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DIE WAHRNEHMUNG NIEDERSCHLESIENS DURCH MAKEDONISCHE FLÜCHTLINGE DES GRIECHISCHEN BÜRGERKRIEGES

Date post: 23-Jan-2023
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INTER FINITIMOS JAHRBUCH ZUR DEUTSCH-POLNISCHEN BEZIEHUNGSGESCHICHTE 8. 2010 Herausgeber: Peter Fischer• Basil Kerski • Isabel Röskau-Rydel Krzysztof Ruchniewicz • Sabine Stekel Deutsch-Polnische Gesellschaft Bundesverband e.V. fibre
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INTER FINITIMOS

JAHRBUCH ZUR DEUTSCH-POLNISCHEN

BEZIEHUNGSGESCHICHTE

8. 2010

Herausgeber:

Peter Fischer• Basil Kerski • Isabel Röskau-Rydel

Krzysztof Ruchniewicz • Sabine Stekel

Deutsch-Polnische Gesellschaft Bundesverband e.V.

fibre

166 Themenschwerpunkt: Regionen

in den polenweiten Umfragen, die vom Meinungsforschungsinstitut

durchgeführt werden, als auch in der vorliegenden Analyse das Bild

von Deutschland und den Deutschen stark von der Geschichte geprägt

wird, insbesondere vom Zweiten Weltkrieg. Jedoch sehen viele der Befragten, bedingt durch die zeitliche Distanz und die offenen Gren­

zen, eine Verbesserung der beiderseitigen Beziehungen.

Das Bild von der deutsch-polnischen Nachbarschaft ist jedoch nicht

einheitlich. Ein großer Teil der Einwohner von Zgorzelec stehen den

deutsch-polnischen Themen passiv gegenüber - sie kennen die In­

itiativen und Projekte nicht, sind an der deutsch-polnischen Zusam­

menarbeit nicht interessiert, haben keine Meinung über die Annä­

herung und sehen keine Vorteile aus der Kooperation für Stadt und

Einwohner. Die Ansichten der Befragten variieren und sind ge­

schlechts- und altersbedingt: Frauen und Personen über 59 Jahre enga­

gieren sich deutlich stärker für die deutsch-polnische Zusammenarbeit.

Angesichts der wirtschaftlichen, zivilisatorischen und gesellschaftli­

chen Unterschiede zwischen beiden Ländern fällt es schwer, von einer

deutsch-polnischen Partnerschaft zu sprechen. Die Unterschiede

können sich als hemmender Faktor herausstellen und gegenseitige

Stereotype verfestigen. Deshalb ist die deutsch-polnische Zusammen­

arbeit von solch zentraler Bedeutung. Dabei spielen der Wille und das

Engagement der Bürger für eine grenzüberschreitende Kooperation

eine wichtige Rolle. Doch eben daran mangelt es den Einwohnern von Zgorzelec.

Der Versuch der Vertreter von EU-Institutionen oder staatlichen

Machtorganen, das Bild eines „europäischen Bürgers" zu popularisie­

ren, geht stark an der Realität vorbei. Die eigene nationale Identität

wird während des Kontakts zu einem Bürger eines anderen Landes am

sichtbarsten hervorgehoben. Nicht unrealistische Visionen, sondern

die territoriale Nähe sowie binationale Zusammenarbeit zwi-schen den

Bürgern sind entscheidend, um zu einem Gemeinschaftsgefühl zu

führen und negative Stereotype abzuschwächen. Deshalb bin ich der

Überzeugung, dass eine wirkliche Annäherung zwischen Deutschland

und Polen durch gegenseitige Bürgerkontakte auf inoffizieller Ebene

zustande kommen würde. Dafür muss zunächst ein Bewusstsein ge­

schaffen werden. Die Kooperation auf offizieller Ebene - die gemein-

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samen Sitzungen der Stadträte oder feierliche Veranstaltungen - sollte

lediglich die Vervollständigung der „von unten" eingeleiteten Zu­

sammenarbeit zwischen den Bürgern beider Länder sein.

Um die Meinung der Einwohner von Zgorzelec über die deutsch­

polnische Nachbarschaft zu verbessern, sollten die Bürger selbst zum

Engagement und zur Zusammenarbeit motiviert werden. Es gestaltet

sich einfach~ thematische Veranstaltungen, Ausstellungen, Konzerte

oder Sprachkurse in einer Grenzstadt zu organisieren. Obwohl es an

deutsch-polnischen Initiativen nicht fehlt, scheinen diese für junge

Menschen und Männer nicht attraktiv genug zu sein, und es sind eben

die jungen Menschen und Männer, die sich am wenigsten für die Zu­

sammenarbeit engagieren.

Aus dem Polnischen von Arkadiusz Szczepanski

ANNA KURPIEL

DIE WAHRNEHMUNG NIEDERSCHLESIENS DURCH

MAKEDONISCHE FLÜCHTLINGE DES

GRIECHISCHEN BÜRGERKRIEGES

Ziel des vorliegenden Essays wird sein, eine Antwort auf die Frage zu

finden, wie die Region Niederschlesien im Bewusstsein der makedo­

nischen Flüchtlinge des griechischen Bürgerkrieges wahrgenommen

wurde, die in den Jahren 1948-1951 in den westlichen Gebieten Polens

zwangsangesiedelt wurden. Die Grundkategorie der Analyse stützt

sich auf das Konzept von Region und Regionalismus, verstanden als

emotionale und ideologische Verbundenheit mit einem Territorium.

