-lungseffekt gut verträglicher, lokal appli-zierbarer Substanzen mit geringem Sucht-potenzial liegen jedoch kaum vor. Die lo-kale Injektion von Procain etwa zeigte in einer placebokontrollierten Studie keine Wirksamkeit [27]. Aus diesem Grund sind Literaturquellen über die Anwendung von Botulinumtoxin von Interesse. Allerdings gibt es nur wenige Mitteilungen und diese beziehen sich größtenteils auf die Anwen-dung bei Spannungskopfschmerzen und kommen zudem zu höchst unterschiedli-chen Ergebnissen. Eine neuere Übersichts-arbeit [6] kommt zu dem Schluss, dass es zwar zahlreiche Fallberichte von positi-ven Behandlungseffekten mit Botulinum-toxin gibt, dass jedoch nur 2 Arbeiten das Evidenzniveau I („randomisiert, placebo-kontrolliert mit ausreichender Probanden-zahl“) erreichen und dass diese beiden Ar-beiten einen positiven Effekt verneinen. Al-lerdings weist eine dieser beiden, von den Autoren dem Evidenzniveau I zugeordne-te Studien, lediglich 5 Patienten und 6 Ab-brecher, also nur 9 Patienten auf. Wird Ge-sichtsschmerz allgemein betrachtet, gibt es einige wenige Quellen, die einen positi-ven Effekt von Botulinumtoxin vermuten [9, 8] und ebenso einige wenige, die ei-nen solchen positiven Effekt für unwahr-scheinlich halten [28]. Letztere Studie war kontrolliert und randomisiert, wurde aller-dings nach 24 Wochen mit nur 0 Proban-den beendet. Inzwischen liegen 2 weitere

Abb. 3 8 Messen von aktiver (links) und passiver (rechts) Mundöffnung

Abb. 4 8 VAS-Wert bei erster (blau) und letzter (rot) Untersuchung

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Originalien

Untersuchungen aus dem Jahr 2003 vor, die von einer positiven Wirkung des To-xins bei chronischen muskulären Gesichts-schmerzen berichten [, 20], davon eine mit Evidenzniveau I.

Aufgrund der fehlenden Placebokon-trolle ist nicht auszuschließen, dass die in der vorliegenden Studie berichteten, hin-sichtlich der Schmerzreduktion überaus guten Ergebnisse, zumindest auch auf Pla-ceboeffekte zurückzuführen sind. Über den Erfolg unspezifischer Therapien bei Schmerzpatienten, noch dazu wenn Sub-stanzen injiziert werden, existieren zahl-reiche Berichte [7]. Der mögliche Wir-kungsmechanismus von Botulinumtoxin bei muskulären Gesichtsschmerzen ließe sich allerdings über dessen Eigenschaft,

durch eine neurosekretorische Blockade Über- bzw. Fehlbelastungen in der Mus-kulatur zu vermeiden, gut erklären. Mehr noch lassen jedoch die inzwischen nach-gewiesene Fähigkeit des Toxins zur Nor-malisierung der Aktivität der Muskel-spindeln und zur Beseitigung von „End-plattendysfunktionen“ und insbesonde-re auch zentrale Wirkungsmechanismen wie die Hemmung der sterilen neuroge-nen Inflammation (Übersicht bei [0]) einen Nutzen bei muskulären Gesichts-schmerzen plausibel erscheinen – insbe-sondere auch vor dem Hintergrund neue-rer pathophysiologischer Erklärungsmo-delle, die neben der funktionellen Kom-partimentierung der Kaumuskulatur [4, 44] auch Mechanismen der peripheren

und zentralen Chronifizierung musku-lärer Gesichtsschmerzen stärker berück-sichtigen [36]. Für die signifikante Ver-besserung der Unterkiefermobilität un-ter Botulinumtoxininjektion und die Ver-ringerung der Differenz zwischen akti-ver und passiver Mundöffnung, die allge-mein als Hinweis auf den Anteil der mus-kulären Komponente in Relation zur ar-throgenen Komponente der Bewegungs-einschränkung angesehen wird [3], er-scheinen Placeboeffekte als alleinige Ur-sache eher wenig wahrscheinlich. Dies ist umso interessanter, als die injizierten To-xinmengen sehr gering waren.

Hinsichtlich der Dauer der Wirksam-keit über den Beobachtungszeitraum hi-naus können wir nur spekulieren. Aus an-

Abb. 7 8 Differenz zwischen aktiver und passiver Mundöffnung vor der 1. Injektion und nach 8 Wochen

Abb. 6 9 Maximale aktive Mundöffnung bei erster (blau) und letzter (rot) Untersuchung

Abb. 5 8 Schmerzreduktion nach Injektion von Botulinumtoxin

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Tabelle 1

Veränderung der VAS-Werte unter Botulinumtoxin

Anzahl Mittelwert Standard- abweichung

Standardfehler

Vor 1. Injektion 20,0 51,0 14,6 3,3

Nach letzter Untersuchung 20,0 28,0 16,3 3,6

deren Anwendungen ist jedoch bekannt, dass die Zeit nach der Toxininjektion in 4 Phasen eingeteilt werden kann:

. Latenzzeit,2. Zeit der progredienten Zunahme des

Effekts,3. Plateauphase,4. Zeit des progredient nachlassenden Ef-

fekts.

Da bei der Entstehung persistierender muskulärer Gesichtsschmerzen jedoch vermutlich Mechanismen sich gegenseitig beeinflussender Schmerzen und Dysfunk-tionen von Bedeutung sind, wäre auch ei-ne über die eigentliche muskelschwächen-de Wirkung anhaltende positive Wirkung denkbar, ähnlich der Beobachtung bei der Behandlung fokaler Dystonien wie dem Blepharospasmus, wo die Dauer der spas-molytischen Wirkung des Toxins sich oft-mals von der Dauer der muskelschwächen-den Wirkung unterscheidet.