Das Thema der makedonischen Flüchtlinge regt hierbei zu weiteren

Fragestellungen an: Hat der besondere Charakter Niederschlesiens

nach dem Krieg ein territoriales Zugehörigkeitsgefühl bei den Neu­

ankömmlingen entstehen lassen können? Welchen Einfluss auf diesen

Prozess hatte die staatliche Propaganda? Wie verarbeiteten die Flücht­

linge ihr Schicksal, eine nationale und ethnische Minderheit zu sein,

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deren Wurzeln an Orten liegen, zu denen es keine Rückkehr mehr

gab? Für die Analyse wird der Regionsbegriff differenziert betrachtet

- mit der Region kann man sich individuell oder ideologisch identifi­

zieren. Im Falle der Makedonier wäre dies zum einen die Region Niederschlesien, zum anderen das verlorene Ägäis-Makedonien. Die

wichtigste Quelle für die Analyse stellen Interviews mit Makedoniern

dar, die ich in den Jahren 2008/09 in der Republik Makedonien sowie

2010 in Niederschlesien durchgeführt habe.

DAS KONZEPT VON REGION UND REGIONALISMUS

Der Regionalismus, schreibt Dionizjusz Czubala, „ist ein breiter Be­

griff, der heute vielerorts verwendet und in unterschiedlichen Wissen­

schaftszweigen verschieden definiert wird. Er wird in politischen, öko­

nomischen, soziologischen und allgemein kulturellen Kontexten ge­

braucht, und Linguisten sowie Literaturwissenschaftler weisen ihm

eine eigentümliche Bedeutung zu"1• Heutzutage, wo nationalistische

Ideologien im Herderschen Sinne gewissermaßen negiert werden, wird

die Region zu einem neutralen und politisch korrekten Begriff. Laut

Andrzej Kwilecki wird der alten Losung „Europa der Nationen" heute

„Europa der Regionen" entgegengestellt.2 Dies erklärt die Entwicklung

- besonders in der Politologie und Wirtschaftswissenschaft - von

Untersuchungen über die Rolle und Funktion der Regicin, auch wenn

die Geschichte der regionalen Forschung im traditionellen histori­

schen, ethnografischen und auf Bildung bezogenen Sinn bereits auf das

Ende des 19. Jahrhunderts zurückgeht.3

Piotr Tadeusz Kwiatkowski unterscheidet .bei der traditionell ver­

standenen regionalen historischen Forschung drei Aspekte der Re-

1 DIONIZJUSZ CZUBALA, Slowo o regionalizrnie, in: Regionalizrn, folklor, wycho­

wanie, hrsg. v. DIONIZJUSZ CZUBALA/ GRZEGORZ GRZYBEK, Bielsko-Baia 2004, S. 5. 2

ANDRZEJKWILECKI, Region, regionalizrn, regionalizacja (szkic problernatyki), in:

Regionalizrn jako folkloryzrn, ruch spoleczny i forrnula ideologiczno-polityczna, hrsg.

V . MAREKLATOSZEK, Gdansk 1993, S. 118. 3

PIOTR TADEUSZ KWIATKOWSKI, Tworzenie regionalnej tradycji. Studium przy­

padku, in: Przeszlosc jako przedrniot przekazu, hrsg. v. ANDRZEJ SZPOCINSKI/PIOTR

TADEUSZKWIATKOWSKI, Warszawa 2006, S. 69-140.

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gionsmerkmale: Wertevorstellungen, bedeutende Ereignisse und Per­

sönlichkeiten, die einen Bezugskanon bilden und zur Strukturierung

des kollektiven Gedächtnisses eines betreffenden Territoriums beitra-4 gen.

In dem vorliegenden Essay werde ich mich stärker aus der soziolo­

gischen und anthropologischen Perspektive dem Thema Region und

Regionalismus nähern, beeinflusst durch das Konzept von Stanislaw

Ossowski, in dem die subjektive Selbstidentifikation und emotionale

Bindung zu einem Raum - nicht zwingend als wirtschaftliche oder

geografische Region zu verstehen - in den Mittelpunkt gestellt wird.

Ossowski schreibt:

„Die Region wird unterschiedlich definiert. Oftmals wird die Region als

geografische Einheit gesehen, die sich durch Geländeeigenschaften oder wirtschaftliche Kriterien auszeichnet. Unter dem Begriff Region, so wie

wir ihn für unsere Überlegungen benutzen, d. h. im soziologischen Sinne, wird darunter ein Korrelat der regionalen Gemeinschaft ver­standen. Und eine regionale Gemeinschaft ist eine territoriale Gemein­schaft, die mehr oder weniger ihre Eigentümlichkeit betont, sich jedoch

nicht als Nation versteht [ ... ]. Solch eine Gemeinschaft bildet in der

Regel einen Bestandteil einer nationalen Gemeinschaft. Die Mitglieder

einer regionalen Gemeinschaft[ ... ] können sich gleichzeitig als Patrio­ten ihrer Region und ihres nationalen Heimatlandes fühlen. "5

Ossowski geht in seinen Überlegungen der Frage nach, wie sich die

Beziehung von Menschen, die von ihrem Heimatort getrennt wurden,

zu ihrer neuen territorialen Umgebung verändert. Dieser Ansatz ist

für die vorliegende Analyse hilfreich, denn die untersuchte Region

wird das bereits polnische Niederschlesien der Nachkriegszeit sein, die

untersuchte Gemeinschaft politische Flüchtlinge aus Ägäis-Makedo­

nien, deren Status nicht eindeutig · definiert wurde. Sie wurden als

Asylanten, die von der polnischen Gesellschaft abgeschottet waren,

angesehen, galten als nationale oder ethnische Minderheit (bedingt

durch eine unpräzise Definition) oder - wie es heute der Fall ist -

4 Ebd. 5 STANISLAW OSSOWSKI, 0 ojczyfoie i narodzie, Warszawa 1984, S. 75 .

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haben sich gänzlich an die polnische Gesellschaft assimiliert. Ossowski unterteilt patriotische Einstellungen sowie den Begriff Heimat in die Kategorien individuell und ideologisch. Die individuelle Heimat ist ein Ort, zu dem eine Person einen direkten, emotionalen Bezug hat. Oftmals handelt es sich dabei um den Geburtsort oder den Ort des Heranwachsens. Die ideologische Heimat hat einen breiteren Bedeu­tungsradius und der Bezug zu ihr muss nicht auf eigenen Erfahrungen beruhen, sondern hängt vielmehr mit der Überzeugung zusammen, Teilhabe an einer größeren Gemeinschaft zu besitzen. Analog dazu kann die Beziehung zu einer Region oder regionalem Patriotismus in die Kategorien individuell und ideologisch unterteilt werden. Im Zu­sammenhang mit der Fragestellung dieses Beitrags ist es von Bedeu­tung herauszufinden, wie die individuelle oder ideologische Einstel­lung zu der Region des Geburtsortes auf die Region des neuen Wohn­ortes übertragen wird - der Fokus liegt dabei auf den Neuansiedlern Niederschlesiens nach dem Krieg im Allgemeinen sowie auf den make­donischen Flüchtlingen im Speziellen.

NIEDERSCHLESIEN NACH DEM KRIEG - EINE REGION OHNE REGIONALISMUS?

Bevor erörtert wird, wie und ob sich die makedonischen Flüchtlinge in Niederschlesien heimisch fühlen konnten, soll zuerst die Frage beantwortet werden, inwieweit Niederschlesien die Voraussetzung für ein regionales Zugehörigkeitsgefühl bieten konnte. Die Makedonier kamen in diese Region bereits nach der größten Ansiedlungswelle, d. h. nach 1948. Selbständig integrierten sie sich in die polnische Ge­sellschaft erst seit 1952, somit zu einer Zeit, in der sich theoretisch bereits gewisse regionale Gemeinschaften unter der neuen Bevölke­rung Niederschlesiens gebildet hätten müssen. In Bezug auf die vorhin genannten, durch Kwiatkowski aufgestellten Regionsmerkrriale, die eine traditionelle und historisch bedingte Zugehörigkeit mit einer Region ausmachen, kann festgestellt werden, dass Niederschlesien keinerlei solcher Merkmale aufweisen konnte. Weder übertragene Wertevorstellungen früherer Generationen noch bedeutsame Ereignis­se oder Persönlichkeiten aus der Geschichte der Region, die über

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Jahrhunderte deutsch war, konnten der neuen Bevölkerung identitäts­stiftend dienen. Der propagandistische Versuch des Staates, auf den urpolnischen Charakter Niederschlesiens während der Piastenzeit zu verweisen, konnte nicht dazu beitragen, dass eine emotionale Verbin­dung mit der Region entstand, denn die Piastenzeit liegt zu weit zu­rück, gehört zur toten, nichtfunktionalen und antiquarischen Ge­schichte - um es mit Nietzsches Einteilung auszudrücken.

6 Somit

stellte die in Niederschlesien angekommene Bevölkerung nicht das Material dar, aus dem sich lokale Gemeinschaften bilden, bedingt durch ihre Vielfältigkeit, die vielmehr zu Antagonismen und gegensei­tigen Stereotypen führte. Wiadyslaw Markiewicz beschreibt die Jahre der Neuansiedlung wie folgt:

„Die Bewohner der westlichen Gebiete stellten ein Mosaik dar. Im Zuge der Ansiedlung, die teilweise sehr dynamisch vollzogen wurde, entstand eine Durchmischung verschiedener Gruppen, die sich durch ihre regionale Herkunft, Tradition, gesellschaftliche Wertevorstel­lungen, Gebräuche, Bildung usw. voneinander unterschieden. Durch­geführte soziologische und ethnografische Untersuchungen in den westlichen Gebieten haben gezeigt, dass in kleinen Ortschaften, Dör­fern und kleinen Städten - von großen ganz zu schweigen - sich Men­schen aus zehn oder mehr verschiedenen regionalen Gruppen angesie-delt haben. "7

Hinzu kommt, dass jede dieser Gruppen ihre Erinnerung an die kleine private Heimat, die über · viele Jahre die Grundlage ihrer Gruppen­zugehörigkeit war, mit nach Niederschlesien brachte. Als musterhaftes und am meisten erforschtes Beispiel wären die Bewohner der ehemals polnischen Ostgebiete zu nennen, für die ihre Heimat zu einem fort­währenden Bezugspunkt wurde, nach der sie sich stets sehnten, ihr nachtrauerten, die aber auch mythisiert wurde - nicht nur im Bewusst­sein der dort geborenen Menschen, sondern auch allgemein durch die

6 ANDRZEJ SZPOCINSKI, Formy przeszioki a komunikacja spoleczna, in: Przesz­iosc jako przedmiot przekazu, hrsg. V. ANDRZEJSZPOCrNSKI/PIOTR TADEUSZKWIAT­KOWSKI, Warszawa 2006, S. 29.

7 WLADYSLA W MARKIEWICZ, Zasiedlanie i zagospodarowywanie ziem zachodnich (1945-1964), in: Przeghid Zachodni, 1964, Nr. 3, S. 242.