Fazit für die Praxis

Aufgrund der fehlenden Placebokontrol-le können auf der Grundlage dieser Stu-die keine Therapieempfehlungen gege-ben werden. Sie zeigt jedoch, dass be-reits die einmalige Injektion von gerin-gen Mengen Botulinumtoxins bei Patien-ten mit persistierenden Gesichtsschmer-zen zu erheblichen Beschwerdelinde-rung führen kann. Angesichts der fehlen-den Behandlungsalternativen bei diesen Patienten und des bei den verwendeten Toxinmengen geringen Risikos sollte ei-ne Therapie mit Botulinumtoxin im Ein-zelfall in Erwägung gezogen werden. Zur endgültigen Beurteilung der Wirksam-keit von Botulinumtoxin bei persistieren-den Gesichtsschmerzen sind jedoch auch angesichts der widersprüchlichen Litera-turmitteilungen weitere, umfangreichere,

randomisierte und kontrollierte Untersu-chungen unumgänglich.

Korrespondierender AutorDr. H. Seedorf

Abteilung für zahnärztliche Prothetik, Klinik und Poliklinik für Zahn- Mund- und Kieferheilkunde der Univ.-Klinikums Hamburg-Eppendorf, Martinistraße 52, 20246 Hamburg E-Mail: [email protected]

Interessenkonflikt: Der korrespondierende Autor versichert, dass keine Verbindungen mit einer Firma, deren Produkt in dem Artikel ge-nannt ist, oder einer Firma, die ein Konkurrenz-produkt vertreibt, bestehen.

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Hermann SchönthalIn kollegialen Gesprächen quer durch die Medizin. Schnittstel-len und therapeutische Empfeh-lungen

Köln: Deutscher Ärzte-Verlag 2004, 436 S., 16 Abb., (ISBN 3-7691-0453-6), 14.95 EUR

Aus gutem Grund haben Schmerzthe-rapeuten stets großes Gewicht auf die Bedeutung interdisziplinärer Kooperation gelegt. Der algesiologische Wissensstand explodiert, und kaum jemand kann die Fülle alter und neuer Erkenntnisse allein noch überblicken. Kontakte über die Fach-gebietsgrenzen sind dringend erforderlich – und durchaus beliebt, wie die große Nachfrage etwa nach den DGSS-Schmerz-wochen und zahlreichen anderen ähnli-chen Veranstaltungen unterstreicht. Hier wie beim Deutschen Schmerzkongress, aber auch in vielen Lehrbüchern, geht es meist um die Weitergabe und Aufberei-tung schmerztherapeutischer Konzepte, die sowohl die Experten als auch Neuein-steiger erreichen soll.

Das vorliegende Buch von Hermann Schönthal hat mir sehr deutlich vor Au-gen geführt, dass wir vielleicht zu oft in Einbahnstraßen fahren, heisst, dass wir in andere Disziplinen transferieren und eher selten von diesen etwas aufnehmen. Der Autor hat es sich zum Ziel gemacht, sein eigenes Gebiet, die Innere Medizin, in einen umfassenden Dialog mit anderen Fachgebieten zu bringen. Das Buch enthält in 28 Kapiteln die Mitschriften von „Ka-mingesprächen“ im kleinen Kreis, die mit Vertretern ganz unterschiedlicher Fächer geführt wurden – um Neues zu erfahren, Grenzen der eigenen Möglichkeiten aufzu-zeigen und Schnittmengen zu erkennen. Die Diskussionen mit z.B. Pathologen, Rheumatologen, Allgemeinmedizinern, Nephrologen, Kardiologen und Arbeits-medizinern, Hämatologen, Radiologen, Neurologen und Neurochirurgen, mit Geriatern, Dermatologen , Psychologen und Psychiatern, Orthopäden, Virologen, Pädiatern, Chirurgen, Endokrinologen und – last, but not least – Schmerztherapeuten können keinen Ersatz für die entsprechen-den Lehrbücher sein. Sie haben mich aber wohltuend in einen Zustand versetzt, wie

ich ihn am Ende des Medizinstudiums schätzen gelernt habe – altes Wissen in einer freundlichen Form aufzufrischen, Neuentwicklungen zur Kenntnis zu neh-men und eigene Routinen im Kontext zu überdenken.

Mancher Leser aus der Schmerzszene mag die Schlussfolgerungen aus dem „Schmerzgespräch“ kritisch gegen eigene Erfahrungen stellen – aber das ist genau das Anliegen dieses interessanten Buches: um aus dem Elfenbeintum ausbrechen zu können, muss man ihn zunächst als sol-chen erkennen…

Allen, die sich entspannt zurücklehnen wollen und einen Eindruck über die Vielfalt der heutigen klinischen Medizin bekom-men möchten, dabei alte Lehrinhalte erin-nern und diese selbstkritisch in das eigene Spektrum von Diagnostik und Therapie zu übernehmen bereit sind, sei das Lesen der 28 Kapitel wärmstens empfohlen. Hermann Schönthal war im Oktober 2001 Teilnehmer bei „DGSS meets Rheumatolo-gy“. Wer diese Veranstaltungen kennt, ist gegen Einbahnstraßen. Dem Autor ist es glänzend gelungen, in die vielen anderen Richtungen zu zeigen.

Klaus A. Lehmann (Köln)

Buchbesprechung

25Der Schmerz 1 · 2005 |


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