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polnische Gesellschaft. 8 Ein weiterer Faktor, der die Verbundenheit der zuströmenden Bevölkerung zu Niederschlesien unterband, war das allgemeine, in den Anfangsjahren empfundene Gefühl eines „vorläufi­gen Zustands". Dieses Gefühl wurde größtenteils durch Gerüchte gespeist, Niederschlesien würde erneut an Deutschland angeschlossen. Dies bewirkte, dass sich die Neuansiedler passiv und apathisch verhiel­ten, keinen Willen zeigten, sich in dem neuen Gebiet heimisch fühlen zu wollen. Gleichzeitig wurde die Entwicklung eines Zugehörigkeits­gefühls mit der neuen Region unterbunden. Es konnte sich somit kein Regionalismus als „von unten entstandene Bewegung, spontan, auf Grundlage einer Selbstorganisation der Menschen im Namen eines Ziels oder einer Idee, die als sinnstiftend angesehen würden"9 entwi­ckeln - denn ein Ziel oder gemeinsame Wertvorstellungen waren nicht vorhanden. All dies wurde noch durch die damalige Propaganda der Volksrepublik Polen verstärkt, die eine absolute Unifizierung der sog. wiedergewonnenen Gebiete mit ganz Polen verkündete. „Es handelte sich nämlich um eine [Staats-]Politik, die von Anfang an darauf eingestellt war, diese Gebiete mit den Kernländern zu verbin­den."10 Diese Politik hat während der Zeit der Volksrepublik nicht nur die Prozesse der Regionalisierung in den westlichen Gebieten Polens verhindert, sondern auch die Regionalforschung an sich.11

Ein Faktor, der wiederum ein Gemeinschaftsgefühl unter den Neuansiedlern in Niederschlesien hätte auslösen können, war das gemeinsame tragische Schicksal sowie der Wiederaufbau der kriegs­bedingt zerstörten Gebiete. Jedoch - wie es sich in der Praxis heraus­stellte - hatte dieser Faktor keinen entscheidenden Einfluss:

8 MALGORZATA GLOWACKA-GRAJPER, Identyfikacje kresowe we wsp6lczesnej Polsee. Od malych ojczyzn do regionalizmu sentymentalno-ideologicznego, in: Kultu­rowa odmiennosc w dzialaniu. Kultury i narody bez panstwa, hrsg. v. Ew AN OWICKA­RUSEK, Krakow 2009, S.123-143. 9 MAREK LATOSZEK, Regionalizm w procesie przemian - wprowadzenie do zagadnienia, in: Regionalizm jako folkloryzm, ruch spoleczny i formula ideologiczno­polityczna, hrsg. V. MAREK LATOSZEK, Gdansk 1993, S. 17. 10 MARKIEWICZ, Zasiedlanie i zagospodarowywanie ziem zachodnich (wie Anm. 7), S. 246. 11

LATOSZEK, Regionalizm (wie Anm. 9), S. 243.

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„Das Zusammenleben dieser Gruppen verlief anfangs nicht sehr harmo­nisch, auch wenn ein gemeinsames Schicksal und die Erfüllung einer wichtigen patriotischen Mission - insbesondere während der Pionier­zeit - diese Menschen verbanden." 12

Das Fehlen einer festen und eindeutigen Identifizierung mit der Re­gion bei den Nachkriegsansiedlern hat nicht zur Herausbildung einer klassischen regionalen Verbundenheit geführt. Es besteht jedoch ein für Niederschlesien charakteristischer Regionalismus, der gerade auf der Negation einer uralten Verbundenheit beruht. Das Ergebnis ist heute in der Promotion der Woiwodschaft sichtbar, mit Breslau/ Wrodaw als „Ort der Begegnungen" an der Spitze. Der weltoffene, zur Vielfalt strebende Charakter der Region ist zu seiner Visitenkarte geworden, die anderen, eher konservativen Gebieten Polens entgegen­gehalten wird.

DER PROZESS DER ZW ANGSANSIEDLUNG DER MAKEDONIER IN NIEDERSCHLESIEN - SUBJEKTIVE BESCHREIBUNG UND FAKTEN

Makedonier und Griechen kamen während und nach Beendigung des griechischen Bürgerkrieges (1946-1949) zusammen als Flüchtlinge nach Polen. Sie stammten hauptsächlich aus dem nordgriechischen Gebiet - Ägäis-Makedonien, das vor 1913 gemeinsam mit einem Teil Vardar- und Pirin-Makedoniens (heute zu Bulgarien gehörend) sowie der heutigen Republik Makedonien eine große historische und geogra­fische Region, genannt Makedonien, bildete, bewohnt größtenteils von einer slawischen Bevölkerung. Zunächst wurden Kinder aus ihren Heimatorten auf Anweisung der Kommunistischen Partei Griechen­lands (KKE) ausgesiedelt, später - bereits nach Kriegsende - folgten Partisanen, die auf Seite der Kommunistischen Armee Griechenlands kämpften, sowie deren Familien. Die Emigranten kamen nach Polen, ohne zu wissen, was sie erwarten würde, und konnten sich ihr Ziel­land nicht auswählen. Besonders beanspruchte dies die Kinder, die keinerlei Mitspracherecht besaßen, von den Ereignissen benommen

12 MARKIEWICZ, Zasiedlanie i zagospodarowywanie ziem zachodnich (wie Anm. 7), s. 243.

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waren, die Ursachen nicht wahrnehmen konnten und sich des Ziels und der Länge der Reise nicht bewusst waren. Ebenso verhielt es sich mit den Partisanen und deren Familien, die 1949 massenhaft Griechen­land über die albanische Grenze verließen. Die Schiffe, welche die albanischen Häfen verließen, fuhren sie zu unbekannten, von der Partei vorherbestimmten Orten. Eine scheinbare Freiheit genossen jene Emigranten, die freiwillig in die vorherbestimmten Länder im Rahmen der sog. Familienzusammenführung kamen, die das Rote Kreuz leitete. Doch auch sie mussten sich dem geplanten Verlauf der Geschehnisse unterordnen: Sie konnten zu dem Aufenthaltsort ihrer Kinder fahren oder diese zu ihnen. „Über [ ... ] unser Schicksal ent­schied jemand anders. Es entschieden die Funktionäre der KKE, wir waren deren Geiseln", schreibt einer von ihnen, der damals noch ein Kind gewesen ist. 13 Nach der Ankunft in Polen wurden die Kinder in pädagogischen Zentren untergebracht, u. a. in Bad Landeck/Lidek Zdr6j, Bad Reinerz/Duszniki, Wölfelsgrund/Mi~dzyg6rze, Löwen­berg/Plakowice. 1950 wurde entschieden, alle Makedonier und Grie­chen in Görlitz/Zgorzelec zu versammeln, wo Kinderheime, Schulen und Arbeitsgenossenschaften geschaffen wurden; den Emigranten wurden ganze Straßen zugeteilt. Später hat man die Flüchtlinge in anderen Städten - vorwiegend in Niederschlesien - angesiedelt, haupt­sächlich aufgrund von Wohnungs- und Arbeitsplatzmangel.

In den 1950er Jahren wurden über 13.000 Flüchtlinge aus Griechen­land in Polen angesiedelt. Die Emigranten aus Griechenland, sowohl Kinder als auch Erwachsene, wurden nach Ankunft in Polen in Gebie­ten untergebracht, wo es keine große Konzentration der polnischen Bevölkerung gab. Dies war anfänglich durch Verordnungen der KKE bedingt, die den Glauben hegte, es würde eine zügige Rückkehr in die Heimat zwecks Fortführung der Kampfhandlungen erfolgen. In den ersten Jahren des Aufenthaltes in Polen waren die Flüchtlinge über­zeugt, dass sie in ihre verlorene Heimat zurückkehren würden. Die Flüchtlinge bewahrten die Wohnungsschlüssel ihrer verlassenen W oh­nungen auf, was u. a. in der „Notiz über die Aufnahme von 2.000 Flüchtlingen aus Griechenland durch Polen" vermerkt ist:

13 SPIRO GAGACZOWSKI, Pozegnanie z ojczyzrni, Lubin 2007, S. 85 .

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„Es ist bezeichnend, dass nahezu alle sorgfältig die Schlüssel zu ihren hinterlassenen Häusern in Griechenland aufbewahren und diese krampfhaft beim Ausziehen der Bekleidung festhalten, damit sie nicht verloren gehen."14

Obwohl nach 1952 die Hoffnung auf eine Rückkehr zunehmend verblasste, standen die Flüchtlinge unter starkem Einfluss der KKE, die Wohnungen und Arbeitsplätze in vorherbestimmten Orten zu­wies, ohne dass diese von den Flüchtlingen selbst ausgewählt werden konnten. Davon zeugt die folgende Aussage eines Makedoniers, der über seinen in Zgorzelec zwangsangesiedelten Vater berichtet:

„Er kam in Zgorzelec an und später, aufgrund disziplinarischer Maß­nahmen, musste er nach Legnica. So machten sie es. Sie nahmen einen - hier sollst du hin, und Schluss. Und ohne unsere Erlaubnis darfst du dich von diesem Ort nicht entfernen.[ ... ] Er musste sich Arbeit suchen. Selbstverständlich fand er eine. Hier ist er gestorben und begraben[ ... ]. Er durfte Legnica nicht verlassen, konnte nicht beispielsweise in Szcze­cin wohnen. Und wir, die ganze Familie, waren dort - alle in Szczecin! Wenn er nur dort hätte wohnen können! Er durfte nicht! [ .. . ] Ein erwachsener Mann, aber er musste in Legnica bleiben, weil die Partei ihn diesem Ort zugewiesen hat. Er sollte dort sein und die Kinder woanders. "15

Auf ein ähnliches Schicksal verweist ein Fragment aus der Biografie einer Makedonierin, die als Kind in Polen ankam:

„Risa, als sie bereits das Abitur bestanden hatte, wurde nach Wrodaw geschickt, wo sie einen sechsmonatigen Kurs der makedonischen Spra­che leiten sollte [ ... ]. Als dieser beendet war, versuchte sie in Legnica Arbeit zu finden, wo sie ganz in der Nähe der Eltern gewesen wäre, doch die politischen Machthaber der Emigranten verordneten sie nach Piensk."16

14 Macedonscy uchodicy w Polsee. Dokumenty 1948-1975, hrsg. v. PETRE NA­

KOVSKI, Bd.l, Skopje 2008, S. 148. 15 Interview Nr. 1. 16 J ÖZEF WYSPIANSKI, Kokardy z powojennych tasiemek, Lu bin 2004, S. 70.

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Obwohl die Kinder nach Beendigung der Grundschule in den pädagogischen Zentren ihre Bildung an verschiedenen Orten Polens fortsetzen durften, gingen sie nach dem Schulabschluss nach Nieder­schlesien, wo sie ihren Eltern und den Kreisen der Emigration näher waren. Infolgedessen wurden die Makedonier, anfänglich durch Zwang und die Verordnungen der Machtorgane der KKE, an Nieder­schlesien gebunden. Die Reaktion der Flüchtlinge zeichnete sich durch Passivität und fehlenden Widerstand aus, hauptsächlich bedingt durch mangelndes Wissen über das neue Aufenthaltsland sowie fehlende Sprachkenntnisse. Die in den staatlichen pädagogischen Zentren ver­sammelten Kinder konnten und mussten die polnische Sprache er­lernen; die Erwachsenen hatten solch eine Möglichkeit nicht. Die Emigranten aus Griechenland waren größtenteils Analphabeten, ihr ganzes Leben war vom Krieg geprägt, sie hatten keine Schulen abge­schlossen, und somit fehlte es ihnen an elementarem Wissen über andere Orte - sie kannten lediglich ihre heimatliche Region. Dies führte dazu, dass sie Angst vor der neuen, fremden Gesellschaft hatten, eine Angst, die zur Akzeptanz der parteilichen Anordnungen führte, statt durch Eigeninitiative mit der polnischen Bevölkerung in Kontakt zu treten, die sich selbst erst vor kurzer Zeit in Niederschlesien ange­siegelt hatte. Ähnlich äußert sich einer der Befragten über seinen Vater:

„Er war an die fünfzig Jahre alt, als er nach Polen kam. Die Sprache kannte er überhaupt nicht. Es muss sicherlich schwer für ihn gewesen sein, hier einen Platz für sich zu finden, eine Wohnung und Arbeit zu suchen - es fällt eben kein Manna vom Himmel, man muss irgendwie leben.'<17

Die Makedonier, die vor den Repressionen der Nachkriegszeit flohen und in Polen Zuflucht fanden, betrachteten den neuen Wohnort als vorübergehend. Am deutlichsten ist dieses Beispiel an den Erwachse­nen ersichtlich, deren Sehnsucht nach der Heimat oder zumindest dem eigenen Volk dazu führte, dass sie nach einer raschen Möglichkeit suchten, um Polen zu verlassen und nach Jugoslawien oder Bulgarien

17 Interview Nr. 2.

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auszureisen. Die Kinder und Jugendlichen passten sich viel schneller an die Verhältnisse in Polen an und sahen in diesem Land größere Entfaltungs- und Bildungschancen sowie die Möglichkeit einer T eilha­be an der gehobenen Kultur, zu der sie in den ländlichen, von Bergen umschlossenen Dörfern Ägäis-Makedoniens keinen Zugang hatten.

DER PROZESS EINER HERAUSBILDUNG REGIONALER VERBUNDEN­HEIT MIT NIEDERSCHLESIEN UND DER DOPPEL TE REGIONALISMUS -ERINNERUNGSORTE, ORGANISATIONEN, VERSAMMLUNGEN

Wie auch für andere Siedler, die nach Niederschlesien kamen (freiwil­lig oder zwangsweise), war die Entwicklung einer regionalen Verbun­denheit durch einige Faktoren gehemmt. Dazu gehören insbesondere die vorherrschende Meinung, die Emigration sei vorläufig, der Glaube an eine baldige Rückkehr in die Heimat sowie das „Stigma der Ver­treibung" - ein Unrechtsgefühl, verursacht durch die Notwendigkeit, die eigene Umgebung verlassen zu müssen und sich in einem weit entfernten, fremden Land niederzulassen. Im Falle der Makedonier war der hemmende Faktor, der ein heimisches Gefühl und die Heraus­bildung einer Identifizierung mit der Region unterband - zumindest in den ersten zehn Jahren - vor allem deren Opposition zu den Flücht­lingen griechischer Nationalität, die in Polen stellvertretend für alle Flüchtlinge aus Griechenland angesehen wurden.

Die Makedonier waren bereits in ihrer Region - Ägäis-Makedo­nien, das 1913 griechisches Territorium wurde - eine Minderheit im Verhältnis zu den Griechen. Die Griechen hatten die Macht inne, erteilten Befehle, betrieben eine hellenistische Politik gegenüber der slawischen Bevölkerung. Ähnlich verlief es später in Polen. Die Grie­chen dominierten im Bewusstsein der Einwohner Niederschlesiens, ihnen „gehörten" Zgorzelec und später andere Städte dieser Region. „Zgorzelec wurde zum Zentrum der griechischen Emigranten in Polen, bekannt als ,Griechische Republik'. "

18

18 MIECZYSLAW WOJECKI, Uchodicy Polityczni z Grecji w Polsee (1948-1975), Jelenia G6ra 1989, S. 45.

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Das Thema der nationalen Eigentümlichkeit der Makedonier wur­de selten aufgegriffen und war der breiten Öffentlichkeit in Polen schon gar nicht bekannt. Walter Zelazny weist darauf hin, dass sich eine nationale oder ethnische Minderheit stets der Mehrheit unter­ordnen muss, deren Geschichte öffentlich erzählt und als objektiv anerkannt wird. Die Minderheit kann ihre eigene Geschichte „inof­fiziell", zu Hause oder innerhalb der Familie pflegen. Alle Erinne­rungsorte der Flüchtlinge in Niederschlesien sind deshalb „griechisch". In Zgorzelec erhielt ein Boulevard in Erinnerung an die ehemaligen Immigranten den Namen „Griechischer Boulevard". An einer Wand des städtischen Rathauses wurde eine Gedenktafel mit polnischer und griechischer Inschrift enthüllt, die an die Zeiten erinnern soll, in denen Zgorzelec eine „Griechische Republik" war. Auf dem Friedhof gibt es eine Gedenktafel für Griechen, die in Polen gestorben sind. Die Make­donier werden überhaupt nicht erwähnt. Das Fehlen makedonischer Erinnerungsorte wirkt sich negativ auf den Identifikationsprozess und die regionale Verbundenheit der Makedonier mit Niederschlesien aus. Die Makedonier, welche zur negativen Haltung gegenüber den Grie­chen, den strengen Besatzern ihrer Heimat, erzogen worden sind, konnten sich weder mit dem 1953 gegründeten Verband griechischer politischer Flüchtlinge (Namenspatron: Nikos Belojannis) noch mit der von ihm herausgegebenen Zeitung „Dimokratis" identifizieren. Trotz des Bestehens zahlreicher Vereine für die Flüchtlinge aus Grie­chenland in nahezu jeder niederschlesischen Stadt wurden diese kaum von Makedoniern besucht; insbesondere nicht von denen, die bereits als Kinder in Polen ankamen.

„Es gab diesen Verein [in Jelenia G6ra/Hirschberg]. Man kann sagen, dass sie sich dort zu verschiedenen Tanzabenden versammelten, irgend­welche Feiertage begingen. Ich hatte woanders meinen Spaß. Nicht mit diesen Alten! Außerdem waren dort nur Griechen, kommunistische Griechen. Makedonier gab es dort nicht." 19

Zu dieser Tatsache trug ebenfalls das Profil der griechischen Vereine bei, die sich hauptsächlich mit der Verbreitung von Losungen be-

19 Interview Nr. 2.

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schäftigten, die mit nationalistischen und kommunistischen Ideologien beladen waren. Über lokale und regionale Themen berichteten die Vereine nicht, informierten nicht einmal über Geschehnisse, die das Leben der Flüchtlinge betrafen. Diese Haltung wurde durch polnische Organisationen kritisiert, u. a. durch einen Ausschuss des Zentralko­mitees der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei. In einem Tagungs­bericht vom 20. Dezember 1957 heißt es:

„Der Mangel an gesellschaftlicher, politischer und kultureller Tätigkeit ist auf das Unverständnis zurückzuführen, was einen Verband aus­machen soll. Man wollte in dem Verband lediglich das Parteileben entfalten. Dies erklärt die verschwindend geringe Teilnahme der Par­teilosen in den Machtorganen des Verbandes, den Mangel an parteilosen Aktivisten, das Fehlen von Frauen in den Machtorganen des Verban-d "20 es.

Einen Fehler begingen auch die Makedonier selbst, die eigene Organi­sationen gründeten und auf konspirative, antigriechische politische Tätigkeit ausgerichtet waren und sich nicht kulturell engagierten. In den 1960er Jahren entstanden zwei geheime makedonische Organisa­tionen - „Ägäische Morgenröte [Zora]", im Dezember 1960 von einer Gruppe makedonischer Jugendlicher in Legnica gegründet, sowie „Makedonische Gemeinschaft [Zaednica]", von einer Gruppe makedo­nischer Lehrer in Police/Pölitz im September 1961 gegründet. Beide Organisationen waren lediglich bis 1962 tätig. Von deren Charakter kann ein Aufruf der „Ägäischen Morgenröte" zeugen, deren abschlie-ßende Worte lauten:

„Makedonier! Makedonische Jugend! Kämpft um eure Rechte und ihr werdet sie bekommen. Käillpft hartnäckig und mit Ausdauer. Die Wahrheit liegt auf unserer Seite!"21

Der konspirative Charakter beider Organisationen schloss von vorn­herein eine allgemeine Mobilisierung der in Polen oder Niederschle-

20 Macedonscy uchodicy w Polsee. Dokumenty 1948-1975, hrsg. v. PETRE NA­KOVSKI, Bd. 2, Skopje 2008, S. 240.

21 Macedonscy uchodzcy, Bd. 2 (wie Anm. 20), S. 336.

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sien lebenden Makedonier aus. Beide konzentrierten sich nur auf die Verbreitung nationalistischer, politisch kämpferischer Inhalte.

Anfang der 1960er Jahre versammelten sich die Makedonier wäh­rend der jährlich organisierten Treffen. Dies war der einzige Ausdruck einer Verbundenheit, die den Flüchtlingen nicht nur das Gefühl von Einheit gab, sondern auch eine gewisse Identifizierung mit dem ge­meinsam bewohnten Gebiet vermittelte.

„Ich glaube, 1961 haben die Flüchtlinge aus Griechisch-Makedonien ihr erstes Picknick veranstaltet. Es fand an einem Sonntag im Mai statt, in einem Park in Szczawno Zdr6j [Bad Salzbrunn], in der Nähe von blü­henden Magnolienbäumen. Dass dieser Ort ausgewählt wurde, war kein Zufall, denn in seinen Kurhäusern hatten die Kinder der Flüchtlinge zum ersten Mal Kontakt mit Polen gehabt [„.]. Bekannte trafen sich, tauschten Informationen über ihre Familien und Arbeitsplätze aus und übermittelten sich Nachrichten aus ihrer Heimat. [„.] Es wurden neue Bekanntschaften geknüpft, künftige Ehepartner lernten sich dort ken­nen. Ähnliche Treffen fanden auch in Zag6rze Sl<tskie [Kynau], Choj­n6w [Haynau], Wrodaw und anderen Orten statt. Manchmal organi­sierten diese Gruppen auch wesentlich kleinere Versammlungen. ,m

Doch diese Treffen sind, wie einer der Befragten feststellt, „eines natürlichen Todes gestorben". Das war einerseits durch die schwinden­de Zahl der Makedonier in Niederschlesien bedingt, die - hauptsäch­lich in die jugoslawische Teilrepublik Makedonien - auswanderten, andererseits durch die sich intensivierende Integration mit der pol­nischen Gesellschaft.

ZWEI REGIONEN DER IDENTIFIZIERUNG

Die Makedonier, die in Niederschlesien zwangsangesiedelt wurden -ähnlich wie andere Ansiedler in der Nachkriegszeit-, hielten die Erin­nerungen an ihre Heimat Ägäis-Makedonien aufrecht. Es ist inter­essant der Frage nachzugehen, wie eine ideologische oder gar private Verbundenheit mit der neuen Heimat und neuen Region, d. h. Nieder-

22 WYSPIANSKI, Kokardy (wie Anm. 16), S. 70.

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schlesien, entstehen konnte. Für die Makedonier, die gegenwärtig in der Republik Makedonien leben, wurde Polen zu einer idealisierten „zweiten Heimat", einer eher persönlichen Heimat.

Das betrifft meistens jene Makedonier, die als Kinder Ägäis-Make­donien verlassen mussten und somit ihre Kindheit und Jugend in Polen verbracht haben. Die Sehnsucht nach den Häusern in Griechen­land ist stärker politisch und ideologisch geprägt und steht im Kontext des makedonischen Konflikts mit Griechenland. Sie zeichnet sich nicht durch eindeutige persönliche Erfahrungen aus, wahrscheinlich aufgrund der kaum vorhandenen Erinnerungen aus der frühesten Kindheit. Zu Polen haben sie jedoch eine starke emotionale Einstel­lung. An die verbrachten Jahre in Niederschlesien denken sie als an die Zeit des Wohlstands, der Unterhaltung, der Jugend und kehren gerne zu diesen Erinnerungen zurück. Die Befragten drücken ihre Sehnsucht nach Polen aus, das ihre Heimat sei: „Für mich ist Polen meine Hei­mat. Dort wo wir aufgewachsen sind. Wir sind dort nur nicht geboren worden"23

; „Ich habe alle polnischen Städte und das Land viel besser kennengelernt als Makedonien!"24

• Sie sehnen sich auch nach einzelnen Städten Niederschlesiens: „Wrodaw, die wichtigste Stadt. Meine Lieb­lingsstadt. Als noch die Trümmer beseitigt wurden, weil die Stadt sehr zerstört war. Und es ließen sich nur Ausgesiedelte nieder."25

Anders verhält es sich mit den Makedoniern, die in Niederschlesien geblieben sind. In ihrem Fall hat sich das Verhältnis zu dem Gebiet, in dem sie leben, verändert - vom Gebiet der Zwangsansiedlung zu einem ideologisierten Ort, hauptsächlich durch Gewohnheiten und den langen Aufenthalt bedingt. Die Beweggründe, welche einen Teil der Makedonier zum Bleiben veranlassten - insbesondere wirtschaftli­che und gesellschaftliche, wie z. B. Arbeit, Wohnung oder der/die polnische Ehemann/ die Ehefrau - wurden zur Gewohnheit und lösten später das Gefühl aus, in Polen verankert zu sein. Davon können die folgenden Aussagen zeugen: „ Und außerdem - hier hatte man eine Wohnung, es gab Arbeit. Somit fühlte man sich hier sicherer, das

23 Interview Nr .4. 24 Interview Nr. 5. 25 Interview Nr. 6.

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Leben schien sicherer. Wir fühlten uns hier bereits verankert"26; „Und so ist es geschehen. Und hier [in Legnica] haben wir Wurzeln ge­schlagen"27; „Ich hatte Arbeit, Freunde. Man gewöhnte sich schnell an alles"28.

Die Sehnsucht der in Polen lebenden Makedonier nach ihrer verlo­renen „kleinen Heimat" Ägäis-Makedonien ist intensiver als bei den Rückwanderern, die gegenwärtig in der Republik Makedonien leben. Erstere erinnern sich an ihren Heimatort und vergleichen diesen mit ihrem jetzigen Wohnsitz. Sie unterstreichen hauptsächlich die make­donische Freundlichkeit, deren Verbundenheit mit der Familie, die schöne Natur und das gute Essen, das sie aus ihrer Kindheit kennen. Nur wenige denken so wie einer der Befragten, der auf einem Friedhof in Lubin/Lüben eine Grabstelle gekauft hat: „Ich kaufe eine Grab­stelle, warum soll ich mich dann für das heutige Makedonien inter­essieren?"29

Paradoxerweise sind es gerade die Gräber, welche die einzigen Erinnerungsorte der Makedonier in Niederschlesien darstellen - so­wohl derer, die geblieben als auch jener, die nach Jugoslawien ausge­wandert sind. Obwohl sie private, intime Erinnerungsorte sind, be­wirken sie jedoch, dass Polen nicht verlassen und vergessen werden darf, dass Polens gedacht und es besucht werden soll. Gräber waren unvermeidbar, denn viele Makedonier erkrankten und starben nach dem Krieg. Sie befinden sich in Zgorzelec, Legnica, Lu bin, J elenia G6ra, also in Niederschlesien. Denn nur dort durften sich die nach Polen gekommenen makedonischen Flüchtlinge niederlassen.

26 Interview Nr. 2. 27 Interview Nr. 1. 28 Interview Nr. 3. 29 Interview Nr. 7.

Aus dem Polnischen von A rkadiusz Szcze-panski

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